Protokoll:
17040

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 40

  • date_rangeDatum: 6. Mai 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:53 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/40 Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 e) (Drucksache 17/1554) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterent- wicklung der Organisation der Grund- sicherung für Arbeitsuchende (Drucksache 17/1555) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichklang von Bund und Ländern beim Klimaschutz sicherstellen (Drucksache 17/1430) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Klimaschutzziele gesetzlich verankern (Drucksache 17/1475) . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3807 C 3807 C 3807 D 3809 D 3811 D 3813 B 3814 B 3829 C 3829 C 3829 D 3831 B 3834 A Deutscher B Stenografisc 40. Sit Berlin, Donnerstag I n h a Wahl der Abgeordneten Rita Pawelski als stellvertretendes Mitglied in den Beirat bei der Bundesnetzagentur . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 9, 13, 20, 27 und 29 a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten 3805 B 3805 B 3806 D 3807 A 3807 B Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3815 A 3816 B undestag her Bericht zung , den 6. Mai 2010 l t : Karl-Josef Laumann, Minister (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer 3818 A 3820 C 3821 D 3822 D 3823 D 3825 A 3826 B 3827 C Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3836 A 3838 D 3840 D II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr (Drucksache 17/1293) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 3. Dezem- ber 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Re- publik Brasilien über Soziale Sicherheit (Drucksache 17/1296) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Güterkraft- verkehrsgesetzes und des Fahrpersonal- gesetzes (Drucksache 17/1395) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag des Bundesministeriums der Fi- nanzen: Entlastung der Bundesregie- rung für das Haushaltsjahr 2009 – Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 2009 – (Drucksache 17/1500) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Von der Konfron- tation zur Kooperation – Deutsch-russi- sche Beziehungen verbessern (Drucksache 17/1559) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Krebserregende Stoffe in Kin- derspielzeugen durch Sofortmaßnah- men ausschließen (Drucksache 17/1563) . . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE 3842 B 3844 B 3845 C 3846 B 3847 D 3848 B 3850 A 3850 D 3851 A 3851 C 3851 C 3851 C 3851 D 3851 D 3852 A LINKE: Einstellung der Verhandlun- gen mit den Vereinigten Staaten von Amerika um ein neues SWIFT-Abkom- men und Verzicht auf ein europäisches Abkommen über ein Programm zum Aufspüren der Finanzierung des Terro- rismus (Drucksache 17/1560) . . . . . . . . . . . . . . . h) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Erfahrungen mit den durch das GKV-WSG bewirkten Rechtsände- rungen in § 13 Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache 16/12639) . . . . . . . . . . . . . . i) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fünfter Staatenbericht der Bundesrepu- blik Deutschland über Maßnahmen zur Durchführung des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT) (Drucksache 16/14138) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämp- fung von Zahlungsverzug im Geschäfts- verkehr (Neufassung) Umsetzung der Initiative für kleine und mittlere Unternehmen in Europa (Small Business Act) (inkl. 8969/09 ADD 1 und 8969/09 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Drucksachen 17/790 Nr. 8, 17/1610) . . . c)–l) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79 und 80 zu Petitionen (Drucksachen 17/1436, 17/1437, 17/1438, 17/1439, 17/1440, 17/1441, 17/1442, 17/1443, 17/1444, 17/1445) . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Anbau von gen- technisch veränderter Kartoffel Am- flora verhindern (Drucksachen 17/1028, 17/1547) . . . . . . . 3852 A 3852 A 3852 B 3852 C 3852 D 3853 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 III b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Elvira Drobinski- Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gentechnisch verän- derte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten (Drucksachen 17/1410, 17/1603) . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuerschätzung für die Steuersen- kungspläne der CDU/CSU-FDP-Koalition Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Erneu- erbare-Energien-Gesetzes (Drucksachen 17/1147, 17/1604) . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/1607) . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Solarstromförderung wirksam ausgestalten (Drucksachen 17/1144, 17/1604) . . . . . . . 3853 D 3854 A 3854 A 3855 A 3856 D 3858 A 3859 D 3861 A 3862 B 3864 B 3865 C 3866 C 3867 C 3868 D 3870 A 3871 B 3871 B 3871 C Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 2009 (51. Bericht) (Drucksache 17/900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Susanne Kastner (SPD) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindest- sicherung (Drucksachen 17/659, 17/953) . . . . . . . . . . . 3871 D 3873 C 3875 A 3876 D 3878 A 3878 B 3878 C 3879 A 3879 C 3881 C 3883 C 3885 A 3886 A 3886 C 3888 B 3888 D 3891 A 3891 B 3894 A 3895 B 3896 C 3897 D 3898 D 3900 A 3901 C 3902 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Übergangs- maßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten des Vertrages von Lis- sabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Ab- satz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun- desregierung und Deutschem Bun- destag in Angelegenheiten der Euro- päischen Union – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Vorschlag der spanischen Regierung für die Änderung der Verträge in Bezug auf die Übergangsmaßnah- men betreffend die Zusammenset- zung des Europäischen Parlaments – Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhand- lungen über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 EUV (Drucksachen 17/1179, 17/235, 17/1460) b) Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Änderung der Verträge – Über- gangsmaßnahmen betreffend die Zu- sammensetzung des Europäischen Parlaments (Drucksache 17/1417) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 3902 D 3904 B 3905 D 3906 D 3908 A 3909 A 3910 A 3910 D 3912 C 3910 D 3911 A DIE LINKE: Veränderung der Zusam- mensetzung des Europäischen Parla- ments in der laufenden Wahlperiode (Drucksache 17/1568) . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Große Anfrage der Abgeordneten Carsten Schneider (Erfurt), Joachim Poß, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zu den theoretischen und empirischen Grundlagen des Wachstums- beschleunigungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beabsichtigten Steuer- reform (Drucksache 17/568) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parla- ments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen (Ausführungs- gesetz zur EU-Ratingverordnung) (Drucksachen 17/716, 17/984, 17/1609) . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Mehr Chancengleichheit für Jugendli- che – Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkommen anrechnen – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Anrech- nung von Ferienjobs auf das Arbeitslo- sengeld II (Drucksachen 17/524, 17/76, 17/841) . . . . . . 3911 A 3911 B 3914 B 3915 C 3916 C 3917 D 3918 C 3919 C 3920 B 3921 D 3921 D 3922 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 V Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/ 214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstra- fen und Geldbußen (Drucksache 17/1288) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: In histori- scher Verantwortung – Für ein Bleiberecht der Roma aus dem Kosovo (Drucksache 17/784) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Keine Zwangsrückführun- gen von Minderheitenangehörigen in das Kosovo (Drucksache 17/1569) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Omid Nouripour, Kai Gehring, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Wehrpflicht beenden (Drucksache 17/1431) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3922 D 3922 D 3923 D 3924 D 3926 A 3927 A 3928 A 3928 A 3928 B 3929 B 3930 D 3931 D 3932 C 3933 C 3933 D 3934 D Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humani- täre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gunkel, Lothar Binding (Heidel- berg), Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Menschenrechtsschutz im Handelsab- kommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru verankern (Drucksachen 17/883, 17/1545) . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: VI. EU-La- teinamerika-Karibik-Gipfel in Ma- drid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Lateinamerikas so- lidarisch unterstützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Klimaschutz und gerechten Handel mit Lateinamerika und der Karibik voranbringen (Drucksachen 17/1403, 17/1419, 17/1608) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Heike Hänsel, Annette Groth, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschen- rechte in Kolumbien auf die Agenda setzen – Freihandelsabkommen EU-Ko- lumbien stoppen (Drucksachen 17/1015, 17/1546) . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen (Drucksache 17/1556) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3936 A 3938 A 3938 D 3939 C 3940 B 3941 B 3941 C 3941 D 3942 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kernfusionsforschung kritisch überprüfen – ITER-Vertrag kündigen (Drucksache 17/1433) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsregelung/Vermeidung von Kettenduldungen) (Drucksache 17/1557) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine wirksame und stichtagsunabhängige ge- setzliche Bleiberechtsregelung im Aufent- haltsgesetz (Drucksache 17/1571) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Verbraucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefoni- schen Dienstleistungen einführen (Drucksachen 17/1029, 17/1549) . . . . . . . . . . Lucia Puttrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3942 C 3942 C 3944 A 3945 B 3946 B 3947 C 3948 B 3948 B 3948 C 3948 D 3950 C 3951 C 3952 B 3953 A 3953 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines … Ge- setzes zur Änderung des Erneuerbare-Ener- gien-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6 a) Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/CSU) zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung und den Bericht zu dem Antrag: Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach Inkraft- treten des Vertrages von Lissabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 10 a) . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Großen Anfrage: Zu den theoretischen und empirischen Grundlagen des Wachstums- beschleunigungsgesetzes und der gemäß Ko- alitionsvertrag beabsichtigten Steuerreform (Tagesordnungspunkt 11) Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäi- schen Parlaments und des Rates vom 16. Sep- tember 2009 über Ratingagenturen (Aus- führungsgesetz zur EU-Ratingverordnung) (Tagesordnungspunkt 12) 3955 A 3955 B 3955 D 3956 C 3956 D 3957 A 3957 D 3958 D 3960 A 3961 A 3961 C 3962 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 VII Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda setzen: Freihandelsabkom- men EU-Kolumbien stoppen (Tagesordnungspunkt 18 a bis c) Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3963 A 3963 D 3965 A 3966 B 3967 A 3973 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Beschlussempfehlung und Bericht zu den An- trägen: – Mehr Chancengleichheit für Jugendliche – Ferienjobs nicht als regelmäßiges Ein- kommen anrechnen – Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Menschenrechtsschutz im Han- delsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru verankern – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Lateinamerikas soli- darisch unterstützen – Klimaschutz und gerechten Handel mit Lateinamerika und der Karibik voran- bringen 3967 C 3968 C 3969 A 3969 D 3970 D 3971 C 3972 A Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen (Zusatztages- ordnungspunkt 5) Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsrege- lung/Vermeidung von Kettenduldungen) – Antrag: Für eine wirksame und stichtags- unabhängige gesetzliche Bleiberechts- regelung im Aufenthaltsgesetz (Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7) Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3973 D 3975 A 3976 B 3977 B 3978 B 3979 C 3980 C 3981 A 3981 C 3982 D 3983 B 3984 C 3985 A 3985 C 3986 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3805 (A) (C) (D)(B) 40. Sit Berlin, Donnerstag Beginn: 1
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3955 (A) (C) (D)(B) Forschungsprogramm auf den Weg gebracht wurde. Ich kann dem Gesetz zur Änderung des Erneuerbare-Energien- halte ich zwar sachlich nicht für zwingend notwendig oder für sachlich geboten, da ich viele Projekte kenne, in Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Erneuer- bare-Energien-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6 a) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Mein Votum lau- tet Enthaltung. Positiv zu bewerten ist, dass im Zuge der Gesetzgebung durch die Änderung der Einspeisevergütung die Förderung des Eigenverbrauchs gestärkt sowie ein Innovations- und Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Becker, Dirk SPD 06.05.2010 Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 06.05.2010 Binder, Karin DIE LINKE 06.05.2010 Binding (Heidelberg), Lothar SPD 06.05.2010 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 06.05.2010 Bulmahn, Edelgard SPD 06.05.2010 Connemann, Gitta CDU/CSU 06.05.2010 Ernst, Klaus DIE LINKE 06.05.2010 Dr. Ott, Hermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 06.05.2010 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 06.05.2010 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 06.05.2010 Scholz, Olaf SPD 06.05.2010 Dr. Schröder, Kristina CDU/CSU 06.05.2010 Werner, Katrin DIE LINKE 06.05.2010 Zapf, Uta SPD 06.05.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht Gesetzes dennoch nicht zustimmen, weil die in der No- velle festgelegte Kürzung der Solarstromförderung in we- sentlichen Teilen zwar durchaus notwendig, aber nicht angemessen ist. Als nicht angemessen beurteile ich die Höhe der De- gressionsschritte, die kurzen Fristen, durch die Unterneh- men und Privatinvestoren Planungssicherheit entzogen und damit Investitionen und Arbeitsplätze gefährdet werden. Es entsteht ein unnatürlicher Nachfrageboom bis zur beginnenden Förderungsminderung, der durch einen für 2010 nicht zeitgleich mit Beginn der Degressionsver- schärfung startenden Beobachtungszeitraum die Förde- rungshöhe für 2011 noch einmal überproportional absin- ken lassen wird. Die in letzter Minute noch veränderten Degressionsschritte je nach Zubauhöhe werden die dras- tischen Förderabsenkungen nicht kompensieren können. Bei der Ausnahmeregelung der Förderstopps für So- laranlagen auf Ackerflächen wurden zwar Gewerbe- und Industriegebiete – § 8 und 9 Baunutzungsverordnung – berücksichtigt, nicht jedoch die unter § 11 Punkt 8 ge- nannten Sondergebiete zur Erprobung und Erforschung regenerativer Energien. Ausgerechnet diese Gebiete nicht in die Ausnahmeregelung aufzunehmen, ist gera- dezu kurios. Außerdem gewährleisten die Fristen für den Be- schluss eines Bebauungsplans, Satzungsbeschluss vom 25. März 2010, keinen hinreichenden Vertrauensschutz für bereits seit längerer Zeit in Planung befindliche Pro- jekte. Angesichts der regelmäßigen Verfahrensdauer zur Aufstellung derartiger Bebauungspläne von üblicher- weise sieben bis neun Monaten bis zur förmlichen Be- schlussfassung ist die Stichtagsregelung nicht realistisch. Dadurch werden zahlreiche – teilweise vorfinanzierte – Projekte nicht umgesetzt werden können. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf stimme ich nur mit Bedenken zu. Dabei lasse ich mich von einer Gesamtabwägung der positiven Elemente dieses Gesetzentwurfes mit insbesondere einem gewichtigen negativen Aspekt leiten. Die grundsätzliche Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes, eine unstrittig gegebene Überförderung der Solarenergie bzw. Fotovoltaik abzubauen, unterstütze ich uneinge- schränkt. Auch aus persönlichen Gesprächen mit Unter- nehmen aus der Branche habe ich den Eindruck gewon- nen, dass diese Absenkung nicht nur akzeptabel, sondern zwingend notwendig ist. Die Größenordnung der zusätz- lichen einmaligen Degression halte ich ebenfalls für die Branche für darstellbar, ohne dass es zu einem Zusam- menbruch der Solarförderung kommt. Ich bin überzeugt davon, dass auch mit diesem Gesetzentwurf der ange- peilte Zubau von jährlich 3 500 Megawatt erzielbar sein wird. Den vollständigen Ausschluss landwirtschaftlicher Nutzflächen aus der Vergütung für Freiflächenanlagen 3956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) denen ohne gravierende Flächenkonkurrenz bei einer ex- tensiveren Fotovoltaiknutzung auch eine Kombination mit landwirtschaftlichen oder Naturschutzinteressen möglich wäre. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung von Grünflächen statt der ausschließlichen bisherigen Fo- kussierung auf Ackerflächen. Gegenüber den positiven Aspekten tritt dieser Aspekt in der Gesamtabwägung je- doch zurück. Die größte Schwäche des Gesetzentwurfes sehe ich in einem mangelnden Vertrauensschutz für weit vorange- schrittene Freiflächenprojekte. Zahlreiche Projekte be- finden sich derzeit noch im Genehmigungsverfahren. Dabei geht es mir insbesondere um die Projekte, die frühzeitig im Jahr 2009 im Vertrauen auf geltendes Recht in Planungen investiert haben. Ein Vertrauens- schutz stellt sich jedoch zeitlich ab Veröffentlichung des Koalitionsvertrages anders dar, da ab dem Zeitpunkt die politische Zielsetzung erkennbar gewesen ist, das Gesetz zu ändern. Wer ab diesem Zeitpunkt in neue Projekte eingestiegen ist, kann sich nicht mehr auf Vertrauens- schutz berufen. Allerdings kenne ich viele Projekte, die erst im Mai oder Juni ihren Satzungsbeschluss in der Ge- meindevertretung fassen können, aber bereits frühzeitig im Jahr 2009 mit den Planungen begonnen haben. Dabei ist das Datum des Aufstellungsbeschlusses nicht ent- scheidend. Es gibt sowohl Projekte, in denen der Auf- stellungsbeschluss am Anfang der Planungen stand und danach erst die Projektentwicklungskosten entstanden sind, als auch Projekte, in denen die gesamte Projektent- wicklung vor dem Aufstellungsbeschluss erledigt wurde und die Gemeinde erst zu einem fertig entwickelten Pro- jekt mit dem Aufstellungsbeschluss Ja gesagt hat. Ich hätte deshalb die Stichtagsregelung für den beschlosse- nen Bebauungsplan lieber auf den 30. Juni festgelegt, um auch diesen Projekten den gebotenen Vertrauens- schutz zu gewähren. Die jetzt vorliegende Stichtagsregelung, die an das Datum der 1. Lesung des Gesetzes im Deutschen Bun- destag am 25. März 2010 anknüpft, ist gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf sicherlich eine Verbesse- rung. Alle Projekte, die nach dem 31. Dezember 2009 und vor dem 25. März 2010 mit einem Satzungsbeschluss auf den Weg gebracht worden sind, können jetzt nach al- tem Recht bis zum Ende des Jahres 2010 realisiert werden. Damit kommen zahlreiche Projekte in den Genuss eines Vertrauensschutzes, den sie mit dem ursprünglichen Ge- setzentwurf nicht bekommen hätten. Auf der Strecke bleiben diejenigen Projekte, die im April, Mai oder Juni ihren Satzungsbeschluss fassen könnten. Insbesondere im Mai oder Juni kommen jedoch umso mehr Projekte hinzu, die erst Ende 2009 begonnen wurden. Deshalb war hier ein erweiterter Vertrauensschutz, den ich nach wie vor für notwendig halte, nicht durchsetzbar. Ich werte allerdings die erweiterte Vertrauensschutz- klausel als Bereitschaft, auch meinem Anliegen entgegen zu kommen. In der Gesamtabwägung komme ich deshalb zu dem Ergebnis, dem Gesetzentwurf zuzustimmen – insbeson- dere um deutlich zu machen, dass ich Handlungsbedarf in der Einschränkung der Überförderung für zwingend geboten erachte, auch wenn ich die gefundene Kompro- misslinie beim Vertrauensschutz als nicht ausreichend erachte. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Das EEG ist, auf- bauend auf dem Stromeinspeisegesetz aus der Regierung Kohl, ein Mittelstands- und Technologiefördergesetz erster Güte. Es bedarf aber im Interesse der Wirksamkeit eines ständigen Monitorings und einer Anpassung an die Entwicklungen. Dass sich die Fotovoltaik hinsichtlich Leistung und Preis besser entwickelt als vorhersehbar, sollten Bran- chen und Politik als Erfolg verbuchen. Die Entwicklung ist im Gesetz unabdingbar nachzuvollziehen. Das schränkt die Planbarkeit für Investoren naturgemäß ein. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass der von der Ko- alition mehrheitlich gefundene Kompromiss gerade dies unnötig verschärft. Der gewährte Vertrauensschutz ist nicht ausreichend und vernichtet Investorengelder, die – im Vertrauen auf ein erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getrete- nes Gesetz – für Anlagen ausgegeben wurden, die nun nicht fertiggestellt werden können. Die weiterreichenden Änderungen bei der Zulässigkeit von Freiflächenanlagen sind an dieser Stelle nicht angemessen und erfolgen ohne Rücksicht auf den Schutz des Eigentums. Gleichzeitig weise ich darauf hin, dass die Alternativen für den Wegfall der Grünflächen zu knapp bemessen sind. Die rot-grüne Vornutzungsauflage war der Versuch, Konflikte mit dem Naturschutz zu vermeiden, hat aber andere provoziert. Die Ackerlandvorschrift war damit zu beseitigen. Allerdings ist es nicht gelungen, in angemesse- ner und von der CSU mehrfach geforderter Weise Flächen- alternativen zu definieren, die mit Blick auf Innovation, Export und Preiswirkung, auch bei einer unter Landwirt- schaftsschutzaspekten sinnvollen Priorisierung von Dach- anlagen, notwendig sind. Bei der regulär anstehenden Novellierung des EEG ist dies auszugleichen. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/ CSU): zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung und den Bericht zu dem Antrag: Über- gangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes- tages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun- desregierung und Deutschem Bundestag in An- gelegenheiten der Europäischen Union (Tages- ordnungspunkt 10 a) Ich bin der Auffassung, dass der spanische Vorschlag zur Anpassung der Sitzzahl im Europäischen Parlament Fragen zur demokratischen Legitimation und zum Status der Abgeordneten aufwirft, sofern die Nachbesetzung der Mandate in den zwölf Mitgliedstaaten nicht auf der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3957 (A) (C) (D)(B) Grundlage freier und allgemeiner Wahlen stattfindet, wie dies der Vertrag von Lissabon, Art. 14 EUV, bestimmt. Ich bin ferner der Meinung, dass die Bestimmung der zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Parlamentes durch Benennung aus der Mitte der nationalen Parla- mente eine Abweichung von Art. 14 des Vertrags von Lissabon über die EU darstellt, und habe deshalb grund- legende Bedenken gegen diesen Vorschlag. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Urteil des Bundesver- fassungsgerichtes vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon zur eingeschränkten Wahlrechtsgleichheit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und damit ver- bunden einer nur begrenzt repräsentativen Abbildung des europäischen Mehrheitswillens. Aus diesen Gründen stimme ich dem Vorhaben nicht zu. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Großen Anfrage: Zu den theo- retischen und empirischen Grundlagen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und der ge- mäß Koalitionsvertag beabsichtigten Steuer- reform (Tagesordnungspunkt 11) Olav Gutting (CDU/CSU): Der Sinn und Zweck die- ser Großen Anfrage ist durchsichtig. Sie ist nichts ande- res als Wahlkampftheater vor der NRW-Wahl. Zum Thema Steuerreform hatten wir ja heute Nachmittag schon eine Aktuelle Stunde. Ich kann Ihnen aber noch einmal bestätigen: Wir machen erfolgreiche Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung – und das auch mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Die Arbeits- losigkeit geht zurück, allein im April um 162 000 auf 3,4 Millionen Arbeitslose. Die Erholung in der deut- schen Wirtschaft ist nach der schlimmen Krise von 2009 deutlich erkennbar. Zur Wirkung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes brauchen Sie sich doch nur die Entwicklung des Wachs- tums seit Inkrafttreten des Gesetzes anzuschauen. Allein der Ifo-Geschäftsklimaindex hat sich im April zum zweiten Mal in Folge kräftig verbessert. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir gezielte Impulse zur Entlastung von Familien und Unter- nehmen gesetzt. Wesentlicher Teil des Wachstumsbe- schleunigungsgesetzes war dabei auch die Familienför- derung. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes haben wir eine spürbare Entlastung für Familien mit Kindern geschaffen. Rechnet man alle Maßnahmen, die zum 1. Januar 2010 in Kraft traten, zusammen, bedeutet das für eine vierköpfige Familie – 54 000 Euro Jahreseinkommen, Alleinverdiener – eine Entlastung von knapp 1 600 Euro. Wir glauben, dass gerade Familien die Leistungsträ- ger unserer Gesellschaft sind. Diese wollen wir entlas- ten. Das haben wir im Wahlkampf versprochen, und das halten wir. Wenn Sie hingegen Familien und die Bezie- her kleiner und mittlerer Einkommen weiter belasten wollen, dann sagen Sie das klar und deutlich. Die Er- folge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes lassen wir uns jedenfalls nicht schlechtreden. Und im Übrigen zu Ihrer billigen Polemik, die Erhö- hung des Kinderfreibetrages würde die Wohlhabenden begünstigen: Während 4,2 Milliarden Euro für die Erhö- hung des Kindergeldes bereitgestellt wurden, stehen für die Erhöhung des Kinderfreibetrages lediglich 400 Mil- lionen, also weniger als ein Zehntel davon, zur Verfü- gung. Statt Familien mit höheren oder niedrigeren Ein- kommen gegeneinander auszuspielen, investieren wir in die Zukunft unserer Gesellschaft. Zu dem Thema, jedes Kind sollte dem Staat gleich viel wert sein. Beim Kinderfreibetrag beträgt die jähr- liche maximale finanzielle Auswirkung 3 154 Euro, bei Leistungen für Kinder in Hartz IV ab 14 Jahren 3 444 Euro. Wir haben vor der Wahl versprochen, denjenigen zu helfen, die seit Jahren die Hauptlasten in diesem Land tragen. Das sind diejenigen, die morgens aufstehen, zur Arbeit gehen und ihre Kinder erziehen. Dieses Verspre- chen haben wir gehalten. Das gilt übrigens auch für Alleinerziehende. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz beinhaltet auch eine Anhebung des Freibetrages für Betreuungs-, Erzie- hungs- und Ausbildungsbedarf. Seine Anhebung wirkt sich insbesondere bei Eltern aus, die, getrennt lebend vom anderen Elternteil, das Kind alleine aufziehen. Die Anhebung führt dazu, das bereits ab einem Jahresein- kommen von 15 660 Euro ein Steuervorteil entsteht. Von der Anhebung der Freibeträge profitieren also bereits El- tern mit geringerem Einkommen. Wir haben zudem nicht nur Verbesserungen für die Familien erreicht, sondern auch etwas für unsere Wirt- schaft getan. Fragen Sie doch mal bei den Mittelständ- lern nach! Ich nenne zum Beispiel die Neureglung bei der Sofortabschreibung. Mit dem Wachstumsbeschleuni- gungsgesetz haben wir die Möglichkeit der Sofortab- schreibung von Wirtschaftsgütern bis 410 Euro wieder hergestellt. Das verschafft den Unternehmen notwendige Liquidität in der Krise. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Erstens. Mit Ihrer in der Anfrage versteckten Kritik am Wachstumsbeschleunigungsgesetz greifen sie schlicht und einfach daneben. Das Wachstumsbeschleunigungs- gesetz ist ein Erfolg. Zweitens. Wenn Sie steuerliche Entlastungen immer nur von der Einnahmeseite her bewerten, werden Sie dieses Land nie auf den notwendigen Wachstumskurs bringen. Wesentlicher Bestandteil unserer Strategie zur Stär- kung der Konjunktur ist ein Steuerrecht, das ein Mehr an Wachstum und Beschäftigung ermöglicht. Steuerpoliti- schen Stillstand, wie Sie ihn wollen, darf es deshalb auch in Zeiten knapper Haushaltskassen nicht geben. Klaus Brandner (SPD): Seit ungefähr neun Mona- ten erscheinen beinahe täglich Presseberichte, in denen 3958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) die jetzigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP eine Steuerreform und umfassende Steuersenkungen an- kündigen. Es werden Reden über dieses Thema gehalten oder Interviews gegeben. Dieses Thema ist dementspre- chend allgegenwärtig, und es scheint der Dreh- und An- gelpunkt für die schwarz-gelbe Koalition zu sein. Das ist nicht weiter verwunderlich; denn beim Thema Steuern ist die FDP Überzeugungstäterin. Bereits in den vergangenen Legislaturperioden hat sie auf jede erdenk- liche Herausforderung mit ihrem Patentrezept „Steuer- senkungen“ geantwortet. Unabhängig ob es der Wirt- schaft gut oder schlecht ging, ob eine vermeintliche Bedrohung von innen oder außen kam, ob Steuerschät- zungen wachsende oder sinkende Staatsfinanzen ver- sprachen – für die FDP passte ihre Forderung nach Steu- ersenkungen auf jede Situation. Auch die CDU/CSU-Fraktion war noch im Wahl- kampf nicht abgeneigt, sich dieser einfachen und popu- lären Lösung anzuschließen. Wer hätte schließlich nicht gern „mehr Netto vom Brutto“? Dennoch hat sie die FDP in den Koalitionsverhandlungen von ihrem 36-Mil- liarden-Euro-Wahlkampfversprechen auf 24 Milliarden Euro heruntergehandelt. Mittlerweile fordert die FDP „nur“ noch Steuerentlastungen von 16 Milliarden Euro, und ihr favorisiertes Dreistufenmodell hat nun zwei Stu- fen mehr bekommen. Damit wurde das bisherige Wahl- versprechen der FDP schon jetzt halbiert. Man könnte das einen Abschied in Stufen nennen – oder einfach Wählertäuschung. Durch die Führungsschwäche der Bundeskanzlerin lässt sich bei der CDU/CSU überhaupt kein einheitliches Bild erkennen. Während der Bundesfinanzminister bei jeder Gelegenheit verkündet, dass es für Steuersenkun- gen keine Spielräume gibt, zeigt die Kanzlerin sich an- getan. Auch andere Unionskolleginnen und -kollegen befürworten die Steuerpläne. Der Kollege Michael Fuchs zum Beispiel sagte: Die Entlastung in Höhe von 16 Milliarden Euro ist möglich und nötig und sollte von der Koalition nun gemeinsam auf den Weg gebracht werden. Mit diesen wohlwollenden Äußerungen und dem nun vorgelegten FDP-Steuermodell haben die Regierungs- fraktionen – entgegen der Behauptung in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD – ihre Pläne zur steuer- lichen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger vorgelegt. Dazu wollen wir jetzt hören, auf welcher Grundlage ihre Pläne entwickelt wurden, wer für die Entlastungen auf- kommen muss und wer direkt oder indirekt davon be- troffen ist. Denn angesichts der aktuellen Lage und Pro- gnosen sind diese Pläne nicht nur anachronistisch, sondern geradezu absurd. Der aktuelle Schuldenstand beträgt rund 1 700 Mil- liarden Euro. Wir haben in diesem Jahr eine Rekordneu- verschuldung von etwa 80 Milliarden Euro beim Bund und 140 Milliarden Euro beim Gesamtstaat. Besonders prekär sieht es bei den Kommunen aus. Jetzt die Steuern zu senken, wird den Schuldenberg nur weiter steigen las- sen. Denn es ist abwegig, anzunehmen, dass man mit schuldenfinanzierten Steuersenkungen Wachstumsim- pulse setzen könnte. Das zeigt nicht nur die Geschichte im In- und Ausland, sondern wird auch in diesem Jahr wieder exemplarisch am Wachstumsbeschleunigungsge- setz durch die Wirtschaftsweisen bestätigt. Auch mit den widersinnigen Steuerplänen müssen wir also davon ausgehen, dass es im Hinblick auf das Wirt- schaftswachstum bei den Schätzungen der Bundesregie- rung von 1,4 Prozent in diesem und 1,6 Prozent im nächsten Jahr bleibt. Das hat fatale Auswirkungen auf die Staatseinnahmen, wie die heute vorgelegte Steuer- schätzung enthüllt. Bund, Länder und Gemeinden wer- den in den Jahren 2010 bis 2013 rund 39 Milliarden Euro weniger in der Kasse haben als bisher angenom- men. In diesem Jahr wird der Gesamtstaat rund 510,3 Milliarden Euro einnehmen. Das sind 1,2 Milliar- den Euro weniger als bisher geschätzt. Hinzu kommen die 10 Milliarden Euro Einsparungen, die aufgrund der im Grundgesetz festgelegten Schuldenbremse ab 2011 allein beim Bund jährlich erbracht werden müssen. Wer in dieser aktuellen Situation Spielraum für Steu- erentlastungen in Höhe von 16 Milliarden Euro sieht, hat schon eine besondere Fantasie oder jenseits der Kameras und Mikrofone ganz andere Pläne. Denn angesichts die- ser Lage bleiben im Falle einer weiteren Steuerentlas- tung nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden sie auf Kosten der nachfolgenden Generationen den Schulden- berg weiter anwachsen lassen, oder sie finanzieren es durch Leistungskürzungen im sozialen Bereich. Was das bedeutet, kann man dank des sogenannten Wachstums- beschleunigungsgesetzes bereits heute spüren: höhere Kitagebühren und schlechte Straßen, geschlossene Sportplätze, Schulen, Schwimmbäder und Bibliotheken. Die Koalitionsfraktionen haben in der bereits ange- sprochenen Antwort auf die Große Anfrage der SPD deutlich gemacht, dass sie die Pläne über etwaige wei- tere Steuerentlastungen unter Berücksichtigung der Not- wendigkeit einer mittelfristigen Konsolidierung der öf- fentlichen Haushalte treffen wollen, und bekannten sich „eindeutig und nachdrücklich“ zum europäischen Stabi- litätspakt. Meine Frage ist daher: Besteht die Bundesre- gierung angesichts der zu erwartenden Mindereinnah- men, angesichts der Notwendigkeit einer mittelfristigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und ange- sichts des europäischen Stabilitätspaktes noch immer auf 16 Milliarden Euro zusätzliche Steuerentlastungen? Und – sofern das der Fall ist –: Wo soll die Finanzierung der Mindereinnahmen erbracht werden? Heute ist die Gele- genheit, diese offenen Fragen zu klären. Bettina Hagedorn (SPD): Thema unserer jetzigen Debatte ist die Große Anfrage der SPD-Fraktion an die Regierung vom – man höre und staune – 27. Januar 2010, in der wir mit einem 16-teiligen Fragenkatalog nach den theoretischen und empirischen Grundlagen des – fälsch- licherweise so bezeichneten – Wachstumsbeschleuni- gungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beab- sichtigten Steuerreform gefragt haben. Es geht also um die volkswirtschaftliche Schlüssigkeit der Steuersen- kungsideen, die Schwarz-Gelb landauf, landab seit Mo- naten wie ein Mantra vor sich herträgt. Gerade heute mussten wir angesichts der Aktuellen Stunde zu der kata- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3959 (A) (C) (D)(B) strophalen Steuerschätzungsprognose erneut eine Kost- probe der ungebrochenen Ignoranz der Koalitionäre in dieser Frage im Plenum ertragen. Dabei lässt sich diese Koalition auch leider nicht durch Fakten von ihrem falschen, unverantwortlichen Weg abbringen: Im Handelsblatt – nicht gerade als rotes Kampfblatt bekannt – stand beispielhaft in seiner Aus- gabe vom 30. April 2010 zur geplanten Steuerreform: „Das Forschungsinstitut IZA hat die FDP und das FDP- geführte Wirtschaftsministerium in eine peinliche Lage gebracht, indem es feststellte, die Reform würde nicht 16 Milliarden Euro kosten, sondern knapp 40 Milliar- den.“ Wir erleben aber täglich in diesem Hohen Haus, dass die FDP sich mit solchen ernstzunehmenden kritischen Stimmen gar nicht erst auseinandersetzt und gebetsmüh- lenartig weiter fordert: Steuersenkung! Gemeinhin ist dieser Wesenszug als „Beratungsresistenz“ bekannt. Die Tatsache, dass die Anforderungen der Schulden- bremse ab 2011 schrittweise mit 10 Milliarden Euro pro Jahr zu erfüllen sind und sich bis 2016 auf 60 Milliarden Euro pro Jahr aufaddieren werden, ohne dass diese Re- gierung Parlament und Öffentlichkeit bisher über ihr „Sparkonzept“ auch nur ansatzweise informiert hätte, ist eine Unterlassungssünde, die die Glaubwürdigkeit von Politik massiv gefährdet. Und die Steuerschätzung von heute beschert dem Staat zusätzliche Steuereinnahme- verluste von knapp 40 Milliarden Euro bis 2013, auf die sie uns und der Öffentlichkeit jede Antwort schuldig bleibt. Das kann man getrost mit dem Versuch der „Volksverdummung“ betiteln. Angesichts all dieser Tat- sachen und angesichts der Krise in Griechenland und Europa, die wir aktuell diese Woche nonstop mit großer Ernsthaftigkeit beraten, bei der es im Kern auch um die Folgen von staatlicher Überschuldung geht, ist es eine Dreistigkeit, dass diese Bundesregierung angekündigt hat, die 16 – mehr als berechtigten – Fragen der SPD- Bundestagsfraktion vom 27. Januar zu beantworten, und zwar exakt am 10. Juli 2010. Und was ist am 9. Juli 2010? Ja, das ist der letzte Sitzungstag des Deutschen Bundestages bis Mitte September. Und was ist Mitte September? Richtig: die erste Lesung des Bundeshaus- haltes 2011 hier in diesem Plenum. So ernst also nimmt diese Regierung ihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament in der zentralen Frage einer nachhaltigen Haushalts- und Finanzpolitik. Aber unbestreitbare Tatsa- che ist: Wenn wir in diesen Krisenzeiten unseren Le- bensstandard und unseren Sozialstaat in seinen Grund- festen erhalten wollen, dann sind angesichts der heute veröffentlichten Steuerschätzung, der verfassungsrecht- lich verankerten Schuldenbremse und der demografi- schen Entwicklung in unserem Land Steuersenkungen auf mittlere Sicht schlicht und ergreifend unmöglich. Wenn die Regierungsfraktionen gefragt werden, wo sie denn sparen wollen, sagen sie reflexartig: bei Arbeit und Sozialem. Natürlich, auf den ersten Blick könnte das im Ansatz sogar nachvollziehbar erscheinen; aber jeder, der auch nur für 5 Cent nachdenkt – ja, ich weiß, bei Ih- nen in der wirtschaftorientierten Partei FDP muss die Summe dafür bestimmt deutlich höher sein – erkennt, dass die Mittel zum allergrößten Teil festgelegt sind, bei- spielsweise im Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in den gesellschaftlich grundlegenden Be- reichen Arbeit und Rente. Der mit Abstand größte Ausgabenblock in diesem Bereich ist der Zuschuss zur Rentenversicherung mit 80,8 Milliarden Euro – eine so gigantisch große Summe, dass sie sich kaum jemand wirklich vorstellen kann. Da- rum will ich es bildlich ausdrücken: Das ist mehr als ein Drittel aller Steuereinnahmen (239,2 Milliarden Euro in 2010), die der Bund 2010 überhaupt erhält, und weit mehr als ein Viertel aller Ausgaben, die der Bund 2009 (292,3 Milliarden Euro) geleistet hat. Dies ist der Anteil des Haushaltes, wo kein Einsparpotenzial schlummert und wo nur ein finanzstarker Staat mit ausreichenden Steuern seiner sozialstaatlichen Aufgabe gerecht werden kann. Um die Dramatik zu erkennen, lohnt ein Blick zu- rück: Noch vor 20 Jahren – 1991 – gab der Bund knapp 30 Milliarden Euro pro Jahr Steuerzuschuss zur Rente, schon sieben Jahre später waren es 1998 51,4 Milliarden Euro, zehn Jahre später waren es 2008 schon 78 Milliar- den Euro und jetzt aktuell 80,8 Milliarden Euro. Dies ist eine Kostenexplosion von fast 30 Milliarden Euro – pro Jahr! – binnen nur zwölf Jahren. 30 Milliarden Euro – das entspricht knapp dem Dreifachen unseres gesamten Bildungs- und Forschungsetats (10,91 Milliarden Euro), dem Fünffachen aller Leistungen aus dem Familienmi- nisterium (6,56 Milliarden Euro) bzw. dem Sechsfachen des Etats des Innenministers (5,59 Milliarden Euro) mit über 40 000 Beschäftigten im Dienste der inneren Si- cherheit unseres Landes. Wer nun jedoch – wie diese Regierung aus CDU/CSU und FDP – ernsthaft plant, Steuern im zweistelligen Mil- liardenbereich dauerhaft zu senken, der legt die Axt an die Wurzeln unseres Sozialstaates und nimmt gleichzei- tig unsoziale Abgabenerhöhungen – zulasten von Ge- ringverdienern und Arbeitslosen, Familien und Rent- nern, Auszubildenden und Studenten – in Bund, Ländern und vor allem in den Kommunen billigend in Kauf. Wie die FDP insgesamt auf diesem Niveau die Berechtigung der Steuereinnahmen unseres Staates öffentlich infrage stellt, und die ideologische Verbohrtheit, mit der sie un- ter dem Deckmantel eines verquasten Leistungs- und Freiheitsbegriffs für Steuersenkungen für Hoteliers, Groß- erben und Besserverdienende sorgt und zusätzlich noch Steuersenkungen für Besserverdienende und Klientelge- schenke fordert, sowie die Lethargie, mit der die CDU/ CSU trotz des „C“ in ihrem Parteinamen auf dieses ge- zielte Attentat auf unseren Sozialstaat reagiert, das alles muss alle am Gemeinwohl Interessierten in unserer Ge- sellschaft auf die Barrikaden oder in die Verzweiflung treiben. Gestatten Sie mir zum Abschluss ein Zitat aus der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung von heute. In dem Kommentar „Der Tag, an dem die Rechnung kam“ schreibt Thorsten Denkler: „Eine deprimierende Lage – wenn es die FDP nicht gäbe. In früheren Zeiten boten Quacksalber auf den Marktplätzen manches Gebräu feil, das angeblich gegen alles half, was mit Krankheit zu tun 3960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) hat – vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP ver- sucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die Partei des Guido Westerwelle verspricht Steuersenkungen, wenn es dem Staat gutgeht, weil dann genug Geld dafür da sei. ‚Bürger am Aufschwung beteiligen‘, heißt das dann. Und sie verspricht Steuersenkungen, wenn es dem Staat schlechtgeht, weil das angeblich die Wirtschaft massiv ankurbele. Einen Grund, gegen Steuersenkungen zu sein, gibt es für die FDP nicht. Wenn es darauf an- käme, würde sie mit Steuersenkungen auch den interna- tionalen Terrorismus oder isländische Vulkane bekämp- fen.“ Dr. Daniel Volk (FDP): Mit dem Gesetz zur Be- schleunigung des wirtschaftlichen Wachstums werden Bürger und Unternehmen seit dem 1. Januar 2010 um insgesamt 8,4 Milliarden Euro jährlich entlastet. Im Gesetzentwurf heißt es: Die Folgen der schwersten Finanz- und Wirt- schaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland sind noch nicht überwunden. In dieser sehr ernsten und beispiellosen wirtschaftlichen Ge- samtsituation gilt es, den Einbruch des wirtschaftli- chen Wachstums so schnell wie möglich zu über- winden und neue Impulse für einen stabilen und dynamischen Aufschwung zu setzen. Nur durch nachhaltiges Wachstum können die Folgen der Krise überwunden werden. Eine Steuerpolitik, die sich in diesem Sinne als Wachstumspolitik versteht, schafft Vertrauen und Zuversicht und stärkt durch wirksame und zielgerichtete steuerliche Entlastun- gen die produktiven Kräfte unserer Gesellschaft. Die FDP hat Wort gehalten. Den ersten Schritt zur Entlastung haben wir mit dem Gesetz gemacht. Einen weiteren Entlastungsschritt werden wir jetzt auf den Weg bringen. Wir werden insbesondere die unteren und mittleren Einkommensbezieher vorrangig entlasten und gleichzeitig den Mittelstandsbauch abflachen, indem wir den Einkommensteuertarif zu einem Stufentarif um- bauen. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz setzt die neue Koalition Impulse für mehr Beschäftigung. Mit diesem ersten Schritt stärkten wir bereits zum 1. Januar 2010 insbesondere Familien und Mittelstand. Daneben wurden im Koalitionsvertrag weitere Schritte vereinbart, die zeitnah umgesetzt werden. Die viel kritisierte Mehrwertsteuersenkung im Hotel- und Gaststättengewerbe zeigt nun aber erstaunlicher- weise erste positive Wirkungen. Drei Monate nach Ein- führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes planen knapp 3 000 in einer Befragung erfasste Hotels Investi- tionen in Höhe von insgesamt einer halben Milliarde Euro (507 Millionen Euro). Diese Investitionen betref- fen vor allem Modernisierungen, Neuanschaffungen und Umbauten. Für Arbeitnehmer bedeutet das fast 2 700 neue Vollzeitarbeitsplätze und mehr als 1 300 neue Aus- bildungsplätze. Nicht zu vergessen bei dieser Betrach- tung ist das schwierige konjunkturelle Umfeld dabei und die Anzahl der gesicherten Arbeitsplätze, die leicht in die Zehntausende gehen. Ebenfalls sollte man bei der Betrachtung nicht verges- sen, dass durch die Mehrwertsteuersenkung auch für mehr Steuergerechtigkeit gesorgt wurde, da in 21 von 27 EU-Mitgliedstaaten ein reduzierter Mehrwertsteuer- satz gilt. Wenn Sie uns vorwerfen, das Gastgewerbe als einen Teil der mittelständischen Wirtschaft zu unterstützen, der über 1 Million Beschäftigte und mehr als 100 000 Auszubildende in 240 000 Betrieben hat, mehr als 57,2 Milliarden Euro Jahresnettoumsatz erwirtschaf- tet und dabei eine Menge Steuern zahlt, dann kann ich nur erwidern: Ja, wir unterstützen die Wirtschaft in die- sem Land, die Steuern zahlt und Arbeitsplätze schafft. Erreichtes: Kindergeld erhöht: Bislang wurden die Leistungen der Familien nicht ausreichend berücksichtigt. Wir ent- lasten und fördern Familien mit Kindern. Für alle, die den erhöhten Kinderfreibetrag nicht ausschöpfen kön- nen, heben wir das Kindergeld um 20 Euro für jedes Kind an. Kinderfreibetrag angehoben: Zur besonderen Berück- sichtigung der Aufwendungen der Familien für ihre Kin- der wurden die Steuerfreibeträge für jedes Kind von 6 024 Euro auf 7 008 Euro erhöht. Damit sinkt die Steu- erlast für Familien mit Kindern erheblich. Das Finanz- amt prüft automatisch, ob erhöhtes Kindergeld oder er- höhter Freibetrag besser für die Familie ist. Schonvermögen verdreifacht: Bevor Sozialleistun- gen bezogen werden können, müssen zuerst eigene Ver- mögenswerte aufgebraucht werden. Bislang stand den Empfängern von Arbeitslosengeld II nur ein sehr kleines Schonvermögen von 250 Euro je Lebensjahr zu. Wir werden den Freibetrag auf 750 Euro pro Lebensjahr ver- dreifachen. So stärken wir die eigenständige Altersvor- sorge und mildern die Auswirkungen des sogenannten Hartz IV ab. Betriebsübergänge erleichtert: Die bisherigen Rege- lungen zur Unternehmensnachfolge waren insbesondere für Handwerk und Mittelstand oft schwer erfüllbar. Wir machen sie krisenfest und planungssicher. So kann die Zukunft vieler Betriebe und ihrer Arbeitnehmer schon heute gesichert werden. Abschreibung verbessert: Wir führen eine Regelung zur Sofortabschreibung von Wirtschaftsgütern bis 410 Euro ein und lassen ein Wahlrecht zur Bildung eines Sammelpostens für alle Wirtschaftsgüter zwischen 150 und 1 000 Euro zu. Das schafft mehr Flexibilität für die Unternehmen und trägt zur Vereinfachung der Abschrei- bungen bei. Forschung unterstützt: Bildung, Ausbildung, Wissen- schaft und Forschung sind unser wichtigster Rohstoff. Wissenschaft und Forschung brauchen mehr Flexibilität und Gestaltungsspielraum. Wir werden mit einem natio- nalen Stipendienprogramm den Anteil der Stipendiaten von 2 auf 10 Prozent erhöhen. Die Zusammenarbeit zwi- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3961 (A) (C) (D)(B) schen Hochschulen und außeruniversitären Forschungs- einrichtungen werden wir stärken. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Es geht heute um das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Was bedeutet das eigentlich? Ziel dieses Gesetzes ist, mit Steuerentlastun- gen für Wachstum zu sorgen. Damit berührt es eine zentrale Fragestellung. Kann Wachstum durch Steuer- senkungen erzeugt werden? Hierzu hat die SPD eine Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt, deren Antwort uns leider noch nicht vorliegt. Aber wir können trotzdem feststellen: Die Bundes- regierung argumentiert bisher immer, dass Haushalts- konsolidierung letztendlich durch ein erhöhtes Wirt- schaftswachstum erreicht werden soll, wobei Wirtschaftswachstum durch Steuersenkungen erzeugt werden soll. Hier könnte man doch erwarten, dass sie, wenn sie schon solch eine Annahme vertritt, diese auch mit theoretischen oder praktischen Erfahrungen stützt. Aber weit gefehlt, sie kann es nicht. Dies gab sie in einer früheren Antwort auf eine SPD-Anfrage zu. Sie habe kein verlässliches Mittel zur Abschätzung der Auswir- kungen von Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und Steuereinnahmen. Da stellt sich vielen Menschen die Frage: Woher nimmt die Bundesregierung die Annahme, Steuersen- kungen würden zu Wachstum führen? Vielleicht schaut sie in die Glaskugel? Zu dieser irrigen Annahme der Bundesregierung kann ich Ihnen nur sagen: Die in den letzten zehn Jahren statt- gefundenen Steuerrechtsänderungen haben nicht zu Wachstum, sondern zu einer stärkeren Verschuldung des Bundes, der Länder und der Kommunen geführt. Dies stellte eine Studie des Institutes für Makroökonomie und Konjunkturforschung, IMK, fest. Bezüglich der Auswir- kungen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz stellte das IMK auch fest, dass dem Staat bis 2013 jährli- che Steuereinnahmen von über 8 Milliarden Euro entge- hen werden. Dies verschärft die Lage der öffentlichen Haushalte weiter. Zu dem von Ihnen vielfach angepriesenen Selbst- finanzierungseffekt kann ich Ihnen sagen: Auch hier gab es Untersuchungen, die bestätigen, dass sich Steuernach- lässe für Unternehmen und Haushalte nicht selbst finan- zieren. Überhaupt kein Selbstfinanzierungseffekt ver- bleibt, wenn der Staat die Steuern senkt, gleichzeitig aber die Ausgaben kürzt. Von daher sollten Sie sich end- lich von ihrer Steuersenkungsideologie verabschieden. Diese hat die letzten zehn Jahre die öffentlichen Haus- halte genug ruiniert. Wenn Sie also nicht auf uns oder das IMK hören wollen, dann folgen Sie doch wenigstens den Empfehlungen des Sachverständigenrates, der der- zeit eine Steuersenkung ebenfalls für unverantwortlich hält. Die heute erschienene Steuerschätzung rechnet insge- samt mit 38,9 Milliarden Euro weniger an Steuereinnah- men bis 2013, wobei ein Großteil der Ausfälle auf die von Ihnen zu verantwortenden Steuerrechtsänderungen zurückzuführen ist. Wer die Einnahmeausfälle kompen- sieren soll, dazu hört man aus dem Bundesfinanzminis- terium nichts. Wahrscheinlich dürfen es wieder die Bür- gerinnen und Bürger ausbaden. Das ist mit der Linken nicht zu machen. Nötig sind nach Meinung der Linken eine Stabilisierung der öffent- lichen Einnahmen und eine sozial gerechtere Politik, die unten gibt und oben nimmt und Steuer- und Lohndum- ping verhindert. Daher fordert die Linke eine gerechtere Einkommensbesteuerung, Zurücknahme der steuerli- chen Entlastungen für Unternehmen sowie einen gesetz- lichen Mindestlohn. Dieser erhöht letztendlich auch die Einnahmen der Sozialkassen und stabilisiert sie. Steuern sind die Grundlage, damit der Staat handeln kann, damit er für Bürgerinnen und Bürger Schulen, Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kul- tureinrichtungen bereitstellen kann. Die Linke sagt, dass soziale Gerechtigkeit nur hergestellt werden kann, wenn Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das heißt, starke Schultern müssen mehr tragen als schwächere. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mit dem Klientelbeglückungsgesetz haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Ende letzten Jahres Teile ihrer Wahlkampfversprechen eingelöst und Steuern gesenkt. Haben Sie damit jedoch ihr erklärtes Ziel – nämlich Wachstum zu beschleunigen – erreicht? Modellrechnungen von Experten des Sachverständi- genrates zeigen: Die Steuersenkungen für Hoteliers, Un- ternehmen, Familien und Erben erhöhen die Wirtschafts- leistung in Deutschland um gerade einmal maximal 0,07 Prozent. Der Sachverstand der Experten – und da- rauf beruft sich ja vor allem die Kanzlerin so gerne – fasst die Bewertung für das sogenannte Wachstumsbe- schleunigungsgesetz in einer simplen Note zusammen: Ungenügend! Schauen wir uns die realen Zahlen an: Nach Verab- schiedung des sogenannten Wachstumsbeschleunigungs- gesetzes haben sie die Wachstumsprognosen für 2010 nicht erhöht. Wenn überhaupt, dann erwarten Sie einen winzigen Impuls mit einer faktisch nicht wahrnehmba- ren Auswirkung auf die wirtschaftliche Dynamik. Und dafür waren Sie bereit, den exorbitanten Preis von 8,5 Milliarden Euro zu zahlen! Jährlich! Eine ungeheure Verschwendung von Steuergeldern in dieser schwierigen Zeit, in der die Wissenschaftler, ganz deutlich der Bun- despräsident und jetzt auch der eigene Finanzminister ei- gentlich nur ein Thema kennen: die Konsolidierung der Haushalte. Die Schuldenbremse, die im Grundgesetz verankert ist, und die damit verbundene Konsolidie- rungsaufgabe lassen keinen Spielraum für Steuersenkun- gen. Laut der heutigen Steuerschätzung des Bundes- finanzministeriums weisen die gesamtstaatlichen Steuereinnahmen bis 2013 fast 50 Milliarden Euro weni- ger aus als geplant. Und dann die Verteilungswirkung: Von der Anhebung der Kinderfreibeträge profitieren überproportional die reichen Familien. Die Erben wurden entlastet, und die Hoteliers bekamen ihre Klientelgeschenke. Als ob die 3962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Auseinanderentwicklung von Vermögen und Einkom- men in einem anderen Land stattfinden würde! Hier zeigt sich die Handschrift der FDP, die immer noch nicht kapiert hat, dass wir mit einer Stärkung der niedrigen Einkommen – gerade da gibt es viele echte Leistungsträ- ger! – Kaufkraft und Binnenkonjunktur stärken müssten. Klar ist: Wachstum durch ziellose Steuersenkung funktioniert nicht. Es ist eine Illusion. Sie fördert Fehl- entwicklungen, und am Ende fehlen uns Einnahmen, die wir vor allem in den Kommunen so dringend brauchen: für den Klimaschutz, für die Bildung, für die öffentliche Daseinsvorsorge, für Investitionen, die ein nachhaltiges, qualitatives Wachstum bewirken. Wir Grünen wollen ein nachhaltiges qualitatives Wachstum, ein ökologisches und sozialverträgliches Wachstum. Wir haben das an dieser Stelle schon oft durchdekliniert: Wir brauchen eine aktive grüne Indus- triepolitik, um den ökologischen Transformationspro- zess unserer Wirtschaft zu beschleunigen. Mit neuen Schulen, mit verstärkten Aufwendungen für eine energe- tische Sanierung, mit einer zielgerichteten Förderung neuer Technologien – ich erinnere nur an das Thema Elektromobilität –, damit schaffen wir ein nachhaltiges Wachstum. Mit einem höheren Ausbildungsstand junger Menschen, mit mehr regenerativen Energien, mit einer leistungsfähigeren Infrastruktur, damit stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, damit erzeugen wir Wachstum. Mit blinden Steuersenkungen bekommen Sie das nicht hin. Es wäre gut, wenn Sie das endlich einsehen würden und von Ihren unsäglichen Steuersenkungsfanta- sien abrücken würden. Hartmut Koschyk (Parlamentarischer Staatssekre- tär beim Bundesminister der Finanzen): Die SPD be- zweifelt in der vorliegenden Großen Anfrage, dass steu- erliche Maßnahmen ein Instrument zur Bewältigung der Krise sein können. Noch im vergangenen Jahr hat sie genau diesen Kurs mitgetragen, jetzt weiß sie nicht mehr, warum. Zur Theorie. Sie fragen uns hier nach theoretischen Konstrukten und nach dem Titel des Lehrbuchs, aus dem wir die Erkenntnisse für unser wirtschaftspolitisches Konzept ziehen. Kein Lehrbuch hat diese Krise vorher- gesagt, und in keinem Lehrbuch steht, wie man diese Krise überwinden kann. Gehen Sie bitte davon aus, dass die Berater der Bundesregierung alle wirtschaftspoliti- schen Theorien kennen, die auch Sie kennen, und diese Theorien widersprechen sich ja vielfach. Politik muss aber handeln, und zwar oft auf einer empirisch und theo- retisch unsicheren Grundlage. Die Bundesregierung ver- folgt dabei nicht dogmatisch ein theoretisches Kon- strukt. Wir haben die zueinanderpassenden Elemente kombiniert und so mit wichtigen Impulsen der deutschen Wirtschaft durch die Krise geholfen. Deutschland wurde durch die hohe Auslandsverflech- tung besonders hart von der Weltwirtschaftskrise getrof- fen. Nie zuvor schrumpfte in der Bundesrepublik das Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent in einem Jahr. Dieser Einbruch wäre noch größer ausgefallen, hätte die Bun- desregierung nicht rasch und umfangreich reagiert. Die Maßnahmenpakete zur Stützung der Finanzmärkte und der Konjunktur haben deutlich zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage beigetragen. Für 2010 kann jetzt sogar wieder mit einem leicht positiven Wachstum von rund 1,4 Prozent gerechnet werden. Die Wende ist ge- glückt. Noch deutlicher sehen Sie den Erfolg unserer Politik, wenn Sie auf den Arbeitsmarkt schauen. Alle Experten wurden von der positiven Entwicklung überrascht. Geschickte Politik hat verhindert, dass die schlimmsten Vorhersagen eintrafen. Wir sind viel besser durch diese Krise hindurchmarschiert als die meisten anderen euro- päischen Länder. In der Medizin gilt: „Wer heilt, hat recht.“ Wenn ich diesen Maßstab an unsere Politik an- lege, kann ich nur sagen: Wir haben das Richtige getan. Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Wachs- tumsbeschleunigungsgesetz wird von Ihnen immer wie- der auf den abgesenkten Mehrwertsteuersatz für Über- nachtungen reduziert. Dies ist aber nur eine – und noch nicht einmal die wichtigste – der Maßnahmen, die das Gesetz ausmachen. Fiskalisch wesentlich bedeutsamer sind beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes und die Erhöhung der Kinderfreibeträge. Die spürbare Kin- dergelderhöhung nützt vor allem Familien mit kleinen und mittleren Einkommen. Sie können diese Entlastung für den Konsum nutzen und so zur Stärkung der Binnen- nachfrage beitragen. Aber auch für die Unternehmen wurden steuerliche Entlastungen sowie gezielte Korrekturen umgesetzt, die die Anpassung an die krisenbedingten Folgen erleich- tern. Diese Korrekturen zugunsten von Unternehmen waren wichtig, und sie haben geholfen, die Krise leichter zu überwinden, weil sie schnell kamen. Das Wachstums- beschleunigungsgesetz hat damit nicht nur eine Nachfra- gebelebung erzeugt; verbesserte Investitionsbedingun- gen stärken auch die Wachstumsgrundlagen auf Dauer. Zur Doppelstrategie. Die Krise hat deutliche Spuren in den Haushalten aller Gebietskörperschaften hinterlas- sen. Wir müssen deshalb schnell auf einen Konsolidie- rungspfad zurückkehren. Die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse erfordert in den nächsten Jahren erheb- liche Konsolidierungsanstrengungen im Bundeshaus- halt. Eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wird aber ohne Wachstum nicht gelingen. Die Bundesregierung setzt deshalb auf eine Doppel- strategie: Wir stärken die Wachstumskräfte durch steuer- liche Entlastungen und halten uns an eine klare, regelge- bundene Konsolidierungsstrategie. So haben wir unsere Arbeit auch begonnen. Für alle Maßnahmen des Koali- tionsvertrages gilt deshalb ein Finanzierungsvorbehalt. Den Bogen zwischen Wachstumsanreizen und Konsoli- dierung zu schlagen, ist die große finanzpolitische He- rausforderung dieser Legislaturperiode, und diese Auf- gabe kann diese Bundesregierung besser bewältigen als jede andere. Wir bekennen uns zu soliden öffentlichen Finanzen, auch weil sie notwendige Voraussetzungen für dauerhaft Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3963 (A) (C) (D)(B) günstige Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen sind. Umgekehrt gilt ebenso: Wirtschaftswachstum und ein Anstieg der Beschäftigung schaffen die besten Vo- raussetzungen für tragfähige öffentliche Finanzen. Wachstum und Konsolidierung gehen Hand in Hand. Wer hier einen grundsätzlichen Widerspruch sieht, zeigt nur, dass er selbst mit der gestellten Aufgabe überfordert wäre. Diese Bundesregierung wird beides leisten: Wir wer- den die Bürger entlasten, und wir werden die öffentli- chen Haushalte konsolidieren. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungs- gesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen (Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung) (Tagesordnungspunkt 12) Peter Aumer (CDU/CSU): Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die weltweiten Finanzmärkte neu geordnet und reguliert werden müssen. Ein ganz ent- scheidender Bestandteil ist dabei die internationale Kon- trolle der Ratingagenturen. Den Ratingagenturen wird in der Finanzmarktkrise ein folgenreiches Versagen zum Vorwurf gemacht, da sie die schlechte Marktlage in ihren Ratings nicht früh ge- nug zum Ausdruck gebracht haben. Bei Zuspitzung der Krise hätten die Ratings angepasst werden müssen, was nicht oder nicht rechtzeitig erfolgt ist. So wurde ein Sys- tem vermeintlicher Sicherheit geschaffen, das es zukünf- tig auszuschließen gilt. Mit der im Jahr 2009 auf den Weg gebrachten EU-Verordnung haben wir in Europa nun die Möglichkeit, einen ersten wichtigen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Uns allen muss natürlich bewusst sein, dass diese Ver- ordnung nicht alle Schwachstellen der Finanzmärkte be- heben kann – es gibt kein Allheilmittel im Umgang mit der Finanzkrise. Ein solches Ziel wäre mit einer derarti- gen Verordnung auch zu hoch gegriffen und somit nicht realistisch; aber sie ist dennoch ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Mit diesem Ausführungsgesetz können Zeichen ge- setzt werden, um die Vertrauenswürdigkeit und die Neu- tralität der Einschätzungen von Ratingagenturen zu ge- währleisten, um auch so das Vertrauen in die Finanzmärkte wieder nachhaltig zu stärken. Nur ein ge- meinsamer Regulierungsansatz bietet die nötigen Vo- raussetzungen, um unternehmerische Verantwortung und Verlässlichkeit unter den Ratingagenturen zu fördern und eben auch zu fordern und um in Zukunft mehr Transparenz zu schaffen. Dazu gehört es, dass die Agen- turen ihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transpa- renter gestalten. Sie müssen angewandte Methoden, his- torische Ausfallquoten von Ratingkategorien oder eine Liste ihrer größten Kunden in Zukunft regelmäßig veröf- fentlichen. Wir brauchen in Europa einen umfassenden Rechts- und Aufsichtsrahmen für die Finanzmärkte. Die Umsetzung der EU-Verordnung leistet einen wichtigen Beitrag hierfür. Ratingagenturen spielen jetzt und in Zu- kunft eine essenzielle Rolle in unserer Finanzwelt. Wir sind angewiesen auf die Einschätzungen von Experten. Gerade aufgrund der besonderen sich daraus ergebenden Verantwortung und des wichtigen Stellenwerts von Ra- tings muss man diese mit der notwendigen Sensibilität behandeln und einzelne Urteile kritisch hinterfragen. In- teressenkonflikte bei der Bewertung, offensichtliche Verstöße gegen das Gebot der Trennung von Beratung und Bewertung hinterlassen Zweifel an der Qualität der Ratings. Eine stufenweise Abkehr von der bedingungs- losen Akzeptanz dieser Ratings ist unabdingbar, und des- halb ist es auch notwendig, dass Marktteilnehmer parallel eigene Risikobewertungen vornehmen müssen. Mithilfe dieser EU-Verordnung werden Ratingagen- turen mit einem klar definierten Bußgeldkatalog zu mehr Disziplin gezwungen und über ihre Verantwortung be- lehrt. Auch wenn dieser Katalog von verschiedenen Sei- ten als zu mild eingestuft wird, so beinhaltet er aus mei- ner Sicht ein klares Signal: Wir sind überzeugt und fest entschlossen, Verstößen entschieden entgegenzuwirken. Gerade weil sich der Markt der Ratingagenturen durch einen stark eingeschränkten Wettbewerb charakterisie- ren lässt, bedarf es einer effizienten, zielgerichteten Re- gulierung der Ratingagenturen, und gerade deswegen bedarf es einer Aufsicht. Grundlegende Voraussetzungen werden durch das heute zur Abstimmung stehende Ausführungsgesetz ge- schaffen. Mit der BaFin haben wir eine zentrale und neu- trale Aufsichtsbehörde, die die Ratingagenturen im Blick behält und Verstöße frühzeitig erkennen muss. Dies ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Rich- tung. Das Aufbrechen des Oligopols der Ratingagenturen erscheint mir langfristig besonders wichtig. Es muss eine nichtstaatliche europäische Ratingagentur geben, die dem Oligopol der bestehenden Ratingagenturen ange- messen begegnet. Es ist sehr bedenklich, dass die Kredit- würdigkeit europäischer Staaten allein vom Urteil dreier Ratingagenturen mit Sitz in New York abhängig ist. Ne- ben dem Vorteil der räumlichen Nähe zu den bewerteten Firmen und Staaten könnten mit einer eigenen europäi- schen Ratingagentur transparente Strukturen geschaffen und mehr Unabhängigkeit sichergestellt werden. Für ein funktionierendes und stabiles Finanzsystem, das nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Bedürf- nissen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und Europas gerecht wird, brauchen wir einen international orientierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen. Die Umsetzung der vorliegenden EU-Rating-Verordnung ist ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur Umsetzung eines solchen Systems. Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Das Europäische Parlament und der Rat haben im Herbst 2009 die soge- nannte EU-Ratingverordnung verabschiedet. In dieser Verordnung wird die Regulierung von Ratingagenturen 3964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) geregelt. Ich denke, ich muss angesichts der vergange- nen zwei Jahre nicht näher erläutern, warum diese Ver- ordnung notwendig war. Die Überprüfung der Einhaltung der Regeln der Ra- tingverordnung obliegt zunächst den nationalen Auf- sichtsbehörden. Hierfür ist vom Bundestag der rechtli- che Rahmen zu schaffen. Darüber hinaus muss der Bundestag „wirksame, verhältnismäßige und abschre- ckende Sanktionen“ festlegen, um Verstöße gegen die Ratingverordnung zu ahnden. Im vorliegenden Gesetz- entwurf werden genau diese Punkte umgesetzt: Die Aufsicht über die Ratingagenturen soll der Bun- desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, ob- liegen. Die operative Durchführung der Aufsicht soll durch geeignete Wirtschaftsprüfungsgesellschaften er- folgen. Verstöße gegen die Ratingverordnung sollen mit Bußgeldern von 200 000 bis 1 Million Euro geahndet werden. Jede Ratinggesellschaft muss sich bei der BaFin registrieren lassen. Der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzge- bers ist bei diesem Ausführungsgesetz gering – Eile ist geboten –; die Mitgliedstaaten sollen bis zum 7. Juni die Voraussetzungen 2010 für die Überwachung der Rating- verordnung geschaffen haben. Der Finanzausschuss hat daher mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen diesem Gesetzesentwurf zugestimmt. Ob die EU-Ratingverordnung ausreicht, um die funk- tionalen Schwächen des gegenwärtigen Ratingsystems zu beseitigen, ist hier und heute nicht der Punkt. Dies sollten und müssen wir an anderer Stelle diskutieren. Heute geht es einzig und allein darum, durch die Festle- gung der Aufsichtsstrukturen den Einstieg in eine effi- ziente Regulierung von Ratingagenturen auch hier in Deutschland zu ermöglichen. Insofern ist es für mich un- verständlich, wenn sich die Oppositionsfraktionen die- sem nützlichen und notwendigen Gesetzentwurf verwei- gern, und zwar mit der Begründung, dass sie in dieser Vorlage gerne noch weitere Punkte wie den Anleger- schutz unterbringen möchten. Wir sind gerne bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren, aber nicht im Rahmen die- ses Gesetzgebungsverfahrens; denn jetzt ist Eile gebo- ten, um die Ratingagenturen endlich zu regulieren. Die Verbesserung des Anlegerschutzes ist im Übrigen auch ein Anliegen der Bundesregierung, für das sie schon ein Diskussionspapier herausgegeben hat. Denn wir sehen, dass es notwendig ist, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Die fehlerhafte Arbeit von Ratingagenturen war eine we- sentliche Ursache für die Finanzkrise. Die wesentlichen Kritikpunkte an den Ratingagentu- ren sind – neben dem Vorwurf, Marktentwicklungen viel zu spät erkannt zu haben –: mangelnde Transparenz be- züglich der Beurteilungsmethoden und -daten, man- gelnde Wettbewerbsstrukturen – drei große amerikani- sche Agenturen haben den Markt unter sich aufgeteilt –, Interessenkonflikte, insbesondere zwischen Beratungs- und Bewertungsleistungen, mangelnde Möglichkeiten, Ratingagenturen bei Fehlverhalten in die Haftung zu nehmen. Vor allem die Fragen nach den Wettbewerbsstruktu- ren und den Interessenkonflikten sind noch nicht ausrei- chend beantwortet worden. Deswegen setzen sich die Regierungsfraktionen für eine weitere Verschärfung der Regulierungen sowie für die Schaffung einer unabhängi- gen europäischen Ratingagentur ein. Die Arbeit und das Verhalten der Ratingagenturen sind das eine. Auf der anderen Seite steht allerdings das, was wir aus den Ratingagenturen gemacht haben. – Aber der Reihe nach: Warum sind eigentlich Ratingagenturen gegründet worden? Es ging doch darum, dass Banker und Kaufleute eine zweite, eine unabhängige, eine an- dere Meinung haben wollten, bevor Kredite gegeben bzw. Anleihen und andere Finanzprodukte gekauft wur- den. Zwei Meinungen – eine davon von einem unabhän- gigen Experten, das hört sich gut an und verbessert zwei- felsohne das Urteil. Aus dieser zweiten Meinung ist aber leider allzu oft die einzige Meinung geworden. Urteile von Ratingagen- turen wurden überhöht. Auf ein eigenes Urteil wurde verzichtet. Wir haben dies in der ersten Finanzkrise sehr deutlich gesehen. Es wurden Produkte allein auf Basis von Ratingurteilen gekauft. Verstanden wurden sie von vielen Käufern wohl nicht. Wir haben diese Entwicklung als Gesetzgeber nicht gestoppt, sondern gefördert, indem wir Ratingagenturen zum Beispiel bei der Festlegung von Eigenmitteln von Kreditinstituten oder bei der Beleihbarkeit von Anleihen der EZB eine wichtige Rolle zugeteilt haben. Für mich heißt die Schlussfolgerung daraus: Banker und Kaufleute müssen sich wieder ihr eigenes Urteil bil- den. Das Urteil von Ratingagenturen darf und kann auch gerne als zweite Meinung danebenstehen, sollte aber niemals das einzige Beurteilungskriterium sein. Dies gilt es, über die Regulierung von Ratingagenturen hinaus notfalls auch gesetzlich klarzustellen. Die EZB hat in den letzten Tagen gezeigt, wie dies in der Praxis gehen kann: Die EZB hat beschlossen, das Länderrating für Griechenland als Kriterium für die Be- leihung von Staatsanleihen auszusetzen, da sie den Kon- solidierungsmaßnahmen in Griechenland vertraut. Sie hat ihr eigenes Urteil über die Kreditwürdigkeit von Griechenland getroffen – dabei aber die Urteile der Ra- tingagenturen im Blick gehabt. Die zweite Meinung wurde erwogen, die eigene Meinung war letztlich ent- scheidend. Zum Abschluss vielleicht noch einige Anmerkungen zu einer europäischen Ratingagentur. Das Projekt lohnt den Schweiß der Edlen, wie es so schön heißt. Es lohnt sich deswegen, weil ein Markt, den drei Anbieter unter sich aufgeteilt haben, nicht gesund ist. Eine Alternative wäre die wettbewerbsrechtliche Zerschlagung der beste- henden Agenturen, eine andere der staatlich geförderte Aufbau einer eigenen europäischen Agentur. Wir sollten von dieser Agentur aber keine Wunder- dinge erwarten. Auch die Urteile einer europäischen Ra- tingagentur basieren auf subjektiven Einschätzungen und mathematischen Modellen, sind also fehleranfällig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3965 (A) (C) (D)(B) Eine europäische Ratingagentur, die ernst genommen werden will, muss unabhängige und keine politischen Urteile fällen. Deswegen halte ich es für gefährlich, die prozyklische Wirkung von Ratingurteilen zu kritisieren. So hatten die unlängst abgestuften Länder schlechte Fundamentaldaten. Es wäre auch die Aufgabe einer eu- ropäischen Ratingagentur gewesen, dies öffentlich zu adressieren und das Ratingurteil gegebenenfalls anzu- passen, egal ob dies die Krise verschärft oder nicht. Ich kann in diesem Zusammenhang im Übrigen nur davor warnen, die EZB zu einer Ratingagentur für Länder aus- zubauen. Dies birgt Interessenkonflikte und gefährdet die Unabhängigkeit der EZB. Für heute kann ich nur alle Fraktionen bitten, den vor- liegenden Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen. Das wird die dringend benötigte Regulierung der Rating- agenturen auf den Weg bringen, sie unter Aufsicht stel- len und Sanktionen der Ratingagenturen bei Verstößen ermöglichen. Das Gesetz gibt uns nicht die abschlie- ßende Lösung der Ratingproblematik, ist aber ein guter Einstieg für weitere Maßnahmen. Es trägt dazu bei, die Finanzmärkte für uns alle ein wenig sicherer zu machen. Manfred Zöllmer (SPD): Der Fall Griechenland zeigt noch einmal sehr eindrücklich die Notwendigkeit einer Reform des Ratingagenturunwesens. Warum Unwe- sen? Dies lässt sich sehr gut an den aktuellen Ereignissen rund um Griechenland erklären: In der letzten Woche, am Dienstag, war ich gerade vor Ort in Griechenland, als die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit des Landes auf Ramschniveau heruntergestuft hat. Dabei gab es keinen sachlich nachvollziehbaren Grund, warum das Griechenland-Downgrading ausgerechnet letzte Wo- che erfolgen musste – keinen! Das Rating für griechische Anleihen sank gleich um drei Stufen, obwohl es positive Einsparzahlen für den griechischen Staatshaushalt gegeben hatte, immerhin 40 Prozent im ersten Quartal. Angeblich reichten die Einsparungen nicht. Und dies mitten im Prozess der Ver- handlungen der griechischen Regierung mit Vertreten des IWF und der EZB vor Ort. Das Rating wurde noch mit negativem Ausblick versehen, das heißt, eine weitere Abstufung ist für die Ratingagentur denkbar. Das, was die Agentur für Griechenland befürchtet hatte, wurde durch das Herabstufen der Bonität dann ausgelöst. Es geht also nicht darum, wie es eine Zeitung schrieb, den Überbringer einer schlechten Nachricht zu kritisieren. Ich kritisiere, dass die schlechte Nachricht, vor der man warnen wollte, erst produziert wurde. Wer garantiert uns eigentlich, dass dies nicht im Zusammenspiel mit be- stimmten Akteuren auf den Finanzmärkten erfolgte? Wer rechtzeitig im Besitz einer solchen Nachricht ist, kann daraus sehr hohen Gewinn ziehen. Die Börsen und der Euro haben natürlich entsprechend reagiert. Wenn Ratingagenturen nur nach objektiven Kriterien vorgehen, warum sind dann die Bewertungen der Agen- turen so unterschiedlich? Bei Moody’s hat Griechenland noch eine A-Benotung. Vielleicht geht es ja bei den Ra- tingagenturen nach dem Motto eines Wirtschaftswitzes, der da lautet: „50 Prozent der Wirtschaft sind Psycholo- gie – die Fakten sollten daher nicht überbewertet wer- den.