1) Anlage 9
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6985
        (A) (C)
        (D)(B)
        ler hinsichtlich der Auswahl und Einrichtung von barrie-
        refreiem Wahlraum nicht zweifelsfrei feststellbar.
        Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010
        Bundestag im Rahmen der Prüfung der Wahleinsprüche
        nach seiner ständigen Praxis vorrangig die Einhaltung
        der bestehenden wahlrechtlichen Vorschriften prüft.
        Nach diesen bestehenden Regelungen war ein Wahlfeh-
        Rupprecht
        (Tuchenbach),
        Marlene
        SPD 07.10.2010*
        Anlage 1
        Liste der entschuldi
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Aigner, Ilse CDU/CSU 07.10.2010
        Binder, Karin DIE LINKE 07.10.2010
        Bleser, Peter CDU/CSU 07.10.2010
        Bülow, Marco SPD 07.10.2010
        Friedhoff, Paul K. FDP 07.10.2010
        Fritz, Erich G. CDU/CSU 07.10.2010*
        Götz, Peter CDU/CSU 07.10.2010
        Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010
        Groth, Annette DIE LINKE 07.10.2010*
        Heil, Hubertus SPD 07.10.2010
        Höger, Inge DIE LINKE 07.10.2010**
        Hörster, Joachim CDU/CSU 07.10.2010*
        Krestel, Holger FDP 07.10.2010
        Liebich, Stefan DIE LINKE 07.10.2010**
        Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 07.10.2010
        Dr. Maizière de, Thomas CDU/CSU 07.10.2010
        Marks, Caren SPD 07.10.2010
        Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        07.10.2010
        Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        07.10.2010
        Özoğuz, Aydan SPD 07.10.2010
        Oswald, Eduard CDU/CSU 07.10.2010
        Pflug, Johannes SPD 07.10.2010
        Ploetz, Yvonne DIE LINKE 07.10.2010
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        gten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung des Europarates
        ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der OSZE
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneter Dr. Dagmar Enkelmann (DIE
        LINKE) zur Abstimmung über die Zweite Be-
        schlussempfehlung des Wahlprüfungsausschus-
        ses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
        Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep-
        tember 2009 (Tagesordnungspunkt 34 g)
        Ich stimme der Annahme der aus der Anlage 9 er-
        sichtlichen Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-
        schusses auf Bundestagsdrucksache 17/3100 zu, weil der
        Schreiner, Ottmar SPD 07.10.2010
        Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 07.10.2010
        Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 07.10.2010
        Dr. Solms, Hermann
        Otto
        FDP 07.10.2010
        Dr. Steinmeier, Frank-
        Walter
        SPD 07.10.2010
        Strenz, Karin CDU/CSU 07.10.2010*
        Toncar, Florian FDP 07.10.2010
        Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 07.10.2010
        Werner, Katrin DIE LINKE 07.10.2010*
        Widmann-Mauz,
        Annette
        CDU/CSU 07.10.2010
        Wieczorek-Zeul,
        Heidemarie
        SPD 07.10.2010
        Zöllmer, Manfred SPD 07.10.2010
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        6986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ich muss zu dieser Abstimmung Folgendes erklären:
        Die Gemeinden bemühen sich zwar, barrierefreie
        Wahlräume zur Verfügung zu stellen. Bei einem Anteil
        von beispielsweise etwa zwei Dritteln nichtbarrierefreier
        Wahllokale in der Stadt Dresden muss der Bundestag aus
        meiner Sicht aber die Schlussfolgerung ziehen, dass das
        gesetzliche Ziel der Gleichstellung behinderter Men-
        schen durch barrierefreie Wahlräume mit den bestehen-
        den Regelungen bisher nicht erreicht wurde. Die Rege-
        lungen müssen deshalb zwingender ausgestaltet werden.
        Es ist nach meiner Einschätzung – und diese Einschät-
        zung teilt meine Fraktion – für unsere Demokratie kein
        tragbarer Zustand, wenn ein so hoher Anteil der Wahllo-
        kale nicht barrierefrei ist.
        Es ist nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die wählen
        wollen, dies nur deshalb nicht tun, weil sie kein barriere-
        freies Wahllokal vorfinden. Zwar könnten diese Wahlbe-
        rechtigten mit Wahlschein in einem anderen, barriere-
        freien Wahllokal oder per Briefwahl wählen – das
        bedeutet aber zusätzlichen bürokratischen Aufwand.
        Dies ist nicht zumutbar. Allen Wahlberechtigten muss
        – unabhängig von einer Mobilitätsbeeinträchtigung oder
        Behinderung – die Wahl vor Ort im Wahllokal ermög-
        licht werden.
        Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf
        barrierefreie Wahllokale und öffentliche Einrichtungen.
        Das VN-Übereinkommen über die Rechte von Men-
        schen mit Behinderungen verpflichtet dazu genauso wie
        das Grundgesetz. Hinzu kommt: Das Durchschnittsalter
        der Wahlberechtigten wird immer mehr zunehmen. Auch
        deshalb haben die Auswahl und die Einrichtung barriere-
        freier Wahllokale eine besondere Bedeutung für mich
        und meine Fraktion.
        Der Bundestag steht aus meiner Sicht in der Verant-
        wortung, die Wahlvorschriften nicht einfach nur im Rah-
        men der Wahlprüfung anzuwenden, sondern sie im Be-
        darfsfalle – in seiner Funktion als Gesetzgeber – zu
        ändern.
        Ich werde der Beschlussempfehlung zustimmen, weil
        dort auf der Grundlage der geltenden Wahlvorschriften
        vertretbar argumentiert wurde. Ich setze mich zugleich
        für meine Fraktion im Wahlprüfungsausschuss für eine
        Änderung der Wahlvorschriften ein. Ziel ist die Prüfung
        der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich barrierefreier
        Wahlräume durch die Bundesregierung und eine zügige
        Änderung der Vorschriften.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur
        Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richt-
        linie .../.../EU des Europäischen Parlaments und
        des Rates über Einlagensicherungssysteme
        [Neufassung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10
        ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungs-
        punkt 7)
        Zur Abstimmung zum Antrag der Fraktionen der
        CDU/CSU und FDP für eine Subsidiaritätsstellung-
        nahme nach § 93 a Abs. 1 GO-BT zum Vorschlag für
        eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra-
        tes über Einlagensicherungssysteme (Neufassung),
        KOM(2010) 368 endg. erkläre ich Folgendes:
        Der Binnenmarkt stellt eine der Hauptgesetzgebungs-
        kompetenzen der EU dar. Mit dem vorliegenden Richtli-
        nienvorschlag sollen mittels einer Harmonisierung die
        während der Finanzkrise zutage getreten Schwachstellen
        in den bestehenden Einlagensicherungssystemen besei-
        tigt werden. Mit der Schaffung eines europaweit hohen
        Niveaus des Einlagenschutzes wird Inhabern von Einla-
        gen ein schnellerer und effizienterer Schutz gewährt.
        Dies fördert das Vertrauen der Bürger in das Finanzsys-
        tem und ist damit auch für die Stabilität des nationalen
        und europäischen Finanzmarkts von besonderer Bedeu-
        tung. Dieses Ziel kann meines Erachtens nicht in glei-
        cher Weise auf nationaler Ebene erreicht werden.
        Nationalen Besonderheiten der Finanzmarktstruktur
        und der Gefahr einer Verzerrung des Wettbewerbs im
        EU-Binnenmarkt wird dadurch genügend Rechnung ge-
        tragen, dass lediglich die Rahmenbedingungen der je-
        weiligen Einlagensicherungssysteme – „Level Playing
        Field“ – harmonisiert werden. Die Europäische Kom-
        mission beabsichtigt keine Maximalharmonisierung und
        gewährt den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum
        bei der näheren Ausgestaltung.
        Selbst falls man die vorgetragenen Bedenken hin-
        sichtlich der inhaltlichen Detailausgestaltung der Richt-
        linie teilt, so wäre auch unter dieser Prämisse die Sub-
        sidiaritätsrüge das falsche Instrument.
        Die Subsidiaritätsrüge ist schon formal in ihren Er-
        folgsaussichten von dem Zustandekommen eines Mehr-
        heitsquorums unter den mitgliedstaatlichen Parlamenten
        abhängig. Dies verspricht jedoch geringe Aussicht auf
        Erfolg. Damit käme es auf die materielle Prüfung der
        Rüge schon gar nicht mehr an.
        Die Subsidiaritätsrüge stellt neben der Subsidiaritäts-
        klage das schärfste Schwert dar, welches dem Bundestag
        durch den Vertrag von Lissabon zur Überprüfung der
        Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips an die Hand gege-
        ben wurde. Ich halte es für europapolitisch nicht oppor-
        tun, für die erstmalige Ausübung eines so wichtigen
        Rechts einen Anwendungsfall zu wählen, der schon aus
        oben genannten Gründen wenig Aussicht auf Erfolg hat.
        Mit einer Stellungnahme gemäß Art. 23 Abs. 3 GG
        könnte man dagegen Bedenken hinsichtlich der inhaltli-
        chen Detailausgestaltung der Richtlinie ebenso äußern,
        und zwar unabhängig von einem vorliegenden Subsidia-
        ritätsverstoß. Mit einer solchen Stellungnahme könnte
        die Bundesregierung direkt aufgefordert werden, die
        vorliegenden Bedenken in ihre Verhandlungslinie mit zu
        übernehmen, und auch europapolitisch das richtige
        Signal gesendet werden.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6987
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 4
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung
        zu dem Antrag: Das „Parlament der Bäume ge-
        gen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft ge-
        schützt werden (Tagesordnungspunkt 26)
        Petra Merkel (Berlin) (SPD): Hiermit erkläre ich,
        dass ich dem Antrag zustimme, da ich das Werk des
        Künstlers Ben Wagin für dauerhaft schützenswert halte.
        Der Deutsche Bundestag sollte die Nutzung des Gelän-
        des dauerhaft gewährleisten. Ebenso sollte die Landes-
        regierung Berlin aufgefordert werden, dieses Mahnmal
        gegen Krieg und Gewalt in die Landesdenkmalliste auf-
        zunehmen
        Monika Grütters (CDU/CSU): „Ja, Berlin ist eine
        Sandwüste, aber wo sonst findet man Oasen?“ – Passen-
        der als der von mir verehrte Dichter Jean Paul hätte man
        nicht beschreiben können, was der kleine Ort des „Parla-
        ments der Bäume“ ist: eine Oase der Erinnerung, der
        Kunst und der Selbstreflexion des Parlaments in der in-
        nerstädtischen Wüste Berlins und des Regierungsvier-
        tels.
        Hinter dem Bundespressehaus an der Ecke Schiffbau-
        erdamm/Reinhardtstraße, befindet sich dieses „Parla-
        ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“. Es entstand
        in der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich für
        das „Niemandsland“ des Grenzstreifens keiner verant-
        wortlich fühlte.
        Der Künstler Ben Wagin, seine Freunde, Künstler wie
        Tadeusz Kantor, Klaus Staeck, Otto Dressler und Mit-
        glieder des Baumpatenvereins verwendeten die einzel-
        nen Segmente der Hinterlandmauer – die Grenze verlief
        am westlichen Spreeufer –, um auf ihnen das Jahr und
        die Anzahl der Mauertoten aufzulisten. Auf dem Ge-
        lände lagern nun Steinplatten mit den eingravierten Na-
        men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen
        Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden. Ben
        Wagin ergänzte die Dokumentation durch Bilder und
        Gedichte.
        Ursprünglich gehörten zu dem Kunstwerk drei Berei-
        che: die 16 Bäume, die von den Ministerpräsidenten ge-
        pflanzt wurden und die 16 Bundesländer symbolisieren
        sollten, das grüne Denkmal „Europa Erde werde“, das
        dem Neubau des Bundespressehauses weichen musste,
        und das Ensemble der 400 Bäume.
        Diese wurden im Herbst 1990 von den Senatorinnen
        und Senatoren aus Ost- und West-Berlin zusammen mit
        dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der
        Parlamentspräsidentin des Deutschen Bundestags Rita
        Süßmuth, der Präsidentin des Berliner Abgeordneten-
        hauses Hanna-Renate Laurien und dem SPD-Vorsitzen-
        den Hans-Jochen Vogel sowie zahlreichen Bundestags-
        abgeordneten anlässlich der ersten Plenarsitzung im
        Reichstagsgebäude entlang dem Kolonnenweg ge-
        pflanzt. Engagiert haben sich ebenso Bundespräsident
        Johannes Rau, die Bundesminister Klaus Töpfer,
        Wolfgang Mischnick und Wolfgang Schäuble. Von die-
        sen 400 Bäumen stehen heute noch 100. Der Kolonnen-
        weg und 58 Mauersegmente sind an originaler Stelle
        noch erhalten.
        Der künstlerisch gestaltete Ort im Regierungsviertel
        erinnert zudem an die sowjetischen Soldaten, die im Mai
        1945 hier aus dem Hinterhalt erschossen wurden, sowie
        an die ersten Mauertoten, die genau an dieser Stelle bei
        dem Versuch, über die Spree aus der DDR zu flüchten,
        ums Leben kamen.
        Ergänzt wird das heutige Kunstwerk durch den be-
        rühmten Spruch des sowjetischen Staats- und Parteichefs
        Michail Gorbatschow, den er anlässlich seines Besuches
        zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am
        7. Oktober 1989 formulierte: „Wer zu spät kommt, den
        bestraft das Leben.“
        Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“
        ist nach der East Side Gallery das längste noch im Ori-
        ginal erhaltene Stück Hinterlandmauer und der einzig
        noch an originaler Stelle verbliebene Mauerrest im Re-
        gierungsviertel. Es ist das Verbindungsglied zu den
        Mauerresten im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und zur
        Mauermarkierung im Bundespressehaus. Die sichtbar
        gemachte Erinnerung in diesen beiden Gebäuden wäre
        ohne das „Parlament der Bäume“ nicht erklärbar.
        Im November 2008 hat Bundestagspräsident Norbert
        Lammert, der sich mehr als seine Vorgänger für das
        Denkmal engagiert, entschieden, dass der Bundestag die
        gärtnerische Pflege der Anlage übernimmt und die Zu-
        gänglichkeit zum „Parlament der Bäume“ garantiert.
        Bernd Neumann, der Beauftragte für Kultur und Medien
        im Kanzleramt, BKM, hat Mittel bereitgestellt und so
        gemeinsam mit dem Senat von Berlin die Einzäunung,
        die Beleuchtung, die öffentliche Beschilderung und die
        Einbettung in das Mauerkonzept für das Denkmal am
        historischen Ort sichergestellt.
        Der Antrag, der heute zur Abstimmung steht, fordert
        die Bundesregierung nun auf, in Zusammenarbeit mit
        dem Senat von Berlin im gemeinsamen Ausschuss von
        Bund und Berlin nach § 247 BauGB den gültigen Be-
        bauungsplan für das Regierungsviertel – I-210 – so zu
        ändern, dass eine künftige Bebauung des Grundstücks,
        auf dem sich das „Parlament der Bäume gegen Krieg
        und Gewalt“ von Ben Wagin befindet, verhindert wird
        und das Kunstwerk unter Denkmalschutz gestellt wird.
        Die Baukommission des Deutschen Bundestages hat
        dies im Hinblick auf den Wert des Grundstücks zunächst
        abgelehnt.
        Ich habe Respekt vor dieser Entscheidung, denn sie
        ist aus der Sicht der Baupolitiker sicher gut nachvoll-
        ziehbar. Auch die Haltung des Bundestagspräsidenten
        und des Staatsministers für Kultur und Medien, die beide
        darauf verweisen, dass das Gelände bis 2018 nicht ange-
        tastet wird, und die davon ausgehen, „dass es von Dauer
        ist“ – so Bernd Neumann bei der Einweihung des Doku-
        mentationsortes am 30. September 2010 –, ist nachvoll-
        ziehbar.
        Ich werde dem Antrag zur Änderung des Bebauungs-
        planes und zur Unterdenkmalschutzstellung des „Parla-
        ments der Bäume“ dennoch zustimmen, weil ich es für
        6988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        ein schönes und bedeutendes Signal gehalten hätte,
        wenn sich der Deutsche Bundestag zum 20. Jahrestag
        der Deutschen Einheit und zum 80. Geburtstag des
        Künstlers Ben Wagin jetzt, im Jahr 2010, zu diesem Zu-
        geständnis an den Wert und die Würde des authentischen
        Gedenkortes, des Kunstwerkes auf seinem eigenen Ge-
        lände und des Parlaments der Bäume, hätte durchringen
        können.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebenen Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
        Thomas Bareiß (CDU/CSU): Heute reden wir über
        den Antrag der Grünen-Fraktion zur Änderung des Ener-
        giewirtschaftsgesetzes vor dem Hintergrund auslaufen-
        der Konzessionsverträge im Strom- und Gasnetzbereich.
        Ausnahmsweise reden wir damit heute einmal über ei-
        nen energiepolitischen Oppositionsantrag, der nichts mit
        der Kernenergie zu tun, worüber ich mich sehr freue.
        Wie in anderen zahlreichen Anträgen im energiepoli-
        tischen Bereich sieht die Opposition die Thematik aller-
        dings zu kurzsichtig. Eine differenziertere Betrachtung
        ist hier vonnöten.
        Dazu gehört zunächst einmal die grundsätzliche
        Frage, was hinter dem Wunsch der Kommunen, Energie-
        politik zu machen, steckt. Es ist nämlich durchaus zu be-
        fürchten, dass hier weitreichende finanzielle Belastun-
        gen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf
        nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen
        mit dieser Aufgabe übernehmen.
        Grundsätzlich möchte ich davor warnen, dass den
        großen Herausforderungen im Bereich des Stromnetz-
        ausbaus nicht in ausreichendem Maße Genüge getan
        wird. Gerade im Verteilnetzbereich stehen wir vor wich-
        tigen Aufgaben. Dazu gehört zunächst einmal die Inte-
        gration der erneuerbaren Energien, deren Anteil stetig
        wächst. In diesem Jahr wird es Schätzungen zufolge al-
        lein im Bereich Photovoltaik zu einem Zubau in Höhe
        von rund 10 000 Megawatt kommen.
        Uns allen muss klar sein, dass wir unsere ambitionier-
        ten Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien
        nur erreichen können, wenn wir in Sachen Netzausbau
        mitziehen.
        Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang ist die
        Entwicklung von intelligenten Netzen, Smart Grid. Auf-
        grund des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwan-
        kenden Angebots an erneuerbaren Energien ist dieses In-
        strument dringend notwendig. Damit einher geht der
        Einsatz von intelligenten Zählern, Smart Meter. Ich will
        die Aufzählung an dieser Stelle beenden, aber es sollte
        klar sein, dass wir hier vor großen Herausforderungen
        stehen, die auch mit massiven Investitionskosten ver-
        bunden sind. Dieser Verantwortung müssen sich die
        Kommunen bewusst sein.
        Zudem ist der Netzkauf nicht die einzige Möglichkeit,
        um sich als Kommune einen größeren Einfluss auf die
        Netze zu sichern. Angesichts der hohen Kosten eines Er-
        werbs sind durchaus auch die kostengünstigeren Beteili-
        gungsmodelle oder im Einzelfall auch die Gründung von
        Kooperationen in Erwägung zu ziehen.
        Das Problem, das die Grünen schildern, wird mit dem
        Antrag meines Erachtens nicht gelöst, da andere Aspekte
        ausgeblendet werden. Die Grünen sagen in dem Antrag,
        dass in den nächsten Jahren Tausende Konzessionsver-
        träge zwischen Kommunen und Energieversorgungsun-
        ternehmen zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnet-
        zen auslaufen. Im derzeitigen EnWG sei nicht
        gewährleistet, dass ein einfacher Wechsel zu anderen
        Betreibern möglich ist. Die Hürden eines Wechsels seien
        zu groß, da zum Beispiel die bisherigen Netzbetreiber
        nicht verpflichtet seien, umfassend über den Wert des
        Netzes zu berichten.
        Es muss in dem Zusammenhang aber auch gesehen
        werden, dass viele der in den kommenden Jahren auslau-
        fenden Konzessionsverträge vor Inkrafttreten des EnWG
        1998 geschlossen wurden. Diese Verträge enthalten so-
        genannte Endschaftsklauseln, die Details über die Aus-
        stiegsbedingungen regeln.
        Ich bin der Meinung, dass bestehende vertragliche
        Regelungen zu achten sind. Die Politik sollte nur ein-
        greifen, wenn es zwingend notwendig ist. Daher müssen
        wir sicherlich genau prüfen, in welcher Weise dies not-
        wendig sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die
        Informationspflicht über Zustand und Wert der Netze –
        Stichwort Transparenz.
        Ohnehin haben wir in der Koalition vereinbart, im
        nächsten Jahr im Zuge der Umsetzung des dritten Bin-
        nenmarktpakets das Energiewirtschaftsgesetz zu novel-
        lieren. In diesem Zusammenhang werden wir in aller
        Ruhe über die Notwendigkeit gesetzgeberischen Han-
        deln entscheiden. Wirklich erforderliche Änderungen in
        § 46 EnWG werden dann vorgenommen. Mit der Über-
        weisung an den zuständigen Wirtschaftsausschuss wer-
        den wir die Möglichkeit haben, über diese Frage zu dis-
        kutieren. Dabei kann auch das berechtigte Anliegen der
        Kommunen aufgegriffen werden, im Rahmen einer Ver-
        änderung der Stromnetzentgeltverordnung den Kauf-
        preis zu prüfen, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen.
        Abschließend möchte ich nochmals kurz auf das ein-
        gangs erwähnte energiepolitische Gesamtkonzept der
        Bundesregierung zu sprechen kommen. Darin haben wir
        in einem eigenständigen Kapitel die großen Herausfor-
        derungen beim Netzausbau dargestellt und aufgezeigt,
        welche Handlungen notwendig sind, wenn wir es ernst
        meinen mit dem Weg ins Zeitalter regenerativer Ener-
        gien.