“ Schaut man sich die Arbeit der Agenturen in der Vergangenheit an, dann wird man das Gefühl nicht los, hier hat man ein Branchenmotto gefunden. Auch in den USA stehen Ratingagenturen aktuell er- neut in der Kritik, weil sie mit ihren Einschätzungen weit danebenlagen. So nahm ein Bundesgericht in New York nun eine Klage gegen die beiden Agenturen Standard & Poor’s sowie Moody’s und die deutsche Mit- telstandsbank IKB an. Die Vorwürfe der Kläger zielen gegen das Kerngeschäft der Unternehmen: die Bewer- tung von Finanzprodukten. Im konkreten Fall steht ein strukturiertes Anlageprodukt im Mittelpunkt, das 2007 von der IKB aufgelegt und von den Agenturen mit Spit- zennoten versehen wurde. Im August 2008 musste das unter dem Namen „Rheinbrücke“ vermarktete Produkt mit großem Verlust für die Anleger abgewickelt werden. Sie konnten von ihren ursprünglich investierten 1,1 Mil- liarden Dollar nur noch 55 Prozent retten. Wer so dramatisch fehlerhaft arbeitet – und dies ist nur ein Beispiel von vielen –, der darf nicht solchen Ein- fluss auf das Wirtschaftsgeschehen von Staaten haben, wie es am Beispiel Griechenlands exemplarisch deutlich wird. Dies löst doch häufig erst das Problem aus, vor dem sie warnen wollen. Es ist absolut prozyklisch. Ratingagen- turen verschärfen häufig Krisen, statt sie zu verhindern. Warum lassen wir es eigentlich zu, dass solche Dilettan- ten einen so großen Einfluss haben? Sehen wir uns einmal an, was durch den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung geändert werden soll. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die nationale Umsetzung der im September 2009 in Kraft getretenen EU-Ratingverordnung – 1060/2009/EG – vorgenom- men. Mit der EU-Verordnung wollen die Mitgliedstaaten die Ratingagenturen als wichtige Finanzmarktakteure besser überwachen und vor allem mehr Transparenz schaffen. So müssen sich in der EU tätige Ratingagentu- ren ab Juni 2010 bei der Finanzaufsicht des jeweiligen Landes registrieren lassen und ihre Geschäfte offenlegen. Um registriert zu werden, haben sie international festge- legte Anforderungen zu erfüllen. Außerdem müssen sie in mindestens einem Mitgliedstaat niedergelassen sein. Das Ausführungsgesetz sieht die Bundesanstalt für Fi- nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, als Aufsichtsbehörde in Deutschland vor, bei der sich Agenturen registrieren und ihre Geschäfte offenlegen müssen. Auch Verstöße gegen die EU-Ratingverordnung kann die BaFin künftig anhand eines Bußgeldkataloges ahnden. Für die Verwen- dung von Ratings aus Ländern außerhalb der EU schreibt die Union außerdem besondere Anforderungen vor. Um Interessenkonflikte zu vermeiden, dürfen Rating- analysten zudem nicht mehr Kunden beraten und sie gleichzeitig bewerten. Ferner verpflichtet die Verordnung Ratingagenturen zur regelmäßigen Überprüfung ihrer Ratings und Methoden. Für strukturierte Finanzinstru- mente müssen die Agenturen gesonderte und klar gekenn- zeichnete Ratingkategorien angeben. Das sind Verbesse- rungen, die dringend notwendig sind. 3966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Die Frage ist: Reicht das aus? Wenn wir uns die Er- gebnisse des Hearings einmal vor Augen führen, dann können wir feststellen: Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber auch nicht mehr. Die Bundesregierung macht eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben, nicht mehr. Wichtige Probleme bleiben damit ungelöst. Ratingagenturen werden auch künftig für ihre Urteile von den Beurteilten bezahlt. Das ist und bleibt der größte Fehler im System. Die Gefahr, dass Risiken falsch einge- schätzt werden, bleibt damit bestehen. Die vorgesehene Trennung von Rating und Beratung ist ein erster Schritt, greift aber zu kurz. Sie lässt sich zu leicht durch gesell- schaftsrechtliche Konstruktionen aushebeln. Rating- agenturen agieren wie ein Finanz-TÜV, haften aber nicht für das Ergebnis. Der – für andere Verstöße – vorgese- hene Bußgeldrahmen erfüllt das Kriterium „Peanuts“, vor dem Hintergrund von Milliarden Umsätze der großen Ratingagenturen. Auch die Frage: „Wie bekommen wir mehr Wettbe- werb in den Markt“ wird nicht angegangen. Es fehlt die Konkurrenz einer alternativen europäischen unabhängigen Agentur. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erster Schritt zur Verbesserung von Qualität, Unabhängigkeit und Transparenz. Aber er ist nicht ausreichend; das zeigt die aktuelle Entwicklung. Die systemischen Risiken der Ra- tingagenturen werden nicht angegangen. Hier sind Chan- cen vertan worden. Wir werden uns deshalb enthalten. Es scheint nach den eingangs geschilderten Ereignissen in Bezug auf Griechenland inzwischen auch der EU-Kom- mission zu dämmern, dass Verbesserungen notwendig sind. So äußerte sich der EU-Kommissar Barnier dieser Tage: Wir müssen weitergehen, um die Auswirkungen der Ratings auf das gesamte Finanz- und Wirtschaftssystem zu sehen. – Recht hat er. Überschrieben war die Meldung mit: EU zeigt sich offen für Nachjustierung bei Rating- agenturen. – Vielleicht gelingt es dann ja doch noch, die angesprochenen Schwachpunkte zu beseitigen. Björn Sänger (FDP): Die Griechenlandkrise zeigt, dass hinsichtlich Ratingagenturen dringender Hand- lungsbedarf besteht. Die Zahlungsfähigkeit Griechen- lands wurde schon über längere Zeit in Zweifel gezogen. Trotzdem erhielt die Bonität des Landes Spitzenwertun- gen durch die drei großen Ratingagenturen. Dann wurde bekannt, dass die griechische Haushaltsdefizitquote ge- schönt war, und erst nach geraumer Zeit folgte die Ab- wertung. Die fiel dann aber so drastisch aus, dass die Re- finanzierung Griechenlands auf dem Anleihemarkt fast unmöglich wurde. Die Märkte sind, wie man sieht, gera- dezu hörig, was die „reinen Meinungsäußerungen“ – wie die Agenturen nicht müde werden zu betonen – betrifft, und verlassen sich auf die Ratings und blenden andere Indikatoren weitgehend aus. Das war den Marktteilnehmern zu einem gewissen Grad auch nicht vorzuwerfen, mangelte es bisher doch an Transparenz, und Bewertungen wurden trotz mangel- hafter oder fehlender Daten vorgenommen. Zudem wa- ren Interessenkonflikte möglich, wenn eine Agentur ei- nen Kunden bewertete und eben dazu auch beriet. Durch die EU-Ratingverordnung werden diese Probleme ange- gangen. Die enthaltenen Verhaltensnormen und eine ver- stärkte Aufsicht darüber werden dazu führen, dass die Agenturen ihre Rolle auf den Finanzmärkten künftig besser wahrnehmen werden können. Die Situation bezüglich Griechenlands zeigt nun auch, dass wir hier einer europäischen Dimension der Problematik gegenüberstehen, weshalb es wichtig war, die Thematik auf europäischer Ebene anzugehen und nun national umzusetzen, womit die Bundesregierung praktisch den Zug aus Brüssel auf die Schiene gesetzt hat und der Dringlichkeit entsprechend auch keine Zeit verloren hat. Die Bundesregierung nimmt ihre Verant- wortung in der Krise wahr. Zugegebenermaßen gibt es mit dem Zugverkehr bei dem Zug aus Brüssel nun aber Schwierigkeiten, wie es Bahnreisende tagtäglich erleben – die Sache hat Macken und läuft noch nicht so richtig rund. Nun ist Deutschland aber keine Insel, und der Zugverkehr bricht an der Küste ab. Nein, der Ratingmarkt muss nicht national, sondern europäisch optimiert werden. Probleme bereiten uns weiterhin die Oligopolstruktur aus im Wesentlichen drei privatwirtschaftlich organisierten amerikanischen Unter- nehmen, die erheblichen wirtschaftlichen Einfluss ha- ben, und der Umstand, dass der Anbieter der Finanzpro- dukte die Agentur bezahlt, von der er beurteilt werden soll, was doch wieder zu Interessenkonflikten der Agen- tur führen kann. Denn wer beißt schon gerne die Hand, die einen füttert? Die Bundesregierung wird, wie Bundeskanzlerin Merkel am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung be- tonte und wie es unser Koalitionsvertrag vorsieht, natür- lich am Ball bleiben und etwa die Prüfung der Gründung einer europäischen Ratingagentur als Gegenpol zum bis- herigen Oligopol auf dem Ratingmarkt vornehmen. Natürlich ist dies ein sehr kniffliges Thema, und die EU müsste etwas schaffen und dabei Staatsnähe vermei- den, um eben glaubwürdig und dem Vorwurf der Staats- wirtschaft nicht ausgesetzt zu sein. Eine Möglichkeit wäre da eine unabhängige Stiftung für Finanzprodukte, wobei hier die Bezahlung von Ratings zu klären wäre. Doch durch die Unabhängigkeit würde sich die Stiftung Glaubwürdigkeit bewahren. Für alle so oder so Beteiligten auf dem Ratingmarkt ist auch eine Verschärfung der Haftung anzustreben. Wie bereits erwähnt, sind die Ratingbewertungen Meinungs- äußerungen; doch darf sich damit nicht einfach aus der Verantwortung für Probleme gestohlen werden, die solch ein Rating hervorrufen kann. Für eine Meinung ist man nicht haftbar, aber für die korrekte Anwendung der durch die Ratingverordnung nun offenzulegenden Me- thodik sollte man es schon sein. Weiterhin müssen, unabhängig von einem europäi- schen Gegenpol zum jetzigen amerikanischen Oligopol, insgesamt Rahmenbedingungen für mehr Wettbewerb geschaffen werden, und deshalb sind bei solchen Rege- lungen Bedürfnisse von kleineren auf dem Markt befind- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3967 (A) (C) (D)(B) lichen oder in den Markt strebenden Agenturen beson- ders im Auge zu behalten. All dies muss nun durch die Mitwirkung aller Fraktio- nen erörtert werden. Begleitet durch diese wichtige Dis- kussion wird die Bundesregierung auf ihrem Weg zur Si- cherung unserer Finanzmärkte weiter voranschreiten. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Um es gleich klarzu- machen: Wir lehnen das Gesetz ab. In der ersten Lesung hatten wir hier bereits erhebliche Zweifel und Kritik an- gebracht. In der zwischenzeitlichen Anhörung des Fi- nanzausschusses wurde unsere Kritik bestätigt, und aus unseren Zweifeln wurde Gewissheit. Ich komme gleich zu den Details. Die EU-Ratingverordnung und das Ausführungs- gesetz sind im Vergleich zum bestehenden Regelungsbe- darf glatter Hohn. Die Bundeskanzlerin wird seit dem G-20-Gipfel in Washington im November 2008 nicht müde, zu wiederholen, Staaten dürften nicht länger von Akteuren auf den Finanzmärkten erpressbar sein. Die Krise in Griechenland zeigt, dass die Bundesregierung mit diesem Ziel erbärmlich gescheitert ist, weil sie nicht einmal den beherzten Versuch unternommen hat, mit der Regulierung anzufangen. Wir reden hier von den Ratingagenturen, also den Finanzmarkt-Auguren, die in allen relevanten Finanz- krisen der vergangenen 15 Jahre falsche Einschätzungen abgegeben haben. Ich frage Sie: Wie sehr und wie oft müssen eigentlich Institutionen versagen, bevor man zu der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind? Mit dem Herunterstufen Griechenlands haben die Ra- tingagenturen massiv Öl ins Feuer gegossen und eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgesprochen, nämlich dass Griechenland an den Märkten keinen Kre- dit mehr bekommt. Aufgrund der geradezu tyrannischen Machtkonzentration der Ratingagenturen werden wir lei- der nie erfahren, ob es für Griechenland auch einen an- deren Weg gegeben hätte. Die Ratingagenturen haben Fakten geschaffen, die jetzt in Form dramatischer sozia- ler Belastungen auf den unteren und mittleren Einkom- mensgruppen in Griechenland lasten. Anschaulicher kann man die Diktatur der Finanzmärkte kaum in Au- genschein nehmen. Nun zu den Kritikpunkten am Gesetz. Die Bundes- regierung behauptet, dass das Gesetz Interessenkonflikte löst, weil die Ratingagenturen nicht länger in eigener Sa- che beraten dürften. Das ist nur sehr vordergründig rich- tig. Tatsächlich enthält das Gesetz Schlupflöcher so groß wie Scheunentore. Sobald das Beratungs- und Bewer- tungsgeschäft in zwei separate Gesellschaften innerhalb eines Ratingunternehmens aufgespalten wird, läuft das Gesetz komplett ins Leere. Das haben in der Anhörung im Übrigen auch die Sachverständigen moniert, die nicht von uns benannt worden waren. Wolfgang Gerke vom Bayerischen Finanz Zentrum hat zum Beispiel vorge- schlagen, man solle den Ratingagenturen die Beteiligung an einer Ratingberatungsgesellschaft verbieten, um die- ses Schlupfloch zu schließen. Die Reaktion der Koali- tion: Schulterzucken und Nichtstun. Auch bei der vermeintlichen Unterwerfung der Ra- tingagenturen unter eine staatliche Finanzaufsicht bleibt es letztlich bei Augenwischerei. Die konkreten jährli- chen Prüfungen werden im Auftrag der BaFin von priva- ten Wirtschaftsprüfern durchgeführt. Dabei wird sich sehr schnell dasselbe Kartell der Big Four herausbilden, nämlich KPMG, PricewaterhouseCoopers, Deloitte und Ernst & Young, die den Markt unter sich aufteilen. Und wie genau die hinschauen, wissen wir spätestens seit den Bilanzskandalen in den USA und seit den lupenreinen Prüfberichten für Banken wie die IKB, Lehman Brothers oder die HRE, die von diesen Prüfungsgesellschaften ausgestellt wurden. Der Gesetzgeber muss endlich aufhören, den Ratings der Agenturen in gesetzlichen Regeln, wie zum Beispiel im Basel-Abkommen, eine besondere Funktion und Glaubwürdigkeit zuzuweisen. Wir brauchen endlich eine öffentliche europäische Ratingagentur, die das Kartell von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch aufbricht und dem Diktat der Finanzmärkte Paroli bietet. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung ist kein großer Wurf. In einem Zwischenschritt wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit der Beaufsichtigung weniger neuer Verhaltensregeln für Ratingagenturen beauftragt, bevor die europäische Wert- papierbehörde diese Aufgabe ab 2011 übernimmt. Der gewählte Ansatz, Interessenkonflikte offenzulegen, löst die damit verbundenen Probleme nicht ausreichend, so- weit keine alternativen, möglichst unabhängigen Bewer- tungen und Informationen erhältlich sind. So sinnvoll es ist, dass Ratingagenturen keine Beratung mehr für Unternehmen, die zugleich bewertet werden, durchführen dürfen und so aussagekräftig die offenge- legten Methodiken, Modelle und Annahmen der Rating- agenturen sein mögen, kann das nicht darüber hinweg- täuschen, dass das Kernproblem bleibt. Ratingagenturen haben nach wie vor eine zu große Bedeutung am Kapi- talmarkt und wirken wie aktuell im Fall Griechenland krisenverschärfend. Wieder einmal haben die Ratingagenturen die Markt- lage nicht früh genug in ihren Bewertungen zum Aus- druck gebracht und ihre Bewertungen nicht rechtzeitig angepasst. Das plötzliche Herabsetzen einer Länder- bewertung gleich um mehrere Stufen wirkt wie ein Start- signal auf Spekulanten. Wir können gerade bei Portugal und Spanien wieder beobachten, wie die Gefahr eines Überschwappens der griechischen Schuldenkrise steigt. Ratingagenturen sind nicht die harmlosen Überbringer der Botschaft, sondern können Trends mitentwickeln. Ganz besonders problematisch war die Rolle der Rating- agenturen bei strukturierten Finanzprodukten. Dieses Muster müssen wir jetzt dringend durchbrechen. Wir meinen daher, es ist höchste Zeit für eine europäische öffentlich-rechtliche Ratingagentur, die ein Gegenge- wicht zu den drei Monopolisten am Markt bildet. Nun endlich muss die politische Aufgabe gelöst werden, die Rolle von Ratings in einem insgesamt verbesserten und umfassenderen Informationssystem auf ein positives Maß zu stutzen und mehr Vielfalt in den Markt zu bringen. 3968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Dafür sind auch Veränderungen bei der Europäischen Zentralbank und bei den bankenaufsichtlichen Regelun- gen zu beschließen. Dafür gilt es auch, die kartellähnli- che und missbrauchsanfällige Markt- und Machtstruktur der drei großen Agenturen zu brechen. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hatte sich bereits im Juni 2008 für die Gründung einer europäischen Ra- tingagentur ausgesprochen. Bisher sind ihren Worten aber keinerlei Taten oder Initiativen gefolgt. Das Ziel in Koalitionsverträgen aufzuschreiben und in Sonntagsreden im Mund zu führen, reicht eben nicht. In unserem Entschließungsantrag zeigen wir auch die Schwächen des Ausführungsgesetzes in der Umsetzung des Anlegerschutzziels und der Veröffentlichungspflichten von Sanktionen auf. Der deutsche Gesetzgeber hat die bestehende Befugnis, Sanktionen zu veröffentlichen, nicht genutzt, um ein überfälliges Transparenzregime in deutschen Gesetzen zu verankern. Auch die Zielsetzung der EU-Ratingverordnung, dem Anleger- und Verbraucher- schutz Rechnung zu tragen, wurde nicht aufgegriffen. Wir benennen weiter die seit dem Enron-Skandal im Jahr 2001 bekannten, aber unbearbeiteten strukturellen De- fizite: fehlender Wettbewerb, die ungeeignete Finanzie- rungsbasis für Bewertungen und die zu große Abhängigkeit der Banken von Ratings schon bei Standardprüfungen. Und schließlich fordern wir, verpflichtende und um- fassendere Offenlegungs- und Informationsvorschriften für relevante Kapitalmarktinformationen gesetzlich zu regeln. Dies liegt im öffentlichen Interesse und schafft die Voraussetzungen, dass Aufsicht, Anleger, Analysten und Investoren sich eine fundierte Meinung zur Güte der Ratings und den zugrundeliegenden Aktiva, Instituten und Ländern bilden können. Vor allem im Verbriefungsmarkt bleiben die Offenle- gungspraktiken in Verkaufsprospekten und Investoren- mitteilungen hinter denen auf dem Markt der Unterneh- mensschuldverschreibungen zurück. Als gemeinsamer Ansatz sollten relevante Informationen präzise gesetzlich bestimmt und obligatorisch, fortlaufend und breit offen- gelegt werden sowie von unabhängigen Dritten verifiziert werden. Im Vorfeld sind notwendige Definitionen und Ermittlungsmethoden europäisch zu vereinheitlichen. Die Finanzmärkte benötigen nicht nur eine Detailkor- rektur, sondern einen grundlegenden Wandel von Ziel- setzung, Strukturen und Akteuren. Es ist entscheidend, dass wir jetzt zu grundlegenden Veränderungen kommen. Bei den Ratingagenturen bleibt dabei noch viel zu tun. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Beschlussempfehlung und Bericht zu den An- trägen: – Mehr Chancengleichheit für Jugendliche – Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom- men anrechnen – Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Bislang hat das SGB II zwischen dem Einkommen eines Arbeit- suchenden und dem Einkommen eines Schülers aus ei- nem Ferienjob keinen Unterschied gemacht. Dies wurde in den letzten Wochen und Monaten zu Recht von allen im Bundestag vertretenen Fraktionen kritisiert und eine entsprechende Korrektur angemahnt. Da es bis zu den Sommerferien auch nicht mehr weit ist und viele Schülerinnen und Schüler schon jetzt Pläne schmieden, wie sie sich in dieser Zeit etwas Taschengeld verdienen können, freue ich mich, dass wir jetzt eine Lösung gefunden haben, die nicht nur zweckmäßig, son- dern auch unbürokratisch ist: Ab dem 1. Juni 2010 kön- nen Einkommen aus Ferientätigkeiten bis zu einer Grenze von 1 200 Euro pro Jahr gänzlich freigestellt werden. Diese neue Regelung wird auf dem Wege einer Verordnung erlassen, das heißt, wir gehen den schnellen und direkten Weg. Durch die Festsetzung eines Grenzbetrages, bis zu dem Einkommen anrechnungsfrei bleiben kann, haben wir zudem klargestellt, dass wir nach wie vor der An- sicht sind, dass Ferien vorrangig der Erholung dienen sollen. Eine komplette Freistellung – wie von den Lin- ken gefordert – ist abzulehnen; denn damit würde dem schlichten „Knetemachen“ höchste Priorität eingeräumt. Das wäre ein falsches Signal an die jungen Menschen. Auf der anderen Seite wurde aber der Freibetrag so hoch angesetzt, dass Leistungsbereitschaft und Fleiß der jungen Menschen nicht im Keim erstickt, sondern auch belohnt werden. So ermöglicht die Neuregelung bei- spielsweise den Schülerinnen und Schülern, bei einem Stundenlohn von 10 Euro 30 Stunden in der Woche zu arbeiten, und zwar in einem Zeitraum von vier Wochen. Ich denke, dass hiermit ein guter Kompromiss gefunden wurde; denn er berücksichtigt den Aspekt der Erholung wie auch den Aspekt des Leistungsanreizes in einem verantwortbaren und ausgewogenen Maße. Die Neuregelung bei den Ferienjobs kann aber nur ein kleiner Baustein zur Förderung der jungen Menschen im SGB II sein. Solange es noch immer junge Menschen gibt, die als Berufsziel „Hartz IV“ angeben, solange die Quoten derjenigen, die ohne Abschluss die Schule ver- lassen, in einigen Bundesländern noch immer im zwei- stelligen Bereich liegen, solange immer wieder Mel- dungen durch die Presse gehen, dass vorhandene Ausbildungsplätze aufgrund mangelnder Ausbildungs- reife der Bewerberinnen und Bewerber nicht besetzt werden konnten, können und dürfen wir die Hände nicht in den Schoß legen. Gefragt sind alle gesellschaftlichen Kräfte, aber natürlich in erster Linie auch die Politik. Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung jetzt einen wichtigen Schritt in dieser Richtung unter- nommen hat: Am 21. April wurde eine stärkere Förde- rung für Jugendliche im SGB II vereinbart mit dem Ziel, jedem erwerbsfähigen Jugendlichen innerhalb von sechs Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3969 (A) (C) (D)(B) Wochen einen Ausbildungsplatz oder eine qualifizierte Beschäftigung anzubieten. Paul Lehrieder (CDU/CSU): In Teilen ihrer Begrün- dung haben Linke und SPD mit ihren Anträgen recht. Mit allen Fraktionen dieses Hauses bin auch ich der Mei- nung: Eigeninitiative von Schülern darf nicht blockiert werden. Der Ferienjob ist in der Regel der erste Kontakt mit der Arbeitswelt. Im Idealfall führt er später zum ersten Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, eigene Fähigkeiten realistisch einzuschätzen, und geben Selbstbewusstsein für die Bewerbungsphase. Nicht zuletzt machen Ferien- beschäftigungen Jugendlichen Mut, deren Eltern auf Hartz IV angewiesen sind und die eigenes Erwerbsein- kommen aus ihrem familiären Umfeld nicht oder zu wenig kennen. Sie können Perspektivlosigkeit und Resignation vorbeugen helfen. Niemand kann wollen, dass die SGB-II-Gesetzgebung einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt entwickelt. Das SGB II hat sich als lernendes System bewährt – auch mit Blick auf die gegenwärtige Wirt- schaftskrise. Was gesetzlich geregelt ist, muss aber nicht sakrosankt sein. Deshalb war auch der Aspekt der Ferienjobs in die Generalüberprüfung des SGB II miteinbezogen. Im Sinne einer umfassenden Regelung ist die Bundesregie- rung längst tätig geworden – gründlicher, als Linke und SPD es hier vorschlagen. Die christlich-liberale Koalition hat jetzt ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, in das auch der Aspekt der Ferienjobs eingebunden ist. Die Koalitionsfraktionen haben entschieden, Ferienjobs bei Kindern von Hartz-IV-Empfängern bis zu 1 200 Euro künftig nicht mehr auf die Bezüge der Eltern anzurechnen. Das gilt für Jobs von längstens vier Wochen je Kalender- jahr. Diesen Betrag pauschal für das ganze Jahr anzuset- zen, war die richtige Entscheidung. Rechtzeitig vor den Sommerferien geben wir damit allen Jugendlichen das Signal: Es lohnt sich, aktiv zu werden und sich selbst etwas dazuzuverdienen. Schul- pflichtige Kinder hilfebedürftiger Eltern werden damit weitgehend anderen Schülern gleichgestellt, deren Eltern nicht hilfebedürftig sind. Mit ihrer Ferienarbeit können sie sich eigene Wünsche erfüllen. Der Führerschein oder das Moped aus eigener Tasche, das ist damit auch für Ju- gendliche aus Hartz-IV-Haushalten möglich. In der Ausschusssitzung vom 24. Februar 2010 hatten die Kollegen von den Grünen eine pragmatische Lösung in der Sache „Anrechnung von Ferienjobs“ gefordert. Liebe Kollegen von den Grünen, das brauchen Sie nicht von uns zu fordern. Pragmatisch im Sinne des Gemein- wohls sind wir immer. Vernünftigen und sinnvollen An- liegen verweigern wir uns nicht. ln der Plenardebatte am 28. Januar 2010 zum selben Thema hat mich der Kollege Markus Kurth von den Grünen direkt angesprochen. Ich zitiere: „Haben Sie nicht vor zwei Monaten den Ein- druck erweckt, eine Lösung des Problems stünde unmit- telbar bevor?“ Herr Birkwald von den Linken hatte in der- selben Sitzung von der Bundesregierung gefordert: „Legen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf vor!“ Bei uns geht Gründlichkeit vor. Die Ferienjobs sind ein Teil der großen SGB-II-Reform. Dazu hatte ich in meiner Rede vom 26. November 2009 schon ausgeführt: „Wir haben bis Mitte des Jahres eine Lösung bei den Hinzuverdienstgrenzen – nicht mehr und nicht weniger“. Nur im Kontext mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten sind die Ferienjobs zu sehen. Sie haben von uns Pragmatismus und Schnelligkeit gefordert – dann seien auch Sie pragmatisch. Springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie unserem Maß- nahmenpaket zu, wenn es im Plenum behandelt wird. Dieses Maßnahmenpaket begleitet die Ferienjobregelung der Bundesregierung und umfasst auch das Beschäfti- gungschancengesetz. Damit Ihnen die Zustimmung später leichter fällt, möchte ich es den Kollegen von der Opposi- tion kurz noch einmal vorstellen: Neben der Ferienjob- regelung, die als Rechtsverordnung erlassen wird, sieht es unter anderem vor: die Verlängerung der Sonderregelun- gen zur Erstattung der Sozialbeiträge für das Kurzarbei- tergeld um 15 Monate bis Ende März 2012, die Verlän- gerung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten für ältere Beschäftigte und Berufseinsteiger, die Fortführung der Möglichkeit für arbeitslose Existenzgründer und Auslandsbeschäftigte, sich freiwillig in der Arbeitslo- senversicherung abzusichern, die Verbesserung der Ar- beitsmarktchancen für junge Menschen, Alleinerzie- hende und ältere Arbeitsuchende sowie die Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, um stärkere Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu geben. Das neue Maßnahmenpaket ist damit ein weiteres In- strument, um der Wirtschafts- und Finanzkrise ent- schlossen entgegenzutreten. Unser Ziel ist es, aus der Krise heraus neue Brücken zu mehr Beschäftigung zu bauen und gezielt die zu unterstützen, die es auf dem Ar- beitsmarkt besonders schwerhaben. Um ihnen helfen zu können, bevorzugen wir Lösungsmechanismen, die si- cherlich wichtige Einzelaspekte wie die Ferienjobs nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachten. Katja Mast (SPD): Es ist schon erstaunlich, was un- ser Antrag zu den Ferienjobs in den vergangenen Wo- chen ins Rollen gebracht hat. Was haben Sie, Kollegin- nen und Kollegen von Schwarz-Gelb, nicht alles für Gründe vorgebracht, warum Sie unserem Antrag nicht zustimmen können! Was wollten Sie nicht alles im Zuge dieser Debatte in Kommissionen beraten! Und währenddessen? Ist wieder Monat um Monat verstrichen, und wieder wussten die Jugendlichen aus Familien, die von Arbeitslosengeld II leben, nicht, ob ihr Lohn vom Ferienjob angerechnet wird oder nicht. Auch konnten Sie keine Antwort auf die Frage vieler Jugendli- cher aus Arbeitslosengeld-II-Familien geben, ob ihr ers- ter Kontakt mit der Berufswelt weniger wert ist als die Berufserfahrung von Jugendlichen, deren Eltern nicht auf Sozialleistungen des Staates angewiesen sind. 3970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Und dann haben Sie die Jugendlichen immer wieder öffentlich verunsichert. Erst wurde in der Sendung Hart aber fair gesagt, das müsse man regeln, dann kam ein striktes Nein zu jeglicher Regelung. Anschließend prä- sentierten Sie einen Vorschlag, der vorsah, die Hinzuver- dienstgrenze im Jahr auf 2 000 Euro zu erhöhen, gleich- zeitig aber die 100 Euro Freibetrag pro Monat abzuschaffen. Im April schließlich waren die Ferienjobs plötzlich wieder Teil Ihrer Sozialstaatsdebatte, die Teil- habe verhindert und keine Perspektiven schafft. Ich sage Ihnen von Schwarz-Gelb: Das war wahrlich keine sozialpolitische Glanzleistung. Das war Abwarten und Aussitzen. Sie haben die berechtigten Anliegen der Jugendlichen nicht ernst genommen. Da kann die zu- ständige Ministerin noch so viel versprechen, was sie für junge Erwachsene ändern will. Im Detail lösen sich diese Versprechen schnell in Luft auf. Ohne die SPD- Bundestagsfraktion hätten Sie, Frau von der Leyen, sich nicht bewegt. Ohne unseren konkreten Vorschlag hätte Schwarz-Gelb keine Idee gehabt, wie durch den Ferien- job der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Jugendli- chen gleich wird. Der Entwurf für die entsprechende Verordnung zur Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II liegt jetzt vor. 1 200 Euro sind für Jugendliche bis 25 Jahre zukünftig zusätzlich anrechnungsfrei. Das ist gut und längst überfällig. Die Bundesregierung nennt als Beispiel einen vierwöchigen Ferienjob à 30 Stunden mit einem Stundenlohn von 10 Euro. Das von der Bundesre- gierung gewählte Beispiel zeigt: Schwarz-Gelb ist im- mer noch weit weg von der Realität der Jugendlichen. Wer in den Sommerferien bei einem Mittelständler, bei- spielsweise in Baden-Württemberg, mit anpackt, der ar- beitet in der Regel 40 Stunden. Der Jugendliche kommt so schnell über die Freigrenze, die jetzt in die Verord- nung geschrieben wird. Dieser bittere Beigeschmack bleibt. Unser Vorschlag, dem Sie heute zustimmen können, geht weiter. Vier Wochen Ferienjob bei angemessener Bezahlung anrechnungsfrei zu gestalten, das ist unsere Vorstellung vom fairen Umgang mit der ersten Berufs- orientierung. Heute können Sie dem zustimmen. Die Debatte um die Ferienjobs zeigt auch: Die Bun- desregierung hat keine Antwort darauf, wie sie Jugendli- chen echte Brücken in den Arbeitsmarkt bauen will, da- rauf, wie wir es schaffen, den jungen Menschen, die sich derzeit in Warteschleifen befinden, ein faires Angebot zu unterbreiten. Wir Sozialdemokraten wollen mehr als das Gefühl, gebraucht zu werden. Die Zahlen können einen nicht kaltlassen: Die Bun- desagentur für Arbeit hat 2009 alleine 12 200 Neuzu- gänge in Warteschleifen gezählt. Rund 1,5 Millionen junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben gar keinen Berufsabschluss. Wir nehmen diese Zahlen und vor allem jedes einzelne Gesicht dahinter sehr ernst. Nur so schaffen wir echte Chancen für einen Einstieg in den beruflichen Aufstieg. Nur so ist Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben möglich. Dafür brauchen wir – und das ist unser Verständnis – Rechtsansprüche statt Lippenbekenntnisse in Form neuer Eckpunkte. Die SPD fordert einen Rechtsanspruch auf Ausbildung, und zwar für alle, die innerhalb der ers- ten drei Jahre nach der Schule keinen Ausbildungsplatz finden. Die Bundesregierung sieht hier keinen Hand- lungsbedarf. Die Bundesregierung sagt nüchtern: Dies ist derzeit nicht Gegenstand politischer Planungen. – Aber wie wollen Sie denn die Ausbildungsmisere behe- ben? Es geht um unsere Zukunft, um unsere Jugend. Ein zweiter Punkt ist in diesem Zusammenhang wich- tig: Wer junge Menschen in Arbeit bringen will, der muss auch dafür sorgen, dass genügend arbeitsmarkt- politische Instrumente zur Verfügung stehen, um Ju- gendlichen eine Chance zu geben, gerade auch den Ju- gendlichen, die es ein wenig schwerer als andere haben. Immer noch sind über 40 Prozent der Ausbildungsplatz- suchenden sogenannte Altbewerber. Sie haben sich be- reits mindestens ein Jahr lang um einen Ausbildungs- platz bemüht und keinen gefunden. Viele von ihnen geben nach jahrelanger, vergeblicher Suche auf. Um diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, haben wir, unter Federführung unseres damaligen Bundesar- beitsministers Olaf Scholz, den Ausbildungsbonus ein- geführt. Dieser Bonus ist bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristet. Sie wollen ihn klammheimlich auslau- fen lassen, obwohl der Bedarf nach wie vor da ist. Ich fordere Sie, Frau von der Leyen, auf: Schaffen Sie auch hier endlich Klarheit und lassen Sie die Jugendlichen mit besonderen Problemen nicht im Regen stehen. Es ist gut, dass jeder Jugendliche unabhängig von sei- nem Elternhaus ab Sommer bessere Anreize zur Berufs- orientierung durch einen Ferienjob hat. Aber was Sie von Schwarz-Gelb am selben Tag mit Ihren Eckpunkten zu sogenannten besseren Arbeitsmarktchancen für Ju- gendliche vorgelegt haben, überzeugt nicht. Auch an dieser Stelle werden wir von der SPD-Bundestagsfrak- tion den Stein ins Rollen bringen müssen – wir wollen ein Recht auf Ausbildung statt Lippenbekenntnissen. Pascal Kober (FDP): Dass wir hier heute die An- träge der SPD und der Linken zum Thema „Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II“ beraten, ver- wundert doch ein wenig. Warum sie sie nicht von der Ta- gesordnung haben absetzen lassen, ist mir ein Rätsel. Denn das Bundeskabinett hat am 21. April dieses Jahres durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung die Unge- rechtigkeit, die wir bisher hatten, aufgehoben. Die Unge- rechtigkeit bestand darin, dass Kinder aus ALG-II-Be- darfsgemeinschaften von dem, was sie in Ferienjobs verdienen, nur einen Bruchteil behalten dürfen. Das führte dazu, dass von zwei Kindern, die die gleiche Ar- beit in den Ferien machen und dabei 1 000 Euro verdie- nen, eines 1 000 Euro behalten darf und das andere, das mit seiner Familie unverschuldet in einer Bedarfsge- meinschaft lebt, nur 260 Euro. Diesen Zustand hat die Bundesregierung nun verändert. Damit sind die Anträge von SPD und Linken gegenstandslos. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3971 (A) (C) (D)(B) Die Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales tritt am 1. Juni 2010 in Kraft und damit noch vor dem Beginn der ersten Sommerferien in Bre- men, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am 24. Juni dieses Jahres. Damit hat die christlich-liberale Koalition wieder einmal bewiesen, dass sie die Pro- bleme, die Rot-Grün im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende hinterlassen hat, entschieden anpackt und im Sinne der Menschen löst. Deshalb ist es gut, dass nach der Verordnung das Einkommen aus einer Tätigkeit von Schülerinnen und Schülern allgemein- oder berufs- bildender Schulen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und die in den Schulferien für höchstens vier Wochen je Kalenderjahr ausgeübt wird, bis zu 1 200 Euro pro Jahr anrechnungsfrei wird. Mit der neuen Regelung durch die Verordnung sehen wir ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellun- gen verwirklicht. Sie wird gerne zusammengefasst unter dem Motto „Leistung muss sich lohnen“. Dies gilt nun endlich auch für die Schülerinnen und Schüler aus Be- darfsgemeinschaften, die einer Ferientätigkeit nachge- hen. Maßgeblich sind für uns Liberale die Erfahrungen, die Jugendliche bei der Aufnahme einer solchen Tätig- keit machen können. Es geht dabei um erste Erfahrungen des Gelingens, die Entwicklung von Selbstbewusstsein und das Erlernen von Vertrauen in die eigenen Fähigkei- ten. Viel zu oft hören wir von Familien im Bezug von Arbeitslosengeld II, deren Kinder als Berufswunsch „Hartz IV“ nennen. Dies ist für uns ein alarmierendes Si- gnal, dem wir entgegentreten müssen. Dadurch, dass wir die Anrechnung der Ferienjobs jetzt gerechter gestalten, gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung. Nicht zu vergessen ist, dass der Ferienjob auch oft der erste Kontakt zur Arbeitswelt ist. Diese Er- fahrung ist nicht zu vernachlässigen. Ziel der Verordnung, die das Kabinett beschlossen hat, ist es, für junge Menschen gezielte Anreize zur Auf- nahme von Ferienjobs zu schaffen. Es werden Schülerin- nen und Schüler hilfebedürftiger Eltern denjenigen gleichgestellt, deren Eltern nicht hilfebedürftig sind: Sie können die Einnahmen aus ihrer Arbeit weitgehend für eigene Wünsche verwenden. Viele von uns kennen aus eigener Erfahrung oder aus dem familiären Umfeld, welch tolles und wichtiges Erlebnis es ist, vom ersten selbstverdienten Geld etwas zu kaufen. Dies prägt einen jungen Menschen. Es prägt sein Verhältnis zur Markt- wirtschaft, und zwar nachhaltig und positiv. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Linke, haben in der Vergangenheit Lösungen eingefor- dert. Wir hatten Ihnen gesagt, dass wir dies sorgfältig prüfen und regeln würden. Dies haben wir nun getan und das Problem gelöst. Gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, hatten in den vergangenen Jahren die Chance zur Änderung des Problems. Dies haben Sie nicht getan, obwohl Sie den Arbeitsminister gestellt ha- ben. Wir haben nun gehandelt und gezeigt, dass sich die christlich-liberale Koalition um die Belange der Men- schen kümmert. Ihre Anträge haben sich damit durch un- ser Handeln erübrigt. Deswegen lehnen wir sie ab. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Hinhalten, rausschieben und feist für sich vereinnahmen – das ist die Gangart der schwarz-gelben Bundesregierung, der sich die SPD angeschlossen hat. Aber wir wollen nicht nachtragend sein: Halten Sie ihr Fähnchen ruhig in den Wind – wir sorgen für den Sturm! Links wirkt! Allein der Beharrlichkeit seitens der Lin- ken ist es zu verdanken, dass die Hartz-IV-Parteien nun reagieren und endlich das Ferienjobärgernis anpacken. Das hat viel zu lang gedauert! Im August 2008 haben wir von der Großen Koalition aus SPD und den Unionsparteien im Rahmen einer Klei- nen Anfrage wissen wollen, ob sie bereit wären, Ein- kommen aus Ferienjobs nicht auf Hartz IV anzurechnen. Was taten SPD und CDU/CSU? Sie leugneten das Pro- blem und taten nichts. Stattdessen heuchelten Volker Kauder und Klaus Wowereit im August 2009 in der Sen- dung Hart aber fair Betroffenheit. Unseren Antrag, end- lich zu handeln und Schluss zu machen mit der Anrech- nung der Ferienjobs auf Hartz IV, lehnte die Große Koalition schlicht ab – und die FDP konnte sich gerade mal dazu durchringen, sich zu enthalten. Nach der Bun- destagswahl haben wir das Thema wieder aufgegriffen und erneut in den Bundestag getragen. Und was ist pas- siert? Die Unionsparteien und die FDP haben den Antrag abgelehnt, und die SPD hat sich nur enthalten. Das ist angesichts des Problems nichts anderes als Parteipolitik auf dem Rücken von Jugendlichen aus armen Familien, und das ist nicht akzeptabel. Jetzt endlich will die Bundesregierung auf dem Wege einer Verordnung Einkommen aus Ferienjobs teilweise freistellen. Damit hat sich der Antrag der SPD erledigt. Aber damit hat sich der Antrag der Linken noch nicht erledigt. Zwei Ziele müssen wir mit einer Ferienjobregelung für Jugendliche erreichen, deren Familien von Hartz IV betroffen sind: Wir wollen Schutz und Motivation. Wir wollen die Jugendlichen nicht entmutigen, sondern er- muntern, ihr eigenes Geld zu verdienen. Wir brauchen einen Sozialstaat, der es den Einzelnen ermöglicht, ei- gene Entscheidungen zu treffen. Denn nur wer tatsäch- lich etwas zu entscheiden hat, kann Verantwortung über- nehmen. Im System Hartz IV gibt es für die Betroffenen nichts zu entscheiden – weder für die Eltern noch für die Kinder. Hier setzen wir an. Denn wir Linken wissen – und weisen immer wieder darauf hin –, dass Motiva- tion das eine, Schutz aber gerade bei Kindern und Ju- gendlichen das andere Ziel sein muss. Deswegen ist uns sehr wichtig, nicht über das Ziel hi- nauszuschießen und die Balance zu halten. Der Jugend- schutz muss eingehalten werden; denn eine reguläre Schulbildung ist wichtiger als der schnell und früh verdiente Euro. Deswegen ist es richtig, die Verdienst- möglichkeiten von Schülerinnen und Schülern strikt nach Alter der Schülerinnen und Schüler und Dauer des Jobs zu begrenzen. Ja, wir wollen den Arbeitsmarkt 3972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) regulieren – aber selbstverständlich nur mit Sinn und Verstand. Vier Wochen im Jahr, wie es das Jugendar- beitsschutzgesetz vorsieht, reichen. Wozu also zusätzlich die Einkommenshöhe beschränken? Die Bundesregie- rung schlägt nun vor, dass Schülerinnen und Schüler innerhalb der vier Wochen maximal 1 200 Euro verdie- nen dürfen und beispielsweise bei einem Stundenlohn von 10 Euro 30 Stunden pro Woche arbeiten sollen. Diese Verdienstbegrenzung auf 1 200 Euro lehnen wir ab! Meine Damen und Herren von Union und FDP, Sie haben da etwas vollkommen falsch verstanden. Wir müssen einen Mindestlohn festlegen – da sind Ihre 10 Euro genau richtig –, aber doch keinen Durch- schnitts- oder Höchstlohn. Ich fordere Sie auf: Streichen Sie die Verdienstgrenze für jobbende Schülerinnen und Schüler, die im Hartz-IV-System stecken! Schutz und Motivation brauchen eine Arbeitszeitbegrenzung, aber keine Verdienstgrenze. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich glaube, ich habe hier ein Déjà-vu; denn wir haben doch schon im November 2009 und im Januar 2010 darüber gesprochen, dass Ferienjobs nicht mehr auf das ALG II angerechnet werden sollen. Leider ist seit dem nichts ge- schehen. Schon damals haben wir Grüne gesagt, dass es nicht sein kann, dass Jugendliche die deprimierende Er- fahrung machen, dass ihnen das erste selbstverdiente Geld wieder genommen wird. Deshalb haben wir den Anträgen von SPD und Linken im Ausschuss für Arbeit und Soziales zugestimmt, die hier Änderungen gefordert haben; denn sie sind in der Sache richtig und vernünftig. Wir haben hier keine Differenz mit diesen beiden Frak- tionen. Gegen die Anträge gestimmt haben da allerdings die Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und FDP, die sich jetzt damit brüsten, dass sie den Jugendlichen einen Freibetrag für Ferienjobs von 1 200 Euro einräumen wollen. Man muss schon sagen, dass die Lernkurve die- ser Kolleginnen und Kollegen nur sehr langsam ansteigt. Zweimal waren die Ferienjobs Thema in der Sendung Hart aber fair, und es hat diese beiden Sendungen ge- braucht, in der die Vertreter der Koalition vorgeführt worden sind, bis sie sich dazu entschieden haben, end- lich im Kabinett zum Freibetrag von 1 200 Euro zu kom- men. Eine stramme Leistung finde ich aber, dass sie es bis heute nicht geschafft haben, diese Lösung der Pro- blematik hier in den Bundestag einzubringen, sodass wir darüber abstimmen können und endlich dafür sorgen können, dass sich Jugendliche mit dem ersten selbstver- dienten Geld Wünsche erfüllen können, die sie sich sonst nicht erfüllen könnten. Ein neues Fahrrad, einen neuen Computer oder die viel zitierte Gitarre können sich Kinder von ALG-II- Empfängerinnen und -empfängern nicht leisten, weil das Geld dafür schlicht und einfach fehlt. Es reicht ja schon für Bekleidung und Schulbedarf nicht, wie im Februar sogar das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat. Ist es da nicht verständlich, dass man sich gern im Ferienjob etwas dazuverdient, um sich einen solchen Wunsch zu erfüllen? Ich finde, das ist so. Ich selbst bin auch in Fe- rienjobs an die Arbeitswelt herangeführt worden. Ich habe erste Einblicke gewonnen und gleichzeitig gelernt, dass ich mit meiner Hände Arbeit etwas erreichen kann. Ist das nicht eine Erfahrung, die alle Jugendlichen ma- chen sollten, auch die, die leider häufig nicht in der eige- nen Familie erleben dürfen, welche sozialen Kontakte die Einbindung in die Arbeitswelt schafft und welche Chancen in Arbeit liegen, die Jugendlichen, deren Eltern ALG II beziehen? Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs- fraktionen, heute haben Sie die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass Ferienjobs für Jugendliche anrechnungsfrei bleiben. Ich kann Sie nur noch einmal auffordern, diese Chance zu nutzen, denn Ihre Argumente dagegen ste- chen nicht. Kollege Kober von der FDP hat sogar gesagt, die Linke griffen ein Kernelement liberaler Gerechtig- keitsvorstellungen auf, das die FDP gerne unter dem Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck brächte. Aber zustimmen wollte Kollege Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion dann doch nicht, um keinen ge- setzgeberischen Flickenteppich zu schaffen. Da frage ich den Kollegen: Was ist denn jetzt anders an dem ins Kabi- nett eingebrachten Vorschlag? Ist der gleiche Teppich, wenn Sie ihn weben, kein Flickenteppich? Machen Sie Schluss mit dieser Herumdrückerei und nutzen Sie die Chance zur Veränderung. Streichen Sie die unsinnigen Sanktionen und erhöhen Sie die Anreize für junge Men- schen, sich etwas dazuzuverdienen. Zögern Sie nicht und stärken Sie das Selbstbewusstsein des und der einzelnen jungen Menschen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Menschenrechtsschutz im Handels- abkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru verankern – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Un- abhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstützen – Klimaschutz und gerechten Handel mit Lateinamerika und der Karibik voran- bringen – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda setzen – Freihandelsabkommen EU-Kolumbien stoppen (Tagesordnungspunkt 18 a bis c) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3973 (A) (C) (D)(B) Anette Hübinger (CDU/CSU): Heute debattieren wir zum zweiten Mal über Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke anlässlich des in der nächsten Woche in Madrid zum sechsten Mal stattfin- denden EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfels. Die Staats- und Regierungschefs werden zusammentreffen, um über die großen globalen Herausforderungen wie Armutsbe- kämpfung, fortschreitenden Klimawandel und den stei- genden Energiebedarf zu diskutieren und nach gemein- samen Handlungswegen zu suchen. Die nunmehr seit zehn Jahren bestehende strategische Partnerschaft zwischen diesen beiden Regionen, die ge- meinsame Werteorientierung und unser gemeinsames Verständnis von Demokratie bilden dafür eine gute Ba- sis. Sie sind auch die Grundlage für eine künftig intensiv gelebte Partnerschaft. Die geopolitische Bedeutung Lateinamerikas und der Karibik hat in den vergangenen Jahren stark zugenom- men. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich spielen die Länder Lateinamerikas eine wachsende Rolle, was auch das Selbstbewusstsein dieser Länder gestärkt hat. Der wachsende Wohlstand ist aber für viele latein- amerikanische Staaten auch mit großen Herausforderun- gen verbunden. Insbesondere die Sicherung einer ad- äquaten Energieversorgung wird in den kommenden Jahren für diese Länder ein Schlüsselthema sein, wenn es darum geht, auch in Zukunft weiteres wirtschaftliches und soziales Wachstum zu erreichen und die Armut zu reduzieren. Daher widmet sich der diesjährige Gipfel besonders dem Themenbereich Innovation und Technologie für eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion. Denn zum einen sind Innovation und Technologie nicht nur für Europa Wachstums- und Wohlstandsvorausset- zungen, sondern ebenso für die Staaten Lateinamerikas und der Karibik, und zum anderen liegen in diesen Be- reichen die Lösungsansätze, um die Herausforderungen des Klimawandels, der Energiesicherung und der Ar- mutsbekämpfung in Einklang bringen zu können. Schon im Vorfeld des Gipfels trafen sich in der ver- gangenen Woche in Berlin führende Vertreter aus Poli- tik, Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Ein Grund für das Treffen war, die Weltklimakonferenz in Cancún vor- zubereiten und zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Ein weiterer war, sich über den Ausbau von erneuerba- ren Energien auszutauschen. Gerade im Bereich der er- neuerbaren Energien ist der technologische Entwick- lungsstand in Europa sehr weit fortgeschritten, und deutsche Technologien gehören zur Weltspitze. Dieses Potenzial wollen wir bei der künftigen Kooperation mit unseren lateinamerikanischen Partnern einbringen. Der Ausbau dieser Technologie bedeutet neue Arbeitsplätze und auch wachsenden Wohlstand. Voraussetzung dafür sind jedoch gewaltige finanzielle Investitionen. Deshalb müssen wir uns ebenso für Rahmenbedingungen stark machen, die diese – auch von privater Seite – ermögli- chen. Der Transfer von Technologie allein reicht aber nicht aus. Hinzukommen muss der Austausch und die Koope- ration im Wissenschaftsbereich und die Durchführung von gemeinsamen Forschungsprojekten. Die Bundesregierung unterstützt bereits diese Koope- ration, wie am deutsch-brasilianischen Wissenschafts- jahr 2010/2011 zu erkennen ist. – So viel in Kürze zum Gipfel in Madrid. Nun zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Alle drei Oppositionsparteien beschäftigen sich in ihren An- trägen mit den Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Ländern Peru und Kolumbien, die in Madrid be- schlossen werden sollen. Die SPD und die Grünen wol- len den Menschenrechtsschutz in den Handelsabkom- men verankert wissen. Die Achtung der Menschenrechte ebenso wie das Rechtsstaatsprinzip sind im Vertrag auf- geführt. Darüber hinaus enthält das Freihandelsabkom- men Sanktionsmöglichkeiten bei Zuwiderhandlung. Da- mit gehen in diesem Punkt beide Anträge nach Ansicht der CDU/CSU ins Leere. Die Fraktion Die Linke lehnt die Abkommen auf- grund von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und Peru gänzlich ab. Aus ideologischer Sicht geben sie einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, die mit freiem Handel nichts anzufangen weiß, den Vorzug. Auch bele- gen sie in ihrem Antrag zum wiederholten Mal ihre se- lektive Sichtweise in Bezug auf Menschenrechtsverlet- zungen, die sie zum Beispiel in Kolumbien und Honduras beklagen, aber in Kuba und Venezuela nicht anprangern. Weiter werden die altbekannten Ressenti- ments der Linken gegenüber den Vereinigten Staaten im Antrag bedient. Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke begeben sich damit in eine politische Einbahnstraße, die nicht den Bedürfnissen der Men- schen, sondern einem ideologischen Konzept folgt, das den Menschen das Paradies verspricht, aber sie der Hölle ein Stück näher bringt, wie es die Geschichte lehrt. Der Antrag der Grünen enthält neben den Forderun- gen zu den Freihandelsabkommen weitere, die sich auf Klima, Umweltschutz und multilaterale Kooperation be- ziehen, die die CDU/CSU-Fraktion in weiten Bereichen ähnlich sieht. Jedoch enthält der Antrag im Bereich Energie Forderungen im Hinblick auf Atomenergie, die wir aus zwei Gründen so nicht mittragen können. Ers- tens achten wir die Souveränität der lateinamerikani- schen Staaten, auch in ihrer Energiepolitik, und zweitens sind bereits Entscheidungen auf deutscher Seite gefallen, die über die europäische Schiene nicht korrigiert werden sollen. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Anträge der Oppo- sitionsparteien aus den genannten Gründen ab. Ich wünsche dem Gipfel in Madrid viel Erfolg. Ich er- hoffe mir, dass der vertiefte politische Dialog in eine konkrete, breit angelegte Kooperation mündet. Michael Frieser (CDU/CSU): Die Oppositionsfrak- tionen haben zum VI. Gipfeltreffen zwischen der Euro- päischen Union und den Ländern Lateinamerikas in Madrid zwei qualitativ höchst unterschiedliche Anträge zur Beratung vorgelegt. Einige Forderungen scheinen auf den ersten Blick schlüssig, doch der zweite Blick 3974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) fördert – wie so oft – auch hier die Probleme ans Tages- licht. Der Antrag der SPD zur Verankerung des Menschen- rechtsschutzes im Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru ist ausgesprochen zurückhaltend und diplomatisch formuliert. Im Gegensatz dazu ist der Antrag der Fraktion der Linken von einem globalisierungskritischen, revolutio- nären Pathos getragen. Der Antrag zielt nicht auf eine Beförderung der Menschenrechte, sondern trägt abstruse Thesen und Behauptungen über Wirtschaftsprozesse, den Weltmarkt und die Armut vor. Die Aussagen stecken voller Widersprüche und instrumentalisieren die Angst vor einem wirtschaftlichen Strukturwandel. Den Verfas- sern geht es eindeutig um Globalisierungskritik und nicht um Menschenrechte. Der Titel ist irreführend. Seine Forderungen lehnen wir ab. Dass der Antrag der SPD-Fraktion ausgewogener scheint, ist der Tatsache geschuldet, dass die Sozialde- mokraten in ihrem Antrag weder die kolumbianische Regierung noch die peruanische Regierung für Men- schenrechtsverletzungen verantwortlich machen. Wohl- weislich geschieht dies, weil es in Kolumbien nicht die Regierung ist, die die schweren Menschenrechtsverlet- zungen zu verantworten hat. Es sind die Paramilitärs und Guerillas, wie die marxistischen Organisationen FARC und Ejército de Liberación Nacional, ELN, und Nachfol- georganisationen, wie die Autodefensas Unidas de Co- lombia, AUC, die Verbrechen wie Massaker, Vertreibun- gen, Tötungen, Vergewaltigungen und Erpressung verüben. Es sind nichtstaatliche Gruppen, die für das Klima der Angst in dem Land verantwortlich sind. Dies kann man in den Länderberichten von Human Rights Watch nachlesen. Ich lege diese Berichte den Kollegen der Opposition als Lektüre ans Herz. Unter Präsident Uribe hat Kolumbien eine insgesamt positive Entwicklung im Feld der Menschenrechte gemacht. Prä- sident Uribe steht in dem von einem jahrzehntelangen bürgerkriegsähnlichen Konflikt zerrissenen Land für ein hartes Durchgreifen gegen die kolumbianischen Guerilla- organisationen. In den Berichten über die Menschen- rechtssituation in Peru kritisiert Human Rights Watch den „überzogenen“ Umgang der Polizei mit der opposi- tionellen Vertretern der indigenen Bevölkerung sowie mit Straftatverdächtigen. In einigen Provinzen stellt Hu- man Rights Watch die Einschüchterung von Journalisten fest. So müssen die Feststellungen der Antragsteller zu- mindest gegenüber Peru als alarmistisch bezeichnet wer- den. In umfangreichen Ausführungen möchte die SPD- Fraktion, dass der Bundestag die Bundesregierung zu bi- lateralen Gesprächen mit den Regierungen in Bogotá und Lima auffordert. Auf bilateraler Ebene soll die Bun- desregierung erreichen, dass in beiden Ländern der Dia- log zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren intensiviert wird mit dem Ziel, Menschenrechte zu för- dern. Dies alles ist jedoch bereits Teil des täglichen Ge- schäfts der deutschen Botschaft in Kolumbien und somit der Bundesregierung. Der Bundestag muss die christ- lich-liberale Bundesregierung nicht vordergründig kri- tisch zu einem Handeln aufrufen, welchem die deutsche Botschaft in Bogotá regelmäßig nachgeht und welches die kolumbianische Seite zu schätzen weiß. Es lässt sich beim besten Willen aus meiner Sicht nichts wesentlich Neues im Antrag der SPD entdecken, was eine Zustimmung rechtfertigen würde. Das ist der erste Grund, weshalb wir den Antrag nicht befürworten werden. Doch diese Forderungen sind aus meiner Sicht nicht der Knackpunkt dieses Antrags. Der Knackpunkt ist die Verknüpfung von Handelspolitik und Menschenrechts- politik, welche im Übrigen in beiden Anträgen auf- taucht. Das ist eine Vorstellung von Außenpolitik, die nicht funktioniert. Es ist ein Kardinalfehler, zu denken, dass mit einer Sanktionierung von Handelskooperatio- nen eine Verbesserung der menschenrechtlichen Situa- tion innerhalb eines Landes erreicht werden könne. Wir mussten in den 1990er-Jahren schmerzlich erfahren, dass die Verkettung von Wirtschafts- und Menschenrechts- politik nicht die erwünschte politische Wirkung entfaltet. Dies zeigte ganz besonders eindrucksvoll die Praxis der gemeinsamen Politik der EU-Staaten gegenüber Staaten wie China, Russland, Iran und Irak. Bekenntnisse zur Demokratie und zur Einhaltung politischer und bürgerli- cher Rechte wurden zu reinen Lippenbekenntnissen. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer hat in Bezug auf China und Russland dies schmerzlich lernen müssen und dann von einer Ver- knüpfung von Handelspolitik und Menschenrechtspoli- tik abgesehen. Auch die US-Administrationen haben diese Tatsache nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erst lernen müssen und verzichten heute darauf. Populistische Reso- lutionen aus dem Repräsentantenhaus ändern an dieser Haltung der US-Administrationen nichts; das sollte auch die Opposition im Deutschen Bundestag zur Kenntnis nehmen. Eine Aussetzung oder ein Zur-Disposition-Stel- len von Handelsabkommen bewirkt das Gegenteil des Erwünschten. Der Einfluss auf die innenpolitische Situa- tion in den Staaten nimmt ab. Die Verfasser des SPD- Antrages erkennen dieses Problem, wenn sie schreiben: „Die Regierungen von Kolumbien und Peru wehren sich grundsätzlich gegen die Verknüpfung von Handels- und Menschenrechtsfragen.“ Doch sie ziehen nicht die richti- gen Konsequenzen aus ihrer Erkenntnis. In der Frage, wie Freihandelsabkommen gerade in den schwierigsten Situationen helfen können, unter- scheidet sich die Fraktion der CDU/CSU von den Vor- stellungen der Antragsteller ganz grundsätzlich. Aus unserer Sicht haben Freihandelsabkommen eine ent- wicklungspolitische Bedeutung, da sie Entwicklungslän- dern den Zugang zu den Märkten von Industrieländern öffnen, indem Zölle, nicht-tarifäre Handelshemmnisse wie Ein- und Ausfuhrverbote sowie Kontingente abge- schafft werden. Aus diesem Grund fördert die WTO die Abschlüsse von Freihandelsabkommen und Freihandels- zonen. Aus diesem Grunde verhandelt die EU mit Staa- ten in Afrika, in der Karibik und im Pazifik über den Ab- schluss von Freihandelsabkommen. Wenn ein Land für die Schaffung von Märkten „bestraft“ oder zumindest Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3975 (A) (C) (D)(B) vom Warenaustausch abgehalten wird, dann bedeutet dies, dass sich die Situation der einfachen Arbeitnehmer und damit der Ärmsten verschärft. Ich glaube nicht, dass dies Ziel der deutschen Außen- und Menschenrechts- politik sein kann. Kurzum: Die Forderung der Fraktionen SPD und Linke, die Bundesregierung solle innerhalb der Europäi- schen Union für ein Ende der laufenden Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen zwischen Europa und Kolumbien sowie Peru eintreten, unterstützen wir nicht. Wolfgang Gunkel (SPD): Wir dürfen uns nichts vormachen: In Peru und in Kolumbien, in den beiden Ländern, mit denen die Europäische Union jetzt ein Freihandelsabkommen unterzeichnen will, werden Men- schenrechte auf eklatante Weise verletzt. Menschen wer- den von ihrem Land vertrieben, weil sie den wachsenden Großplantagen oder dem Bergbau im Weg sind. Gewerk- schaftsaktivisten verschwinden für immer, und jeder weiß, sie sind nicht mehr am Leben. In Peru wird die politische Opposition unterdrückt. Wer unter Strafverdacht steht, muss Folter und Miss- handlungen befürchten. Journalistinnen und Journalisten werden bedroht und mundtot gemacht. Bei den Protesten indigener Bevölkerungsgruppen gegen die Landpolitik und Vertreibung im Juni 2009 haben mehr als 50 Men- schen ihr Leben verloren. In Kolumbien werden Verteidiger von Menschenrechten vehement eingeschüchtert, ihre Familien werden bedroht, oder sie werden kurzerhand von Paramilitärs erschossen. Dafür gibt es den perfiden Begriff „Extralegale Hinrich- tungen“. Ebenfalls in Kolumbien wurden junge Männer von Soldaten erschossen, dann in Guerillero-Uniform ge- kleidet und als gefallene Terroristen deklariert. 2 000 Fälle dieser „Falsos Positivos“ – falsche Gefallene – sind bis- lang bekannt. Mütter und Anwälte der Ermordeten sind ihres Lebens nicht sicher, wenn sie um Aufklärung der Morde kämpfen. Eine ordentliche Ermittlung und Straf- verfolgung findet nicht statt. Ich war mehrmals in Kolumbien, ich habe mir jenseits der offiziellen Besucherrouten – unterstützt von Menschen- rechtsaktivisten, dem katholischen Hilfswerk Misereor und anderen Hilfsorganisationen – die Situation vor Ort angesehen. Ich kann bestätigen, was die UN-Hochkom- missarin für Menschenrechte in ihrem Bericht zu Kolum- bien festgestellt hat. Sie kritisiert die fehlende unabhän- gige Kontrolle der dortigen Geheimdienste in deren Zusammenarbeit mit dem Militär. Sie beklagt die Gefahren für Menschenrechtsverteidiger und die außergerichtli- chen Hinrichtungen. Es gibt kein Opfergesetz für Opfer von sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Gewalt, das internationalen Grundstandards standhält. Angesichts dieser katastrophalen Menschenrechtslage muss es für die Opfer wie Hohn klingen, wenn die FDP behauptet, dass seitens der kolumbianischen Regierung glaubhaft erklärt worden sei, dass es zwar noch immer Menschenrechtsverletzungen gebe, aber das Land in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte in der Aufarbeitung dieser Vorgänge gemacht habe. Das ist eher nicht der Fall. Genau deshalb bietet sich mit dem Handelsabkom- men im Interesse der Menschenrechte, im Interesse der Verfolgten und Opfer die Möglichkeit, auf die Regierun- gen Druck auszuüben, mit ihren Aussagen auch wirklich ernst zu machen; ernst zu machen mit der Einhaltung fundamentaler Menschenrechte und ernst zu machen mit der Aufarbeitung der Verbrechen. Denn Kolumbien hat nicht nur ein hohes wirtschaftliches Interesse an diesem Abkommen. Ein solches Abkommen mit der Europäi- schen Union würde die kolumbianische Regierung inter- national erheblich aufwerten, ihre Politik legitimieren. Das war auch einer der wesentlichen Gründe, warum die Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens ähnliche Handelsabkommen mit Kolumbien nicht ratifiziert haben. Das sind Parlamente, die nicht unter Verdacht stehen, Handelsinteressen leichtfertig zurückzustellen. Aber mit Hinweis auf die katastrophale Menschenrechtslage in Kolumbien sind diese Parlamente bislang nicht bereit, einem solchen Abkommen zuzustimmen. Nicht zuletzt die Gewerkschaftsbewegung – allen voran die deutschen Gewerkschaften – hat eindeutig Position gegen ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien bezogen. Die Gewerkschaften fordern vor allem Sicherheit und Garantie der fundamentalen Menschenrechte ihrer Gewerk- schaftskolleginnen und -kollegen. In den letzten 15 Jah- ren sind in Kolumbien weit mehr als 2 000 Gewerk- schafter ermordet worden. Kommt das Handelsabkommen jetzt ohne klare und eindeutige Bedingungen zur Einhaltung der Menschen- rechte, ohne Ausstiegsklausel bei Nichteinhalten von Zu- sagen zustande, so ist das ein Zeichen an die Regierung in Kolumbien, dass ein „Weiter-so“ möglich ist, dass die Staaten der Europäischen Union ihr nicht ernsthaft Einhalt gebieten wollen. Und das ist ein Zeichen an die USA, an Kanada und an Norwegen, dass man für Wettbewerbs- vorteile im Welthandel anderen Prinzipien folgt. Der Ab- schluss des Freihandelsabkommens könnte Anlass für die Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens sein, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Auch die Art und Weise, wie das Handelsabkommen zustande gekommen ist, wird dem Anspruch einer trans- parenten Politik unter Beteiligung aller Akteure aus der Zivilgesellschaft nicht gerecht. Die Verhandlungen fanden mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen statt. Eine politische Debatte über Inhalte und Ziele hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben, Verbände, Gewerkschaften und Nichtregierungs-Organisationen wurden auf beiden Seiten nicht einbezogen. Der fertige Vertragstext wurde dem Europäischen Parlament – sozusagen zum Abni- cken – am 31. März dieses Jahres auf den Tisch gelegt. Das ist nicht unser Anspruch an Politik, an eine parla- mentarische Demokratie. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich glaube Sie geben uns weitgehend recht, stimmen unse- rem Antrag aber aus vorgeschobenen Gründen nicht zu. Wenn ich Ihre Argumente in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte lese, so lese ich im Grundtenor vorsichtige Zustimmung. Sie attestieren uns „Zurückhaltung“ und „Diplomatie“. Ihre Einwände sind rein formaler Natur, wenn Sie bemängeln, dass „Men- 3976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) schenrechte als Texte in Handelsabkommen nichts zu su- chen hätten“ und man die Situation in Kolumbien und Peru „nicht in einen Topf werfen“ dürfe. Ich denke, diese Einwände sind nicht schwerwiegend genug, um die große Chance verstreichen zu lassen, im Zuge der Ver- handlungen mit Peru und Kolumbien dort die Garantie grundlegender Menschenrechte voranzubringen. Wir ha- ben dabei die Unterstützung der Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens. Mit unserem Antrag kann der Deutsche Bundestag in diesem Sinne ein deutliches Zei- chen setzen und gleichzeitig die Parlamentarier im Euro- päischen Parlament ermutigen, dem Freihandelsvertrag nicht zuzustimmen. Denn wir sind nicht der Meinung der FDP, die in un- ternehmerischen Tätigkeiten eine Chance sieht, um auf eine Verbesserung der Menschenrechtsstandards hinzu- wirken. So jedenfalls begründen die Liberalen die Ableh- nung unseres Antrags. Der Markt kann nicht alles regeln, und die Durchsetzung von Menschenrechten kann ganz bestimmt nicht auf dem freien Markt verhandelt werden. Ohnehin laufen wir Gefahr, unsere Glaubwürdigkeit im grundlegenden Bekenntnis für die Einhaltung universeller Menschenrechte zu verlieren, wenn wir unsere Außenbe- ziehung in erster Linie von Wirtschaftsinteressen leiten lassen. Wir können nicht bei Menschenrechtsverletzungen in dem einen Land wegsehen und uns einreden, durch Handel dort Wandel herbeizuführen, und gleichzeitig Menschenrechtsverletzungen in dem anderen Land an- klagen, das uns politisch missliebig ist. Menschenrechte sind unteilbar und universell gültig. Sie sind nicht verhan- delbar. An diesem Leitmotiv müssen wir unsere Politik messen lassen. Harald Leibrecht (FDP): Es liegen heute Abend vier Anträge vor. Zwei davon haben wir bereits vergan- gene Sitzungswoche debattiert. Meine Kollegin Marina Schuster hat zu dem Antrag der Linken zum Thema EU- Lateinamerika-Gipfel und dem Antrag der Grünen zum Klimaschutz und Handel mit Lateinamerika die wich- tigsten Aspekte aus liberaler Sicht bereits genannt hat. Daher möchte ich hier nur noch auf die zwei anderen Anträge eingehen. Einen Satz kann ich mir zum Antrag der Linken nicht verkneifen: Obwohl ich einiges von Ihren Initiativen mittlerweile gewohnt bin, habe ich mich bei Ihrem An- trag zum EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel wirklich er- schrocken; darüber, wie undifferenziert Sie über die Lage der Menschen in Venezuela und Kuba sprechen und sie als Musterstaaten darstellen. Ich frage mich, wie Sie die Probleme der Misswirtschaft von Hugo Chávez, die politischen Gefangenen und vielfachen Menschen- rechtsverletzungen einfach beiseiteschieben können. Sie sprechen immer von Solidarität und Gerechtigkeit – doch diese Werte scheinen Sie nicht allen Menschen gleichermaßen zugestehen zu wollen. Wenn es Staaten wie Kuba, Venezuela oder China sind, die Menschen- rechtsverbrechen begehen, dann legen Sie zweierlei Maß an. Dieser politische Doppelstandard diese Doppelmoral ist unerträglich und widerspricht der Universalität der Menschenrechte. Nun zum Antrag der SPD zum Thema Menschen- rechtsschutz in Handelsabkommen der EU mit Kolum- bien und Peru. Es ist natürlich wichtig, kritische Men- schenrechtsfragen zu thematisieren. Dies geschieht sowohl für Kolumbien als auch für Peru vonseiten der Bundesregierung und der EU. Bereits in den Verhand- lungen für das Abkommen zwischen der EU und Kolum- bien bzw. Peru hat sich die Bundesregierung dafür ein- gesetzt, dass es Menschenrechtsverpflichtungen enthält. Auch im Abkommen selbst wurde Wert darauf gelegt, dass der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den geltenden Rechtsstaatsprinzipien Rechnung ge- tragen wird: In der Präambel und in Art. I ist jeweils ein ausdrücklicher Hinweis auf die Bedeutung der Men- schenrechte enthalten. Nur muss auf der anderen Seite ebenso bedacht werden, dass es in einem Handelsab- kommen vorwiegend um die Regelung der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen geht und dass diese Bezie- hungen von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt werden. Sie sprechen in Ihren Anträgen unisono von dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Staaten Latein- amerikas und der Karibik. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass es für die jeweiligen Länder wichtig ist, selbstbestimmt über ihre Außenhandelspolitik zu ent- scheiden. Deshalb ist es aber an uns Europäern, zu ak- zeptieren, dass es auf der anderen Seite auch diesen Staaten obliegt, ihre Verträge und Abkommen selbst- ständig abzuschließen. Für uns Europäer bietet das Freihandelsabkommen auf der einen Seite die Gelegenheit, wichtige Gesprächs- kanäle offenzuhalten, über die wir gegenüber Regierun- gen auch Menschenrechtsanliegen kommunizieren kön- nen. Dies muss selbstverständlich entsprechend genutzt werden, um die zu Recht kritisierte Menschenrechtslage in Kolumbien und Peru zu verbessern. Eine Nichtunter- zeichnung des Freihandelsabkommens wäre auf der an- deren Seite nicht in unserem Sinne; denn dies würde in erster Linie den Wirtschaftssektor treffen und nicht die politische Führung des Landes. Bezüglich der Menschenrechtslage in Kolumbien, die im Antrag der Linken thematisiert wird, muss ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, korri- gieren. Die Bundesregierung hat sich mit Nachdruck in den Verhandlungen für das Abkommen zwischen der EU und Kolumbien dafür eingesetzt, dass es Menschen- rechtsverpflichtungen enthält. Die EU bringt im politi- schen Dialog sowie im kürzlich eingerichteten bilatera- len Menschenrechtsdialog mit den kolumbianischen Behörden regelmäßig ihre Menschenrechtsanliegen zum Ausdruck, und auch die EU-Kommission hat in diesem Zusammenhang die kolumbianische Regierung auf ver- mehrte Anstrengungen gedrängt, um beispielsweise Ge- werkschafter und Angehörige von Opferverbänden zu schützen. Betrüblich finde ich auch, dass in jedem außenpoliti- schen Antrag Antiamerikanismus mitschwingt. Da frage ich mich tatsächlich, ob Sie überhaupt in der Lage sind, ausgewogene Entscheidungen zu treffen, oder ob Sie nicht vielmehr Informationen und Erkenntnisse ignorie- ren, um Ihrem ideologischen Kompass zu folgen. Das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3977 (A) (C) (D)(B) bringt uns in Deutschland als Teil der internationalen Gemeinschaft nicht weiter. Lassen Sie mich noch einige Worte zur Lateiname- rika-Politik sagen. Zu lange ist das Potenzial einer Zu- sammenarbeit der EU mit Lateinamerika vernachlässigt worden. Ich freue mich, dass unter dieser Bundesregie- rung das stiefmütterliche Dasein Lateinamerikas in der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik beendet wird. Mit dem neuen Lateinamerika-Konzept, das der- zeit ressortübergreifend ausgearbeitet wird, unterstreicht die Bundesregierung zudem die neue Kohärenz der deut- schen Außen- und Entwicklungspolitik. Der Abschluss der Handelsabkommen ist gerade auch für unsere latein- amerikanischen Partner wichtig. Natürlich müssen Deutschland und die EU dabei ihren Beitrag leisten und Handelspolitik auch im entwicklungspolitischen Sinne sinnvoll gestalten. Dazu gehören selbstverständlich auch die Reduktion von Zollhemmnissen und der Abbau von Agrarsubventionen. Natürlich ist dies kein einfaches Unterfangen. Die la- teinamerikanischen Staaten sind, politisch und wirt- schaftlich gesehen, sehr divers und stehen vor den unter- schiedlichsten Herausforderungen: Armutsbekämpfung, soziale Ungleichheit, der Kampf gegen Kriminalität und Drogen, Klimaschutz und, und, und. Hier müssen wir mit dem Instrument der Entwicklungszusammenarbeit mehr Möglichkeiten für nachhaltige Entwicklung schaf- fen. Jedes der lateinamerikanischen Länder muss eigen- ständige Managementprozesse entwickeln, um diese He- rausforderungen zu bewältigen – und Deutschland und die EU können und müssen dabei wichtige Partner sein. Auch gerade weil die lateinamerikanischen Staaten zwar den Willen, aber noch nicht den Weg zu einer funktio- nierenden regionalen Integration gefunden haben, kann die EU hier einen wichtigen Beitrag leisten. Heike Hänsel (DIE LINKE): Der EU-Lateiname- rika-Gipfel, der übernächste Woche in Madrid stattfin- den wird, steht unter keinem guten Stern. Die Europäi- sche Union hat es mit ihrer Arroganz der Macht geschafft, fast die gesamte lateinamerikanische Staaten- gemeinschaft gegen sich aufzubringen. Jetzt droht der Gipfel zu platzen, weil die spanische EU-Ratspräsident- schaft trotz Protest der lateinamerikanischen Regierun- gen den illegitimen honduranischen Präsidenten Porfirio Lobo nach Madrid eingeladen hat. Als in Honduras der demokratisch gewählte Präsident Manuel Zelaya aus dem Amt geputscht wurde, haben sich die lateinamerikanischen Regierungen hinter ihn und gegen den Putsch gestellt. Bis heute weigern sie sich zu Recht, den unter den Bedingungen des Putschregimes aus höchst umstrittenen Wahlen hervorgegangenen Prä- sidenten Lobo anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund stellt die Zusammenarbeit der EU mit Honduras einen skandalösen Vorgang dar und zeigt: Die EU stellt ganz offen ihre Wirtschaftsinte- ressen über die Achtung von Demokratie und Menschen- rechten. Deshalb frage ich die Bundesregierung, wie sie sich dazu verhält. Unterstützt sie die Einladung an Lobo nach Madrid? Trägt sie die Assoziierungsverhandlungen unter Einschluss von Honduras mit? Angesichts des Um- standes, dass die zuständigen Bundesministerien mittler- weile von der FDP geleitet werden, die damals den Putsch in Honduras offen unterstützt hat, ist anzuneh- men, dass die Bundesregierung diesen Kurs der EU nicht nur mit trägt, sondern aktiv befördert hat. Die Fraktion Die Linke fordert: Keine Einladung für Lobo! Der für Madrid geplante Abschluss des Assoziie- rungsabkommens der EU mit Zentralamerika muss gestoppt werden. Dasselbe gilt für das Freihandelsabkommen, das die EU in Madrid mit Kolumbien und Peru abschließen will. Der jüngste Skandal um die Aktivitäten des kolumbiani- schen Geheimdienstes DAS, der in Brüssel Menschen- rechtsorganisationen und kritische Europaabgeordnete ausspioniert hat, wirft ein grelles Schlaglicht auf die Situation in Kolumbien. Menschenrechtsverteidiger, Friedensaktivisten und Gewerkschafter sind dort ständi- gen Bedrohungen ausgesetzt, politische Morde und Ver- treibungen immer noch an der Tagesordnung. Von der Bundesregierung, die sich die Wertorientierung auf die Fahnen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik geschrie- ben hat, ist hierzu keine kritische Stellungnahme zu vernehmen. Auch hier zeigt sich: Die wirtschaftlichen Interessen gehen vor. Die Linke solidarisiert sich mit den sozialen Bewe- gungen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen in Honduras, Kolumbien und Peru, die für ihre Rechte kämpfen und die von der EU fordern: Keine Freihan- delsabkommen mit Kolumbien und Peru! Keine politi- sche Unterstützung für den kolumbianischen Präsidenten Uribe! Für ein Ende der US-militärischen Präsenz auf den Niederländischen Antillen, die eine direkte Bedro- hung für Venezuela darstellen! Wir fordern das EU-Mit- gliedsland Niederlande auf, diese Unterstützung einzu- stellen. Der UNASUR-Gipfel gestern, auf dem mehrere süda- merikanische Staaten gedroht hatten, den EU-Latein- amerika-Gipfel in Madrid zu boykottieren, zeigt: Die lateinamerikanischen Staaten sind nicht mehr bereit, die Politik der Europäischen Union einfach so hinzuneh- men. Sie haben mittlerweile starke Strukturen für eine eigenständige regionale Integration gebildet. Teile und herrsche – diese Zeiten sind für die Europäische Union in Lateinamerika vorbei. Die regionale Integration, die sich auf der Grundlage dieser neuen Solidarität in Lateinamerika vollzieht, hat den Menschen viel gebracht: den komplementären Aus- tausch von Gütern und Dienstleistungen statt Freihandel und Verdrängungswettbewerb, die solidarische Bereit- stellung von gegenseitiger Hilfe statt neoliberale Ent- wicklungskonzepte aus dem Norden, eine eigenständige Stimme auf dem internationalen Parkett statt Gängelung. Das betrifft auch die Klimapolitik. So kamen Ende April mehr als 30 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Klimagipfel der Völker nach Bolivien. In der Abschluss- erklärung wurde das kapitalistische System für den Kli- mawandel verantwortlich gemacht, das die Menschen zu reinen Konsumenten und Arbeitskräften mache und die Natur zerstöre. Gefordert wird deshalb ein weltweites 3978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Referendum über das derzeit herrschende Weltwirt- schaftssystem und ein Klimagerichtshof für klimaschäd- liches Verhalten von Staaten. Dies sind zukunftswei- sende Projekte. Ein Wort zum Antrag der Grünen. Wem zu Kuba nichts anderes einfällt, als die arrogante unilaterale Poli- tik des sogenannten gemeinsamen Standpunkts der EU zu wiederholen, die ja sogar innerhalb der EU nur noch von Hardlinern wie der Bundesregierung verteidigt wird, hat nicht allzu viel vom sozialen Aufbruch in Lateiname- rika verstanden. Da kann ich nur sagen: In Lateiname- rika wird diese Haltung auf wenig Verständnis stoßen, dort tritt Kuba als einer der wichtigsten Akteure der regionalen Integration und als bedeutender Geber im Ge- sundheits- und Bildungssektor auf. Die Linke fordert Anerkennung für diese solidarische Leistung der Kuba- nerinnen und Kubaner. In einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit Kuba steckt viel Potenzial für die Entwicklung in ganz Lateinamerika – das hat sich nach dem Erdbeben in Haiti gezeigt, wo viele internationale Helfer auf die langjährigen kubanischen Strukturen vor Ort zurückgreifen konnten. Nach mehr als 500 Jahren kapitalistischer Ausbeu- tung und 200 Jahre nach dem Beginn der politischen Unabhängigkeit brechen die Menschen in Lateinamerika auf zu einer „zweiten Unabhängigkeit“, die ihnen end- lich auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Eigenständigkeit bringen soll. Die Linke formuliert in ihrem Antrag eine solidarische Haltung zu diesem Auf- bruch. Für den 11. Mai haben wir Vertreterinnen und Vertreter linker Regierungen und sozialer Bewegungen zu einer öffentlichen Anhörung in den Bundestag einge- laden, und wir starten ein Solidaritätsschiff auf der Spree. Ich lade Sie alle sehr herzlich dazu ein. Sie kön- nen viel von Lateinamerika lernen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der Lateinamerika-Gipfel übernächste Woche in Madrid bietet die Chance für einen Neuanfang der Be- ziehungen zu den Ländern Südamerikas, einem Konti- nent im Wandel, eine gute Gelegenheit, den Dialog über Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Menschenrechte und Demokratie zu intensivieren und die Ergebnisse der Dis- kussion in die Verhandlungen einfließen zu lassen. Wichtig ist, dass der Dialog nicht hochnäsig und be- lehrend geführt wird, sondern mit Respekt gegenüber den Gesprächspartnern und auf gleicher Augenhöhe. Zu Recht fordern dies Botschafter oder andere Gesprächs- partner aus Lateinamerika immer wieder ein, wie zuletzt in der Fachkonferenz der Grünen gestern Nachmittag hier im Bundestag oder bei meinem Treffen mit Abge- ordneten in Nicaragua Mitte April oder in Kolumbien im vergangenen Jahr. Zutreffend sind ihre Hinweise auf ei- gene Leistungen, die sich sehen lassen können. Nicht wenige Völker des Kontinents haben sich von Militärmachthabern und Diktaturen befreit. Einige ha- ben in einem mühsamen Diskussionsprozess Verfassun- gen erarbeitet, die in vielen Punkten vorbildlich sind wie etwa die Sicherung der Rechte der indigenen Völker und der kulturellen Diversität der Gesellschaft in Ecuador oder Bolivien. Jetzt geht es um die Fortentwicklung und den Ausbau demokratischer Strukturen und die Intensi- vierung der wirtschaftlichen und politischen Zusammen- arbeit der Länder hin zu Gemeinschaften in Mittelame- rika, dem Andenraum oder ganz Südamerika. In diesem Dialog sind häufig unsere europäischen Erfahrungen bei der Entwicklung von der Europäischen Wirtschafts- gemeinschaft zur Europäischen Union gefragt. Armuts- bekämpfung geschieht nicht nur durch Notprogramme. Das kann wichtig sein nach Naturkatastrophen wie Erd- beben in Haiti oder Verwüstungen durch Wirbelstürme wie „Mitch“. Gerade habe ich in Posoltega in Nicaragua ein erfolgreiches Projekt besucht, bei dem 1 000 Men- schen ein Dach über dem Kopf und Staatsland zur Ei- genversorgung mit deutscher Hilfe verschafft wurden. Viel wichtiger sind faire und gerechte Handelsbezie- hungen. Mit absolutem Freihandel, wie dies der große Bruder USA und europäische Länder immer wieder ver- langen und zum Teil auch durchgesetzt hatten, haben die Völker schlechte Erfahrungen gemacht. Vor allem in der Landwirtschaft wurden eigene Ökonomien zur Selbst- versorgung und bescheidenen Export zu Tode konkur- riert. So lohnte sich der Anbau von Mais im Urland des Mais Mexiko bald nicht mehr. Subventionierte Agrar- produkte machen noch heute die lokalen Märkte kaputt, wie jetzt noch 5 000 Tonnen Milchpulver aus Europa. Den Bauern bei uns mag es gefallen, aber die Bauern in Lateinamerika müssen eigene Produktion mangels Ren- tabilität aufgeben. Anbau von Genprodukten, Palmöl und Biosprit ruinieren die Landwirtschaft zur Selbstver- sorgung und die biologische Vielfalt. Freihandelsabkommen mit einzelnen Ländern wie jetzt mit Kolumbien und Peru sind nicht der richtige Weg. Regionale Abkommen sind die sinnvolle Alterna- tive zur umfassenden WTO-Liberalisierungsagenda. Da- mit ist eine sanfte Heranführung an den Weltmarkt mög- lich. Nicht nur ökologische Landwirtschaft braucht vor allem in der Anfangszeit häufig gezielte Förderung und Schutz. Dies gilt für die Landwirtschaft insgesamt. Am ökologischen Anbau und fairen Handel haben wir als Verbraucher und die Produzenten in den Ländern Latein- amerikas ein gemeinsames Interesse. Dies muss in den Handelsabkommen zu finden sein. Die EU verlangt dagegen eine weitgehende Öffnung des Dienstleistungsmarktes, aber auch Regelungen zum staatlichen Schutz von Investitionen, die rechtliche Gleich- behandlung ausländischer Investoren und die Durchset- zung von Patenten. In diesen Forderungen spiegeln sich weitgehend die Wünsche der europäischen multinationa- len Konzerne wider. Die Landwirtschaft spielt bei den EU-Forderungen nur eine untergeordnete Rolle. Die EU-Kommission sieht hier bei Milchprodukten gute Chancen für europäische Exporteure. Dabei ist keine Rede vom Abbau oder der Streichung der Agrarsubventionen. Das ist kein fairer Handel. Stattdessen fordern wir mit vielen lateinamerikani- schen NGOs und Verbänden unter anderem einen deutli- chen Schuldenerlass sowie eine echte Garantie für die Rechte und Förderung von kleinbäuerlichen Betrieben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3979 (A) (C) (D)(B) Die Menschenrechte sind kein Luxusgut nur für reiche Länder. Gerade in meinen Gesprächen mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen in Nicaragua und Kolumbien wurde dies immer wieder betont. Ohne Men- schenrechte gibt es keine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft. Meinungs- und Pressefreiheit, die Mög- lichkeit, sich frei und ungehindert in Gewerkschaften und politischen Parteien zu organisieren, sind genauso wichtig wie die persönliche Sicherheit für Leib und Le- ben, persönliches Hab und Gut. In El Salvador und Guatemala sind tägliche Überfälle, Morde, Straflosigkeit der Täter und das Fehlen öffentlicher Sicherheit das Haupthindernis für die wirtschaftliche und gesellschaft- liche Entwicklung der Länder. Deshalb verlangen wir in unserem heutigen Antrag eine verbindliche Menschenrechtsklausel in Abkommen für die Verhandlungen auf dem EU-Lateinamerika-Kari- bik-Gipfel. Völlig unverständlich ist, wieso dieser An- trag gestern im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung abgelehnt wurde. Ohne eine solche Klausel sind die Beteuerungen der Bedeutung der Menschenrechte nicht glaubwürdig. Zu einem partner- schaftlichen Verhältnis gehört der Einsatz für die Einhal- tung der Menschenrechte. Bedrohte Menschenrechtsak- tivisten wie in Kolumbien, die vom Geheimdienst des Präsidenten überwacht und beobachtet wurden, müssen auf unsere Unterstützung bauen können. Thema auf dem Gipfel sollten durchaus auch Meldungen sein, dass die- ser Geheimdienst, DAS, das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf sowie Abgeordnete des Men- schenrechtsauschusses des EU-Parlaments ausspioniert haben soll und gegen sie gearbeitet hat. Der kolumbiani- schen Wochenzeitung La Semana zufolge unterhielt oder unterhält der kolumbianische Geheimdienst in Brüssel eine Dependance, um Informationen über Abgeordnete zu sammeln, die sich kritisch zur Politik in Kolumbien äußern, um sie gezielt zu denunzieren. Wenn das stimmt, ist das ein Skandal und widerspricht der kolumbiani- schen Selbsteinschätzung, wonach sich die Verhältnisse im Lande rechtsstaatlich entwickelt haben sollen. Klimaschutz kann nur erfolgreich sein, wenn er welt- weit unterstützt wird. Dazu ist ein völkerrechtlich ver- bindliches Kioto-Nachfolgeabkommen erforderlich. Wenn Wälder in Lateinamerika zur Lunge der Welt gehören, müssen wir auch gemeinsam dafür sorgen, dass sie wei- terlebt und atmet. Die Kosten müssen wir gemeinsam tra- gen, etwa durch Einrichtung eines Green Fund. Der Lateinamerika-Gipfel ist der richtige Ort, um diese und weitere Klimaschutzanstrengungen, wie etwa die Emissionen um 15 bis 30 Prozent zu vermindern, auf die Tagesordnung zu setzen, ebenso wie die Forderun- gen des alternativen Umweltgipfels vom 20. April 2010 in Cochabamba aufzunehmen. Die Bundesregierung hat die Möglichkeit, wenigstens einen Teil des in Kopenha- gen Versäumten nachzuholen. Der Gipfel in Madrid kann erfolgreich sein, wenn er zusammen mit Wirtschafts- und Handelsfragen Armuts- bekämpfung, Klima, Menschenrechte und Demokratie zum Thema macht und in allen Bereichen zu substanziel- len und nachhaltigen Vereinbarungen kommt. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen (Zu- satztagesordnungspunkt 5) Clemens Binninger (CDU/CSU): Die aktive Be- schäftigung mit unserer Geschichte und der Verantwor- tung, die uns daraus erwächst, ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns stellen müssen und der wir uns auch stellen. Die Bundesregierung unterstützt diese wichtige Aufgabe auf vielfältige Weise. Bekannte Einrichtungen, die der Bund fördert, sind das Deutsche Historische Museum in Berlin, das Haus der Geschichte in Bonn, das Zeitge- schichtliche Forum in Leipzig, die Topographie des Ter- rors und das jüngst ins Leben gerufene Zentrum gegen Vertreibungen. Die wichtigste Einrichtung ist jedoch das Bundesarchiv in Koblenz, das auch die historischen Ak- ten des Bundesnachrichtendienstes verwaltet. Arbeitsgrundlage des Bundesarchivs ist das Bundes- archivgesetz. Darin ist ganz klar und völlig eindeutig ge- regelt, dass die Verfassungsorgane und Behörden des Bundes alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öf- fentlichen Aufgaben einschließlich der Wahrung der Si- cherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ih- rer Länder nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv oder dem jeweils zuständigen Landesarchiv zu überge- ben haben. Als Bundesoberbehörde unterliegt selbstver- ständlich auch der Bundesnachrichtendienst den Bestim- mungen des Bundesarchivgesetzes. Das heißt ganz konkret, dass diejenigen Unterlagen, die der Bundes- nachrichtendienst zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht mehr benötigt, dem Bundesarchiv in Koblenz als Ar- chivgut übergeben werden. Dieser Verpflichtung kommt der Bundesnachrichtendienst nach. Er hat bisher rund 2 000 Akten, 300 Mikrofilme, 74 000 Fotos und 129 000 Negative abgegeben. Diese beeindruckenden Zahlen, meine Damen und Herren von der Linken, machen deutlich, dass das Bun- desarchiv in Koblenz die selbstverständliche Endstation aller regierungsbehördlichen Akten ist, selbstverständ- lich auch der Akten des Bundesnachrichtendienstes. Die Zahlen belegen außerdem – und um diese Frage geht es heute –, dass der Bundesnachrichtendienst sich keines- wegs der Aufarbeitung seiner Geschichte widersetzt, sondern sich aktiv darum bemüht. Archivgut aus dem Bundesnachrichtendienst erfährt im Bundesarchiv keine Sonderbehandlung, sondern wird wie alle anderen regie- rungsbehördlichen Akten archiviert. Das bedeutet, die Unterlagen sind Journalistinnen und Journalisten ge- nauso wie Historikerinnen und Historikern in der Regel nach Ablauf der allgemeinen gesetzlichen Schutzfristen zugänglich. Naturgemäß unterliegen bestimmte Unterlagen staat- licher Behörden strengen Geheimschutzbestimmungen. Einzelne Akten des Bundesnachrichtendienstes können beispielsweise nicht veröffentlicht werden, weil sie von befreundeten Nachrichtendiensten stammen, die eine Veröffentlichung ablehnen. In anderen Fällen ist eine 3980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Veröffentlichung nicht möglich, weil sie den Schutz von Informanten oder anderen Personen gefährden würde. Solche Akten durch Sperrerklärungen zu schützen ist sinnvoll, und ich sehe keinen vernünftigen Grund, an dieser Praxis irgendetwas zu ändern. Ich sehe dagegen die reale Gefahr, dass Informanten und befreundete Dienste uns zukünftig weit weniger Informationen zur Verfügung stellen würden, wenn wir diese Praxis ändern sollten. In Ihrem Antrag nehmen Sie konkret auf die Akten des Bundesnachrichtendienstes zum Fall Adolf Eichmann Bezug. Nachdem eine Journalistin Informa- tionen zu Adolf Eichmann im weitesten Sinne angefragt hatte, verweigerte das Bundeskanzleramt dem Bundes- nachrichtendienst die Freigabe der betreffenden Akten. Wesentliche Gründe für die Sperrerklärung waren Nach- teile für das Wohl des Bundes durch die Beeinträchti- gung auswärtiger Beziehungen, die durch die Offen- legung entstehen würden, sowie der Schutz von Infor- manten. Dagegen hatte die Journalistin geklagt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss, der am 30. April 2010 bekannt gegeben wurde, die vorgetra- genen Geheimhaltungsgründe nicht als solche infrage gestellt, aber eine stärkere konkrete Zuordnung zu den jeweiligen Aktenbeständen gefordert. Grundsätzlich hat das Gericht den Aspekt der fortdauernden Schutzwür- digkeit bestimmter personenbezogener Daten, etwa in Bezug auf Informanten, aber anerkannt. Die öffentliche Darstellung nachrichtendienstlichen Handelns findet naturgemäß im Spannungsfeld zwischen notwendigem Geheimschutz und wünschenswerter Transparenz statt. Diese Feststellung gilt selbstverständ- lich auch für die historische Darstellung. Dass der Bun- desnachrichtendienst hier nicht mauert, sondern dort, wo es möglich ist, die Öffentlichkeit über sein Handeln in- formiert, hat er in der jüngsten Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt. Zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls im vergangenen Jahr hat der Bundes- nachrichtendienst dem Bundesarchiv beispielsweise durch eine Schutzfristverkürzung ermöglicht, Erkennt- nisse aus den Wendejahren schon heute der Öffentlich- keit zugänglich zu machen. Konsequent wurden auch Akten zur Tätigkeit ehemaliger Angehöriger des Reichs- sicherheitshauptamts, der Gestapo, des Sicherheitsdiens- tes und der Geheimen Feldpolizei für den Bundesnach- richtendienst zugänglich gemacht. Sie liegen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Auf- klärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigs- burg vor, die eng mit dem Bundesarchiv zusammenar- beitet. Dies zeigt, dass keine Rede davon sein kann, der Bundesnachrichtendienst oder das Bundeskanzleramt behinderten die historische Forschung oder die Aufar- beitung der Vergangenheit. Genau das Gegenteil ist der Fall: Zur Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt der Bundesnachrichtendienst alleine in diesem Jahr über fi- nanzielle Mittel in Höhe von rund 500 000 Euro. Spekulationen, wie sie die Linke jetzt mit ihrem An- trag betreibt, der Bundesnachrichtendienst habe die Er- greifung nationalsozialistischer Verbrecher vereitelt, schaden dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und entbehren überdies jeglicher Grundlage. Der Deut- sche Bundestag hat mit dem Parlamentarischen Kon- trollgremium eine Einrichtung, in der Vertreter aller Fraktionen, auch der Linken, über die Arbeit der Nach- richtendienste informiert werden. Sollte es vonseiten der Linken Informationsbedarf geben, schlage ich vor, dies im Parlamentarischen Kontrollgremium auf die Tages- ordnung zu setzen, anstatt in wilde Spekulationen zu verfallen. Der Antrag der Linken ist daher abzulehnen. Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Licht ins Dunkel der Vergangenheit unseres Auslandsnachrichten- dienstes zu bringen, muss ein gemeinsames Bemühen der Regierung wie des gesamten Parlaments sein. Denn nur dann, wenn auch endlich bei den Sicherheitsbehör- den offen darüber berichtet und geredet werden kann, wie insbesondere in der Gründungszeit während der Adenauer-Ära Altnazis wieder Platz gefunden haben, werden wir Lehren für die Zukunft ziehen können. Wer die unschöne Anfangsgeschichte vertuschen will, der verhindert Vertrauen, schürt Misstrauen und Zweifel, gibt Raum für Spekulationen und Unterstellungen. Wer sie aber aufarbeitet, der schafft Vertrauen und ist sicher- lich alles andere als ein Nestbeschmutzer. Vorbildlich und mutig hat BKA-Präsident Ziercke be- reits die hässlichen Seiten der Geschichte seiner Behörde wissenschaftlich analysieren lassen. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, treibt seiner- seits die Aufarbeitung der Geschichte des BND voran. So ist es auch sein Verdienst, dass das Bundeskanzleramt 500 000 Euro in 2010 dafür bereitgestellt hat. Im März dieses Jahres wurden erstmals geheime Akten zum Thema freigegeben. Wer also seriös nach Transparenz fragt, muss auch dies in Rechnung stellen und darf nicht in boshafter Weise Verweigerung unterstellen. Übrigens: Zur ganzen Wahrheit gehört die Erinnerung daran, dass nicht nur westliche Dienste – vielleicht da und dort unvermeidlicherweise – auf ehemalige Nach- richtenoffiziere des Hitlerreiches zurückgriffen, sondern auch der KGB war munter unterwegs, um sie anzuwerben. Nun ist das mit geheimen Nachrichtendiensten aber so eine Sache. Sie agieren nämlich naturgemäß geheim, wie vielleicht manchen entgeht, die gerne – stets verbun- den mit dunklen Andeutungen und üblen Unterstellun- gen – völlige Offenheit und Transparenz dort fordern. Sie werden kaum ein Land auf der Erde finden, das seine Nachrichtendienste so umfassend und tiefgehend parlamentarisch kontrollieren lässt. Damit fahren wir gut. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind wir ja auch gebrannte Kinder, die verhindern wollen, dass „Schlapphüte“ ein Eigendasein führen. Mit dem Parla- mentarischen Kontrollgremium, dessen Rechte wir in der vergangenen Wahlperiode auf Initiative der damaligen Regierungsfraktionen erheblich ausgebaut haben, verfügen wir zum Beispiel über ein gutes, wenn auch nicht perfek- tes Instrument, um dies zu verhindern. Das Verfassungsgericht hat außerdem die Rechte des Deutschen Bundestages im vergangenen Jahr weiter ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3981 (A) (C) (D)(B) stärkt. Das gehört genauso zur Wahrheit wie die ständig nötige Mahnung, doch mehr Transparenz walten zu lassen. Wahr ist und bleibt aber auch: Nicht alles kann einfach so in die Öffentlichkeit gezerrt werden, wenn wir unsere Sicherheitsinteressen, die Funktionsfähigkeit unserer Dienste, die im Auftrag unseres freiheitlichen Rechts- staates ihre Pflicht tun, sowie den Austausch mit ihren Partnern nicht gefährden wollen. In diesem Spannungs- feld bewegt sich in Wahrheit die Auseinandersetzung mit der Geschichte wie der Gegenwart des BND. Anstatt also billig ideologische Feindbilder zu pflegen, dürfen wir unserem Auslands- wie unserem Inlandsge- heimdienst gelegentlich auch einmal Danke sagen für ihre Pflichterfüllung für unser Land, zum Beispiel beim Schutz unserer Soldaten im Ausland und bei der Abwehr von Angriffen islamistischer oder anderer Terroristen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Linken grei- fen nach dem jüngst erfolgten Urteil des Bundesverwal- tungsgerichtes über die BND-Akten zum Eichmann-Pro- zess ein Thema auf, das die FDP-Fraktion bereits in der letzten Wahlperiode des Bundestages aufgegriffen hat: die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Nach- richtendiensten. Wir haben dazu eine Kleine Anfrage ge- stellt, die die damalige Bundesregierung im Dezember 2007 beantwortet hat. Die FDP steht nach wie vor dazu: Die Aufarbeitung der Vergangenheit insbesondere per- soneller Kontinuität von Geheimdiensten unter dem natio- nalsozialistischen Regime und dem frühen BND bleibt ein wichtiges Anliegen. Diese Aufarbeitung ist grundsätzlich wichtig und richtig. Allerdings gehen die Vorstellungen der Linken doch zu weit. Schon die Begrifflichkeit der Linken stimmt bedenklich, denn die Formulierung „deutscher Faschismus“, mit der die Linke den DDR-Brauch fort- setzt, die historisch richtige Bezeichnung „Nationalso- zialismus“ zu vermeiden, schafft eine irreführende Nähe zum italienischen Faschismus, der zu einem verharmlo- send-relativierenden Verständnis der NS-Zeit führen könnte. Zugleich leugnet er den sozialistisch-revolutio- nären Anspruch des NS-Regimes, der konstituierend für sein Profil und seinen Erfolg bei den breiten Massen in Deutschland war und den die jüngere Forschung heraus- gearbeitet hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass die Akten des Falles Eichmann durch den BND nicht komplett gesperrt werden dürfen. „Nicht komplett sper- ren“ heißt aber auch: nicht komplett freigeben. Hier muss aus Gründen des Staatswohls und im Interesse der Funktionsfähigkeit des Dienstes sicherlich genau im Einzelfall geprüft werden, was für die Öffentlichkeit freigegeben werden kann. Allerdings haben auch wir Liberalen uns gegen die re- striktive Aktenvorlagepraxis auch des BND positioniert. Keine komplette Freigabe heißt jedoch nicht, dass wir et- was verschleiern oder vertuschen wollen. Aufarbeitung ist wichtig und mit dem gegebenen historischen Abstand auch in vielen Fällen im Hinblick auf den Persönlich- keitsschutz Betroffener problemlos geworden. Aber man- che Frage dieser historischen Aufdeckung kann und sollte auch, wenn Akten im Einzelfall aus nachvollziehbaren Gründen nicht freigegeben werden können, über das für die Dienste zuständige Gremium des Bundestages, das PKGr, erfolgen. Zusätzliche finanzielle Mittel sind hierzu nicht erforderlich. Die historischen Lehrstühle der Uni- versitäten und andere Forschungseinrichtungen werden, wenn mehr Aktenmaterial zugänglich wird, diese Mög- lichkeit auch ohne die von den Linken beantragten Sub- sidien zu nutzen wissen. Jan Korte (DIE LINKE): Am kommenden Samstag jährt sich zum 65. Mal der Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus. Damit endete auch die industrielle Ver- nichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden. Der Ho- locaust war ein Zivilisationsbruch, und er wurde arbeits- teilig, bürokratisch und mit bis ins Detail ausgefeilten Fahrplänen in die Todesfabriken durchgeführt. Und klar war auch: In diesen größten Massenmord aller Zeiten waren viele, sehr viele verwickelt, und noch mehr wuss- ten, was geschieht – spätestens seit Ende 1941. Voran- gegangen war eine beispiellose, systematische Entrech- tung von Jüdinnen und Juden, nach biologischen Kriterien, die schließlich in den Massenmord führte. Mittlerweile gibt es eine hervorragend erschlossene Quellenlage über den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Besonders das Standard- werk Raul Hilbergs hat die Einzigartigkeit des Holocaust dokumentiert. In den letzten Jahrzehnten rückte dement- sprechend der Umgang mit dem NS-Regime in der Bun- desrepublik in den Fokus der Wissenschaft und eben auch der Politik. Der heute vorliegende Antrag „Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen“ macht deutlich, dass die Politik der Wissenschaft hinterherhinkt. Die massenhafte Verstrickung von Behörden und Personen in die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre spätere Rolle in Politik und Verwaltung der Bundesrepu- blik sind in sehr vielen Teilen erforscht und belegt. Dies geschah allerdings nicht freiwillig: Jede kritische Erschließung, jede juristische Verfolgung von NS-Ver- brechen und jede öffentliche Auseinandersetzung muss- ten stets erstritten werden. Und das hatte Gründe: Der Politikwissenschaftler Professor Joachim Perels hat die 50er-Jahre beschrieben: „Die Signatur der frühen 50er- Jahre wurde aber überwiegend, wie gerade neuere For- schungen gezeigt haben, von einer Politik des Verges- sens, vor allem der Staatsverbrechen und der Abwehr ihrer Ahndung, bestimmt, die von der evangelischen und katholischen Kirche, von der Mehrheit der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung getragen wurde.“ Dementsprechend wurde fast kein NS-Richter verur- teilt, die meisten schwer NS-belasteten Beamten kehrten in die Verwaltungen zurück, und viele Gestapo-Beamte bildeten das Personal von Polizei und Ermittlungsbehör- den. Die Zahl der inhaftierten Kriegsverbrecher sank von 1950 bis 1952 von 3 400 auf 1 258 Personen, wie der Historiker Norbert Frei belegt. Schon zwei Jahre nach Gründung der BRD waren zum Beispiel 66 Prozent der führenden Beamten des Auswärtigen Amtes ehema- 3982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) lige NSDAP-Mitglieder, mehr als 25 Prozent der Abtei- lungsleiter der Ministerien ebenso. Globke und Oberlän- der waren nur die Spitze des Eisberges. Ein wesentlicher Teil der Funktionseliten des NS-Regimes, der Wehr- macht, der Justiz und der Wirtschaft nahm wichtige Schlüsselstellungen im neuen Staat ein. Die Hauptflos- kel fast aller in den Terror Verstrickten lautete: Hitler war es! Ein Schuldeingeständnis, Reue oder gar der Wille, die Verbrechen und die individuelle Verstrickung politisch und juristisch aufzudecken – leider Fehlan- zeige. Diese ausgewählten Punkte machen deutlich, wie schwer die kritische Aufarbeitung des NS-Regimes, ins- besondere was ihre Funktionseliten und deren Rolle in der Bundesrepublik angeht, gewesen ist und welche Hin- dernisse hiergegen aufgebaut wurden. Es zeigt, dass eine Auseinandersetzung, Forschung und politischer Ent- scheidungswillen notwendig sind. Nachdem beispielsweise das BKA mit der wissen- schaftlichen Aufarbeitung der Verstrickung von Mitar- beitern in das NS-System eine große Resonanz erfahren konnte, geht es im vorliegenden Antrag um die Rolle des BND und die heutige Frage: Warum mauern die Bundes- regierung und der BND bei der vollständigen Offenle- gung der Akten, in denen es um die Verstrickung von NS-Tätern bei der Gründung der Organisation Gehlen, der Vorläuferorganisation des BND geht? Heute, fast genau auf den Tag 65 Jahre nach Ende des Krieges, muss mit solch einer Behinderungspraxis end- lich Schluss sein. Es sollte in diesem Haus Einigkeit darüber herrschen, dass die rückhaltlose Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zentral für unsere Demokratie ist und dass sie in den letzten 60 Jahren viel zu zögerlich und langsam voranging. Wir sollten heute dafür plädie- ren, alle Beschränkungen der wissenschaftlichen Aufar- beitung der Geschichte des BND im Zusammenhang mit personellen Kontinuitäten zum NS-Regime und seiner Rolle in der Bundesrepublik bei der Verfolgung von NS- Tätern aufzuheben. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Inte- resse, ob und welche Rolle der BND im Fall Eichmann spielte. Es kann ja kein Zufall sein, dass der bewun- dernswerte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer seine Ermittlungsergebnisse eben nicht mit deutschen Stellen und Geheimdiensten austauschte. Bauer reiste nach Israel, um sich dort mit dem Generalstaatsanwalt Haim Cohn auszutauschen, was schließlich zu konkreten Schritten führte. Diese Umstände und die Frage, ob deut- sche Stellen und Dienste gegen eine Verfolgung Eich- manns agierten, muss endlich aufgeklärt werden. Der Bundestag ist es auch mutigen Menschen wie Fritz Bauer schuldig, alles offenzulegen, was diese Frage auf- klären kann. Offenbar hatte der BND damals Informatio- nen über Eichmann und verschwieg sie gegenüber den Justizbehörden. Die Autorin Irmtrud Wojak schreibt über Bauers Er- mittlungen gegen Eichmann: „Fritz Bauer informierte den israelischen Geheimdienst und seinen Regierungs- chef Georg August Zinn über den Aufenthaltsort Eich- manns – niemanden sonst. Fürchtete er, dass durch offi- zielle Maßnahmen Eichmann beizeiten gewarnt worden und wiederum entflohen wäre?“ – Und sie stellt fest: „Nicht zuletzt vertrat mit Werner Junkers ein ehemaliger Nationalsozialist, der schon im Auswärtigen Amt der NS-Zeit tätig gewesen war, die Deutsche Botschaft in Buenos Aires.“ Diese Fragen und Zusammenhänge müs- sen endlich offengelegt werden. All diese Fragen müssen beantwortet werden. Wir sollten gerade auch den vielen jungen Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, die Geschichte weiter aufzuarbeiten. Daher wird die Bun- desregierung in dem heute eingebrachten Antrag aufge- fordert – dies sind die Kernforderungen –, erstens den freien Zugang zu BND-Akten, die im Zusammenhang mit personellen Kontinuitäten zum NS-Regime stehen, zu gewährleisten und zweitens alle Akten im Zusam- menhang mit der juristischen Verfolgung von NS-Ver- brechen und besonders mit dem Fall Eichmann der Wis- senschaft und Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Bundesregierung sollte ein Interesse an einer wei- teren kritischen Aufarbeitung dieses Kapitels der Ge- schichte haben. Der vorliegende Antrag ist ein weiterer Schritt für eine kritische Auseinandersetzung beim Um- gang mit der NS-Vergangenheit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zugleich kann er die Mög- lichkeit bieten, zu diskutieren, wie mit der NS-Zeit in der Bundesrepublik umgegangen wurde und wird. Und er ist als Aufforderung zu verstehen, alle noch nicht unter- suchten Verstrickungen und verdrängten Zusammen- hänge in staatlichen Stellen und der Wirtschaft aufzude- cken. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wird Sie nicht überraschen: Der Antrag, die BND- Akten zur NS-Vergangenheit zu öffnen, findet unsere volle Unterstützung. Wir haben dafür mindestens zwei gute Gründe. Grund Nummer eins: Die zeitgeschichtliche Forschung braucht die Eichmann-Akten. Dazu ist schon viel Richtiges gesagt worden. Eichmann wurde in Argen- tinien sehr wahrscheinlich gedeckt, und wie wir alle wis- sen, gab es viele Eichmänner in Deutschland und etliche, die ihnen nach dem Krieg geholfen haben, möglicher- weise auch im BND. Das muss breit erforscht werden. Es geht also um die Rolle des BND, es geht um seine NS-vorbelasteten Mitarbeiter aus der Organisation Gehlen. Aber es geht gerade nicht um den Quellenschutz oder die Zusammenarbeit mit anderen Diensten. Wir sprechen hier über zeitgeschichtliche Vorgänge, über die wir drin- gend mehr wissen müssen. Jetzt könnten sie als Bundesregierung und vor allem könnte das Kanzleramt ein Zeichen setzen. Sie könnten die historische Aufarbeitung selbst in die Hand nehmen, die dazu notwendigen Mittel bereitstellen und unabhängige Historiker mit der Auswertung beauftragen – Joschka Fischer hat das im Auswärtigen Amt getan. Aber sie ver- weigern sich dem, und sie sperren sogar die Akten für die wissenschaftliche Forschung. Es ist ein Unding, dass eine Bürgerin erst zum obersten deutschen Verwaltungsgericht gehen muss, damit Informationen von öffentlichem In- teresse über Vorgänge im BND aus den 50er- und 60er- Jahren auch wirklich an die Öffentlichkeit gelangen. Mein Kollege Christian Ströbele fragte die Bundesregie- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3983 (A) (C) (D)(B) rung, warum sie das tut. Sie hat geantwortet, dass sie das Interesse der Öffentlichkeit mit sicherheitspolitischen Belangen – ich zitiere wörtlich – „sorgfältig abwägen würde“. Was ist denn das für eine Abwägung, wenn sie am Ende immer Nein sagen? Das ist allenfalls ein sorg- fältiges Mauern. Das Schlimmste ist aber, dass das Boykottieren und der falsch verstandene Schutz der Geheimdienste bei Ihnen schon System hat. Und das ist der zweite Grund, warum wir dem Antrag zustimmen werden. Sie haben bei den Eichmann-Akten vor dem Bundesverwaltungsgericht verloren, weil sie Geheimdienstbelange pauschal höher als Auskunftsrechte bewerten. Die Begründung, die das Gericht gegeben hat, sollte ihnen verdächtig bekannt vorkommen. So wichtig sind die Informationen nicht, sagt das Bundesverwaltungsgericht, und wenn es schützens- werte Belange in Einzelfällen gibt, kann man deswegen noch nicht den gesamten Aktenbestand sperren. Das ist es aber, was Sie immer wieder tun. Schon in der vergange- nen Wahlperiode haben Sie eine Klage unserer Fraktion vor dem Bundesverfassungsgericht verloren. Auch da hatten Sie, wie jetzt wieder, pauschal die Wünsche der Dienste erfüllt. Damit haben Sie das Fragerecht des Par- laments verletzt. Wenn es tatsächlich echte und nicht nur behauptete Geheimhaltungsbedürfnisse geben sollte, dann gibt es immer noch die Möglichkeit, diese geforder- ten Auskünfte im Parlamentarischen Kontrollgremium abzugeben. Aber bei dieser Missachtung sind wir Parla- mentarierinnen und Parlamentarier in guter Gesellschaft. Denn Sie handhaben es bei den Bürgerinnen und Bürgern genauso. Am Dienstag hat Ihnen der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit vorge- rechnet, dass die Ministerien sich allzu oft auf schützens- werte „Regierungstätigkeit“ berufen und Informationen verweigern, diese Verweigerung aber in zwei Dritteln der geprüften Fälle mindestens rechtlich zweifelhaft ist. Ich fasse zusammen: Wir müssen uns dringend mit den braunen Wurzeln des BND auseinandersetzen; das ist längst überfällig. Und die Auskunftsverweigerung ist bei Ihnen leider kein Einzelfall. Das ist bei Ihnen Methode. Welches Rechtsstaatsverständnis haben Sie eigentlich, wenn Sie Ihre eigenen Gesetze nicht anwenden? Diese Bundesregierung tut so, als stünde das Recht auf Informa- tionsfreiheit nicht im Grundgesetz. Das muss aufhören. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsregelung/ Vermeidung von Kettenduldungen) – Antrag: Für eine wirksame und stichtagsun- abhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz (Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7) Helmut Brandt (CDU/CSU): Das Thema Bleibe- recht für langjährig in Deutschland lebende ausreise- pflichtige Ausländer war in den letzten Jahren sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene immer wieder Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen und kontrovers geführten Diskussionen, insbesondere vor dem Ablauf der ursprünglichen Regelungsfrist zum 31. Dezember 2009. Auch heute ist das Thema Bleiberecht wieder Gegen- stand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Zugrunde liegt dieser Debatte zum einen ein Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, mit dem das Aufenthaltsgesetz in ei- nigen Punkten geändert werden soll, und zum anderen ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit diesem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsge- setzes vorzulegen. Die Linke fordert eine Änderung des § 25 Aufent- haltsgesetz dahin gehend, Ausländern statt einer Dul- dung eine sofortige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn die Abschiebung rechtlich oder tatsächlich unmög- lich ist. Allein die zu weite Formulierung würde Miss- brauch Tür und Tor öffnen. Außerdem fordert sie die Einfügung eines neuen § 25 a Aufenthaltsgesetz – Aufenthaltserlaubnis bei län- gerfristigem Aufenthalt –, der die Gewährung eines dau- erhaften Bleiberechts für diejenigen Personen vorsehen soll, die seit fünf Jahren in Deutschland leben – für be- sonders schutzbedürftige Personen bereits früher. Eine besondere nachvollziehbare Begründung für die Fünf- jahresfrist bietet der Entwurf und seine Begründung al- lerdings nicht. Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a, 104 b Aufenthaltsgesetz soll aufgehoben werden. Stattdessen sollen gemäß einem neu einzufügenden § 25 a Aufent- haltsgesetz bereits erteilte Aufenthaltserlaubnisse ohne die Bedingungen einer eigenständigen Lebensunterhalts- sicherung als Aufenthaltserlaubnis fortgelten. Nicht zuletzt soll § 2 Abs. 3, der die Sicherung des Lebensunterhalts regelt, dahin gehend ergänzt werden, dass der Erwerbstätigenfreibetrag bei der Ermittlung des Einkommens keine Berücksichtigung finden soll. Dies würde dazu führen, dass Transferleistungen als Einkom- men gewertet werden müssten. Begründet wird der Gesetzentwurf im Wesentlichen damit, Kettenduldungen zu vermeiden. Die Ergänzung in § 2 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz wird darauf gestützt, dass nach derzeitiger Rechtslage in vielen Fällen selbst bei voller Erwerbstätigkeit die eigenständige Lebensun- terhaltssicherung nicht möglich sei. Mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorzulegen. Inhalt- lich entspricht dieser Antrag in dem Punkt Bleiberecht dem Gesetzentwurf der Linken. Weiterhin wird unter an- derem gefordert, die Kriterien für die eigenständige Si- cherung des Lebensunterhalts sowie bei den Deutsch- kenntnissen abzusenken. Zudem soll die Regelung in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsgesetz gestrichen werden, wo- nach begangene Straftaten eines in häuslicher Gemein- schaft lebenden Familienmitglieds die Versagung der Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder zur 3984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Folge hat, zusammenfassend also eine deutliche Herab- senkung der Kriterien für ein dauerndes Bleiberecht, mit der Folge, dass dieses von der Bevölkerung als unakzep- tabel empfunden werden muss. Wir stimmen mit Sicherheit darin überein, dass die aus der Bleiberechtsregelung in bestimmten Fällen resul- tierenden Kettenduldungen für die Betroffenen und auch für die Allgemeinheit einen sehr unbefriedigenden Zu- stand darstellen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass in sehr vielen Fällen die Ursache für die Kettenduldungen von den Betroffenen selbst herbeigeführt wird. Insofern sehe ich es als sehr problematisch an, dass der hier vor- liegende Gesetzentwurf sowie der Antrag die Vorausset- zungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an Ge- duldete im Vergleich zur Altfallregelung des § 104 a AufenthG in einem nicht vertretbaren Umfang herabset- zen will. In der Konsequenz führen die Forderungen zu einem bedingungslosen Daueraufenthaltsrecht. Die in diesen Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts beste- hende Ausreisepflicht der Betroffenen liefe damit ins Leere. Und die Frage, die sich mir dann aufdrängt, ist: Können wir eine solche Konsequenz als Gesetzgeber ak- zeptieren und widerspricht dies nicht auch dem Gerech- tigkeitsgefühl der Allgemeinheit? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Wenn man auch eine Lösung des Problems weiter anstreben sollte, so stellen die hier vorgelegten Forderungen keine sachge- rechte Lösung dar. Insbesondere der Verzicht auf die Vo- raussetzung der eigenständigen Lebensunterhaltssiche- rung würde eine Sogwirkung mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen für die Stabilität der sozialen Sicherungs- systeme entfalten und die kommunale Ebene mit weite- ren zusätzlichen Kosten belasten. Den aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise er- schwerten Bedingungen für die Aufnahme und Fortset- zung einer Erwerbstätigkeit trägt der jüngste IMK-Be- schluss Rechnung. Die Lebensunterhaltssicherung der Betroffenen war und ist Kern jeder Bleiberechtsregelung und muss es meiner Meinung nach auch künftig bleiben. Der Erfolg am Arbeitsmarkt als wesentliche Vorausset- zung für die wirtschaftliche Integration muss auch wei- terhin entscheidender Maßstab für die Beantwortung der Frage sein, wer dauerhaft in Deutschland bleiben darf, obwohl ein legaler Anspruch nach den einschlägigen ge- setzlichen Bestimmungen nicht besteht (kein Bleiberecht durch Aussitzen). Das bedeutet in der Konsequenz auch, den Aufenthalt derjenigen beenden zu können und zu müssen, die kei- nerlei Bemühungen um ihre Integration nachgewiesen haben. Diese Maxime ist im wohlverstandenen Interesse gerade auch jener, die sich in Deutschland legal aufhal- ten beziehungsweise sich ernsthaft um ihre Integration in Deutschland bemüht haben. Ansonsten ist nämlich der Ehrliche der Dumme. Und solch eine Ungerechtigkeit birgt meiner Meinung nach einen gesellschaftlich nicht vertretbaren Zündstoff. Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die An- forderungen an die Sprachkenntnisse herabzusetzen, lehne ich ebenfalls vehement ab. Wir alle haben in den letzten Jahre die Erfahrung gemacht, dass Sprache der Schlüssel zur Integration schlechthin ist. Es ist deshalb auch nicht im Interesse der Betroffenen selbst, die An- forderungen an deren Sprachkenntnisse noch weiter he- rabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen als Mindeststandard anzusehen. Mit der Verlängerung der Altfallregelung haben die Betroffenen eine faire Chance erhalten. Sie müssen diese aber auch nutzen und sich aktiv um die Sicherung des ei- genen Lebensunterhalts sowie den Erwerb befriedigen- der Sprachkenntnisse kümmern. Aus meiner Sicht spricht deshalb einiges dafür, zunächst den Erfolg der durch den IMK-Beschluss erfolgten Verlängerung der Altfallregelung bis Ende 2011 abzuwarten, als unmittel- bar nach der Verabschiedung dieses Beschlusses die ge- setzlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Auf- enthaltstitels an Geduldete zu erweitern. Rüdiger Veit (SPD): Wir sprechen heute erneut über ein Thema, das wir nun schon wahrlich oft behandelt ha- ben. Doch ist dies eine notwendige Wiederholung; denn nach wie vor leben in Deutschland rund 89 000 Men- schen mit einer Duldung, viele von ihnen seit vielen Jah- ren. Zwar haben wir mit den vorangegangenen Altfallre- gelungen bereits einiges erreicht. Die eben genannten Zahlen liegen weit unter den Zahlen, mit denen wir noch 2007 konfrontiert waren, als wir in der Großen Koalition die gesetzliche Altfallregelung beschlossen haben. Und dennoch, das Problem der Kettenduldungen ist längst nicht gelöst. Deshalb hat meine Fraktion bereits im vergangenen Dezember einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir langjährig hier lebenden geduldeten Menschen eine Per- spektive bieten möchten. In diesen Tagen haben nun auch die beiden anderen Oppositionsfraktionen ihre eigenen Vorschläge vorgelegt. Im Interesse der Sache und dieses wichtigen Themas kann ich dies nur begrüßen. Ich möchte deshalb hier nicht im Detail auf die Unterschiede zwischen den vorliegenden Vorschlägen eingehen. Dass wir Sozialdemokraten unseren Gesetzentwurf für den durchdachteren und weiterführenderen, für den besser zu realisierenden halten, brauche ich an dieser Stelle nicht ernsthaft zu betonen, zumal die „Reden“ heute wiederum und bedauerlicherweise lediglich zu Protokoll gegeben werden. Ich verweise daher auf meine Einbringungsrede vom 17. Dezember 2009. Der Interessierte kann also im entsprechenden Plenarprotokoll nachlesen und im Übri- gen auch unseren Entwurf eines Gesetzes zur Altfallrege- lung (Drucksache 17/207 vom 15. Dezember 2009) mit dem heute eingereichten vergleichen. Ich möchte vielmehr eine Gemeinsamkeit herausstel- len: Die Regierungskoalition irrt, wenn sie meint, dass die von den Innenministern der Länder beschlossene Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe aus dem vergangenen Dezember das Problem insoweit löst, als wir es bis Ende Dezember 2011 liegen lassen können. Das können wir aus mehreren Gründen nicht. Zum einen ist auch diese Verlängerung eine Stichtagsregelung. Wir sind aber davon überzeugt, dass es einer nicht stichtags- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3985 (A) (C) (D)(B) bezogenen, einer sogenannten rollierenden Regelung be- darf: Unabhängig von einem fixierten Datum müssen Menschen nach mehreren Jahren, in denen sie hier Wur- zeln geschlagen, Kinder bekommen und sich in die hie- sige Gesellschaft integriert haben, die Chance auf eine Perspektive in Deutschland bekommen. Zum anderen haben wir im vergangenen Herbst mit ansehen müssen, dass die Koalition sich aus ihrer Verantwortung als Ge- setzgeber gestohlen hat. Sie hat die Betroffenen bis zum letzten Moment zittern lassen, bis die Innenministerkon- ferenz – vor allem auf Betreiben der SPD-regierten Län- der, deren Verantwortlichen ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich dafür danken möchte – einer Ver- längerung der Fristen zugestimmt hat. Die SPD-Bundes- tagsfraktion hatte sich zuvor vergeblich bemüht, die Union zu Zeiten der Großen Koalition davon zu über- zeugen, diese notwendige Verlängerung im Deutschen Bundestag zu verabschieden. Vielleicht gelingt es ja diesmal – ich gebe die Hoff- nung jedenfalls nicht auf –, mithilfe von externem Sach- verstand in einer öffentlichen Anhörung die augenblick- lich regierende Koalition endlich von der tatsächlichen Notwendigkeit schnellen gesetzgeberischen Handelns in Fragen des Bleiberechts zu überzeugen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Innenminis- terkonferenz hat Ende letzten Jahres die Bleiberechtsre- gelung um zwei Jahre verlängert. Die FDP hat das nach- drücklich begrüßt. Die Vereinbarung der Innenminis- terkonferenz und auch die progressiven Äußerungen vor und während der Innenministerkonferenz sind eine gute Basis. Das gibt uns Zeit, eine dauerhafte Regelung zu finden, die das Problem der Kettenduldungen nachhaltig löst. Darüber hinausgehende Vorschläge sind derzeit Ak- tivismus. Die Sachlage bleibt unverändert: Wenn bei lange ge- duldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rech- nung getragen werden. Die Kettenduldungen müssen einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden; wir brau- chen für alle, insbesondere auch für die bisher „Gedulde- ten“, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleibe- rechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerin- nen und Bürgern findet. In den Vorlagen wird zwar tapfer das erstgenannte Problem thematisiert, aber keine Lösung für das zweite aufgezeigt. Tatsächliche Integration in Deutschland muss das zentrale Kriterium sein. Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei von entscheidender Bedeu- tung. Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr er- weist Die Linke damit den Bemühungen um Ausländer- integration einen Bärendienst. Wer einem schrankenlo- sen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ableh- nung von Zuwanderern in der Bevölkerung. Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigen- ständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sehr wohl ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das dient der Integration. Zuwanderer sind zu fördern, aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demo- kratie und der Rechtsstaat, die Grund- und Menschen- rechte sind das für alle geltende Fundament unserer Ge- sellschaft. Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial- systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. Wir Liberalen wollen dagegen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per- spektiven eröffnet. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Bundesinnenminister und die Regierungsfraktionen haben erklärt, dass sie keine Korrekturen beim Bleiberecht beabsichtigen, so- lange die IMK-Regelung von Ende 2009 gilt. In anderen Worten: Sie wollen bis zum Jahr 2012 untätig bleiben! Diese Seelenruhe können Sie von uns nicht verlan- gen. Denn weit über 100 000 Menschen müssen weiter- hin in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit leben, obwohl sie bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland sind. Immer noch werden Familien mit Kindern, aber auch alte und kranke Menschen, die faktisch längst zu Inländern geworden sind, morgens von der Polizei aus ihren Betten geholt und gewaltsam in absolutes Elend abgeschoben. Das Schicksal dieser Menschen zwingt uns als Parlament dazu, schnell eine wirksame, humani- täre Lösung zu finden – die Innenminister der Länder sind zu einer solchen Tat nicht fähig oder willens! Eine gesetzgeberische Untätigkeit bis 2012 kann schon des- halb nicht mit der aktuellen IMK-Regelung begründet werden, weil diese – wie auch die sogenannte Altfallre- gelung von 2007 – einen Stichtag enthält, der Personen vom Bleiberecht ausschließt, obwohl sich ihre Situation in nichts von der unterscheidet, für die ein Handlungsbe- darf erkannt wurde. Infolge des Stichtags 1. Juli 2007 entstehen also täglich neue Härtefälle. Trotz dreier Bleiberechtsregelungen seit 2006 hat sich an der Gesamtproblematik nichts Grundlegendes geän- dert: Die Zahl der langjährig Geduldeten liegt immer noch bei fast 60 000, und ihr Anteil an allen Geduldeten ist mit 64 Prozent so hoch wie nie. Die SPD hat im Ge- genzug für ihre Zustimmung zu erheblichen Verschär- fungen im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht in Aussicht gestellt, dass bis zu 60 000 Menschen von der 3986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) sogenannten Altfallregelung würden profitieren können. Doch wie ist die tatsächliche Bilanz? Gerade einmal 6 500 Personen konnten bis heute eine relativ sichere Aufenthaltserlaubnis aufgrund eigenen Einkommens er- langen. Weitere 5 000 erhielten einen Aufenthalt, weil ihr Lebensunterhalt zumindest überwiegend ohne staatliche Unterstützung gesichert war. Vielleicht 12 000 – statt der versprochenen 60 000 – Menschen haben also ein Blei- berecht erhalten. Das ist eine mehr als dürftige Bilanz, auch wenn dieses Ergebnis angesichts der viel zu hohen gesetzlichen Hürden absehbar war und von uns vorher- gesagt wurde. Es bedurfte deshalb auch eines erneuten IMK-Beschlusses, um zahlreichen Betroffenen eine „zweite Chance“ zu geben – nur „auf Probe“, versteht sich. Ich möchte an dieser Stelle auf eine Personengruppe aufmerksam machen, die in der bisherigen Bleiberechts- debatte noch gar keine Rolle spielte. Es geht um knapp 70 000 zur Ausreise verpflichtete Personen, die aktuell nicht einmal über eine Duldung verfügen. Drei Viertel von ihnen, knapp 53 000 Menschen, leben bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland. Auch sie sind in ihrer großen Mehrheit aufgrund des langen Aufenthalts längst „heimisch“ geworden in Deutschland. Auch ihnen wird ein Aufenthaltsrecht jedoch versagt, genauso wie den gut 56 000 Langzeit-Geduldeten. Dass sie nicht ein- mal förmlich geduldet werden, dürfte in den meisten Fällen rechtswidrig sein. Denn wenn eine Ausreisever- pflichtung nicht in absehbarer Zeit konkret durchsetzbar ist, so entschied das Bundesverwaltungsgericht bereits im Jahr 1997, muss eine schriftliche Duldung erteilt wer- den. Es ist unzulässig, diese Menschen lediglich faktisch zu dulden und sie mit dem Entzug ihrer Duldungsbe- scheinigung unter Druck zu setzen und zur „freiwilli- gen“ Ausreise zwingen zu wollen. Die Rechtswidrigkeit dieser Praxis wird offenkundig, wenn die Zahl der 70 000 zur Ausreise verpflichteten Personen ohne Dul- dung der Zahl von knapp 8 000 Abschiebungen im letz- ten Jahr gegenüber gestellt wird. Unsere Vorschläge beziehen deshalb diese zur Ausreise verpflichteten Men- schen mit ein. Die Linke legt einen Gesetzentwurf vor, mit dem die Probleme der Kettenduldung und des verweigerten Auf- enthaltsrechts – und noch ein paar weitere mehr – ein für alle Mal gelöst werden sollen, und zwar im Sinne der Betroffenen und nach humanitären Kriterien! Geändert werden muss vor allem die misslungene Regelung nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, um das Entstehen immer neuer Kettenduldungen schon im Ansatz verhin- dern zu können. Zudem bedarf es eines Rechtsanspruchs auf einen sicheren Aufenthaltstitel, wenn die Betroffe- nen nach längerem Aufenthalt faktisch längst integriert sind. Unser Gesetzentwurf enthält, darauf möchte ich hinweisen, bei Weitem noch nicht alles Notwendige, um zu einer grundlegend anderen Politik kommen zu kön- nen. Die Stichworte Residenzpflicht, Arbeitsverbote und Diskriminierungen infolge des Asylbewerberleistungs- gesetzes mögen an dieser Stelle zur Erläuterung des enormen Handlungsbedarfs genügen. Wir freuen uns, dass sich die Grünen mit ihrem aktuellen Antrag mittler- weile den Forderungen der Linken und der außerparla- mentarischen Bleiberechtsbewegung im Wesentlichen angeschlossen haben. Noch zu Beginn der letzten Wahl- periode hatten die Grünen eine Gesetzesänderung vorge- schlagen, die lediglich eine „Kann-Regelung“ darstellte und die einen Ausschlussstichtag ebenso vorsah wie die grundsätzliche Forderung nach eigenständiger Lebens- unterhaltssicherung. Auch die SPD bewegt sich inzwi- schen in eine richtige Richtung, allerdings hat ihr später Wandel in Oppositionszeiten angesichts der von mir ge- schilderten Vorgeschichte einen etwas schalen Beige- schmack. Ich hoffe, dass wir durch eine Anhörung des Innen- ausschusses zu den von der Opposition vorgelegten Vor- schlägen auch die Regierungsfraktionen aus ihrer Lethargie reißen und von der Notwendigkeit baldiger Gesetzesänderung überzeugen können. Wir brauchen eine wirksame Bleiberechtsregelung, die diesen Namen auch verdient! Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a und 104 b des Aufenthaltsgesetzes und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz durch Beschluss der Innenminister- konferenz vom Dezember 2009 sind wegen ihrer restrik- tiven Ausgestaltung nicht dazu geeignet, die weithin kri- tisierte Praxis der „Kettenduldungen“ wirksam zu beenden. Dies belegt die weiterhin anhaltend hohe Zahl langjährig in Deutschland geduldeter Personen. Beide Regelungen berücksichtigen aufgrund des zen- tralen Kriteriums der eigenständigen Lebensunterhalts- sicherung humanitäre Härtefälle nicht ausreichend; denn gerade alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeits- markt keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien werden von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen. Stichtagsregelungen führen überdies immer wieder zu neuen humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauer- hafte gleitende Bleiberechtsregelung notwendig, die auch auf zukünftige Fälle Anwendung finden kann. Deshalb fordern wir im vorliegenden Antrag die Bun- desregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vorsieht, dass einem geduldeten Ausländer oder einer ge- duldeten Ausländerin eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, wenn er oder sie sich seit mindestens fünf Jahren geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Wenn der Ausländer oder die Ausländerin zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kin- dern in häuslicher Gemeinschaft lebt, soll die Aufent- haltserlaubnis nach drei Jahren erteilt werden. Besonders schutzbedürftigen Personen, insbesondere unbegleiteten Minderjährigen, durch kriegerische Auseinandersetzun- gen in ihrer Heimat traumatisierten Personen oder Opfern von rassistischen Gewalttaten oder Menschenhandel, soll die Aufenthaltserlaubnis nach zwei Jahren erteilt werden. Weiterhin darf das Kriterium der eigenständigen Si- cherung des Lebensunterhalts keine unüberwindbare Hürde darstellen. Ernsthafte Bemühungen, den Lebens- unterhalt überwiegend zu sichern, müssen ausreichend sein. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3987 (A) (C) (D)(B) Linksfraktion, die vollständig auf das Kriterium der Le- bensunterhaltssicherung verzichten will. Wir wollen Ausnahmen von diesem Erteilungskriterium für Perso- nen, die wegen ihres Alters, einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder, weil sie mit minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben, wegen der Kinderbetreuung von ernsthaften Bemühungen zur überwiegenden Sicherung des Lebensunterhalts abgehalten waren. Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt wer- den. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwie- gende Verletzungen von Mitwirkungspflichten sollten zum Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltser- laubnis führen können. Insbesondere die Frage, ob eine Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht ein- deutig zu beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen im Her- kunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung sinnvoll und gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des Rechtsweges darf im Rechtsstaat nicht negativ sanktio- niert werden. Keinesfalls darf die in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsge- setz festgeschriebene Regelung, nach der die ganze Fa- milie von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus- Ende Dezember 2009 lebten trotz mehrerer Bleibe- rechtsregelungen erneut circa 89 500 Menschen in Deutschland in einer rechtlichen Grauzone: rechtlich ge- duldet, aber ohne legales Aufenthaltsrecht. Fast 57 000 von ihnen leben bereits länger als sechs Jahre hier. Viele dieser Personen sind Kriegsflüchtlinge, die kein Asyl er- hielten, aber nicht abgeschoben werden können. Inzwi- schen haben sich diese Menschen in der Regel in Deutschland integriert. Dies gilt erst recht für die hier geborenen und aufgewachsenen Kinder und Jugendli- chen – für sie ist Deutschland das Zuhause. Doch selbst nach jahrelangem Aufenthalt droht ihnen die Abschie- bung, häufig in ein Land, das ihnen völlig fremd ist. Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist nicht nur eine unzumutbare Härte – mit tragischen Fol- gen für den Einzelnen und seine Familie. Ein solches Vorgehen steht auch in Widerspruch zu den humanitären Grundsätzen, denen deutsche Politik verpflichtet ist, und widerspricht allen integrationspolitischen Überlegungen. Auch die circa 37 000 Personen, denen bis Ende 2009 eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe erteilt wurde, leben weiter in einem Schwebezustand. Zwar kann ihre Aufent- haltserlaubnis unter gewissen Voraussetzungen nach dem Beschluss der IMK bis Ende 2011 verlängert werden. An- gesichts der für das Jahr 2010 erwarteten weiteren nega- geschlossen ist, sobald ein mit dieser in häuslicher Gemeinschaft lebendes Familienmitglied bestimmte Straftaten begangen hat, übernommen werden. Im Übri- gen müssen bei der Festlegung von Ausschlusstatbestän- den wegen der Verurteilung nach einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat Taten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden können, außer Betracht bleiben. tiven Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt bleibt ihre aufenthaltsrechtliche Situa- tion jedoch höchst ungewiss. Das weitere Schicksal dieser Menschen, die seit Jah- ren hier in Deutschland leben, darf uns nicht kaltlassen. Ich hoffe daher, dass es in den weiteren parlamentari- schen Beratungen einen breiten Konsens für eine wirk- same, stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsre- gelung geben wird. 40. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704000000

Ich begrüße Sie alle herzlich. Die Sitzung ist eröffnet.

Nehmen Sie bitte Platz.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch ohne die FDP, Herr Präsident? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Koalition ist schon in Auflösung! Gibt es die Koalition nicht mehr?)


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
freue mich über alle, die schon da sind.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir möchten sofort abstimmen, Herr Präsident!)


Ich gebe Ihnen die beruhigende Mitteilung, dass die
Verschiebung des Beginns der Sitzung unter allen Frak-
tionen einvernehmlich vereinbart worden ist, sodass ich
jeden Augenblick auch mit der Vervollständigung um
noch fehlende, wichtige politische Gruppierungen dieses
Plenums rechne.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Einspruch, Euer Ehren!)


Rede
Wir beginnen wie immer mit einigen amtlichen Mittei-
lungen, von denen die erste die FDP-Fraktion betrifft und
deswegen von mir noch einen kleinen Augenblick zu-
rückgestellt wird. Dagegen sehe ich kein Problem, darauf
hinzuweisen, dass die CDU/CSU-Fraktion vorschlägt,
die Kollegin Rita Pawelski als neues stellvertretendes
Mitglied in den Beirat der Bundesnetzagentur zu wäh-
len. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig
der Fall. Damit ist die Kollegin Pawelski in den Beirat ge-
wählt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpu
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung
Bundeskanzlerin
zung

, den 6. Mai 2010

0.30 Uhr

zu den Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität
der Währungsunion und zu dem bevorstehen-
den Sondergipfel der Euro-Länder am 7. Mai
2010 in Brüssel

(siehe 39. Sitzung)


ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 29

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Anbau von gentechnisch veränderter Kartof-
fel Amflora verhindern
– Drucksachen 17/1028, 17/1547 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

text
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zu-
verlässig aus der Lebensmittel- und Futtermit-
telkette fernhalten
– Drucksachen 17/1410, 17/1603 –

Berichterstattung:
rdnete Dr. Max Lehmer
Drobinski-Weiß
ristel Happach-Kasan
rsten Tackmann
nktliste auf-

durch die

Abgeo
Elvira
Dr. Ch
Dr. Ki

Ulrike Höfken





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuer-
schätzung für die Steuersenkungspläne der
CDU/CSU-FDP-Koalition

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Zwangsrückführungen von Minderhei-
tenangehörigen in das Kosovo

– Drucksache 17/1569 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangen-
heit offenlegen

– Drucksache 17/1556 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und
weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-

(Bleiberechtsregelung/Vermeidung von Kettenduldungen)


– Drucksache 17/1557 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine wirksame und stichtagsunabhängige
gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufent-
haltsgesetz

– Drucksache 17/1571 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Kopfpauschale – Für eine solidarische
Krankenversicherung

– Drucksachen 17/240, 17/1605 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rolf Koschorrek

ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Bender, Maria Anna Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine solidarische und nachhaltige Finan-
zierung des Gesundheitswesens

– Drucksachen 17/258, 17/1606 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Ölkatastrophen vermeiden – Raubbau an
Mensch und Natur ausschließen

– Drucksache 17/1572 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 9, 13, 20, 27 und 29 a wer-
den abgesetzt.


(Abgeordnete der FDP betreten den Saal – Zurufe von der SPD: Ah! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die FDP lebt doch noch!)


– Ich hoffe, es wird hinterher aus dem Protokoll hinrei-
chend deutlich, dass sich die Begeisterungsrufe links
vom Präsidium nicht auf die von mir angekündigte Ab-
setzung der Tagesordnungspunkte beziehen, sondern auf
die spontane Freude um die Vervollständigung der Rei-
hen rechts vom Präsidium.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Freude ist begrenzt!)


Dass es durch die von mir vorgetragenen beabsichtig-
ten Absetzungen der Tagesordnungspunkte zu Änderun-
gen in der Reihenfolge unserer Tagesordnung kommt,
wird Sie nicht weiter überraschen: Der Tagesordnungs-
punkt 26 von Freitag wird bereits heute nach dem Tages-
ordnungspunkt 8 aufgerufen. Der Tagesordnungspunkt 15
wird auf morgen verschoben und folgt auf den Tages-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ordnungspunkt 25. Die Tagesordnungspunkte 17 und 19
rücken dementsprechend vor und werden nach den Ta-
gesordnungspunkten 12 bzw. 14 aufgerufen.

Ich darf noch auf zwei nachträgliche Ausschussüber-
weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam
machen:

Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (21. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden. Die Überweisung an den Auswärtigen Aus-
schuss (3. Ausschuss) zur Mitberatung soll entfallen.

Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sport in der Europäischen Union – Den Lissa-
bon-Vertrag mit Leben füllen

– Drucksache 17/1420 –
überwiesen:
Sportausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Innenausschuss (4. Ausschuss) zur Mitberatung
überwiesen werden. Die Überweisung an den Finanzaus-
schuss (7. Ausschuss) zur Mitberatung soll entfallen.

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
derungen vom 2. Oktober 2008 des Überein-
kommens vom 3. September 1976 über die
Internationale Organisation für mobile Satelli-

(International Mobile Satellite Organization – IMSO)


– Drucksache 17/1295 –
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein-
verstanden sind. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Bevor ich die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf-
rufe, weise ich darauf hin, dass der Kollege Carl-Ludwig
Thiele auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag
verzichtet hat und wir als neues Mitglied die Kollegin
Dr. Christiane Ratjen-Damerau begrüßen können, die
offenkundig noch nicht da ist,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie kommt gleich aus der Fraktionssitzung!)


was aber ihrer Mandatsübernahme nicht rechtswirksam
im Wege steht. Die guten Wünsche kommen schon ein-
mal auf diesem Wege ins Protokoll.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 a und
4 b:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes

(Artikel 91 e)


– Drucksache 17/1554 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisa-
tion der Grundsicherung für Arbeitsuchende

– Drucksache 17/1555 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer
Woche haben wir aus Nürnberg die neuen Arbeitsmarkt-
zahlen bekommen. Das sind erfreuliche Zahlen. Die Ar-
beitslosigkeit ist deutlicher gesunken, als das im Monat
April üblicherweise der Fall ist. Dies ist sicher eine
Folge der Frühjahrsbelebung nach einem langen und
harten Winter, aber auch ein Indiz dafür, dass wir lang-
sam aus dem krisenbedingten Tief herauskommen.

Bei aller Freude über die sinkenden Arbeitslosenzah-
len und die Arbeitsmarktzahlen: Wenn man genau hin-
schaut, dann findet man fast ausschließlich bei denjeni-
gen eine Bewegung zum Besseren, die ganz kurz in
Arbeitslosigkeit sind. Im April sank die Arbeitslosigkeit
im Rechtskreis SGB III, also bei denen, die Leistungen
aus der Arbeitslosenversicherung beziehen, um 146 000,
aber im Rechtskreis SGB II, also bei den Langzeitar-





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

beitslosen, gerade einmal um 16 000. Dieses Muster,
dass sich in der Krise keine deutliche Zunahme der
Langzeitarbeitslosigkeit zeigte, in der Erholung aber
auch keine deutliche Abnahme zeigt, ist ein Muster, das
wir schon lange beobachten können, schlicht und ein-
fach auch deshalb, weil die Hürden, um aus der Lang-
zeitarbeitslosigkeit wieder herauszukommen, höher und
die Probleme vielschichtiger sind.

Dennoch gilt: Wann, wenn nicht jetzt, da die Nach-
frage nach Arbeitskräften wieder steigt und da durch den
demografischen Wandel sichtbar wird, dass die Zahl der
Erwerbstätigen sinkt und Fachkräfte gesucht werden,
müssen wir hier etwas verändern? Wann, wenn nicht
jetzt, müssen wir mit aller Kraft an die Lösung dieser
Probleme herangehen? Deshalb ist diese Jobcenter-Re-
form, die wir heute einbringen, die richtige Reform zum
richtigen Zeitpunkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte gerne vier Punkte darstellen, die mir bei
dieser Reform wichtig sind:

Es geht erstens um eine Grundhaltung. Wir wollen
durch diese Jobcenter-Reform die Grundhaltung stärken
und verstetigen, dass der Weg aus der Langzeitarbeitslo-
sigkeit nur durch ein Aktivieren beschritten werden
kann. Das heißt, die Kompetenzen und Potenziale, die
die Menschen haben und die oft unter einer dicken
Schicht von Unzulänglichkeiten oder objektiven Hürden
verborgen sind, müssen aktiviert werden. Wir wollen
nicht ein System haben, durch das verwahrt und verwal-
tet wird, sodass man zunehmend eine passive Haltung
einnimmt, wie das früher bei der Sozialhilfe der Fall ge-
wesen ist, sondern wir wollen mit dieser Jobcenter-Re-
form gerade noch einmal stärken und verstetigen, dass
alle zusammenarbeiten, und zwar nicht nur die Langzeit-
arbeitslosen mit der Bundesagentur für Arbeit. Auch alle
Leistungen der Kommunen, die sie gemäß ihren Kompe-
tenzen erbringen, und die sozialintegrativen Leistungen
müssen in einer Hand gebündelt zusammenkommen.

Das geht zweitens – das ist gerade auch angesichts
vielfältiger Kritik wichtig – nicht nach dem Lehrbuch
des Föderalismus; denn in diesem Lehrbuch des Föde-
ralismus steht: Eine Ebene soll für eine Leistung sichtbar
zuständig sein. – Das kann man immer dann machen,
wenn es um Techniken geht, zum Beispiel um das Aus-
zahlen des Kindergeldes. Man muss dazu wissen, wie
viele Kinder da sind und wie alt sie sind. Bei dieser Aus-
zahlung einer Geldleistung geht es um Technik. Aber
hier, meine Damen und Herren, geht es um etwas sehr
viel Schwierigeres: Hier sind Menschen jahrelang ohne
Arbeit, hier haben sich Schwierigkeiten angehäuft. Und
diese Schwierigkeiten scheren sich keinen Deut darum,
ob wir verschiedene föderale Ebenen haben oder nicht;
sie sind da. Deshalb hilft eben auch nicht ein punktuelles
Angebot, sondern es hilft nur, die Menschen Schritt für
Schritt zu aktivieren und gebündelte Hilfe von verschie-
denen Seiten für verschiedene Probleme anzubieten. Das
ist ein Schritt, den wir mit dieser Jobcenter-Reform ge-
meinsam gehen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man muss sich anschauen, wer die Menschen sind,
die hinter diesen Zahlen der Langzeitarbeitslosigkeit ste-
hen. Das kann zum Beispiel ein 48-jähriger Hilfsarbeiter
sein. Dieser braucht etwas vollständig anderes als eine
verheiratete Verkäuferin, als eine alleinerziehende Kran-
kenschwester, als ein 22-Jähriger, der seine Lehre abge-
brochen, dafür aber einen Berg Schulden angehäuft hat,
oder als ein 58-jähriger Ingenieur, der nach einem per-
sönlichen Fiasko mehrere Jahre lang arbeitslos gewesen
ist. Allen ist gemeinsam, dass sie seit langer Zeit arbeits-
los sind; aber um den Anschluss zu finden, brauchen sie
ganz unterschiedliche präzise, fördernde Hilfen.

Dafür brauchen wir drittens eine schlagkräftige Or-
ganisation. Wir wollen eine neue Qualität der Vermitt-
lung, die es eben nicht dem Zufall überlässt, oder be-
stimmten Persönlichkeiten, die vor Ort da sind oder
nicht, dass passende Konzepte zur Integration in den Ar-
beitsmarkt vorgelegt werden, ob es der Eingliederungs-
zuschuss ist, die sozialpädagogische Begleitung, die
Kinderbetreuung oder die Schuldnerberatung. Keiner
der Langzeitarbeitslosen braucht alles; aber wenn die
Langzeitarbeitslosen ins Jobcenter kommen, muss alles
im Hintergrund zur Verfügung stehen, damit man punk-
tuell im richtigen Moment die richtige Hilfe anbieten
kann. Die Neuorganisation der Jobcenter lässt diesen
Gestaltungsspielraum zu, sie sichert ihn verfassungsmä-
ßig ab. In Zukunft kann jemand den Arbeitslosen nicht
nur das anbieten, wofür er gerade zuständig ist, sondern
die Hilfe, die sie brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eine besonders wichtige Rolle in diesem Prozess
spielen die Fallmanagerinnen und Fallmanager, die
Vermittler. Sie wissen, wo es welche Hilfen gibt. Sie put-
zen bei den Unternehmen die Klinken. Sie wissen, auf
welches mittelständische Unternehmen sie sich verlas-
sen können, wenn es einen Jugendlichen gibt, der beson-
dere Hilfe und Zuwendung braucht, um doch noch den
Einstieg in die Lehre zu schaffen. Sie kennen die vielen
verschiedenen – ein sperriges Wort – Arbeitsmarktin-
strumente. Sie schaffen die Verlässlichkeit, weil sie das
Gesicht, der Ansprechpartner sind für die Unternehmen,
die Arbeitskräfte suchen, aber auch für die Arbeitslosen,
die Hilfe bei der Vermittlung eines Jobs suchen.

Deshalb möchte ich an diesem Punkt eines besonders
deutlich ansprechen: Im Augenblick befinden wir uns in
der Situation, dass wir uns kurzfristig verhakt haben, und
zwar bei dem Thema der 3 200 Stellen, die entfristet
werden sollen. Kompetente Menschen sitzen bereits auf
diesen Stellen, sie arbeiten in der Vermittlung. Das ist
wichtig und richtig; wir brauchen diese Menschen. Es
braucht Fachwissen, um diese Arbeit zu machen. Ich bin
fest entschlossen, dass wir gemeinsam die Kraft aufbrin-
gen, sicherzustellen, dass eine so große Reform wie
diese Jobcenter-Reform nicht daran scheitert, ob wir in
diesem Punkt eine Lösung finden oder nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das muss die FDP mal begreifen!)






Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Am Ende des Jahres stehen da rund 6,9 Millionen Men-
schen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wenn
wir jetzt nicht gemeinsam die Kraft aufbringen, das, was
wir auf einen guten Weg gebracht haben, zu Ende zu
bringen, dann sprengt das die Jobcenter am Ende des
Jahres – sie zerfallen wieder in ihre Einzelteile –,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist es! Schöne Rede an die FDP! – Anette Kramme [SPD]: Erklären Sie das Ihrem Koalitionspartner!)


dann sind die 69 Optionskommunen von der Landkarte
gewischt. Es ist eine Frage unseres gemeinsamen Gestal-
tungswillens und unserer Verantwortung für dieses Land
mitten in der Krise, dass wir hier eine Lösung hinbekom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Auch der vierte Punkt ist mir wichtig: Die Reform
schafft an einer Stelle, wo es in der Vergangenheit immer
gehakt hat, etwas ganz Neues. Wir schaffen tatsächlich
ein lernendes System, also kein System, in dem man
erst nach Jahren Bilanz zieht und rückwärtsgewandt
schaut, ob es funktioniert hat oder nicht, und sich vor
Gericht streitet, ob das Geld sinnvoll eingesetzt worden
ist oder nicht. Wir wollen stattdessen gemeinsam Ziele
definieren: Wie viele Alleinerziehende, Jugendliche, Äl-
tere, Facharbeiter in strukturstarken Regionen, die jetzt
arbeitslos geworden sind für eine längere Zeit, sollen
wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden? Wir wol-
len laufend vergleichen und feinjustieren können: Was
machen andere besser? Warum ist die eine Region er-
folgreicher als die andere mit denselben Strukturen? Wer
schafft es, Menschen schneller in Arbeit zu bringen?

Dies ist unerlässlich, um im Jobcenter oder in der Op-
tionskommune die eigene Arbeit zu spiegeln. Wir wer-
den die Daten bundesweit einheitlich erheben, zeitnah
erfassen und vergleichen können. Das tun wir nicht, weil
wir aus Berlin bis in den hintersten Winkel eines Jobcen-
ters oder einer Optionskommune hineinregieren und sie
kontrollieren wollen. Nein, das können wir nicht, das
wollen wir auch gar nicht. Aber wir wollen die Sach-
kenntnis und die Kreativität vor Ort so gestalten, dass
man zügig, transparent und zeitnah sehen kann: Wer ist
erfolgreich? Was wirkt? Wie wird das Geld eingesetzt?
Wie wird den Menschen geholfen?

Ich möchte vor allem, dass der Schleier des Nichtwis-
sens, der Schleier der Intransparenz, der zum Teil bisher
über dem System lag – man wusste nicht genau, warum
die Unterschiede in der Arbeit so groß sind –, weggezo-
gen wird. Ich möchte vor allem, dass die Diskussion
über die beste Arbeit bei der Vermittlung dort geführt
wird, wo sie hingehört, nämlich in die Kreistage, in die
Kommunen, in die Unternehmen, in die Kammern und
in die Gewerkschaften vor Ort. Letztendlich sind sie es,
die gelobt werden, wenn etwas gelungen ist, oder die da-
für geradestehen müssen, wenn es Defizite gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir berichten jeden Monat in den Lokalzeitungen
über die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in der je-
weiligen Region. Ich wünsche mir, dass in Zukunft zum
Beispiel vierteljährlich in den Lokalzeitungen über die
Erfolge und die Entwicklung der Jobcenter bzw. der Op-
tionskommunen berichtet wird und wir nachlesen kön-
nen, wie Langzeitarbeitslose in einer Region mit ihren
spezifischen Problemen wieder in Arbeit vermittelt wor-
den sind. Das kann sich ändern. Das soll sich ändern. Ich
bin sicher, dass dieser Wettbewerb um die besten Ideen
motivieren wird.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Und die 1-Euro-Jobs?)


Ich will noch einen Satz dazu sagen, dass die Reform
angeblich teurer werden würde. Ich kann denjenigen, die
Zahlenspielereien betreiben – ich habe mir genau ange-
sehen, wie das entstanden ist –, nur zurufen: Sie blicken
auf das zurück, was war. Ihr Denken ist statisch. Wir
müssen handeln, weil wir die Veränderungen durch die
Jobcenter-Reform brauchen; denn sonst müssten wir sie
nicht machen. Sie sind unfähig, dynamisch zu denken, in
die Zukunft zu blicken und zu sagen: Da wollen wir hin.
Diese Veränderungen wollen wir. Deshalb sind die ge-
nannten Zahlen von gestern.

Wir sprechen über eine Jobcenter-Reform, die unser
Land auch in Zukunft bestimmen wird. Ich möchte trotz
aller Hakeleien, die wir noch haben, denjenigen von
Herzen danken, die parteiübergreifend eine Koalition der
Vernunft geschlossen haben. Ich will mich bei all denje-
nigen bedanken, die das ermöglicht haben. Die Gesetze,
die wir heute auf den Weg bringen, schaffen nicht nur Si-
cherheit für die Jobcenter und die Optionskommunen,
sondern vor allem auch für die Langzeitarbeitslosen, die
unsere Hilfe brauchen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704000100

Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1704000200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was brau-

chen langzeitarbeitslose Menschen in unserem Land?
Das ist die Frage, die uns bewegen muss. Es ist die Ver-
antwortung aller Parlamentarier, aber auch der Bundes-
regierung, sich gerade in der momentanen Phase der
Entwicklung am Arbeitsmarkt zu überlegen, was getan
werden kann und getan werden muss, um langzeit-
arbeitslosen Menschen effektiv zu helfen. Ich will nie-
mandem absprechen, egal welcher Couleur, zu erkennen,
dass das ein gemeinsames Ziel sein muss.

Das Wichtigste ist – das fängt schon mit der Organi-
sationsform der Arbeitsverwaltung an –, dass wir lang-
zeitarbeitslose Menschen nicht nur mühsam verwalten,
sondern ihnen Betreuung, Hilfe und vor allem eine Ver-
mittlung aus einer Hand anbieten und dass nicht wieder





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Pingpong zwischen den verschiedenen Bürokratien ge-
spielt wird.

Ich bin froh, dass die Chance besteht, das zu verhin-
dern, was CDU, CSU und FDP in ihrem Koalitionsver-
trag vereinbart haben. Wir müssen trotz all der notwen-
digen Veränderungen dafür sorgen, dass die Jobcenter in
Deutschland am 1. Januar 2011 nicht zerschlagen wer-
den. Genau das war es aber, was CDU, CSU und FDP in
ihrem Koalitionsvertrag vorgesehen haben:


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das sollten Sie noch mal nachlesen!)


getrennte Aufgabenwahrnehmung und Zerschlagung der
Jobcenter.

Dass wir die Möglichkeit haben, das abzuwenden, ist
eine große Chance. Dazu braucht es eine Koalition der
Vernunft über die Regierungsmehrheit hinaus, weil es
eine verfassungsgemäße Lösung, eine grundgesetzliche
Absicherung geben muss. Wir als Sozialdemokraten in
der Opposition haben deshalb die Hand gereicht und das
Angebot gemacht, im Interesse langzeitarbeitsloser
Menschen und auch derjenigen, die in der Arbeitsver-
mittlung einen harten Job erledigen, dafür zu sorgen,
dass die Organisationsreform stattfinden kann, dass die
Jobcenter in Zukunft besser arbeiten können und vor al-
len Dingen, dass sie nicht zerschlagen werden.

Diese Lösung wäre schon früher möglich gewesen.
Die Verunsicherung der letzten Jahre war unnötig. Das
hat viele kommunale Träger und viele in der Arbeitsver-
waltung der Bundesagentur für Arbeit, aber auch viele
langzeitarbeitslose Menschen über Monate, wenn nicht
sogar über Jahre verunsichert. Weil Herr Laumann
damals am Zustandekommen eines Kompromisses betei-
ligt war – an den aktuellen Verhandlungen war er aller-
dings nicht beteiligt –, sei daran erinnert: Es gab zu Zei-
ten von Olaf Scholz, Ihres Amtsvorgängers, Frau von
der Leyen, einen Kompromiss zwischen 16 Bundeslän-
dern, der Bundesregierung und der SPD-Bundestags-
fraktion, der damals in der Großen Koalition mutwillig
von CDU/CSU und FDP zerschlagen wurde.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb war es nicht ganz einfach, zu sagen: Wir ma-
chen jetzt einen zweiten, dritten Versuch. Aber wir ha-
ben das aus Verantwortung getan.

Es handelt sich um einen guten Kompromiss. Auch
wir mussten in ein paar Punkten nachgeben. Aber das ist
das Wesen parlamentarischer Kompromisse. Es wird nun
dafür gesorgt, dass das Regelmodell, die Zusammen-
arbeit zwischen Bundesagentur für Arbeit und Kommu-
nen bei der Betreuung und Vermittlung von Langzeit-
arbeitslosen aus einer Hand, besser umgesetzt werden
kann und dass es mehr Stabilität gibt. Wir haben ein Ge-
samtpaket geschnürt, zu dem unter anderem gehört, dass
es sich bei der Hilfe aus einer Hand nicht um eine leere
Hand handeln darf. Mit der Entsperrung von 900 Millio-
nen Euro, die Schwarz-Gelb im Haushaltsausschuss ge-
sperrt hatte, können zumindest in diesem Jahr die Mittel
für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ausgereicht werden.
Frau von der Leyen, ich kann Ihnen nicht ersparen
– weil Sie das nur in einem Nebensatz erwähnt haben –,
darauf hinzuweisen, dass die Entfristung von 3 200 Stel-
len für Arbeitsvermittler Teil dieser Einigung ist.


(Beifall bei der SPD)


Ihre Rede diente an dieser Stelle eher der Aufklärung der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Verhältnis zur Gesamtreform klingt die Zahl von
3 200 Jobvermittlern wenig. Wenn wir uns aber an-
schauen, was wir alles im Gesetzentwurf mit Leben er-
füllen müssen, nämlich verbindliche Schlüssel für das
Verhältnis von Jobvermittlern zu Langzeitarbeitslosen
einzuführen – 1 : 75 bei den unter 25-Jährigen, 1 : 150
bei den über 25-Jährigen –, wenn all das, was Sie vorha-
ben, Frau von der Leyen, nicht heiße Luft sein soll – ich
spreche Ihnen nicht ab, dass Sie es ernsthaft wollen –,
wenn vor allen Dingen Alleinerziehende und Jugendli-
che besser betreut werden sollen und nicht in der Ar-
beitslosigkeit verwaltet werden sollen sowie Eingliede-
rungsvereinbarungen getroffen werden sollen, um
Menschen aus der Situation der Arbeitslosigkeit heraus-
zuführen, dann muss man sagen: Es braucht mehr Job-
vermittler, damit nicht nur Akten bewegt werden, son-
dern damit Menschen eine Chance bekommen. Das ist
das, was die FDP nicht begriffen hat. Das sage ich hier
ganz deutlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann diesem Parlament nicht ersparen, zu schil-
dern, was in den letzten Wochen, nachdem wir einen
Kompromiss, abgestimmt mit den Fraktionsvorsitzenden
und der Ministerin, geschlossen hatten, passiert ist. Ja,
nach viel Gezeter bei CDU/CSU- und FDP-Haushältern
sind die 900 Millionen Euro vereinbarungsgemäß ent-
sperrt worden; das ist auch gut so. Wir wissen, dass vor
Ort auf ein solches Signal gewartet wurde. Aber nein,
die Entfristung von 3 200 Stellen für Jobvermittler ist
weder in der letzten noch in der vorletzten Sitzung ge-
schehen. Nachdem es in der vorletzten Sitzung nicht
passiert war, habe ich Frau von der Leyen einen Brief
geschrieben und in freundlichem Ton daran erinnert,
dass man sich an Vereinbarungen zu halten habe. Sie hat
mich daraufhin angerufen – ich erkenne ihr Bemühen
auch an – und hat mir versichert, dass das nun mit Herrn
Schäuble geklärt und auch mit den Haushältern von CDU/
CSU und FDP abgestimmt sei. Daraufhin hat die Ministe-
rin zum 5. Mai, zum gestrigen Tag, im Haushaltsaus-
schuss die Entfristung von 3 200 Stellen wie vereinbart
beantragt. Es war ein Amoklauf von FDP-Haushaltspoliti-
kern, der die Ministerin gestern desavouiert hat. Sie ha-
ben das von der Tagesordnung gewischt. Wir wollen das
Zustandekommen der Jobcenter-Reform. Aber ich warne
die FDP, diesen Kompromiss, der die letzte Möglichkeit
darstellt, die Zerschlagung der Jobcenter zum 1. Januar
2011 aufzuhalten, aufzuschnüren und zu gefährden. Sie
verunsichern die Menschen vor Ort. Wir dürfen das nicht
zulassen. Deshalb müssen Sie, bevor es die zweite und
dritte Lesung in diesem Haus gibt, dafür sorgen, dass die
3 200 Stellen wie besprochen entfristet werden.





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es waren stets die Sozialdemokraten und die Grünen
in diesem Haus, die darauf hingewiesen haben, dass eine
Zerschlagung der Jobcenter das Schlimmste ist, was man
in dieser Phase tun kann. Die Organisationsreform allein
reicht aber nicht aus, um auf dem Arbeitsmarkt besser zu
werden. Hinzu kommen müssen – auch das ist eine Auf-
gabe in diesem Jahr – eine Veränderung im Bereich des
Leistungsrechts, die Umsetzung des Bundesverfassungs-
gerichtsurteils sowie bessere Hilfen für Kinder und Ju-
gendliche, aber auch für Erwachsene. Ferner ist es nach
wie vor wichtig, die Arbeitsmarktpolitik nicht nur in
warme Worte zu packen, Frau Ministerin. Vielmehr
müssen gerade angesichts einer noch nicht durchgestan-
denen Wirtschaftskrise die entsprechenden Mittel für
eine aktive Arbeitsmarktpolitik auch bereitgestellt wer-
den.

Viele bei Schwarz und Gelb machen sich große Illu-
sionen, was die Möglichkeit betrifft, nach der nordrhein-
westfälischen Landtagswahl, wenn Sie, Herr Laumann,
nicht mehr im Amt sind,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Träumen Sie weiter!)


die aktive Arbeitsmarktpolitik zum Steinbruch für Ihre
verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu
machen. Ich will Herrn Barthle zitieren, den haushalts-
politischen Sprecher der CDU – Frau von der Leyen, Sie
haben das mitbekommen –, der angekündigt hat, dass Ihr
Haus zur notwendigen Haushaltskonsolidierung im Jahr
2011 – strukturell 10 Milliarden Euro – ein Drittel bis
die Hälfte beitragen soll. Wenn man sich Ihren Haushalt
anschaut, stellt man fest, dass er sehr groß ist. Es ist na-
heliegend, sich den größten Haushalt anzuschauen. Aber
wenn man genau hinschaut, fragt man: Wo soll denn da
gekürzt werden? Beim Zuschuss für die Rentenversiche-
rung doch wohl nicht. Bei der Unterstützung für Lang-
zeitarbeitslose, was Leistungen betrifft, doch wohl auch
nicht. Das können Sie nach dem Verfassungsgerichts-
urteil auch gar nicht. Es bleibt der Titel für Eingliede-
rungshilfen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Wenn man ein Drittel oder die Hälfte von 10 Milliarden
Euro nimmt, dann sind das 3 bzw. 5 Milliarden Euro. Ihr
Haushaltstitel im Bereich der Eingliederungshilfen be-
trägt, glaube ich, 5 Milliarden Euro. Eine Kürzung in
diesem Bereich wäre eine Katastrophe für die aktive Ar-
beitsmarktpolitik.

Deshalb sage ich Ihnen: Wir wollen Hilfe und Betreu-
ung von langzeitarbeitslosen Menschen aus einer Hand.
Das darf aber keine leere Hand sein, sondern wir brau-
chen diese Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, um
gerade denen, die es schwer haben, effektiv helfen zu
können.


(Beifall bei der SPD)


Wir stehen zu diesem Kompromiss, und ich habe den
Eindruck, die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
auch. Herr Kolb, ich habe sogar den Eindruck, dass auch
die Arbeitsmarktpolitiker der FDP dazu stehen. Frau
Homburger, ich freue mich, dass Sie jetzt anwesend
sind, weil Sie Zeugin der Besprechung der Ministerin
mit den Fraktionsvorsitzenden sind. Herr Kauder war
auch dabei. Er hat daran erinnert, dass wir das Gesamt-
paket umzusetzen haben, und dazu gehören eben auch
die Punkte, die wir bezüglich der Jobvermittler mitei-
nander vereinbart haben. Ich kann die FDP nur warnen:
Nichtregierungsorganisationen sind im sozialen Bereich
für unsere Zivilgesellschaft eine unerlässliche Größe.
Viele Menschen, die sich in Nichtregierungsorganisatio-
nen, in NGOs, engagieren, leisten Wertvolles im sozia-
len Bereich, aber eine NGO namens FDP in der Regie-
rung ist eine Zumutung, gerade im sozialen Bereich, in
der aktiven Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der SPD – Sebastian Blumenthal [FDP]: Sie sind die Zumutung! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Nicht sonderlich originell!)


An dieser Stelle sollten Sie sich regierungsfähig zei-
gen, sich vertragstreu verhalten und nicht zu Verunsiche-
rung beitragen. Wir dürfen nicht zulassen, dass durch die
Nervosität der FDP diese wichtige Reform, die im Inte-
resse von langzeitarbeitslosen Menschen in Deutschland
ist, erneut gefährdet wird oder dadurch sogar scheitert.
Im Interesse der Stabilität vor Ort, aufgrund der Zeit, die
uns bei der Umsetzung dieser Reform wegläuft, sage
ich: Machen Sie Ihre Hausaufgaben, halten Sie sich an
Vereinbarungen, und wir werden es schaffen, die Orga-
nisationsreform, die zumindest wir immer wollten, auch
tatsächlich umzusetzen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704000300

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb ist der nächste Redner

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704000400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei

Erich Kästner gab es mal Das doppelte Lottchen. In den
letzten Wochen – Herr Heil, nach Ihrer Rede muss ich
das so sagen – habe ich einen „doppelten Heil“ kennen-
gelernt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So dick bin ich gar nicht!)


Herr Heil, in den Beratungen haben Sie sich sehr kon-
struktiv – das will ich hier ausdrücklich sagen –, sehr
sachkompetent, auch sehr kompromissfähig gezeigt.
Heute Morgen geben Sie hier aber den Scharfmacher. Ich
verstehe überhaupt nicht – das muss ich für meine Frak-
tion sehr deutlich sagen –, dass Sie sich heute Morgen
hier so gerieren.


(Beifall bei der FDP – Anette Kramme [SPD]: Wer kriegt denn hier nichts auf die Reihe?)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Ich will das, was Sie hier gesagt haben, zurückweisen.
Das war eine Schuldzuweisung an die Adresse der FDP.
Im Haushaltsausschuss gab es gestern die Absetzung die-
ses Tagesordnungspunktes, übrigens nicht nur dieses, son-
dern mehrerer Tagesordnungspunkte. Dem Vernehmen
nach hat das im Ausschuss keine große Rolle gespielt,
Frau Hagedorn. Deswegen, Herr Heil, habe ich mit Ver-
wunderung Ihre Wortmeldung in der Rheinischen Post
gelesen: SPD droht mit Nein zu der Reform.

Dazu will ich hier sehr klar sagen – Herr Heil, ich bitte
Sie, mir zuzuhören, weil das für Sie offensichtlich ein
ganz entscheidender Punkt ist –: Wir haben in der Ver-
handlungsgruppe eine Reform erarbeitet. Am Schluss ha-
ben wir sie mit drei verschiedenen Rahmenbedingungen
garniert. Eine Rahmenbedingung war: Entsperrung von
Haushaltsmitteln in Höhe von 900 Millionen Euro. Das
ist erfolgt. Eine weitere Rahmenbedingung war: Ent-
schließungsantrag zur Änderung des Art. 91 e Grundge-
setz, durch den ohne Angabe einer Zahl im Grundgesetz
klargestellt wird, wie viele Optionskommunen es geben
darf, in welcher Größenordnung wir uns bewegen. Das
wird kommen.

Wir haben außerdem sehr klar gesagt: Wir wollen
eine Verstetigung der Mittel. Darauf haben wir uns ver-
ständigt. Die Hand, von der Sie sprachen, ist nicht leer.
Ich möchte, damit sich in der Öffentlichkeit kein fal-
scher Eindruck festsetzt, die Zahlen nennen: In 2006 be-
trugen die aus dem Bundeshaushalt getätigten Ist-
Gesamtausgaben für die Betreuung Langzeitarbeitsloser,
also Eingliederungsmaßnahmen und Verwaltung, 8,07 Mil-
liarden Euro. In 2010 haben wir für diesen Bereich
11 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Hand, von der
Sie sprachen, ist nicht leer, sondern sie wurde in den
letzten Jahren zunehmend gut gefüllt. Das, meine Da-
men und Herren, will ich sehr deutlich festhalten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Und was ist 2012 und 2013?)


Herr Heil, ich muss Ihnen sagen: Es gab in der Ver-
handlungsgruppe keine explizite Verständigung auf die
Entsperrung der genannten 3 200 Stellen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber eine Nebenberatung! In der Fraktionsbesprechung schon! Das wissen Sie auch, Herr Kolb!)


– Es gab in der Verhandlungsgruppe keine Vereinbarung.
Es gab nach allem, was ich weiß, auch in der Spitzen-
runde keine solche Verständigung.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Kauder erinnert sich aber! Frau Ministerin beantragt das ja wohl!)


Deswegen mahne ich hier zur Ruhe. Ich bitte Sie, die Sa-
che nicht zu hoch zu hängen. Erinnern Sie sich an
Herbert Wehner: Wer rausgeht, muss auch wieder rein-
kommen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Das gilt für die FDP!)

Ich glaube nicht, dass Sie am Ende einem Ihrer SPD-
Landräte, den vielen Mitarbeitern in den Argen und vor
allem den vielen betroffenen Langzeitarbeitslosen erklä-
ren können, warum Sie eine so bedeutende Reform wie
die, um die es hier geht, an dieser Frage hätten scheitern
lassen.


(Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir wollen das aufsplitten! Aber das scheitert an Ihnen! – Anette Kramme [SPD]: Das scheitert an Ihnen! Also wirklich!)


Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten außerdem von An-
fang an jeden Eindruck vermeiden, dass sich die SPD
gegen diese Reform sperren könnte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden!)


Ich will noch eine zweite Anmerkung machen. Aus
Nürnberg erreicht uns heute die Nachricht, dass die
Jobcenter-Reform 500 Millionen Euro mehr kosten
wird.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Zerschlagung wäre noch teurer!)


Ich muss sagen: Eine solche Meldung finde ich ärgerlich
und unverantwortlich zugleich.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt!)


Das sind meines Erachtens Rückzugsgefechte einiger
Ideologen in Nürnberg, die sich nicht damit abfinden
können, dass die ungeliebte Option jetzt entfristet und
der Deckel deutlich angehoben wird. Hierzu muss man
sagen: Zukunft ist nicht einfach verlängerte Gegenwart.
Man kann das, was in der Vergangenheit gewesen ist,
nicht einfach für die Zukunft hochrechnen.

Durch die Optimierung der Arbeit der Jobcenter, aber
auch der Optionskommunen wollen wir eine Effizienz-
steigerung erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass die
Mittel besser genutzt werden, sodass wir im Ergebnis
trotz besserer Betreuung und trotz besserer Angebote an
die Langzeitarbeitslosen vielleicht – warum nicht? – mit
geringeren Mitteln auskommen, ohne dass dies zulasten
des Einzelnen geht. Das muss unser gemeinsames Ziel
sein.

Vor diesem Hintergrund ärgert mich diese Meldung
sehr. Sie hat uns in letzter Minute erreicht und basiert auf
einem Gutachten, das im Dezember 2008 in Auftrag ge-
geben wurde. Wer es damals in Auftrag gegeben hat und
mit welcher Zielrichtung es damals vermutlich in Auf-
trag gegeben wurde, ist jedenfalls mir sehr klar.

Ich will noch etwas sagen: Was die Performance, die
Leistung und die Abwicklung, anbelangt, sehe ich die
Argen, auch in ihrer bisherigen Form, und die Options-
kommunen sehr wohl auf Augenhöhe. Ich glaube, dass
es aufgrund der neuen Organisation, die wir schaffen
wollen, und des transparenten Steuerungsmodells, mit
dem sehr zeitnah nachgeregelt werden kann, dazu kom-
men wird, dass sich diese gleiche Augenhöhe erst recht
einstellen wird und die Optionskommunen ihre Vorteile,
nämlich die größere Nähe zum Arbeitsmarkt, die dort





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

zweifelsohne gegeben ist, ausspielen können. Deswegen
ärgert mich diese Nachricht, wie gesagt, sehr.

Beides sollte uns aber nicht davon abhalten, den Blick
auf die Ergebnisse dieser Reform zu richten. Ich hätte
mir erhofft, dass in der heutigen Debatte deutlich wird,
was wir mit dieser Reform erreicht haben – nach zwei
Jahren Großer Koalition, in denen nichts passiert ist,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat aber nicht an uns gelegen! Das lag an der Union!)


nach einem Regierungswechsel im Bund und nach ei-
nem harten Einspruch aus Hessen;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


das will ich sehr deutlich sagen.


(Abg. Bettina Hagedorn [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Das ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung dafür,
dass wir dieses Thema heute überhaupt behandeln kön-
nen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehen Sie mal in Ihren Koalitionsvertrag! – Anette Kramme [SPD]: Was wir haben, ist ein Hü und Hott der Regierung!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704000500

Herr Kollege Kolb, eigentlich ist Ihre Redezeit zu

Ende –


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704000600

Umso mehr freue ich mich über eine Zwischenfrage,

Herr Präsident.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704000700

– aber Frau Hagedorn würde Ihnen gerne eine Frage

stellen. Ich lasse das zu. Lassen Sie es auch zu?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704000800

Ja, sicher; klar.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704000900

Bitte schön.


Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1704001000

Herr Kollege Kolb, ich glaube, es wäre nicht verant-

wortbar, wenn Sie als Redner der FDP gleich das Mikro-
fon verlassen würden, ohne dem Hohen Haus eine klare
Antwort auf die Frage gegeben zu haben, wie die FDP
mit der Entsperrung der 3 200 Stellen umgehen will.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie waren diejenigen, die dieses Thema gestern im
Haushaltsausschuss gemeinsam mit Ihrem Koalitions-
partner von der Tagesordnung genommen haben. Sie
können nur gemeinsam handeln; das wissen wir. Aber
wir wissen auch, dass Sie die Initiatoren waren. Dem
Haushaltsausschuss liegt ein Antrag der Bundesagentur
für Arbeit auf Entsperrung vor, der vom Arbeits- und So-
zialministerium befürwortet wird. Frau von der Leyen
hat bereits in der letzten Sitzung des Haushaltsausschus-
ses bestätigt, dass sie mit ihrem Haus die Entfristung der
Stellen befürwortet. Auch vom Finanzminister haben
wir die Bestätigung, dass er die Entfristung der Stellen
befürwortet.

Wir sparen nicht einen Cent, wenn diese Stellen nicht
entfristet werden; denn die 3 200 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sind ja schon da. Im März erging ein Ar-
beitsgerichtsurteil, mit dem sich nach Aussage von
Herrn Weise 500 befristet Beschäftigte in eine entfristete
Beschäftigung einklagen mussten. Was da geschieht
– knapp 10 000 Menschen haben noch befristete Ar-
beitsverträge –, ist nicht in Ordnung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704001100

Kommen Sie bitte zur Frage.


Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1704001200

Vor diesem sachlichen Hintergrund und nicht nur vor

dem Hintergrund von Protokollnotizen von Verabredun-
gen muss die FDP eine Antwort darauf geben, wie sie
die Reform der Jobcenter mit Leben erfüllen will. Ein
Betreuungsverhältnis von 1:75 bzw. 1:150 war verabre-
det. Wenn Sie diesen gut eingearbeiteten 3 200 Mitarbei-
tern keine berufliche Perspektive geben, riskieren Sie,
dass diese Mitarbeiter die BA verlassen und durch un-
eingearbeitete ersetzt werden müssen.

Darum sind Sie diesem Parlament bei der Einbrin-
gung dieses Gesetzentwurfs eine Antwort schuldig, wie
Sie sich hierzu in der nächsten Sitzung des Haushalts-
ausschusses verhalten werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704001300

Vielen Dank, Frau Kollegin Hagedorn, auch dafür,

dass ich noch ein bisschen länger am Rednerpult verwei-
len darf. Ich will Ihre Frage gerne beantworten: Zu-
nächst einmal sollten wir Stellen, die mit Sachgrund be-
fristet waren, und Stellen, die ohne Sachgrund befristet
waren, auseinanderhalten. Wir reden über ursprünglich
10 000 Stellen, die rollierend sozusagen immer wieder
befristet besetzt wurden. Von diesen 10 000 Stellen sind
6 800 entfristet worden; damit bleiben nur noch 3 200 Stel-
len.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was passiert mit diesen 3 200?)


Jeweils nach sachlichen Beratungen im Haushaltsaus-
schuss ist in zwei Tranchen die Entsperrung vorgenom-
men worden. Die 3 200 Stellen, über die wir jetzt reden,
sollten eigentlich erst 2011 an die Reihe kommen. Jetzt
sollen sie schon im Haushalt 2010 berücksichtigt wer-
den.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Die sind schon im Haushalt!)


– Die sind schon im Haushalt, aber noch gesperrt. Des-
wegen, Frau Hagedorn, haben Sie sich die Antwort ei-
gentlich selbst gegeben.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Nein!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Mir ging es darum, festzustellen, dass in der Verhand-
lungsgruppe, Herr Heil – anders als Sie es dargestellt ha-
ben –, keine Zusage gemacht worden ist.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber unter den Fraktionsvorsitzenden! Das wissen Sie doch!)


Ich gehe davon aus, dass man sich im Haushaltsaus-
schuss wie bei den ersten beiden Tranchen zusammen-
setzt, sachlich erwägt und nach der Klärung offener Fra-
gen – offensichtlich gibt es offene Fragen; ich habe mir
das von der Kollegin Winterstein erläutern lassen; das
hat also einen Hintergrund – sachlich entscheidet. Der
Haushaltsausschuss ist in seiner Entscheidung, wie er
das handhabt, vollkommen frei, Frau Hagedorn; das wis-
sen Sie als Mitglied dieses Gremiums selbst am besten.
Was gestern dargestellt worden ist – da seien Zusagen
gegeben worden, und weil die nicht eingehalten würden,
scheitere die Reform –, ist in dieser Form nicht haltbar,
Herr Heil; das will ich sehr deutlich sagen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sonst hätte die Ministerin das gar nicht beantragt! Bleiben Sie bei der Wahrheit!)


– Das rechtfertigt keine Schuldzuweisung an die FDP.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch!)


Ihr Verhalten von gestern kommt mir vor wie das eines
Kleinkindes, das sagt: Wenn du mir mein Spielzeug
nicht gibst, dann greife ich auf die heiße Herdplatte!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie reden über die FDP!)


– Sie sollten die heiße Herdplatte nicht anfassen! Diese
Reform ist wichtig für unser Land und sollte nicht mit
vorgeschobenen, fadenscheinigen Erwägungen in Ge-
fahr gebracht werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, nein! Wir haben kein Problem damit!)


Diese Reform ist wichtig, weil sie gut ist für die Men-
schen in diesem Land, die von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffen sind, aber auch weil sie dazu beiträgt, dass die
Verwaltung der Langzeitarbeitslosigkeit effizienter wird,
damit diejenigen, die keinen Arbeitsplatz haben, bessere
Chancen bekommen, wieder einen Arbeitsplatz zu fin-
den. Das ist uns wichtig, das ist die Leitlinie unserer
Politik. Deswegen, Herr Heil, werden wir so handeln,
wie ich es dargestellt habe.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Meine Frage ist nicht beantwortet!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704001400

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Kipping von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704001500

Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Wenn man

die Debatte verfolgt, dann könnte man den Eindruck ge-
winnen, dass in den Fragen, die wir heute behandeln,
zwischen SPD und Schwarz-Gelb extreme politische
Unterschiede bestehen. Aber ich finde, an dieser Stelle
muss man daran erinnern, dass die Beratungsgrundlage
ein Gesetzentwurf ist, den SPD, CDU/CSU und FDP ge-
meinsam eingebracht haben, und dass es diese Parteien
waren, die gemeinsam den Geist von Hartz IV mitgetra-
gen und sich davon noch nicht wirklich verabschiedet
haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Der vorliegende Gesetzentwurf sieht eine Auswei-
tung der Optionskommunen vor, also jener Gemein-
den, die die Betreuung der Langzeitarbeitslosen in Ei-
genregie übernommen haben. Diese Ausweitung ist zu
kritisieren und wird von den Linken so nicht mitgetra-
gen.

Mir ist bewusst, dass in mancher Kommune die Auf-
fassung herrscht, die Sache lieber vor Ort selber in die
Hand zu nehmen, um nicht der Spitze der Bundesagentur
in Nürnberg ausgeliefert zu sein. Angesichts der real
existierenden Verhältnisse in der Bundesagentur ist eine
solche Einstellung sogar nachvollziehbar. Diese Kritik
bezieht sich ausdrücklich nicht auf die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke kritisiert vielmehr, dass im Zuge der Hartz-
Gesetze die Bundesagentur allein auf einen betriebswirt-
schaftlichen Auftrag verpflichtet worden ist und dass da-
bei der sozialpolitische Auftrag und die innerbetriebliche
Demokratie auf der Strecke geblieben sind. Deswegen
sagen wir ganz deutlich – egal, wie wir heute entschei-
den –: Die Bundesagentur kann nicht so weiteragieren
wie bisher.


(Beifall bei der LINKEN)


So verständlich der Ärger in mancher Kommune über
die Bundesagentur ist, so wenig ist die Ausweitung der
Optionskommunen die Lösung dieses Problems. Wir alle
sollten uns vielmehr fragen: Droht nicht bei einer weite-
ren Kommunalisierung eine noch stärkere Kannibalisie-
rung, das heißt ein Überbietungswettbewerb zwischen
den Kommunen? Droht nicht am Ende sogar eine finan-
zielle Mehrbelastung für die Kommunen, weil sie inner-
halb der Argen nur einen kleinen Teil der Verwaltungs-
kosten tragen mussten? Ist es wirklich sachgerecht, dass
wir im Fall der Optionskommunen zwar als Bund zah-
len, aber weder die Fach- noch die Rechtsaufsicht haben,
also im Klartext nichts zu sagen haben?

Ich meine, Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesell-
schaftliches Problem, das nicht auf die Kommunen ab-
gewälzt werden darf. Sie können doch nicht ernsthaft
wollen, dass in der Arbeitsmarktpolitik das Prinzip
Flickenteppich herrscht.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sprechen sich aber offensichtlich für die Etablierung
des Modells Flickenteppich aus. Gegen dieses Modell
gibt es Kritik aus ganz unterschiedlichen Richtungen,
die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704001600

Frau Kollegin Kipping, darf ich Sie kurz unterbre-

chen? Der Kollege Grund würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704001700

Ich freue mich immer über eine Verlängerung meiner

Redezeit. Bitte schön.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704001800

Herr Grund, bitte schön.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1704001900

Vielleicht ist es nicht nur eine Verlängerung Ihrer Re-

dezeit, sondern auch eine Klarstellung, Frau Kollegin.
Sie sprechen sich für Ihre Fraktion und damit für die
Linke gegen eine Ausweitung der Kommunalisierung
aus, wie sie im Gesetzentwurf angelegt ist. Können Sie
bestätigen, dass es Kreistage gibt, in denen sich die Frak-
tion Die Linke ausdrücklich dafür ausgesprochen hat,
dass ihr Landkreis, der bisher einer Arbeitsgemeinschaft
angehört hat, aus sehr nachvollziehbaren Gründen zur
Optionskommune wird? Können Sie bestätigen, dass die
Linke, die Sie hier vertreten, bei weitem nicht die Linke
ist, die sich für die Kommunalisierung ausgesprochen
hat?


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704002000

Danke schön. Das gibt mir die Gelegenheit, näher auf

den Punkt einzugehen, den ich gerade angesprochen
hatte. Die Kommunalpolitiker vor Ort sind in der miss-
lichen Situation, die Suppe auslöffeln zu müssen, die ih-
nen zum Beispiel im Zuge der Hartz-Gesetze einge-
brockt worden ist


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


und die dazu geführt hat, dass wir mit einer Bundesagen-
tur konfrontiert sind, die nur noch nach irgendwelchen
betriebswirtschaftlichen Zahlen funktioniert und eine
Arbeitsmarktpolitik macht, von der so manche Kommu-
nalpolitiker glauben, dass sie das besser machen könn-
ten. Dass man das vor Ort so sieht, finde ich zutiefst ver-
ständlich.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber wir als Bundespolitiker haben die Verantwor-
tung, das, was wir wollen, auch konzeptionell umzuset-
zen. Wir als Bund hätten im Gegensatz zu den Kommu-
nalpolitikern die Möglichkeit, der Bundesagentur
endlich wieder einen sozialpolitischen Auftrag zu ge-
ben. Wir als Bund hätten die Möglichkeit, ein repressi-
ves Arbeitslosengeld II durch eine sanktionsfreie Min-
destsicherung zu ersetzen. Wenn wir das so durchgesetzt
hätten, dann könnten die Kommunalpolitiker vor Ort
möglicherweise anders entscheiden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt aus ganz verschiedenen Richtungen Kritik an
den Optionskommunen. Im Beschluss des DGB-Vor-
standes beispielsweise heißt es:
Der einheitliche Arbeitsmarkt darf nicht aus dem
Blick geraten … Eine Ausweitung des Optionsmo-
dells ist problematisch und würde die Strukturpro-
bleme weiter verschärfen.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen-
und Sozialhilfeinitiativen lehnt ebenfalls die Kommuna-
lisierung ab mit der Begründung, eine Kommunalisierung
der Arbeitsmarktpolitik verstärke die Rechtsunsicherheit
der Betroffenen, was wiederum die Rechtsposition von
Erwerbslosen verschlechtere.

Auch der Bundesrechnungshof kritisiert:

Mit der … Erweiterung des kommunalen Options-
modells wird ein mögliches einheitliches System
der Grundsicherung dauerhaft aufgegeben.

Dies führt zu heterogenen Strukturen im Bereich der
Grundsicherung und birgt das Risiko der Entstehung
zweier Klassen erwerbsfähiger Hilfebedürftiger. Fassen
wir zusammen: Erwerbslose, Gewerkschaften und der
Bundesrechnungshof kritisieren die Optionskommunen.
Deswegen mein Appell an Sie: Überlegen Sie sich noch
einmal, ob wir nicht die Erweiterung der Optionskom-
munen aus dem Gesetzentwurf herausstreichen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir als Bund tragen nicht nur die Verantwortung für
Strukturen, sondern wir tragen auch die Verantwortung
für die Beratungsqualität und die Arbeitssituation des
Personals. Beides muss deutlich verbessert werden;
denn wenn zu wenig Personal auf zu viele Erwerbslose
trifft, dann bedeutet das nicht nur für die Mitarbeiter eine
Überarbeitung, sondern das bedeutet auch für die Er-
werbslosen, dass die Beratungsqualität notwendiger-
weise schlechter wird. So führt der Personalmangel in so
manchem Jobcenter zum Beispiel dazu, dass inzwischen
viele auf die Bearbeitung ihres Widerspruchs zwölf Mo-
nate warten müssen. Nur zur Erinnerung: Im Gesetz
steht, dass jeder einen Anspruch darauf hat, dass der Wi-
derspruch nach drei Monaten bearbeitet ist. Aber die
Mitarbeiter kommen gar nicht mehr hinterher.

Jetzt verweist die SPD ganz gerne darauf, dass man
sich im Gesetzentwurf zu Betreuungsschlüsseln äußert.
Betreuungsschlüssel meint die Anzahl der Arbeitsuchen-
den, die von einem Fallmanager zu betreuen sind. Doch
was im Gesetz steht, sind nur unverbindliche Orientie-
rungszahlen. Das kritisiert auch der Hauptpersonalrat
der Bundesagentur für Arbeit zu Recht. Ich finde, das
muss sich ändern. Wir als Linke schlagen zur Verbesse-
rung der Beratungsqualität vor: Wir brauchen eine bes-
sere Personalausstattung, und wir brauchen vor allen
Dingen verbindliche Betreuungsschlüssel.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen eine regelmäßige Weiterbildung der Be-
schäftigten. Die unabhängigen Beratungen müssen deut-
lich unterstützt werden. Unabhängige Beratung meint,
dass Erwerbslose Erwerbslose beraten; denn eine gute
Beratung bedeutet sowohl eine bestmögliche Unterstüt-
zung bei der Arbeitsplatzsuche als auch eine weitge-
hende Aufklärung über die Rechte. Es geht nicht darum,
immer nur danach zu suchen, wo man Sanktionen ver-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

hängen kann. Insofern ist grundsätzlich zu sagen: Wenn
wir wollen, dass es eine wirklich gute Beratung gibt
– viele haben heute hier gesagt, dass es auch um die In-
halte geht –, dann muss sich einiges grundsätzlich än-
dern. Statt der 1-Euro-Jobs und des Arbeitszwangs brau-
chen wir öffentliche Beschäftigung in sinnvollen
Tätigkeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Statt des repressiven Arbeitslosengeldes II brauchen wir
eine sanktionsfreie Mindestsicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt habe ich eine gute Nachricht für Sie. Sie brauchen
gar nicht Ihre kleinen Unterschiede untereinander zu be-
tonen. Sie haben heute und hier die Möglichkeit, für ei-
nen grundlegend anderen Ansatz zu stimmen. Die Linke
wird heute Abend einen Antrag zur Abstimmung stellen,
in dem wir deutlich machen, was unsere Alternativen zu
Hartz IV sind. Diesem Antrag können Sie zustimmen,
und dann hätten wir eine deutlich bessere Situation bei
den Jobcentern oder wie immer diese dann heißen wer-
den.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und eine wirkliche Reform!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704002100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer vom

Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704002200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Kolb, ich kann Ihren Redebeitrag und insbesondere die
Beantwortung der Frage von Frau Hagedorn wirklich
nicht anders verstehen, als dass Sie bereit sind, diesen
Kompromiss wieder aufzuschnüren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ute Kumpf [SPD]: Wortbruch ist das, Kollege Kolb!)


Ganz offensichtlich sind Sie nicht vertragstreu.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Es ist für mich eine etwas schwierige Situation, jetzt
Herrn Heil verteidigen zu müssen und mich schützend
vor ihn zu stellen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vom Profil her reicht das nicht!)


Aber mit meinem breiten Kreuz wird das schon gehen.
Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und Herrn Heil vor-
werfen, er würde den Kompromiss infrage stellen, dann
verkehren Sie wirklich Ursache und Wirkung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich will es deutlich sagen: Die Frage, ob Jobcenter
und die Optionskommunen vernünftig mit Personal
ausgestattet sind, ist keine Petitesse. Zu Recht hat die
Ministerin darauf hingewiesen, dass die Qualität der Be-
ratung der Arbeitslosen natürlich von der Organisations-
struktur abhängt, also davon, was überhaupt möglich ist;
aber im Kern hängt sie doch davon ab, ob qualifiziertes
Personal da ist, um die Arbeitslosen tatsächlich zu för-
dern und zu fordern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Deswegen sagen auch wir: Die Entfristung muss her.
Wir haben von Anfang an für eine Grundgesetzänderung
gekämpft. Wir haben von Anfang an eine Hilfe aus einer
Hand gefordert. Uns war immer vollkommen klar, dass
eine vernünftige Personalausstattung her muss. Sonst ist
das eine leere Hülle, die wir nicht akzeptieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Ministerin, ich habe mich sehr gefreut, mit wie
viel Engagement Sie heute hier diesen Kompromiss ver-
teidigt und für ihn gekämpft haben. Aber nehmen Sie es
mir nicht übel: Ich finde ganz ehrlich, Sie haben sich re-
lativ spät dazu entschieden, auch eine Mutter des Erfolgs
der Grundgesetzänderung zu werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist wahr!)