        Neben dem enormen Ausbaubedarf bei den Übertra-
        gungsnetzen im Hochspannungsbereich gehört dazu vor
        allem auch die Notwendigkeit, massivst in die Verteil-
        netze im Niedrigspannungsbereich zu investieren. Mit
        jedem Megawatt an Photovoltaikzubau fallen entspre-
        chende zusätzliche Investitionen im Verteilnetzbereich
        an.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6989
        (A) (C)
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        Wenn wir über Ziele und Maßnahmen reden, müssen
        wir auch so ehrlich sein zu sagen, was uns das kostet,
        und zugleich dazu stehen, dass uns dies wert ist. Unsere
        ambitionierten Ausbauziele bei den erneuerbaren Ener-
        gien dürfen nicht daran scheitern, dass wir den Gesamt-
        rahmen aus den Augen verlieren, und dazu gehört der
        Ausbau der Verteilnetze. Diesen Punkt dürfen wir bei
        dieser Diskussion um das Energiewirtschaftsgesetz nicht
        vergessen.
        Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Unsere Strom- und
        Gasnetze sind in der Tat ein wichtiges Thema. Ohne eine
        leistungsfähige Netzinfrastruktur werden wir unser Ziel,
        den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostrom-
        verbrauch bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen, nicht er-
        reichen. Deshalb haben wir dieses Thema auch in unse-
        rem Energiekonzept umfassend berücksichtigt, etwa
        indem wir planen, intelligente Netze zu schaffen oder
        ein „Zielnetz 2050“ zu entwickeln.
        Was nun den debattengegenständlichen Antrag der
        Grünen angeht, so ist zunächst richtig: Städte und Ge-
        meinden entscheiden im Rahmen eines Konzessionsver-
        trages, wer der örtliche Strom- bzw. Gasverteilnetzbe-
        treiber sein soll. Konzessionsverträge können für
        maximal 20 Jahre abgeschlossen und müssen öffentlich
        ausgeschrieben werden.
        In den nächsten Jahren laufen die Konzessionsver-
        träge bundesweit überwiegend aus. Das betrifft circa
        2 000 Konzessionsverträge, die in den kommenden zwei
        Jahren neu abgeschlossen werden müssen.
        Entscheidend ist auch: Die auslaufenden Konzessions-
        verträge schaffen gute Voraussetzungen für Wettbewerb
        im Verteilnetzbetrieb. Die mit dem Auslaufen der Kon-
        zessionsverträge verbundenen Ausschreibungen beflü-
        geln diesen, ja sind Voraussetzung für einen Wettbewerb
        um den effizienten Verteilnetzbetrieb, der so in Stufen
        realisiert wird.
        Nun zur Kritik der Grünen an der bestehenden Geset-
        zeslage: Sie kritisieren die geltende Regelung des § 46
        Abs. 2 EnWG als unzureichend, weil insbesondere zu
        unbestimmt. Im Gesetz heißt es nämlich, dass bei Nicht-
        verlängerung eines Konzessionsvertrags der bisherige
        Netzbetreiber verpflichtet ist, die Verteilungsanlagen im
        Gemeindegebiet dem neuen Energieversorger gegen
        Zahlung einer angemessenen Vergütung zu überlassen.
        Sie haben insofern Recht, als hier unter anderem un-
        bestimmte Rechtsbegriffe verwandt werden. Dies ist al-
        lerdings dem Umstand geschuldet, dass bewusst keine
        Einzelfallregelung getroffen, sondern ein weiter Anwen-
        dungsbereich eröffnet werden soll. Falsch ist die
        Schlussfolgerung, dass diese offene Regelung, die im
        Einzelfall verhandelt werden muss und darf, Gemeinden
        vom Wechsel des Konzessionärs abhalten würde. In der
        Praxis, die ich auch als aktiver Kommunalpolitiker
        kenne, entscheidet die Gemeinde über den Konzessionär.
        Die Verhandlungen auf Basis des § 46 Abs. 2 Satz 2
        EnWG müssen anschließend Alt- und Neukonzessionär
        miteinander führen. Sie pflichten mir doch bei, dass dies
        zwischen den Energieversorgern im Regelfall auf Au-
        genhöhe geschehen dürfte. Ich kann nicht erkennen, dass
        es notwendig ist, in der im Antrag geschilderten Art und
        Weise den Gemeinden beizuspringen. Sie haben nämlich
        mit der Auslegung des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG höchs-
        tens mittelbar insofern zu tun, als sich ein Rechtsstreit
        zwischen den Energieversorgern entfachen könnte.
        Demgegenüber behaupten die Grünen, dass der Wechsel
        nicht erfolgen würde, weil die Gemeinden angeblich
        „drohende juristische Auseinandersetzungen mit einem
        mächtigen und finanzkräftigen Energiekonzern“ fürch-
        ten.
        Meine Damen und Herren, im Gesetzgebungsverfah-
        ren hat der Gesetzgeber trotz entsprechender Vorschläge
        davon abgesehen, eine ausdrückliche Verpflichtung zur
        Eigentumsübertragung aufzunehmen. Eine Verpflich-
        tung zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeigne-
        tes, aber milderes Mittel, um dem neuen Netzbetreiber
        eine Verfügungsmacht über die für den Netzbetrieb not-
        wendigen Anlagen einzuräumen, was sich dann auch in
        der wirtschaftlich angemessenen Vergütung niederschla-
        gen wird. Soweit praktische Probleme bei einer Netz-
        überlassung ohne Eigentumsübertragung möglich sind
        – zum Beispiel die Pflicht zur Weiterübertragung des
        Netzes nach Ablauf des neuen Konzessionsvertrages –,
        können diese vertraglich bei der Gebrauchsüberlassung
        geregelt werden.
        Mit Festschreibung einer wirtschaftlich angemesse-
        nen Vergütung soll sichergestellt werden, dass der Ver-
        sorgerwechsel nicht an einer eben prohibitiv hohen Ver-
        gütung scheitert. Über die konkrete Höhe müssen sich
        die Parteien im Verhandlungswege einigen. Die Fest-
        schreibung eines konkreten Verfahrens zur Ermittlung
        der Vergütungshöhe würde einen Eingriff in die Ver-
        tragsfreiheit darstellen – und den wollen wir eben nicht.
        Wenn teilweise sogar eine Begrenzung der Vergütung
        auf den kalkulatorischen Restwert gefordert wird, wäre
        dies bei abgeschriebenen Netzen faktisch eine Verpflich-
        tung zur „Zwangsschenkung“. Auch das wollen wir
        nicht, deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
        Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag der Grünen
        geht im Kern um die Stärkung der kommunalen Energie-
        wirtschaft. Damit sprechen die Grünen ein Thema an,
        das auch der SPD-Fraktion am Herzen liegt. Die kom-
        munalen Unternehmen haben in der Vergangenheit be-
        wiesen, jedenfalls viele von ihnen haben das getan, dass
        sie kundenorientierte Energiedienstleistungen mit inno-
        vativen Konzepten voranbringen können. Damit schaf-
        fen sie die Voraussetzungen für mehr Energieeffizienz
        auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite, eine Ent-
        wicklung, die wir brauchen, um ohne Lebensqualitäts-
        verlust mit weniger Energie auskommen zu können.
        Konkret geht es dem Antragsteller um die Schaffung
        von Rechtssicherheit bei der Übertragung von Verteil-
        netzen von Strom und Gas. Im Antrag ist zutreffend be-
        schrieben, welche Schwierigkeiten in den letzten Jahren
        immer wieder beim Wechsel von Konzessionsverträgen
        aufgetreten sind. Wir teilen die Auffassung, dass eine
        wesentliche Ursache in den rechtlich unbestimmten Be-
        grifflichkeiten zum Konzessionswechsel in § 46 EnWG
        begründet sind. Dadurch begünstigt die jetzige Gesetzes-
        6990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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        lage die Fortsetzung des Status quo, führt also häufig
        dazu, dass Kommunen ihr Netz nicht rückerwerben, son-
        dern dem alten Konzessionär weiter überlassen.
        Neben den unklaren Wechselregelungen in § 46 spie-
        len auch andere vom Antragsteller angeführte Aspekte
        eine den Wechsel behindernde Rolle. So fehlen in der
        Tat kaufinteressierten Kommunen oft maßgebliche In-
        formationen über die technische und wirtschaftliche Si-
        tuation des Netzes, Informationen, die für die Bewertung
        eines Netzkaufs oder Netzrückkaufs aber unbedingt er-
        forderlich sind. Auch die in § 46 vorgegebene „wirt-
        schaftlich angemessene Vergütung“ als Grundlage zur
        Berechnung des Netzkaufpreises ist zu unbestimmt und
        unklar. Viel zu oft bestehen Meinungsverschiedenheiten
        zwischen Käufer und Verkäufer darüber, welches Entgelt
        für die Übernahme eines Netzes tatsächlich angemessen
        ist.
        Was ist die Folge dieser Unklarheiten und Regelungs-
        lücken? Eine der Folgen jedenfalls ist, dass eine Vielzahl
        von Fällen vor Gericht geklärt werden muss. Das führt
        zu jahrelanger Rechtsunsicherheit aufseiten der Kommu-
        nen und nährt die Befürchtung, dass notwendige Investi-
        tionen in die betroffenen Netzabschnitte ausbleiben.
        Wie ich eingangs dargestellt habe, unterstützt die SPD
        den Rekommunalisierungstrend im Bereich der Strom-
        und Gasverteilnetze und sympathisiert insofern auch
        grundsätzlich mit dem vorliegenden Antrag. Wir glau-
        ben allerdings, dass noch einige Ergänzungen notwendig
        und sinnvoll wären.
        Erstens. Zwar fordert der Antragsteller zu Recht, ge-
        stützt durch mehrere OLG-Urteile, dass zur Bestimmung
        des Kaufpreises das Ertragswertverfahren vorgegeben
        werden sollte. Dies wäre auch deshalb sinnvoll, weil auf
        diese Weise die Kostenanerkennung durch die Bundes-
        netzagentur weitgehend gesichert wäre. Um allerdings
        zu vermeiden, dass quasi schrottreife Netze zu überhöh-
        ten Preisen den Besitzer wechseln, muss gewissermaßen
        als Korrektiv – auch das schlagen die Oberlandesge-
        richte vor – aus unserer Sicht der Tagesneuwert berück-
        sichtigt werden, also der tagesaktuelle Zustand des Net-
        zes. Nur so wäre tatsächlich ein angemessener Kaufpreis
        sichergestellt und der bisherige Eigentümer auch bei ei-
        nem anstehenden Konzessionswechsel motiviert, weiter-
        hin notwendige Investitionen vorzunehmen.
        Zweitens. Ein weiterer Punkt, der unseres Erachtens
        einer pragmatischen Lösung bedarf, betrifft die zum Teil
        jahrelange Dauer und die hohen Kosten der gerichtlichen
        Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten. Hier
        schlagen wir die Einführung einer Verpflichtung vor,
        spätestens ab einem halben Jahr Verfahrensdauer und ab-
        sehbaren erheblichen Zeitverzögerungen eine Schlich-
        tungsstelle anrufen zu müssen.
        Drittens. Auch wenn wir die Forderung nach einer
        umfassenden Informationsweitergabe frühzeitig vor
        Auslaufen einer Konzession unterstützen, legen wir auf-
        grund der Vielzahl betriebswirtschaftlich relevanter und
        sensibler Daten Wert darauf, dass die Informationen
        nicht quasi am Schwarzen Brett ausgehängt werden und
        anschließend frei vagabundieren können. Dies lässt sich
        zwischen den Beteiligten mit verpflichtenden Vertrau-
        lichkeitsvereinbarungen regeln, deren Verletzung aller-
        dings mit hohen Konventionalstrafen belegt sein muss.
        Mit diesen Ergänzungen findet der Gesetzentwurf un-
        sere Unterstützung. Allerdings gehen wir davon aus,
        dass die Initiative in den breiteren Kontext der Novellie-
        rung des Energiewirtschaftsgesetzes eingebettet werden
        sollte. Diese muss ohnehin zeitnah erfolgen. Sie bietet
        Gelegenheit, weitere, gerade die Verteilnetze betreffende
        Fragen zu klären, zum Beispiel die Anpassung der Netz-
        regulierung an neue Herausforderungen wie Smart Grids
        und horizontale Stadtwerkekooperationen.
        Wir werden entsprechende Vorlagen und Empfehlun-
        gen formulieren, die wir unsererseits kurzfristig in das
        parlamentarische Verfahren einspeisen.
        Klaus Breil (FDP): Der Gesetzentwurf der Grünen
        verfolgt zwei Ziele:
        Erstens soll die kommunale Energiewirtschaft ge-
        stärkt werden – das ist super.
        Zweitens soll Rechtssicherheit bei der Übertragung
        von Verteilnetzen für Strom und Gas geschaffen werden.
        Das ist auch super – so weit unterschreiben wir beides:
        Wettbewerb und Rechtssicherheit – toll! Auf Rechtssi-
        cherheit folgt nämlich Planungssicherheit. Genau das
        brauchen unsere Unternehmen. Und genau das haben
        wir ihnen durch unser Energiekonzept für die nächsten
        Jahre gegeben.
        Verwechseln Sie Planungssicherheit aber bitte nicht
        mit Planwirtschaft. In diese Richtung versuchen die Grü-
        nen uns nämlich ständig bei der Energiepolitik zu drän-
        gen. Dass das nur wenig bringt, zeigt der Zwischenbe-
        richt der „Ökohauptstadt Freiburg“. Dort wurde das
        Planziel einer regenerativen Stromerzeugung von
        10 Prozent für 2010 mit 3,7 Prozent nur ganz knapp ver-
        fehlt.
        Aber zurück zum Anfang – Stichwort Wettbewerb:
        Mehr Wettbewerb bei der Energieerzeugung – das ist
        eine der Ur-Forderungen der FDP. Wie ich finde, bekom-
        men die Mittelständler der Energiewirtschaft das bis
        dato ganz gut hin. Sie denken fortschrittlich. Sie inves-
        tieren, zwar nicht ausschließlich – aber doch ganz be-
        achtlich – in klimaschonende Erzeugungskapazitäten.
        Und sie stellen sich breit auf, unter anderem mit Biogas-
        und Biomasseanlagen, Erdgas-BHKWs, Windkraftanla-
        gen, onshore wie offshore, und mit KWK-Anlagen.
        Damit tragen sie schon heute zu 8 Prozent
        – 50 TWh – zur deutschen Stromerzeugung bei. Und
        das wird nicht weniger werden. Im Gegenteil: Stadt-
        werke können über Beteiligungen an Offshore-Wind-
        parks durch das 10-Punkte-Sofortprogramm des Ener-
        giekonzeptes diesen Anteil noch weiter ausbauen.
        Gleiches kann die Förderung CCS-fähiger fossiler
        Kraftwerke für Akteure mit weniger als 5 Prozent
        Marktanteil schaffen. Ich glaube, dass wir den Stadtwer-
        ken damit mehr Rückenwind für ihre Entwicklung geben
        konnten. – So weit, so gut auf der Erzeugungsseite.
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        Aber zwischen Erzeuger und Verbraucher steht noch
        der Verteiler – also das Netz. Mehr und mehr Kommu-
        nen haben in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert.
        Das war für sie – in schweren Zeiten – ein probates Mit-
        tel gegen Geldnot. Man hat dann Energieunternehmen
        durch Konzessionsverträge den Aufbau und Betrieb der
        Versorgungsnetze erlaubt – sale and lease back. In den
        kommenden Jahren laufen viele dieser langfristig ange-
        legten Verträge aus. Manche Kommune sieht darin die
        Möglichkeit, politischen Einfluss auf die lokale Energie-
        versorgung zurückzugewinnen.
        Ist das die einzige Motivation zur Rekommunalisie-
        rung der Verteilnetze? Die Kommunen wollen trotz
        klammer Kassen ihre Netze zurückkaufen. Gleichzeitig
        kritisieren sie via Verbände die Netzentgelte als zu nied-
        rig. Da stellt sich mir die Frage: Weshalb möchte man
        ein Investment machen, das sich augenscheinlich nicht
        lohnt? Finanziell kann das so attraktiv doch nicht sein –
        erst recht nicht, wenn man die Mittel dafür nicht locker
        hat.
        Was ist es aber dann? Ein auslaufender Konzessions-
        vertrag, der nicht verlängert wird. Und eine Kommune,
        die ihr Netz selbst wieder betreiben kann. Beide ändern
        nichts an den Regeln für den Wettbewerb auf dem Ener-
        giemarkt. Jeder Kunde kann schon heute seinen Energie-
        lieferanten frei wählen. Ihm ist es also völlig egal, wer
        per Konzessionsvertrag für den Netzbetrieb verantwort-
        lich ist.
        Jetzt führen Sie bitte nicht an, Rekommunalisierung
        diene dem Klimaschutz. Die Kommunen haben auch so
        schon die Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösun-
        gen und erneuerbare Energien zu investieren. Dafür
        brauchen sie keine eigenen Netze. Und „eigene“ meine
        ich im Sinne Ihres Gesetzesentwurfes. Sie möchten, dass
        die Kommunen wieder Eigentümer der Netze werden.
        Da sehen wir einiges anders als Sie: Wir wollen einen
        echten Wettbewerb um Konzessionen. Was wir aber
        nicht wollen, ist, das Energiewirtschaftsgesetz zu einem
        Schutzgesetz für die Kommunen zu machen. Das hat be-
        reits das OLG Düsseldorf in aller Klarheit festgestellt –
        ich zitiere –:
        Der Zweck des Energiewirtschaftsgesetzes besteht
        nicht in dem Schutz der Gemeinde, etwa um die
        Entscheidungsfreiheit der Gemeinde zu erweitern,
        sondern in der Ermöglichung des Wettbewerbs
        durch Dritte.
        Wir wollen keine Staatsnetze. Wir wollen, dass sich
        der effizienteste Netzbetreiber im Wettbewerb um die
        Konzessionen durchsetzt. Das bedeutet Transparenz und
        Gleichbehandlung für alle potenziellen Bewerber um die
        Netzkonzession. Die Kommune muss daher bei einer
        Neuausschreibung der Konzession alle Bewerber mit In-
        formationen versorgen. Sie darf nach dem Sinn des Ge-
        setzes sich selbst dabei nicht bevorzugen, wenn sie das
        Netz übernehmen will. Denn natürlich benötigt jeder
        Wettbewerber um die Konzession Informationen über
        das Netz, bevor er seine Entscheidung trifft.
        Statt zu klagen, sollten die Kommunen selbst etwas
        zur Besserung der Lage tun. Sie sind die Herren des Ver-
        fahrens. Jede Kommune kann die Konzessionsinhaber
        vertraglich verpflichten, bei Auslaufen der alten Konzes-
        sion die potenziellen Mitbewerber ausreichend mit In-
        formationen zu über das Netz zu versorgen. Beim Wech-
        sel des Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen
        Versorgung“ gibt es im Energiewirtschaftsgesetz eine
        Überlassungspflicht. Entgegen Ihrer Argumentation gibt
        es darin sehr wohl eine eindeutige Regelung zur Übertra-
        gung der Anlagen an einen Neukonzessionär. Allerdings
        hat man damals davon abgesehen, eine ausdrückliche
        Verpflichtung zur Eigentumsübertragung aufzunehmen.
        Eine Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung ist ein
        ebenso geeignetes, aber weitaus milderes Mittel. Auch
        so wird einem neuen Betreiber die Verfügungsmacht
        über die notwendigen Anlagen eingeräumt.
        Außerdem: Mit Festschreibung einer wirtschaftlich
        angemessenen Vergütung stellen wir sicher, dass der
        Versorgerwechsel nicht an einer verboten hohen Vergü-
        tung scheitert. Wir lehnen eine allgemeine Begrenzung
        der Vergütung auf den kalkulatorischen Restwert ab. Bei
        abgeschriebenen Netzen bedeutet das nämlich eine Ver-
        pflichtung zur Zwangsschenkung. An dieser Stelle sei an
        Art. 14 des Grundgesetzes erinnert – unzulässiger Ein-
        griff in die Eigentumsfreiheit.
        Daher lehnen wir Ihren Gesetzesentwurf ab.
        Dorothée Menzner (DIE LINKE): Die Koalition
        will – ich zitiere aus ihrem zweifelhaften Energiekon-
        zept – „den Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche
        Orientierung auf den Energiemärkten stärken.“ Dass es
        ihr dabei ausschließlich um die Stärkung des Wettbe-
        werbs für die vier Atomkonzerne geht, ist im ganzen
        Land bekannt. Nicht umsonst spricht auch der Deutsche
        Städtetag im Zusammenhang mit der Laufzeitverlänge-
        rung von einer „Gefährdung der Wirtschaftlichkeit der
        Investitionen von Städten und ihrer Unternehmen in Er-
        neuerbare Energie“.
        Die Linke hat ein Gegenkonzept zu dieser Agenda für
        die Energiekonzerne – gegen das schwarz-gelbe Ener-
        giekonzept – mit der Forderung nach einer umfassenden
        Rekommunalisierung des Energiesektors. Der Energie-
        sektor muss als Bereich der öffentlichen Daseinsvor-
        sorge unter demokratische Kontrolle gestellt werden.
        Wer sollte das besser bewerkstelligen als die Kommunen
        selbst? Viele Konzessionsverträge zwischen großen
        Energieunternehmen und den Kommunen laufen dem-
        nächst aus. Genau da setzt ein Hebel an, der den Umbau
        zu erneuerbaren Energien wesentlich antreiben kann,
        denn Gemeinden können in Konzessionsverträgen fest-
        schreiben, dass Gewinne in erneuerbare Energien inves-
        tiert werden können; sie können Vorgaben für den
        Stromeinkauf machen. Sie können mit dem Auslaufen
        der Konzessionen also auf vielfältige Weise bestimmen,
        wie der regionale Strommix aussehen soll.