Ein bisschen befremdlich ist das für mich schon,
wenn Sie sich jetzt als heilige Ursula der modernen Ar-
beitsverwaltung präsentieren, wo Sie doch bei Ihrem
Amtsantritt – so viel zu der historischen Wirklichkeit –
diese Idee zum völligen Scheitern erklärt haben.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Frau Pothmer, ist Ihnen das Schicksal der heiligen Ursula bekannt?)


Im Januar haben Sie im Bundestag noch gesagt, jetzt sei
Pragmatismus angesagt, und haben sich hinter Ihren
Rechtspolitikern versteckt. Auf Sie konnten wir uns da-
mals in dieser Frage nicht verlassen.

Sie hätten keinen Finger für dieses Projekt gerührt,
wenn es nicht die Palastrevolte von Roland Koch gege-
ben und er Sie dazu gezwungen hätte.


(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Ich muss sagen: Für mich wäre das auch ein bisschen eh-
renrührig, von jemandem wie Herrn Koch, der die Ar-
beitslosen beschimpft und sie in Zwangsarbeit drängen
will,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh, oh!)


den Sie selber zurückgepfiffen haben, jetzt auf Kurs ge-
bracht werden zu müssen. Das war sicherlich keine
schöne Situation für Sie.


(Zuruf von der FDP: Mal ein bisschen verbal abrüsten!)


Hoffen wir, dass das zukünftig anders wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU- und FDP-Fraktion, stehen heute hier und tun so,
als seien Sie die Väter dieses Kompromisses gewesen.
Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag genau das Gegen-
teil vereinbart. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag als
Ziel die Zerschlagung der Jobcenter vereinbart, und jetzt
stellen Sie sich hier hin und sagen, Sie seien die Helden
und hätten die Lösung vorangebracht.

Die Betroffenen sind die Gewinner, die schwarz-
gelbe Bundesregierung ist zum Glück die Verliererin.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Dass jetzt insbesondere die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion, an deren Widerstand die Pläne vor zwei Jahren
schon einmal gescheitert sind, korrigiert worden ist, ist
wirklich eine Genugtuung für viele, die dafür gekämpft
haben, aber insbesondere für die Arbeitslosen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wieso? Wir haben uns doch gut durchgesetzt!)


Wir haben schon im April 2008 die Grundgesetz-
änderung gefordert. Ich kann mich noch gut daran erin-
nern: Da haben Sie uns für verrückt erklärt. Sie haben
gesagt: Da sind sie wieder, die grünen Spinner. Ich kann
nur sagen: Willkommen im Klub!

Ich freue mich jedenfalls, dass wir heute über die Um-
setzung genau unseres Vorschlags reden. Aber ich will
auch kein Geheimnis daraus machen, dass wir uns mehr
gewünscht hätten. Wir hätten uns gewünscht, dass die
Kommunen tatsächlich Wahlfreiheit haben. Was
spricht dagegen, wenn vor Ort darüber entschieden wird,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


welche Organisation mit welcher Organisationsstruktur
die Langzeitarbeitslosen fördert? Jetzt haben wir eine
Begrenzung auf 110 Optionskommunen. Es gibt in der
Sache nicht eine einzige Begründung dafür. Diese Zahl
ist ausschließlich parteipolitischer Gesichtswahrung ge-
schuldet. Die Beschränkung auf diese Zahl – das sieht
man jetzt schon – wird weitere Konflikte hervorrufen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Der Landkreistag hat bereits jetzt 100 Kommunen
ausgemacht, die gern optieren wollen. Egal, wie objektiv
Sie das Auswahlverfahren zu gestalten versuchen, die
Konflikte sind vorprogrammiert. Es wird wieder Kom-
munen geben, die eine Zwangsehe mit der Bundesagen-
tur für Arbeit eingehen müssen. Das sind keine guten
Voraussetzungen dafür, Langzeitarbeitslose gut zu be-
treuen, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde übrigens auch, dass das Zweidrittelquorum
für die Kreistage und für die Stadträte ein Fehler ist. Sie
greifen damit tief in die kommunale Selbstverwaltung
ein. Ich sage Ihnen, dieses Quorum wird am Ende auch
ein Verhinderungsinstrument sein.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Ich weiß natürlich, lieber Herr Heil, dass dies alles
auf dem Mist der SPD gewachsen ist.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unterschätzen Sie die Ministerin nicht!)


Daran zeigt sich, dass Ihre Wandlung vom Saulus zum
Paulus nicht ganz so geschmeidig verlaufen ist, wie Sie
jetzt tun. Im Herzen sind Sie einfach Zentralisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Patrick Döring [FDP])


Da beißt die Maus keinen Faden ab. In Wirklichkeit
trauen Sie den Kommunen nicht über den Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Ich bin Niedersachse und kein Zentralist! Sie auch!)


Ich will jetzt nicht im Detail auf die Entwürfe einge-
hen. Das werden wir bei der Anhörung und in den Aus-
schussberatungen machen. Aber ich will hier sehr deut-
lich sagen: Ich freue mich, dass in dem Gesetzentwurf
der Gedanke angelegt ist, dass es in der Arbeitsmarktpo-
litik zukünftig dezentraler zugehen wird. Aber das ist
nur der erste Schritt. Ich verspreche Ihnen, wir werden
ein Augenmerk darauf richten, ob sich das tatsächlich er-
füllt.

Vorhin ist gesagt worden: Die Organisationsstruktur
muss gefüllt werden, man darf nicht mit leeren Händen
dastehen. Frau Ministerin, aber wenn ich mir Ihre Ver-
mittlungsoffensive, zu der ich noch einen Satz sagen
will, anschaue, dann kann ich nur sagen: In Wirklichkeit
ist das kalter Kaffee und Propaganda. Sie versuchen, die
geltende Gesetzeslage als Neuheit zu verkaufen. Damit
sind Sie an der Stelle – ich finde, wirklich zu Recht – auf
die Nase gefallen. Eine echte Verbesserung für die Ar-
beitsuchenden ist dabei nicht herausgekommen.

Herr Heil hat schon darauf hingewiesen: Es droht
noch Schlimmeres. Die Haushälter der CDU/CSU-Frak-
tion haben angekündigt, den Etat des Arbeitsministers
als Steinbruch für die Haushaltskonsolidierung zu nut-
zen. Ich kann Ihnen sagen: Wenn in den nächsten Jahren
3 bis 5 Millionen Euro in diesem Bereich eingespart
werden,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: 3 bis 5 Millionen sind nicht viel bei dem Etat!)


dann nutzt die Organisationsstruktur den Arbeitslosen
letztlich nicht viel.

Ich komme zum Schluss. Die Süddeutsche Zeitung
hat getitelt: „Dämpfer für Frau von der Leyen“, als klar
wurde, dass sich doch eine Einigung auf die Grundge-
setzänderung abzeichnet. Darunter heißt es, dass dies für
die Arbeitsministerin vor allen Dingen eines bedeuten
würde: Sie ist angeschlagen. – Wir Grüne hoffen im In-
teresse der Arbeitslosen, dass Sie sich von diesem Ange-
schlagensein schnell wieder erholen. Aber dafür brau-
chen Sie mehr Courage als Camouflage.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704002300

Das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Gesundheit

und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl-
Josef Laumann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Abschiedsrede!)



(Nordrhein-Westfalen)


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass im Bundes-
tag die Rechtfertigung für die gesamte SGB-II-Gesetz-
gebung vor allen Dingen war, dass wir wollten, dass die
Menschen, die in der Sozialhilfe sind, und dass die Men-
schen, die in der Arbeitslosenhilfe sind, Betreuung und
Begleitung aus einer Hand erfahren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich bin deswegen sehr froh, dass es nach dem vielen
Hin und Her seit dem 20. Dezember 2007, als das Bun-
desverfassungsgericht in einem Urteil die jetzige Form
der Argen mit dem Grundgesetz als nicht vereinbar er-
klärt hat, jetzt so aussieht, als ob wir jetzt die recht-
lichen Grundlagen in unserer Verfassung dafür schaf-
fen könnten, in der Bundesrepublik Deutschland bei der
Hilfestellung aus einer Hand zu bleiben. Ich bin im Übri-
gen der Meinung und habe das oft gesagt, dass die Legi-
timation des SGB II wegfällt, wenn wir diese Hilfe nicht
mehr aus einer Hand geben können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweiter Punkt. Wir haben allen Grund, auch einmal
kritisch über die Organisation des SGB II zu reden.
Wir haben nämlich zurzeit die Situation, dass in vielen
Regionen unseres Landes jeder zweite Bescheid einer
Arge oder einer Optionskommune einer Überprüfung
durch das Sozialgericht oder das Verwaltungsgericht
– das ist in den Ländern unterschiedlich geregelt – am
Ende nicht standhält. Eine Behörde, die fast jeden zwei-
ten Prozess verliert, hat ein erhebliches Problem, auch
wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl in
den Optionskommunen als auch in den Argen sicherlich
sehr engagiert sind. Aber wenn man rechtssichere
Bescheide will, dann hat das auch etwas mit dem
Rechtsstaat zu tun, und wenn der Rechtsstaat Bundesre-
publik Deutschland gegenüber den Schwächsten in unse-
rer Gesellschaft so schwach dasteht, dass sich in diesem
Klientel herumspricht: „Wenn du gegen die Behörde
klagst, gewinnst du mit 50-prozentiger Wahrscheinlich-
keit“, dann ist das eine Katastrophe.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die Bescheide sind eine Katastrophe!)


Deswegen gehört dazu, dass man ein Gesetz braucht,
das klar strukturiert ist und administrierbar ist. Ich sehe,
dass der Vorschlag, der hier heute gemacht wird, ein
Weg in diese Richtung ist.

Zweitens brauchen Sie eine fachlich versierte Ver-
waltung. Jetzt schauen Sie sich einmal an, wie die Ver-
waltung zusammengesetzt worden ist: Bei der Gründung
des SGB II gab es erst einmal einen kommunalen Teil,
der sich früher in der Sozialhilfe auskannte. Dann ist mit
der Bundesagentur und den Arbeitsämtern der Teil des
Bundes hinzugefügt worden. Außerdem ist relativ viel
Personal von vielen Personalserviceagenturen rund um
den öffentlichen Dienst in Deutschland aufgenommen
worden. Wir haben Argen, bei denen es zwischenzeitlich
mehrere Personalräte gab. Dieser Gesetzentwurf hat im
Übrigen die einheitliche Personalführung in Argen nicht
geregelt. Der damalige Vorschlag von Nordrhein-West-
falen und Rheinland-Pfalz, der hier keine Mehrheit ge-
funden hat, hatte das geregelt. Jetzt werden auf jeden
Fall zwei Personalkörper beibehalten.

Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man ein versierteres
Personal will, muss man zu mehr Stammpersonal kom-
men.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In den Argen und Arbeitsgemeinschaften mit getrennter
Aufgabenwahrnehmung ist die Situation zurzeit so, dass
26 Prozent des Teils, der vom Bund gestellt wird, befris-
tete Arbeitsverhältnisse haben. Wenn ein Privatunterneh-
men 26 Prozent befristete Arbeitsverhältnisse hätte, stünde
es wahrscheinlich im Fokus der Kritik, zumindest des ei-
nen oder anderen Politikers in der Bundesrepublik
Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit Sicherheit!)


Selbst wenn jetzt die Entfristung durchgeführt wird, ha-
ben wir immer noch zwischen 16 und 18 Prozent befris-
tete Arbeitsverhältnisse. Wenn man wirklich will, dass
das Personal rechtssicher arbeiten kann, dann brauchen
wir eine stärkere Entfristung, gemeinsame Schulungen
und sehr viel anderes, um das hinzubekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommt ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig
ist. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass in diesem
Gesetzentwurf steht, dass man einen Betreuungsschlüs-
sel bei den Jugendlichen von 1 : 75 und bei den Erwach-
senen von 1 : 150 anstrebt. Ich persönlich bin nämlich
nach vielen Jahren Arbeit in diesen Bereichen eindeutig
zu dem Ergebnis gekommen, dass wir den Menschen,
die unter das SGB II fallen, nur dann helfen können,
wenn wir nicht nur eine Akte kennen, sondern wenn der-
jenige, der für die Zuteilung der Maßnahmen verant-
wortlich ist, auch den betreffenden Menschen kennt.
Wenn ein Fallmanager 75 Jugendliche begleiten soll,
dann erwarte ich schlicht und ergreifend, dass er nicht
nur deren Namen kennt, sondern auch deren Vornamen.
Bei 75 Leuten ist das machbar; jeder Lehrer muss sich
mehr als 75 Namen merken.

Das Zweite ist: Bei 150 will ich das auch. Denn wir ha-
ben in der Arbeitsmarktpolitik in Wahrheit doch folgen-
des Problem: Wir können heute nicht jedem Langzeitar-
beitslosen eine Stelle anbieten. Wir haben in Nordrhein-
Westfalen zurzeit 500 000 arbeitslose Menschen, die un-





Minister Karl-Josef Laumann (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)

ter das SGB II fallen, die nach der Statistik arbeitsfähig
sind. Es gibt in Nordrhein-Westfalen aber keine 500 000
Stellen, zu denen man sie schicken könnte.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist das Problem!)


Das ist ein Stück Wahrheit.

Aber ich erlebe auf der anderen Seite als Sozialminis-
ter in einem so großen Land, dass manchmal Kinder aus
SGB-II-Familien morgens in die Schule kommen und
kein Butterbrot dabeihaben. Was nützt mir da eine Arge,
die eine Akte verwaltet? Ich möchte gerne eine Arge ha-
ben, die die Leute nicht nur zu sich einbestellt, sondern
auch wieder ein bisschen Geh-hin-Struktur schafft und
bei einem Betreuungsschlüssel von 1 : 75 bzw. 1 : 150
zum Beispiel auch weiß, wo die Menschen wohnen, wie
ihre Lebensverhältnisse sind und welche Probleme sie
neben der Arbeitslosigkeit noch haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das der FDP, mit der Sie koalieren wollen!)


Weil sie nun einmal unterschiedlich sind, meine ich,
dass man die arbeitslosen Menschen individuell betreuen
muss, damit man ihnen überhaupt eine faire Chance zur
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, auch in
der Zeit, in der wir ihnen eben noch keine Erwerbsarbeit
anbieten können. Aber Arbeitsmarktpolitik ist spätestens
dann gescheitert, wenn sie im nächsten Aufschwung
nicht in der Lage ist, mit den Langzeitarbeitslosen das Ar-
beitskräftepotenzial zur Verfügung zu stellen, das ein sol-
cher Aufschwung benötigt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schönen Gruß an die FDP!)


Da kann ich nur sagen: An dieser Stelle muss man
jetzt vorbeugen; aber dies muss gleichzeitig in der Form
geschehen, dass die Familienstrukturen stabilisiert
werden, sodass die Kinder eine faire Chance haben,
durch die Schule zu gehen, weil sie ein Elternhaus ha-
ben, das sie dabei begleitet. Auch in diesem Bereich be-
dürfen manche Leute der Begleitung und der Betreuung.
Das müssen wir meines Erachtens über diesen Schlüssel
ebenfalls in stärkerem Maße sicherstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Und über Schulpolitik!)


Wenn dies aber die dort Tätigen machen sollen, dann
brauchen wir nicht nur klasse Verwaltungspersonal, son-
dern auch Personal, das in der Menschenführung, der
Begleitung von Menschen und vielen anderen Fragen
klasse ist. Das heißt, wir brauchen da Menschen, die eine
hohe menschliche Kompetenz haben, wenn sich die
ganze Sache am Ende rechnen und lohnen soll. Diese
Menschen wachsen nun einmal nicht auf Bäumen; viel-
mehr muss man mit den in den Strukturen vorhandenen
Menschen über einen bestimmten Prozess organisieren,
dass sie diese Kompetenzen besitzen. Deswegen brau-
chen wir da dringend eine Verstetigung.

Einen weiteren Gedanken will ich heute Morgen gern
ansprechen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist nicht
gleich. Selbst in einem Bundesland ist er nicht gleich. Die
Struktur der Arbeitslosigkeit in einer Stadt wie Gelsen-
kirchen ist mit der Struktur der Arbeitslosigkeit etwa in
meiner münsterländischen Heimat überhaupt nicht ver-
gleichbar. Deswegen müssen wir im Münsterland eine
andere Arbeitsmarktpolitik als in Gelsenkirchen betrei-
ben. Das ist selbst innerhalb eines Bundeslandes so. In
Köln gibt es sogar innerhalb der Stadt Unterschiede hin-
sichtlich der Arbeitslosigkeit. Die Struktur der Arbeitslo-
sen unterscheidet sich selbst in den Stadtteilen von Köln,
selbst innerhalb einer Stadt erheblich.

All das spricht dafür, dass in der Bekämpfung der
Langzeitarbeitslosigkeit auf der einen Seite zentralisti-
sche Instrumente – egal, von wem verantwortet – am
Ende teuer sind und immer scheitern werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite – ich war ja nun auch 15 Jahre
Mitglied des Bundestages – haben wir nun einmal in Be-
zug auf das SGB II entschieden, dass der Bund die ge-
samte finanzielle Verantwortung für den Bereich der
Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland hat. Dass ein
Parlament da sagt, es kann nicht sein, dass die Kommu-
nen das dann bestimmen und wir zahlen, das verstehe
ich auf der anderen Seite auch. Deswegen muss man ver-
suchen, die Aspekte der dezentralen Entscheidungen
und einer Steuerung des Gesamthaushaltes irgendwie
zusammenzubekommen. Damit haben wir uns in den
vergangenen Jahren, weil das auch nicht einfach zu lö-
sen war, in der Tat sehr schwergetan.

Ich habe den Eindruck, dass mit diesem Gesetzent-
wurf – auch damit, wie man die Fragen der Aufsicht hin-
sichtlich der Trägerversammlung geregelt hat – auf je-
den Fall etwas aus meiner Sicht sehr Vernünftiges auf
den Tisch gelegt wurde, um diesen gordischen Knoten
der politischen Finanzverantwortung des Bundes auf der
einen Seite, aber einer Tausendfüßlerei in den arbeits-
marktpolitischen Instrumenten auf der anderen Seite zu
zerschlagen und beide Seiten verwaltungstechnisch wie-
der ein Stück weit zusammenzufügen, worüber ich mich
freue.

Ich freue mich darüber, dass dies damit eine Grundlage
hat, mit der wir das vernünftig hinbekommen können;
denn die Kommunen sitzen in diesen Trägerversammlun-
gen, so wie ich sie verstehe, nicht am Katzentisch, son-
dern sollen sich mit ihrer gesamten Kompetenz und ihrer
Kenntnis der örtlichen Verhältnisse einbringen. Die Bun-
desagentur ist nicht der Pascha, der alles zu sagen hat. Da-
ran werden sich noch einige Herren in Nürnberg gewöh-
nen müssen. Ich kenne sie lange; denen war ja manchmal
egal, wer unter ihnen Arbeitsminister ist. Auch das ist
nicht in Ordnung. Von daher halte ich es für völlig in Ord-
nung, dass die Bundesagentur sich hier auch einmal ein-
gliedern muss.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wie gehen Sie mit der Agentur für Arbeit um?)


– Die Agentur für Arbeit ist noch nie mein großer
Freund gewesen. Ich war immer der Meinung, dass man





Minister Karl-Josef Laumann (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)

das nichtzentralistisch lösen kann und über Verordnun-
gen Arbeitsmarktpolitik in den Ämtern nicht steuern
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir sagen, wir haben hier den Fallmanager,
dann muss man dem Fallmanager trauen. Er muss Kom-
petenzen haben


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die Bundesregierung!)


und darf nicht durch immer mehr Verordnungen einge-
engt werden. Wir hatten Jahre, in denen jeden Tag Hun-
derte von Verordnungen von dieser Bundesagentur aus-
gingen. Deswegen, finde ich, bietet das, was Sie hier im
Deutschen Bundestag zusammengebracht haben, jetzt
eine große Chance. Der Bundesrat beurteilt das genauso.
Dadurch haben wir die verfassungsrechtlichen Mehrhei-
ten, um dieses durchzusetzen. Darüber freue ich mich.


(Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in der nächs-
ten Zeit gemeinsam dafür sorgen, dass wir den Fallma-
nagern ausreichend Kompetenz geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Fragen wie zum Beispiel die, ob für Kinder Sachleistun-
gen oder Geldleistungen benötigt werden, kann man ent-
scheiden, wenn man die Familie kennt. Ich finde, es ist
eine Entmündigung, jemandem, der sich für seine Kin-
der, auf Deutsch gesagt, aufreibt, vom Staat alles in
Sachleistungen vorzuschreiben. Dafür bin ich nicht vor
etwa 35 Jahren CDU-Mitglied geworden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704002400

Herr Kollege Laumann.


(Nordrhein-Westfalen)


Sofort, ich komme zum Schluss. – Auf der anderen
Seite müssen wir darauf achten, dass die Leistungen bei
den Kindern ankommen. Aber das kann man nur ent-
scheiden, wenn der Fallmanager weiß, wie es in diesen
Familien aussieht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704002500

Ich wollte Sie nicht zum Schluss auffordern, Herr

Laumann.


(Nordrhein-Westfalen)


Sie können ganz sicher sein, dass Nordrhein-Westfa-
len diesen Weg mit Kompetenz begleiten wird.

Schönen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704002600

Eigentlich wollte noch jemand eine Zwischenfrage

stellen; das geht nun nicht mehr.

Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
SPD-Fraktion. Bitte schön.


(Beifall bei der SPD)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1704002700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau von der Leyen, Sie haben in der letzten
Sitzungswoche Folgendes gesagt: Es sei nicht eine Zeit
des Zauderns und Zurückblickens, sondern es sei eine
Zeit des Vorwärtsschauens. Das hört sich natürlich tat-
kräftig und bestimmt an; aber das Ganze beinhaltet zwei
logische Fehler. Zum einen kann man gleichzeitig vor-
wärtsschauen und zaudern. Schwarz-Gelb hat dieses
Kunststück über mindestens ein halbes Jahr in Perfek-
tion betrieben. Wir hatten den Eindruck, dass die Regie-
rung nach vorne schauen muss, weil sie diese Reform
der Jobcenter umsetzen muss, und gleichzeitig zauderte
sie, ist in eine Schockstarre verfallen und hat nichts ge-
tan. Zum anderen – das ist der zweite logische Fehler –
hängen Zaudern und Zurückblicken nicht zwangsläufig
miteinander zusammen. Im Gegenteil: Man kann durch-
aus zurückblicken und dabei manches Erhellende und
Erleuchtende erkennen. Denn Rückblick ermöglicht
auch oft Überblick.

Was sehen wir bei diesem Rückblick? Wir sehen ei-
nen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der sich verant-
wortungsvoll und in Abstimmung mit der Kanzlerin ans
Werk gemacht hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nichts zustande gebracht hat!)


Im Frühjahr 2009 hat es einen abgestimmten Kompro-
miss zwischen den Ministerpräsidenten dieses Landes
und dem BMAS gegeben. Es war nicht nur ein Eckpunk-
tepapier, sondern ein vollständiger Gesetzesentwurf.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Körperschaft!)


Dann kam das enttäuschende Verhalten der Unionsfrak-
tion. Tatsächlich ist gesagt worden, man mache dort nicht
mit. Ein vermeintlich gewichtiges Argument wurde vor-
getragen: Man könne doch nicht einfach das Grundge-
setz ändern, wenn das Bundesverfassungsgericht gesagt
hat, die Jobcenter seien verfassungswidrig. Aber, meine
Damen und Herren, wir haben das Grundgesetz schon aus
weitaus nichtigerem Anlass in diesem Hause geändert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie vielleicht!)


Genau deswegen ist die erwähnte Rückschau erhel-
lend. Denn wir sehen Folgendes: eine SPD, die sich um
eine konstruktive Lösung bemüht, um die Arbeitsver-
mittlung in Deutschland auch künftig zuverlässig weiter-
führen zu können, und eine Unionsfraktion, die mitten in
der Wirtschaftskrise nichts Besseres zu tun hat, als jeden
Vorschlag rüde wegzugrätschen. Frau von der Leyen, Sie
hatten anlässlich des endlich gefundenen Kompromisses
– das haben Sie heute noch einmal getan – die Allianz





Anette Kramme


(A) (C)



(D)(B)

der Vernünftigen gelobt. Doch Ihre Fraktion war über
zwei Jahre hinweg leider nie Mitglied dieser Allianz.

Ich sage Ihnen und Herrn Laumann: Bringen Sie die
FDP auf die Reihe. Die FDP ist ein schwerer Belas-
tungsfaktor für die Arbeitsmarktpolitik in diesem Lande.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben die Sache erst in Gang gebracht!)


Dass wir wahrscheinlich endlich eine Lösung haben, ist
maßgeblich der SPD zu verdanken.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Träumen Sie weiter!)


SPD rettet zaudernde Regierung – diese Schlagzeile
hätte sie nach dem dreizehnstündigen Verhandlungsma-
rathon Ende März eigentlich verdient. Nun bleibt zu hof-
fen, dass Ihre Fraktion nicht in letzter Sekunde wieder
einen Rückzieher macht. Wir nehmen das mit der Ent-
fristung der 3 200 Stellen sehr ernst.

Dennoch ist bislang insgesamt ein gutes Ergebnis er-
zielt worden. Die Arbeitsverwaltung ist nicht lahmge-
legt. Frau von der Leyen, das hätten Sie mit Ihrem ur-
sprünglichen Vorschlag bewirkt. Wir hätten ein bis
eineinhalb Jahre der Stagnation in diesem Land gehabt.
Wir haben sichergestellt, dass es die Betreuung aus einer
Hand gibt, sodass Arbeitsuchende nicht von Pontius zu
Pilatus laufen müssen. Die Optionskommunen können
weitermachen, der Bund gibt aber nicht die Verantwor-
tung für die Arbeitsmarktpolitik an Dritte ab, sondern
nimmt diese weiterhin wahr.

Zum Betreuungsschlüssel, Herr Kolb: Offensichtlich
verstehen Sie Arbeitsmarktpolitik nicht. Wir machen
keine Reformen l’art pour l’art. Eine Reform der Jobcen-
ter ist kein Selbstzweck. Ich bin der festen Überzeugung,
dass eine vernünftige Betreuung für Menschen, für Ar-
beitsuchende ganz essenziell ist. Häufig, praktisch im-
mer befinden sie sich in einer existenziellen Situation.
Da einen Ansprechpartner zu haben, der Tipps gibt, der
sich genügend Zeit nimmt, um zu recherchieren, wo die
individuellen Stärken und die individuellen Schwächen
liegen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so machen wir es!)


einen Ansprechpartner zu haben, der sich dafür Zeit
nimmt, die Person sauber in ein Arbeitsmarktprogramm
einzugruppieren und zu sagen, das ist das Beste für dich,
ist sehr wichtig. Der momentane Betreuungsschlüssel ist
bei weitem noch nicht ausreichend.


(Zuruf von der FDP: Wieso haben Sie ihn dann nicht geändert, als Sie die Zeit dazu hatten? – Weiterer Zuruf von der FDP: Den haben Sie doch eingeführt!)


Olaf Scholz ist derjenige, der damit begonnen hat. Aber
Olaf Scholz hat auch gesagt, dass wir an dieser Stelle
nicht stehen bleiben dürfen. Mittlerweile gibt es Unter-
suchungen zu diesem Thema. Es gibt Argen, die mit ei-
nem Betreuungsschlüssel von 1:70 gearbeitet haben. Das
Ergebnis ist exzellent, weil man sich damit ausrechnen
kann, wie viel Zeit für Arbeitsuchende in diesem Land
bleibt.

Wichtig ist auch, dass die SPD etwas ausgehandelt
hat, was ein pures Chaos in der Arbeitsmarktpolitik in
diesem Jahr vermieden hat,


(Beifall bei der SPD)


nämlich die Entsperrung von 900 Millionen Euro an
Arbeitsmarktmitteln. 300 000 bis 400 000 Arbeitsu-
chende hätte es in diesem Lande zusätzlich gegeben,
wenn diese Arbeitsmarktmittel nicht entsperrt worden
wären.


(Zuruf von der FDP: Quatsch! Blödsinn!)


Liebe Frau von der Leyen, was Sie uns in der Arbeits-
marktpolitik präsentieren, ist schwierig. Man kann es da-
mit umschreiben, dass es ein ständiges Hü und Hott bzw.
Hott und Hü gibt. Zunächst werden Haushaltsmittel ge-
sperrt, dann entsperrt. Im Bereich der Kurzarbeit werden
die Regelungen erst verschlechtert und jetzt offensicht-
lich wieder verbessert. Bezüglich der Jobcenter haben
Sie zunächst im Jahre 2009 eine Zustimmung angedeu-
tet. Dann gab es eine Phase des neuen Nachdenkens über
die getrennte Aufgabenträgerschaft. Und jetzt sind Sie
wieder auf Linie. Bringen Sie Klarheit in Ihre Reihen!
Bringen Sie Klarheit aufseiten der FDP!


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Keiner ist so klar wie wir!)


Mit Ihren Reden haben Sie und Herr Laumann sich ja
offensichtlich ganz flehentlich an die FDP gewandt. Set-
zen Sie sich endlich durch, damit wir Arbeitsmarktpoli-
tik in diesem Lande im Sinne der Menschen betreiben!
Im Interesse der Menschen wollen wir nicht, dass sich
eine Reform nach der anderen, die Sie ankündigen, als
bloßer Wahlkampfgag zur Steuerung eines Wahlergeb-
nisses in Nordrhein-Westfalen herausstellt. Offensicht-
lich haben Sie bei der Leiharbeit wieder einen Rückzie-
her gemacht. Das wollen wir nicht, sondern wir denken
an die Menschen in diesem Lande.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Die denken immer weniger an Sie! Das ist das Problem!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704002800

Das Wort hat jetzt der Kollege Pascal Kober von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1704002900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Kramme, gehen Sie einmal in sich und über-
legen sich, warum die von Ihnen genannte Schlagzeile
nie gedruckt worden ist. Vielleicht hängt es ja damit zu-
sammen, dass sie der Wahrheit einfach nicht entsprochen
hat. So schlicht ist manchmal die Realität.


(Beifall bei der FDP)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen
ersten Beratung zur Änderung des Grundgesetzes sowie
des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation
der Grundsicherung für Arbeitsuchende gelingt uns allen
miteinander ein großer Schritt.

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am
20. Dezember 2007 ist einige Zeit ins Land gegangen.
Doch mit den heutigen parlamentarischen Beratungen
können wir sagen, dass die Angelegenheit ein gutes
Ende nehmen wird. Das ist ein großer Erfolg der Politik.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie es jetzt nicht wieder aufschnüren!)


Liebe Frau Kramme, vielleicht hängt es mit der Beteili-
gung der FDP in dieser Regierung zusammen, dass der
heutige Tag zu einem Erfolg wird.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte meine Redezeit nutzen, um auf einen be-
sonderen Aspekt des Kompromisses einzugehen, der ge-
rade uns als FDP besonders am Herzen liegt, und zwar
auf den Erhalt und den Ausbau der Optionskommunen.
Wir Liberale haben uns in der Vergangenheit stets für die
Optionskommunen eingesetzt; denn wir sind der Über-
zeugung, dass die Betreuung und Vermittlung vor Ort
zum Wohle der Arbeitsuchenden besondere Kompeten-
zen bietet. Für die meisten Langzeitarbeitslosen bietet
eben der lokale Arbeitsmarkt die besten Chancen zur
Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Hier haben
die Optionskommunen durch ihre spezifischen Kennt-
nisse des örtlichen Arbeitsmarktes große Sachkompe-
tenz. Gleiches gilt für die Kompetenz der Kommunen im
psychosozialen Bereich.

Es gibt noch einen anderen Aspekt, der uns dazu
führt, die Optionskommunen so nachhaltig zu unterstüt-
zen. Generell gilt: Wettbewerb ist häufig die effizien-
teste Methode, Qualität zu verbessern und zu sichern.
Deshalb ist es richtig, dass wir auch dieses Element in
der Arbeitsvermittlung erhalten und sogar ausbauen. Der
Erhalt und der Ausbau der Optionskommunen garantie-
ren den Wettbewerb um die Suche nach der besten Ver-
mittlung und der besten Betreuung. Der Erhalt und die
Ausweitung der Optionskommunen versprechen Kreati-
vität und Vielfalt der Lösungsansätze in diesem schwie-
rigen und zugleich so bedeutenden Aufgabenbereich.

Niemand wird behaupten, dass wir das Patentrezept
für die Vermittlung, Qualifizierung und Betreuung von
Langzeitarbeitslosen schon gefunden hätten. Aus diesen
Gründen ist es für die FDP ein richtiger Schritt, dass das
Modell der Optionskommunen jetzt entfristet und ihre
Zahl ausgeweitet wird. Insbesondere bei Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, aber auch von
der Linkspartei, gab es Vorbehalte gegen die Options-
kommunen. Aber ich bin mir sicher, dass wir durch die
nun größere Zahl an Optionskommunen und die längere
Dauer ihres Bestehens die Vorbehalte gegen sie überzeu-
gend werden abbauen können.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Frau Kramme in ihrer Geschichte vergessen!)

Vielfach wurde in den vergangenen Jahren die Quali-
tät der Arbeit der Optionskommunen angezweifelt. Stu-
dien, die dies angeblich belegen sollten, waren jedoch
auf fragwürdiger Datenbasis erhoben worden oder stark
interessengeleitet erstellt worden. Deshalb ist es ein wei-
terer Erfolg der vorliegenden Verständigung, dass nun
zentral die Qualität der Arbeit bewertet und dann trans-
parent dargestellt wird. Ich bin mir sicher, dass dies die
Zweifel beseitigen wird.


(Beifall bei der FDP)


Heute ist mit der Beratung über die Gesetzentwürfe
ein guter Tag für die Arbeitsuchenden in unserem Land,
aber auch für die Beschäftigten der Bundesagentur und
der kommunalen Seite im Bereich des SGB II. Wir ge-
ben den Beschäftigten Sicherheit und den Arbeitsuchen-
den die Gewissheit, dass sie weiterhin Hilfe aus einer
Hand und unter optimierten Bedingungen erhalten wer-
den. Das ist verantwortungsvolle Politik, die wir hier ge-
meinsam machen.


(Beifall bei der FDP)


Was die Entfristung der 3 200 Stellen in der BA an-
geht, so kann ich Ihnen versichern, dass wir in gewohnt
überzeugender Sachkompetenz eine Lösung finden wer-
den.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704003000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Zimmermann

von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704003100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Lieber Herr Pascal! Ist er denn da?


(Zurufe von der FDP: Lieber Herr Kober! – Zuruf von der CDU: Herr Kober heißt er!)


– Entschuldigung. Ich muss Sie aber in einem Punkt kor-
rigieren, das ist leider nicht ganz so lustig. Ein Ende die-
ses Themas sehe ich erst, wenn alle Erwerbslosen in ei-
nen Job vermittelt sind, von dem sie und ihre Familien in
Würde leben können. Erst dann können wir über ein
Ende dieses Themas reden, lieber Herr Kollege.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt komme ich zur SPD. Wenn jetzt am Sonntag
nicht Wahlen in Nordrhein-Westfalen wären, dann,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wären Sie
doch heute nicht die großen Kämpfer für die Beschäftig-
ten der Arbeitsgemeinschaften und der Bundesagentur
für Arbeit.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das haben wir im Dezember eingebracht! – Ute Kumpf [SPD]: Eine böse Unterstellung!)






Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)

Ich muss Ihnen sagen: Seit Einführung von Hartz IV gab
es noch nie eine vernünftige Personalausstattung, auch
nicht unter Ihrer Regierung.


(Beifall bei der LINKEN – Anette Kramme [SPD]: Sie wissen schon, dass es um 10 000 Stellen geht!)


– Ich weiß, wovon ich rede, Frau Kramme. Sagen wir es
doch einmal ganz deutlich: Die sogenannte Jobcenter-
Reform, die wir heute beraten, ist das Ergebnis eines
politischen Kuhhandels von Union und SPD. Dieser
wird auf dem Rücken der Erwerbslosen, auf dem Rü-
cken der Beschäftigten der Agentur für Arbeit und auf
dem Rücken der Beschäftigten der Kommunen ausgetra-
gen. Das ist unerträglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben es geschafft, größere Teile der Arbeitsver-
mittlung und -verwaltung auf die Kommunen zu übertra-
gen. Das eigentliche Problem bei dieser Reform ist aber,
dass die Erwerbslosen mit ihren Interessen und ihren
Problemen auf der Strecke geblieben sind; denn Bezie-
her von Arbeitslosengeld I oder Arbeitslosengeld II
werden weiterhin getrennt verwaltet, und die Zweiklas-
sengesellschaft der Erwerbslosen bleibt weiterhin beste-
hen und wird von Ihnen festzementiert. Es ist für die
Linke unerträglich, wie Menschen durch Hartz IV tyran-
nisiert werden. Das machen wir hier nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt ein weiteres großes Problem in Ihrem Gesetz-
entwurf: Die Arbeitsvermittlung wird immer mehr den
Kommunen übertragen – künftig an bis zu einem Vier-
tel aller Landkreise und kreisfreien Städte. So entsteht,
wie meine Kollegin Katja Kipping schon gesagt hat, ein
arbeitsmarktpolitischer Flickenteppich, den Sie nicht
mehr im Griff haben werden. Das ist ein historischer
Rückschritt.

Kennen Sie überhaupt die Geschichte der bundesein-
heitlichen Vermittlung und Verwaltung? Vor bald 100 Jah-
ren wurde diese in Deutschland für Arbeitsuchende ein-
geführt. Das war ein Zugeständnis dafür, dass die
Kommunen mit dieser Aufgabe überfordert waren. Nun
machen Sie hier wieder eine Rolle rückwärts. Es ist trau-
rig und eigentlich schon fast Normalität, dass die Kolle-
gen der SPD wieder einmal eine Kröte schlucken – dies-
mal vom hessischen Ministerpräsidenten, Herrn Koch.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das macht nur deutlich, in welchem Jahrhundert Sie leben!)


Es gibt ganz konkrete Belege dafür, dass es auch
heute besser wäre, die Arbeitsvermittlung und -verwal-
tung bundeseinheitlich zu organisieren. Das belegen
Überprüfungen der letzten Jahre. Danach vermitteln
kommunale Träger deutlich öfter als Arbeitsgemein-
schaften auf Arbeitsplätze, von deren Lohn die Men-
schen nicht leben können, oder auf befristete Arbeits-
plätze, sodass sie nach einiger Zeit wieder in der
Arbeitslosigkeit enden. Das ist schlimm für die Betroffe-
nen, aber auch eine Belastung für die Gemeinschaft. Da-
raus ergeben sich Mindereinnahmen bei den Steuern und
der Sozialversicherung oder Mehrausgaben bei den So-
zialleistungen.

Der Bundesrechnungshof, der heute schon mehrfach
zitiert wurde, ist bestimmt kein Freund der Linken. Er
kritisiert in seiner Stellungnahme: Das Modell der Bun-
desregierung gibt ein einheitliches System zur Grund-
sicherung für Arbeitsuchende dauerhaft auf und führt zu
einem unnötigen Verwaltungsaufwand mit entsprechen-
den finanziellen Ausgaben. – Hierin, Frau Ministerin
von der Leyen, muss ich dem Herrn Weise heute schon
recht geben.

Das alles sind stichhaltige Argumente gegen den so-
genannten pragmatischen Kompromiss von Union und
SPD, aber Sie machen mit dieser Mogelpackung wider
besseres Wissen trotzdem weiter.

Ich will noch etwas aus kommunaler Sicht sagen. Es
gibt ganz handfeste Gründe dafür, dass nun einige Kom-
munen die Arbeitsvermittlung in Eigenregie überneh-
men wollen. Manche erhoffen sich kurzfristig finanzielle
Vorteile. Sie müssen nicht das gesamte Personal der Bun-
desagentur übernehmen, wodurch sie auch Personalkosten
einsparen können. Manche sind mit dem gegenwärtig ge-
ringen Einfluss der Kommunen auf die Bundesagentur
unzufrieden. Hierauf hat die Bundesregierung keine Ant-
wort gegeben. Es ist aber noch schlimmer: Statt die
Kommunen finanziell besser auszustatten, bluten Sie de-
ren Haushalte weiter aus. Das ist unerträglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke bleibt dabei: Es ist falsch, die Arbeitsver-
mittlung und -verwaltung auf die Kommunen zu übertra-
gen. Arbeitslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches
Problem und darf nicht auf die Kommunen abgewälzt
werden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704003200

Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1704003300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Sie gehen in ein Gesetzgebungsverfahren, das meines
Erachtens als historisch zu bezeichnen ist. Es geht näm-
lich um eine Änderung des Grundgesetzes, um damit die
optimale Verwaltung und vor allen Dingen die optimale
Grundlage zu schaffen, um den Menschen zu helfen, die
von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Dieser Weg
wurde bereits im Jahr 2005 beschritten, als die Argen ge-
bildet wurden und befristet zugelassen wurde, dass
Kommunen die Verantwortung für die Arbeitsvermitt-
lung übernehmen. Ich glaube, dass die letzten fünf Jahre
von guten Erfolgen gekennzeichnet sind, etwa beim Ab-
bau der Langzeitarbeitslosigkeit in unserem Land. Damit
leisten wir den Menschen in unserem Land einen beson-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

deren Dienst. Deshalb ist es für uns entscheidend, wei-
terhin auf diesen Grundlagen aufbauen zu können.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Dezember
2007 festgestellt, dass die entsprechende Regelung mit
unserem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Deshalb muss
man darüber nachdenken, wie wir die Zusammenfüh-
rung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zukünftig
auf ein gutes verwaltungsrechtliches Fundament stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der heute eingebrachte Gesetzentwurf, der eine Kon-
sensarbeit von CDU/CSU, FDP und SPD ist, wird dieser
Aufgabe gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sollten uns meines Erachtens zuerst darüber
freuen, dass eine Einigung zwischen den Koalitionsfrak-
tionen und der größten Oppositionsfraktion ermöglicht
worden ist. Ich danke herzlich für die konstruktive Zu-
sammenarbeit in der Arbeitsgruppe. Die konstruktive
Zusammenarbeit kam in der heutigen Debatte leider
nicht zum Ausdruck. Stattdessen wurde vielfältig über
Klein-Klein gestritten. Für dieses Klein-Klein lässt sich
aber eine Lösung finden; wir werden dies tun.

Ich möchte dem Vorwurf begegnen, dass die CDU/
CSU in der Großen Koalition eine Einigung torpediert
habe. Beileibe nicht!


(Bernd Scheelen [SPD]: Ach, nein? Wer denn?)


Die Umsetzung des vorgeschlagenen Modells eines Zen-
trums für Arbeit und Grundsicherung hätte einen gewal-
tigen bürokratischen Aufbau bedeutet und wäre der Ziel-
stellung, schnelle und zielorientierte Hilfe zu leisten,
nicht gerecht geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: So schaut’s aus!)


Vor allen Dingen lag es an der Unbeweglichkeit der
SPD, dass wir zu diesem Zeitpunkt keine Einigung zu-
stande gebracht haben:


(Widerspruch der Abg. Anette Kramme [SPD])


Bundesminister Scholz war nicht bereit, über eine Aus-
weitung der Zahl der Optionskommunen und ihre recht-
liche Absicherung auch nur zu reden. Das Äußerste, zu
dem die SPD damals bereit war, war eine weitere zeitli-
che Befristung für die 69 Optionskommunen.


(Anette Kramme [SPD]: Bei manchen verdrehen die Erinnerungen ein klein wenig die Wahrheit!)


Damit war die CDU/CSU nicht einverstanden; denn wir
sind davon überzeugt, dass die Kommunalisierung eine
große Chance für die arbeitslosen Menschen in unserem
Land bedeutet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Landesminister Karl-Josef Laumann hat es auf den
Punkt gebracht: Eine zentrale Ausrichtung der Arbeits-
marktpolitik kann nicht von Erfolg gekrönt sein, weil die
Verhältnisse in unserem Land so unterschiedlich sind.
Das gilt nicht nur für einzelne Städte Nordrhein-Westfa-
lens, sondern genauso für Bayern: In der Stadt München
und im Landkreis Dingolfing-Landau sind aufgrund
niedriger Arbeitslosenzahlen möglicherweise ganz an-
dere Probleme zu bewältigen als in einem Brennpunkt
mit einer gewaltig hohen Arbeitslosigkeit.

Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, deshalb
ist es entscheidend, dass die Kommunen eingebunden
sind. Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben gerade aus-
geführt, die Vermittlung durch kommunale Träger sei
„schlimm für die Betroffenen“. Dabei zeigt sich hier
deutlich, dass Kommunalpolitiker bereit sind, Verant-
wortung zu übernehmen, um so gute Erfolge für die
Menschen zu erzielen, und zwar mit einer schnellen,
sachorientierten Eingliederung in das Arbeitsleben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dies gilt es zu stärken.

Der vorliegende Gesetzentwurf entspricht dieser Ziel-
stellung: entweder in der Zusammenarbeit der Argen,
wo in der Trägerversammlung jedes Jahr die Ziele ge-
meinsam mit den Kommunen diskutiert und dann festge-
setzt werden, oder in der Optionskommune. Wir als
CDU/CSU haben durch diesen Kompromiss erreicht,
dass es eine Ausweitung der Optionskommunen gibt.
Wir hätten uns mehr gewünscht – keine Frage –; aber
wir stehen zu diesem Kompromiss. Der Gesetzentwurf,
der heute ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht wor-
den ist, ist eine gute Grundlage für die Bewältigung der
Probleme in unserem Land.

Ich möchte kurz zwei Punkte ansprechen.

Erstens. Vor allem in juristischer Hinsicht ist kritisiert
worden, dass es einer Zweidrittelmehrheit eines kommu-
nalen Gremiums bedarf, um eine Optionskommune ein-
zurichten. Ich glaube, dass das sachlich gerechtfertigt ist.
Gerade unter dem Gesichtspunkt, dass die Zielstellungen
zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit jedes Jahr
neu überarbeitet werden müssen, darf der eingeschla-
gene Weg nicht ständig in einem kommunalpolitisch
parteimotivierten Klein-Klein zerredet werden. Eine
breite Unterstützung in einem Landkreisgremium ist von
Vorteil.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!)


Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Regelung, dass die
Entscheidung für eine Optionskommune nur mit breiter
Mehrheit der kommunalen Gremien getroffen werden
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweitens. Es wurde vielfältig über die Entfristung der
3 200 Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit gespro-
chen. Ich möchte betonen: Die Arbeit wird getan, und
zwar unabhängig davon, ob es sich um eine befristete
oder um eine unbefristete Stelle handelt. Wir wünschen
uns, dass die Stellen entfristet werden. Ich bin überzeugt
davon, dass knapp 5 000 befristete Stellen – derzeit sind





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

es 8 000 befristete Stellen – genügen, um zu gewährleis-
ten, dass der Personalkörper der BA flexibel auf neue
Entwicklungen reagieren kann. Diese Frage werden wir
in den kommenden Wochen klären, damit alle der
Grundgesetzänderung und den daraus folgenden gesetz-
lichen Regelungen mit gutem Gewissen zustimmen kön-
nen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Anette Kramme [SPD]: Sie wissen schon, dass nur der Nikolaus Geschenke bringt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704003400

Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1704003500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sind eben Zeuge eines Versuchs der Geschichtsklitterung
geworden. Herr Kollege Straubinger, zu behaupten, eine
Einigung sei an der SPD gescheitert, ist ziemlicher
Hohn. Wir und auch die Ländervertreter haben Ihnen
Vorschläge unterbreitet. Es handelte sich um ein Modell,
das zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen und
Rheinland-Pfalz und dem Bundesarbeitsministerium er-
arbeitet wurde. Es lag auf dem Tisch. Sie haben es wider
Erwarten in Ihrer Fraktion zum Kippen gebracht. Des-
wegen müssen wir uns heute wieder über dieses Thema
unterhalten.


(Beifall bei der SPD)


Wir diskutieren heute, weil es im Dezember 2007 ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben hat.
Ohne dieses Urteil würden wir gar nicht darüber reden,
sondern die erfolgreiche Organisation in den Arbeitsge-
meinschaften und in den Optionskommunen würde fort-
gesetzt.

Ich muss kurz darauf eingehen, warum Arbeitslosen-
hilfe und Sozialhilfe zu Recht zusammengeführt worden
sind. Diese Zusammenführung war schon lange ein
Wunsch der Kommunen, weil sie festgestellt haben, dass
mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den 70er-Jahren
viele Menschen Sozialhilfe beziehen mussten. Die Be-
kämpfung von Arbeitslosigkeit sei aber keine kommu-
nale Aufgabe – so war damals die Argumentation –, son-
dern eine staatliche Aufgabe. In der Eichel-Kommission
ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kommu-
nen recht haben. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wur-
den daraufhin zusammengeführt. Das war richtig.

Wenn man ganz genau hinschaut, stellt man fest: Die
Optionskommune ist eigentlich ein Widerspruch, weil es
der Wunsch der Kommunen war, die entsprechende Auf-
gabe an den Bund abzugeben. Die Kommunen haben da-
mit nicht ganz unrecht. Aber Sie, meine Damen und Her-
ren von der Regierung, haben uns die Optionskommune
sozusagen durch die Hintertür aufgedrückt. Wir haben
das auch akzeptiert. Politik besteht schließlich aus Kom-
promissen. Die Optionskommunen leisten erfolgreiche
Arbeit; das ist in Ordnung.

Ihrer Behauptung, Sie hätten vor einem Jahr dem
Kompromiss nicht zugestimmt, weil wir eine ausrei-
chende Zahl an zusätzlichen Optionskommunen nicht
mitgetragen hätten, widersprechen Sie aber selber. Um
das zu erkennen, müssen Sie nur in Ihren Koalitionsver-
trag schauen: Dort ist von zusätzlichen Optionskommu-
nen keine Rede. Dort steht lediglich etwas von einer ge-
trennten Aufgabenwahrnehmung. Sie wollten das
Optionsmodell entfristen. Nachdem Frau von der Leyen
ihren Gesetzentwurf im Januar auf den Tisch gelegt
hatte, haben Sie festgestellt, dass Ihr Vorhaben mögli-
cherweise auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt. Sie
haben sich von drei Ministern erklären lassen müssen,
dass das alles verfassungsrechtlich ganz schwierig ist.
So ganz ernst können Sie Ihren Vorschlag nicht gemeint
haben; sonst hätten Sie in Ihren Koalitionsvertrag etwas
völlig anderes hineingeschrieben.

Frau Ministerin von der Leyen hat ihre Rede mit der
Aussage begonnen, es sei die richtige Reform zum rich-
tigen Zeitpunkt. Dem ersten Teil stimme ich zu. Es ist in
der Tat eine richtige Reform. Wir hätten das Modell von
vor einem Jahr noch besser gefunden. Aber die Welt be-
steht nun einmal aus Kompromissen. Wir können mit
diesem Kompromiss leben. Der Zeitpunkt ist allerdings
ziemlich spät. Gott sei Dank ist es noch nicht zu spät.
Die Tatsache, dass es jetzt schon wieder von der gelben
Seite Störfeuer im Hinblick auf die Entfristung bzw. die
Nichtentfristung der 3 200 Stellen für Jobvermittler
gibt, lässt nichts Gutes vermuten. Wir hätten das vor ei-
nem Jahr machen können. Aber damals sind alle auf
Tauchstation gegangen.

Herr Laumann – bleiben Sie noch einen Moment hier –,
teilen Sie dem Kollegen Rüttgers Folgendes mit: Ich
habe eigentlich erwartet, dass sich der Vorkämpfer für
eine Generalrevision von Hartz IV, der Arbeiterführer
aus Nordrhein-Westfalen,


(Karl-Josef Laumann, Minister [NordrheinWestfalen]: Guter Mann!)


an die Spitze der Bewegung setzt und für seine Vorstel-
lungen kämpft,


(Karl-Josef Laumann, Minister [NordrheinWestfalen]: Hat er doch!)


nachdem der mit seiner Zustimmung ausgehandelte
Kompromiss von seiner Fraktion gekippt worden ist.


(Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Rüttgers war schon immer feige!)


Wir haben davon nichts gesehen. Er beschränkt sich auf
Ankündigungen, und sonst kommt nichts.

Der Kollege Kolb hat in einem Punkt völlig recht: Es
bedurfte erst eines Briefes des hessischen Ministerpräsi-
denten. Dieser hat Ihnen allen, die Sie an der Verzöge-
rungstaktik beteiligt waren, die Rote Karte gezeigt. Herr
Koch hat Ihnen gesagt: Ohne Grundgesetzänderung
geht das alles nicht. Allein darauf beruht das Umdenken
auf der schwarz-gelben Seite. Herr Laumann, teilen Sie





Bernd Scheelen


(A) (C)



(D)(B)

dem Kollegen Rüttgers mit, dass er sich dafür in Zukunft
nicht mehr einzusetzen braucht. Das werden dann andere
machen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Kollege Laumann, Sie haben zu Recht auf das
viele Hin und Her verwiesen. Man könnte nun chronolo-
gisch aufschreiben, wer wann was vorgeschlagen hat
und wer wann was abgelehnt hat. Es gab tatsächlich viel
Hin und Her. Wir sind nun an dem Punkt, an dem wir ge-
meinsam sagen: Wir wollen eine Grundgesetzänderung.
Das ist der einzig verlässliche Weg, damit in den Kom-
munen vor Ort, und zwar sowohl in den Arbeitsgemein-
schaften als auch in den Optionskommunen, endlich Si-
cherheit herrscht.

Das Problem mit der Nichtentfristung der 3 200 Stel-
len ist symptomatisch für das, was Sie vorhin gesagt ha-
ben, Herr Laumann. Sie haben ein Plädoyer für Hilfe aus
einer Hand gehalten und bekommen von den Regie-
rungsfraktionen Applaus. Das hat mich wirklich ver-
wundert. Wie kann jemand, der die getrennte Aufgaben-
wahrnehmung in den Koalitionsvertrag hineinschreibt


(Karl-Josef Laumann, Minister [NordrheinWestfalen]: Gar nicht wahr!)


und sich diesen absegnen und noch von Herrn Rüttgers
unterschreiben lässt, sagen: „Wir wollen Hilfe aus einer
Hand“, und dafür Applaus bekommen? Das hat offenbar
etwas mit retrograder Amnesie zu tun.


(Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist die berühmte Rolle rückwärts!)


Das ist aber nicht der erste Fall retrograder Amnesie, den
wir bei Schwarz-Gelb erleben.

Der vorliegende Kompromiss findet unsere Zustim-
mung; denn wir hoffen, dass danach endlich Ruhe ein-
kehrt. Die 26 Prozent befristete Arbeitsverträge spiegeln
sich in 20 Prozent Fluktuation bei den Arbeitsgemein-
schaften wider. Das ist kein hinnehmbarer Zustand. Stel-
len Sie sich einen Betrieb vor, bei dem jährlich
20 Prozent des Personals fluktuieren! Ein solcher Be-
trieb kann nicht richtig arbeiten; er kann nicht richtig
funktionieren. Deswegen muss dieser Punkt vor der
zweiten und dritten Lesung geklärt sein. Sonst könnte es
sein, dass wir heute die erste und zugleich die letzte Le-
sung hatten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704003600

Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1704003700

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Den Regierungsfraktionen, der SPD und
der Ministerin ist hier zu Recht umfassend gedankt wor-
den für die sehr gute Lösung, die wir heute beraten.
Ich will auf einen Punkt eingehen, der am Ende der
Rede des Kollegen von der SPD aufkam. Es wurde be-
hauptet, die Lösung, die wir jetzt haben, sei nicht im In-
teresse der Regierungsfraktionen gewesen. Der Kollege
Straubinger hat das eben für die Union ausgeführt. Für
die FDP kann ich hier ganz klar sagen: Betreuung aus ei-
ner Hand, das war immer genau das, was wir, die FDP,
wollten, weil es eine der Grundlagen liberaler Sozial-
politik ist.


(Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lesen Sie einmal Ihren Koalitionsvertrag! – Anette Kramme [SPD]: Dann haben Sie sich also beim Koalitionsvertrag nicht durchsetzen können! Das tut uns leid!)


– Frau Kramme, hören Sie doch erst einmal zu. – Des-
halb ist es gut, dass wir jetzt sowohl die Fortschreibung
des Modells der Argen als auch die Erhöhung der Zahl
der Optionskommunen als auch – endlich – ein faires,
einheitliches und transparentes System erreicht haben.
Ich glaube, nur dadurch kann ein echter Systemwettbe-
werb ablaufen, der im Interesse der Menschen liegt.


(Pascal Kober [FDP]: Sehr richtig!)


Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Das passt sehr gut
zu dem – Frau Kramme, Sie haben den Koalitionsvertrag
angesprochen –, was wir sonst im Koalitionsvertrag ver-
einbart haben. Wir haben dort zum Beispiel festgehalten,
dass wir darüber hinausgehend prüfen wollen, inwiefern
wir Stellen, die Sozialleistungen auszahlen, zusammen-
legen können. Im Koalitionsvertrag ist von einer Prü-
fung des Konzepts des liberalen Bürgergeldes die Rede.
Wir wollen auch prüfen, wie wir die Kosten der Unter-
kunft pauschalieren können, um so die Würde und Ei-
genverantwortung der Menschen stärker zu wahren. Das
zeigt sehr gut: Betreuung aus einer Hand, damit die
Menschen nicht von Amt zu Amt rennen müssen, ist das,
was diese Koalition will. Für die FDP kann ich sagen:
Das ist der Weg, den wir als Liberale immer gewollt ha-
ben. Insofern ist das wirklich ein sehr guter Kompro-
miss.


(Beifall bei der FDP)


Ich glaube, wir müssen unsere Überlegungen zu der
Frage, wie wir eine möglichst individuelle Betreuung
der Menschen aus einer Hand zustande bringen, ausdeh-
nen, auch über den Bürgergeldprüfauftrag hinaus. Ich
will auf das Beispiel einer Optionskommune hinweisen.
Mein Kollege Pascal Kober hat eben schon ausgeführt,
dass das grundsätzlich ein sehr sinnvolles Instrument ist.
In der Optionskommune Osnabrück im Osnabrücker
Land, die schon vor Jahren die sogenannte MaßArbeit
begründet hat, gibt es ein Konzept, bei dem Jugendhilfe
und Jugendsozialarbeit in den Jobcentern zusätzlich an-
geboten werden, wodurch Familien, vor allem Problem-
familien, wirklich eine Betreuung aus einer Hand erhal-
ten. Kinder und Jugendliche haben dadurch auf ihrem
Weg ins Erwerbsleben, bis sie also erwachsen sind, im-
mer einen Ansprechpartner. Ich glaube, das ist genau der
Kurs, den wir fortsetzen müssen.


(Beifall bei der FDP)






Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

Ich will noch etwas zu den Kritikpunkten sagen, die
wir hier verschiedentlich gehört haben. Frau Kollegin
Pothmer und Frau Kramme haben eben schon ausge-
führt, das sei gar nicht im Interesse der Koalition gewe-
sen. Ich glaube, wir konnten deutlich machen, dass das
nicht der Fall ist. Freuen Sie sich doch, dass wir eine so
schöne Lösung gefunden haben, die auch dem ent-
spricht, was Sie wollten.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Vogel, wissen Sie, wie das in der Psychologie heißt? Umdeutung!)


Da wir aus vielen Mündern, aus Ihrem, Frau Pothmer,
und aus den Mündern der Kollegen von der SPD, gehört
haben, die FDP wolle hier irgendetwas torpedieren, muss
ich sagen: Ich habe – auch nach dem, was der Kollege
Kolb hier ausgeführt hat – das Gefühl, dass Sie, mögli-
cherweise bewusst vor dem kommenden Wochenende,
die ganze Sache hochziehen, um einen Dissens zu kon-
struieren, den es gar nicht gibt. Da ist ein Punkt von den
Haushältern nicht abgelehnt, sondern einfach nur abge-
setzt worden, und zwar in einer Woche, in der sie nun
wirklich genug andere Themen haben, Frau Kramme.


(Anette Kramme [SPD]: Sagen Sie doch einfach: Wir stimmen zu!)


Ich habe großes Vertrauen in unsere Haushälter – ich
habe gerade den Kollegen Heil im vertraulichen Ge-
spräch mit unseren Haushältern gesehen –, dass sie dafür
sorgen, dass es eine gute Lösung im Interesse der Men-
schen geben wird. Dieses Vertrauen könnten Sie eigent-
lich auch haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Just Do It“, heißt es bei Nike!)


Insofern appelliere ich ganz ernsthaft an Sie: Ziehen
Sie den Punkt nicht hoch. Hängen Sie es ein bisschen tie-
fer; denn sonst müssen Sie, Herr Heil, sich fragen lassen,
ob Sie den Geist, der uns zu dieser wirklich guten Lösung,
die im Interesse der Menschen ist, gebracht hat, aufgrund
kurzfristiger parteipolitischer Profilierung missachten.
Ich glaube, eine solche Missachtung haben die Menschen
nicht verdient. Das haben wir nicht nötig. Halten Sie ein-
fach einmal die Hufe still; dann werden wir alle eine gute
Lösung bekommen.

In diesem Jahr werden wir auch noch an die anderen
Aufgaben herangehen. Ich sage ganz klar: Es geht hier
nicht nur um Strukturen. Das ist nur der Anfang. Das ist
sozusagen nur die Pflicht. Die Kür müssen wir durch
eine bessere Betreuung und durch eine schnellere Ver-
mittlung sowie durch andere Maßnahmen wie bessere
Zuverdienstmechanismen und faire Regelsätze im Laufe
dieses Jahres erbringen. Ich habe großes Vertrauen, dass
wir als Koalition das schaffen werden. Sie können sich
dabei konstruktiv einbringen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704003800

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat nun die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gute Frau!)



Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1704003900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe mich in dieser Debatte zwischendurch gefragt, wo-
rum es eigentlich geht. Ich bin davon ausgegangen, dass
es um nicht weniger als 6,5 Millionen Menschen geht,
für die wir den bestmöglichen Weg finden müssen und
sollen, wie sie schnellstmöglich, problemlos und ohne
viel Bürokratie zurück in die Arbeit kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe nicht gedacht, Herr Scheelen – ich habe Sie in
den Debatten in den letzten Jahren anders kennenge-
lernt –, dass wir über den Wahlkampf in NRW reden.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau! Thema verfehlt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen war Herr Laumann ja heute hier! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU]: Nein! Der war hier, weil er so großen Sachverstand hat!)


Dazu könnten wir eine ganze Menge sagen, aber nicht an
dieser Stelle. Ich fand es schade, dass Sie nicht auf die
positiven Folgen eingegangen sind, die dieser Gesetzent-
wurf mit sich bringt.

Ich möchte Sie, Herr Heil, und Ihre Fraktion aus-
drücklich dafür loben, dass Sie dieses Angebot gemacht
haben. Allerdings – Sie wissen, dass ich mein Lob sofort
ein bisschen abschwächen muss – hätten auch Sie allein
es nicht geschafft;


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Wir haben die Bundestagswahl leider nicht gewonnen! Das stimmt! – Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Woran das wohl gelegen hat!)


auch Sie haben sich bewegt. Wenn Sie, Frau Kramme,
jetzt sagen, Sie hätten für die Rettung gesorgt, dann
muss man auch diese Aussage etwas relativieren. Herr
Heil weiß, dass auch er Kompromisse eingehen musste


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist das Leben!)


und dass unsere Fraktion die drei Forderungen, die uns
wichtig waren und die wir übrigens schon im letzten Jahr
erhoben haben, umsetzen konnte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na ja, na ja! Jeder braucht seine Gesichtswahrung, nicht wahr, Frau Kollegin?)


An dieser Stelle sind Sie uns entgegengekommen.

Ich muss sagen: Wenn es um die Menschen geht, ist
es doch gut, wenn wir Kompromisse finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Ingrid Fischbach


(A) (C)



(D)(B)

Es würde niemand verstehen, würden wir an dieser
Stelle zerren und zanken. Es geht darum, den Menschen
zu helfen, Verbesserungen auf den Weg zu bringen und
bestmögliche Lösungen zu finden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist das!)


Dabei haben wir teilweise unterschiedliche Auffassun-
gen, gar keine Frage. Da Frau Kramme sagte, es gehe
mal hin und mal her,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Da hat sie recht! – Bernd Scheelen [SPD]: Das hat auch Herr Laumann gesagt!)


stelle ich fest: Letzten Endes gehen wir natürlich den
Weg, der für die Menschen am besten ist.

Denken Sie nur einmal an die Anfänge Ihrer Regie-
rungszeit. Damals gab es Ministerwechsel en masse. Das
war schlimm. Daran will ich eigentlich gar nicht erin-
nern.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei uns hat das aber irgendwann aufgehört! Das ist der Unterschied zu Ihnen!)


Uns geht es darum, Lösungen zu finden. Wir haben Lö-
sungen gefunden. Es ist wichtig, den Menschen zu hel-
fen, und zwar so, dass sie eine schnelle Hilfe und Hilfe
aus einer Hand bekommen. Das war uns wichtig.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das klang im Koalitionsvertrag aber noch ganz anders! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ CSU]: Herr Heil, seien Sie doch jetzt mal friedlich, Menschenskinder!)


– Herr Heil, Sie wissen doch, wie es bei den Koalitions-
verträgen, die wir miteinander geschlossen haben, war.
Sie haben beim letzten Mal Dinge unterschreiben müs-
sen, die Sie nicht wollten; wir übrigens auch.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha! War es diesmal also die FDP?)


So ist es bei einem Koalitionsvertrag. Herr Heil, das ist
wie in einer Familie: Man muss Kompromisse eingehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen Hilfen aus einer Hand; das ist uns wich-
tig. Wir wollen nicht, dass die Menschen hin- und her-
laufen, ständig neue Formulare ausfüllen und immer
wieder das Gleiche sagen müssen. Dass das nicht ge-
schieht, haben wir hiermit vorbereitet; das wird nun auf
den Weg gebracht. Das ist wichtig. Das ist ein Erfolg.
Dafür haben wir uns als CDU/CSU-Fraktion eingesetzt,
und das haben wir auch durchgesetzt.

Wir wollen – hier sind wir unterschiedlicher Mei-
nung –, dass die Kommunen beteiligt werden, das heißt,
dass die Kommunen, die schon optiert haben, entfristet
werden und dass weitere Kommunen die Möglichkeit
bekommen, ihre Aufgaben selber wahrzunehmen. Hier
gibt es sehr gute Erfahrungen, allerdings auch schlechte.
Es ist wie bei den Argen: Es gibt gute, und es gibt weni-
ger gute. Uns ist wichtig, die Möglichkeiten der Options-
kommunen zu erweitern. Dies haben wir getan. Es ist
auch ein Erfolg der CDU/CSU-Fraktion und ihrer Ver-
handlungsführer, dass diese Regelung Bestandteil des
Gesetzentwurfes ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auf die Kompetenzen und Erfahrungen der Kommunen
wollen und werden wir nicht verzichten.

Der dritte Punkt, der uns wichtig war, ist die Bundes-
aufsicht. Wir wollen eine einheitliche Bundesaufsicht.
Derjenige, der bezahlt, muss auch die Möglichkeit haben,
zu kontrollieren. Bei den Argen bzw. Jobcentern ist dies
durch die BA gewährleistet. Was die Optionskommunen
betrifft, haben wir diese Kompetenz auf die Länder über-
tragen. Aber auch hier hat der Bund die Möglichkeit, auf
die Länder einzuwirken und zu kontrollieren, sodass un-
ser Anliegen, dass es eine einheitliche Bundesaufsicht
gibt, erfüllt wird.

Frau Kipping, Sie sollten das eine oder andere Mal


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Frau Kipping sollte mit dem Telefonieren aufhören!)


auf Ihre Basis hören. Es war ja nicht das erste Mal, dass
Sie von diesem Pult aus Forderungen erhoben haben, die
an der Basis ganz anders gesehen werden, auch an Ihrer
Basis.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Ja! Weil Sie die falschen Rahmenbedingungen setzen! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie sind wie das Zentralkomitee! Die wussten auch alles besser!)