        In vielen Städten wollen die örtlichen Stadtwerke die
        Netze selbst nutzen. Viele Stadtwerke mit mehrheitlich
        kommunaler Beteiligung haben den Wunsch, die Bürge-
        rinnen und Bürger mit regional erzeugtem erneuerbaren
        Strom zu versorgen. Es ist die Aufgabe von Bundespoli-
        tik, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen,
        6992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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        (D)(B)
        um genau solchen Stadtwerken die Übereignung der
        Energienetze so einfach wie möglich zu gestalten – für
        einen nachhaltigen Klimaschutz, für Bürgerbeteiligung
        und für die Wertschöpfung in regionalen Wirtschafts-
        kreisläufen. Es kann deshalb nicht sein, dass sich Ener-
        giekonzerne hinstellen und bei Auslaufen der Konzes-
        sionsverträge horrende und völlig utopische Summen für
        die zum Teil völlig überalterten Netze verlangen. Dass
        das Ende von Konzessionen regelmäßig in Jahre andau-
        ernden Rechtsstreitigkeiten mündet, zeugt von der
        Dreistigkeit und der Profitgier der Konzerne gegenüber
        Kommunen. Ein Beispiel: Die Stadt Wolfhagen hat als
        erste Stadt in Nordhessen ihr Stromnetz von Eon zurück-
        gekauft. Sie will bis 2015 ihren gesamten Strombedarf
        aus erneuerbaren Energien decken. Die Kaufsumme für
        die Netze von 2,4 Millionen Euro lag nach Einschätzung
        der Stadtwerke 180 Prozent über dem tatsächlichen
        Wert. Dort hat erst der Gang vor das Bundesverwal-
        tungsgericht eine Lösung schaffen können. Noch ein
        Beispiel: RWE musste auf Drängen des Oberverwal-
        tungsgerichts 2,8 Millionen D-Mark an die Gemeinde
        Nürnbrecht in Nordrhein-Westfalen zurückzahlen.
        Solche Beispiele gibt es noch einige, und ohne eine
        klare Regelung zur Festsetzung des wirklichen Wertes
        regionaler Energienetze steht eine Flut von gerichtlichen
        Auseinandersetzungen bevor – allerdings nur, wenn
        Kommunen durch die Dreistigkeit der Konzerne nicht
        abgeschreckt werden und die Gerichtskosten vorstrecken
        können. Es ist ganz klar, dass hier massiver Handlungs-
        bedarf besteht, der die Kommunen bei ihrem Streben
        nach erneuerbaren Energien und Selbstbestimmung un-
        terstützt. Deshalb begrüßt die Linke den Gesetzentwurf
        von Bündnis 90/Die Grünen; wir halten ihn aber noch
        nicht für weitgehend genug.
        Kommunen, genossenschaftliche Bürgerinitiativen
        und auch andere regionale Energieanbieter oder Vereini-
        gungen müssen jederzeit in der Lage sein, sich gegen
        Atomkraft, gegen Kohlekraft, gegen überzogene Lei-
        tungsgebühren, gegen dubiose Strombörsenspekulatio-
        nen und für erneuerbare Energien, für Kraft-Wärme-
        Kopplung, für Energieeffizienz, für Klimaschutz und für
        demokratische Mitbestimmung zu entscheiden. In den
        Kommunen selbst müssen die Bürgerinnen und Bürger
        durch viel niedrigere Hürden bei Bürgerbegehren und
        Volksentscheiden selbst entscheiden können, ob sie wei-
        terhin Strom und Gas vom fossil-nuklearen Großanbieter
        beziehen wollen oder ob sie die Sache selbst in die Hand
        nehmen. Dafür müssen sie Konzessionsverträge jeder-
        zeit kündigen können und die Energienetze zu Konditio-
        nen übereignet bekommen, die der Realität entsprechen.
        Wenn die Koalition es mit der Wettbewerbsfähigkeit
        ernst nimmt, dann erhört sie die Hilferufe aus den Ge-
        meinden und Städten und beendet endlich ihre unsägli-
        che Lobbypolitik für die Energiekonzerne. Denn was
        entgegen des Atom- und Kohlewahnsinns der Koalition
        tatsächlich verbraucherfreundlich und preisdämpfend
        wirkt, ist die Rekommunalisierung – wie in Ahrensburg,
        wo der rekommunalisierte Gasanbieter nach dem ersten
        Abrechnungsjahr 1,4 Millionen Euro an die Kunden zu-
        rückzahlen konnte.
        Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
        Deutschland laufen aktuell und in den kommenden Jah-
        ren Tausende sogenannter Konzessionsverträge zwi-
        schen Kommunen und Energieversorgungsunternehmen
        zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnetzen aus. Das
        bietet Kommunen die Chance, ihre Netze in Zukunft
        wieder in Eigenregie oder aber in Kooperation mit ande-
        ren Kommunen betreiben zu können oder einfach nur
        einen anderen Netzbetreiber zu wählen. Das ist Wettbe-
        werb um die Netze, das ist originärer Handlungsspiel-
        raum von Kommunen, den wir stärken sollten.
        Viele Kommunen wollen mit den Verteilnetzen als
        Rückgrat bei der Energiezeugung selbst aktiv werden:
        dezentral, mit erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-
        Kopplung vor Ort. Dabei wollen wir sie unterstützen.
        Wir brauchen Kommunen mit Stadtwerken als Akteuren
        im Energiemarkt. Doch leider legt das Energiewirt-
        schaftsgesetz in seiner aktuellen Fassung den Kommu-
        nen einen großen Stein in Form von § 46 Abs. 2 EnWG
        in den Weg, wenn sie am Ende der Laufzeit von Konzes-
        sionsverträgen wieder an ihre Netze kommen wollen.
        So ist der aktuelle Netzbetreiber zum Beispiel nicht
        verpflichtet, der Kommune relevante Daten über das
        Netz und dessen Zustand zur Verfügung zu stellen. Wie
        ich aus vielen Kommunen höre, geschieht dies in den al-
        lermeisten Fällen auch nicht oder die Informationen
        kommen unvollständig und mitunter viel zu spät und
        müssen oft erst über das Gericht eingeklagt werden. Den
        Kommunen fehlt damit jegliche Grundlage, über die Zu-
        kunft ihrer Netze entscheiden zu können.
        Aber es gibt noch mehr Probleme. Bei der Feststel-
        lung eines Kaufpreises sieht das Energiewirtschaftsge-
        setz eine „angemessene wirtschaftliche Vergütung“ vor,
        den die Kommunen oder ein neuer Netzbetreiber an den
        bisherigen zu zahlen haben. Was ist denn bitte eine „an-
        gemessene wirtschaftliche Vergütung“? Die Forderun-
        gen liegen oft 100 Prozent auseinander, und ich kenne
        keinen Fall, wo die Sache nicht am Ende vor Gericht ge-
        landet wäre. Deshalb geschieht es leider nur all zu häu-
        fig, dass eine Kommune sich nur deshalb wieder für den
        gleichen Netzbetreiber entscheidet, weil sie die gerichtli-
        che Auseinandersetzung scheut. Das können wir nicht
        wollen; wir wollen kommunale Entscheidungsfreiheit
        und Wettbewerb um die Netze.
        Ich habe die Bundesregierung schriftlich gefragt, ob
        sie gedenkt, an der unbefriedigenden Formulierung des
        § 46 Abs. 2 EnWG etwas zu ändern. Die Antwort der
        Bundesregierung war so knapp wie unmissverständlich:
        Sie antwortete mit einem Wort: „Nein“. So grandios
        setzt sich die Bundesregierung für die Rechtssicherheit
        der Kommunen ein. Aber das passt genau ins Bild, denn
        es sind in der Regel RWE & Co., welche die Verteilnetze
        jetzt betreiben und diese natürlich nicht hergeben wol-
        len.
        Mit unserem Gesetzentwurf ließen sich diese Pro-
        bleme lösen. Wir schlagen vor, den § 46 EnWG dahin
        gehend zu konkretisieren, dass der Kaufpreis für die
        Netze nach dem Ertragswertverfahren definiert wird.
        Das ist sachgerecht und entspricht am ehesten dem Wert
        der Netze. Außerdem wollen wir klarstellen, dass der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6993
        (A) (C)
        (D)(B)
        bisherige Nutzungsberechtige und Konzessionsnehmer
        das Netz dem neuen Konzessionsnehmer nicht nur wie
        im gültigen EnWG formuliert überlässt, sondern über-
        eignet und damit alle Rechte am Netz dauerhaft aufgibt.
        Damit die Kommune überhaupt mit ausreichendem zeit-
        lichen Vorlauf in die Lage versetzt wird, den Wert des
        Netzes und daraus resultierende wirtschaftliche Perspek-
        tiven des Netzbetriebes für sich selbst und für Dritte ein-
        zuschätzen, soll der bisherige Konzessionsnehmer ver-
        pflichtet werden, drei Jahre vor Vertragsende alle
        diesbezüglichen Informationen zur Verfügung zu stellen.
        Nur mit einem solchen Vorlauf können seriöse Verhand-
        lungen auf einer soliden Grundlage an Daten und Infor-
        mationen geführt werden.
        Im Sinne der betroffenen Kommunen und für mehr
        Wettbewerb im Energiemarkt angesichts Tausender aus-
        laufender Konzessionsverträge brauchen wir eine
        Neufassung des § 46 EnWG. In diesem Sinne hoffe ich,
        dass wir in den Ausschüssen im Unterschied zum kate-
        gorischen „Nein“ der Bundesregierung konstruktiv über
        das Thema sprechen und vielleicht sogar einen Konsens
        erreichen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebenen Reden
        zu Beratung des Entwurfs eines Neunten Geset-
        zes zur Änderung des Bundes-Immissions-
        schutzgesetzes (Tagesordnungspunkt 18)
        Dr. Michael Paul (CDU/CSU): 50 Millionen Kraft-
        fahrzeuge fahren auf den deutschen Straßen. Insgesamt
        beträgt der Energieverbrauch im Verkehrssektor
        28 Prozent. Dieser Energiebedarf wird fast ausschließ-
        lich durch Mineralölprodukte gedeckt: durch Ottokraft-
        stoffe und Dieselkraftstoffe. Es ist an der Zeit, auch in
        diesem Bereich den Weg hin zu den erneuerbaren Ener-
        gien zu beschreiten, sowohl um knappe Ressourcen zu
        schonen als auch, um das Klima zu schützen.
        Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir
        heute beraten, wird nun die Möglichkeit flankiert, ab
        2011 Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumenprozent
        Bio-Ethanol in Verkehr zu bringen. Anstatt wie bisher
        nur Kraftstoff mit der zulässigen Beimischungsgrenze
        für Bio-Ethanol von 5 Volumenprozent, werden die Au-
        tofahrer künftig Kraftstoff mit 10 Prozent Ethanolanteil
        an ihrer Tankstelle tanken können.
        Durch die Einführung von E10 wird der Biokraftstoff-
        anteil pro Liter Kraftstoff erhöht. Dies wird es überhaupt
        erst ermöglichen, dass die anspruchsvollen, durch das
        Biokraftstoffquotengesetz vorgeschriebenen Biokraft-
        stoffanteile erfüllt werden können. Das Biokraftstoff-
        quotengesetz schreibt seit dem 1. Januar 2007 eine Min-
        destbeimischung von Biokraftstoffen zu Motorenbenzin
        und Dieselkraftstoff vor. Es verpflichtet die Mineralöl-
        wirtschaft, einen jährlich festen und mit den Jahren an-
        wachsenden Mindestanteil von Biokraftstoffen in den
        Verkehr zu bringen. Dieser Anteil stieg jährlich an und
        beträgt in diesem Jahr 6,25 Prozent des Energiegehalts
        der gesamten in den Verkehr gebrachten Kraftstoffe (§ 37a
        Abs. 3 BImSchG). Mit E5 allein war diese Quote nicht
        erreichbar. Durch die Einführung von E10 ist es nun-
        mehr möglich, die durch das Biokraftstoffquotengesetz
        vorgeschriebenen Biokraftstoffanteile zu erfüllen.
        Bioethanol wird aus dem nachwachsenden Kohlen-
        stoffträger Biomasse oder den biologisch abbaubaren
        Anteilen von Abfällen hergestellt. Durch die zuneh-
        mende Beimischung von Bioethanol werden dement-
        sprechend weniger fossile Kraftstoffe verbrannt. Bei ent-
        sprechender umweltfreundlicher Herstellung, die durch
        entsprechende Zertifizierung des Bioethanols nachge-
        wiesen wird, verbessern wir dadurch die Klimabilanz
        nachhaltig.
        Die Bundesregierung hat am 28. September 2010 ein
        umfassendes Energiekonzept zur Sicherstellung einer
        zuverlässigen, wirtschaftlichen und umweltverträglichen
        Energieversorgung beschlossen. Damit liegt zum ersten
        Mal seit 20 Jahren ein ideologiefreies, technologieoffe-
        nes und marktorientiertes Energieprogramm vor, das alle
        energiewirtschaftlich relevanten Bereiche anspricht,
        auch den Verkehrsbereich.
        Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die im Energie-
        konzept aufgeführten Ziele für die Verminderung von
        Treibhausgasen, für den Anteil erneuerbarer Energien
        und für Energieeffizienz. Die vorgegebenen Reduktions-
        ziele für den CO2-Ausstoß sind ehrgeizig: 40 Prozent
        weniger CO2-Ausstoß ab 1990 bis 2020 und 80 bis
        95 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2050. Ferner ist für
        den Verkehrssektor im Energiekonzept ausdrücklich die
        Steigerung des Anteils von Biokomponenten in Kraft-
        stoffen festgeschrieben. Die Zielvorgaben für die Dekar-
        bonisierung werden schrittweise anspruchsvoller. Zu-
        dem ist die Treibhausgasbilanz des Kraftstoffs ein
        zentraler Bestandteil für die künftige Begünstigung be-
        sonders förderungswürdiger Biokraftstoffe.
        Mit der gesetzlichen Regelung soll zum einen dem
        Klimaschutz durch eine Verringerung der Verbrennung
        mineralischer Kraftstoffe Rechnung getragen werden.
        Zum anderen soll durch den Ausbau der Biokraftsstoff-
        industrie eine Basis für die Versorgungssicherheit mit
        Kraftstoffen geschaffen werden. Versorgungssicherheit
        ist neben Klimaverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit
        ebenfalls ein Ziel im Zieldreieck unserer Energieversor-
        gung. Wir können so unsere Abhängigkeit von impor-
        tiertem Öl senken.
        Zur Einführung von E10-Kraftstoff soll das Neunte
        Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzge-
        setzes die Verordnungsermächtigungen des BImSchG
        erweitern. Die Bundesregierung wird zum einen ermäch-
        tigt, sogenannte Bestandsschutzsorten bei Kraftstoffen
        zu regeln. Darüber hinaus wird die Bundesregierung er-
        mächtigt, die Datenerhebung bei Mineralölunternehmen
        zur Erstellung einer Ökobilanz der Treibstoffe zu regeln.
        Bei der Einführung von E10-Kraftstoffen muss dafür
        Sorge getragen werden, dass ältere Fahrzeuge, die mög-
        licherweise E10-Kraftstoff nicht vertragen, keinen Scha-
        den nehmen. Aus diesem Grund ist sicherzustellen, dass
        an jeder Tankstelle weiterhin eine Bestandschutzsorte
        6994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        angeboten wird; also eine Sorte Kraftstoff, die problem-
        los von allen Fahrzeugen „vertragen“ wird. Die Rege-
        lung dieser Bestandsschutzsorten-E5, die wie bisher nur
        bis zu 5 Prozent Bioethanol enthalten, ist notwendig, um
        die kontinuierliche Versorgung aller auf dem Markt be-
        findlichen Fahrzeuge mit geeignetem Kraftstoff sicher-
        zustellen. Nach Angaben der Hersteller sind etwa drei
        Millionen Fahrzeuge E10-unverträglich, das heißt, sie
        können nur mit E5 betrieben werden. In der Hauptsache
        handelt es sich um ältere Fahrzeuge. Für den einzelnen
        Autofahrer muss leicht und schnell erkennbar sein, ob
        sein Auto E10 verträgt oder nicht verträgt. Dazu müssen
        die Hersteller, die Importeure und diesmal auch der
        ADAC einen Weg finden. Es kann nicht sein, dass hie-
        rüber erst im letzten Moment oder gar nicht Auskunft
        gegeben wird. Die Einführung von E10 war 2008 nicht
        zuletzt daran gescheitert; dies darf sich nicht wiederho-
        len.
        Der Gesetzentwurf dient im Wesentlichen der Umset-
        zung der EU-Kraftstoff-Richtlinie im Hinblick auf die
        Spezifikationen für Otto-, Diesel- und Gasölkraftstoffe
        und die Einführung eines Systems zur Überwachung und
        Verringerung der Treibhausgasemissionen. Darüber hi-
        naus erfolgt bei dieser Gelegenheit eine redaktionelle
        Anpassung von § 13 BImSchG an das neu nummerierte
        Wasserhaushaltsgesetz.
        Die EU-Kraftstoffrichtlinie verpflichtet die Mitglied-
        staaten, bis Ende des Jahres 2010, das Inverkehrbringen
        von Ottokraftstoff mit bis zu 10 Prozent Bioethanol zu
        ermöglichen. Darüber hinaus sieht die Richtlinie vor,
        dass für Fahrzeuge, deren Motoren einen Anteil von
        10 Prozent Bioethanol im Kraftstoff nicht vertragen, si-
        cherzustellen ist, dass mindestens bis zum Jahr 2013
        Kraftstoffe mit einem maximalen Sauerstoffgehalt von
        2,7 Prozent und einem maximalen Ethanolgehalt von
        5 Prozent in Verkehr gebracht werden. Zur Umsetzung
        der konkreten Anforderungen der Richtlinie soll in
        Deutschland die Kraftstoffqualitätsverordnung geändert
        werden. Die Regelung von Bestandsschutzsorten in ei-
        ner novellierten 10. BImSchV setzt eine Ergänzung der
        bereits in § 34 BImSchG vorhandenen Verordnungser-
        mächtigungen voraus, die mit diesem Gesetzentwurf ge-
        schaffen werden soll.
        Die Umsetzung der EU-Richtlinie bis zum Jahresende
        ist für die Mitgliedsländer Pflicht. Ich bitte Sie daher um
        die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesre-
        gierung.
        Ute Vogt (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf hat
        – unter anderem – die „Einführung eines Systems zur
        Überwachung und Verringerung von Treibhausgasemis-
        sionen“ zum Ziel, wie es die EU-Richtlinie 2009/30/EG
        vom 23. April 2009 vorsieht. Ein zentraler Punkt dabei
        ist die Einführung einer verpflichtenden Berichterstat-
        tung der Kraftstoffvertreiber über Menge, Art, Erwerbs-
        ort und Ursprung des Treibstoffes sowie die Mitteilung
        über die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Ener-
        gieeinheiten an den Bund. Die Informationspflicht, die
        damit neu geschaffen wird, ist eine notwendige Grund-
        lage für das Ziel der Verringerung der Treibhausgas-
        emissionen.
        Sicher ist der uns vorliegende Gesetzentwurf nur ein
        winziger Baustein in einer notwendigen Reihe von
        Maßnahmen, um dem Ziel der CO2-Reduktion näher zu
        kommen. Unter diesem Aspekt stellt sich deshalb auch
        die Frage, warum sich die Bundesregierung bis heute
        Zeit gelassen hat, einen Vorschlag einer Umsetzung der
        EU-Richtlinie in nationales Recht vorzulegen. Schließ-
        lich muss die Verordnung laut Vorgabe der EU bis zum
        31. Dezember 2010 in allen Mitgliedstaaten umgesetzt
        sein. Es ist jedoch zu begrüßen, dass nun endlich eine
        Umsetzung der Richtlinie erfolgt und der Einführung
        von E10 nichts mehr im Wege steht. Außerdem wird der
        Bestandsschutz für ältere Fahrzeuge gewährleistet, in-
        dem auch weiterhin Kraftstoff mit einer geringeren Bei-
        mischung von Bioethanol im Umlauf bleibt.
        Die Grundlagen, die wir heute legen, können zu Ver-
        besserungen des Klimaschutzes beitragen. Wir sollten
        sie jedoch lediglich als kleinen Baustein auf dem Weg
        der Reduktion von CO2 sehen. Denn ernst zu nehmen ist
        die Kritik verschiedener Umweltverbände, dass Bioetha-
        nol nicht in letzter Konsequenz „Bio“ und klimaneutral
        ist. Der in Deutschland hergestellte Biokraftstoff ent-
        spricht ökologischen Standards – was bedauerlicher-
        weise in vielen anderen Ländern der Welt aber nicht der
        Fall ist. Wir brauchen deshalb als Konsequenz auf die
        Umsetzung der Verordnung rechtlich verbindliche Krite-
        rien für Kraftstoffe, die gewissen Nachhaltigkeitskrite-
        rien entsprechen. Ein Weg ist es, in Bioethanol nicht die
        Lösung der deutschen Treibhausgasemissionen zu sehen
        und alternativen Kraftstoffen ebenfalls eine Chance ein-
        zuräumen. Bei Einsatz eines Hektars an Ackerfläche zur
        Produktion von flüssigen bzw. gasförmigen, biogenen
        Kraftstoffen, kann beispielsweise ein mit Biomethan be-
        triebener Pkw eine bis zu rund dreimal so lange Strecke
        zurücklegen wie ein mit Bioethanol betriebener.
        Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die mit die-
        ser Gesetzesänderung geschaffene Berichtspflicht für
        Kraftstoffvertreiber nicht ein weiteres bürokratisches
        Monstrum wird, sondern dass die gewonnenen Erkennt-
        nisse zeitnah in aktuelle Politik einfließen. Die für sie
        neuen, sehr umfangreichen Berichtspflichten dürfen bei
        Kraftstoffvertreibern nicht den Eindruck hinterlassen, sie
        werden nur um des Datensammelns willen erfasst. Es
        müssen Taten folgen und entsprechende Maßnahmen
        umgesetzt werden – und auch weiterhin alternative Me-
        thoden, die zur Verminderung von Treibhausgasemissio-
        nen beitragen können, verfolgt werden.
        Es ist ein erster Schritt, über die neu geschaffene Be-
        richtspflicht Fakten über Kriterien von Biokraftstoffen
        zu erhalten. Aber Datensammeln allein hilft noch nichts.