Das sollte Sie ermutigen, auch einmal darüber nachzu-
denken, ob Ihre Kollegen in den Kommunalparlamenten
vielleicht gar nicht so falsch liegen. Auch Sie sollten ein-
mal die Meinungen und Forderungen Ihrer Kollegen un-
terstützen. Das wäre nicht verkehrt. Das sollten Sie tun.
Das würde Sie an der einen oder anderen Stelle vielleicht
in die Lage versetzen, politisch zu agieren, statt immer
nur aus der Opposition Forderungen zu erheben, die von
der Basis gar nicht unterstützt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte mich nicht ständig wiederholen. Ich
glaube, es ist dennoch wichtig, noch einmal hervorzuhe-
ben – Kollege Straubinger hat das bereits deutlich ge-
macht –, warum wir dem Vorschlag von Minister Scholz
beim letzten Mal nicht gefolgt sind.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und dem von 16 Bundesländern!)


– Aber in diesem Haus entscheiden die Mitglieder des
Parlaments. In meiner Fraktion, Herr Heil, ist es so, dass
wir diskutieren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben Laumann damals blamiert!)


Wenn wir der Meinung sind, dass Ihre Vorschläge nicht
unseren Anliegen entsprechen, dann machen wir das
deutlich.





Ingrid Fischbach


(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das nennt man ein Rückzugsgefecht!)


Der Vorschlag von Minister Scholz lief darauf hinaus,
dass Sie eine neue Körperschaft öffentlichen Rechts ein-
führen wollten,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Laumann wollte das vorhin auch noch!)


was einen Riesenverwaltungsaufwand zur Folge hätte.
Unsere Fraktion wollte das nicht. Wir wollten ebenso
eine Ausweitung der Zahl der Optionskommunen. Da
sind Sie uns – das muss man leider feststellen – nicht
entgegengekommen. Diesmal waren Sie entgegenkom-
mend und zuvorkommend; deswegen finden wir diesmal
einen Kompromiss.

Wenn man sich die Rückmeldung der beteiligten Ver-
bände, überhaupt der beteiligten Personen ansieht, kann
man feststellen, dass dieser Kompromiss ein sehr guter
Kompromiss ist; denn die Zustimmung ist sehr groß.
Nur ein großer Gewerkschaftsverband, der DGB, hat
noch etwas zu kritisieren. Verdi unterstützt den Kompro-
miss. Es gibt also große Zustimmung. Was wir heute in
erster Lesung auf den Weg bringen, ist, glaube ich, eine
gute Möglichkeit, diejenigen Dinge zu verändern, die
wir verändern wollen.

Ich möchte zum Schluss auf einen Punkt eingehen, der
meiner Fraktion und mir wichtig ist: Wir verändern auch
den Betreuungsschlüssel. Bei den unter 25-Jährigen ver-
bessern wir den Betreuungsschlüssel auf 1:75; bei den an-
deren liegt er bei 1:150. Zur Verbesserung der Betreuung
gehört natürlich, dass das Personal den Aufgaben ge-
wachsen ist. Wir brauchen keine neuen Mitarbeiter; wir
haben gute Mitarbeiter, die eingearbeitet sind. Deswegen
sollten wir versuchen, bis zur zweiten und dritten Lesung
zu erreichen – das wird die Beratung bringen –, dass die
Stellen entfristet werden. Das ist nämlich ein wichtiges
Zeichen an diejenigen, die agieren, aber auch an die Men-
schen, die Beratung und Förderung brauchen. Daran wer-
den wir arbeiten. Ich glaube, wir sind auf einem guten
Weg.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich
denjenigen danken, die diesen Kompromiss in vielen
Stunden ausgehandelt haben – Herrn Heil habe ich schon
erwähnt –: Karl Schiewerling, Max Straubinger, Heinz
Kolb, aber auch Staatssekretär Hoofe. Trotz allem, Herr
Heil, müssten Sie auch anerkennen: Ohne die Ministerin,
die so beherzt und tatkräftig in der Lage ist – –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Ministerin war bei den Verhandlungen nicht dabei! Aber es ist nett, dass Sie sie erwähnen!)


– Herr Heil, Sie wissen doch: Wenn Ihre Untergebenen
in Ihrer Fraktion –


(Ute Kumpf [SPD]: „Untergebenen“?)


– wenn Ihre Mitarbeiter, Ihre Kollegen – etwas erarbei-
ten, halten Sie doch immer das Zepter in der Hand, füh-
ren Sie doch die Feder.

Wir haben eine Ministerin, die sehr beherzt und sehr
kraftvoll an die Arbeit geht. Wir werden sie dabei unter-
stützen. Ich bin dankbar, Frau Ministerin, dass Sie das in
die Hand nehmen, und bin sicher, Sie werden es zu ei-
nem guten Ende führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Drei Schleimpunkte!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704004000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/1554 und 17/1555 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Gleichklang von Bund und Ländern beim Kli-
maschutz sicherstellen

– Drucksache 17/1430 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine
Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Klimaschutzziele gesetzlich verankern

– Drucksache 17/1475 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Bärbel Höhn von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704004100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn es um den Klimaschutz geht, spielt diese Bundes-
regierung ein doppeltes Spiel.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur da!)


Das ist selten so deutlich geworden wie in dieser Wo-
che: Auf dem Petersberg erklärt der Bundesumwelt-
minister, nach dem Scheitern der Klimakonferenz von





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

Kopenhagen müsse man jetzt auf konkrete Klimaschutz-
projekte setzen. Zur gleichen Zeit stoppt diese Bundesre-
gierung Tausende von konkreten Klimaschutzprojekten
in Deutschland, und zwar indem sie die Förderung von
Ökoheizungen, nämlich von Holzpelletanlagen, von
Wärmepumpen, von Solaranlagen und von Mini-KWK-
Anlagen sperrt. Meine Damen und Herren, entsperren
Sie die Mittel für diese Anlagen; denn das sind konkrete
Klimaschutzprojekte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auf dem Petersberg beschwört der Bundesumweltmi-
nister die zentrale Rolle der erneuerbaren Energien für
Klimaschutz und neue Jobs. Damit hat er recht. Aber
gleichzeitig steht heute ein Gesetzentwurf zur Änderung
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Bundestag zur
Abstimmung, der eine Absenkung der Förderung für
die Fotovoltaik um 30 Prozent in 13 Monaten vorsieht.
Das ist zu viel. Das gefährdet die Arbeitsplätze in die-
sem Bereich, und deshalb sagen wir: So geht es nicht.
Diese Kürzung können Sie nicht vornehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Auf dem Petersberg plädiert der Bundesumweltminis-
ter für neue Partnerschaften mit anderen Staaten, um die
Energieeffizienz voranzubringen. Gleichzeitig haben wir
gerade in diesem Monat einen traurigen Rekord zu ver-
zeichnen. Denn die Umsetzung der Energieeffizienz-
Richtlinie der EU ist schon zwei Jahre überfällig. Des-
halb warten in Deutschland Unternehmer und Verbrau-
cher auf genau diese Effizienzpartnerschaften des Bun-
desumweltministers. Hic Rhodus, hic salta! Hier muss
etwas geschehen. Schöne Worte auf einer internationalen
Konferenz reichen nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist ein doppeltes Spiel: Hier reden Sie so, und dort
handeln Sie ganz anders.

Auch das gehört zur Wahrheit: Auf der Petersberger
Konferenz hat die Bundeskanzlerin Anfang der Woche
mehr Mut beim Klimaschutz eingefordert.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für sich selber!)


Den Rest der Woche macht sie dann Wahlkampf für ei-
nen Ministerpräsidenten Rüttgers, der den Klimaschutz
aus den Landesgesetzen streichen lässt. Das ist nicht in
Ordnung; das widerspricht sich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Rüttgers hatte die Wahl zwischen dem Kohlekraft-
werk in Datteln und dem Klimaschutzrecht. Wofür hat
er sich entschieden? – Gegen den Klimaschutz und für
das Kohlekraftwerk, und die Kanzlerin und CDU-Vorsit-
zende Angela Merkel hat nichts getan, um ihn davon ab-
zubringen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.
Von China, Brasilien und den USA hat sie Mut beim Kli-
maschutz eingefordert, aber von ihrem eigenen Partei-
freund Jürgen Rüttgers verlangt sie diesen Mut nicht.
Das ist doppelzüngig. Das lassen wir nicht durchgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Beim Kohlekraftwerk Datteln geht es um einen Kli-
makiller, der nach Fertigstellung das Klima mit enormen
6,5 Millionen Tonnen CO2 im Jahr belasten wird. Um-
weltschützer haben gegen den Bau geklagt und vor dem
Oberverwaltungsgericht Münster recht bekommen, und
zwar deshalb, weil die Richter festgestellt haben, dass
dieser Bau dem in der Landesplanung verankerten Ziel
des Klimaschutzes widerspricht. Deshalb ist das Kohle-
kraftwerk in Datteln mittlerweile der größte illegale
Schwarzbau der Republik.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)


Das ist ein schlechtes Zeichen für CDU und FDP in
Nordrhein-Westfalen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfa-
len auf die Schelte der Richter reagiert? Sie hat einfach
den sogenannten Klimaschutzparagrafen aus der Lan-
desplanung gestrichen, um am Ende doch den Schwarz-
bau zu ermöglichen. Das ist eine Lex Eon, nicht mehr
und nicht weniger. Eine klarere Absage hätte die Regie-
rung Rüttgers/Pinkwart dem Klimaschutz nicht erteilen
können. Das, was in Nordrhein-Westfalen gemacht wor-
den ist, ist gegen den Klimaschutz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wählen wir die ja ab!)


Der CO2-Ausstoß in Nordrhein-Westfalen beträgt
mittlerweile 16 Tonnen pro Person und Jahr.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie in den USA! – Ulrich Kelber [SPD]: American way of life!)


Das ist mehr als in Saudi Arabien. Der CO2-Ausstoß in
ganz Deutschland liegt bei 9,5 Tonnen.

Interessant ist, dass diese Fixierung auf die Kohle ei-
nen weiteren, dramatisch negativen Effekt hat: Bei den
erneuerbaren Energien wird zu wenig gemacht. In die-
sem Bereich hinkt Nordrhein-Westfalen bisher schon
hinterher. Der Anteil der erneuerbaren Energien an
der Stromerzeugung beträgt in Nordrhein-Westfalen um
die 6 Prozent. In der übrigen Bundesrepublik sind es fast
20 Prozent. Hier liegt der Anteil erneuerbarer Energie
also mehr als dreimal so hoch wie in Nordrhein-Westfa-
len. Das hat mit dem Vorrang der Kohle und der Politik
dieser schwarz-gelben Regierung zu tun.

Sie sind vor fünf Jahren mit einem Wettlauf gegen die
erneuerbaren Energien gestartet. Damals hat Bauminis-
ter Wittke gegen die Windkraft verkündet: „Das ist das
Erste, was wir kaputtmachen werden.“ Sein Kollege
Papke, Fraktionsvorsitzender der FDP





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)


(Ulrike Flach [FDP]: Waren die im Landtag, oder wo sind die politisch tätig?)


– ja –, hat gesagt, Windkraftanlagen in Nordrhein-
Westfalen hätten keinerlei energiepolitischen Wert.

Wenn wir in Nordrhein-Westfalen, Frau Flach, nicht
endlich die entsprechenden Maßnahmen für den Klima-
schutz und den Ausbau der erneuerbaren Energien tref-
fen, dann werden wir unsere Klimaziele hier in Deutsch-
land nicht erreichen. Das ist der Zusammenhang mit der
Politik im Bund.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Widerspruch des Abg. Franz Obermeier [CDU/CSU])


Was sollen eigentlich die Länder China, Indien und
Südafrika denken, denen wir ihre geplanten Kohlekraft-
werke vorwerfen, wenn die Bundesregierung eine Kli-
maschutzkonferenz in Nordrhein-Westfalen veranstal-
tet, das als Bundesland ein so schlechtes Beispiel gibt?
Deshalb sage ich: Eine Politik wie die, die Rüttgers
macht, zerrüttet die Glaubwürdigkeit der Klimadiploma-
tie Deutschlands, des Bundesumweltministers und der
Kanzlerin. Wie sollen sie denn am Ende glaubhaft ver-
treten, dass sie für Klimaschutz sind, wenn sie gleichzei-
tig das durchgehen lassen, was Rüttgers in Nordrhein-
Westfalen macht? Deshalb muss sich das ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Wahrheit ist: Wir haben in Nordrhein-Westfalen
fünf Jahre für den Ausbau erneuerbarer Energien und für
Maßnahmen für den Klimaschutz verloren. Deshalb
müssen wir Rüttgers stoppen. Die Bundesregierung
muss dieses Tun von Rüttgers stoppen. Wir werden un-
ser Bestes dafür tun, dass der Klimaschutz in Nordrhein-
Westfalen wieder an Fahrt gewinnt. Dafür werden wir
am Sonntag sorgen. Wir werden Rüttgers die Quittung
geben, die er verdient hat.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Kauch [FDP]: Dann kommt der Feldhamster wieder!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704004200

Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1704004300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Die zur heutigen Beratung anstehenden Anträge las-
sen eigentlich vermuten, dass wir uns im Kern mit einem
Klimaschutzgesetz auseinanderzusetzen haben. Dem ist
jedoch nicht so, wie Sie gerade erlebt haben; denn der
Entwurf der Grünen zu einem Klimaschutzgesetz steht
heute nicht auf der Tagesordnung, dafür aber sozusagen
ein Ergänzungsantrag mit dem Titel „Gleichklang von
Bund und Ländern beim Klimaschutz sicherstellen“, der
nichts anderes zum Ziel hat, als dem Landtagswahl-
kampf in Nordrhein-Westfalen eine Plattform im Deut-
schen Bundestag zu verschaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das Ziel dieses Antrags ist nichts anderes, als die Arbeit
der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-
Westfalen im Bereich Klima- und Energiepolitik
schlechtzureden.


(Frank Schwabe [SPD]: Die der Bundesregierung auch!)


Meine Damen und Herren von den Grünen, ich habe
ja Verständnis dafür, dass Sie jedes Mittel nutzen wollen,
um in NRW noch ein paar Stimmen dazuzugewinnen.
Ich verstehe allerdings nicht, dass Sie sich so wenig da-
für anstrengen. Die Wähler werden nicht auf diesen
oberflächlichen und fachlich falschen Antragsklamauk
hereinfallen. Besonders deutlich wird das Schnellstrick-
muster des Antrags da, wo Anregungen für die deutsche
Position auf der Klimakonferenz in Bonn gegeben wer-
den sollen. Wie wir wissen, war die Konferenz bereits
am vergangenen Wochenende.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nein, bis Ende dieses Monats, Frau Kollegin!)


Selbst bei diesem Detail läuft der Antrag wegen augen-
scheinlicher Qualitätsmängel ins Leere.


(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP] – Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!)


Meine Damen und Herren von den Grünen, die Bür-
ger in NRW wissen sehr genau, was Schwarz-Gelb in
NRW geleistet hat.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bürger wissen sehr genau, dass sie sich auf die Bun-
desregierung und insbesondere die Bundeskanzlerin
auch in der Klimapolitik verlassen können.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum streiten Sie sich überhaupt? Sie wollen doch mit den Grünen regieren!)


Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Klimaphrasen wer-
den Ihnen im Wahlkampf nicht helfen. Klimaschutz ist
und bleibt Zentrum unserer Politik – im Bund genauso
wie in NRW.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dafür stehen Angela Merkel und Jürgen Rüttgers, und
zwar in einem engen Schulterschluss.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mit den Grünen!)


Der von Ihnen geforderte Gleichklang ist längst vorhan-
den. Er ist die Voraussetzung für die Erfolge,


(Ulrich Kelber [SPD]: Emissionshandel!)






Marie-Luise Dött


(A) (C)



(D)(B)

die wir im Klimaschutz bereits erreicht haben. Das ist
deutlich mehr, als rot-grüne Regierungen, egal ob im
Bund oder in den Ländern, Frau Höhn, aus ihren Regie-
rungszeiten vorzuweisen haben. Die ständigen Forde-
rungen aus dem grünen Lager nach neuen Klimazielen
zeigen, dass es dort noch immer nicht gelingt, die klaf-
fende Lücke zwischen ideologischem Anspruchsdenken
und tatsächlich Machbarem zu überbrücken.


(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP] – Ulrich Kelber [SPD]: Das war jetzt ein harter Treffer!)


Fakt ist: Es gab einmal das nationale Klimaschutzziel,
die CO2-Emissionen – das steht im Antrag der Linken –


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!)


um 25 Prozent bis 2005 zu reduzieren. Dieses Ziel
wurde von den Grünen zunächst als zu wenig ambitio-
niert kritisiert und anschließend vom grünen Umweltmi-
nister Trittin wegen Unerreichbarkeit klammheimlich
unter den Tisch fallen gelassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Fakt ist: Trotz miserabler Konjunktur ist es in den sie-
ben Jahren grüner Politik nicht gelungen, die CO2-Emis-
sionen in Deutschland nennenswert weiter zu senken
oder zu stabilisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist total falsch!)


Sie besetzen das Thema Klimaschutz immer mit heh-
ren Worten. Wir setzen Klimaschutz mit konkreten Maß-
nahmen in der Praxis um.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, gern gehe ich als Abge-
ordnete aus NRW auf das landespolitische Kernthema
des Antrags ein,


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Machen Sie etwa Wahlkampf? Sie wollten doch keinen Wahlkampf machen!)


nämlich die Kritik an den Änderungen des Landesent-
wicklungsprogramms und des Landesentwicklungs-
plans.

Zunächst einmal finde ich es schon ziemlich unver-
froren, die Änderungen am Landesentwicklungsplan
zu kritisieren und gleichzeitig einen stärkeren Ausbau
der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopp-
lung in NRW zu fordern.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum das denn?)


Meine Damen und Herren von den Grünen, haben Sie
sich überhaupt einmal mit dem Landesentwicklungsplan
befasst?


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau diese zwei Aspekte, nämlich der stärkere Ausbau
der Erneuerbaren und der Kraft-Wärme-Kopplung, sind
wesentliche Inhalte des neuen Landesentwicklungs-
plans.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb haben Sie das gestrichen?)


Mit den Änderungen wird für die räumliche Umsetzung
der Energie- und Klimaschutzstrategie des Landes ge-
sorgt. Es wird der räumliche Rahmen für den Ausbau er-
neuerbarer Energien und für die Kraft-Wärme-Kopplung
gesetzt. Diesen Zielen und Maßnahmen sollten Sie ei-
gentlich zustimmen, statt sie zu kritisieren.

Natürlich geht es bei den Änderungen am Landesent-
wicklungsplan auch um die Kraftwerkserneuerung, und
zwar deshalb, weil insbesondere ein Industrieland wie
Nordrhein-Westfalen auf einen umweltverträglichen, si-
cheren und bezahlbaren Energiemix angewiesen ist. Eine
Voraussetzung dafür sind Kraftwerke. Beim Ausbau ei-
nes solchen Energiemixes zeigt sich ökologische, wirt-
schaftliche und soziale Verantwortung von Politik. Ge-
rade bei den Forderungen in Ihrem Antrag, meine
Damen und Herren von den Grünen, zeigt sich, dass Ihre
Politik zumindest auf zwei Augen blind ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf mindestens zwei Augen!)


Soziale Verantwortung für vertretbare Energiepreise? –
Fehlanzeige. Verantwortung für den Wirtschaftsstandort
und für Arbeitsplätze? – Fehlanzeige. Mit Ihrer Politik
des ökologischen Tunnelblicks sind Sie im Bund ge-
scheitert. Sie werden auch in NRW scheitern.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So sieht es nicht aus!)


Der Gleichklang der Energiepolitik von Bund und
NRW ist gesichert. Er besteht nicht nur in der Kompati-
bilität der Ziele, sondern gerade darin, dass sich unsere
gemeinsame Energiepolitik nicht auf das Klimaziel al-
lein beschränkt. Unsere gemeinsame Energiepolitik
schafft nachhaltige Versorgungssicherheit,


(Ulrich Kelber [SPD]: Für RWE-Aktionäre!)


und sie sichert langfristig günstige Energiepreise.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu brauchen wir einen breiten Energiemix, und dazu
brauchen wir bis auf Weiteres auch moderne, hocheffi-
ziente Kohlekraftwerke. Jeder weiß, dass selbst dann,
wenn wir unser sehr anspruchsvolles Ziel, im Jahr 2020
30 Prozent unseres Stroms aus Erneuerbaren zu erzeu-
gen, erreichen, immer noch 70 Prozent des verbleiben-
den Strombedarfs aus anderen Quellen kommen müssen.
Wer heute die Kohleverstromung in hochmodernen
Kraftwerken blockiert, der handelt umwelt-, wirtschafts-
und sozialpolitisch unverantwortlich.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eben falsch!)


Meine Damen und Herren, ja, mit den Änderungen am
Landesentwicklungsplan werden auch die Grundlagen
für die Kraftwerkserneuerung in NRW gelegt. Gerade





Marie-Luise Dött


(A) (C)



(D)(B)

das ist für einen erfolgreichen Klimaschutz notwendig;
denn das CO2-Reduktionspotenzial des Kraftwerkserneu-
erungsprogramms ist enorm. Das Kraftwerkserneuerungs-
programm NRW hat ein Minderungspotenzial bis 2020 von
30 Millionen Tonnen. Das sind mehr als 10 Prozent des
Gesamtausstoßes in NRW.

Das sind die Ziele, die mit der Änderung des Landes-
entwicklungsplans gesetzt werden. Zum Erreichen die-
ser Ziele brauchen wir genau solche Kraftwerke wie das,
was in Datteln entstehen wird;


(Frank Schwabe [SPD]: Das sieht die CDU in Datteln aber anders!)


denn Datteln ist Teil des Kraftwerkserneuerungspro-
gramms. Hier werden drei alte Blöcke mit einem Wir-
kungsgrad von rund 30 Prozent abgeschaltet und durch
das neue hochmoderne Kraftwerk mit einem Wirkungs-
grad von über 45 Prozent ersetzt. Datteln wird zudem
durch Abwärmenutzung einen noch höheren Nutzungs-
grad haben. Allein bei diesem Kraftwerk besteht ein
Schadstoffreduktionspotenzial von 20 Prozent.

Die Nutzung dieser modernen Kraftwerke ermöglicht
es uns, die alten ineffizienten und CO2-intensiven Kraft-
werke vom Netz zu nehmen.

Damit ist Datteln ein wichtiger Baustein nicht nur für
die energetische Basis des Industrielandes Nordrhein-
Westfalen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut Eon ja nicht einmal!)


sondern auch für das Erreichen des Klimaschutzziels
von NRW, nämlich den CO2-Ausstoß bis 2020 um
33 Prozent zu senken.


(Frank Schwabe [SPD]: Ich dachte, Sie wollen 40 Prozent!)


Dies ist ein sehr ambitioniertes Ziel für ein Industrie-
land; dieses ist aber wiederum ein wichtiger Baustein für
das Erreichen unseres nationalen Klimaziels.


(Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Damit Klimaschutz nicht nur auf dem Papier steht,
Frau Höhn, brauchen wir zur Umsetzung die erforderli-
chen Instrumente und Pläne. Genau deshalb ist der Lan-
desentwicklungsplan geändert worden. Genau deshalb
wurden darin auch die Grundlagen für das Kraftwerk
Datteln geschaffen: für eine konsistente und verlässliche
Klima- und Energiepolitik in NRW als Element für das
Erreichen unseres nationalen Klimaziels. Ich sage als
nordrhein-westfälische Abgeordnete ganz selbstbewusst:
Was für Nordrhein-Westfalen umweltpolitisch und wirt-
schaftlich gut ist, ist auch für den Bund gut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Und Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik in Nord-
rhein-Westfalen sind gut.
Wie nicht anders zu erwarten, ist im Antrag der Grü-
nen auch wieder die Forderung nach einem Klima-
schutzgesetz enthalten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! – Ute Kumpf [SPD]: Was ist denn dazu zu sagen?)


Auch die SPD hat sich inzwischen dieser Forderung an-
geschlossen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Andersherum! Frau Dött, keine Unterstellungen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wir waren zuerst! Sie können das an den Drucksachen sehen!)


– Wenn es andersherum ist, ist es auch egal. – Meine Da-
men und Herren, wollen Sie wirklich die endlosen, un-
säglichen und noch dazu völlig überflüssigen Debatten
um ein Klimaschutzgesetz, wie wir es gerade unter Rot-
Rot in Berlin erleben, auf der Ebene des Bundes führen?
Wollen Sie Debatten zu einem Gesetz, das am Ende ge-
nauso inhaltsleer ist wie das, was gerade in Berlin im in-
zwischen dritten Entwurf verhandelt wird?


(Frank Schwabe [SPD]: Das ist spannend! Lässt der Minister das vielleicht gerade prüfen?)


Oder bleiben Sie, meine Damen und Herren von der
SPD, bei dem in Meseberg mit dem Integrierten Energie-
und Klimaprogramm vereinbarten Vorgehen, einem Vor-
gehen mit weniger Absichtserklärungen, dafür aber mit
konkreten Maßnahmen, bei denen wir sehr genau vorge-
geben haben, in welchem Umfang jede dieser Maßnah-
men zur CO2-Minderung beizutragen hat?

Wir brauchen kein Klimaschutzgesetz.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen den Klimaschutz auch so kaputt!)


Wir werden das in Meseberg beschlossene Energie- und
Klimaprogramm weiter planmäßig und zügig umsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir werden eine Evaluierung und gegebenenfalls auch
eine Nachjustierung der Meseberg-Beschlüsse vorneh-
men, womit sichergestellt wird, dass wir unsere ambitio-
nierten Klimaziele erreichen.

Meine Damen und Herren, das energie- und klima-
politische Programm dieser Regierung ist Garant dafür,
dass Deutschland seine Klimaziele erreichen wird und
auch in Zukunft beim Klimaschutz internationaler
Schrittmacher bleibt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Rezessionsgewinnlerin!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704004400

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1704004500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Dött, es tut mir ganz schrecklich leid: Sie haben
nicht verstanden, was Kern eines Klimaschutzgesetzes
ist.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das hat mit einzelnen Maßnahmen gar nichts zu tun,
sondern es handelt sich um eine Zielbeschreibung, und
es geht um die Frage, wie man das Erreichen dieser Ziele
überprüft. Bis jetzt gibt es dazu kein vernünftiges Instru-
mentarium in Deutschland. Deswegen brauchen wir ein
Klimaschutzgesetz analog zu dem, was beispielsweise in
Großbritannien gilt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir stimmen heute über einen Antrag der Grünen ab,
dem wir als Sozialdemokraten im Prinzip zustimmen
können. Wir werden uns dennoch enthalten, weil er ab-
lehnende Passagen zum Thema Kohle enthält.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ah!)


– Ja! – Denn man muss schon die Frage beantworten,
wie man den Übergang gestalten will. Wir wollen ge-
meinsam heraus aus der Atomenergie. Dafür braucht
man aber Übergangstechnologien. Das ist aus unserer
Sicht die Kohle.

Ich will aber gleich hinzufügen: Natürlich kann man
darüber streiten, ob neugebaute Kraftwerke letztendlich
zu Museen für das untergegangene fossile Zeitalter wer-
den. Aber darum geht es im Kern nicht. Es geht vielmehr
darum, ob zusätzlich zu den Kraftwerken, die schon im
Bau sind, zukünftig noch weitere Kraftwerke gebaut
werden. Ich gehe zurzeit davon aus, dass es aufgrund des
Emissionshandels und anderer Rahmenbedingungen zu-
künftig keinen Neubau weiterer Kraftwerke in Deutsch-
land gibt. Das ist meine Erwartung.

Jawohl, diese Debatte hier ist Teil einer Wahlkampf-
auseinandersetzung, Frau Dött; das finde ich aber auch
gar nicht schlimm. Ich glaube, es ist wichtig, dass die
Menschen wissen, worum es in diesem Land eigentlich
geht, und es ist notwendig, dass man die Menschen auf-
klärt, damit sie nicht dem auf den Leim gehen, was man-
che in der Bundesregierung an schönen Worten von sich
geben. Herr Röttgen zum Beispiel hält hier schöne Re-
den, hat aber am Ende keine Substanz zu bieten. So ist ja
die Aufteilung in dieser Bundesregierung und in Ihrer
Koalition: Herr Röttgen macht den Philosophen und
Schönredner, und Ihre Fraktion und der Finanzminister
sagen dann, wo es langgeht.

Exemplarisch dafür steht Ihr Kollege Herr Fuchs. Ich
glaube, er ist im Moment gar nicht da. Wo ist er? Er wird
gleich oder vielleicht beim EEG sicher noch seinen Auf-
tritt haben. Herr Fuchs hat im Februar gesprochen von
Subventionsgräbern, womit er die Solarenergie meinte,
und von Vogelschredderanlagen, womit er die Wind-
energie meinte. Das ist anscheinend die Sichtweise Ihrer
Regierungsfraktion.
Ich weiß nicht, ob Herr Fuchs gut geschlafen hat oder
ob er Albträume hatte nach dem, was der Wissenschaftli-
che Beirat der Bundesregierung – nicht des Parlaments,
sondern der Bundesregierung – gestern auf den Tisch ge-
legt hat; man kann es heute überall nachlesen. Ich
glaube, Sie sollten Herrn Fuchs die Rede wegnehmen,
die er hier gleich möglicherweise halten will.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Kommen Sie zur Sache!)


Die Bundesregierung legt im Herbst – nach einem
Jahr Regierungsverantwortung – ein Energiekonzept
vor und veranstaltet in der Zwischenzeit nette Konferen-
zen auf dem Petersberg. Frau Dött, es gibt in diesem Jahr
zwei Konferenzen in Bonn.


(Zuruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


– Ja, gut; dann dürfen Sie den Grünen aber nicht unter-
stellen, dass sie falsche Dinge in ihren Antrag schreiben.
Was in dem Antrag steht, ist genau richtig. Es gab gerade
den Petersberger Klimadialog, und es wird die verein-
barte Zwischenkonferenz in Bonn geben.

Die Intention dieser Petersberger Konferenz finde
ich im Übrigen richtig. Aber es bringt alles nichts, wenn
Sie gleichzeitig den Ruf Deutschlands in der internatio-
nalen Klimapolitik ruinieren und die nationale Klima-
schutzpolitik kaputt machen.

Das ganze Elend der Debatte wird deutlich am heuti-
gen Tag. Wir haben heute nicht nur die Debatte zum Kli-
maschutz, sondern auch die Debatte zum Erneuerbare-
Energien-Gesetz und die Debatte zur Atomenergie, bei
der Sie keine Brücke bauen, wie man heute in der Zei-
tung lesen konnte, sondern eine Krücke für RWE und
Co. Sie betreiben gnadenlosen Lobbyismus bar jeder Lo-
gik, die nur einen positiven Effekt hat, nämlich das
Konto von Herrn Großmann und anderen in diesem
Land zu füllen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich lese Ihnen einmal ein Zitat vor, und Sie dürfen ra-
ten, wer mir das geschrieben hat:

Wir sind in Sorge um unsere Unternehmen und die
damit verbundenen Arbeitsplätze. In den letzten
Jahren haben wir im Vertrauen auf die Verlässlich-
keit der Politik und der Festlegung auf eine Klima-
schutzpolitik unsere Kapazitäten ausgebaut. Diese
Verlässlichkeit ist jetzt in Gefahr.

Wer war es? Das ist ein Brief der Innung für Sanitär- und
Heizungstechnik Castrop-Rauxel/Herne/Wanne-Eickel;
das betrifft die Wahlkreise von Gerd Bollmann und mir.
Im Übrigen waren die Sozialdemokraten die Einzigen,
die auf diesen Brief reagiert haben, wie mir gesagt
wurde. Das sind doch vermeintlich diejenigen, für die
Sie Politik machen wollen! Das sind diejenigen, die im
Bereich von Mittelstand und Handwerk unterwegs sind
und denen Sie gerade die wirtschaftliche Basis entzie-
hen, indem Sie es fertigbringen, gleichzeitig die Mittel





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

des Marktanreizprogramms zu sperren und mit dem
EEG die Solarbranche in diesem Land zu demontieren.
Diese Innung vertritt fast 50 Unternehmen in unseren
beiden Wahlkreisen, und diese Unternehmen sind in gro-
ßer Sorge ob Ihrer Politik, ob der Politik von Schwarz-
Grün in diesem Land. – Entschuldigung, von Schwarz-
Gelb!


(Heiterkeit)


Ich hoffe, das war kein Vorgriff auf das, was am Sonntag
bei der Wahl herauskommt.


(Zurufe von der LINKEN: Doch!)


Ich jedenfalls habe andere Ziele.

Die Politik von Schwarz-Gelb gefährdet alleine im
Kreis Recklinghausen Hunderte von Arbeitsplätzen. Sie
sperren 115 Millionen Euro für die Zukunftsbranche, die
100 000 Arbeitsplätze in diesem Land schafft. Gleich-
zeitig geben Sie den Hoteliers Subventionen in Höhe
von 1 Milliarde Euro im Jahr. Wer ist für diesen Abge-
sang auf eine zukunftsfähige Klima-, Arbeitsmarkt-
und Innovationspolitik in diesem Land verantwortlich?
Das ist die Politik von Schwarz-Gelb im Bund und auch
in Düsseldorf.

Sie treffen die Menschen und die Unternehmen im
Ruhrgebiet im Übrigen gleich mehrfach: Sie ruinieren
die Zukunft der heimischen Steinkohle – das betrifft al-
lein 30 000 Arbeitsplätze im Ruhrgebiet –, Sie sparen
die Kommunen kaputt, machen sie handlungsunfähig
und auch unfähig, Aufträge zu vergeben, und jetzt
kommt noch Ihre Abbaupolitik im Bereich der Solar-
energie und des Marktanreizprogramms hinzu, wo-
durch Sie weitere Hunderttausende Arbeitsplätze gefähr-
den. Daran ist nichts zukunftsfähig. Ihnen fehlt die
Vision. Ihnen fehlt eine Idee davon, wohin es eigentlich
gehen soll in diesem Land. Wenn man keine Idee hat,
wohin es gehen soll, dann verfängt man sich in Kurz-
fristlobbyismus, und was Sie damit anrichten, kann man
in der Tat – darüber weiß ich einiges, denn daher komme
ich – komprimiert in Nordrhein-Westfalen sehen.

Eines muss man Ihnen allerdings lassen: Sie sind eine
Koalition des perfekten Timings. Mit großer Zielgenauig-
keit laufen Sie wirklich in jeden Kuhfladen, den das in-
ternationale Parkett der Klimapolitik bereithält: ob es
Herr Niebel ist, der kurz vor Kopenhagen die Mittel der
Entwicklungszusammenarbeit mit den Klimaschutzgel-
dern verrechnet,


(Michael Kauch [FDP]: Das stimmt ja gar nicht!)


ob es jetzt eine Sperrung von 115 Millionen Euro im Be-
reich des Marktanreizprogramms parallel zum Petersber-
ger Klimadialog ist oder eben die Politik Nordrhein-
Westfalens parallel zur Klimakonferenz in Kopenhagen.

Nordrhein-Westfalen steht dafür, Gesetze gegen die
erneuerbaren Energien erlassen zu haben, zum Beispiel
im Bereich der Windenergie. Nordrhein-Westfalen steht
dafür, dass es im Bereich des Emissionshandels durch
besondere Regelungen für die Braunkohle handlungsun-
fähig gemacht werden sollte, und Nordrhein-Westfalen
steht dafür, dass es eine schlampige und arrogante Pla-
nung von Eon, aber eben auch der Bezirksregierung gibt.
Deswegen haben wir die Probleme in Datteln. Das ist
das Problem dieser Landesregierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt wird ein untauglicher Versuch gestartet, das
Ganze dadurch zu reparieren, dass der gesamte Klima-
schutz und die gesamte Vorrangstellung für erneuerbare
Energien aus dem Landesentwicklungsprogramm gestri-
chen werden. Deswegen brauchen wir am Sonntag bei
der Landtagswahl eine andere Mehrheit, eine rot-grüne
Mehrheit, eine Mehrheit, die für erneuerbare Energien
eintritt und die im Übrigen auch über den Bundesrat da-
gegen kämpft, dass die Atomkraftwerke hier in Deutsch-
land länger laufen, und zwar bis zum Jahre 2050. Das
geht nur mit Rot-Grün, und deswegen ist die Wahl am
Sonntag so wichtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch einige Sätze zur internationalen
Situation sagen. Auch jetzt konnte man wieder lesen:
Herr Röttgen läuft herum – ich fasse es gar nicht mehr –
und sagt, er sei auch dafür, dass wir in der Europäischen
Union die Zielvorgaben von 20 auf 30 Prozent verschär-
fen. Aber immer dann, wenn es konkret wird, wenn die
Bundesregierung Farbe bekennen soll, dann ist die Bun-
desregierung dagegen. Das ist die Politik von Herrn
Röttgen, etwas anzukündigen, wobei aber am Ende
nichts umgesetzt wird. Damit verspielen Sie Vertrauen.

Sie laufen in Petersberg herum und wollen bei Ent-
wicklungsländern Vertrauen schaffen, reden mit denen,
aber schaffen es gleichzeitig in den Haushaltsberatungen
nicht, das ihnen in Kopenhagen versprochene neue und
zusätzliche Geld für den internationalen Klimaschutz,
420 Millionen Euro pro Jahr, zur Verfügung zu stellen.
Sie haben am Ende nur 70 Millionen Euro neues Geld,
und zwar auf Druck der Opposition, zur Verfügung ge-
stellt. Da, wo ich herkomme, nennt man das eine glatte
Lüge: Wenn man 420 Millionen verspricht und am Ende
nur 70 Millionen auf den Tisch legt, ist das eine Lüge,
und das ist das Gegenteil von vertrauensbildenden Maß-
nahmen auf internationaler Ebene, wie wir sie jetzt brau-
chen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ja wohl klar!)


Abschließend: Sie sind international nicht ambitio-
niert und halten Ihre Versprechen nicht; das ist so. Natio-
nal minimieren und ruinieren Sie die Klimaschutzpolitik
in diesem Land. Sie rasieren die Solarbranche und das
Handwerk, lobhudeln aber die Atomwirtschaft. In Nord-
rhein-Westfalen streichen Sie den Klimaschutz und die
erneuerbaren Energien aus der Landesplanung. Mit
Schwarz-Gelb ist keine zukunftsfähige Klimaschutzpoli-
tik möglich, nicht hier im Bund und nicht im Land.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe den Eindruck, dass Ihr Bundesumweltminis-
ter nach einem guten halben Jahr bereits nackt im Wind
steht und Sie ihn in den nächsten Monaten weiter ver-
hungern lassen werden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704004600

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1704004700

Meine Damen und Herren, das, was wir jetzt erleben,

ist das billigste Wahlkampftheater, das ich hier seit lan-
gem erlebt habe. Wenn der Kollege Schwabe sagt, um
seine Ziele zu erreichen, müsste man jetzt in NRW Rot-
Grün wählen, ist das doch nichts anderes als Volksver-
dummung. Sie wissen: Ihre Mehrheit heißt Rot-Rot-
Grün, und da sind die schlimmsten Kommunisten der
Linken dabei.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die früheren DKP-Kader sind ja noch demokratisch im
Gegensatz zu dem, was dort auf der Liste der Linken
steht. Das ist die Wahrheit, um die es hier auch geht,
meine Damen und Herren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie brüllen genauso laut wie Demagogen! – Zurufe von der LINKEN)


Wenn Sie behaupten, wir wollten Herrn Großmann
von RWE die Taschen vollmachen, dann stelle ich die
Gegenfrage: Wer sind denn in den letzten Jahren die Ge-
nossen der Bosse gewesen? Das waren die Sozialdemo-
kraten, die übrigens den Aufsichtsrat von RWE dominie-
ren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir brauchen also keine Nachhilfe im Klimaschutz.
Die FDP engagiert sich für den Klimaschutz. Der Au-
ßenminister hat in Petersberg klarer als jemals ein Au-
ßenminister zuvor die Brücke zwischen Klimaschutz
und Sicherheitspolitik geschlagen. Das 2-Grad-Ziel – der
Vizekanzler hat es noch einmal unterstrichen – und die
internationalen Klimaschutzmaßnahmen sind die Leitli-
nie dieser Bundesregierung. Da wird nichts verrechnet.
In den letzten Haushalt haben wir 70 Millionen Euro
mehr für Klimaschutz in Entwicklungsländern einge-
stellt. Das ist die Wahrheit, lieber Kollege Schwabe.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Nennen Sie einmal mehr als zwei Sozialdemokraten im Aufsichtsrat von RWE! Fakten!)


Sie greifen hier vor und sprechen über die Solar-
stromförderung; das ist einer der nächsten Tagesord-
nungspunkte. Es wundert mich natürlich nicht,

(Ulrich Kelber [SPD]: Fakten vermeiden Sie wieder!)


dass die Grünen da keinen Kürzungsbedarf sehen. Das
ist ja auch nicht notwendig, wenn man eine Wähler-
schaft hat, die hauptsächlich aus Besserverdienenden be-
steht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben die am besten verdienende Wählerschaft aller
Parteien. Diese muss sich auch keine Gedanken über die
Stromrechnung machen.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen Traumrenditen für Anleger und für Hausbe-
sitzer garantieren, was dann auf Kosten der Familien mit
vielen Kindern ausgebadet wird.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Populismus!)


Da machen wir nicht mit, Frau Höhn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Höhn, wir wollen die Solarenergie ausbauen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zum Marktanreizprogramm!)


Wir wollen mehr Fotovoltaik. Deshalb erweitern wir auf
Grundlage des Gesetzentwurfes, den wir heute Nachmit-
tag verabschieden werden, den Ausbaukorridor für Foto-
voltaik um mehr als die Hälfte im Vergleich zu dem, was
der SPD-Umweltminister Gabriel vorgesehen hatte.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist Quatsch!)


Aber wir wollen nur so viel dafür zahlen, wie die Anla-
gen auch kosten. Zweistellige Renditen sind nicht okay.
Wenn die Modulpreise in wenigen Jahren dramatisch
sinken, die Förderung aber nicht so stark, dann muss
man nachsteuern. Das sind wir den Bürgerinnen und
Bürgern schuldig.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 100 Prozent Rendite für die Großen!)


Deshalb sagen wir: Das ist ein fairer Ausgleich bei der
Solarstromförderung. Wir werden die Wettbewerbsfä-
higkeit der Solartechnik erhalten und gleichzeitig die
Verbraucher entlasten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und was machen Sie mit den AKWs?)


Die Bundesregierung hat am Montag zusätzlich ein
Innovationsprogramm über 100 Millionen Euro für die
Solarbranche auf den Weg gebracht. Das Programm
nützt – anders als das EEG – nicht auch den chinesi-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

schen, sondern nur den deutschen Anbietern. Das ist eine
Stärkung unseres Standortes.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Beim Marktanreizprogramm haben wir ein Pro-
blem. Aber ich möchte darauf hinweisen – da wundert
mich, wie die SPD hier auftritt –, dass es der SPD-Um-
weltminister Gabriel – er ist jetzt ihr Vorsitzender – war,
der das Programm an die Emissionshandelserlöse gekop-
pelt hat


(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!)


mit dem bewussten Risiko, dass diese Erlöse auch ein-
mal niedriger sein können.


(Frank Schwabe [SPD]: Warum sind die denn niedriger? Sie machen die doch niedriger!)


Jetzt sind die Erlöse offensichtlich niedriger. Wir als
FDP wollen die Sperre der Mittel für das Marktanreiz-
programm aufheben,


(Frank Schwabe [SPD]: Aha! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie es doch!)


aber wir wollen auch, dass es seriös finanziert wird. Wir,
die Umweltpolitiker der FDP, haben einen Finanzie-
rungsvorschlag gemacht, der von unseren Haushältern
akzeptiert wird. Das Gleiche erwarten wir jetzt vom
Bundesumweltministerium; das müsste jetzt seine Haus-
aufgaben machen.


(Frank Schwabe [SPD]: Machen die nicht!)


Man kann nicht nur sagen, dass man mehr Geld braucht,
sondern man muss auch sagen, wo es herkommen soll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Aus der Hotelbranche!)


Mich wundert auch, dass es bei der SPD Beifall für
die Aussage von Frau Höhn gab, dass wir mit der Um-
setzung der Energieeffizienzrichtlinie der EU zwei Jahre
überfällig sind. Damit hat sie recht. Aber wer hat es ver-
bockt? Herr Gabriel. Er hat es nicht auf die Reihe be-
kommen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir räumen jetzt Ihren Müll auf und werden die notwen-
digen Schritte machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Opposition sollte aufhören, hier zu argumentie-
ren, wir seien nicht genug für Klimaschutz. Wir sind
vielleicht nicht für Ihre ordnungsrechtlich dirigistische
Art von Klimaschutz, aber wir machen Klimaschutz, und
zwar anders und besser. Denn wir machen ihn mit wirt-
schaftlichem Verstand.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürokratie gegen die Windkraft! Das macht die FDP!)


Wir wollen für jeden Euro so viel Klimaschutz wie mög-
lich. Deshalb machen wir Klimaschutz mit dem Kopf
und nicht mit dem Bauch, auch wenn es vielleicht nicht
so populär klingt wie bei Ihnen, Frau Höhn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme zu dem, was hier zu den Kohlekraftwer-
ken gesagt wurde. Das, was Sie hier abliefern, ist ja ein
Antrag zu Datteln und nicht zur Schaffung eines Klima-
schutzgesetzes.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah! Das haben Sie erkannt!)


Die FDP will langfristig Strom zu 100 Prozent aus er-
neuerbaren Energien, aber wir werden das nicht von
heute auf morgen schaffen. Denn das, was Frau Dött ge-
sagt hat, ist richtig: Wir sind ein Industrieland. Daher
brauchen wir eine preisgünstige und verlässliche Versor-
gung.

Trotz aller Freude, die ich an den Erneuerbaren habe,
muss ich feststellen, dass wir es heute mit Wind und
Sonne alleine nicht schaffen. Wenn man jetzt die Kohle-
kraftwerke verbieten will – das wollen Sie ja erst für den
Neubau und, wie wir aus einem anderen Antrag von Ih-
nen wissen, ab 2015 de facto auch für den Bestand –,
dann ist das nichts anderes als ein Anschlag – –


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn! Stimmt doch nicht!)


– Natürlich! Ein Wirkungsgrad von 58 Prozent, den Sie
fordern, kommt doch einem Verbot gleich. Sagen Sie
doch den Leuten, was Sie wollen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das wollen wir nicht!)


und führen Sie sie nicht hinter die Fichte! Es ist doch un-
redlich, was Sie hier betreiben!


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Mein Gott! Haben Sie Angst, dass Sie so rumbrüllen müssen?!)


Meine Damen und Herren, wer den Neubau und den
Bestand von Kohlekraftwerken so angreift, wie es die
Grünen tun, der will den Industriestandort Nordrhein-
Westfalen niedermachen


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen ihn nieder!)


und der wird bewirken, dass die Kohlekraftwerke, die
wir heute haben, am Netz bleiben. Dann sind Sie dafür
verantwortlich, dass wir in diesem Land mit den Dreck-
schleudern weitermachen und nicht mit modernen Kraft-
werken, wie es die Landesregierung von Nordrhein-
Westfalen will.


(Beifall bei der FDP)






Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen will
mit ihrem Kraftwerkserneuerungsprogramm die CO2-
Emissionen drastisch senken. Wenn Sie das nicht wol-
len, dann sind Sie keine Klimaschutzpartei, sondern eine
Partei, die aus ideologischen Gründen versucht, ihre In-
teressen für einen kurzfristigen Erfolg bei der Wahl
durchzusetzen. Wenn die Grünen am Sonntag in die Re-
gierung kommen – Herr Schwabe ist sich ja offensicht-
lich nicht so sicher, mit wem –, dann muss man sich da-
rüber im Klaren sein,


(Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind nur sicher, dass Sie nicht mehr drin sind!)


dass die Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen so umge-
staltet wird, dass es die von Ihnen genannten Klimakiller
länger geben wird. Es wird nicht zu einem Abschalten
kommen – das werden Sie nicht durchbekommen –, aber
Sie werden den Neubau verhindern, und dann bleibt
mehr CO2 aus den Kohlekraftwerken.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben Windkraftanlagen verhindert!)


Das ist Ihr Plan. Das wird bei einer grünen Regierung
rauskommen.


(Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind nervös!)


Ihre Argumente sind schwach. Die Kohlekraftwerke
verstopfen nicht das Netz. Wir stehen für den unbegrenz-
ten Einspeisevorrang für erneuerbare Energien. Kohle-
kraftwerke konkurrieren dann nicht mit Erneuerbaren,
sondern mit der Kernkraft. Dann wird der Markt ent-
scheiden, welche Technologien neben den erneuerbaren
Energien noch im Markt bleiben.


(Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr AKWs, weniger Erneuerbare, das wollen Sie in NRW!)


Liebe Frau Höhn, auch Ihre Aussage zu den Quoten
von Erneuerbaren in dem einen oder anderen Bundes-
land ist Quatsch;


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht! Das ist Ihre Politik!)


denn: Es gibt Bundesländer, wo der Wind weht, zum
Beispiel an der Küste. Es gibt Bundesländer, wo der
Raps wächst, zum Beispiel in Niedersachsen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und es gibt Kohlekraftwerke, das ist in Nordrhein-Westfalen!)


Und es gibt Bundesländer, wo die Sonne mehr scheint,
zum Beispiel in Bayern. Es ist völliger Quatsch, die
Bundesländer miteinander zu vergleichen, denn sie ha-
ben unterschiedliche Voraussetzungen.


(Beifall bei der FDP)


Auch die Mitgliedstaaten in Europa haben unterschiedli-
che Vorgaben für die Erneuerbaren, weil die natürlichen
Voraussetzungen unterschiedlich sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verhindern erneuerbare Energien!)


Der Innovationsminister von Nordrhein-Westfalen ist
einer der großen Förderer der erneuerbaren Energien.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir als schwarz-gelbe Landesregierung haben es mit der
Forschungsanstalt in Jülich geschafft, bei den Solar-
turmkraftwerken vorne zu sein. Wir bringen die Tech-
nologie aus Nordrhein-Westfalen in die afrikanische
Wüste, um das Desertec-Projekt zu realisieren. Das ist
an dieser Stelle unser Beitrag als schwarz-gelbe Regie-
rung für Nordrhein-Westfalen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Total verrückt, was Sie hier erzählen!)


Da können Sie noch so viel zetern, wie Sie wollen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wie hoch ist denn der Zuschuss von Nordrhein-Westfalen zu diesem Projekt? Null!)


Nordrhein-Westfalen war gerade im Innovationsbereich
noch nie so stark wie zur jetzigen schwarz-gelben Regie-
rungszeit in Nordrhein-Westfalen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, abschließend noch einige
Worte zum Antrag der Linken: Wir als FDP werden ein
Klimaschutzgesetz im Zusammenhang mit der Überprü-
fung der Meseberger Beschlüsse sehr ernsthaft prüfen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Wir machen aber kein Placebo-Gesetz. Ihr Antrag strotzt
doch vor Vorschlägen, wie man Klimaschutz möglichst
teuer macht: kein CDM, keine Anrechnung von Wald-
projekten und das Ganze mit möglichst wenig Emis-
sionshandel. Sie wollen Ideologie und nicht möglichst
viel Klimaschutz für jeden Euro.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704004800

Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat jetzt das Wort

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704004900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Gegensatz zu Großbritannien sind in Deutschland die
nationalen Klimaschutzziele eben nicht gesetzlich ver-
ankert, sondern werden von den Regierungen nur ver-
kündet. Darum fordern wir die Bundesregierung in unse-
rem Antrag auf, ein Klimaschutzgesetz vorzulegen.
Angesichts der Reden der Koalition merke ich, wie not-
wendig das ist.


(Beifall bei der LINKEN)






Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Wir halten ein solches Gesetz für überfällig, denn in
Deutschland besteht momentan das Problem, dass die
Klimaschutzziele von der Regierung ohne Mitwirkung
des Parlaments geändert werden können. Zudem bleiben
Abweichungen folgenlos, wie das Beispiel der weit
verfehlten Selbstverpflichtung – darum sind Selbst-
verpflichtungen so schädlich – in Deutschland zeigt, den
CO2-Ausstoß bis 2005 gegenüber 1990 um 25 Prozent
zu mindern.

Beim Langfristziel sollten wir uns einig sein; denn
darüber herrschte in diesem Hause schon seit langem
Konsens. Mindestens 90 Prozent der Treibhausgase soll-
ten bis 2050 gegenüber 1990 eingespart werden. Das ist
auch notwendig, um den Klimawandel in beherrschbare
Bahnen zu lenken. Bei den Zielen bis 2020 halten wir al-
lerdings nicht nur eine Minderung um 40 Prozent für er-
forderlich, sondern eine Halbierung.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Grund: Die Treibhausgasemissionen Deutsch-
lands lagen laut Umweltbundesamt im Jahr 2009 infolge
der Wirtschaftskrise um 8,4 Prozent unter denen von
2008. Der Rückgang gegenüber 1990 wird vom Um-
weltbundesamt mit 29 Prozent angegeben. Aus Sicht des
Klimaschutzes erleichtert es uns diese Entwicklung, die
nationalen Ziele auf ein ambitioniertes Niveau anzuhe-
ben, ein Ziel, welches den klimapolitischen Forderungen
an die Bundesrepublik und ihrer stets betonten Vorreiter-
rolle gerecht wird. Das sind unseres Erachtens 50 Pro-
zent. Sie sind zu schaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Weil wir gerade bei den Zielen sind: Ich freue mich,
dass der Umweltminister am Wochenende auf dem
Petersberg für ein bedingungsloses 30-Prozent-Ziel der
Europäischen Union geworben hat. Aber ich habe leider
das Gefühl, dies findet in der Bundesregierung keinen
Konsens. Wenn es ernst wird, hat Deutschland im Rat im-
mer für die 20-Prozent-Position gestimmt. Auf 30 Prozent
soll schließlich erst nach einem internationalen Klimaab-
kommen aufgestockt werden. Das liegt leider noch in
weiter Ferne.

Dabei wäre die Minderung von 30 Prozent nicht nur
zu schaffen, sondern auch kaum teurer, als es das Errei-
chen der 20-Prozent-Zielmarke vor der Wirtschaftskrise
war. Das sagt die EU-Kommission und spricht von „rela-
tiv niedrigen Zusatzkosten“. Kein Wunder, denn die
Emissionen sind in ganz Europa krisenbedingt rückläu-
fig.

Dass Deutschland auch aus eigener Kraft den Umbau
des Energiesystems schaffen kann, zeigte das Experten-
gremium der Bundesregierung am Mittwoch dieser Wo-
che auf. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen
macht klar: Der Umbau zu einer Vollversorgung mit re-
generativen Energien ist machbar und könnte bis 2050 in
jeder Stunde zuverlässig grünen Strom liefern.


(Beifall bei der LINKEN)


Er ist mit rund 7 Cent je Kilowattstunde Gestehungskos-
ten auch bezahlbar, Herr Kauch. Sie sagen immer, dass
grüner Strom sehr viel kostet. Zweifeln Sie doch nicht an
den Aussagen Ihres Gremiums. Zudem bescheinigen die
eigenen Experten der Bundesregierung Politikversagen;
denn diese macht genau das Gegenteil von dem, was
notwendig wäre, um zügig zu einer Vollversorgung mit
regenerativen Energien zu kommen.

Was sagen die Experten jetzt? Keine Laufzeitverlän-
gerung von AKW! Keine neuen Kohlemeiler mit CCS!
CCS ist die Verpressung von CO2 unter dem Boden; das
sage ich für diejenigen, die diesen Ausdruck noch nicht
kennen. All das wird für den Weg in die Vollversorgung
mit erneuerbaren Energien überhaupt nicht gebraucht, so
sagt das Gremium, nicht irgendjemand. Das ist der Kern
des Gutachtens. Das ist seit langem der Standpunkt auch
meiner Fraktion, der Linken.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Sachverständigen sagen weiter, das alles sei nicht
nur überflüssig, sondern sogar schädlich, denn die Sau-
riertechnologien sind mit einem vorrangig auf Wind und
Sonne ausgerichteten Energiesystem inkompatibel.

Natürlich: Die erneuerbaren Energien brauchen noch
lange konventionelle Kraftwerke neben sich, aber auf-
grund ihrer naturgemäß schwankenden Einspeisung
brauchen sie ein flexibles Kraftwerkssystem neben sich,
ein System mit Anlagen, die schnell hoch- und herunter-
gefahren werden können. Technisch und ökonomisch
kommen dafür allenfalls Gaskraftwerke infrage, aber nie-
mals Grundlastkraftwerke wie Kohle- und Atommeiler.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist falsch, Frau Kollegin! – Franz Obermeier [CDU/CSU]: Da hat man Ihnen etwas Falsches aufgeschrieben!)


Durch die teure Technologie zur Abscheidung und
unterirdischen Verklappung von Kohlendioxid würde
das überkommene Energiesystem nicht nur verfestigt,
sie wäre in jedem neuen Kohlekraftwerk, in dem sie ein-
gesetzt würde, auch ökonomisch eine Fehlinvestition.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Kraftwerke müssten – etwa bei starkem Wind –
oft still stehen. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Das
sagen Wissenschaftler, und das müssen Sie von der CSU
auch einmal akzeptieren, auch wenn Sie eine andere
Meinung haben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist ein Schmarrn!)


Die Bundesregierung sollte die Warnungen des Sach-
verständigenrates für Umweltfragen – das ist im Übrigen
Ihrer und nicht der von den Linken – ernst nehmen.


(Michael Kauch [FDP]: Der ist doch von Herrn Trittin besetzt worden!)


Mit ihrer Fixierung auf Laufzeitverlängerung, Kohle und
CCS bahnt sie Rahmenbedingungen an, die zu einer kost-
spieligen Unterauslastung konventioneller Kapazitäten
führen. Dadurch wird der Übergang zu Vollversorgung
mit regenerativen Energien aber verteuert. Mit dieser
Politik wird wieder einmal Volksvermögen verschleudert.


(Beifall bei der LINKEN)






Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun hat die Bundes-
regierung ja drei Gutachten zum Energiekonzept in
Auftrag gegeben, und wir sind auf die Ergebnisse ge-
spannt. Obwohl – das ist die Frage –: Sind wir das wirk-
lich? – Wir wissen ja, dass bei einem solchen Gutachten
in der Regel das hinten herauskommt, was man vorne hi-
neingesteckt hat.

Was wurde denn da hineingesteckt? – Laut einem Pa-
pier des Bundeswirtschaftsministeriums ist es eben nicht
das Ziel, zu untersuchen, welche konventionellen Ener-
gien wir abnehmend eigentlich noch brauchen, um das
rasante Wachstum im Bereich der erneuerbaren Energien
zu begleiten. Nein, es ist genau umgekehrt: Längere
AKW-Laufzeiten von 4, 12, 20 und 28 Jahren wurden fix
gesetzt. Die Zukunftsenergien wurden dagegen lediglich
als variable Restgröße definiert, die sich als Ergebnis der
Laufzeitverlängerung dann halt so ergibt. Wenn das eine
unabhängige Expertise sein soll, dann gute Nacht!


(Beifall bei der LINKEN)


Noch ein Wort zur internationalen Dimension des
Klimaschutzes und damit auch zurück zum Klimaschutz-
gesetz: Die Linke fordert in einem solchen Gesetz auch
Eckpunkte für langfristige Finanztransfers in Entwick-
lungsländer für Klimaschutz und Anpassung. Dies und
Technologietransfers waren ja auch auf dem Petersberg
ein Schwerpunktthema. Allerdings hat Herr Röttgen die
Gelder, die bereits in anderen Zusammenhängen zuge-
sagt wurden, hier schon wieder neu verpackt. Das lief in
den Haushaltsberatungen kürzlich ja ähnlich. Schließlich
will die Bundesregierung von den in Kopenhagen zuge-
sagten 420 Millionen Euro jährlich jene 70 Millionen
Euro anrechnen lassen, die sie schon auf der CBD-Kon-
ferenz 2008 für den internationalen Waldschutz verspro-
chen hatte.

Wir fordern, dass die Entwicklungsländer durch mehr
deutsche Finanzhilfen unterstützt werden, und zwar bei
der Umsetzung der Strategien zu einer emissionsarmen
Entwicklung und zur Anpassung an den Klimawandel.
Geld ist da! Unterstützen Sie nicht nur die Banken, son-
dern gehen Sie dort ein Stück zurück. Holen Sie die Sol-
daten aus Afghanistan, dann haben wir endlich auch
Geld für den Klimaschutz.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen frisches Geld und keine recycelten Verspre-
chen. – So weit zu unserem Antrag.

Der Antrag der Grünen zum Klimaschutz in Bund
und Ländern, der heute zur Debatte steht, gehört natür-
lich zum Wahlkampf. Ich finde das auch richtig; wir
verstehen das Anliegen. Der Rückstand beim Klima-
schutz ist in Nordrhein-Westfalen ja tatsächlich enorm.
Beim Anteil am Ökostrom liegt das Land mit 6 Prozent
dramatisch unter dem Bundesdurchschnitt von 16 Pro-
zent. In meinem Heimatland Bayern ist das ja ähnlich.
Im Osten und im Norden sind die Länder, die die Lasten
beim Ausbau erneuerbarer Energien schleppen bzw.,
besser gesagt, die Chance ergreifen; denn hier und leider
eben nicht an Ruhr und Rhein entstehen zukunftsfähige
Arbeitsplätze im Energiebereich. Wir wollen dort aber
diese Arbeitsplätze haben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Lex Eon, die Herr Rüttgers beschließen ließ, ist
ein Skandal, und zwar nicht nur klimapolitisch, weil da-
mit ein fossiles Kraftwerk in Datteln durchgeboxt wer-
den soll, das nach der alten Gesetzgebung gar nicht mehr
möglich gewesen wäre. So hat das Oberverwaltungsge-
richt Münster einen Baustopp für das Kohlekraftwerk
verhängt. Es ist auch aus demokratischer Sicht unver-
schämt, wenn eine fortschrittliche Umweltgesetzgebung
genau dann kassiert wird, wenn es ernst wird, und das
nur, um einen Großkonzern zu befriedigen.

Ich habe schon verstanden, warum Herr Kauch vorhin
so wütend war.


(Horst Meierhofer [FDP]: Er ist engagiert, im Gegensatz zu Ihnen!)


Natürlich will die Linke eine konsequente Politik für
Nordrhein-Westfalen: Wir wollen die Macht der Kon-
zerne brechen. Es ist einfach lachhaft, wenn Sie sich hin-
stellen und so tun, als ginge es Ihnen um die Armen, die
nicht noch mehr Geld für Energie bezahlen können. Was
ist denn mit Hartz IV? Was macht denn Ihre Partei da?
Wo entstehen denn zusätzliche Kosten für Energie? Wo
schöpfen Sie denn die Windfall-Profite ab? Was ist mit
den Zertifikaten, die zwar nach wie vor den großen Kon-
zernen geschenkt, aber dennoch bei den Stromkosten
eingepreist werden?


(Michael Kauch [FDP]: Ach, die waren das!)


Sie sind eben nicht bereit, hier Maßnahmen zu ergreifen.

Man sollte den Wählerinnen und Wählern im Hin-
blick auf die Konzerne sagen: Wenn ein abgeschriebenes
AKW einen Tag länger läuft, bringt das dem Konzern
1 Million Euro Profit. Ich denke, wir brauchen diese
Gelder für regenerative Energien, für den sozialökologi-
schen Umbau. Das ist dringend notwendig.

In diesem Sinne: Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704005000

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege

Dr. Thomas Gebhart.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1704005100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist kein Zufall, dass drei Tage vor der Wahl
in Nordrhein-Westfalen auf Antrag der Grünen hier im
Bundestag eine Debatte zu einem eigentlich landespoliti-
schen Thema stattfindet. Das ist leicht durchschaubar.


(Zuruf von der LINKEN: Sie wollen doch mit den Grünen regieren!)


Es ist der Versuch, hier Landtagswahlkampf zu betrei-
ben. Um der Sache einen bundespolitischen Bezug zu
geben, verbinden Sie das Ganze mit der Forderung nach
einem nationalen Klimaschutzgesetz. Ich will gern auf
diesen Punkt eingehen.





Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)

Die Forderung nach einem Klimaschutzgesetz – das
gebe ich ernsthaft zu – klingt zunächst gut; aber ich frage
mich – dazu schweigt Ihr Antrag –, was der Inhalt dieses
Gesetzes sein soll und worin sein Mehrwert bestehen
soll.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht doch drin!)


Ich bin der Meinung: Wenn man das hier vorbringt,
müsste man dazu ein paar Sätze sagen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch gemacht!)


Es ist nicht so, dass wir im Bereich des Klimaschutzes
untätig wären. Im Gegenteil: Diese Koalition steht für
ambitionierten Klimaschutz in diesem Land. Wir wollen
die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um
40 Prozent reduzieren. Deutschland ist Vorreiter in Sa-
chen Klimaschutzpolitik. Dabei soll es bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dabei haben wir ein klares Leitbild: Wir wollen eine
nachhaltige Politik betreiben, die über den Tag hinaus-
geht. Wir wollen Umwelt, Wirtschaft und soziale Aspekte
in Einklang bringen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Dann fangen Sie mal an! Da warten wir seit 190 Tagen drauf!)


Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen.
Zugleich birgt sie eine große Chance für die nächsten
Jahre in diesem Land; denn ich bin absolut davon über-
zeugt: Je effizienter wir künftig mit knappen Ressourcen
umgehen, je besser wir es schaffen, uns immer wieder
als Spitzenreiter bei sauberen, umweltfreundlichen Tech-
nologien zu behaupten,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Sie doch gerade nicht!)


desto besser sichern und schaffen wir die Arbeitsplätze
von morgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutschland ist auf dem Weg.


(Frank Schwabe [SPD]: Wohin?)


Mit integrierten Energie- und Klimaprogrammen wurden
wichtige Punkte in Angriff genommen. Viele Maßnahmen
greifen. Nicht nur der Staat ist aktiv; viele Unternehmen,
viele einzelne Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
leisten enorm viel. Wir bleiben nicht stehen; wir gehen
weiter.


(Frank Schwabe [SPD]: Stimmt! Sie schaffen die Maßnahmen ab!)


Die Maßnahmen des Energieprogramms werden über-
prüft. Im Herbst dieses Jahres wird hier ein Energiekon-
zept vorgelegt. Auch hier gilt: Unser Leitbild – das, was
unsere Politik trägt – ist das Prinzip der Nachhaltigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir wollen eine Energieversorgung, die auf der einen
Seite sicher und verlässlich ist – das ist wichtig –, die auf
der anderen Seite aber auch unter ökologischen Ge-
sichtspunkten vernünftig gestaltet wird. Es ist wichtig,
dass die Preise für die Verbraucher und für die Industrie
am Ende bezahlbar bleiben. Das Ganze muss sich auch
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in einem ver-
nünftigen Rahmen bewegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich vier Punkte ansprechen, die in die-
sem Zusammenhang ganz besonders wichtig sind. Ers-
tens. Es wird in diesem Hause wahrscheinlich einen
breiten Konsens darüber geben, dass wir zunächst ver-
stärkt auf Energieeffizienz setzen; denn die Potenziale
sind groß.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Seit zwei Jahren nichts getan!)


Zweitens. Wir setzen vor allem auf Forschung und
Entwicklung. Ich nenne als Beispiel die Speichertech-
nologien, die immer wichtiger werden, wenn wir den
Bereich der erneuerbaren Energien vorantreiben wollen,
und das wollen wir. Forschung und Entwicklung sind der
Schlüssel zur Lösung der Probleme. Deswegen diskutie-
ren wir die Themen Umwelt und Klimaschutz nicht
rückwärts gewandt, sondern nach vorne gerichtet. Wir
begreifen das als eine Chance für die Modernisierung
unseres Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mein dritter Punkt hängt eng mit den ersten beiden
zusammen. Wir wollen die Entwicklung im Bereich der
erneuerbaren Energien massiv voranbringen. Wir wol-
len den Anteil der erneuerbaren Energien Schritt für
Schritt ausbauen, und ich sage an dieser Stelle ausdrück-
lich: Dazu gehört auch der Ausbau der Solarenergie. Es
ist absolut kein Widerspruch, wenn wir die Solarstrom-
vergütung anpassen. Der Punkt ist schlicht und ergrei-
fend der, dass die Preise für Solaranlagen deutlich ge-
sunken sind, was gut ist. Deswegen passen wir die
Vergütung an. Das ist richtig; denn jeder einzelne Ver-
braucher zahlt die Vergütung über die Stromrechnung
mit. Nicht zu handeln wäre völlig unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Viertens. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn,
wenn wir die Kernkraftwerke abschalten und sie durch
Energieimporte oder durch zusätzliche Kohlekraftwerke
ersetzen. Die SPD will das aber. Ihr Parteivorsitzender
hat das immer wieder gesagt. Wir würden aber, wenn wir
diesen Schritt gingen, die Klimaschutzziele nicht errei-
chen. Deswegen hat für uns die Kernkraft eine Brücken-
funktion hin zu den erneuerbaren Energien.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie widersprechen gerade der Kanzlerin! Merken Sie das eigentlich?)






Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen die Kernkraft durch erneuerbare Energien er-
setzen. Das macht Sinn. Klar ist auch: Sicherheit hat im-
mer absolute Priorität.

Wenn wir es schaffen, die aus der Laufzeitverlänge-
rung resultierenden Zusatzerlöse zu nutzen,


(Ulrich Kelber [SPD]: Um das Monopol zu zementieren!)


um sie in die Erforschung erneuerbarer Energien zu ste-
cken, dann können wir den Weg hin zu den erneuerbaren
Energien am Ende noch schneller gehen. Ich glaube, das
macht Sinn. Es ist insgesamt ein vernünftiger Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Monopole, mehr Preise!)


Ich bringe es auf den Punkt: Der von Ihnen einge-
brachte Antrag, der Anlass der heutigen Debatte im Deut-
schen Bundestag ist, ist reines Wahlkampfgetöse kurz vor
der NRW-Wahl. Mehr ist es nicht. Meine Antwort darauf
ist: Diese Koalition steht für eine nachhaltige Politik, auch
für eine nachhaltige Energiepolitik, die verantwortbar ist.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Das ist unser Grundsatz. Daran werden wir in den nächs-
ten Jahren festhalten.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704005200

Ulrich Kelber hat das Wort für die Fraktion der SPD.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1704005300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Töpfer, Merkel, Trittin, Gabriel – vier deutsche
Umweltminister in Folge haben sowohl national als auch
international etwas beim Klimaschutz bewegt, und
manchmal durchaus auch gegen Widerstände aus dem
eigenen Kabinett. Nach 190 Tagen, also nach etwas
mehr als einem halben Jahr, ist es gerechtfertigt, eine
Zwischenbilanz der Tätigkeiten des aktuellen Bun-
desumweltministers zu ziehen: Dafür, dass es internatio-
nal schwieriger geworden ist, Fortschritte im Klima-
schutz zu erreichen, trägt der Bundesumweltminister
nicht die Verantwortung. Aber dafür, dass Deutschland
beim Klimaschutz zurückfällt, dass wir von einem inter-
national geschätzten Partner nördlicher und südlicher
Staaten zum unglaubwürdigen und unzuverlässigen
Kantonisten geworden sind, trägt er, der auf den Konfe-
renzen verhandelt hat, alleine die Verantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kopenhagen war das Debüt von Norbert Röttgen. Er
hat in der Woche zuvor hier im Bundestag zugelassen,
dass Deutschland zum ersten Mal in der Zeit, in der wir
über Klimaschutz debattieren, die Position eingenom-
men hat, dass die Mittel für den Klimaschutz mit den zu-
gesagten Mitteln für die Armutsbekämpfung zu verrech-
nen sind. Es war doch kein Zufall, dass die Länder des
Südens diesen Zusagebruch der Kanzlerin bemerkt ha-
ben, die noch wenige Monate zuvor etwas anderes ver-
sprochen hatte. Deutschland hat zum ersten Mal in der
Zeit von Klimakonferenzen die Negativauszeichnung
Fossil of the Day bekommen. Ich habe mich an diesem
Tag geschämt. Ich hoffe, dass das nie wieder vorkommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann kam die Kopenhagen-Konferenz mit all ihren
nicht zufriedenstellenden Ergebnissen. Deutschland hat
auf der Kopenhagen-Konferenz die Zusage gegeben,
jährlich zusätzlich 420 Millionen Euro für den Klima-
schutz vor allem in Projekten mit den Entwicklungslän-
dern bereitzustellen. Der Haushaltsentwurf, den die
schwarz-gelbe Regierung wenige Wochen später in den
Bundestag eingebracht hat, sah zunächst null Euro vor,
also nicht 420 Millionen Euro, sondern null. Es ging nur
um Umetikettierungen von Programmen. Auf Druck der
Opposition wurden dann im Haushaltsausschuss wenigs-
tens 70 Millionen Euro eingestellt, also ein Sechstel der
zugesagten Summe. Mit dieser Hypothek wird Deutsch-
land in die Konferenz in Bonn Ende dieses Monats ge-
hen, Frau Dött. Das ist die eigentliche Konferenz; Sie
haben die Wahlkampfkonferenz „Klimadialog“ damit
verwechselt. Die Länder des Südens wissen nun: Die
erste Zusage wurde gebrochen. Dann gab es in Kopenha-
gen eine neue Zusage. Diese wurde wenige Wochen spä-
ter wieder gebrochen. – So werden wir kein Partner sein.
Sie leugnen das bisher im Bundestag. Zum Glück ist der
Bundesumweltminister ehrlicher als die Fraktion. Er hat
in einem Interview gesagt: Jawohl, in den 1,2 Milliarden
Euro sind die 500 Millionen Euro, die wir auf der Bio-
diversitätskonferenz zugesagt haben, schon eingerech-
net. – Das heißt, er gibt zu, dass diese Mittel nicht zu-
sätzlich zur Verfügung gestellt werden.

Dann gab es den Klimadialog auf dem Petersberg.
Das habe ich zuerst gut gefunden; denn das ist die ge-
meinsame Heimat von Norbert Röttgen und mir. Ich
fand auch das dort vorgeschlagene Prinzip gut. Es hat
unsere Unterstützung gehabt. Auch hier hatten Ort und
Zeitpunkt natürlich überhaupt nichts mit dem Wahl-
kampf in Nordrhein-Westfalen zu tun. Das war sicher-
lich reiner Zufall, genauso wie heute, wo über Themen
aus NRW gesprochen wird. Aber wie kann man so
wahnsinnig sein, Umweltminister aus 45 Ländern unter
dem Motto „Jetzt handeln statt nur verhandeln“ einzula-
den und gleichzeitig an den drei Konferenztagen wich-
tige Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland – zum Teil
rückwirkend – zu stoppen? Das heißt, Menschen, die
sich bei Miniblockheizkraftwerken und Pelletheizungen
auf zugesagte Zuschüsse verlassen haben, erfahren nach-
träglich, dass nun nicht mehr gefördert wird. Dieser Ver-
trauensverlust, der bei den Investitionen ausgelöst wird,
wird noch viele Monate und Jahre nachwirken.

Zu Recht hat das Handwerk Schwarz-Gelb den Kopf
gewaschen. Allein hier sind mehrere Zehntausende Ar-
beitsplätze bedroht. Wenn Sie Mitte des Sommers das
Wärmedämmungsprogramm auslaufen lassen, sind wei-





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

tere Arbeitsplätze gefährdet. Auf der Website des Um-
weltministeriums steht, dass das Wärmedämmungspro-
gramm 290 000 Arbeitsplätze sichert. Das bedeutet im
Umkehrschluss: Wenn das Wärmedämmungsprogramm
gestoppt wird, Herr Kauch, dann sind 290 000 Arbeits-
plätze gefährdet. So viel zu Ihrer Propaganda. Man muss
einfach nur nachrechnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Meldungen über das umweltpolitische Verhalten
Deutschlands mögen durch die Debatte über Griechen-
land verdeckt worden sein. Aber Sie können sicher sein:
Die Unterhändler der anderen Staaten bekommen ganz
genau mit, was wir machen. Wenn wir fordernd auftreten
und von ihnen verlangen, zu handeln, dann wird man uns
die Rechnung präsentieren und darauf verweisen, dass
das umweltpolitische Engagement der Deutschen ab-
nimmt. Herr Gebhart hat gerade gesagt, Deutschland
werde die Energieeffizienz steigern. Auch hier werden
wir genau beobachtet. Das Technologieführerland
Deutschland einigt sich unter Schwarz-Gelb darauf, bei
der Energieeffizienz nicht mehr zu machen, als der Mini-
malkonsens auf europäischer Ebene vorsieht, nämlich
eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Das heißt, das Technolo-
gieführerland Deutschland mit seinen Spitzentechnolo-
gien will bei der Energieeffizienz nur so viel machen,
wie sich das ärmste Beitrittsland in der Europäischen
Union leisten möchte. Mehr machen Sie nicht. Wie wol-
len wir damit die Technologieführerschaft auf Märkten
behalten, in die unsere Konkurrenten aus Korea, China,
Japan, Brasilien und den USA Geld stecken und auf de-
nen sie Umweltpolitik vor Ort machen?

In Europa verhandeln bis heute die Beamten der Bun-
desregierung dagegen, ambitionierte Energieeffizienz-
ziele in die neuen europäischen Verträge aufzunehmen.
Deutschland ist doch der Bremser. Sprechen Sie einmal
mit den Delegationen aus anderen Ländern. Die wun-
dern sich darüber, dass die Deutschen, die ihnen früher
immer gesagt haben: „Wir müssen uns hohe Ziele set-
zen, damit wir auch wirtschaftlich weiterkommen“, jetzt
auf einmal dagegen sind und sagen: Wir wollen nichts
Derartiges in die Verträge aufnehmen. – Wir gelten be-
reits als unzuverlässig. Es ist wichtig, dass der Umwelt-
minister beim Klimaschutz allmählich in die Spur
kommt; ansonsten ist er den Schuhen seiner vier Vorgän-
gerinnen und Vorgänger nicht gewachsen.

In einem der Anträge ist die Forderung nach einem
Klimaschutzgesetz enthalten. Deutschland hat in der Tat
lange das Schritttempo vorgegeben. Derzeit leben wir
aber von den früher ergriffenen Maßnahmen. Wir brau-
chen wieder mehr Tempo. Wir brauchen mehr Verläss-
lichkeit. Wir brauchen mehr Planungssicherheit. Vor al-
lem aber brauchen wir verbindliche Zielmarken und klar
definierte Zwischenziele auf dem Weg dorthin. Deshalb
ist die Sozialdemokratie für ein nationales Klima-
schutzgesetz mit klaren Eckpunkten: minus 40 Prozent
Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020, minus 80 bis mi-
nus 95 Prozent bis 2050. Das nationale Klimaschutzge-
setz soll Regierung und Parlament zwingen, diese Ziele
immer wieder zu überprüfen und nachzusteuern, wenn
man nicht auf dem richtigen Weg ist. Wir brauchen einen
Anreiz für Forschung und Innovationen.

Wir haben, anders als Linke und Grüne, heute keinen
Antrag zu einem Klimaschutzgesetz eingebracht, weil
wir uns für einen mühsameren, aus meiner Sicht aber
zielführenderen Weg entschieden haben. Bärbel Höhn,
wir haben bereits vor einigen Wochen mit breiter Beteili-
gung von Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Verbänden
und Unternehmen eine Initiative gestartet. Wir haben ei-
nen Fragenkatalog zu einem nationalen Klimaschutzge-
setz verschickt und einen superguten Rücklauf – hochin-
teressant. In der nächsten Sitzungswoche haben wir eine
große Anhörung, bei der wir die Anregungen aufnehmen
werden. Danach kommen wir auf Basis dieser breiten
Beteiligung mit einem gesellschaftlich breit unterstütz-
ten Vorschlag hier ins Plenum. Schwarz-Gelb wird sich
wundern, wen man alles auf der Liste der Unterstützerin-
nen und Unterstützer eines nationalen Klimaschutzgeset-
zes wiederfinden wird. Das sind nicht nur die üblichen
Verdächtigen, die bei Ihnen in eine Schublade gehören.
Das sind auch Partner, die Sie als Ihre Klientel ansehen.
Leider nicht ganz so öffentlich wird das Umweltministe-
rium das unterstützen.

Ich finde es schon interessant, dass Sie, Frau Dött, als
umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion sa-
gen: „Mit uns gibt es kein nationales Klimaschutzge-
setz“, während Herr Kauch als Sprecher der FDP sagt:
„Wir werden prüfen“ und im Umweltministerium – Frau
Reiche, als Parlamentarische Staatssekretärin können Sie
das wahrscheinlich bestätigen – bereits die Eckpunkte
eines nationalen Klimaschutzgesetzes geprüft werden.
Herr Kauch, ich glaube, Sie müssen mit Ihrem Koali-
tionspartner und Ihrem Minister reden. Aber bitte ein
bisschen ruhiger als vorhin in Ihrer Rede; jeder Psycho-
loge hätte sie als Angstrede interpretiert.


(Lachen bei der FDP)


Es wundert mich allerdings nicht, dass Sie hier NRW-
Wahlkampf machen: 15 Prozent noch bei der Bundes-
tagswahl; heute käme die FDP nach einer Umfrage auf
nur noch 6 Prozent. Das ist schon eine Größenordnung,
die einem Angst machen kann; das gebe ich zu.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich ist NRW ein Punkt, der heute ansteht, und
zwar wegen der Tatsache, dass das größte Bundesland
der Bundesrepublik Deutschland – als Bonner Abgeord-
neter komme auch ich aus Nordrhein-Westfalen –, wäh-
rend die Kopenhagen-Konferenz lief, auf einmal den
Klimaschutz aus der Landesgesetzgebung gestrichen
hat. Glauben Sie, das hat in Kopenhagen keiner mitbe-
kommen? Nordrhein-Westfalen war unter sozialdemo-
kratischen Regierungen Energieland Nummer eins, und
zwar nicht nur in Sachen Stromproduktion, sondern auch
in Sachen Technologie. Unter Johannes Rau hat Nord-
rhein-Westfalen mit dem REN-Programm als erstes
Bundesland auf erneuerbare Energien gesetzt, das Wup-
pertal-Institut und die Landesenergieagentur gegründet
und mit Unterstützung des Landes gegen die Strompreis-





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

aufsicht die kostengerechte Vergütung in Aachen und
Bonn eingeführt; das war der kommunale Vorläufer des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Jetzt haben wir fünf
Jahre Schwarz-Gelb. Jetzt steht NRW auf Platz zwölf bei
den erneuerbaren Energien; wir waren noch vor wenigen
Jahren auf Platz eins. Wir haben keinen starken Heimat-
markt mehr, weil wir die neuen Windanlagen nicht auf-
stellen dürfen, weil Sie Höhenbeschränkungen einge-
führt haben. Was glauben Sie: Wie lange halten wir
unsere starke Zulieferindustrie in Nordrhein-Westfalen,
wenn es keinen Heimatmarkt mehr gibt? Die werden
ihre neuen Fabriken doch nicht da bauen, wo man ihnen
verbietet, ihre Produkte einzusetzen, sondern sie werden
dahin gehen, wo sie mit offenen Armen empfangen wer-
den.


(Beifall bei der SPD)


Die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke,
die Sie anstreben, wird Nordrhein-Westfalen doppelt und
dreifach schaden. Wir haben zwar keine Atomkraft-
werke; aber in Nordrhein-Westfalen wird nicht mehr in-
vestiert, und da auch anderswo nicht investiert wird,
werden die nordrhein-westfälischen Technologien nicht
abgefragt werden. Wenn Sie mir das nicht glauben, bitte
ich Sie, wenigstens den folgenden drei Männern zu glau-
ben: Der Erste ist Herr Dr. Böge, ehemaliger Präsident des
Bundeskartellamts. Gestern hat er auf einem Parlamenta-
rischen Abend vor der Laufzeitverlängerung aus Sicht
Nordrhein-Westfalens und der Stadtwerke gewarnt. Der
Zweite ist Herr Mundt, der aktuelle Präsident des Bundes-
kartellamts. Auch er warnt vor einer Laufzeitverlänge-
rung. Dann haben wir noch Herrn Dr. Heitzer, der bis Ok-
tober Präsident des Bundeskartellamts war; jetzt ist er
beamteter Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Er
warnt ebenfalls vor einer Laufzeitverlängerung. – Wenn
Sie der Opposition nicht glauben, wenn Sie der Wissen-
schaft nicht glauben, wenn Sie den Stadtwerken nicht
glauben und wenn Sie den Vertretern des Bereichs der
erneuerbaren Energien nicht glauben, dann glauben Sie
wenigstens Ihrem eigenen Staatssekretär, dass Ihre Poli-
tik in eine Sackgasse führt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704005400

Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1704005500

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kol-

leginnen und Kollegen! Der Kollege Jürgen Trittin hat
gestern nach der Regierungserklärung sehr viel Kritik
geübt. Einer seiner Hauptkritikpunkte war, der Wahl-
kampf in Nordrhein-Westfalen sei hier in Berlin offenbar
wichtiger als die Sache selbst. Mit Blick auf die heutige
Debatte und den Antrag der Grünen kann man nur sagen:
Er hat offenbar seine eigenen Absichten auf andere pro-
jiziert. Ihnen geht es ausschließlich um das Kraftwerk
Datteln 4; Ihr ganzer Antrag ist darauf zugeschnitten.
Das ist allerdings eine landesplanungsrechtliche Frage.
Was Sie hier betreiben, ist der Missbrauch der bundes-
politischen Bühne für den Wahlkampf in Nordrhein-
Westfalen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dazu kann man nur einen Satz sagen – er gehört eigent-
lich in Ihr Parteiprogramm –: Mit dem Finger erst auf
andere zeigen und es selber dann noch bunter treiben. –
So machen Sie Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? Wo denn?)


In der Sache trifft keine der Begründungen, die wir in
Ihrem Antrag lesen können, zu. Das gilt insbesondere für
das klimapolitische Argument. Denn die christlich-libe-
rale Landesregierung in Nordrhein-Westfalen betreibt
aktiven Klimaschutz.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind Sie aber falsch gewickelt! Da haben Sie wohl etwas falsch verstanden! – Ulrich Kelber [SPD]: Wie bitte? Wovon reden Sie da? Woher kommen Sie eigentlich?)


Datteln 4 ist Teil eines landesweiten Kraftwerkserneue-
rungsprogramms.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das haben die doch schon längst wieder zurückgenommen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schon längst nicht mehr aktuell!)


Das Ziel dieses Programms lautet wie folgt: Bis 2020
soll der CO2-Ausstoß um 33 Prozent gesenkt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schon lange weg! Sie sind ja gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit!)


Alte Kraftwerke mit hohen Emissionen und niedrigem
Wirkungsgrad sollen vom Netz, und moderne Kraft-
werke mit hohem Wirkungsgrad und niedrigen Emissio-
nen sollen ans Netz.


(Ulrich Kelber [SPD]: Herr Kollege Buschmann, dieses Programm wurde schon lange zurückgenommen! Das gibt es nicht mehr!)


Die alten Dreckschleudern sollen weg. Mit der Politik,
die Sie vorschlagen, erweisen Sie dem Klimaschutz ei-
nen Bärendienst, wenn Sie diese Hightechtechnologie
verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Im Übrigen schaden Sie auch meiner Heimat: nicht
nur Nordrhein-Westfalen, sondern auch der Emscher-
Lippe-Region, wo das Kraftwerk Datteln 4 steht. Wir
brauchen für den Strukturwandel Hightechprojekte,





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber keine Klimakiller!)


wir brauchen solche Leuchtturmprojekte, und wir brau-
chen bezahlbare Energie. Das wissen Sie genauso gut
wie ich. Aber dagegen wehren Sie sich.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Was Sie machen, konnte man im Spiegel von dieser
Woche nachlesen. Im Spiegel, der nicht gerade eine libe-
rale Postille ist, war zu lesen:

Die Grünen haben Datteln intern zu einer strategi-
schen Frage erkoren. … Wenn sie ein so großes
Kraftwerk kurz vor der Fertigstellung erledigen
können, so ihr Kalkül, würden Investoren in
Deutschland vom Bau ähnlicher Kraftwerke abge-
schreckt.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das sagen die sogar öffentlich!)


Darum geht es Ihnen: Sie wollen Investoren gezielt ver-
schrecken. Das ist die Absicht hinter Ihrem Antrag. Das
schadet uns.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch Ihr rechtliches Argument verfängt nicht. Sie be-
haupten, es sei ungewöhnlich, das Planungsrecht anzu-
passen, wenn es einem politisch gewünschten Projekt
entgegensteht. Dass das nicht stimmt, wissen Sie. Pla-
nungsrecht ist nämlich iterativ angelegt, also auf Anpas-
sung.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber den Klimaschutz aus der Planung zu streichen, ist ja wohl ein Ding!)


Ich nenne Ihnen gerne ein Beispiel, das Sie wahrschein-
lich nachvollziehen können. In Nordrhein-Westfalen,
aber auch im Bund haben wir schon hundert-, ja tausend-
fach Bebauungspläne angepasst,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Klimaschutz aus der Landesplanung gestrichen! Das haben Sie gemacht!)


wenn sie zum Beispiel einer politisch gewollten Klima-
schutzsiedlung, einem politisch gewollten Solarkraft-
werk oder einem politisch gewollten Windkraftwerk
entgegenstehen. Jedes Mal haben wir Bebauungspläne
angepasst.


(Ulrich Kelber [SPD]: Es geht hier nicht um einen Bebauungsplan!)


Ich habe auf der ganzen Welt nicht einen Grünen gese-
hen, der in diesen Fällen aufgestanden ist und gesagt hat:
Dagegen habe ich rechtsstaatliche Bedenken. – Das, was
Sie hier machen, ist scheinheilig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch die ganze Windkraft verhindert!)

Kurzum: Ihr Antrag ist ein Wahlkampfpamphlet ohne
jede fachliche Überzeugungskraft.


(Ulrich Kelber [SPD], an die FDP gewandt: Habt ihr wirklich keinen Besseren? Ist das euer Ernst?)


Er ist eine Kampfansage an die Interessen Nordrhein-
Westfalens und der Emscher-Lippe-Region.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist altes, fossiles Denken!)


Zum parlamentarischen Schicksal dieses Pamphlets
empfehle ich Ihnen frei nach Goethe: Alles, was derart
entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Das gilt für das, was Sie gemacht haben!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704005600

Für Bündnis 90/Die Grünen ergreift Oliver Krischer

das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704005700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mehr als ein Drittel aller CO2-Emissionen Deutschlands
stammt aus NRW. Das allein macht deutlich: Ohne das
Mittun von NRW ist jede nationale Klimaschutzstrategie
von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb ist die-
ses Thema völlig zu Recht heute hier Gegenstand der
Debatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva BullingSchröter [DIE LINKE])


Aus NRW kommen nicht nur die meisten Emissionen.
Die Emissionen NRWs sind in den letzten Jahren – im
Gegensatz zum Bundesdurchschnitt – auch noch gestie-
gen, und sie werden weiter steigen, wenn die Kohlevor-
rangpolitik der schwarz-gelben Koalition in dieser
Weise weitergeht. Dass in NRW neue Kohlekraftwerke
gebaut werden, ist ja nur ein Teil der Wahrheit. Zur
Wahrheit gehört auch – Sie verschweigen das –: Die
Energiekonzerne legen ihre alten Anlagen nicht still.
Das zeigt das Beispiel Datteln. Eon erhöht die Kapazität
auf 300 Prozent; das können Sie nachlesen im Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Münster. Das ist ein Skandal,
und das lässt jede aktive Klimaschutzpolitik von vorn-
herein scheitern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die andere Seite der Medaille ist: NRW – Frau Höhn
hat es gesagt – gehört beim Ausbau der Nutzung der
erneuerbaren Energien zu den Schlusslichtern. In
NRW werden nur 6 Prozent des Stroms aus erneuerbaren
Energien erzeugt, und selbst da ist die Müllverbrennung
eingerechnet.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

Es ist unglaublich, dass ein industrielles Kernland wie
NRW beim Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Ener-
gien dermaßen hinterherhängt.

Für eine Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung hätte
Nordrhein-Westfalen wegen seiner hohen Industrie- und
Bevölkerungsdichte hervorragende Voraussetzungen.
Doch auch bei der Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung
ist NRW unterdurchschnittlich weit. Deshalb müssen wir
eine andere Politik in diesem Land machen. Der Bund
muss aktiv werden, er muss helfen, er muss mitsteuern,
damit dieses industrielle Kernland nach vorne kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marco Buschmann [FDP]: Bezahlbare Energie ist auch wichtig!)


Wir haben eben gehört, was die aktuelle Politik der
Landesregierung ist: Man will weiter Vorrang für die
Kohle. – Die Kollegen von der Bundesebene – Herr
Kauch hat das deutlich gemacht – wollen das weiter un-
terstützen. Wie passt das zusammen: Sonnenenergie in
der Wüste und Windenergie auf dem Meer gewinnen
wollen, aber in Nordrhein-Westfalen den Strom aus
Kohle erzeugen? Diese Politik ist falsch und wird im
Endeffekt dazu führen, dass Nordrhein-Westfalen de-
industrialisiert wird.


(Marco Buschmann [FDP]: Das ist ja lächerlich!)


Meine Damen und Herren, es ist doch ein Irrsinn,
dass rund um den größten Ballungsraum Europas ein
Kranz aus neuen Kohlekraftwerken gebaut wird, die im-
mer noch mehr als 50 Prozent der Energie in Form von
Wärme nutzlos in die Umgebung entweichen lassen,
während Millionen schlecht isolierter Wohnungen im
Ruhrgebiet teuer mit aus Russland importiertem Erdgas
geheizt werden. Die Zukunft besteht nicht darin, wie
RWE und Eon es tun, Kraftwerksblöcke mit einer Leis-
tung von 1 000 Megawatt auf die grüne Wiese zu setzen.
Die Zukunftsvision, die die Industrie in Nordrhein-West-
falen, ja in ganz Deutschland voranbringt, besteht in der
dezentralen Nutzung erneuerbarer Energien in kleinen
Blockheizkraftwerken in Verbindung mit Kraft-Wärme-
Kopplung.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704005800

Franz Obermeier spricht für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1704005900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wahlkampfhilfe für die anstehende Wahl in Nordrhein-
Westfalen hat in Berlin nichts verloren. Der Petersberg
ist ein geeigneterer Ort, über das Thema Klimaschutz zu
diskutieren.

Ich möchte nach meinem Vorredner zur Versachli-
chung der Debatte beitragen. Die Klimapolitik ist näm-
lich in der Tat ein interessantes und wichtiges Thema.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Klima-
politik einen sehr hohen Stellenwert.

Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass wir einen
„Gleichklang von Bund und Ländern beim Klimaschutz
sicherstellen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, wenn ich durch die Lande reise, kann ich fest-
stellen, dass an allen Ecken und Enden unseres schönen
Landes gebaut wird, um Energie einzusparen und das
Klima zu schützen: Auf den Dächern der Gebäude wer-
den Fotovoltaikanlagen errichtet, und die Unternehmen
machen sich massiv Gedanken darüber, wie sie in ihren
Industrieanlagen Energie einsparen können. Man kann
zwar sagen, dass das aus ökonomischen Gründen ge-
schieht; aber das ist mir in dem Fall egal. Jedenfalls pas-
siert überall etwas. Das, was große Unternehmen wie
BMW und Audi in den zurückliegenden Jahren in Bezug
auf die Reduzierung der Verbrauchswerte ihrer Pkws ge-
tan haben und noch immer tun, kann sich, meine ich,
durchaus sehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Haben die ihre freiwilligen Vereinbarungen eingehalten?)


Wir liegen in diesem Hause, was die Zielsetzung be-
trifft, nicht allzu weit auseinander. Das ist meine Ein-
schätzung der Diskussion der zurückliegenden Jahre.
Wenn es allerdings um die Frage der Instrumente geht,
teilen sich unsere Standpunkte, weil die Diskussion zu
diesem Thema in weiten Teilen dieses Hauses ideolo-
gisch geführt wird.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch ideologisch!)


Ich möchte jetzt nicht über die Kernenergie reden,
sondern über die konkrete Frage, ob sich die Grünen in
Deutschland eine sichere Stromversorgung zu bezahl-
baren Preisen ohne Kohleumwandlungssysteme vorstel-
len können.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber klar! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber sicher!)


Wir reden sehr viel über nachwachsende Rohstoffe, er-
neuerbare Energien und über die Frage, wann wir unser
Energieversorgungssystem so umstellen können, dass
wir möglichst viel, wenn nicht sogar bis zu 100 Prozent
des Energiebedarfs, aus nachwachsenden Rohstoffen
bestreiten können. Wir reden viel zu wenig über die Sys-
teme, die wir brauchen, um mit den erneuerbaren Ener-
gien eine sichere Versorgung unseres Landes gewähr-
leisten zu können.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir machen uns viel zu wenig Gedanken über die Frage
nach den Folgen, wenn die Stromwirtschaft zu 100 Pro-
zent auf erneuerbaren Energien beruht.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum waren Sie nicht im Umweltausschuss? Franz Obermeier – Gegenruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU]: Er war sogar in der Enquete-Kommission!)





(A) (C)


(D)(B)


Ich weiß nicht mehr, wer das Sachverständigengut-
achten angesprochen hat. Ich will Ihnen ohne jede Pole-
mik sagen, Frau Höhn: Aus dem Sachverständigengut-
achten geht hervor, dass die Stromversorgung schon
heute zu 100 Prozent durch erneuerbare Energien mög-
lich wäre. Das will ich nicht bestreiten, auch wenn ich es
nicht nachgerechnet habe. Dann bräuchten wir aber un-
gefähr das Vier- bis Fünffache dessen, was wir heute an
entsprechenden Erzeugungsanlagen haben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie müssen die Gutachten auch mal durchlesen!)


Das sind die Fakten, mit denen man sich auseinanderset-
zen muss.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja ideologisch festgelegt! – Ulrich Kelber [SPD]: Genau das hat der Sachverständigenrat versucht Ihnen zu erklären!)


Ich will noch etwas zur Kohle sagen, das Ihnen auch
nicht gefallen wird. Wenn die Landesregierung und die
Stromwirtschaft in Nordrhein-Westfalen zu dem Ergeb-
nis kommen, dass ein neues Kohlekraftwerk gebaut
werden soll, dann bitte ich, zu bedenken, dass man heute
moderne Kohlekraftwerke technisch so konzipieren
kann, dass ein Wirkungsgrad von 50 Prozent erreicht
wird.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 46 Prozent!)


Ich komme aus einer Kommune, in der es ein 25 Jahre
altes Kohlekraftwerk gibt. In diesem Kohlekraftwerk
wird, wenn die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen voll ge-
nutzt werden können, ebenfalls ein Wirkungsgrad von
50 Prozent erreicht. Deswegen sage ich: Um eine sichere
Versorgung unseres Landes gewährleisten zu können,
brauchen wir auf absehbare Zeit in der Grundlast sowohl
die Kernkraft als auch die Kohlekraft.


(Ulrich Kelber [SPD]: Was bringt es, einen Sachverständigenrat einzurichten, wenn Sie nicht zuhören?)


Ich will noch etwas zu den ökonomischen Einlassun-
gen von Frau Bulling-Schröter sagen. Es ist interessant,
dass Sie Kohlekraftwerke als Fehlinvestition bezeich-
nen. Das Kohlekraftwerk vor meiner Haustür wurde ge-
rade von einem großen Investor gekauft, und Eon will in
Datteln ein Kohlekraftwerk bauen. Glauben Sie allen
Ernstes, dass Ihre Sicherheitsbedenken hinsichtlich der
Finanzierung einer derartigen Anlage besser sind als die
Überlegungen derjenigen, die echtes Geld in die Hand
nehmen und dort investieren? Ich würde eher den Kauf-
leuten der Stromindustrie glauben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Es wird nicht neu gebaut!)


Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur Fotovol-
taik, um die es im Erneuerbaren-Energien-Gesetz geht,
über dessen Änderung wir heute auch noch diskutieren
werden.


(Frank Schwabe [SPD]: Das richten Sie auch noch hin!)


– Wir richten gar nichts hin. – Das, was jetzt in der Foto-
voltaikbranche abläuft – das wissen auch Sie –, ist das
größte Umverteilungsprogramm von unten nach oben,
das wir derzeit haben.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht Seehofer anders!)


– Das kann er sehen, wie er will. – Ich sage Ihnen: Das
ist das größte Umverteilungsprogramm, das wir haben;
denn zahlen muss die Allgemeinheit, und die großen
Hersteller profitieren bis hin zu EUROSOLAR und den-
jenigen, die sich Fondsanteile kaufen.


(Ulrich Kelber [SPD]: EUROSOLAR stellt keine einzige Solarzelle her!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704006000

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Frau Bulling-Schröter zulassen?


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1704006100

Selbstverständlich.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704006200

Bitte schön.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704006300

Vielen Dank, Kollege Obermeier. – Sie sprechen die

Gewinne, die man abschöpfen muss, an. Da sind wir uns
offensichtlich einig. Ich meine aber, man sollte in allen
Bereichen Gewinne abschöpfen, und spreche damit die
großen Konzerne und die Zertifikate an.

90 Prozent der CO2-Zertifikate erhalten die großen
Energiekonzerne kostenlos. Diese preisen sie trotzdem
mit dem Marktpreis ein. Das heißt: Die Konzerne tun so,
als ob sie die Zertifikate bezahlen müssten; es bezahlen
sie aber diejenigen, die den Strom abnehmen. Jetzt gibt
es eine ganze Reihe von Berechnungen vom Öko-Institut
und von anderen Instituten. Sie können sich das Institut
aussuchen, das Ihnen politisch am nächsten steht. Alle
sprechen von Sonderprofiten in Milliardenhöhe. Wir ha-
ben in der Vergangenheit des Öfteren darüber diskutiert.
Meine Frage lautet: Wenn Sie die angeblich großen Pro-
fite in der Solarindustrie abschöpfen wollen, warum
schöpfen Sie dann nicht auch die großen Profite der gro-
ßen Energiekonzerne ab? Diese Profite sind wesentlich
höher und gehen in die Milliarden. Wir brauchen doch
das Geld und diskutieren permanent über Schuldenauf-
nahme. Wir wollen mehr regenerative Energien. Dieses
Geld könnten wir in das Marktanreizprogramm stecken.
Dann brauchte man das nicht zu streichen.


(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Herr Kollege, haben Sie Ihren Arbeitsvertrag bei Eon eigentlich schon gekündigt?)







(A) (C)



(D)(B)


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1704006400

Frau Bulling-Schröter, ich will Sie auf zwei Dinge

hinweisen. Bei der Reduzierung der Einspeisevergütung
im Bereich der Fotovoltaik handelt es sich nicht um ein
Abschöpfen, sondern um die Reduzierung eines gesetz-
lich festgelegten Betrags. Das nennt man nicht Abschöp-
fen.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Macht nichts! Aber das ist gemeint!)


Das nennt man eine Anpassung zur Markteinführung ei-
ner ganz bestimmten Technologie.

Zu den CO2-Zertifikaten: Man müsste dazusagen,
dass es sich hierbei um Erlöse handelt, die über Wettbe-
werb und Markt entstehen. Ich gebe zu, dass dieser Wett-
bewerb und der Markt hier nicht so richtig funktionieren;
aber im Kern sind das zwei grundlegend unterschiedli-
che Verhältnisse. Was den CO2-Zertifikatehandel be-
trifft, so nehme ich an, dass sich in den kommenden Jah-
ren die Dinge verändern werden.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: 2013!)


– Bis 2015 wird sich einiges verändern. Das wird ganz
sicher so sein. – Bis dahin, so nehme ich an, werden wir
auf europäischer Ebene einen gängigen Markt mit Zerti-
fikaten haben. Ich wünsche mir von jeder Bundesregie-
rung, dass wir auch den weltweiten Handel mit CO2-Zer-
tifikaten in Gang bringen und dass wir ihn von der
Beschränkung ausnehmen. Ich möchte, dass wir interna-
tional besser mit CO2-Zertifikaten handeln können. Um
auf Datteln zurückzukommen: Wenn wir ein Kohlekraft-
werk bekommen, das emittiert, wird das Angebot an
CO2-Zertifikaten am Markt größer werden. Die Folge
ist, dass wir dann vermutlich bessere Preise bekommen.
Das sind die Zusammenhänge, die zur Beantwortung Ih-
rer Frage erwähnt werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mir ist nicht bange. Deutschland ist auf einem guten
Weg in Richtung CO2-Emissionsreduzierung. Dafür
werden wir auch in dieser Bundesregierung und in den
sie tragenden Fraktionen arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704006500

Andreas Jung spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1704006600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie

wissen, die Koalition hat sich das Ziel gesetzt, bis zum
Herbst ein Gesamtkonzept im Bereich der Energiepolitik
vorzulegen, das die Belange von Umwelt- und Klima-
schutz, von Wirtschaftlichkeit und von Versorgungssi-
cherheit gleichermaßen einbezieht und unter einen Hut
bringt. Sie wissen auch, dass wir dabei um die eine oder
andere Sachfrage ringen und Diskussionen führen. Ich
glaube, das gehört in der Politik dazu.

Wir merken aber vor allem, dass all diese Diskussionen
von einem ernsthaften Ringen um den richtigen Weg,
von ernsthaftem Bemühen um gute Lösungen geprägt
sind. Damit unterscheiden wir uns von dem, was Sie
heute mit Ihrem Antrag zur Diskussion stellen. Wenn
man diesen Antrag liest, wird einem sehr schnell klar: Es
geht Ihnen hier um einen einzigen Punkt, um den Land-
tagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: So ist es!)


Sie stellen als Aufhänger in den Mittelpunkt dieses
Antrags eine Änderung von § 26 des Landesentwick-
lungsgesetzes von Nordrhein-Westfalen. Die Diskussion
über diese Vorschrift ist sicherlich spannend, sie ist ganz
bestimmt auch interessant. Aber diese Diskussion gehört
mit absoluter Sicherheit nicht in den Deutschen Bundes-
tag, sondern in den Landtag von Nordrhein-Westfalen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das entlarvt die Absicht: Es geht Ihnen um Wahl-
kampf. Ich bitte Sie aber: Wenn Sie Wahlkampf in Nord-
rhein-Westfalen machen wollen, dann gehen Sie auf die
Marktplätze, oder gehen Sie in die Stadthallen. Am bes-
ten Sie bewerben sich um ein Landtagsmandat. Aber be-
schäftigen Sie nicht den Bundestag mit Themen, für die
er nicht zuständig ist!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – Frank Schwabe [SPD]: War der Herr Laumann heute hier oder nicht?)


Würden wir nämlich diesen Antrag beschließen, wäre
das nichts anderes als ein Verstoß gegen das Subsidiari-
tätsprinzip, das wir gegenüber Europa hochhalten, auf
das auch wir als Deutscher Bundestag Wert legen, näm-
lich dass uns niemand anderes in unsere ureigenen An-
gelegenheiten hineinredet.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie denn Ihre Klimaziele erfüllen, wenn das da in Nordrhein-Westfalen abgeht? Hier hohl reden und da anders handeln, Herr Jung! Das ist Ihr Prinzip!)


Dies sollten wir auch aus Respekt vor der gewählten
Volksvertretung in Nordrhein-Westfalen nicht machen.
Deshalb: Über landespolitische Themen diskutieren Sie
in Nordrhein-Westfalen, wir beschäftigen uns mit den
Bundesangelegenheiten.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber über Klimaschutz muss man hier reden, und da passiert das Gegenteil!)


– Über Klimaschutz, Frau Höhn, müssen wir hier reden.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und deshalb auch über Klimaschutz in Nordrhein-Westfalen!)


Deshalb sage ich: Wahlkampf nein, aber Wettbewerb,
Wettstreit um den besseren Weg ja.





Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Exakt, und das machen wir!)


Frau Höhn, Sie haben vorher gesagt, Sie messen uns
nicht an unseren Reden, sondern Sie messen uns an un-
serem Handeln.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Das akzeptieren wir. Das ist der richtige Maßstab.

Ich bitte Sie, dann aber auch zu akzeptieren, dass wir
auch Sie, die Grünen, Rot-Grün, nicht daran messen, wie
Sie heute reden, sondern zuallererst daran, wie Sie ge-
handelt haben, als Sie im Bundestag die Mehrheit hatten,
als Sie die rot-grüne Bundesregierung gestellt haben.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Da möchte ich einige Punkte von dem aufgreifen, was
Sie gesagt haben, was in dieser Debatte gesagt wurde.

Erster Punkt: Energieeffizienz. Wir sind in diesem
Haus in allen Debatten einig gewesen, dass mit das
Beste für Energieeffizienz und für Energiesparen das
Gebäudesanierungsprogramm ist. Wenn man sich an-
schaut, was damals Rot-Grün gemacht hat, dann stellt
man fest: Dieses Programm gab es damals auch schon,
es war aber eher ein Progrämmchen. Erst nach Rot-Grün
ist es gelungen, dieses Programm nicht nur zu verdop-
peln, sondern es in der Großen Koalition mehr als zu
verdreifachen und im Übrigen mit Mitteln aus dem
Konjunkturprogramm weiter aufzustocken. Jetzt ist es in
der christlich-liberalen Koalition in einer schwierigen
haushaltspolitischen Lage gelungen, an dem finanziellen
Umfang festzuhalten und die klare Botschaft zu geben:
Wir stehen mit diesem Programm weiter für Energieeffi-
zienz, für Klimaschutz und auch für eine Politik für das
Handwerk vor Ort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: 1,5 statt 2,25! Das ist nicht Beibehalten! Das ist weniger!)


Zweiter Punkt: Marktanreizprogramm. Auch ich
und viele Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion
setzen sich dafür ein, dass dieses Marktanreizprogramm
entsperrt wird, dass die Mittel für Ökoheizungen freige-
geben werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie das doch! Sie haben die Mehrheit!)


– Ja, das wollen wir.

Aber auch da ist der Rückblick interessant. Ich erin-
nere mich gut, nachdem ich im Jahr 2005 in den Bundes-
tag gekommen war, dass sich im Jahr 2006 auf all unse-
ren Schreibtischen die Briefe von Bürgern, von
Gemeinden gestapelt haben, die geschrieben haben: Wir
wollen von diesem Marktanreizprogramm profitieren. Es
ist aber jetzt, zur Hälfte des Jahres, schon aufgebraucht.
Ihr müsst dieses Programm aufstocken. – Damals gab es
ein zähes Ringen. Aber es ist uns schließlich gelungen,
die Mittel für dieses Programm tatsächlich aufzustocken.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sperren Sie es denn jetzt? Darüber reden wir heute!)


– Frau Höhn, wir kämpfen jetzt dafür, dass an dieser
Aufstockung festgehalten werden kann und dass wir
nicht auf das Niveau zurückfallen, das es zur Zeit von
Rot-Grün gegeben hat. Darum geht es jetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist null! Jetzt ist gar nichts mehr da! Sie haben es eingestellt!)


Ich bin unserer Berichterstatterin, der Kollegin
Flachsbarth, dankbar, dass sie die Zahlen noch einmal
herausgearbeitet hat. Wir haben in diesem Jahr schon jetzt
125 Millionen Euro für Ökoheizungen aus dem Marktan-
reizprogramm ausgegeben. Im gesamten Jahr 2005, dem
Abschiedsjahr von Rot-Grün, waren es nur 121 Millionen
Euro. Deshalb sage ich: Wir kämpfen für die Entsper-
rung, damit wir nicht auf das Niveau zurückfallen, das
wir zu rot-grünen Zeiten hatten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! – Ulrich Kelber [SPD]: Wie viele Jahre wollen Sie sich damit noch über die Runden retten, mit diesem Vergleich?)


Lieber Herr Kelber, Sie und auch die Kollegen von
der Fraktion der Grünen haben das Thema Kohle ange-
sprochen. Die Frage ist interessant, wie es damals gelin-
gen konnte, die Mittel für das Marktanreizprogramm
aufzustocken. Es ist gelungen durch die Einführung der
Versteigerung von Zertifikaten im Bereich des Emis-
sionshandels für Kohlekraftwerke. Die rot-grüne Regie-
rung, speziell die Minister Trittin und Clement, haben
die Zertifikate für die Kraftwerke umsonst verteilt.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das durften sie doch gar nicht anders machen! Das hat uns die EU vorgegeben! Sie wissen es doch!)


Obwohl man für 10 Prozent der Zertifikate eine Auktionie-
rung hätte durchführen können, haben sie mehr Zertifikate
verteilt, als es dem gesamten CO2-Ausstoß entsprochen
hat. Der SPD- und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist
es in der Großen Koalition gelungen – im Übrigen gegen
den Vorschlag des heutigen SPD-Vorsitzenden und da-
maligen Umweltministers, der weiterhin die Zertifikate
umsonst verteilen wollte –,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


in die Versteigerung einzusteigen. Die Erlöse aus dieser
Versteigerung wurden verwendet, um die Mittel für das
Marktanreizprogramm aufzustocken.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704006700

Herr Kollege Jung, möchten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Höhn zulassen?






(A) (C)



(D)(B)


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1704006800

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704006900

Bitte schön.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704007000

Herr Kollege Jung, Sie haben eben den damaligen Mi-

nister Trittin kritisiert, weil er 100 Prozent der Zertifikate
umsonst an die Unternehmen abgegeben hat. Können Sie
bitte bestätigen, dass zum damaligen Zeitpunkt die EU
gar nicht die Möglichkeit eröffnet hat, etwas anderes zu
machen, als diese Zertifikate umsonst an die Unterneh-
men abzugeben?


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1704007100

Frau Kollegin Höhn, ich will es gerne noch einmal

nachprüfen. Nach meiner Erinnerung war es so, dass von
Beginn an die Möglichkeit bestanden hat, 10 Prozent
dieser Zertifikate zu versteigern.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das ist falsch! – Ulrich Kelber [SPD]: 5 Prozent!)


– Bitte?


(Ulrich Kelber [SPD]: 5 Prozent!)


– Also 5 Prozent. – Aber es gab von Anfang an die Mög-
lichkeit, Zertifikate zu versteigern. Rot-Grün hat sich da-
mals dagegen entschieden. Die Zertifikate wurden viel-
mehr nach dem Grandfathering-Prinzip zugeteilt: Jeder
bekommt so viele Zertifikate, wie er CO2 ausstößt. Mit
anderen Worten: Derjenige, der noch nie etwas für Ener-
gieeffizienz getan hatte, wurde privilegiert, und derje-
nige, der investiert hatte, wurde benachteiligt. Auch das
haben wir im Rahmen der Diskussion zum NAP II än-
dern können. Im Vergleich zu Rot-Grün gab es auch an
dieser Stelle einen Fortschritt im Bereich des Klima-
schutzes. Die Bedingungen für den Betrieb von Kohle-
kraftwerken wurden verschärft, was für einen größeren
Druck in Sachen Klimaschutz gesorgt hat.

Ich darf noch einmal zurückkommen auf den Einwand
der Frau Kollegin Bulling-Schröter: Ja, im Emissionshan-
del – Frau Höhn hat auch schon darauf hingewiesen –
sind wir von den Richtlinien der Europäischen Union
abhängig. Diese ließen es zu, 10 Prozent der Zertifikate
zu versteigern. Von dieser Möglichkeit haben wir beim
NAP II Gebrauch gemacht. Die Bundeskanzlerin hat aber
danach auf der Konferenz in Brüssel in der Europäischen
Union durchgesetzt, dass in Zukunft 100 Prozent dieser
Zertifikate versteigert werden können. Es ist also schon
Beschlusslage, dass auf der Ebene der Europäischen
Union 100 Prozent der Zertifikate versteigert werden
können und damit der CO2-Ausstoß belastet wird. Dies
ist ein Schritt in Richtung mehr Klimaschutz.

Zuletzt will ich noch auf die Frage der Glaubwürdig-
keit der deutschen Klimaschutzpolitik eingehen. Die
Ziele sind schon angesprochen worden. Dabei wurde die
Frage aufgeworfen: Hält Deutschland an seinen ehrgei-
zigen Klimazielen fest? Da ist – ich rede jetzt nur über
die Fakten, über das, was wir hier gemeinsam in ver-
schiedenen Legislaturperioden im Deutschen Bundestag
beschlossen haben – ein ständiger Fortschritt zu erken-
nen. Zum ersten Mal hat sich der Bundestag in dieser
Legislaturperiode mit der christlich-liberalen Mehrheit
dazu bekannt, den CO2-Ausstoß in Deutschland bis 2020
gegenüber 1990 um 40 Prozent zu reduzieren, ohne das,
wie es zuvor immer der Fall war, davon abhängig zu
machen, dass ein internationales Klimaabkommen ge-
schlossen wird und dass sich die EU in diesem Rahmen
zur Reduktion von 30 Prozent verpflichtet. Mit dieser
Festlegung unterstreichen wir, dass wir an unserer Vor-
reiterrolle festhalten.

Meine Redezeit geht zu Ende. Ich möchte nur noch
sagen, dass es um die Reduktionsziele geht, aber auch
um die Finanzierung, um die wir ringen und für die wir
kämpfen. Als ich am Sonntagabend die Gelegenheit
hatte, auf dem Petersberg Gespräche mit vielen Partnern
zu führen, war mein Eindruck, dass die deutsche Vorrei-
terrolle mitnichten angezweifelt wird; vielmehr wird in
uns nach wie vor ein glaubwürdiger Partner mit einer
ehrgeizigen Klimapolitik gesehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704007200

Ulrich Kelber hat das Wort zu einer Kurzintervention.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1704007300

Herr Kollege Jung, Sie wissen, dass ich Sie sehr

schätze, auch Ihren Redestil. Heute haben Sie aber etwas
für Sie Ungewohntes gemacht: Sie haben keinen reinen
Fachvortrag gehalten, und Sie haben auch nicht nur die
unterschiedlichen Positionen, die man haben kann, vor-
getragen, sondern Sie haben an zwei Stellen versucht,
die Leute hinter die Fichte zu führen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Oh nein!)


Auf diese muss man einmal kurz eingehen.

Ich finde es ja gut, dass Sie das, was Sie mit uns ge-
meinsam in der Zeit der Großen Koalition erreicht haben,
loben. Sie und ich wissen, wie viele Nächte es teilweise
gebraucht hat, um Herrn Kauder bzw. Herrn Röttgen als
Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer zu überzeugen.
Es ist gut, dass er sich in gewisser Weise vom Saulus
zum Paulus gewandelt hat, als er die Pforte zum Um-
weltministerium durchschritten hat.

Aber wenn Sie sagen, unter Rot-Grün sei in Sachen
Emissionshandel weniger gemacht worden als unter Rot-
Schwarz, dann muss ich an Folgendes erinnern: Als wir
2003 zum ersten Mal den Emissionshandel beschlossen
haben, hat die CDU/CSU dagegen gestimmt, weil wir
aus der Sicht der CDU/CSU zu wenig CO2-Rechte für
die Unternehmen und zu wenig Sonderrechte für hoch-
emittierende Unternehmen bereitgestellt haben. Das
gehört schon dazu, wenn man darüber spricht: Sie haben
etwas verbessert, was Sie vorher abgelehnt haben, weil
es Ihnen zu scharf war.





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

Der zweite Punkt. Die Idee der 100-Prozent-Auktionie-
rung ist in der Tat damals aus den Fraktionen hervorge-
gangen. Sie wurde dann von Frau Reiche und mir für die
Fraktionen verhandelt. Aber ich muss Sie noch einmal da-
ran erinnern, wie das in Brüssel gelaufen ist: Aus Brüssel
kam nämlich auf einmal die Meldung, die Kanzlerin wolle
Polen und Italien anbieten, die Vollversteigerung der
Emissionszertifikate aufzugeben, wie das übrigens Teile
Ihrer Fraktion und die schwarz-gelbe Landesregierung in
Nordrhein-Westfalen per Landtagsbeschluss als Position
vertreten haben. Es war dann der ebenfalls anwesende
Außenminister Steinmeier, der widersprochen hat und
auf Einhaltung der Bundestagsbeschlüsse bestanden hat.
Das gehört schon dazu. Sie sollten sich nicht für etwas
loben, was Sie am Anfang gar nicht wollten und was Sie
sich erst vom Koalitionspartner haben abringen lassen.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704007400

Herr Jung, Sie haben Gelegenheit, zu antworten.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1704007500

Herr Kollege Kelber, Sie haben zwei Bemerkungen

gemacht. Mit der ersten Bemerkung haben Sie nicht das
infrage gestellt, was ich gesagt habe, nämlich dass der
Emissionshandelsplan im Jahr 2007 besser gewesen ist
als der von Rot-Grün. Sie haben bestätigt, dass es Fort-
schritte gegeben hat. Nur in Bezug auf das Abstim-
mungsverhalten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im
Jahr 2003, das Sie angesprochen haben, muss ich Ihnen
zugestehen, dass Sie daran möglicherweise eine fri-
schere Erinnerung haben als ich, der ich zu diesem Zeit-
punkt noch nicht im Bundestag war. Entscheidend ist
aber der Vergleich der Zeit unter Rot-Grün und der Zeit
danach, den ich angestellt habe. Da ist eine kontinuierliche
Verbesserung zu mehr Klimaschutz festzustellen.

Der zweite Punkt. Ich bin, genau wie Sie, in Brüssel
nicht dabei gewesen. Aber klar ist, dass unsere Bundes-
regierung unter Führung der Bundeskanzlerin und
selbstverständlich unter Mitwirkung des Bundesaußen-
ministers dort unsere Position vertreten hat, die Position
der Regierung, die Unterstützung erfahren hatte durch
einen Antrag des Bundestages. Entscheidend ist, was am
Ende hinten rauskommt. Das hat die Kanzlerin dort ver-
treten, und das ist ein gemeinsamer Erfolg dieser Regie-
rung gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Frank Schwabe [SPD]: Aber Sie wollten es trotzdem erst nicht! – Franz Obermeier [CDU/ CSU]: Das sind die Fakten, Herr Kelber! – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben gar nicht verstanden, dass er mich bestätigt hat! Sie müssen mal zuhören!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704007600

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1430
mit dem Titel „Gleichklang von Bund und Ländern beim
Klimaschutz sicherstellen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist der Antrag bei Zustimmung durch die einbringende
Fraktion abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen haben da-
gegen gestimmt, SPD und Linke sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/1475 an die
Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung ste-
hen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist es so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis i auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Harmonisierung des Haftungsrechts im Luft-
verkehr

– Drucksache 17/1293 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 3. Dezember 2009 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Födera-
tiven Republik Brasilien über Soziale Sicher-
heit

– Drucksache 17/1296 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Güterkraftverkehrsgesetzes und des
Fahrpersonalgesetzes

– Drucksache 17/1395 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Tourismus

d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen

Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2009
– Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes
für das Haushaltsjahr 2009 –

– Drucksache 17/1500 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Von der Konfrontation zur Kooperation –
Deutsch-russische Beziehungen verbessern

– Drucksache 17/1559 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Krebserregende Stoffe in Kinderspielzeugen
durch Sofortmaßnahmen ausschließen

– Drucksache 17/1563 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Einstellung der Verhandlungen mit den Verei-
nigten Staaten von Amerika um ein neues
SWIFT-Abkommen und Verzicht auf ein euro-
päisches Abkommen über ein Programm zum
Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus

– Drucksache 17/1560 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Finanzausschuss

h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die
Erfahrungen mit den durch das GKV-WSG
bewirkten Rechtsänderungen in § 13 Absatz 2
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch

– Drucksache 16/12639 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Fünfter Staatenbericht der Bundesrepublik
Deutschland über Maßnahmen zur Durchfüh-
rung des Übereinkommens vom 10. Dezember
1984 gegen Folter und andere grausame, un-
menschliche oder erniedrigende Behandlung
oder Strafe (CAT)


– Drucksache 16/14138 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of-
fensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir kommen nunmehr zu den Tagesordnungspunk-
ten 29 b bis l sowie den Zusatzpunkten 2 a und 2 b. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 29 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Bekämpfung
von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr

(Neufassung)

Umsetzung der Initiative für kleine und mitt-

(Small Business Act)


(ADD 1 in Englisch)


– Drucksachen 17/790 Nr. 8, 17/1610 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 29 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 71 zu Petitionen

– Drucksache 17/1436 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 29 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 72 zu Petitionen

– Drucksache 17/1437 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 73 zu Petitionen

– Drucksache 17/1438 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der SPD
angenommen. Die Fraktion Die Linke war dagegen,
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 29 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 74 zu Petitionen

– Drucksache 17/1439 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 29 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 75 zu Petitionen

– Drucksache 17/1440 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmen
durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men; alle anderen Fraktionen haben dafür gestimmt.

Tagesordnungspunkt 29 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 76 zu Petitionen

– Drucksache 17/1441 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die
Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderen
Fraktionen dafür.

Tagesordnungspunkt 29 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 77 zu Petitionen

– Drucksache 17/1442 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage-
gen hat die Fraktion der SPD gestimmt, alle anderen
Fraktionen dafür.

Tagesordnungspunkt 29 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 78 zu Petitionen

– Drucksache 17/1443 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage-
gen haben Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke gestimmt, alle übrigen Fraktionen dafür.
Tagesordnungspunkt 29 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 79 zu Petitionen

– Drucksache 17/1444 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Frak-
tion Die Linke. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben
dagegen gestimmt.

Tagesordnungspunkt 29 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 80 zu Petitionen

– Drucksache 17/1445 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen
der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben
dagegen gestimmt.

Wir kommen zu Zusatzpunkt 2 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Anbau von gentechnisch veränderter Kartof-
fel Amflora verhindern

– Drucksachen 17/1028, 17/1547 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1547, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1028 abzu-
lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben
die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke. Die Fraktion der SPD
hat sich enthalten.

Zusatzpunkt 2 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel
zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futter-
mittelkette fernhalten

– Drucksachen 17/1410, 17/1603 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1603, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1410 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussemp-
fehlung angenommen. Die Koalitionsfraktionen haben
zugestimmt, die Oppositionsfraktionen dagegen.

Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuer-
schätzung für die Steuersenkungspläne der
CDU/CSU-FDP-Koalition

Für die SPD hat das Wort der Kollege Joachim Poß.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1704007700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem

heutigen Tag gibt es keine Ausflüchte mehr. Jetzt muss
die Regierungskoalition endlich die Karten auf den
Tisch legen.


(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Full House, Herr Kollege!)


Die Bürgerinnen und Bürger und wir hier im Parlament
haben ein Anrecht darauf,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ober sticht Unter, Herr Kollege!)


von der amtierenden Regierung über so zentrale und so
wichtige politische Fragen wie die von Ihnen immer
wieder angekündigte Steuerreform informiert zu werden.
Das gilt natürlich auch für die Strategie der Regierung
zur Haushaltskonsolidierung.

Über Monate hinweg haben Sie alle hier, die Bundes-
regierung mit Kanzlerin Merkel an der Spitze, Herr
Schäuble, aber jede Auskunft in der Sache verweigert.
Die Bürgerinnen und Bürger haben mit der Regierung
von Schwarz-Gelb die Katze im Sack gekauft. Das ist
die Quintessenz des politischen Vorgangs der letzten
Monate.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundeskanzlerin und ihre Koalition hatten bisher
nur ein Ziel: Die Wahrheit soll erst nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen ans Licht. Nur deshalb haben Sie
in den letzten Monaten immer wieder erklärt, erst müsse
die Steuerschätzung abgewartet werden, als erwarteten
Sie heute noch irgendwelche Überraschungen. Aber es
hat heute keine Überraschung gegeben. Die öffentlichen
Kassen bleiben leer, und zwar leider nicht nur in diesem,
sondern auch in den folgenden Jahren. Es gibt mit dem
heutigen Tag keine neue Lage. Dass wir kein Geld haben
für weitreichende Steuersenkungen, haben wir alle, Sie
und wir, bereits vor einem Jahr gewusst.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)


Aber die FDP und Teile der Union haben so getan, als
hätte es die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise nicht ge-
geben. Sie haben sich der Realität von Anfang an nicht
gestellt. Sie haben sich Ihre eigene Welt geschaffen und
werden jetzt Opfer dieser Illusion, die Sie bei den Bürge-
rinnen und Bürgern geschürt haben, leider bei der Bun-
destagswahl mit Erfolg, weil sie Ihnen teilweise
geglaubt haben, dass es einen Spielraum für Steuersen-
kungen gibt; tatsächlich gibt es diesen aber nicht.

Erst vor wenigen Tagen hat die FDP auf ihrem Bun-
desparteitag ein Steuersenkungskonzept in Höhe von
16 Milliarden Euro beschlossen. Natürlich war Herrn
Westerwelle, Herrn Pinkwart und allen anderen bestens
bekannt, dass die heutige Steuerschätzung keine Steuer-
senkungsspielräume erbringen wird.

Aber wen von Ihnen interessiert das schon? Das ist
nur die Realität, die man sich am besten weit vom Leibe
hält. Sie setzen immer noch darauf, die Menschen mit
Ihren Steuersenkungsfantasien locken zu können. Aber
der nächste Sonntag wird Ihnen zeigen,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da ist Muttertag, Herr Kollege!)


dass das nicht mehr funktionieren wird, meine Damen
und Herren von der Koalition. Das, was Sie am
27. September letzten Jahres noch geschafft haben, wird
bei den Menschen in meiner Heimat Nordrhein-West-
falen nicht mehr funktionieren.

Viele von denen, die Sie am 27. September noch ge-
wählt haben, werden Sie verlassen, und zwar wegen Ih-
rer Politik in Nordrhein-Westfalen und vor allem wegen
Ihrer unverantwortlichen Politikinszenierung in Berlin.
Sie sind endgültig an den Realitäten, an der Praxis ge-
scheitert. Und Sie von der FDP sind überhaupt nicht re-
gierungstauglich, wie alle feststellen konnten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie schauspielern Regierung. Mehr ist das nicht. Ich
meine in dem Fall nicht die CDU/CSU, die hat ja das
Regieren ab 2005 bei uns gelernt.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Es gibt nur zwei Möglichkeiten, irgendwelche Steuer-
senkungen zu finanzieren, nämlich durch die Ausplün-
derung der Sozialsysteme und das Ruinieren der Kom-
munen. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD)






Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)

Nur wenn Sie diese beiden Dinge anpacken, haben Sie
Spielräume für Steuersenkungen. Nun stellt sich die
Frage: Ist das Ihre Strategie für die nächsten Jahre? Ist
das die Politik von Frau Merkel und Herrn Schäuble?
Diese Fragen müssen umgehend beantwortet werden.
Bis jetzt sind Sie jede Antwort darauf schuldig geblie-
ben.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Das war nichts!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704007800

Für die Bundesregierung hat der Staatssekretär

Hartmut Koschyk das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Armer Kerl!)


H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1704007900


Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das Ergebnis der Schätzrunde von Ländern, Instituten
und Bundesregierung ist eindeutig: Bund, Länder und
Gemeinden werden in den kommenden Jahren sehr enge
finanzielle Handlungsspielräume haben. Die Folgen der
Krise werden sich dabei noch über Jahre auf die öffentli-
chen Haushalte auswirken.

Für dieses Jahr ergibt die jetzige Steuerschätzung
keine wesentliche Änderung gegenüber der letzten Steu-
erschätzung vom November. Hier wirken sich die von
der Bundesregierung vorgenommenen Steuerentlastun-
gen einerseits und die verbesserte Konjunkturlage ande-
rerseits aus, sodass es unter dem Strich zu einer leichten
Verminderung des Steueraufkommens kommt und nicht
zu der im Vergleich zur letzten Schätzung befürchteten
Verminderung. Aber in den Jahren ab 2011 werden die
Einnahmen auf allen staatlichen Ebenen im Vergleich
zur letzten Mittelfriststeuerschätzung vom Mai 2009
deutlich geringer ausfallen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Überraschung!)


Das liegt auch daran, dass vor einem Jahr das volle
Ausmaß der Krise noch nicht erfasst werden konnte.
Und Sie erinnern sich sicherlich daran: Die Bundeskanz-
lerin hat in der Haushaltsdebatte gesagt, dass wir uns
werden anstrengen müssen, um im Jahr 2013, was das Ni-
veau der Volkswirtschaft und der Einnahmen aller staatli-
chen Ebenen angeht, wieder dort anzukommen, wo wir
vor der Krise waren. Auch das macht die heutige Steuer-
schätzung deutlich: Sie prognostiziert für das Jahr 2013
ein gesamtstaatliches Steueraufkommen von 561 Milliar-
den Euro. Das hatten wir zuletzt im Jahre 2008, also vor
dem Einbruch der Krise.

Eines ist uns in diesen Tagen sehr deutlich geworden,
nämlich dass vor allem die aktuellen Entwicklungen in
Europa die existenzielle Bedeutung solider Staatsfinan-
zen in den Mittelpunkt aller politischen Betrachtungen
rücken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nur auf der Basis einer Solidität der Finanzpolitik ist
der Erfolg des Euro auf Dauer zu sichern. Deutschland
wird als Stabilitätsanker und als glaubwürdiges Vorbild
in der EU heute und in Zukunft gebraucht. Die Steuer-
schätzung ändert nichts daran, dass auch Deutschland
2010 die als Obergrenze konzipierte 3-Prozent-Marke
für das Staatsdefizit mit 5,5 Prozent weit überschreiten
wird. Umso wichtiger ist es, dass wir die vom Stabilitäts-
und Wachstumspakt geforderten 3 Prozent bis zum Jahr
2013 wieder erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Werte Kolleginnen und Kollegen, für den Bundes-
haushalt bedeutet das Ergebnis der heutigen Steuerschät-
zung,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist wahr: Es gibt keine Spielräume für Steuersenkungen!)


dass wir in den nächsten Jahren außerordentlich ehrgei-
zig sein müssen. In den Jahren 2011 bis 2013 haben wir
gegenüber dem geltenden Finanzplan aus dem Sommer
2009 Mindereinnahmen in Milliardenhöhe zu verkraf-
ten. Die Konsequenzen aus der heutigen Steuerschät-
zung werden wir im Rahmen unseres haushaltspoliti-
schen Gesamtkonzeptes


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Welches? Das würden wir gern kennenlernen!)


für den Haushalt 2011 und den Finanzplan bis 2014 ge-
nau bewerten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben kein Konzept!)


Dabei leiten uns natürlich die Vorgaben der Schulden-
bremse des Grundgesetzes. Die neue Schuldenregel gilt
erstmals für die nun anstehende Aufstellung des Haus-
haltes 2011 und den Finanzplan bis 2014. Bis zum Jahr
2016 müssen wir die strukturelle Neuverschuldung im
Bundeshaushalt auf unter 35 Prozent des Bruttoinlands-
produktes zurückführen. Hierfür sind entschiedene Kon-
solidierungsschritte erforderlich. In absoluten Zahlen
heißt das: Der Bund muss seine strukturelle Neuverschul-
dung bis 2016 jährlich um 10 Milliarden Euro abbauen.

Es gibt keine verantwortbare Alternative zu einer sol-
chen Politik. Wir müssen raus aus dem Schuldenwachs-
tum, das dazu geführt hat, dass bereits heute bei historisch
niedrigen Zinsen 37 Milliarden Euro im Bundeshaushalt
allein für Zinsen ausgegeben werden müssen. Wenn wir
unsere Handlungsfähigkeit auch in Zukunft sichern wol-
len, müssen wir diese Entwicklung stoppen. Dazu ist
diese Koalition entschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerade vor diesem Hintergrund haben wir im Koali-
tionsvertrag eine goldene Regel für die Finanzpolitik fest-
gehalten: vor allem ein dezidiertes Bekenntnis zur Schul-
denbremse sowie zu den Vorgaben des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes. Wir haben einen expliziten Finanzie-
rungsvorbehalt für alle Ausgaben und Haushaltsbelastun-
gen festgeschrieben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!)






Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)

Aber auch nach der Steuerschätzung bleibt es bei dem
verabredeten Zeitplan und der Grundausrichtung. Wir
haben jetzt eine solide Grundlage für die Verhandlungen
über den Bundeshaushalt 2011 und den mittelfristigen
Finanzplan. Die Beratungen mit den Ressorts werden bis
zum Sommer abgeschlossen sein. Alle Aufgaben- und
Ausgabenbereiche sind kritisch zu hinterfragen. Zusätzli-
che Maßnahmen müssen solide gegenfinanziert werden.