        Es muss in einem zweiten Schritt die gleiche Anforde-
        rung an fossile Kraftstoffe gelten. Denn nur so ist eine
        echte Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeit der verschie-
        denen Kraftstoffarten gegeben.
        Michael Kauch (FDP): Der vorliegende Gesetzent-
        wurf schafft die Ermächtigungsgrundlage zur Änderung
        der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung dahin ge-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6995
        (A) (C)
        (D)(B)
        hend, dass insbesondere die Beimischungsgrenze für Etha-
        nol im Ottokraftstoff von bisher 5 Prozent auf 10 Prozent
        erhöht werden kann. Dies ist ein richtiger Schritt. Denn
        der Straßenverkehr trägt einen erheblichen Anteil zu den
        Treibhausgasemissionen in Deutschland und Europa bei.
        Durch das Gesetz wird die Möglichkeit eröffnet, einen
        höheren Anteil regenerativer Energien im Straßenverkehr
        einzusetzen. In der letzten Wahlperiode ist die Beimi-
        schung von 10 Prozent Ethanol im Benzin mit der Be-
        gründung abgelehnt worden, dass es zu Problemen mit
        der Motorentechnik kommen kann. Im Koalitionsvertrag
        haben Union und FDP daraufhin beschlossen, die Einfüh-
        rung von E10 als Option zu ermöglichen. Diese Möglich-
        keit wird eröffnet durch eine klare Kennzeichnung, so
        dass jeder Fahrer entscheiden kann, welchen Kraftstoff er
        tankt. Dies ist ein Schritt zu mehr Klimaschutz im Ver-
        kehr und schafft zugleich Sicherheit für die Autofahrer.
        Für mehr Umweltschutz im Verkehr beschreitet die Ko-
        alition drei Wege: mehr und bessere Biokraftstoffe,
        Elektromobilität und Weiterentwicklung der Brennstoff-
        zellentechnik. Als FDP wollen wir zudem nicht nur die
        Beimischung von Biokraftstoff erleichtern, sondern auch
        den Markt für reine Biokraftstoffe wiederbeleben. Damit
        meinen wir es ernst: Die von SPD-Finanzminister Peer
        Steinbrück ursprünglich zum 1. Januar 2010 vorgese-
        hene Steuererhöhung für reine Biokraftstoffe haben wir
        deshalb gestoppt. Mit dem Wachstumsbeschleunigungs-
        gesetz haben wir einen Beitrag zur Marktfähigkeit von
        reinen Biokraftstoffen geleistet. Mit der Novellierung
        des Bundes-Immissionsschutzgesetzes schaffen wir nun
        die Grundlage für eine erweiterte optionale Beimischung
        von Ethanol.
        Ralph Lenkert (DIE LINKE): Heute sprechen wir
        über legalen Alkohol im Auto. Es geht nicht um die Pro-
        mille beim Fahrer, sondern um den erzwungenen Alko-
        holkonsum für Motoren; denn Ethanol, aus nachwach-
        senden Pflanzen gewonnen, wird als CO2-neutraler
        Treibstoff eingestuft. Deshalb sollen ab 2011 zwangs-
        weise 10 Prozent Alkohol in die Kraftstoffe gemischt
        werden; das wäre ein Alkoholanteil im Benzin wie bei
        Wein. Damit hofft die Bundesrepublik die Klimaziele zu
        erreichen.
        Aber gerade beim Klimaschutz muss man komplex in
        globalen Maßstäben denken. Ein Problem der Zwangs-
        beimischung von Alkohol in diesen Mengen ist, dass
        dieser aus Biomasse gewonnen wird. Zuckerrohr wird
        angebaut, zu Alkohol destilliert, und dann wird alles ver-
        brannt. In Europa stehen wegen Biogasnutzung, Lebens-
        mittelproduktion und Agrarrohstoffversorgung bereits
        heute keine ausreichenden Flächen zur Verfügung. Also
        wird der Alkohol aus der Dritten Welt importiert. Da die
        Kraftstoffanbieter diesen Alkohol verpflichtend brau-
        chen, kaufen sie die notwendigen Agrarpflanzen auf.
        Dieses Gesetz führt in den Entwicklungsländern zur
        Umstellung der Nahrungsproduktion auf Energiepflan-
        zenanbau. Außerdem sind die großen Kraftstoffanbieter
        organisatorisch nicht in der Lage, mit Tausenden Klein-
        bauern einzelne Lieferverträge abzuschließen. Also ar-
        beiten sie mit Agrargroßunternehmen zusammen; diese
        verdrängen dann selbstständige Bauern. So werden so-
        ziale Gefüge zerstört, so haben 925 Millionen Men-
        schen nicht genug zu essen, und alle sechs Sekunden
        verhungert ein Kind, weil ausreichend Land für den
        Nahrungsmittelanbau fehlt. Der Druck, neues Ackerland
        auf bisher ungenutzte Flächen zu gewinnen, steigt – Ur-
        wälder werden gerodet, und Grünland wird zu Acker-
        land für Monokulturen. Die Artenvielfalt sinkt, und beim
        Pflanzenanbau für Alkohol im Tank gibt es kaum Be-
        schränkungen für den Einsatz von Chemikalien und gen-
        manipuliertem Saatgut. Damit zerstört dieses Gesetz die
        Lebensgrundlagen von Mensch und Tier. Auch Zertifi-
        zierungen helfen da nichts. Was nutzt es, wenn Alkohol
        für Europa aus zertifiziertem Anbau stammt und die ur-
        sprünglich dort angebauten Pflanzen für andere Ab-
        nehmer dann auf frischen Rodungsflächen wachsen
        müssen? Wir in der Bundesrepublik müssen die Beimi-
        schung von Import-Alkohol in Benzin verhindern, so-
        lange noch ein Mensch auf der Erde hungert.
        Ein Problem kommt auch auf die Nutzer älterer Pkw,
        die sich neue Autos nicht leisten können, zu. Ältere Mo-
        toren werden durch den hohen Alkoholanteil zerstört.
        Ab 2014 ist dies nach dem Auslaufen der Übergangsfrist
        unvermeidlich. Die Autohändler haben bereits Dollar-
        zeichen in den Augen. Auch der Benzinpreis steigt durch
        die Alkoholkosten und die Beimischungskosten an.
        Im Öko-Mäntelchen steigern Sie die Mehrwertsteuer-
        einnahmen für den Finanzminister. Durch dieses Gesetz
        wird Natur zerstört werden; viele Menschen werden ihre
        Existenz verlieren. Wer sich hohe Benzinpreise und neue
        Autos nicht leisten kann, verliert Mobilität. – Das alles
        ist nicht hinnehmbar. Von diesem Gesetz profitieren
        Agrarkonzerne, Genmanipulatoren aus der Chemiein-
        dustrie und Pkw-Hersteller. Wer dieses Gesetz so verab-
        schiedet, zeigt Herz für Konzerne und den Menschen die
        kalte Schulter. Daher sagt die Linke Nein zu diesem Ge-
        setz, zu diesem Öko-Kolonialismus.
        Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        grüne Fraktion begrüßt, dass nun die Möglichkeit ge-
        schaffen wird, Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumen-
        prozent Ethanol – also E10 – in Verkehr zu bringen.
        Ebenfalls begrüßen wir, dass dabei Nachhaltigkeits- und
        Qualitätskriterien berücksichtigt werden. Der Bundesrat
        hat darauf hingewiesen, dass es Möglichkeiten gäbe, bei
        Sicherstellung der Nachhaltigkeit die Kontrolle dieser
        Kriterien mit weniger bürokratischem Aufwand zu be-
        werkstelligen. Hier sollte die Bundesregierung noch
        nacharbeiten.
        Wie wir alle wissen, handelt es sich hier nur um eine
        Pflichtaufgabe seitens der EU. Da, wo die Regierungs-
        parteien selbst handeln müssten, versagen sie; da wo sie
        handeln, machen sie alles schlimmer. Nichts ist geblie-
        ben von dem Versprechen des Koalitionsvertrages, die
        reinen Biokraftstoffe wieder wettbewerbsfähig zu ma-
        chen. Die Besteuerung ist aktuell immer noch zu hoch
        für eine Wirtschaftlichkeit; dies belegt selbst der Bio-
        kraftstoffbericht der Bundesregierung. Aber es kommt
        noch schlimmer: Immer noch ist geplant, die reinen Bio-
        kraftstoffe zukünftig so hoch wie Diesel und Benzin zu
        6996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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        besteuern. Wer soll hier noch auf die Politik vertrauen
        und investieren?
        Sie haben zwar die Wiederbelebung des realen Bio-
        kraftstoffmarktes in den Koalitionsvertrag geschrieben.
        Bisher ist keine Umsetzung erfolgt. Im Energiekonzept
        der Bundesregierung findet sich eben keine Aussage zu
        einer Steuererleichterung für die reinen Biokraftstoffe.
        Sind Sie endlich ehrlich: Eine Wiederbelebung des
        Marktes für reine Biokraftstoffe wird es unter Schwarz-
        Gelb nicht geben.
        Aber die Union und die FDP schauen nicht nur zu,
        wie der Reinkraftstoffmarkt für Biokraftstoffe vor die
        Hunde geht, sondern sie arbeiten auch im Quotenmarkt
        für die Konzerne. Wem außer den Mineralölkonzernen
        ist geholfen, wenn zukünftig die Hydrierung in der
        Quote erlaubt wird? 3 Prozent Hydrierungsanteil beim
        Diesel bedeuten, dass der Mittelstand aus diesem Markt-
        segment gedrängt wird. Statt Rapsöl aus deutschen Lan-
        den gibt es zukünftig Palmöl aus Indonesien. „Pack den
        Regenwald in den Tank“ ist wohl das Leitmotiv der Bio-
        kraftstoffstrategie von Röttgen und Aigner. Die Regie-
        rung ist wieder den Konzern-Lobbyisten auf den Leim
        gegangen.
        Das sogenannte Energiekonzept ist das passende
        Stichwort, Konzeptionslosigkeit ist das oberste Leitmo-
        tiv. In dem ganzen Papier gibt es dutzende Prüfaufträge,
        aber keine einzige Aussage dazu, wie reine Biokraft-
        stoffe wieder einen Markt bekommen sollen. Ebenfalls
        eine Fehlanzeige gibt es beim nationalen Aktionsplan
        der Bundesregierung für erneuerbare Energien, der im
        Sommer nach Brüssel geschickt wurde. Darin wird zwar
        von steigenden Anteilen von Biokraftstoffen berichtet,
        es gibt aber keine Maßnahme, die das unterlegen würde.
        Die einzig wirkungsvolle Maßnahme für den Ausbau
        der erneuerbaren Energien, die etwas Positives bewegen
        wird, ist ein schnellstmöglicher Regierungswechsel.
        Dies hat offenbar selbst die bayerische Staatsregierung
        verstanden. Diese hat einen Antrag in den Bundestag
        eingebracht, der sich in den meisten Punkten gar nicht so
        schlecht liest. Leider dient der Antrag nur, in Bayern Ak-
        tivität vorzugaukeln. Die Unions-Abgeordneten sollten
        ihren Job tun und das umsetzen, was sie längst verspro-
        chen haben. An der FDP sollte es eigentlich nicht liegen.
        Die hatte noch bis zur letzten Bundestagswahl die glei-
        chen Versprechen abgegeben. Jetzt müssten Sie nur ihre
        eigenen Versprechen halten – und die Biokraftstoffe hät-
        ten in Deutschland wieder eine Zukunft.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Biologische Vielfalt
        für künftige Generationen bewahren und die
        natürlichen Lebensgrundlagen sichern (Zusatz-
        tagesordnungspunkt 4)
        Josef Göppel (CDU/CSU): „Wir müssen Klima-
        schutz und Biodiversität gemeinsam denken“, hat Frau
        Bundeskanzlerin Merkel gestern in ihrer Rede auf der
        Konferenz zu Klimaschutz und biologischer Vielfalt hier
        im Bundestag gesagt, und sie hat es mit einem ein-
        drucksvollen Beispiel belegt: Durch den klimawandelbe-
        dingten Anstieg der Meeresspiegel stehen die Korallen-
        riffe buchstäblich vor dem Untergang. Dieses Beispiel
        zeigt, wie die Dinge zusammenhängen. Frau Merkel hat
        zugleich deutlich gesagt: „Mit jedem Jahr, das wir ver-
        lieren, ist die Anstrengung nachher um so größer.
        Nichtstun wird sich bitterlich rächen.“ Wir alle wissen,
        die Ursachen und Folgen des Artenschwundes sind auf
        vielfache Weise mit den Ursachen und Folgen des Kli-
        mawandels verbunden. Ein im Aufbau befindlicher At-
        las der UNEP zeigt, wie Gebiete mit besonders hohem
        Artenreichtum und Gebiete mit überdurchschnittlicher
        CO2-Speicherung zusammenhängen. Es gilt deshalb,
        dem Verlust an biologischer Vielfalt mit gleicher Priori-
        tät entgegenzutreten wie den Ursachen für den Klima-
        wandel.
        Ich halte es, in Zeiten massiver Auseinandersetzun-
        gen und Konflikte in der Atom- und Energiepolitik, für
        äußerst bemerkenswert, dass es in kürzester Zeit gelun-
        gen ist, einen so umfassenden und fundierten gemeinsa-
        men Antrag zur Bewahrung der biologischen Vielfalt
        und zum Schutz unserer Lebensgrundlagen auf den Weg
        zu bringen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen
        bedanken, die konstruktiv zu diesem Erfolg beigetragen
        haben. Der gemeinsame Antrag ist nicht nur ein gutes
        Zeichen für das deutsche Parlament, er ist auch ein ein-
        deutiges Signal an unsere Partner im Kampf gegen den
        Klimawandel und den Artenschwund. Ich bin der festen
        Überzeugung, dass der Erhalt der Artenvielfalt nicht nur
        eine ethische Verpflichtung zur Bewahrung der Schöp-
        fung ist, sondern auch eine existenzielle Bedeutung für
        das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen
        hat.
        In wenigen Tagen wird die internationale Konferenz
        zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt in
        Nagoya, Japan, stattfinden. Der gemeinsame Antrag
        kommt somit genau zum richtigen Zeitpunkt. Lassen Sie
        mich drei Punkte herausgreifen, die zeigen, warum die-
        ser Antrag so bedeutend ist. Erstens, wir brauchen ein
        klares Biodiversitätsziel im strategischen Plan der Kon-
        vention. Der strategische Plan ist der Teil der Konven-
        tion, in dem verbindliche Ziele definiert werden. Zwei-
        tens, wir brauchen eine wirksame, gerechte und
        völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft für den Zu-
        gang zu genetischen Ressourcen und den Vorteilsaus-
        gleich. Ein Großteil der natürlichen Vielfalt befindet sich
        in den Entwicklungsländern, die nicht über die notwen-
        digen Finanzmittel verfügen, um die Artenvielfalt mit all
        ihren Wohlfahrtsleistungen aus eigener Kraft zu schüt-
        zen. Zugleich ist die biologische Vielfalt der Regenwäl-
        der ein Schatz für die Forschung und Wirtschaft in vie-
        len Industrieländern. Drittens, wir brauchen einen
        langfristigen und verlässlichen Finanzierungsmechanis-
        mus für die Errichtung und dauerhafte Sicherung eines
        weltweiten Schutzgebietsnetzes. Dazu gehört elementar
        auch der Waldschutz. Deutschland hat 500 Millionen
        Euro bis 2012 und ab 2012 jährlich 500 Millionen für
        den Erhalt und die nachhaltige Entwicklung bedrohter
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6997
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        Ökosysteme, insbesondere Wälder, zugesagt. Diese Mit-
        tel müssen nun auch eingesetzt werden.
        Man kann die Frage stellen, warum sollen wir hier in
        Deutschland für den Erhalt der tropischen Urwälder be-
        zahlen. Die Antwort ist: So wie die europäischen Land-
        wirte erwarten, von der Allgemeinheit für Leistungen
        des Umweltschutzes entschädigt zu werden, genauso er-
        warten die Menschen in den Entwicklungsländern finan-
        ziellen Ausgleich für den Schutz der Artenvielfalt, deren
        wirtschaftliche Vorteile hauptsächlich den Industrielän-
        dern zugutekommen. Norwegen gibt für den Schutz der
        tropischen Wälder seit 2007 jährlich 500 Millionen US-
        Dollar und in diesem Jahr nochmals eine Milliarde US-
        Dollar zusätzlich aus.
        Der Biodiversitätsverlust trifft die wirtschaftlich
        schwächsten Regionen der Erde am stärksten. Die biolo-
        gische Vielfalt leistet besonders in Entwicklungs- und
        Schwellenländern einen unverzichtbaren Beitrag zur
        nachhaltigen Entwicklung, Armutsbekämpfung, Ernäh-
        rungssicherung, Trinkwasserschutz, Klimaschutz und
        Anpassung an den Klimawandel. Wer Leistungen für die
        Gesellschaft erbringt, muss dafür besser gestellt sein als
        derjenige, der nur die gesetzlichen Mindestanforderun-
        gen erfüllt oder zur Zerstörung der Artenvielfalt beiträgt.
        Auch in unserem Land gibt es Artenverluste. Nur ein
        Beispiel: Nach dem Auslaufen der EU-Flächenstille-
        gungsprogramme steht heutzutage eine der bekanntesten
        Vogelarten der offenen Kulturlandschaft, die Feldlerche,
        auf der Roten Liste. In Deutschland hat der Bestand zwi-
        schen 1980 und 2005 um etwa 30 Prozent abgenommen.
        Bei der Neuregelung der gemeinsamen Agrarpolitik
        muss deshalb der Schutz der biologischen Vielfalt be-
        rücksichtigt und honoriert werden. Mit dem kooperati-
        ven Naturschutz, wie er mit den Landschaftspflegever-
        bänden heute schon praktiziert wird, haben wir ein
        brauchbares Instrument, um die biologische Vielfalt in
        Deutschland zu stabilisieren.
        Ich möchte zum Schluss nochmals auf die Worte von
        Frau Merkel zurückkommen, des gesagt hat: „Wir müs-
        sen Klimaschutz und Biodiversität gemeinsam denken.“
        Ich füge hinzu, wir müssen Biodiversität und Wald-
        schutz gemeinsam denken und wir müssen Biodiversität
        und Landwirtschaft gemeinsam denken. Das Thema bio-
        logische Vielfalt muss deshalb in allen Politik- und Wirt-
        schaftsbereichen wie zum Beispiel der Haushalts-, Wirt-
        schafts-, Agrar-, Fischerei-, Wald-, Klima-, Verkehrs-
        und Bau- sowie der Bildungs- und Forschungspolitik ko-
        operativ verankert werden.
        Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Anmerkung zur
        europäischen Wasserrahmenrichtlinie: Die Wasserrah-
        menrichtlinie ist ein Positivbeispiel, wie die nachhaltige
        Nutzung und der Erhalt der Fließgewässer kombiniert
        werden können. Die Wasserrahmenrichtlinie sollte des-
        halb in größerem Umfang für Artenschutzziele genutzt
        werden.
        Der Blick auf die weltweite Verantwortung darf nicht
        den Blick für das konkrete Verhalten im eigenen Lebens-
        bereich verdecken. Trotz der gigantischen globalen He-
        rausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass jeder
        seinen Beitrag zum Schutz des Klimas und der biologi-
        schen Vielfalt leisten kann. Auf die konkreten Maßnah-
        men kommt es an. Wir müssen jetzt handeln. Ich glaube,
        dass wir mit dem heutigen Antrag auf dem richtigen
        Weg sind. Wir erwarten deshalb von der Bundesregie-
        rung, dass den Worten Taten folgen. Ich wünsche Frau
        Merkel, Herrn Umweltminister Röttgen und der deut-
        schen Delegation viel Erfolg bei den Verhandlungen in
        Nagoya.
        Dr. Matthias Miersch (SPD): Ich freue mich, dass es
        uns gelungen ist, gerade noch rechtzeitig einen interfrak-
        tionellen Antrag zur 10. Vertragsstaatenkonferenz über
        die biologische Vielfalt in den Deutschen Bundestag ein-
        zubringen. Dieser Antrag war zugegebenermaßen eine
        schwierige Geburt. Nichtsdestotrotz möchte ich betonen,
        dass ich froh über die Einigung innerhalb dieses Hauses
        bin, denn eine weitere Zeitverschwendung lässt die aktu-
        elle Situation nicht mehr zu.
        Es ist klar, dass die europäischen, aber auch die inter-
        national zugesagten Biodiversitätsziele nicht erreicht
        werden. Der Verlust biologischer Vielfalt schreitet dra-
        matisch voran, und je schneller wir dem Artensterben
        und dem Verlust von Lebensräumen entgegenwirken,
        desto besser wäre es. Bundeskanzlerin Merkel hat auf
        dem gestrigen Kongress der Unionsfraktionen zur Bio-
        diversität ebenfalls auf den bedenklichen Verlust von Le-
        bensräumen 20 Jahre nach der Rio-Konferenz hingewie-
        sen. Sie hat darauf hingewiesen, dass es bei der nach wie
        vor zu hohen Flächeninanspruchnahme noch viele Pro-
        bleme zu lösen gibt, dass wir ein Netzwerk von Meeres-
        schutzgebieten benötigen, dass wir ein Protokoll zum
        gerechten Vorteilsausgleich verabschieden müssen und
        vieles mehr. Viele Worte – und die Bundeskanzlerin hat
        die Lage ja auch richtig erkannt –, aber wo bleiben die
        Taten, Frau Merkel?
        Betrachtet man die Realität im Handeln der Bundes-
        regierung, fällt auf, dass die Entwürfe der Haushalts-
        pläne 2011 für das Bundesumweltministerium und das
        Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
        die auf dem Kopenhagen-Gipfel zugesagten zusätzlichen
        Mittel in Höhe von jährlich 420 Millionen Euro nicht
        enthalten. Mit diesem Geld sollten unter anderem An-
        passungsmaßnahmen an den Klimawandel sowie der
        Waldschutz finanziert werden. Bereits im Haushaltsjahr
        2010 wurden neu und zusätzlich nur 35 Millionen Euro
        jeweils im BMU- und BMZ-Haushalt für den internatio-
        nalen Klimaschutz eingestellt. Für die restlichen
        350 Millionen Euro wurden bestehende Klimaschutz-
        projekte einfach umdeklariert. Diese Taschenspielerei
        muss ein Ende haben. Die Bundeskanzlerin ist gut bera-
        ten, dafür zu sorgen, dass die von ihr zugesagten Mittel
        in voller Höhe und vor allem als „frisches Geld“ in den
        Haushalt eingestellt werden.
        International versprechen, national brechen – damit
        setzt die Bundesregierung Deutschlands Glaubwürdig-
        keit bei internationalen Verhandlungen aufs Spiel.
        Deutschland läuft Gefahr, ein unzuverlässiger Vertrags-
        partner zu werden. Das sind denkbar schlechte Voraus-
        setzungen für die anstehenden Verhandlungen, nicht nur
        6998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
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        in Nagoya, sondern auch bei den Klimaverhandlungen in
        Mexiko.
        Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Bun-
        desminister Dirk Niebel hat in seinen Haushalt keine
        Mittel für das Gebiet ITT im Yasuni-Nationalpark in
        Ecuador eingestellt. Es soll mit finanziellen Zusagen der
        Industrieländer vor Beeinträchtigungen durch die Förde-
        rung von Öl geschützt werden. Mit seiner ablehnenden
        Haltung gegenüber dem Projekt brüskiert Minister
        Niebel nicht nur die ecuadorianische Regierung, die gu-
        ten Willens ist, das Projekt zu einem vernünftigen Ende
        zu führen, sondern auch die Parlamentarier von Union,
        SPD und Grünen, die sich in einem gemeinsamen An-
        trag für die Unterstützung des ITT-Projektes eingesetzt
        haben. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend,
        dass die FDP-Politiker diesen Antrag nicht mittragen
        wollten.
        Und noch ein Beispiel: Ich hätte mir in unserem An-
        trag mehr Mut in der Agrarpolitik gewünscht. Aber das
        war mit den Agrarpolitikern aus den Koalitionsfraktio-
        nen nicht zu machen. Ich hätte mir einen wichtigen
        Schritt in der Fischereipolitik gewünscht, aber auch hier
        gab es keine Einigung. Natürlich muss sich die Bundes-
        regierung trotzdem für eine nachhaltige Agrar- und Fi-
        schereipolitik in Deutschland, aber auch auf europäi-
        scher Ebene einsetzen. Die Meere sind überfischt.
        Darunter leidet die Biodiversität, aber auch die indige-
        nen Völker und lokale Gruppen, die vom küstennahen
        Fischfang leben und denen die Lebensgrundlage durch
        die europäischen Trawler genommen wird. Doch auch in
        der Agrarpolitik geht dieser Bundesregierung die Bedie-
        nung von Lobbyinteressen vor den Interessen des Natur-
        und Umweltschutzes.
        Dennoch ist es wichtig, dass es diesen Antrag gibt;
        der Erhalt der Biodiversität und damit der Schutz unserer
        Lebensgrundlagen ist ein so bedeutendes Thema, dass
        das Parlament dazu Stellung beziehen muss. Es bleibt
        also viel zu tun. Ein wegweisender Schritt auf der Kon-
        ferenz in Nagoya wäre dazu ein wichtiges Signal. Taten
        statt Worte, Frau Bundeskanzlerin!
        Angelika Brunkhorst (FDP): Die Artenvielfalt auf
        der Erde ist immens – die Zahl der Arten, die täglich
        ausstirbt, jedoch auch. Flora und Fauna auf unserem Pla-
        neten werden in bedrohlichem Maße kleiner. Täglich
        sterben rund 150 Tier- und Pflanzenarten aus: Pflanzen,
        Vögel, Fische und andere Lebewesen, die wir für immer
        verlieren werden.
        Für das drastische Artensterben ist fast immer der
        Mensch verantwortlich. Durch den Raubbau an der Na-
        tur, die Zerstörung der Regenwälder, die Versiegelung
        der Landschaft, die Monokulturen und durch intensive
        Landwirtschaft wird vielen Arten der Lebensraum und
        damit die Lebensgrundlage entzogen. Sie verschwinden
        unwiederbringlich.
        Bislang führten alle Versuche, dieser Entwicklung
        entgegenzutreten, nicht zum gewünschten Erfolg. Mit
        dem globalen Biodiversitätsziel wollten wir bis 2010
        eine spürbare Reduktion des weltweiten Artenrückgangs
        erreichen. Wie der 3. Bericht zur globalen Lage der bio-
        logischen Vielfalt jedoch belegt, ist dies bislang nicht
        gelungen. Tag für Tag verschwinden weitere fünf Arten
        von unserer Erde. Teilweise sind sie uns bekannt, teil-
        weise handelt es sich um noch unbekannt Arten. Einige
        sind ein Verlust aufgrund ihrer Attraktivität, andere auf-
        grund ihrer möglichen Heilkraft.
        Die Gründe für das Verfehlen des Biodiversitätsziels
        sind vielfältig. Ein großes Problem ist die mangelnde
        Verankerung der Biodiversität in allen Sektorpolitiken.
        Zudem mangelt es – vor allem in vielen Entwick-
        lungs- und Schwellenländern – an finanziellen Mitteln
        für den Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt.
        Unter der CBD-Präsidentschaft Deutschlands wur-
        den in den vergangenen Monaten einige zielführende
        Initiativen angestoßen. Vor allem mit der Initiierung der
        internationalen Studie zum ökonomischen Wert der Bio-
        diversität hat das Thema eine bislang nie da gewesene
        öffentliche wie auch politische Aufmerksamkeit erreicht.
        Mit dem von Deutschland auf den Weg gebrachten
        Grundsatzbeschluss zur Einrichtung eines internationa-
        len Wissenschaftsrates, IPBES, haben wir eine weitere
        wichtige Etappe erreicht. Vergleichbar dem IPCC, der
        den Klimawandel ins Bewusstsein der Menschen rückte,
        soll IPBES Politik und Bürger für das Artensterben sen-
        sibilisieren. Denn nur wer Zusammenhänge erkennt, ist
        auch bereit, Verantwortung zu übernehmen.
        Unter der deutschen Präsidentschaft haben wir uns
        weiter für die Einrichtung eines weltweiten Netzwerkes
        von Schutzgebieten starkgemacht. Diese Schutzgebiete
        sind eine zentrale Voraussetzungen zum Erhalt der glo-
        balen biologischen Vielfalt und damit zur Umsetzung
        des Übereinkommens über die biologische Vielfalt,
        CBD. Zur Unterstützung des Schutzgebietsnetzwerkes
        wurde die globale Schutzgebietsinitiative „LifeWeb“ ins
        Leben gerufen.
        Auf internationaler Ebene haben wir uns massiv für
        die Regelung des Zugangs und des gerechten Vorteils-
        ausgleichs bei der Nutzung genetischer Ressourcen,
        ABS-Regime, eingesetzt. Unser Ziel ist es, jetzt konkret
        in Nagoya ein international verbindliches Abkommen zu
        verabschieden.
        Vom 18. bis 29. Oktober 2010 wird die 10. Vertrags-
        staatenkonferenz des Übereinkommens über die Biologi-
        sche Vielfalt in Nagoya tagen. Hier gilt es, greifende
        Maßnahmen für den Zeitraum bis 2020 festzuzurren. Im
        Zentrum der Verhandlungen stehen die Verabschiedung
        eines umsetzbaren Protokolls zum Zugang und gerech-
        ten Vorteilsausgleich bei der Nutzung genetischer Res-
        sourcen, das sogenannte Access und Benefit Sharing,
        ABS, die Frage der Finanzierung des globalen Biodiver-
        sitätsschutzes sowie die Festlegung eines neuen interna-
        tionalen Biodiversitätszieles einschließlich der Verab-
        schiedung einer aktionsorientierten internationalen
        Biodiversitätsstrategie von 2011 bis 2020.
        Die negativen Folgen für die Vielfalt des Lebens kön-
        nen nur abgewendet werden, wenn die Staatengemein-
        schaft rasch wirksame Maßnahmen zur Erhaltung und
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6999
        (A) (C)
        (D)(B)
        nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt ergreift.
        Deshalb begrüße ich, dass es uns im Hinblick auf die an-
        stehende Konferenz in Nagoya gelungen ist, einen inter-
        fraktionellen Antrag zur 10. CBD gemeinsam abzustim-
        men und auf den Weg zu bringen.
        Es gilt, die Vielfalt des Lebens auf der Erde zu schüt-
        zen, zu sichern und deren nachhaltige Nutzung so zu or-
        ganisieren, dass möglichst viele Menschen heute und
        auch in Zukunft davon leben können. Im Bundestag ist
        es uns gelungen, mit diesem Antrag über die Parteigren-
        zen hinweg ein Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass wir in
        Nagoya im Kampf gegen den Verlust von Artenvielfalt
        umsetzbare Strategien finden, um kommenden Genera-
        tionen einen vielfältigen Planeten überlassen zu können.
        Sabine Stüber (DIE LINKE): Dass wir heute im Ple-
        num doch noch über die biologische Vielfalt beraten,
        lässt mich zumindest erst einmal hoffen. Allerdings
        spricht es Bände, dass der Antrag so kurzfristig – er liegt
        seit gestern vor – auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
        Über all dem Hin und Her, wie man die Laufzeitverlän-
        gerung für AKW am Bundesrat vorbeimogeln kann,
        hatte die Koalition die Vertragsstaatenkonferenz zur bio-
        logischen Vielfalt im Oktober in Japan wohl vergessen.
        Drei Punkte möchte ich ansprechen. Erstens, es ist zu
        spät, um der Bundesregierung noch einen parlamentari-
        schen Auftrag für Nagoya mitzugeben. Wir können nur
        hoffen, dass die Vorbereitung der Konferenz im Sinne
        des zu beratenden Antrages gelaufen ist. Wir haben in
        diesem Jahr schon oft über die biologische Vielfalt ge-
        sprochen, ob hier im Plenum oder auch in den Ausschüs-
        sen. Was Frau Merkel allerdings nun wirklich im Gepäck
        für Japan hat? Wir, die Abgeordneten, wissen es nicht.
        Der Bundesumweltminister, der sich angesichts des drit-
        ten globalen Berichts zur biologischen Vielfalt fragt, ob
        wir genug und ob wir das Richtige getan haben, weiß es
        diesmal hoffentlich.
        Meine zweite Anmerkung betrifft die Ignoranz. Ich
        möchte niemandem zu nahetreten, aber ich kann Ihnen
        ein Zitat des US-Amerikaners Luther Burbank an dieser
        Stelle einfach nicht ersparen: „Wer nicht gerne denkt,
        sollte wenigstens von Zeit zu Zeit seine Vorurteile um-
        gruppieren.“
        Die Linke ist mit 76 Abgeordneten nicht mehr die
        kleinste Fraktion im Bundestag. Darüber sollten Sie ein-
        mal nachdenken. Denn es geht nicht mehr um das Tafel-
        silber, dass verspielt wird. Es geht längst um unser Haus,
        in dem wir wohnen; es geht um unsere Zukunft. Da ist
        Ausgrenzung nur noch kontraproduktiv. Die Linke wäre
        bei dem Antrag heute gerne eine der antragstellenden
        Fraktionen. Ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen
        des Bundestages wäre der Problematik angemessen ge-
        wesen. Nichtsdestotrotz begrüßen wir den Antrag, der
        auch durch die unterschiedlichen Handschriften weitge-
        hend unsere Zustimmung hat. Hätten wir mitwirken dür-
        fen, hätten wir gerne für einen Aspekt Ihren Blick ge-
        weitet.
        Damit sind wir beim dritten Punkt unserer inhaltli-
        chen Kritik. In der TEEB-Studie wird versucht, die bio-
        logische Vielfalt auf Geldwerte festzulegen. Das sind für
        uns die neuen Gefahren: die Ökonomisierung der Natur,
        die Betrachtung der biologischen Vielfalt als Dienstleis-
        tungscenter für den Menschen. Das passt zu dieser Ge-
        sellschaft, das ist ein urkapitalistischer Ansatz: Was
        nichts kostet, ist nichts wert. In Ihrem Antrag, klingt das
        dann so: „Der Bundestag fordert die Bundesregierung
        auf, aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Bio-
        diversität und ihrer Leistungen für das menschliche
        Wohlergehen den Schutz der biologischen Vielfalt als
        Querschnittthema ihrer Politik im Sinne der Empfehlung
        der TEEB-Studie weiterzuentwickeln.“
        Hier wird mit einer verblüffenden Ausschließlichkeit
        künftiges politisches Handeln der Bundesregierung pos-
        tuliert. Dem können wir nicht zustimmen. Die Naturgü-
        ter werden zu Geldwerten gemacht, so tickt Kapitalis-
        mus. Aber so werden wir die Probleme weder global
        noch im eigenen Land lösen.
        Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Es ist ein gutes Zeichen, dass es gelungen
        ist, auf der Grundlage des von der Fraktion Bündnis 90/
        Die Grünen im Mai in den Bundestag eingebrachten An-
        trages „Biodiversität national und international konse-
        quent schützen“, Bundestagsdrucksache 17/2005, einen
        interfraktionellen Antrag zum Thema biologische Viel-
        falt zu vereinbaren. Der Verlust an biologischer Vielfalt
        schreitet nahezu ungebremst voran. Ihr Schutz braucht
        das deutliche Engagement aller in diesem Haus vertrete-
        nen Parteien. Wir brauchen verstärkte Anstrengungen
        des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Europäi-
        schen Union und auf internationaler Ebene.
        Auch wenn uns viele Zahlen präsent sind, war es doch
        erschreckend, in diesem Jahr den dritten Globalen Aus-
        blick der Biodiversitätskonvention CBD zu lesen. Von
        den im April 2002 von den Vertragsstaaten des UN-
        Übereinkommens über die biologische Vielfalt für das
        Jahr 2010 formulierten 21 Teilzielen wurde kein einziges
        erreicht. Hinter jeder Zielbewertung steht der Halbsatz:
        „Im globalen Maßstab nicht erreicht“.
        Das Jahr 2010 als internationales Jahr der biologi-
        schen Vielfalt steht so leider für die vielen verpassten
        Chancen der Vergangenheit, unsere eigenen Lebens-
        grundlagen zu schützen, Lebensräume zu erhalten, den
        Artenverlust zu stoppen und die genetische Vielfalt auf
        unserer Erde zu sichern. Ein aktuelles Beispiel: Die Öl-
        katastrophe im Golf von Mexico ist noch nicht einmal
        vollends verstanden, geschweige denn bewältigt, da sind
        die Überlegungen zu einem Moratorium gegen Tiefsee-
        bohrungen schon wieder vom Tisch. Die Öl-Konzerne
        machen einfach weiter und die Welt guckt hilflos zu. Es
        ist unfassbar.
        Von der globalen bis zur lokalen Ebene muss der
        Schutz der Leistungen von Ökosystemen stärker als ge-
        samtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe
        verstanden werden. Also ist es gut, dass wir das heute
        noch einmal als Auftrag an die Bundesregierung formu-
        liert haben. Ich freue mich auch, dass wir – obwohl die-
        ses Ziel ja gesetzlich verankert ist – ein Bekenntnis der
        Koalitionsfraktionen zum 10-Prozent-Ziel bei der Ein-
        7000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        richtung eines nationalen Biotopverbundes auf der Lan-
        desfläche haben. Noch schöner wäre es natürlich, wenn
        die Bundesregierung bei einer meiner nächsten Nachfra-
        gen auch in der Lage wäre, mir zu sagen, wie weit wir
        bei der Umsetzung dieses Zieles sind. Noch ist sie dazu
        ja nicht in der Lage.
        Ich denke, dass es überhaupt Zeit ist, ernsthaft über
        die Einrichtung eines nationalen Monitoringzentrums zu
        diskutieren. Wir brauchen die Erfassung der biologi-
        schen Vielfalt an zentraler Stelle, wir brauchen auch
        Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die diese Daten
        interpretieren, die ökologischen, ökonomischen und so-
        zialen Folgen der Veränderungen untersuchen und Ge-
        genstrategien zu negativen Entwicklungen formulieren.
        Was wir auch dringend benötigen, ist eine Verbesserung
        der erschreckenden Situation bei der Aus-, Weiter- und
        Fortbildung von Taxonominnen und Taxonomen. Wir
        Grünen erwarten hier eine Initiative der Forschungs-
        ministerin und kein tatenloses Zusehen, wie immer mehr
        Wissen über Arten verloren geht.
        Biologische Vielfalt steht für Nahrung, Baustoffe, Fa-
        sern, Energie, Arzneimittel, sauberes Wasser und sau-
        bere Luft. Sie liefert technische Vorbilder, stabilisiert das
        Klima, schützt vor Extremereignissen und dient sogar
        noch der Entsorgung vieler unserer Abfälle. Deshalb
        geht es nicht um das eine oder andere possierliche Tier-
        chen oder die eine oder andere exotisch-schöne Pflanze.
        Es geht um unsere Lebensgrundlagen und die der Gene-
        rationen nach uns. Die Studie über die Ökonomie von
        Ökosystemdienstleistungen und biologischer Vielfalt,
        TEEB, liefert uns dafür anschauliches Zahlenmaterial
        und Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen
        Zielgruppen. Dies ist auch ein Ergebnis der deutschen
        Präsidentschaft, unter der die Studie auf den Weg ge-
        bracht wurde.
        Die während der 9. Vertragsstaatenkonferenz 2008 in
        Bonn verabschiedete Agenda für die deutsche Präsident-
        schaft enthält allerdings auch noch mehrere bis heute of-
        fene Punkte. Die Bundesregierung wird der künftigen ja-
        panischen Präsidentschaft also Altlasten übergeben. Dies
        betrifft insbesondere die noch ausstehende Einigung auf
        einen strategischen Plan für die Zeit nach 2010, die Ver-
        abschiedung eines völkerrechtlich bindenden Abkom-
        mens über den Zugang und gerechten Vorteilsausgleich
        bei der Nutzung genetischer Ressourcen und schließlich
        die Mobilisierung zusätzlicher finanzieller Ressourcen,
        um die Konventionsziele erreichen zu können. So viel
        Zeit, wie es einige meinen, haben wir leider nicht mehr
        für die Erfüllung dieser Ziele. Die bevorstehende
        10. Vertragsstaatenkonferenz im japanischen Nagoya
        muss von der Bundesregierung und der Europäischen
        Union energisch genutzt werden, wirklich voranzukom-
        men. Der heute vorgelegte fraktionsübergreifende An-
        trag richtet sich daher nicht nur an die Bundesregierung
        in ihrer Eigenschaft als noch amtierende Präsidentschaft
        der CBD, sondern auch als verantwortungsvolle Ver-
        handlungspartnerin in Nagoya.
        Der strategische Plan ist vor allem den Industrielän-
        dern wichtig. Die Entwicklungsländer werden dem aber
        nur zustimmen, wenn die Finanzierung verbindlich ge-
        klärt wird. Da ist es nicht hilfreich, wenn die Bundes-
        regierung zugesagte Mittel für Klimaschutz, Biodiversi-
        tätsschutz und Entwicklungshilfe sich immer wieder
        gegenseitig anrechnet und so das Kriterium der Zusätz-
        lichkeit umgeht. Mehr Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit
        an dieser Stelle sind zu wünschen.
        Bei ABS geht es um die Unterbindung von Biopirate-
        rie, ein für die Entwicklungsländer und indigene Grup-
        pen enorm wichtiges Anliegen. Dem stehen die wirt-
        schaftlichen Interessen der Industrieländer gegenüber,
        die die Ressourcen der Entwicklungsländer kommerziell
        nutzen. Es muss einen fairen Ausgleich geben.
        Nicht vergessen dürfen wir auch das Biosafety-Proto-
        koll. Beim Thema biologische Sicherheit haben wir uns
        leider nicht einigen können, so dass der interfraktionelle
        Antrag dieses Anliegen ausspart. Gentechnik gehört
        zwar noch nicht zu den Hauptursachen des Verlustes an
        biologischer Vielfalt, aber hier gilt es, den Anfängen prä-
        ventiv zu wehren. Gentechnisch veränderte Pflanzen
        sind ein Risiko, das geeignet ist, größte Schäden in unse-
        ren Ökosystemen anzurichten. Auf ihre Anwendung
        sollte verzichtet werden. Zumindest brauchen wir drin-
        gend eine verbindliche Regelung der Haftungsfragen.
        Wir Grünen unterstützen es, dass die UNEP, das Um-
        weltprogramm der Vereinten Nationen, ein internationa-
        les Wissenschaftlergremium für Biodiversität einrichten
        will. Damit würde für politische Entscheidungsträger ein
        zuverlässiges und glaubwürdiges Gremium eingerichtet.
        Wir Grünen können uns auch sehr gut mit dem Gedan-
        ken anfreunden, dass das IPBES, so der Name des neuen
        Gremiums, auf dem afrikanischen Kontinent angesiedelt
        wird. Aber ich betone: Entscheidend wird sein, wie wir
        alle uns verhalten. Wir haben heute keinen Mangel an
        Wissen, sondern uns fehlt die Bereitschaft entschieden
        zu handeln. Daher mahne ich mit Goethe: „Der Worte
        sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten se-
        hen.“
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Initiative für eine Richtlinie des Euro-
        päischen Parlaments und des Rates über die
        Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsa-
        chen Ratsdok. 9145/10 (Zusatztagesordnungs-
        punkt 5)
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): „Jemand musste
        Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Bö-
        ses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit
        diesen Worten beginnt Franz Kafkas „Der Prozess“. Die-
        ser Anfangssatz löst sicherlich bei jedem, der ihn liest,
        ein beklemmendes Gefühl aus. Mir geht es jedenfalls
        immer wieder so, wenn ich das Buch zur Hand nehme.
        Diese 19 Worte spielen auf die Urangst eines jeden an:
        die Sorge, in die Mühlen eines Verfahrens zu geraten,
        aus dem man sich, einmal darin verstrickt, nicht wieder
        herauslösen kann, eines Verfahrenes, das, weil seine Re-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7001
        (A) (C)
        (D)(B)
        geln nicht bekannt sind, entgrenzt ist und deswegen im
        Gegenzug den Einzelnen klaustrophobisch einengt.
        Es ist eine der Errungenschaften des Rechtsstaates,
        dass uns dieses beklemmende Gefühl heutzutage nur li-
        terarisch begegnet und wir hier bei uns nicht die Sorge
        haben müssen, real in eine Verfahrensmühle zu geraten,
        wie Josef K. in Kafkas „Der Prozess“. Recht und Gesetz
        binden Polizei und Strafverfolgungsbehörden, sie gelten
        gegenüber jedermann gleichermaßen, jeder kann sich
        auf seine Rechte berufen, und bei Rechtsverletzungen
        besteht für jedermann die Möglichkeit, Rechtschutz in
        Anspruch zu nehmen. Bei uns können die Menschen
        mithin darauf vertrauen, dass die rechtsstaatlichen Re-
        geln eingehalten werden – bei uns und auch in den
        27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union insgesamt.
        So selbstverständlich, wie alle Mitgliedstaaten der
        Europäischen Union Rechtsstaaten mit einem außeror-
        dentlich hohen Schutzniveau sind, so selbstverständlich
        ist aber auch, dass jedes Land seine eigene Rechtstradi-
        tion hat. Gerade das Strafrecht und das Strafverfahrens-
        recht gehören zum Kernbereich der einzelstaatlich gere-
        gelten Rechtsmaterien.
        Natürlich ist es richtig, im Zuge des europäischen
        Harmonisierungsprozesses auch zu einer Harmonisie-
        rung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Re-
        gelungen in Europa zu kommen und das bisherige Sys-
        tem der Rechtshilfe durch neue Instrumente abzulösen.
        Als Kehrseite zur Freiheit, die wir in Europa genießen
        dürfen, machen Kriminalität und Straftaten an den Gren-
        zen der Einzelstaaten nicht halt. Hier müssen Polizei und
        Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich in ganz Eu-
        ropa in die Lage versetzt werden, schnell, adäquat und
        effektiv handeln zu können.
        Weil Straf- und Strafverfahrensrecht aber zum Kern-
        bereich rechtsstaatlichen Handelns gehören, bedarf es
        bei der Harmonisierung in diesem Bereich der besonde-
        ren Sensibilität. So hat das Bundesverfassungsgericht in
        seinem Lissabon-Urteil ausgeführt, dass „wegen der be-
        sonders empfindlichen Berührung der demokratischen
        Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnor-
        men … die vertraglichen Kompetenzgrundlagen …
        strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen (sind) ... Das
        Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechts-
        technisches Instrument zur Effektuierung einer interna-
        tionalen Zusammenarbeit, sondern steht für die beson-
        ders sensible demokratische Entscheidung über das
        rechtsethische Minimum“. Ein wesentlicher Faktor hier-
        bei ist, dass Vertrauen in die rechtsstaatlichen Gewähr-
        leistungen bestehen muss. Dieses Vertrauen in die
        rechtsstaatlichen Gewährleistungen in den Einzelstaaten
        ist über Jahrzehnte gewachsen. Und so muss es auch in
        Europa gehen: Das Vertrauen muss wachsen können. Es
        lässt sich nicht verordnen.
        So ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass der Europäi-
        sche Rat mit den Schlussfolgerungen von Tampere 1999
        beschlossen hat, den Grundsatz der gegenseitigen Aner-
        kennung, der ursprünglich als Instrument zur Herstel-
        lung des Binnenmarkts entwickelt wurde, im Bereich der
        justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen
        einzuführen. Mit dem Rahmenbeschluss über den Euro-
        päischen Haftbefehl gibt es auch bereits einen ersten um-
        gesetzten Rechtsakt, der diesem Prinzip folgt. Erlassen
        wurde auch schon der Rahmenbeschluss zur Europäi-
        schen Beweisanordnung. Dieser wurde indessen in vie-
        len Mitgliedstaaten, so auch in der Bundesrepublik, noch
        nicht umgesetzt.
        Angesichts der Tatsache, dass Vertrauen Zeit braucht,
        um zu wachsen, erscheint es übereilt, wenn mit einer Ini-
        tiative zur Europäischen Ermittlungsanordnung jetzt
        schon der nächste Schritt begonnen werden soll. Sinn-
        voller ist es, zunächst die Umsetzung des vorhergehen-
        den Rahmenbeschlusses zur Europäischen Beweisanord-
        nung abzuwarten und die Erkenntnisse der Umsetzung
        und Anwendung dann in eine etwaige Initiative zur Eu-
        ropäischen Ermittlungsanordnung einfließen zu lassen.
        Auf diese Weise kann sich das notwendige Vertrauen mit
        der Zeit entwickeln.
        Wir unterstützen daher die gemeinsame Initiative für
        eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundge-
        setzes. Es ist gut, dass wir über die Fraktionsgrenzen
        hinweg eine gemeinsame Linie gefunden haben und auf
        diese Weise als Parlament wahrnehmbar unsere Stimme
        erheben können.
        Dr. Eva Högl (SPD): Wenn heute Ermittlungs- und
        Strafverfolgungsbehörden in der EU für ihre Tätigkeit
        Beweismittel im europäischen Ausland beschaffen müs-
        sen, ist dies langwierig und aufwendig. Vor diesem Hin-
        tergrund hat Belgien eine Initiative für eine Richtlinie
        zur Europäischen Ermittlungsanordnung in Strafsachen
        gestartet.
        Bisher greifen die Strafverfolgungsbehörden auf das
        Instrument der Rechtshilfe zurück, das auf europäischer
        Ebene auf dem Rechtshilfeübereinkommen des Europa-
        rats von 1959 und dem der Europäischen Union von
        2000 basiert. Daneben haben wir mit dem Rahmenbe-
        schluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über
        die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder
        Beweismitteln innerhalb der Europäischen Union von
        2003 sowie dem Rahmenbeschluss über die Europäische
        Beweisanordnung von 2008 Rechtsinstrumente auf der
        Basis der gegenseitigen Anerkennung. Im Gegensatz zur
        Europäischen Beweisanordnung soll die geplante Euro-
        päische Ermittlungsanordnung nicht nur für bereits erho-
        bene Beweismittel, sondern auch zur Beschaffung neuer
        Beweise gelten und hat damit einen erweiterten Gel-
        tungsbereich.
        Bei der Europäischen Ermittlungsanordnung würde
        ein Standardformular ausreichen, mit dem die jeweiligen
        Behörden einander ersuchen könnten, bestimmte Ermitt-
        lungen durchzuführen oder Beweismaterial zu sammeln
        und auszutauschen. Die Veranlassung etwa von Zeugen-
        befragungen oder Hausdurchsuchungen könnte deutlich
        einfacher in die Wege geleitet werden.
        Entscheidend für die Verwertbarkeit der im Ausland
        angeforderten Beweise ist das Vertrauen auf ihre recht-
        mäßige Erhebung. Gerade wegen der besonderen Bedeu-
        tung von Beweisen im Strafverfahren sind konkrete An-
        forderungen an ihre Erhebung zu stellen. Nur wenn eine
        7002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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        Behörde sicher sein kann, dass die von Partnerbehörden
        anderer EU-Länder gewonnenen Beweise den rechtli-
        chen Anforderungen im eigenen Land genügen, ist es für
        sie sinnvoll, das Instrument der Europäischen Ermitt-
        lungsanordnung anzuwenden. Das hierfür notwendige
        gegenseitige Vertrauen speist sich aus vergleichbaren
        Standards.
        Schon 2004 hatte der Deutsche Bundestag zum Vor-
        schlag für die Europäische Beweisanordnung festge-
        stellt, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerken-
        nung im Bereich des Strafrechts an bestehenden
        Unterschieden der Rechte von Beschuldigten scheitert.
        Er hat seinerzeit darauf bestanden, dass bei Eingriffen in
        die Rechte von Beschuldigten jeweils gesondert festzu-
        stellen ist, ob und inwieweit die Voraussetzungen für den
        Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit
        bestehen. Dem hatte sich im Übrigen auch die Bundesre-
        gierung in einer Erklärung mit entsprechendem Vorbe-
        halt angeschlossen.
        Leider können wir heute noch nicht das notwendige
        Maß an Einheitlichkeit dieser Standards in Europa fest-
        stellen. Solange dieser Zustand besteht, bedarf es eines
        allgemeinen Versagungsgrundes, damit keine Verpflich-
        tung zur Anerkennung und Ausführung von Ermittlungs-
        anordnungen statuiert wird, deren Erlass und Vollstre-
        ckung nach nationalem Recht nicht zulässig wäre.
        Wir sind der Auffassung, dass vor Einführung eines
        neuen umfassenden Rechtsinstruments zur grenzüber-
        schreitenden strafrechtlichen Erhebung und Verwertung
        von Beweisen der Bedarf dafür gründlich geprüft und
        geklärt werden sollte. Erst wenn sichergestellt ist, dass
        eine Neuregelung Vorteile gegenüber den traditionellen
        Instrumenten der Rechtshilfe bringt, sollte diese einge-
        führt werden. Die notwendige Prüfung muss auch mögli-
        che Defizite der bisherigen Rahmenbeschlüsse und die
        Ergebnisse der Befragung der Mitgliedstaaten durch die
        Europäische Kommission zum Grünbuch zur Beweiser-
        langung in Strafsachen einschließen.
        Die Europäische Kommission selbst hat 2009 im
        Stockholmer Programm dargelegt, dass der Anerken-
        nung, Durchsetzung und Evaluierung der bestehenden
        Instrumente europäischer Zusammenarbeit im Straf-
        rechtsbereich besondere Aufmerksamkeit gewidmet
        werden soll. Die Richtlinie zur Europäischen Beweisan-
        ordnung selbst trat erst Anfang 2009 in Kraft und ist in
        den Mitgliedstaaten bis Januar 2011 umzusetzen.
        Als überzeugte Europäerin liegt mir nicht daran, die
        rechtspolitische Integration bzw. vertiefte Zusammenar-
        beit in der Europäischen Union zu bremsen. Ich sehe je-
        doch die Gefahr, dass eine vorschnelle Ausdehnung des
        Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf die Be-
        weiserhebung noch vor Anerkennung und Einführung
        gemeinsamer Mindeststandards zum Verlust von bereits
        entstandenem Vertrauen und Akzeptanz führen und sich
        daher kontraproduktiv auswirken kann. Das für die ef-
        fektive Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen
        Anerkennung notwendige Vertrauen muss erst erworben
        und kann nicht vorausgesetzt werden.
        Es freut mich daher, dass es uns im Rechtsausschuss
        des Deutschen Bundestags gelungen ist, fraktionsüber-
        greifend und einstimmig eine Stellungnahme abzugeben,
        in der die kritische und gleichwohl konstruktive Haltung
        deutscher Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu-
        sammengefasst ist. Wir begleiten damit den Prozess der
        Richtlinienentstehung mit konkreten Vorschlägen und
        geben der Bundesregierung inhaltliche Empfehlungen an
        die Hand.
        Mit der Verabschiedung der Stellungnahme haben wir
        als Deutscher Bundestag die Chance, als starke Stimme
        in Europa Gehör zu finden. Ich bin sicher, dass unsere
        Vorschläge und Anregungen in zukünftige Verhandlun-
        gen ebenso einfließen werden wie in den angekündigten
        Entwurf einer Richtlinie von Justizkommissarin Viviane
        Reding. Wir können der engeren justiziellen Zusammen-
        arbeit in Strafsachen in Europa optimistisch entgegenbli-
        cken und werden uns weiterhin engagiert in die Debatte
        auf nationaler und europäischer Ebene einbringen.
        Marco Buschmann (FDP): Vorliegend befassen wir
        uns mit der Initiative für eine Richtlinie des Europäi-
        schen Parlaments und des Rates über die Europäische
        Ermittlungsanordnung in Strafsachen. Es geht hier im
        Kern um die Frage, wann und unter welchen Vorausset-
        zungen ein Mitgliedstaat die Anordnung zu einer straf-
        prozessualen Ermittlungsmaßnahme eines anderen Mit-
        gliedstaates exekutieren muss.
        Bei Fragen strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen
        ist höchste Wachsamkeit geboten. Denn es handelt sich
        mitunter um tiefe Grundrechtseingriffe. Nicht umsonst
        sprechen wir in Deutschland stets davon, dass es sich
        beim Strafprozessrecht um konkretisiertes Verfassungs-
        recht handelt. Wir sind in Deutschland stolz auf das hohe
        rechtsstaatliche Niveau, das wir im Strafprozess prakti-
        zieren. Dieses hohe Niveau schlägt sich insbesondere in
        der Rechtsstellung des Beschuldigten sowie in der Syste-
        matik der Beweiserhebungs- und Beweisverwertungs-
        verbote nieder.
        Gerade als überzeugte Europäer sagen wir Liberale:
        Auch im Bereich der Strafverfolgung muss es eine bes-
        sere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten geben. Aber es
        darf keine Harmonisierung um jeden Preis geben, jeden-
        falls dann nicht, wenn die Errungenschaften unseres li-
        beralen Rechtsstaates in Deutschland in Gefahr geraten
        könnten. Denn dies würde nicht nur dem deutschen
        Rechtsstaat, sondern auch der europäischen Idee scha-
        den. Die Europäische Union gründet auf Vertrauen, und
        solches Vertrauen könnte in Gefahr geraten, wenn die
        Mitgliedstaaten um ihre Identität fürchten müssen. Dass
        der Bereich des Straf- und des Strafprozessrechts für
        diese Identität besonders wichtig ist, hat das Bundesver-
        fassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil unterstri-
        chen.
        Mit diese Sorge sind wir nicht allein: Das kann schon
        deshalb jedermann erkennen, da wir diese Sorge in ei-
        nem gemeinsamen Antrag der Fraktion der CDU/CSU,
        FDP, SPD und Bündsnis 90/Die Grünen zum Ausdruck
        gebracht haben. Auch die Fraktion der Linken teilt diese
        Sorge, wie wir aus den vorangegangenen Beratungen
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7003
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        wissen. Das Haus ist sich hier einig. Einig sind wir uns
        auch mit dem Bundesrat, der bereits dieser Sorge mit ei-
        ner eigenen Stellungnahme Ausdruck verliehen hat.
        Auch außerhalb der obersten Staatsorgane besteht diese
        Sorge. Das lässt sich beispielsweise den Stellungnahmen
        des Deutschen Richterbundes, des Deutschen Anwalt-
        vereins und der Bundesrechtsanwaltskammer entneh-
        men.
        Vor diesem Hintergrund empfiehlt Ihnen der Rechts-
        ausschuss des Deutschen Bundestages, zu der Initiative
        für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
        Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in
        Strafsachen eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des
        Grundgesetzes abzugeben, in der wir Wege aufzeigen,
        diese Sorgen auszuräumen.
        Wichtig sind aus meiner Sicht dabei insbesondere fol-
        gende Punkte. Wichtig ist, dass Mindeststandards für
        Beschuldigte oder Drittbetroffene eingehalten werden.
        Nur so können wir das bereits geschaffene Vertrauen der
        Bürger in Europa stärken. Solche einheitlichen Mindest-
        standards existieren jedoch noch nicht für alle Mitglied-
        staaten. Unser Ziel muss es sein, erst die Mindeststan-
        dards zu verwirklichen, bevor wir den Grundsatz der
        gegenseitigen Anerkennung ausdehnen.
        Ein zweites wichtiges Anliegen ist meiner Ansicht
        nach die Schaffung eines allgemeinen Versagungsgrun-
        des, wonach die Vollstreckung der angeordneten Maß-
        nahmen versagt werden kann, wenn diese nach nationa-
        lem Recht unzulässig wäre. Ein Strafverfahren, in das
        wir Vertrauen haben können, kann nur dann gewährleis-
        tet sein, wenn etwa der bei uns verfassungsrechtlich be-
        gründete Richtervorbehalt nicht unterlaufen werden
        kann.
        Ein drittes wichtiges Anliegen ist der Datenschutz. Im
        Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung sollen
        besonders sensible Daten ausgetauscht werden. Bei-
        spiele dafür sind etwa DNA-Daten, Fingerabdrücke, In-
        formationen über Vermögensverhältnisse oder – wie im
        Fall der Wohnraumüberwachung – Daten aus dem
        höchstpersönlichen Umfeld der betroffenen Personen.
        Der Schutz dieser Daten muss auf hohem Niveau erfol-
        gen.
        Lassen Sie uns heute einen Schritt gehen, um das Ver-
        trauen in Europa zu stärken. Lassen Sie uns unsere Sor-
        gen für die Standards unseres Strafverfahrensrechts kon-
        struktiv in Richtung der Europäischen Institutionen
        artikulieren – nicht weil wir gegen jede Harmonisierung
        in diesem Bereich sind, sondern weil wir uns für Rechts-
        staatlichkeit und Grundrechtsschutz einsetzen.
        Raju Sharma (DIE LINKE): Uns wird ja immer wie-
        der nachgesagt, wir würden Europa boykottieren. Das ist
        natürlich völliger Unsinn. Im Gegenteil: Wir Linken sind
        ausgesprochene Europa-Fans. Wie sollten wir als Frie-
        denspartei auch etwas Schlechtes darin sehen, wenn
        Völker, die sich vor siebzig Jahren noch erbittert be-
        kämpft haben, heute friedlich miteinander leben? Wie
        könnten wir, die wir für internationale Solidarität eintre-
        ten, das Verblassen nationaler Grenzen und Egoismen
        verurteilen? Wenn der Weltbürger ein Ideal ist, so gilt
        das selbstverständlich auch für den Europäer. Unsere
        Kritik richtet sich also nicht gegen das Zusammenwach-
        sen der Staaten an sich, sondern lediglich gegen manche
        Regel, die für diesen Verbund aufgestellt wird. Wir hal-
        ten es für undemokratisch, wenn das einzige von den
        EU-Bürgern direkt gewählte Organ kein Recht auf Ge-
        setzesinitiative hat. Wir wenden uns dagegen, dass wirt-
        schaftliche Freiheiten über soziale Rechte gestellt wer-
        den, und statt einer Militarisierung der EU wünschen wir
        uns eine Verpflichtung zur Abrüstung.
        Für Regelungen im Detail gilt dasselbe. Manche
        Richtlinie, welche die Harmonisierung in Europa voran-
        treiben soll, ist gut gemeint, im Ergebnis aber kein Ge-
        winn. So ist es auch mit der Ermittlungsanordnung in
        Strafsachen, deren Ziel die gegenseitige Anerkennung
        von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen ist. Das ist
        für Strafverfolgungsbehörden natürlich eine verführeri-
        sche Vorstellung: Das Amtsgericht Hohenschönhausen
        ordnet in Palermo eine Hausdurchsuchung an und keinen
        Tag später ist sie in vollem Gange. Das Ganze hat aller-
        dings einen Haken: Was in einem Land übliche Ermitt-
        lungspraxis ist, kann im anderen ein schwerer Verstoß
        gegen Verfahrensgrundsätze sein. Diesen Unterschieden
        aber schenkt die Initiative, wie sie jetzt vorliegt, kaum
        Beachtung. Versagungsgründe für den Vollstreckungs-
        staat bestehen so gut wie keine, verfahrensrechtliche
        Mindeststandards existieren nicht. Zu befürchten wäre
        im Ergebnis ein Absinken des Strafverfahrensrechts auf
        den niedrigsten Level. Das aber ist gerade im grund-
        rechtsrelevanten Bereich des Strafrechts nicht hinnehm-
        bar. Denn hier geht es nicht um den freien Austausch
        von Gurken oder Glühbirnen, hier geht es um die Frage,
        ob am Ende eines Verfahrens ein Mensch seine Freiheit
        verliert. Nicht ohne Grund hat die Bundesrepublik des-
        halb ein hohes Maß an Beschuldigtenrechten und strenge
        Regeln zur Erhebung und Verwertung von Beweisen ge-
        schaffen.
        Erfreulicherweise gab es in der Hochschätzung unse-
        res Strafverfolgungsrechts eine ungewohnte Überein-
        stimmung mit den Koalitionsfraktionen. Denn die
        Rechte von Beschuldigten und verurteilten Straftätern
        stehen bei der Union ja nicht immer so hoch im Kurs.
        Ich erinnere nur an die Sicherungsverwahrung. Da kann
        schon mal der Eindruck entstehen, einige der Hardliner
        in der CDU setzen das Strafrecht mit einem hohen Straf-
        rahmen gleich und kennen den Resozialisierungsgedan-
        ken nur vom Hörensagen.
        Bei den interfraktionellen Verhandlungen über die
        Ermittlungsanordnung war hiervon jedoch nichts zu
        spüren. Stattdessen wurde konstruktiv und mit überein-
        stimmender Zielrichtung diskutiert, die Vorschläge aller
        Fraktionen wurden ernsthaft erwogen und flossen in den
        Antrag ein. Genau so stelle ich mir gelungene parlamen-
        tarische Arbeit vor: getragen vom Interesse an der
        Sache, vom Willen, die bestmögliche Lösung zu finden,
        offen für Argumente des politischen Gegners und selbst-
        bewusst genug, um eigene Irrtümer einzuräumen.
        Schade ist nur, dass dieser positive Geist nicht bis
        zum Ende anhielt. Bei dem von allen erarbeiteten Antrag
        7004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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        durfte die Linke als Urheber wieder nicht erscheinen,
        ideologische Vorbehalte der Union überwogen den Wil-
        len, der gemeinsamen Arbeit Rechnung zu tragen und
        geschlossen gegenüber Brüssel aufzutreten – was der Sa-
        che nicht gerade zuträglich ist. Dabei haben die gemein-
        samen Verhandlungen doch gezeigt, dass es anders geht.
        Es wäre schön, wenn die CDU das zum Anlass nähme,
        ihre Haltung gegenüber der Linken endlich zu überden-
        ken. Dann wäre der Antrag zur Ermittlungsanordnung
        nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch in seinem
        Entstehen Anstoß zu mehr Demokratie – hier und in
        Europa.
        Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten sind gefallen.
        Das ist gut für die Bürgerinnen und Bürger in der Union,
        aber leider profitieren davon auch Straftäter, die sich
        ungehindert zwischen den Mitgliedstaaten bewegen kön-
        nen. Die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten
        wollen deshalb – und das ist nachvollziehbar – besser
        und effizienter zusammenarbeiten. Strafverfolgung
        durch Polizei und Justiz erfolgt jedoch nicht gegen über-
        führte Straftäter, sondern gegen – mehr oder weniger –
        Verdächtige. Ein Verdacht kann grundsätzlich gegen
        jede und jeden entstehen. Deshalb gilt für alle Verdächti-
        gen die Unschuldsvermutung; deshalb haben Verdäch-
        tige grundrechtlich und menschenrechtlich gesicherte
        Rechte, die von den Ermittlungsbehörden zu achten sind.
        Die Initiative von sieben Mitgliedstaaten zur Schaf-
        fung einer Europäischen Ermittlungsanordnung will ein
        umfassendes Instrument zur Beweisgewinnung über
        Staatengrenzen hinweg schaffen, um die Zusammenar-
        beit der Strafverfolgungsbehörden innerhalb der Euro-
        päischen Union effizienter zu gestalten. Der Richtli-
        nienentwurf sieht eine sehr weitgehende Anerkennung
        und Beachtung von Beweisgewinnungsersuchen von ei-
        nem Mitgliedstaat zum anderen vor. Voraussetzung der
        Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger in der Europäi-
        schen Union für ein solches Vorgehen ist ein grundsätzli-
        ches Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen
        Strafrechtsordnungen. Dieses Vertrauen ist von essen-
        zieller Bedeutung für das Gelingen der Europäischen
        Union als Ganzer und für den äußerst sensiblen Bereich
        der Justiz- und Innenpolitik im Besonderen. Ich meine
        nicht nur das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweils
        anderen Mitgliedstaaten und ihre Rechtsordnungen, son-
        dern auch und insbesondere das Vertrauen der Bürgerin-
        nen und Bürger der Europäischen Union in die Rechts-
        staatlichkeit der jeweiligen anderen Staaten und in die
        Europäische Union als Ganzes.
        Nur durch ein solches Vertrauen können die teils gro-
        ßen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und
        den Traditionen der Mitgliedstaaten überbrückt werden.
        Aber dieses Vertrauen muss erworben werden, es kann
        nicht einfach vorausgesetzt werden. Der vorliegende
        Richtlinienentwurf wird aber gerade das nicht leisten
        können. Ganz im Gegenteil: Dieses Instrument greift
        zwar nicht in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
        ein, aber es kann im Einzelfall empfindlich in die Rechte
        der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Denn wir haben
        leider noch keine gemeinsamen Standards im Strafver-
        fahren. Die mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen
        sind noch sehr unterschiedlich, dadurch kann es im Ein-
        zelfall zu empfindlichen Rechtslücken kommen. Gerade
        das dürfen wir nicht zulassen, denn es wird dem europäi-
        schen Projekt schaden und die Entfremdung der Bürge-
        rinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union
        weiter vergrößern.
        Wir müssen ein faires Strafverfahren gewährleisten
        können. Dafür ist es unerlässlich, dass nationale Beweis-
        erhebungs- und Beweisverwertungsverbote sowie natio-
        nale Verfahrensbestimmungen nicht durch Ermittlungs-
        anordnungen unterlaufen werden können und dem Be-
        troffenen so im Einzelfall Rechte vorenthalten werden.
        In Deutschland wären dies zum Beispiel der verfas-
        sungsrechtlich begründete Richtervorbehalt, die Beleh-
        rungspflichten gegenüber Beschuldigten und Zeugen so-
        wie deren Aussageverweigerungsrechte. Es darf auch
        nicht sein, dass deutsche Behörden verpflichtet werden,
        eine Ermittlungsanordnung gegen einen nach deutschem
        Recht noch nicht strafmündigen Beschuldigten zu voll-
        strecken. Für solche Fälle ist es unerlässlich, einen allge-
        meinen Versagensgrund vorzusehen, wenn die Vollstre-
        ckung der Ermittlungsanordnung nach nationalem Recht
        unzulässig wäre.
        Es ist derzeit auch noch nicht möglich, völlig auf die
        Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten.
        Die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen
        nach wie vor große Unterschiede auf. Daher sollte auch
        weiterhin nur bezüglich der Deliktsgruppen auf die Prü-
        fung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet werden,
        auf die man sich in den bisherigen Instrumenten der ge-
        genseitigen Anerkennung geeinigt hat. Des Weiteren
        sollten diese Deliktsgruppen näher präzisiert werden, um
        mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
        Da im Bereich der Ermittlungsanordnung besonders
        sensible Daten ausgetauscht werden, ist es wichtig, einen
        hohen Datenschutzstandard zu garantieren. Der derzei-
        tige Schutz, der noch auf der Europaratskonvention
        Nr. 108, Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei
        der automatischen Verarbeitung personenbezogener Da-
        ten, aus dem Jahre 1981 beruht bzw. auf dem Rahmenbe-
        schluss des Rates 2008/977/JI des Rates vom 27. No-
        vember 2008 über den Schutz personenbezogener Daten,
        die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusam-
        menarbeit in Strafsachen verarbeitet werden und dessen
        Umsetzungsfrist im November 2010 endet, ist nicht aus-
        reichend. Der vorgenannte Rahmenbeschluss stellt nur
        einen absoluten Minimalkonsens dar, der Ausdruck der
        Prä-Lissabon-Regelungen – Einstimmigkeit im Rat und
        lediglich Anhörung des Europäischen Parlaments – war.
        Auch darf die Praxis mitgliedstaatlicher Initiativen
        nicht dazu führen, dass Vorschläge mit nicht ausreichend
        qualifizierten und substanziellen Begründungen zur Ver-
        einbarkeit der Vorhaben mit den Grundsätzen der Subsi-
        diarität und der Verhältnismäßigkeit vorgelegt werden.
        Zwar ist das Initiativrecht einer Gruppe von Mitglied-
        staaten in diesem Bereich sinnvoll und richtig. Die An-
        forderungen an gute Gesetzgebung inklusive Folgenab-
        schätzung und umfassender Begründung dürfen dabei
        aber nicht vernachlässigt werden. Schließlich sollten erst
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7005
        (A) (C)
        (D)(B)
        einmal die Umsetzung der bereits beschlossenen Euro-
        päischen Beweisanordnung – die Frist endet im Januar
        2011 – und die Erfahrungen mit diesem Instrument ab-
        gewartet werden, bevor ein neues, wesentlich weiterrei-
        chendes Instrument geschaffen wird.
        Aus allen diesen Gründen wenden wir – alle Fraktio-
        nen des Deutschen Bundestages – uns gegen diese Initia-
        tive einiger Mitgliedstaaten über die Europäische Ermitt-
        lungsanordnung in Strafsachen. Wir fordern die
        Bundesregierung auf, im Sinne dieser Stellungnahme an
        den weiteren Verhandlungen teilzunehmen und die Auf-
        fassung des Bundestages zu achten.
        Zum Schluss möchte ich allen Berichterstattern für
        die konstruktive Zusammenarbeit danken. Ich möchte
        aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass ich es ge-
        rade in europäischen Angelegenheiten für sinnvoll er-
        achte, dass bei einem interfraktionellen Antrag des Deut-
        schen Bundestages auch alle im Bundestag vertretenen
        Fraktionen beteiligt werden, wenn sie sich denn auf eine
        Position einigen können.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Kirgisistan unter-
        stützen – Den Frieden sichern (Zusatztagesord-
        nungspunkt 7)
        Manfred Grund (CDU/CSU): Seit seiner Unabhän-
        gigkeit im Jahr 1991 haben sich in Kirgistan, mehr als in
        anderen Ländern der Region, immer wieder demokrati-
        sche Bestrebungen behauptet. Aber die Folge war auch
        eine Instabilität, die die Entwicklung des Landes ge-
        hemmt hat. Autoritäre Tendenzen wurden wiederholt
        durch politische Umstürze beendet, auf die demokrati-
        sche Reformen folgten. Aber die Begleiterscheinung
        dieser Entwicklungen liegt in der fortdauernden Schwä-
        che der staatlichen Institutionen. Korruption und organi-
        sierte Kriminalität konnten sich entfalten, die wirtschaft-
        liche Entwicklung war enttäuschend. Viele Kirgisen sind
        arm geblieben. Mit der Frustration der Bevölkerung ha-
        ben die ethnischen Spannungen zugenommen.
        Nach dem Sturz Präsident Bakijews im April hat die
        neue Regierung unter Übergangspräsidentin Otunbajewa
        eine ambitionierte Verfassungsreform begonnen, die ein
        parlamentarisches Regierungssystem etablieren soll. In
        dem Referendum vom 27. Juni konnte sie sich dafür eine
        breite Unterstützung der Bevölkerung sichern. Die Re-
        gierung konnte sich so eine demokratische Legitimation
        verschaffen. Die Tatsache, dass eine erneute Kandidatur
        von Rosa Otunbajewa bei den für Dezember 2011 ange-
        setzten Wahlen ausgeschlossen wurde, war ein wichtiger
        Schritt zur Vertrauensbildung. Die vergleichsweise lange
        Zeit ihrer Übergangspräsidentschaft ist angesichts der
        politischen Instabilität im Lande gerechtfertigt. Die für
        das kommende Wochenende angesetzten Parlaments-
        wahlen sollen bereits zuvor für eine demokratisch ge-
        wählte Regierung sorgen.
        Dadurch allein wird sich jedoch die Schwäche der
        Regierungsinstitutionen nicht überwinden lassen.
        Schwach ist die Kontrolle der Regierung insbesondere
        über den Süden des Landes, wo Anhänger Bakijews
        nach wie vor über Rückhalt verfügen, wo das organi-
        sierte Verbrechen – vor allem durch den Drogenhandel –
        stark ausgeprägt ist und wo das Zusammenleben zwi-
        schen Kirgisen und Usbeken spannungsvoll ist. Wie es-
        kalationsträchtig die Lage ist, zeigte sich an den massi-
        ven Ausschreitungen gegen die usbekische Minderheit
        in Osch und anderen Orten des Südens, die im Juni zu
        Hunderten von Toten und Zehntausenden von Flüchtlin-
        gen führten. Wie ohnmächtig die Regierung diesen Ge-
        waltausbrüchen gegenüberstand, zeigten ihre Bitten um
        internationale militärische Unterstützung, vor allem an
        die Adresse Russlands.
        Dieser Mangel an Autorität und Durchsetzungskraft
        der staatlichen Institutionen stellt das größte Risiko für
        den politischen Fortschritt in Kirgistan dar. Deshalb
        kommt es jetzt in erster Linie auf die Stabilisierung und
        Konsolidierung der Staatsmacht sowie auf den Ausbau
        und die Stärkung ihrer Organe an. Gelingt dies nicht, be-
        steht die sehr reale Gefahr, dass über kurz oder lang die
        Vertreter korrupter und krimineller Interessen die Macht
        übernehmen oder eine andauernde politische Instabilität
        Kirgisistan zum Einfallstor für islamistische Kämpfer
        macht.
        Kirgistan wird internationale Unterstützung brauchen.
        Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre eine deutli-
        che Verbesserung der regionalen Kooperation zwischen
        den Staaten Zentralasiens, die unter anderem zum Abbau
        ethnischer Spannungen zwischen den Volksgruppen bei-
        tragen könnte. Vor allem von Kasachstan sind bislang
        Initiativen für eine Intensivierung der regionalen Koope-
        ration ausgegangen. Jedoch versuchen die Staaten Zen-
        tralasiens nach wie vor eher, sich gegenüber negativen
        Entwicklungen bei ihren Nachbarn abzuschotten, als die
        Probleme gemeinsam zu lösen.
        Kirgistan wird neben zivilen Hilfen auch polizeiliche
        und gegebenenfalls militärische Unterstützung zur Stabi-
        lisierung der Lage brauchen. Der kasachische Vorsitz ist
        dabei in der Verantwortung, die Hilfen der OSZE zu ko-
        ordinieren. Wenn es zur Entsendung einer Friedens-
        truppe kommt, müsste sie durch den der Sicherheitsrat
        der VN legitimiert werden. Doch je kritischer sich die
        Lage entwickeln mag, desto mehr würde es darauf an-
        kommen, dass eine Friedensmission entsprechend robust
        ist. Dafür müsste ein solcher Einsatz von einem Mit-
        gliedsland getragen und geführt werden, das die erfor-
        derlichen Fähigkeiten zur Verfügung stellen kann. Das
        könnte nach Lage der Dinge nur Russland sein.
        Ein konzertiertes Vorgehen der internationalen Ge-
        meinschaft ist in dieser Situation besonders wichtig. Die
        Wirksamkeit unserer Strategie wird entscheidend von ei-
        ner engen Abstimmung mit Russland abhängen. Je mehr
        die USA und die EU, Russland – und auch China – mit
        unterschiedlichen Ansätzen gegeneinander konkurrie-
        ren, desto stärker werden wir unsere konstruktiven Ein-
        flussmöglichkeiten auch gegenseitig beschneiden.
        7006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        In Zentralasien verfügt Russland aus geografischen
        wie historischen Gründen über politische Möglichkeiten,
        die die EU nicht besitzt. Weder die Europäer noch die
        Amerikaner werden in Zentralasien entschieden und mit
        der notwendigen Nachhaltigkeit als Ordnungsmacht auf-
        treten können, wenn Krisen in der Region ein Eingreifen
        internationaler Partner erfordern. Russland hat eine
        Schlüsselrolle. Nur im engen Zusammenwirken mit
        Russland werden wir – nicht nur in der Theorie, sondern
        auch in der Praxis – einen wichtigen konstruktiven Bei-
        trag zur Stabilisierung Kirgistans leisten können.
        Franz Thönnes (SPD): Am 10. Oktober 2010 wird
        in Kirgisistan gewählt. Damit steht dieses Land nach ei-
        ner spannungsgeladenen Entwicklung vor einer erneuten
        Bewährungsprobe. Denn nach dem Sturz des autokrati-
        schen Präsidenten Kurmanbek Bakijew im April dieses
        Jahres durch die Opposition, wurde eine Übergangsre-
        gierung mit Rosa Otunbajewa an der Spitze gebildet, die
        das Parlament für aufgelöst erklärte und baldige Neu-
        wahlen versprach.
        Im Juni 2010 erschütterten schwere ethnische Unru-
        hen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit
        den armen Süden des Landes. Es starben Hunderte Men-
        schen, überwiegend Usbeken, und Tausende mussten
        fliehen.
        Berichte informierten uns darüber, dass es durch die
        Unruhen des Junis 2010 in Dschalalabad – der Heimatre-
        gion des gestürzten Präsidenten Bakijew, über 370 Tote
        und gut 2 300 Verletzte gegeben habe. 30 000 Menschen
        ergriffen die Flucht. Für die Ursachen des Konflikts gibt
        es die unterschiedlichsten Mutmaßungen. So werden
        Anstachelungen durch entmachtete Regierungsvertreter
        ebenso vermutet wie die Planung einer gezielten Vertrei-
        bung der wohlhabenderen usbekischen Minderheit durch
        die land- und arbeitslose kirgisische jüngere Generation.
        Davon blieb natürlich auch die Übergangsregierung
        nicht verschont. Kritiker warfen ihr vor, nicht ausrei-
        chend für Stabilität gesorgt zu haben.
        Am 27. Juni 2010 haben bei dem erfolgreich und rela-
        tiv friedlich verlaufenden Verfassungsreferendum über
        90 Prozent der Wähler, bei einer Wahlbeteiligung von
        rund 70 Prozent, für den Verfassungstext gestimmt. Die-
        ser sieht die Stärkung der parlamentarischen Kontroll-
        rechte und die Beschränkung der Befugnisse des Präsi-
        denten vor. Rosa Otunbajewa wurde mit diesem
        Referendum als Präsidentin bis Dezember 2011 bestä-
        tigt. Damit hat die Übergangsregierung eine gute Grund-
        lage, einen glaubwürdigen Prozess der Reformen und
        der Demokratisierung anzustoßen.
        Aber die politische Lage in Kirgisistan bleibt kritisch.
        Im Süden gibt es weiterhin Spannungen zwischen Kirgi-
        sen und Usbeken. Die genauen Hintergründe der Unru-
        hen zu ermitteln, insbesondere ob kirgisische Politiker
        und Ordnungskräfte darin verwickelt waren, bleibt
        schwierig. Hinzu kommt das große Wirtschaftsgefälle
        zwischen Norden und Süden und das Ausmaß organi-
        sierter Kriminalität im Süden Kirgisistans. Es wird ange-
        zweifelt, ob und inwieweit die neue Regierung die Kon-
        trolle über alle Sicherheitskräfte im Land hat. Auch war
        sie bislang nicht in der Lage, die vollständige Sicherheit
        im Süden zu erreichen. Für die Tage um die Wahlen he-
        rum kann nicht ausgeschlossen werden, dass es erneut zu
        einer Verschlechterung kommt. Bislang ist dies den Be-
        richten nach aber Gott sei Dank noch nicht so.
        Es ist gut, dass die Übergangsregierung ihre Zusage
        eingehalten hat, dass nun am kommenden Sonntag Neu-
        wahlen des kirgisischen Parlamentes stattfinden. Hoffen
        wir, dass diese Wahlen ungestört vonstattengehen und
        auch in der Zeit eine ruhige Atmosphäre bestehen wird.
        Gleichwohl gilt – egal welches Resultat das Wahler-
        gebnis erbringt –, dass die Staatengemeinschaft, die Eu-
        ropäische Union und die Regierung der Bundesrepublik
        Deutschland gefordert sind, Aktivitäten und Maßnah-
        men zu ergreifen, die zur Stabilität Kirgisistans beitra-
        gen. Bisher eingeleitete Unterstützungen sind da sehr
        wohl noch ausbaufähig. Ja, ausbaunotwendig.
        Zwar ist umfangreiche humanitäre und finanzielle
        Hilfe geleistet worden, die Bundesregierung zum Bei-
        spiel hat 500 000 Euro für die Versorgung der Flücht-
        linge zur Verfügung gestellt und die Zentralasienbeauf-
        tragte in die Region entsandt. Insgesamt aber müssen im
        Rahmen eines langfristigen Prozesses gemeinsame Ini-
        tiativen ergriffen werden, um neue Eskalationen der Ge-
        walt zu verhindern.
        So gehört natürlich die Situation in Kirgisistan auf die
        Tagesordnung der Vereinten Nationen. Stabilität und Si-
        cherheit in diesem Land bedürfen mit geeigneten Maß-
        nahmen zur Friedenssicherung dem verstärkten Engage-
        ment der Staatengemeinschaft. Dabei tragen auch die
        Länder der Region im Sinne einer stabilisierenden Mit-
        wirkung eine wesentliche Mitverantwortung. Und es ist
        unumstritten, dass eine zu entsendende OSZE-Mission
        abzusichern ist.
        Die EU ist selbstverständlich aufgefordert, ihrer Ver-
        antwortung im Sinne der eigenen EU-Zentralasienstrate-
        gie gerecht zu werden. Zur Aufarbeitung der Unruhen
        im Juni und zur Gewährleistung der Stabilität wird es
        auch notwendig sein, eine internationale Untersuchung
        durch die Beauftragten für Menschrechte bzw. nationale
        Minderheiten der Vereinten Nationen oder der OSZE
        einzuleiten.
        Wir alle wissen, dass nach derartigen Entwicklungen,
        wie sie die Menschen und die Gesellschaft in Kirgisistan
        erfahren haben und wie wir sie von außen beobachten
        konnten, eine lange Wegstrecke eines Prozesses des Dis-
        kurses und der Versöhnung bis zu einem neuen, bis zu
        einem friedlichen Miteinander vor uns liegt. Dafür ist
        natürlich ein politischer Prozess erforderlich, der alle an
        den Konflikten beteiligten Parteien, die friedens- und
        stabilitätswillig sind, mit einbezieht. Die Vereinten Na-
        tionen, die Europäische Union und die Bundesrepublik
        Deutschland haben das Know-how für eine konstruktive
        Begleitung und Absicherung dieser Wegstrecke. Sie soll-
        ten dies anbieten und sich dementsprechend einbringen.
        Auch ist der Forderung zuzustimmen, dass sowohl
        OSZE wie auch EU helfen müssen bei einer Politik der
        Good Governance und der Herstellung von Rechtsstaat-
        lichkeit. Dem Recht des Stärkeren gilt es die Stärke des
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7007
        (A) (C)
        (D)(B)
        Rechts entgegenzusetzen. Dazu ist einerseits eine refor-
        mierte und durchsetzungsfähige Polizei erforderlich wie
        ebenso auch der organisierte und wirkungsvolle Schutz
        der Rechte von Minderheiten.
        Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht
        nun in den Ausschuss. Die SPD-Bundestagfraktion sieht
        in vielen Bereichen eine Übereinstimmung mit den darin
        wiedergegebenen Inhalten und wird sich mit ihren Posi-
        tionen an den Beratungen im Ausschuss mit dem Ziel, zu
        einer breiten Übereinstimmung zu kommen, beteiligen.
        Noch viel wichtiger aber sind jetzt bereits konkrete ver-
        stärkte internationale Aktivitäten der Bundesregierung
        für Stabilität und Sicherheit in der Region, die über das
        bisherige Maß hinausgehen.
        Kirgisistan kann aber nur dann eine demokratische
        und in Frieden lebende Republik werden, in der vor al-
        lem die Menschen im Süden eine bessere Zukunft haben
        und in der die usbekische Minderheit in Sicherheit leben
        kann, wenn mit der Kraft der ganzen internationaler So-
        lidarität hieran verantwortungsvoll gearbeitet und damit
        auch die Stabilität in der ganzen Region gewährleistet
        wird.
        Michael Link (Heilbronn) (FDP): Meiner Rede
        möchte ich voranstellen, dass die FDP-Bundestagsfrak-
        tion den Grundgedanken des Antrags der Grünen-Frak-
        tion teilt, einen für die noch sehr junge und gebrechliche
        kirgisische Demokratie unterstützenden Antrag zu ver-
        abschieden. Vieles, was in dem Antrag steht, können wir
        unterschreiben. Einige Passagen erfordern Redebedarf,
        gleichwohl bietet der Ausschuss noch Gelegenheit dazu.
        Kirgistan benötigt in seiner aktuellen Situation Unter-
        stützung, aber man sollte ebenfalls zur Kenntnis neh-
        men, dass das jüngst abgehaltene Referendum durchaus
        als ein Erfolg zu werten ist. Zwar ist die Lage noch nicht
        im ganzen Land stabil, aber die Verfassung schafft mehr
        Demokratie als im jeden anderen Land der Region, wenn
        auch ihre Implementierung mit schmerzhaften und wi-
        dersprüchlichen Prozessen verbunden ist.
        Das Land hat in den letzten Monaten eine Phase in-
        tensiver politischer Auseinandersetzung und Debatten
        erlebt. Es wurde dabei – neben der Personalisierung –
        auch über politische Konzepte und Alternativen disku-
        tiert. Der Ausgang der Wahlen am Sonntag ist ungewiss.
        Und – wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben – schon
        dies ist eine für diese Region ungewöhnlich erfreuliche
        Situation.
        Eine ebenfalls positive Nachricht – lassen Sie mich
        dies noch hinzufügen – ist die Verhaftung zweier Ver-
        dächtiger, die im Zusammenhang mit der brutalen Er-
        mordung des kirgisischen Journalisten Gennadi Pawliuk
        stehen sollen.
        In Kirgistan wird der Versuch einer parlamentari-
        schen Demokratie gemacht – zum ersten Mal in dieser
        Region in dieser Konsequenz. Es gibt eine Chance, dass
        Kirgistan beweisen kann, dass präsidentielle Systeme in
        autoritärer Ausprägung nicht die einzige Option für die
        Länder Zentralasiens sind und dass mehr Demokratie
        möglich ist. Letztlich können ethnische, religiöse und
        andere Spannungen, welche die Region immer wieder
        erschüttern, nur durch Demokratie und Interessenaus-
        gleich entschärft werden. Dies liegt ebenfalls im Inte-
        resse Deutschlands und der Europäischen Union. Jedoch
        steht der Demokratisierungsprozess sowie der Aufbau
        funktionierender Institutionen in Kirgistan erst am An-
        fang.
        Deshalb sollte Deutschland gemeinsam mit den euro-
        päischen Partnern alles Mögliche tun, um das neu ge-
        wählte Parlament und die neue Regierung zu unterstüt-
        zen. Die Erfahrung hat leider gezeigt, dass dazu vor
        allem Geduld erforderlich ist. Für eine nachhaltige Sta-
        bilisierung des Landes müssen alle Ethnien in den Pro-
        zess der Nationswerdung einbezogen werden. Wir müs-
        sen gleichwohl darauf vorbereitet sein, dass nach den
        Wahlen abermals unruhigere Zeiten anbrechen können.
        Daraus ergibt sich für mich auch die Notwendigkeit die-
        ses Antrags. Und daraus ergibt sich auch die Wichtigkeit
        einer erfolgreichen Umsetzung der Zentralasienstrategie
        der Europäischen Union.
        Das Ziel der EU sollte es vor allem sein, in den zen-
        tralasiatischen Staaten Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus
        und ein friedliches Miteinander zu fördern. Es ist noch
        nicht lange her, dass Kirgistan am Rande eines Staatszer-
        falls stand. Die schrecklichen Nachrichten, die uns
        jüngst in diesem Jahr aus Kirgistan erreichten, belegen
        auf bedrückende Weise, wie schnell die Situation in die-
        sem Land blutig eskalieren kann. Bis heute sind die ge-
        nauen Hintergründe der Juni-Unruhen nicht geklärt.
        Zahlreiche Indizien sprechen für eine Verwicklung der
        organisierten Kriminalität in die damaligen, pogromähn-
        lichen Zustände.
        Glücklicherweise ist es Rosa Otunbajewa und ihrer
        Übergangsregierung zumindest teilweise gelungen das
        damalige Chaos zu begrenzen und nicht wieder aufflam-
        men zu lassen. Jedoch muss es das Ziel sein, dass die
        neue Regierung die Kontrolle über das gesamte Land,
        also auch über den Süden, und den kompletten Verwal-
        tungsapparat gewinnt.
        Nun steht Europa gegenüber Kirgistan in der Verant-
        wortung zu beweisen, dass es Zentralasien nicht ledig-
        lich aus energiepolitischer Perspektive sieht. Es muss al-
        les unternommen werden, dass der eingeschlagene,
        kirgisische Weg in Richtung Stabilität und Demokratie
        fortgesetzt werden kann. Hierfür bedarf es eines kohä-
        renten und entschlossenen Auftretens der EU, damit sich
        nicht nur in Kirgistan, sondern mittelfristig in der ge-
        samten Region stabile und gerechte Gesellschaften ent-
        wickeln können.
        Sevim Dağdelen (DIE LINKE): In Zentralasien ver-
        sinkt ein Staat im Chaos, und die Welt ist ratlos. Wir alle
        wissen, dass sich die Minderheitenkonflikte in Kirgisien
        schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. Vie-
        len ist auch klar, dass wir es in Zentralasien längst mit ei-
        nem Flächenbrand zu tun haben. In dessen Zentrum und
        dessen Auslöser ist der NATO-Krieg in Afghanistan. Die
        wenigsten aber wollen die Destabilisierung, die vom Af-
        ghanistankrieg auch für Usbekistan und Kirgisien aus-
        geht, wahrhaben. Die Destabilisierung hingegen, die für
        7008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Pakistan ausgeht, ist mittlerweile unumstritten, wie in
        der Rede von der „AfPak-Region“ deutlich wird. Die
        beiden offensichtlichen und weithin bekannten Ursachen
        für diese Destabilisierung sind die Tatsache, dass Pakis-
        tan als Rückzugsgebiet islamistischer Kämpfer und als
        Hauptversorgungsroute der US-amerikanischen Streit-
        kräfte dient. Die völkerrechtswidrigen Angriffe der US-
        Armee auf pakistanischem Boden mit unbemannten
        Drohnen und zuletzt auch bemannten Waffensystemen
        haben mittlerweile dazu geführt, dass Pakistan seine
        Grenzen für die NATO-Transporte geschlossen hat. Die
        wartenden Lkw wurden von militanten Islamisten mehr-
        fach angegriffen. Fast kann man von einem gemeinsa-
        men Vorgehen der pakistanischen Sicherheitskräfte mit
        den Guerilla-Kämpfern ausgehen. Die Islamisten finden
        breiten Rückhalt in der Bevölkerung und auch in Teilen
        der Armee, weil Pakistan und die pakistanische Regie-
        rung von der NATO in einen Krieg gezwungen werden,
        den Armee und Bevölkerung nicht unterstützen.
        Dasselbe ist in Kirgisien und Usbekistan der Fall.
        Beide sind Rückzugs- und Rekrutierungsbasis für die
        Gegner der NATO in Afghanistan, und über beide wi-
        ckelt die NATO ihren militärischen Nachschub ab, wäh-
        rend gleichzeitig die Gegenseite ihre Drogen über diese
        Länder exportiert und damit die organisierte Kriminalität
        in diesen Ländern zu einer politischen Macht gedeihen
        lässt. Da die NATO ihren fatalen Krieg in Afghanistan
        aber auf Gedeih und Verderb fortsetzen will und dazu die
        Militärbasen in Termez und Manas aufgrund der jüngs-
        ten Spannungen mit und Angriffe in Pakistan noch
        dringlicher denn je braucht, kann sie in der Region keine
        deeskalierende, unabhängige Politik verfolgen. Die Staa-
        ten, die am Afghanistan-Krieg beteiligt sind, müssen auf
        Biegen und Brechen mit jeder Regierung in Taschkent
        und Bischkek zusammenarbeiten, egal wie korrupt diese
        ist, egal ob sie sich an die Macht geputscht hat und egal
        wie sehr sie ihre eigene Bevölkerung unterdrückt.
        Es ist ein Wunder, dass es in diesem Kontext zu Span-
        nungen kommt. Die Herrschercliquen bereichern sich
        maßlos an den Einnahmen, die sich aus der Kriegslogis-
        tik ergeben, die Familie des gestürzten Präsidenten
        Bakijew soll alleine 2009 Aufträge in Höhe von bis zu
        80 Millionen US-Dollar für das Pentagon übernommen
        haben. Gleichzeitig machte das organisierte Verbrechen
        Millionengewinne mit dem Opiumhandel. Für die einfa-
        che Bevölkerung hingegen gibt es keinerlei Perspekti-
        ven, um der Armut zu entfliehen – außer der Emigration.
        2008, vor Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanz-
        krise, bestand ein Viertel des kirgisischen Nationalein-
        kommens aus Auslandsüberweisungen junger Kirgisen,
        die überwiegend in Russland und Kasachstan beschäftigt
        waren. Die Arbeitsmigranten aus den zentralasiatischen
        Staaten waren diejenigen, die als erste und am härtesten
        von der Wirtschaftskrise betroffen waren. Millionen von
        ihnen kehrten mit der Wirtschaftskrise zurück, ge-
        schätzte 500 000 alleine nach Kirgisien. Beobachter
        warnten bereits Ende 2009, dass die kirgisische Wirt-
        schaft diesen überhaupt keine Perspektive biete. Da jeg-
        liche politische Opposition unterdrückt werde, sei abzu-
        sehen, dass sich viele Arbeitslose entweder den
        militanten Islamisten oder der organisierten Kriminalität
        anschließen würden und es bald zu Aufständen kommen
        würde.
        So ist es auch gekommen. Die Pogrome im Juni 2010
        trafen vor allem die usbekische Minderheit und fanden
        in unmittelbarer Nähe zur usbekischen Grenze statt.
        Viele befürchteten damals, der unberechenbare usbeki-
        sche Präsident Karimow könnte seine Truppen mobili-
        sieren und über die Grenze marschieren lassen. Diese
        Eskalationsstufe wurde zum Glück vorerst noch nicht er-
        reicht. Die Frage ist aber: Wie hätte die Bundesregierung
        sich hierzu verhalten können, die für ihren Einsatz der
        Bundeswehr in Afghanistan auf den Stützpunkt im usbe-
        kischen Termez angewiesen ist und hierfür selbst zu den
        schwersten Menschenrechtsverletzungen der usbeki-
        schen Regierung schweigt?
        Eine Schockstarre hat die internationale Gemein-
        schaft nach dem Umsturz im April in Kirgisien ergriffen,
        und reflexartig – wie im vorliegenden Antrag der Grü-
        nen – werden altbekannte Rezepte hervorgekramt: die
        Forderungen nach internationalen Polizei- und Militär-
        einsätzen. Doch bislang ist kein Land bereit, sich in die-
        ser Form in Kirgisien zu engagieren. Weil alle wissen,
        dass sie die Lage nicht in den Griff bekommen werden,
        so lange die NATO in Afghanistan ist. Keiner will die
        Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat: nicht die
        NATO, nicht die USA, die sich mit Osterweiterung, Af-
        ghanistankrieg und der sogenannten Tulpenrevolution
        tief in den Einflussbereich Russlands eingegraben und
        Zentralasien zum Austragungsort eines „neuen Kalten
        Krieges“ mit Russland gemacht hat, und auch nicht
        Russland selbst.
        Doch die altbekannten Rezepte werden den Flächen-
        brand nur beschleunigen. Die International Crisis Group,
        die bereits der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens
        das Wort geredet hat, schreibt: „Unglücklicherweise
        könnte es schon zu spät sein für alle Bemühungen, dem
        gespaltenen Land die Einheit wiederzugeben. Zu weit
        sind die Desintegrationsprozesse fortgeschritten, zu viel
        ist geschehen. Deshalb muss der Sicherheitsrat der Ver-
        einten Nationen eine Krisenintervention planen, sodass
        die Staatengemeinschaft in der Lage ist, kurzfristig und
        effizient auf alle Wellen der Gewalt und Flüchtlings-
        ströme in der Region zu reagieren.“ Hier wird einer Tei-
        lung Kirgisiens unter internationaler militärischer Bei-
        hilfe entlang ethnischer Linien das Wort geredet. Ein
        Experiment, welches die NATO mit tatkräftiger Unter-
        stützung der Crisis Group bereits auf dem Balkan durch-
        geführt hat und mit dem sie bereits dort grandios ge-
        scheitert ist. In Zentralasien, wo instabile Regime eine
        Vielzahl von Bevölkerungsgruppen umfassen, große
        Rohstoffvorkommen existieren und das durch die NATO
        zum Schauplatz eines „neuen Kalten Krieges“ mit Russ-
        land gemacht wurde, ist das Eskalationspotenzial noch
        ungleich höher.
        Die verfahrene Lage in Kirgisien und Zentralasien
        muss zu einem wirklichen Umdenken führen. Die NATO
        muss ihre Niederlage in Afghanistan eingestehen und
        das Konfliktpotenzial, das von diesem Krieg für die ge-
        samte Region ausgeht, anerkennen. Der Abzug der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7009
        (A) (C)
        (D)(B)
        NATO aus Afghanistan muss einhergehen mit der Fest-
        stellung, dass dieses Militärbündnis seine Grenzen über-
        schritten hat, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefähr-
        dung des Weltfriedens darstellt und deshalb aufgelöst
        gehört. Der Westen muss aufhören, seinen Einflussbe-
        reich auch militärisch immer weiter in den Osten auszu-
        dehnen – dies überfordert auch seine Kräfte –, und muss
        die legitimen Interessen Russlands anerkennen. Grund-
        lage hierfür kann der von Russland vorgeschlagene euro-
        atlantische Sicherheitsvertrag sein. Nur wenn die militä-
        rische Konfrontation beendet wird, kann kooperativ die
        wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung Zen-
        tralasiens unterstützt werden und sich diese Region sta-
        bilisieren.
        Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Kirgisistan steht kurz vor dem Staatszerfall:
        ethnische Spannungen, eine handlungsunfähige Regie-
        rung und eine zusammengebrochene Wirtschaft – dies
        sind die klassischen Symptome eines versagenden Staa-
        tes. Das Land wird durch einen ethnischen und sozialen
        Konflikt förmlich zerrissen. Eine machtlose Präsidentin
        ohne nennenswerte Unterstützung verliert zunehmend
        die Kontrolle über den Süden des Landes. Die Verliere-
        rin in diesem Konflikt ist die usbekische Minderheit, die
        zunehmend marginalisiert und verfolgt wird. Im Juni
        dieses Jahres erschütterten Berichte über Hunderte Tote
        und Tausende Flüchtlinge die Weltöffentlichkeit.
        Wie kommt es zu dieser Verschärfung des Konflikts?
        Kirgisistan ist eines der ärmsten Länder der Erde. Ein
        Drittel der 5,3 Millionen Einwohner Kirgisistans lebt un-
        ter der Armutsgrenze. Eine Verdopplung der Strompreise
        zu Beginn des Jahres und eine extrem hohe Arbeitslosig-
        keit führte im April dieses Jahres zur Erhebung der Be-
        völkerung gegen den autokratisch regierenden Präsiden-
        ten Kurmanbek Bakijew. Am 7. April floh Bakijew
        zunächst in den Süden des Landes. Dort genießt er noch
        immer einen großen Rückhalt in der Bevölkerung.
        Schließlich verließ Bakijew das Land, nicht ohne seinen
        Anspruch auf das Amt des Präsidenten nochmals zu be-
        kräftigen.
        Die im April gebildete Übergangsregierung ist sehr
        heterogen und damit konfliktanfällig. Präsidentin
        Otunbajewa ist es zudem nicht gelungen, ehemalige Un-
        terstützer des gestürzten Präsidenten Bakijew mit in die
        Regierung zu holen. Dies wäre notwendig gewesen, um
        die Macht im Süden des Landes zu etablieren. Dort lebt
        der Großteil der usbekischen Minderheit, die etwa
        15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Süden
        ist ihr Anteil jedoch weitaus höher. Die usbekische Min-
        derheit ist wirtschaftlich besser gestellt als die Mehrheit
        der Bevölkerung, politisch ist sie jedoch schwach. Füh-
        rungspositionen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft
        sind hauptsächlich von ethnischen Kirgisinnen und Kir-
        gisen besetzt. Politische und soziale Spannungen sind
        die Folge. Diesen Konflikt machten sich Bakijew und
        sein Umfeld im Juni zu nutze, um die Übergangsregie-
        rung durch gezielte Aufwiegelung der ethnischen Grup-
        pen schachmatt zu setzen.
        Die UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay
        berichtete, dass die ersten Angriffe abgestimmt, gezielt
        und gut geplant stattfanden. Es ist offensichtlich, dass
        vorhandene ethnische Spannungen systematisch poli-
        tisch instrumentalisiert wurden. Die Folge war, dass der
        Süden Kirgisistans im Chaos versank und die Über-
        gangsregierung nicht in der Lage war, die usbekische
        Minderheit vor Angriffen zu schützen. Weit über 1 000
        Tote, eine Massenflucht und die Zerstörung ganzer
        Stadtviertel waren zu beklagen. Rosa Otunbajewa rief
        Russland und die USA um militärische Unterstützung
        an. Doch niemand wollte sich in den Konflikt hineinzie-
        hen lassen.
        Obwohl das Referendum, bei dem am 27. Juni über
        die neue demokratische Verfassung und über die Präsi-
        dentschaft Otunbajewas abgestimmt wurde, ruhig ver-
        lief, konnte die Übergangsregierung bis heute ihre
        Macht im Süden des Landes nicht konsolidieren. So
        scheiterte etwa die Absetzung des nationalistischen und
        Bakijew-treuen Bürgermeisters von Osch am Wider-
        stand der Kirgisinnen und Kirgisen im Süden. Die usbe-
        kische Minderheit lebt in ihren zum größten Teil zerstör-
        ten Wohnvierteln in Angst vor einem erneuten Übergriff
        und ist politisch kaltgestellt. Human Rights Watch infor-
        mierte in einem Bericht vom 18. August über die ethni-
        sche Gewalt in Kirgisistan. Die mehrheitlich kirgisi-
        schen Sicherheitskräfte haben sich danach an den
        Übergriffen auf Usbekinnen und Usbeken aktiv beteiligt.
        Auch vormals gemäßigte Politikerinnen und Politiker
        nehmen kaum noch Partei für die usbekische Minder-
        heit, Medien verbreiten nationalistische, antiusbekische
        Parolen.
        Am 22. Juli beschloss die OSZE, 52 Polizistinnen und
        Polizisten in den Süden Kirgisistans zu entsenden. Deren
        Präsenz sollte Übergriffe auf die usbekische Minderheit
        unterbinden. Dies lehnte Rosa Otunbajewa ab, da sie für
        die Sicherheit der Polizistinnen und Polizisten nicht ga-
        rantieren konnte. Es hatte unmissverständliche Drohun-
        gen gegen ein OSZE-Polizeikontingent aus dem Süden
        des Landes gegeben – ein weiteres Zeichen der Schwä-
        che der Zentralregierung. Der Konflikt zwischen dem
        Norden und dem Süden des Landes bleibt bestehen, die
        usbekische Minderheit lebt weiter in Angst und eine Es-
        kalation der Lage scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
        Am kommenden Sonntag stehen Parlamentswahlen
        bevor. Der Wahlkampf trägt seit Wochen zur Eskalation
        der Lage bei. Es ist mehr als fraglich, ob diese Wahlen
        eine stabile Regierung hervorbringen, da die Wahlbe-
        rechtigten unter 29 Parteien wählen können, von denen
        keine ihre Vorstellungen von der wirtschaftlichen und
        politischen Zukunft des Landes klar und deutlich formu-
        liert. Weniger politische Programme als der Machtan-
        spruch konkurrierender Clans prägen die Parteienland-
        schaft. Die usbekische Minderheit fühlt sich von keiner
        Partei vertreten.
        Viele Beobachter erwarten neuerliche Gewaltausbrü-
        che. Das Fergana-Tal, willkürlich aufgeteilt zwischen
        drei Staaten, ist der geografische Krisenherd. Nicht nur
        der Staat Kirgisistan, sondern die ganze Region ist be-
        (A) (C)
        (D)(B)
        droht. Autoritäre Staaten mit ethnischen und sozialen
        Konflikten, latente Spannungen zwischen ihnen und die
        Bedrohung durch Drogenhandel und den terroristischen
        Islamismus aus den südlichen Nachbarn Afghanistan
        und Pakistan machen diesen Teil Zentralasiens zu einer
        Gefahr für sich selbst und uns alle.
        Es ist unerlässlich, besonders Kirgisistan bei seinem
        wirtschaftlichen Aufbau zu unterstützen, da nur so den
        Nationalisten der Boden entzogen werden kann. Auslän-
        dische Polizistinnen und Polizisten können das Problem
        nicht lösen. Es bedarf eines komplexen Instrumentari-
        ums der Krisenprävention und der Friedenssicherung.
        Dazu sind nur die Vereinten Nationen in der Lage. Des-
        halb ist die Befassung des UN-Sicherheitsrates mit der
        Situation in Kirgisistan notwendig. Welche Maßnahmen
        sinnvoll und angemessen sind, bedarf einer genaueren
        Analyse. Auf deren Grundlage muss über ein Paket aus
        wirtschaftlicher Hilfe, politischen Verhandlungen und
        der Herstellung und Wahrung von Sicherheit für die
        Menschen nachgedacht werden. Dessen Umsetzung ist
        Aufgabe der Vereinten Nationen. Die maßgebliche Be-
        teiligung der Europäischen Union ist dabei sicher unum-
        gänglich. Vor allem aber liegt sie in unserem eigenen In-
        teresse. Kirgisistan braucht die Hilfe der internationalen
        Gemeinschaft jetzt und nicht erst dann, wenn der Kon-
        flikt eskaliert ist.
        Offsetdruc
        sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö
        7010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        kerei, Bessemerstraße 83–91, 1
        ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        22
        65. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9