Wir sind zuversichtlich, dass es dieser Koalition gelin-
gen wird, 2011 und in den Folgejahren die notwendigen
Konsolidierungsschritte zu machen. Wir werden es schaf-
fen, vor allem durch Aufgabenkritik und Ausgabendiszi-
plin,


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ja ganz neu! Was machen Sie bisher?)


die Vorgaben der Schuldenbremse konsequent und
glaubwürdig umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir uns
die nötigen Spielräume erarbeiten, um die Bürger weiter
zu entlasten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Erarbeiten dieser Spielräume ist übrigens nicht nur
eine Aufgabe des Bundesfinanzministers. Alle Ressorts
sind gefordert, dabei mitzuhelfen. Das heißt, dass zusätzli-
chen Ausgaben, wie zu Beginn der Haushaltsaufstellung
in Milliardenhöhe gefordert, im Haushalt in keiner Weise
entsprochen werden kann.

Wir haben mit der Entlastung von kleinen und mittle-
ren Einkommen am 1. Januar 2010 begonnen.


(Widerspruch des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])


Diesen Weg für mehr Wachstum und Beschäftigung wer-
den wir konsequent weitergehen. In der Koalition herrscht
klares Einvernehmen darüber, dass wir 2011 noch keine
Senkung der Einkommensteuer vornehmen werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hotellobbyist!)


Unsere gemeinsame Priorität für 2011 liegt darin, einen
ersten Schritt zur Steuervereinfachung zu gehen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Oh! – Joachim Poß [SPD]: Das ist ja hoch bedeutungsvoll!)


Bundesfinanzminister Schäuble hat gerade vor der
Presse deutlich gemacht, dass wir unterscheiden müssen:
Es gibt Steuervereinfachungen, die kostenneutral sind;
wir müssen und werden aber auch über Steuervereinfa-
chungen diskutieren, die am Schluss eben nicht zum
Nulltarif zu haben sind.

Wenn wir schon über Steuervereinfachungen reden,
dann muss uns dabei deutlich sein, dass vor allem die
Komplexität unseres Steuersystems für viele Bürger als
Belastung empfunden wird. Vereinfachungen würden
bei Bürgern und Unternehmen einen beträchtlichen Ent-
lastungseffekt erzeugen. Wir wollen, dass es leichter
wird, Steuererklärungen auszufüllen. Daran arbeiten wir.
Wir wollen eine spürbare Vereinfachung für viele Bürger
erreichen. Darauf wollen wir uns zunächst einmal kon-
zentrieren.

Aber ich sage auch sehr deutlich: Die Entlastung kleine-
rer und mittlerer Einkommen bleibt auf der Tagesordnung.
Wir wollen in dieser Wahlperiode nach der schon begon-
nenen Entlastung der Familien, des Mittelstands und der
Familienbetriebe eine weitere Entlastung der kleinen
und mittleren Einkommen umsetzen, so wie wir das im
Koalitionsvertrag vereinbart haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden darüber beraten, in welcher Form wir dies in
dieser Wahlperiode umsetzen.

Daneben haben wir uns ganz groß auf die Agenda ge-
schrieben, die kommunalen Gemeindefinanzen, aber
auch die Ausgabensituation unserer Kommunen durch
eine Regierungskommission mit schnellen Ergebnissen
auf den Prüfstand zu stellen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch eine Kommission! – Weitere Zurufe von der SPD)


Das hat keine Koalition und keine Regierung vorher so
energisch angepackt wie die christlich-liberale Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)


Sie haben über dieses Thema immer nur geredet, wir ha-
ben es auf die Agenda gesetzt. Deshalb wird gerade auch
auf der Zukunftsfähigkeit der Kommunalfinanzen ein
ganz wichtiges Augenmerk bei den weiteren Maßnahmen
dieser Regierung für eine wachstumsorientierte Steuer-
politik und eine notwendige Konsolidierung liegen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Glauben Sie das, was Sie da abgelesen haben?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704008000

Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704008100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Stunde der Wahrheit ist gekommen:


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie reden!)


Die Steuerschätzung liegt auf dem Tisch und die Koalition
ist sehr überrascht. Es ist nun doch wesentlich weniger
Geld im Staatssäckel als geplant.

Mit 38,9 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen
bei Bund, Ländern und Kommunen bis 2013 müssen wir
jetzt rechnen, und ein Großteil der Ausfälle – das möchte
ich klar unterstreichen – ist durch die von Ihnen zu ver-
antwortende Steuerpolitik verursacht. Das und nicht ein-
fach nur die Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Realität.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ja, richtig: Wir haben Steuerentlastungen erreicht! Wir haben die Steuerzahler entlastet!)


Eines ist klar: Wenn alles so weiter geht wie bisher, dann
gibt es keine finanziellen Handlungsspielräume.

Nun können Sie noch drei Tage lang versuchen, zu
überlegen, wie Sie damit umgehen wollen. Sie kündigen
hier Konsolidierungen an, aber nichts Konkretes. Spätes-
tens am Wahltag in NRW, am Sonntag, wird die FDP die
Quittung für ihre Fantasien über die möglichen Steuer-
senkungen bekommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Für die wesentliche Klientel der FDP ist aber schon
einiges abgefallen: Mehrwertsteuersenkung für das Hotel-
gewerbe, Gewerbesteuerbefreiung für Leasingunterneh-
men, für die Finanzdienstleistungen. Diese haben ihr
Schäflein schon im Trockenen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Höhere Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge!)


Für die Mehrheit der Bevölkerung wird diese Steuer-
schätzung gravierende Auswirkungen haben; wir sehen
das in Griechenland. Was die Großen in Griechenland
verzockt haben, sollen nun die Kleinen ausbaden: Ren-
tenkürzungen, teilweise Aussetzung des Mindestlohns.
Wir hätten schon gerne einmal Antworten aus dem Bun-
desfinanzministerium – und zwar vor der Wahl und nicht
nach der Wahl in NRW – auf die Frage, was Ihnen alles
vorschwebt.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke sagt: Wir brauchen weder Steuer- noch
Lohndumping, sondern ein gerechteres Steuersystem,
wodurch oben be- und unten entlastet wird; denn die
falsch ausgerichtete massive Steuersenkungspolitik der
gesamten letzten zehn Jahre ist nach einer Studie des In-
stituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung,
IMK, auch maßgeblich mitverantwortlich für die schlechte
finanzielle Lage, in der wir uns befinden.

Zum Beispiel das Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
Durch Steuersenkungen wurde Wachstum versprochen.
Entstanden sind Einnahmeverluste. Allein bis 2013 wird
dieses Gesetz über 8 Milliarden Euro jährlich an Min-
dereinnahmen hervorrufen.


(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)


Letztendlich haben Ihre Steuererleichterungen eben
nicht zu Investitionen und Wachstum, sondern zu einem
Anstieg der Verschuldung von Bund, Ländern und Kom-
munen geführt. Das ist einfach ein Skandal. Ich muss Ih-
nen sagen: Das, was Sie hier immer zu begründen versu-
chen, ist ökonomisch falsch;


(Beifall bei der LINKEN)


denn die massiven Steuerentlastungen sowie Lohn- und
Sozialdumping sind mitverantwortlich für die wach-
sende Armut und die wachsende Reichtumskonzentra-
tion in der Bundesrepublik.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Nach dem ARD-
Deutschland-Trend sind 58 Prozent der Bevölkerung der
Meinung, dass Steuersenkungen ab 2011 nicht notwendig
sind. Sie befinden sich damit auch in Übereinstimmung
mit der Position des Sachverständigenrates, der Steuersen-
kungen als unverantwortlich ablehnt. Sie von der Koali-
tion halten aber daran fest. Steuersenkungsideologie, das
ist das Wahre. Sie träumen weiter davon, dass Wirt-
schaftswachstum durch Steuersenkungen entsteht. Dafür
gibt es aber weder eine überzeugende theoretische Begrün-
dung noch praktische Beweise, die das bestätigen würden.
Das ist nicht nur meine Behauptung: Die Bundesregie-
rung hat das letztendlich in ihrer Antwort auf eine Kleine
Anfrage der SPD bestätigt. Sie sagt, dass es nicht einmal
ein verlässliches Modell gibt, um abzuschätzen, welche
Auswirkung Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und
Steuereinnahmen haben. Da frage ich mich wirklich:
Wie kommen Sie denn zu Ihren Annahmen?


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ideologie!)


Halten Sie den Finger in die Luft, oder haben Sie ir-
gendwo ein Orakel, das Sie befragen? Dann lassen Sie
uns doch an Ihrem Wissen teilhaben.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, über
Steuersenkungen zu schwadronieren. Wir brauchen zur
Stabilisierung der öffentlichen Einnahmen eine sozial
gerechtere Politik, die unten gibt und oben nimmt. Deshalb
fordert die Linke eine gerechtere Einkommensbesteue-
rung, eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 53 Pro-
zent, eine Rücknahme der steuerlichen Entlastungen für
Unternehmen, eine Besteuerung von Kapitalerträgen nach
dem persönlichen Steuersatz sowie einen gesetzlichen
Mindestlohn.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen erhöht der Mindestlohn letztendlich die Ein-
nahmen der Sozialkassen und stabilisiert diese.

Es muss eine Sofortmaßnahme zur Entlastung der
klammen Kommunen beschlossen werden, die allein bis
2013 Steuermindereinnahmen in Höhe von 11,9 Milliar-
den Euro zu verkraften haben werden. Wir schlagen Ihnen
deshalb vor, die Zahlungen der Kommunen an den Bund
im Rahmen der Gewerbesteuerumlage zu streichen. Das
würde die Kommunen um jährlich rund 1,2 Milliarden
Euro entlasten.


(Beifall bei der LINKEN)


Steuern sind die Grundlage dafür, dass der Staat han-
deln kann, dass er für Bürgerinnen und Bürger Schulen,
Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kul-
tur- und Sporteinrichtungen vorhalten kann. Die Linke
sagt: Soziale Gerechtigkeit kann nur hergestellt werden,
wenn Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das
heißt, starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704008200

Für die FDP spricht der Kollege Dr. Volker Wissing.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1704008300

Besten Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Was Sie von der Opposition uns hier vor-
machen, ist schon einigermaßen absurd.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie verstehen doch was von Absurdistan! Sie sind doch der Meister von Absurdistan! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Absurd wie die Steuerpolitik der FDP!)


Sie erklären, man könne eine Steuerreform in Deutsch-
land erst angehen, wenn der Staat die Spielräume dazu
hat – als ob der Staat erst einmal Geld übrig haben
müsste, das er nicht braucht, bevor er etwas reformieren
kann. Das ist schon ein ziemlich abwegiger Blick auf die
Dinge.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir reden jetzt über eine Steuerschätzung, nicht mehr
und nicht weniger. Diese Steuerschätzung zeigt Tendenzen
auf. Die früheren Finanzminister können sicherlich ein
Lied davon singen, wie oft Steuerschätzungen korrigiert
werden müssen. Wir nehmen diese Steuerschätzung aber
ernst und machen sie zum Gegenstand unserer Beratungen
zur Umsetzung des Koalitionsvertrages; Staatssekretär
Koschyk hat Ihnen das eben erklärt.

Im Übrigen haben wir Ihnen in der letzten Aktuellen
Stunde zu einem ziemlich ähnlichen Thema schon einmal
erklärt – ich glaube, wir werden noch einige von Ihnen
beantragte Aktuelle Stunden zu dem Thema haben; dann
erklären wir es Ihnen noch einmal –, was im Koalitions-
vertrag steht, der in dieser Legislaturperiode von der Ko-
alition umgesetzt wird, weil das notwendig ist:


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Märchenbuch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Man kann bestimmte Dinge nicht erklären!)


Wir haben kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausga-
benproblem.


(Zurufe von der SPD: Ah! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, bei den Staatssekretären!)


Der Bundeshaushalt ist zu aufgebläht. Deswegen müssen
wir an die Ausgaben herangehen. Wir stehen in der
Haushaltspolitik mit dem Rücken zur Wand. Das kann
man nicht lösen, indem man die Einnahmen erhöht.
Stattdessen braucht man eine bessere Haushaltspolitik.
Sie werden das unter dieser Koalition erleben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie reden immer von Mindereinnahmen. Tatsächlich
ist es so: Gemäß dieser Steuerschätzung wird das Steuer-
aufkommen in den nächsten Jahren weniger stark steigen
als prognostiziert; aber es steigt:


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber Ihre Schulden auch!)


im Jahre 2011 gibt es plus 0,9 Prozent, im Jahre 2012
plus 4,8 Prozent, im Jahre 2013 plus 4,0 Prozent, im Jahr
2014 plus 3,6 Prozent. Davon können die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in Deutschland nur träumen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber wir haben immer noch nicht das Niveau von 2008 erreicht! Das ist doch das Entscheidende!)


Insofern sagen wir: Die Einnahmen können sich sehen
lassen; es sind immerhin über 510 Milliarden Euro in
diesem Jahr. Lasst uns deshalb schauen, wie wir die er-
forderliche Haushaltskonsolidierung synchron mit einer
Steuerstrukturreform zur Entlastung der unteren und
mittleren Einkommen gestalten können, damit das Land
nicht in eine soziale Schieflage kommt!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo wollen Sie denn sparen? Sagen Sie das doch mal! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch kein Rezept!)


Ich halte die steuerliche Entlastung der unteren und mitt-
leren Einkommen für eine Frage der Gerechtigkeit in
diesem Land. Wir reden über ein Entlastungsvolumen in
Höhe von 16 Milliarden Euro, das in dieser Legislatur-
periode noch zur Verfügung steht. Das entspricht ledig-
lich 3 Prozent der Einnahmen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Wir wollen das auch nicht sofort umsetzen, sondern wir
wollen das zum Jahr 2012 in Kraft setzen. Sie behaup-
ten, Steuersenkungen seien nicht möglich. Sie behaupten
auch, Steuerentlastungen würden unser Land in eine
Krise stürzen. Deswegen möchte ich Ihnen erklären, was
wir im Jahr 2010 erreicht haben.

Zum 1. Januar 2010 haben wir den ersten Schritt hin
zu einer Steuerentlastung umgesetzt.


(Joachim Poß [SPD]: Sie doch überhaupt nicht!)


Wir haben die Bürger um 8 Milliarden Euro entlastet.


(Joachim Poß [SPD]: Bürgerentlastungsgesetz!)


Sie haben gesagt: Damit fährt der Staat an die Wand.
Nichts ist mehr finanzierbar. Es werden riesige Löcher in
den Haushalt gerissen.


(Joachim Poß [SPD]: Was redet er denn da?)


Was ist das Ergebnis der Steuerschätzung? Die Min-
dereinnahmen durch Steuersenkungen wurden durch
Mehreinnahmen ausgeglichen. Das haben wir Ihnen vor-
her gesagt. Sie lagen falsch. Wir lagen richtig. Deswegen

(D)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

werden wir diese richtige Finanzpolitik fortsetzen. Sie
ist der richtige Weg.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schulden! Schulden! – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfug!)


Sie behaupten immer wieder, das würde sich nicht gegen-
finanzieren lassen, das würde keine Wachstumsimpulse
auslösen. Dazu sage ich: Lesen Sie die Steuerschätzung.
Das Gegenteil von dem, was Sie prognostiziert haben, ist
der Fall.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie keinen Wirsing! – Joachim Poß [SPD]: Wer hat denn das Bürgerentlastungsgesetz gemacht?)


Sie bekommen langsam ein Problem.


(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Nein, Sie! Sie haben eines!)


– Herr Heil, lachen Sie nicht. – Stellen Sie sich vor Ihre
Wähler und erklären Sie ihnen Folgendes: In Ihrem
Wahlprogramm, das Sie Ende 2009 verabschiedet haben,


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das war ehrlich!)


steht, dass Sie untere und mittlere Einkommen entlasten
werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn die Spielräume da sind! – Joachim Poß [SPD]: Aber mit Gegenfinanzierung!)


Jetzt befinden sich die Steuereinnahmen auf dem Niveau
von 2009, als Sie Ihr Wahlprogramm verabschiedet ha-
ben. Jetzt verweigern Sie genau das, was Sie den Wähle-
rinnen und Wählern vorher versprochen haben. Sie be-
kommen langsam ein Problem, Herr Heil: Sie begehen
nämlich schon wieder Steuerwahlbetrug.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Damals haben Sie versprochen, die Mehrwertsteuer
nicht zu erhöhen. Dann haben Sie sie um 3 Prozent nach
oben getrieben. Jetzt verweigern Sie den Menschen die
Entlastung, die Sie ihnen zugesagt haben.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Was erzählen Sie denn für einen Mist? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo wollen Sie kürzen?)


Ich sage Ihnen: Eine Aktuelle Stunde nach der ande-
ren zum Thema Steuerpolitik wird ein Rohrkrepierer für
die Sozialdemokraten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen freuen wir uns. Beantragen Sie die nächste
Aktuelle Stunde. Das ist eine gute Sache. Wir werden Ih-
nen immer wieder vorhalten, dass Sie Wahlbetrug bege-
hen, wenn Sie unsere Politik nicht unterstützen; denn sie
ist in Wahrheit sozial gerecht. Sie führt zu einem gerech-
ten Ausgleich.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die gut Verdienenden!)


Wer nicht dafür sorgt, dass die Haushaltskonsolidie-
rung, die in großen Schritten notwendig ist, mit steuerli-
cher Entlastung und einer Hinwendung zu einem faire-
ren Steuertarif synchron geht, der bringt unser Land in
eine soziale Schieflage.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsoziale Steuerpolitik!)


Das wird jedenfalls diese Koalition nicht zulassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das war der promovierte Heuchler! – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sei froh, dass das die Präsidentin nicht gehört hat! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Ein Ordnungsruf ist doch nicht schlimm! Hattest du noch keinen? – Heiterkeit)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704008400

Alexander Bonde spricht für das Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704008500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren die ganze Woche darüber, welche Aus-
wirkungen Schulden haben und welche Auswirkungen
es hat, wenn Politik wie in Griechenland nicht in der
Lage ist, Haushalte auf Dauer nachhaltig und tragfähig
zu gestalten. Es ist schon interessant, diese Debatte zu
führen, weil sie vonseiten der FDP-Fraktion mit einem
völlig anderen Duktus geführt wird.

Sie haben versucht, eine Steuerschätzung, die eine
schallende Ohrfeige für Ihre gesamten ökonomischen
Grundannahmen darstellt, als Bestätigung dafür heran-
zuziehen, dass es Möglichkeiten für Steuersenkungen
gibt. Herr Wissing, Ihr Auftritt ist vielleicht lustig, aber
wenn man die Konsequenzen betrachtet, dann vergeht
den Menschen das Lachen.

Sie haben behauptet, das Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz habe Wachstum beschleunigt und sich ge-
genfinanziert.


(Manfred Zöllmer [SPD]: So ist es! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Lesen Sie doch die Steuerschätzung!)


Ich bitte Sie: Lesen Sie die Studie des Sachverständigen-
rates, die gerade belegt hat, dass Ihr Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz, das eine Entlastung von über
8 Milliarden Euro vorsieht, eine Wachstumswirkung von
0,05 bis 0,07 Prozent hat.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie müssen es lesen!)






Alexander Bonde


(A) (C)



(D)(B)

Das heißt, wir reden über einen Promillebereich. Sie er-
zählen uns, es sei ein gutes Geschäftsmodell, wenn man
8,5 Milliarden Euro in etwas investiert und eine gute
Milliarde Euro ausgezahlt bekommt. Mit Verlaub: Sie
können nicht rechnen, Herr Wissing. Das ist Ihr Pro-
blem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Lesen Sie die Steuerschätzung! Ein Rohrkrepierer für die Opposition!)


Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Wir haben in
diesem Land eine Neuverschuldung in Höhe von
80 Milliarden Euro, Ihre ganzen Schattenhaushalte noch
nicht eingerechnet. Vor der Anerkennung dieser Tatsa-
che drücken Sie sich. Sie fragen sich nicht: Was machen
wir eigentlich, um aus dieser Situation herauszukom-
men? Nun sagen Sie: Wir haben 2013 höhere Einnah-
men als heute. Diese sind dann so hoch wie im Jahr
2008. – Das hat uns der Finanzminister im Fernsehen
freundlich vorgerechnet. Wenn der Finanzplan, den Sie
im Rahmen der Bereinigungssitzung eingebracht haben,
stimmt, dann sind auch die Ausgaben im Jahr 2013 um
30 Milliarden Euro höher als 2008.


(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)


Hinzu kommt, dass die Neuverschuldung in Höhe von
80 Milliarden Euro gesenkt werden muss. Wo stehen Sie
dann mit dem, was Sie verkündet haben? Was bedeutet
das für den Bundeshaushalt?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Alle Ihre Minister sind heute freundlicherweise zu
Hause geblieben. Diese könnten einmal ausrechnen,
welche finanziellen Auswirkungen die im Finanzplan
eingeplanten Sonderausgaben und die Wunschlisten ha-
ben, die Sie Herrn Schäuble geschickt haben. Sie müssen
laut den Vorgaben der Schuldenbremse 10 Milliarden
Euro im Jahr einsparen. Hinzu kommen das, was Sie
vorgeschlagen haben, und die Einsparnotwendigkeiten
aus der Steuerschätzung, die sich im Vergleich zum
Finanzplan noch einmal auf 10 Milliarden Euro im Jahr
belaufen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist die Wahrheit!)


Ich frage Sie: Liefert Herr Brüderle oder Herr Rösler
diese Milliarden? Ich will das jetzt von Ihnen wissen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie werden einen Haushalt bekommen!)


Sie drücken sich konsequent vor der Beantwortung der
Frage, woher diese Milliarden kommen sollen. Sie kön-
nen noch nicht einmal darlegen, wo die 10 Milliarden
Euro gemäß den Vorgaben der Schuldenbremse einge-
spart werden sollen, ohne mit Tricks zu arbeiten. Sie alle
ventilieren längst die griechische Lösung für das Jahr
2011. Sie wollen mit einem Buchungstrick bei der Bun-
desagentur für Arbeit die erste Stufe der Verschuldungs-
reduzierung erreichen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das hat noch kein Mensch entschieden!)


Das ist nur Kosmetik; denn Sie reduzieren die Verschul-
dung tatsächlich um keinen Euro. Nicht einmal hier
schaffen Sie es, 10 Milliarden Euro einzusparen. Nichts-
destotrotz erzählen Sie uns, dass Sie es in Einklang brin-
gen werden, 10 Milliarden Euro gemäß den Vorgaben
der Schuldenbremse und 10 Milliarden Euro, die laut
Steuerschätzung für einen Konsolidierungskurs notwen-
dig sind, einzusparen und gleichzeitig Steuergeschenke
zu machen. Mit Verlaub, ich glaube an den Nikolaus,
aber nicht an Sie, Herr Wissing. Solche Wunder kann
auch die FDP nicht vollbringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben erlebt, wie Sie, obwohl Sie die Zahlen
schon kannten, den Bundestagswahlkampf mit einer
Lüge bestritten haben und den Menschen gesagt haben:
Niemand glaubt daran, aber wählt uns; das klappt schon
irgendwie. – Sie halten nun genau die gleiche Lüge bis
zur Wahl in Nordrhein-Westfalen aufrecht. Dabei sind
Sie durch die Steuerschätzung krachend widerlegt wor-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bis 2013 fehlen 40 Milliarden Euro im Vergleich zur
letzten Steuerschätzung, auf der Ihre gesamten offiziel-
len Haushaltsplanungen basieren. Bis 2014 fehlen
50 Milliarden Euro.

Wir haben bislang noch nicht über die Lage der Kom-
munen gesprochen. Wir erleben, wie dort, wo keine
Rücklagen mehr vorhanden sind, in die öffentliche Da-
seinsvorsorge eingegriffen werden muss. Wie wir alle
wissen, gehen die Rücklagen in den meisten Kommunen
zu Ende. Dabei geht es genau um den Zeitraum, in dem
es laut Steuerschätzung zusätzliche milliardenschwere
Einbrüche geben wird.

Nichtsdestotrotz packen Sie weitere Belastungen
obendrauf. Sie wollen einen anderen Staat. Sie wollen
etwas anderes als die Infrastruktur, die den Bürgerinnen
und Bürgern bislang als Selbstverständlichkeit im tägli-
chen Leben zur Verfügung steht. Sie gehen an die Finan-
zierung der Kinderbetreuung, der Schwimmbäder und
der Bibliotheken heran. Sie gefährden die Fähigkeit des
Bundes, Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Das gilt auch
im Hinblick auf die Bildungsfinanzierung durch die Län-
der. Das, was Sie vertreten, ist nichts anderes als ein mil-
liardenschwerer Anschlag auf die Finanzierung all dieser
Bereiche. Dafür werden Sie in NRW zu Recht die Quit-
tung bekommen. Sie werden sich nicht durchsetzen kön-
nen; das wissen Sie genau. Ich freue mich jedenfalls auf
weitere Aktuelle Stunden. Wenn man mathematisch
nicht so bewandert ist, kann man viel vorrechnen, Herr
Wissing.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704008600

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1704008700

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

An Ihrer Stelle, Herr Poß, hätte ich mich eben geschämt.
Sie haben Ihre Rede mit dem Satz eingeleitet, die Wähler
hätten vor der letzten Bundestagswahl die Katze im Sack
gekauft. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Bundes-
tagswahl 2005 und Ihre Kampagne gegen die Mehrwert-
steuererhöhung, die sogenannte Merkel-Steuer. Das war
Ihre zentrale Wahlkampfaussage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Dann mussten wir leider mit Ihnen Koalitionsverhandlungen führen!)


Wenn sich einer verstecken muss, dann sind Sie das. Sie
haben damals nicht nur die Katze im Sack verkauft, son-
dern die Menschen wirklich hinters Licht geführt; das
muss ich deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie waren der Koalitionsverhandler!)


Sie sind als Anwalt der kleinen Leute beim Thema Steu-
ern völlig aus dem Geschäft.


(Joachim Poß [SPD]: Was reden Sie denn da? Sie haben das doch in den Koalitionsverhandlungen gefordert!)


– Ich sage die Wahrheit und erinnere die Menschen an
den wirklichen Sachverhalt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es wird Ihnen heute nicht gelingen, einen Keil in

diese Regierungskoalition hineinzutreiben; das ist ja das,
was Sie mit dieser Aktuellen Stunde versuchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Kern, in den Grundlagen und in den Zielvorstellun-
gen stimmen wir völlig überein. Wir wollen ein einfa-
cheres und gerechteres Steuersystem. Wir wollen die Be-
zieher kleiner und mittlerer Einkommen entlasten; denn
sie tragen diesen Staat und dieses Gemeinwesen.


(Joachim Poß [SPD]: Sprüche! Flache Sprüche!)


Sie finanzieren all die Steuereinnahmen, die in diesem
Land – heute wurde uns die Schätzung vorgelegt – zu-
sammenkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen verfolgen wir die Ziele, Mittelstandsbauch
und kalte Progression abzubauen, weiter.

Wir stellen uns ganz bewusst der Realität – das ist das
Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben –: Wir nehmen
die Steuerschätzung von heute zur Grundlage und orien-
tieren uns an dem verfassungsrechtlich festgelegten
Prinzip der Schuldenbremse. Im Übrigen sehen wir auch
die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung und die
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die unsere Hand-
lungsspielräume festlegt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Dabei spielen auch die Themen „Selbstfinanzierung“
und „Wachstumseffekte durch steuerliche Erleichterun-
gen“ eine Rolle.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!)


Wir haben unsere Zusage „Mehr Netto vom Brutto“ ein-
gelöst.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber nur für Hoteliers!)


Schon allein mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
haben wir Familien und damit die Breite der Einkom-
mensbezieher in diesem Land massiv entlastet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Gegensatz zu Ihnen haben wir diese Zusage eingehal-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das war die Grundlage des Wachstums!)


Die Situation ist ernst. Vor zwei Jahren sind uns für
dieses Jahr insgesamt 595 Milliarden Euro Steuerein-
nahmen prognostiziert worden. Nach der aktuellen
Steuerschätzung werden wir in diesem Jahr 85 Milliar-
den Euro weniger zur Verfügung haben. Die Spielräume
sind dadurch kleiner geworden. Deswegen stehen für
uns die Themen Haushalten und Konsolidieren im Vor-
dergrund; Herr Koschyk hat das zu Recht betont. Aus
dieser Konsolidierung heraus lassen sich aber weitere
Spielräume erarbeiten; das hat der Kollege Wissing aus
meiner Sicht richtigerweise deutlich gemacht. Deswegen
bin ich zuversichtlich, dass wir unsere Regierungsarbeit
so konsistent und aus meiner Sicht auch erfolgreich fort-
setzen, wie wir das bisher gemacht haben.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU] – Dr. Volker Wissing [FDP]: Auch wenn die SPD das nicht versteht!)


Obwohl wir im letzten Jahr einen Einbruch von
5 Prozent bei unserem Bruttosozialprodukt hatten – ei-
nen so starken Einbruch haben wir in diesem Land noch
nie erlebt –, haben wir die Zahl der Arbeitslosen bei
knapp über 3 Millionen stabil gehalten.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das haben wir doch nicht Ihnen zu verdanken!)


Auch das ist eine Leistung. Vor allen Dingen ist das eine
Leistung, die sich im Tun dieser Regierung bemerkbar
macht. Wir haben die Jobcenter jetzt neu geregelt. Das
ist ganz wichtig für die Vermittlung von Menschen, die
langzeitarbeitslos sind. Wir haben die Regelung für das
Kurzarbeitergeld erneut verlängert, und wir haben das
Schonvermögen bei Hartz IV neu geregelt. All das sind
Beiträge für mehr Gerechtigkeit und mehr Arbeit in
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)

Auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz bin ich
schon eingegangen. Dadurch entlasten wir vor allem die
Familien erheblich, und zwar im Umfang von fast
5 Milliarden Euro. Schon jetzt haben wir bessere Bedin-
gungen geschaffen und unser Versprechen gegenüber
kleinen und mittleren Unternehmen eingelöst. Ich habe
nie verstanden, dass Sie gegen dieses Gesetz gestimmt
haben – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –; denn wir
haben im Wesentlichen Regelungen beseitigt, die die
Existenz kleiner und mittlerer Unternehmen in dieser
schwierigen wirtschaftlichen Situation gefährdet hätten.
Auch die Arbeitsplätze, die daran hängen, wären massiv
gefährdet gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie betrachten Steuerpolitik immer als eine statische
Veranstaltung: Die Unternehmen und die Steuerzahler
sind immer die Gleichen, die bleiben auch in ihrer wirt-
schaftlichen Qualität immer gleich. Sie sehen nicht, dass
wir zusätzliche Wachstumseffekte ausgelöst haben, in-
dem wir den Unternehmen mit dem Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz in der Zeit der Kreditklemme Luft
verschafft haben. Diese zusätzlichen Wachstumseffekte
können wir an den ersten Kennzahlen dieses Jahres able-
sen. Deshalb können wir längerfristig und perspektivisch
davon ausgehen, dass sich unsere wirtschaftliche Lage
und damit auch das Potenzial für künftige Steuereinnah-
men verbessern werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Damit werden sich unsere Handlungsspielräume erwei-
tern.

Ich glaube, wir sollten einfach weitermachen. Unsere
Wirtschaft nimmt Fahrt auf. Die Situation am Arbeits-
markt bleibt stabil und wird sich wahrscheinlich sogar
verbessern.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotz Eurer Politik!)


Das ist erkennbar das Ergebnis der Arbeit dieser Regie-
rung. Jedem, der in Nordrhein-Westfalen noch über
seine Wahlentscheidung nachdenkt, kann ich nur emp-
fehlen, eine so stabile und ordentliche Koalition zu wäh-
len, wie sie hier regiert.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die müssen sich entscheiden, ob sie eine stabile Regierung wollen oder Ihre!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704008800

Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1704008900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wirke
sich jetzt auf die öffentlichen Haushalte aus, sodass mit
geringeren Steuereinnahmen zu rechnen sei, sagte der
Vertreter des schleswig-holsteinischen Finanzministe-
riums im Arbeitskreis, Matthias Löscher, vor Beginn der
Sitzung. Er hat es verstanden, Herr Kollege Wissing. Sie
haben es nicht verstanden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschleunigt
das Wachstum der Schulden; das haben wir schon mehr-
fach festgestellt. Aber es ist gut, dass uns die Zahlen
nach der Pressekonferenz, die heute um 13 Uhr statt-
fand, tatsächlich zur Verfügung gestellt worden sind. Ich
kann Ihnen nur empfehlen: Sehen Sie sich die Zahlen an
und rechnen Sie einmal zusammen, wie hoch das Steuer-
aufkommen bei Bund, Ländern und Gemeinden im
Jahre 2009 war und wie die Schätzung für dieses Jahr
aussieht. Dann stellen Sie fest, dass 20 Milliarden Euro
fehlen. Komisch, 20 Milliarden Euro sind weg, unter an-
derem dank Ihres Wachstumsbeschleunigungsgesetzes


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und anderer steuerlicher Maßnahmen, mit denen Sie
Bund, Ländern und Gemeinden Geld wegnehmen.


(Frank Schäffler [FDP]: Das meiste davon ist doch schon 2005 beschlossen worden!)


Wenn Sie sich die Zahlenkolonnen für 2011, 2012
und 2013 ansehen, dann werden Sie feststellen: Es geht
nur ganz langsam wieder bergauf. Was da beschleunigt
wird, frage ich mich die ganze Zeit. Wachstum wird da-
mit sicherlich nicht beschleunigt. Wenn wir insgesamt
fünf Jahre brauchen, um bei den Steuereinnahmen wie-
der den Stand des Jahres 2008 zu erreichen, dann hat das
mit Wachstumsbeschleunigung aus meiner Sicht gar
nichts zu tun.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr wahr! – Iris Gleicke [SPD]: Richtig! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben damals die Insolvenzen beschleunigt!)


Man kann daraus auch nicht schließen, es gebe riesige
Spielräume für Steuersenkungen.

Es ist so: Sie haben in diesem Hause vor kurzem den
Haushalt für dieses Jahr verabschiedet, der eine Neuver-
schuldung in Höhe von 80 Milliarden Euro vorsieht; das
ist eine Summe, die man sich gar nicht vorstellen kann.
Um das einmal auf einen Privathaushalt zu übertragen:
Wenn jemand ein Jahreseinkommen von 40 000 Euro,
aber jährliche Kosten von 60 000 Euro hat, dann hilft es
ihm nicht, wenn er in einem Jahr 50 000 Euro verdient.
Ihm fehlt trotzdem Geld. Dann kann er nicht sagen: Ich
gebe das Geld, das ich mehr eingenommen habe, aus,
weil es so gut läuft. – Aber Sie arbeiten so. Sie streuen
den Leuten Sand in die Augen. Sie sollten lieber dafür
sorgen, dass anständige Haushaltspolitik gemacht wird
und dass größere Spielräume geschaffen werden. Später,
wenn die Einnahmen die Ausgaben wieder decken, kann
man gerne darüber nachdenken, ob und wie man dieses
Geld neu verteilt.





Bernd Scheelen


(A) (C)



(D)(B)

Staatssekretär Koschyk hat hier vorgetragen, dass
sich keine Regierung dem Thema Kommunalfinanzie-
rung so intensiv angenommen hat wie die jetzige. An
dieser Stelle darf ich nur darauf hinweisen: Herr Kollege
Koschyk, Sie sind zwar länger im Bundestag als ich,
aber vorher haben Sie sich offensichtlich nicht mit Fi-
nanzpolitik beschäftigt. Denn sonst wüssten Sie, dass im
Jahre 2002 der Finanzminister der damaligen rot-grünen
Regierung, Hans Eichel, eine Kommission zu diesem
Thema eingesetzt hat. Sie hat auch Ergebnisse produ-
ziert, und zwar gute Ergebnisse.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


Über eines dieser Ergebnisse haben wir heute Morgen
diskutieren müssen, weil beklagt worden ist, was bei der
Neuorganisation der Zusammenlegung von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe passiert ist.

Diese Kommission hat alle Modelle, die Sie jetzt für
teures Geld noch einmal prüfen lassen, schon einmal ge-
prüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie den
Kommunen nichts bringen. Deswegen hat sie damals
empfohlen: Belasst es bei der Gewerbesteuer, macht sie
sicherer, und macht sie besser. – Das haben wir getan.
Das haben wir unter Rot-Grün getan, und das haben wir
unter Schwarz-Rot fortgeführt; aber davon wollen die
Kollegen von der Union jetzt nichts mehr wissen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das war sinnvoll, und das war richtig. Lassen Sie aber
die Finger von der Gewerbesteuer.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie sehen doch, wohin sie geführt hat! Gucken Sie sich die Lage der Kommunen doch mal an! Das ist ja völlig absurd!)


Ich habe mir angesehen, was vorhin auf Phoenix
übertragen wurde. Der Bundesfinanzminister hat einen
Satz gesagt, der mich ein bisschen nachdenklich ge-
macht hat. Er hat gesagt: Die Steuerausfälle in Höhe von
40 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 verteilen sich auf
die verschiedenen Ebenen, aber die Verteilung selber sei
nicht so wichtig.


(Caren Marks [SPD]: Ja!)


Das fand ich ziemlich frech. Er hat nämlich verschwie-
gen, dass die Hauptlast dieser Defizite in den nächsten
Jahren von den Kommunen zu tragen sein werden;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


der Kollege Bonde hat die Zahlen genannt.

Länder und Gemeinden verzichten auf ungefähr
11 Milliarden Euro, der Bund auf 12 Milliarden Euro,
jede Ebene also auf ungefähr ein Drittel der Summe der
Ausfälle. Wenn man berücksichtigt, dass der Anteil der
Kommunen am gesamten Steueraufkommen insgesamt
nur 12,8 Prozent beträgt, wird deutlich: Das ist eine un-
glaubliche Mehrbelastung der Kommunen. Darauf müs-
sen Sie Antworten geben. Ihre Kommission ist keine
Antwort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was wir brauchen, sind Sofortmaßnahmen für die Kom-
munen, mit denen wir ihnen helfen, dieses schwierige
Jahr und die nächsten schwierigen Jahre zu überstehen.
In anderen Debatten haben wir Ihnen dazu Vorschläge
gemacht.

Ein letztes Wort zur FDP; das kann ich mir einfach
nicht verkneifen.


(Gisela Piltz [FDP]: Setzen! Sechs!)


– Frau Piltz, reden Sie auch noch, oder dürfen Sie heute
nicht? –


(Heiterkeit bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Mit Ihnen immer gerne!)


Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende, Herr
Pinkwart, hat gestern im Morgenmagazin im ZDF ge-
sagt, die FDP in Nordrhein-Westfahlen würde Rücken-
wind aus den Kommunen verspüren. Darüber kann ich
nur lachen.


(Caren Marks [SPD]: Ja!)


Die Kommunen fühlen sich von Ihnen massiv bedroht.
Rückenwind für Sie gibt es aus den Kommunen nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben es geschafft, das Wort „Steuersenkung“ zur
Negativformel zu machen.


(Gisela Piltz [FDP]: Daran sind Sie schuld, nicht wir!)


Wenn die Leute „Steuersenkung“ hören, halten sie sich
die Ohren zu, weil sie wissen, dass sie das am Ende eine
Menge Geld kosten wird.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Kommunen zahlen die Zeche für Ihre verfehlte Steuerpolitik, Herr Scheelen!)


Das ist sehr gut zusammengefasst in einem Kommentar,
den ich Ihnen noch ganz kurz vorlesen möchte.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704009000

Kollege Scheelen, dazu reicht die Zeit jetzt nicht

mehr.


Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1704009100

Doch, das geht ruck, zuck; es sind nur wenige Zeilen.


(Heiterkeit – Gisela Piltz [FDP]: Wir wollen das gar nicht hören!)


Eine deprimierende Lage – wenn es die FDP nicht
gäbe. In früheren Zeiten boten Quacksalber auf den
Marktplätzen manches Gebräu feil, das angeblich
gegen alles half, was mit Krankheit zu tun hat –
vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP ver-
sucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die
Partei des Guido Westerwelle verspricht Steuersen-
kungen, –






(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704009200

Kollege Scheelen, geben Sie doch einfach die Quelle

an, wo man das nachlesen kann. Aber beenden Sie jetzt
bitte Ihre Rede.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1704009300


– wenn es dem Staat gut geht, weil dann genug
Geld dafür da sei. „Bürger am Aufschwung beteili-
gen“, heißt das dann. Und sie verspricht Steuersen-
kungen, wenn es dem Staat schlecht geht, weil das
angeblich die Wirtschaft massiv ankurbele.

So kann man nicht Politik machen, meine sehr geehrten
Damen und Herren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gisela Piltz [FDP]: Wie gut, dass Sie in den letzten Jahren alles richtig gemacht haben! Deshalb geht es den Kommunen ja so gut!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704009400

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Daniel

Volk das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1704009500

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lieber Herr Scheelen, was Sie ge-
rade vorgetragen haben, war schon abenteuerlich.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Sie beklagen die Finanzsituation der Kommunen? Sie be-
haupten, dass die Kommunalfinanzierung in den ganzen
letzten Jahren hervorragend gewesen sei? Es war gerade
die Politik der SPD-Finanzminister in den letzten zehn
Jahren – zehn verlorenen Jahren, muss man sagen –, die
dazu geführt hat, dass die finanzielle Lage der Kommu-
nen jetzt angespannt ist.


(Beifall bei der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Wenn man keine Ahnung hat, sollte man sich nicht äußern!)


Wie schon nach der letzten Steuerschätzung zu erwar-
ten war, werden die Steuereinnahmen des Staates im
Jahr 2010 wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise vo-
rübergehend sinken. Es ist aber deutlich ein Trend nach
oben zu erkennen. Der Einbruch der Wirtschaft und da-
mit auch der Einbruch der Einnahmen des Staates fiel
deutlich kleiner aus als allgemein befürchtet.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfug! Die Steuerschätzung zeigt doch, dass wir exakt auf dem Höhepunkt der Krise sind!)


Im Jahr 2010 werden die Steuereinnahmen mit
510 Milliarden Euro etwas unter dem im November
2009 geschätzten Niveau liegen. Dabei gleichen sich
Mindereinnahmen infolge zwischenzeitlich beschlosse-
ner Steuerentlastungen und Mehreinnahmen aufgrund
der verbesserten konjunkturellen Entwicklung weitge-
hend aus.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schlaraffenland!)


Das können Sie in der Steuerschätzung, die heute veröf-
fentlicht wurde, nachlesen, lieber Herr Bonde.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Steuerschätzung offensichtlich nicht verstanden! Lassen Sie sich das einmal von Herrn Koschyk erklären!)


Die christlich-liberale Koalition hat es also erreicht,
durch Steuerentlastungen zu Beginn dieses Jahres die
Konjunktur zu stützen und damit insgesamt die Steuer-
einnahmen zu konsolidieren. Wir werden diesen in der
Koalition vereinbarten Weg weitergehen. Auch die aktu-
elle Steuerschätzung ist kein Grund für einen Verzicht
auf die Steuerreform.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Quacksalberei! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist hier kein Juli-Kongress!)


Bereits ab dem nächsten Jahr werden die Steuerein-
nahmen wieder steigen. Nach den heute veröffentlichten
Zahlen werden die Steuereinnahmen selbst im Jahr 2010
deutlich über dem Niveau der Jahre 2005 und 2006 lie-
gen. Es gibt da in der Steuerschätzung ein Balkendia-
gramm, das das optisch schön verdeutlicht.

Wieder einmal wird deutlich, dass wir in Deutschland
kein Einnahmeproblem haben, sondern ein Ausgaben-
problem.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)


Wir geben zu viel Geld an den falschen Stellen aus.


(Widerspruch bei der SPD)


Im Subventionsbericht der Bundesregierung kann das je-
der nachlesen und sich selbst ein Bild davon machen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei den Staatssekretären haben Sie richtig gespart!)


Der Umfang der Subventionen ist im Jahr 2008 zwar um
rund 250 Millionen Euro zurückgegangen, aber nur um
im Jahr 2009 um gut 6 Milliarden Euro auf rund
29,5 Milliarden Euro zu steigen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Vergessen Sie nicht die Entlastung für die Hoteliers! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hotelboy!)


Steuererhöhungen führen immer auch zu Subven-
tionserhöhungen. Im Umkehrschluss führen Steuersen-
kungen zu Subventionssenkungen. Das ist verantwor-
tungsbewusste Finanz- und Steuerpolitik, wie wir sie
betreiben werden.


(Beifall bei der FDP)






Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

Das Fazit des Subventionsberichts der Bundesregierung
vom Januar 2010 ist eindeutig – ich zitiere –:

Nach Überwindung der Krise muss auch und ge-
rade der Subventionsabbau zur Haushaltskonsoli-
dierung beitragen.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer schafft denn gerade lauter neue Subventionen?)


Der Staat hat zwar weniger Steuereinnahmen zu ver-
zeichnen als erhofft, aber er nimmt mehr Steuern ein als
je zuvor.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein! – Joachim Poß [SPD]: Was reden Sie da?)


Die zu erwartenden Einnahmerekorde des Staates müs-
sen wir nutzen, um die Schulden zu reduzieren und
gleichzeitig die Gering- und Normalverdiener zu entlas-
ten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guido!)


Es kann schließlich nicht sein, dass die Bürger aufgrund
der Steuer- und Abgabenlast immer strenger haushalten
müssen, während der Staat dies nicht tut und den Ausga-
ben freien Lauf lässt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Was reden Sie denn da? Das ist die Unwahrheit!)


Gesunde Staatsfinanzen sind das A und O einer ver-
antwortungsbewussten Regierungsarbeit, Herr Poß. Da-
rüber dürfte in diesem Hause zwischen allen Fraktionen
Einigkeit bestehen. Aber jede Partei in diesem Haus
sollte sich auch selbstkritisch fragen, ob das unter ihrer
Regierungsverantwortung – sei es im Bund, in den Län-
dern oder in den Kommunen – in der Praxis auch tat-
sächlich eingehalten wird.

Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und
nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik.


(Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Ach! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Scherz!)


Wir haben die Familien entlastet. Wir haben Arbeits-
plätze gesichert. Wir werden die Bildungschancen für
alle Menschen in diesem Land verbessern. Denn dies be-
deutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und
damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704009600

Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Carsten, erklär’ du es ihm mal!)


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1704009700

Meine lieben Kollegen! Sehr geehrte Damen und

Herren! Ich hatte die Hoffnung, dass der Tag der Steuer-
schätzung für Sie auch ein Tag der Erkenntnis wäre.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das habe ich gerade vorgetragen!)


Seit sechs Monaten regieren Sie dieses Land: Sechs Mo-
nate Phantasialand. Sechs Monate lang haben Sie auf
diesen Termin verwiesen; mit der Steuerschätzung wür-
den alle Probleme gelöst.

Was können wir heute feststellen? Das Märchenbuch
„Koalitionsvertrag dieser schwarz-gelben Regierung“
bestimmt weiter. Sie sind nicht in der Lage, den Ernst
der Situation nicht nur in Griechenland und Europa, son-
dern auch in Deutschland zu erkennen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Steuerschätzung hat ergeben, dass Sie eine Steu-
erlücke von zusätzlich 30 Milliarden Euro haben.


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Auf Jahre!)


Sie müssen bis 2014 40 Milliarden Euro aufgrund der
Schuldenbremse einsparen. Zudem hat Ihre traute Minis-
terriege im Koalitionsvertrag Mehrausgaben in Höhe
von weiteren 30 Milliarden Euro beschlossen. Dafür ha-
ben Sie alle die Hand gehoben. Ich kann es Ihnen vor-
rechnen. Vorgesehen sind zusätzliche Ausgaben für den
Bereich Gesundheit sowie 14 Milliarden Euro für die
Forschung und 2 Milliarden Euro pro Jahr für die Erfül-
lung der ODA-Quote. Insgesamt kommen wir auf eine
Lücke von 100 Milliarden Euro, die Sie gegenfinanzie-
ren müssen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Was ist dazu von Ihrer Seite zu hören? Sie wollen
Subventionen abbauen. Sagen Sie bitte ganz konkret,
welche Subventionen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie regieren seit sechs Monaten. In dieser Zeit haben
Sie nicht viele Gesetze gemacht.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Glück!)


Ich glaube, noch keine Regierung hat sechs Monate ver-
streichen lassen und gerade mal drei oder vier Gesetze
gemacht.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber gute!)


– Herr Wissing, das eine Gesetz, das Sie Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz genannt haben, ist Volksverdum-
mung. Es hat eine Steigerung des Wachstums von
0,07 Prozent bewirkt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Seit wann ist das in Kraft?)


Das sagt Ihr Sachverständigenrat. Es hat aber die Sub-
ventionszahlungen des Bundes – das können Sie im Sub-





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)

ventionsbericht nachlesen – um 1 Milliarde Euro erhöht,
nämlich für die Hoteliers. Statt Subventionen abzu-
bauen, haben Sie 1 Milliarde Euro zusätzliche Subventi-
onen beschlossen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht nur die Menschen, sondern auch die Finanz-
märkte wollen wissen, wo Sie konsolidieren. Wo sparen
Sie denn? Sie reden immer von Steuermehreinnahmen.
Warum machen Sie es denn nicht, wenn das alles so ein-
fach ist? Bringen Sie doch Ihre Gesetzentwürfe ein!
Stattdessen diskutieren Sie und nerven Sie uns schon seit
Wochen und Monaten immer mit derselben Leier. Dabei
liegt real nichts auf dem Tisch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Wissing, als die Wirtschaft im Jahr 2009 um
5 Prozent eingebrochen ist, haben wir noch mitregiert
und einen Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung
von knapp 40 Milliarden Euro vorgesehen hat.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie mal, warum Sie in Ihrem Parteiprogramm die Steuern senken wollen! Sagen Sie doch mal, warum Sie den Menschen Steuersenkungen versprochen haben!)


2010 dagegen haben wir wieder ein leichtes Wachstum
von 1,2 bis 1,4 Prozent zu verzeichnen. Die Neuver-
schuldung beträgt 80 Milliarden Euro. Mit den Stimmen
der SPD waren es 40 Milliarden Euro bei einem Minus
von 5 Prozent beim Wirtschaftswachstum. Mit Ihren
Stimmen sind es 80 Milliarden Euro Schulden bei
1 Prozent Wachstum. Herzlichen Glückwunsch! Wo
bleibt dabei die Generationengerechtigkeit? Wo bleibt
die Nachhaltigkeit? Sie sind Schuldenweltmeister, nichts
anderes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Dr. Daniel Volk [FDP] – Norbert Barthle
[CDU/CSU]: Steinbrück wollte 87 Milliarden
Euro!)

80 Milliarden Euro Schulden, 25 Prozent des Haus-
halts sind kreditfinanziert, und Sie wollen zusätzliche
Steuersenkungen auf Pump finanzieren. Steuersenkun-
gen auf Pump sind Steuererhöhungen in der Zukunft,
nichts anderes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das sagt die Partei, die den Stabilitätsund Wachstumspakt aufgeweicht hat! Sie machen sich doch lächerlich!)


Es wird Zeit, dass es am Sonntag eine politische Ver-
änderung gibt, dass wir Klarheit bekommen und dass die
Regierung endlich einen Gegenpol im Bundesrat be-
kommt. Ich bin da sehr zuversichtlich nach Ihrer Perfor-
mance. Sie haben alles darauf ausgerichtet, über diese
eine Landtagswahl zu kommen. Sie haben einen Koali-
tionsvertrag geschlossen, der ein Märchenbuch ist, ohne
Finanzverhandlungen zu führen. Sie fragen nicht da-
nach, was ist. Bei Ihnen hat man das Gefühl, dass Sie in
der Fundamentalopposition sind, ohne die reale Situa-
tion anzuerkennen. Die Menschen in diesem Land wer-
den Ihnen das nicht mehr abnehmen, und das ist auch gut
so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704009800

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1704009900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Zunächst einmal, lieber Carsten Schneider: Der
Haushaltsentwurf des SPD-Finanzministers für 2010
wies meines Wissens 87 Milliarden Euro Schulden auf.
Bereits in der letzten Sitzungswoche haben wir an dieser
Stelle auf Antrag der SPD über die Finanzierbarkeit der
FDP-Steuerpläne debattiert. Bereits in der letzten Woche
habe ich hier hinsichtlich des Einkommensteuerrechts
festgestellt, dass das System gerade bei den niedrigeren
und mittleren Einkommen offensichtlich eine Unwucht
enthält. In der letzten Woche konnte ich hier auch fest-
stellen, dass die Schuldenbremse und das Ziel eines kon-
solidierten Haushalts keineswegs eine Rechtfertigung
dafür sind, dass wir in den steuerpolitischen Stillstand
übergehen. Daran hat sich seit letzter Woche nichts ge-
ändert, auch nicht durch die Steuerschätzung, die seit
knapp anderthalb Stunden vorliegt. Ganz im Gegenteil:
Wenn wir unseren Haushalt nachhaltig konsolidieren
wollen, dann brauchen wir wachstumsfördernde An-
reize. Zu diesen wachstumsfördernden Anreizen gehört
untrennbar ein leistungsgerechtes Steuersystem.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Mit dem von der SPD propagierten steuerpolitischen
Stillstand erreichen wir jedenfalls gar nichts. Politik
muss doch auch in Zeiten knapper Haushaltsmittel im-
mer handlungsfähig sein. Wir müssen einen Spielraum
für Konsum und für Investitionen der Menschen schaf-
fen. Dass wir das können, haben wir in der Großen
Koalition zusammen mit der SPD immer wieder bewie-
sen. Wir haben zusammen mit der SPD noch im letzten
Jahr, vor wenigen Monaten, Maßnahmenpakete


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Bürgerentlastungsgesetz hieß das!)


für Investitionen der privaten Haushalte und der Kommu-
nen mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden Euro
beschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben mit dem Konjunkturpaket II noch vor weni-
gen Monaten mit Ihnen zusammen den Eingangssteuer-
satz gesenkt, haben die Freibeträge erhöht und einen
Kinderbonus ausbezahlt. Zusätzlich bringt das Bür-





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

gerentlastungsgesetz 10 Milliarden Euro Entlastung für
die Menschen in diesem Land. All diese Maßnahmen ha-
ben dafür gesorgt, dass die Bürger in diesem Land wie-
der mehr Geld in der Tasche haben und die Konjunktur
angekurbelt wird. All diese Maßnahmen wurden mit Ih-
nen zusammen beschlossen, all diese Maßnahmen haben
Sie noch vor wenigen Monaten als notwendig und alter-
nativlos mitgetragen. Damals haben Sie noch erkannt,
dass steuerliche Anreize notwendig sind, um trotz der
schwierigen Haushaltslage aus dieser Krise gestärkt he-
rauszukommen.

Was ist heute, nachdem die Große Koalition erst we-
nige Monate vorbei ist, daran falsch? Ihre 180-Grad-
Kehrtwende hin zum steuerpolitischen Stillstand kann
vor diesem Hintergrund niemand verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wo bleiben denn Ihre Konzepte?


(Bettina Hagedorn [SPD]: Wir haben welche! Wo bleiben denn Ihre? Sie regieren doch!)


Mit welchen Ideen wollen Sie denn das Wachstum in
diesem Land ankurbeln? Wir jedenfalls sind der Über-
zeugung, dass wir den Menschen, den Bürgerinnen und
Bürgern in diesem Land, mehr Netto vom Brutto lassen
müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind uns in der Regierungskoalition einig, dass die
Glättung des Einkommensteuertarifs, der Ausstieg aus
der kalten Progression und die Vereinfachung gerade des
Einkommensteuerrechts dringend notwendig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Wo sind Ihre Gesetzesinitiativen dazu?)


Dass dies alles in Zeiten knapper Kassen eine Herausfor-
derung bedeutet, ist unbestritten. Ein solides Konzept
und Schnellschüsse schließen sich gerade vor diesem
Hintergrund aus. Wir brauchen Zeit. Eine Steuerentlas-
tung gehört in ein haushaltspolitisches Gesamtkonzept,


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr braucht ein bisschen viel Zeit! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bisher gibt es das noch nicht! Das stimmt! Sehr unseriös bisher!)


und dies lässt sich jetzt, nachdem die Zahlen der Steuer-
schätzung vorliegen, fundiert entwickeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen – wenn ich das noch ergänzen darf – zei-
gen die Zahlen, die jetzt seit knapp zwei Stunden vorlie-
gen, dass sich die Einnahmen stabilisieren.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Aber bereits zwei Stunden später ein durchgerechnetes
Konzept zu fordern bzw. nach Bekanntgabe dieser Zah-
len auf den steuerpolitischen Stillstand umzuschalten, ist
absurd, und es zeigt vor allem eines: Sie in der SPD ha-
ben sich von dem Anspruch, dieses Land zu regieren,
dieses Land zu gestalten, verabschiedet. Sie machen nur
noch eines – das zeigt auch diese Aktuelle Stunde –: Sie
machen auf billige Polemik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war die Rede von letzter Woche! Was ist mit dieser Woche?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704010000

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ingrid Arndt-

Brauer das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1704010100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Selten
war eine Aktuelle Stunde so aktuell wie heute. Seit gut
zwei Stunden kennen wir die Zahlen der Steuerschätzung.
Wir hatten Schlimmes befürchtet, und es ist Schlimmes
gekommen. Ich denke, Steuerausfälle in Höhe von knapp
40 Milliarden Euro bis 2013 sind schlimm. Man muss
sich auch nicht freuen, dass wir 2013 dann das Niveau
von 2008 wieder erreicht haben werden. Ich denke, das
Ziel müsste jetzt eigentlich sein, stark gegenzusteuern.

Alle, die in den letzten Tagen bei Griechenland-De-
batten gesagt haben, wer die Maastricht-Kriterien reißt,
sollte nicht mehr so viel Stimmrechte haben oder keine
Förderung mehr kriegen, sollten sich mal überlegen, wie
stark Deutschland davon betroffen wäre, wenn wir das
wirklich ernst nehmen würden, was Sie da haben verlau-
ten lassen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann hätten fast alle keine Stimmrechte mehr!)


Wir haben ab 2011 eine Schuldenbremse. Ich bin
froh, dass wir sie haben. Ich mag mir gar nicht vorstel-
len, was die FDP machen würde, wenn wir sie nicht hät-
ten. Wir haben sie, und wir müssen damit leben.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Die FDP hat dafür gestimmt!)


Ich sehe ein bisschen die Gefahr von Schattenhaushal-
ten, weil ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie
man bei dieser Situation auf der Einnahmenseite jährlich
10 Milliarden Euro weniger Neuverschuldung darstel-
len will. Die FDP-Steuersenkungen im Umfang von
24 Milliarden Euro oder 16 Milliarden Euro ich weiß
nicht, wo Sie augenblicklich sind; es kommt ja auch
nicht so darauf an – sind jedenfalls in der Situation über-
haupt nicht zu verantworten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Deshalb haben Sie es auch in Ihr Parteiprogramm geschrieben, nicht wahr?)


Wer gestern die Griechenland-Anhörung verfolgt hat,
der hat den Chef der Bundesbank gehört, Professor
Dr. Axel Weber, der gesagt hat: Das oberste Ziel muss
die Haushaltskonsolidierung sein. Ausgeglichene Haus-
halte sind wichtig, aber vor allem muss die exzessive
Verschuldung zurückgetrieben werden.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)

Auch so etwas wie ein Hilfsprogramm für Griechen-
land muss man sich nämlich eigentlich leisten können,
um es zu verantworten.

Schäuble hat heute gesagt, er bleibt bei dem, was im
Koalitionsvertrag vereinbart worden ist.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!)


Wenn ich ihn gutwillig verstehe, dann heißt das, der
Finanzierungsvorbehalt bleibt. Das wird der FDP viel-
leicht nicht gefallen, auch den Wählern nicht, die sich
auf diese Steuersenkungen jetzt doch ein bisschen einge-
stellt haben, aber FDP-Wähler sind in der Minderheit,
und die Gruppe schrumpft zusammen.

Politik muss nämlich verantwortbar für alle sein. Des-
wegen machen wir hier keine FDP-Politik, sondern ver-
suchen, Politik für die gesamte Bevölkerung zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Deshalb haben wir die Familien entlastet!)


– „Familie“ ist ein gutes Stichwort. Ein heute geborenes
Mädchen hat eine Lebenserwartung von ungefähr
100 Jahren. Nur, welches Leben erwartet sie eigentlich?


(Zuruf von der FDP: Ein langes!)


Wenn sie das Glück hat, in Rheinland-Pfalz geboren
worden zu sein oder in Sachsen-Anhalt, dann erwarten
sie Kitaplätze. In anderen Bundesländern noch nicht mal
das.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warum klammern Sie NRW aus, Frau Kollegin?)


Chancengleichheit bei der Bildung erwartet sie eigent-
lich nirgendwo, weil nämlich beide Bereiche chronisch
unterfinanziert sind – sowohl Betreuung als auch Bil-
dung.

Wenn dieses Kind dann endlich in der Lage ist, Schul-
den abzutragen, wird es vor diesen Schuldenbergen ste-
hen und sagen: Die Zinsen sorgen leider dafür, dass So-
zialausgaben nicht mehr finanzierbar sind.

Dieses Mädchen wird uns dann fragen: Wo wart ihr
eigentlich, als die Steuersenker in der Verantwortung
waren? Wieso seid ihr ihnen nicht in den Arm gefallen?
Wieso habt ihr diese Steuersenkungs- und Lobbypolitik
nicht verhindert? Wenn mir diese Fragen gestellt werden
würden, müsste ich sehr viel erklären. Wenn Sie gefragt
werden würden, dann können Sie sich nicht auf Alters-
demenz berufen nach dem Motto „Ich kann mich nicht
mehr erinnern“, sondern Sie müssen dann Stellung neh-
men und sagen: Wir haben Klientelpolitik gemacht, und
wir haben diejenigen Familien entlastet, die sowieso
schon genug hatten.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Was ist mit dem Kindergeld? Wir haben das Kindergeld erhöht!)


– Nein. Sie wissen doch selber, dass die Entlastungswir-
kung des Kinderfreibetrages doppelt so hoch ist wie die
der Kindergelderhöhung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: 4,6 Milliarden Euro entfallen auf das Kindergeld!)


Das können Sie diesem Mädchen nicht erklären. Denn
sie wird die Schulden, die Sie für die Erhöhung aufge-
nommen haben – Sie hatten das Geld ja auch nicht –, ab-
tragen müssen. Dafür werden 100 Jahre, so befürchte
ich, nicht ausreichen.

Die FDP-These „Steuersenkung bewirkt Wachstum“
kann ich nicht mehr hören. Wachstum wie eine Monstranz
vor sich herzutragen, ist ein Missbrauch von Politik,
auch wenn es sich um nachhaltiges Wachstum handelt.

Was wir vielmehr brauchen, ist eine wachsende Ver-
antwortung für nachfolgende Generationen. Darum soll-
ten wir uns bemühen. Mit einer solchen Politik sollten
Sie beginnen. Dann können wir darüber reden, wie wir
das Geld, das wir vielleicht irgendwann einmal übrig ha-
ben, vernünftig und sozial verantwortlich verteilen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704010200

Das Wort hat der Kollege Peter Aumer für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1704010300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Ich habe mich gefragt, warum die
SPD diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Eineinhalb
Stunden nach Verkündung des Ergebnisses der Steuer-
schätzung sollte man über die Konsequenzen diskutie-
ren.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Wir haben über alles diskutiert, nur nicht über die Kon-
sequenzen. Welche Konsequenzen zieht denn die SPD
aus dieser Steuerschätzung?


(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie haben doch die letzten Wochen gesagt, dass Sie auf die Steuerschätzung warten!)


Wo sind die guten Vorschläge der Opposition? Sie gibt
es nicht. Es wäre aber Ihre Aufgabe, dass Sie uns sagen,
welche Konsequenzen man aus Ihrer Sicht ziehen
müsste. Das haben Sie nicht getan. Ihr Handeln ist reiner
Populismus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Quatsch!)


Sie schauen auf den nächsten Sonntag.


(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


– Herr Heil, es ist so. – Sonst liegt Ihnen nichts am Her-
zen. Mit Ihrem Handeln erhoffen Sie sich, dass sich die
Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen für
eine andere Politik entscheiden.





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das werden sie tun! – Bettina Hagedorn [SPD]: Sie sind den Menschen eine Antwort schuldig!)


Sie werden es aber nicht tun, weil sie Sie durchschaut
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern in der
Aussprache zur Regierungserklärung von Bundeskanzle-
rin Merkel gesagt:

Lasst uns gemeinsam um Spielräume für Hand-
lungsfähigkeit von Politik kämpfen!

Die Steuerschätzung gibt uns den finanziellen Spielraum
vor. Das Ergebnis der Steuerschätzung begrenzt unseren
Handlungsrahmen auf der Einnahmenseite, und die
Schuldenbremse begrenzt unseren Handlungsrahmen auf
der Ausgabenseite.

Handlungsfähigkeit der Politik heißt, sich den Reali-
täten zu stellen


(Bettina Hagedorn [SPD]: Na! Schauen Sie einmal in den Spiegel, das hilft!)


und aus den gegebenen Umständen – sprich: aus den
heute erhaltenen Zahlen und Daten – die richtigen Kon-
sequenzen zu ziehen. Die Menschen in Deutschland
trauen uns das zu. Darum und auch, weil die Menschen
Vertrauen haben in den Gestaltungswillen, in das Verant-
wortungsbewusstsein und die Nachhaltigkeit unserer
Politik, ist die christlich-liberale Koalition heute in Re-
gierungsverantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dieses Vertrauen werden wir nicht enttäuschen.

Die Maßnahmen, die in Deutschland bereits während
der Zeit der Großen Koalition ergriffen wurden, haben
dazu beigetragen, dass wir die Talsohle der Krise schnel-
ler durchschritten haben als von vielen erwartet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieser Erfolg schlägt aber noch nicht auf die Steuerein-
nahmen durch. Die Rezession hinterlässt tiefe Spuren in
den öffentlichen Haushalten. Das trifft Bund, Länder
und Kommunen mit gleicher Härte.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Die Kommunen am härtesten!)


Besonders müssen wir darauf achten, dass den Kom-
munen die finanzielle Basis nicht entzogen wird.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)


Deswegen ist die Gemeindefinanzkommission einge-
setzt worden.


(Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD])


– Herr Poß, schreien Sie nicht immer dazwischen! Ich
denke, wir sollten konstruktiv zusammenarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Politik mit Augenmaß ist gefragt. Nicht alles Wün-
schenswerte ist machbar. Wir verfolgen eine Finanzpoli-
tik aus einem Guss,


(Joachim Poß [SPD]: Sie wissen gar nicht, was Sie wollen!)


ein verantwortungsbewusstes Gesamtkonzept, das aus
einem Dreiklang besteht: Konsolidieren, Investieren und
Entlasten. Das wollen wir, Herr Poß.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun Sie aber nicht!)


Wir müssen die Investitionen in Bund, Ländern und
Kommunen auf hohem Niveau halten. Gerade die Inves-
titionen in Bildung müssen ausgebaut werden, damit wir
im internationalen Wettbewerb mithalten und unseren
jungen Menschen optimale Ausgangsbedingungen bie-
ten können.

Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir
Familien gestärkt und Impulse für mehr Wachstum ge-
setzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Auch dadurch konnte der erwartete Einbruch am Ar-
beitsmarkt verhindert werden.

Wir wollen eine steuerliche Entlastung insbesondere
für die unteren und mittleren Einkommensbereiche. Hier
soll vor allem die kalte Progression angegangen werden;
denn sie ist leistungsfeindlich, gerade für die Leistungs-
träger im mittleren Bereich unserer Gesellschaft.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Zum Beispiel für die Hoteliers!)


Außerdem wollen wir ein einfacheres und gerechteres
Steuerkonzept.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Dann machen Sie doch so etwas!)


Vor dem Hintergrund der veröffentlichten Zahlen gilt
weiterhin: Konsolidierung und Entlastung gehören zu-
sammen. Das ist der Arbeitsauftrag, den uns die Wähle-
rinnen und Wähler gegeben haben: für eine nachhaltige
Politik zu sorgen. Die Spielräume sind enger geworden.
Aber wir werden diese Spielräume der Handlungsfähig-
keit von Politik zum Wohle unseres Landes nutzen. Wir
hoffen, dass die Worte Ihres Fraktionsvorsitzenden,
meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
keine reine Plattitüde waren, sondern ein konstruktives
Angebot mit Blick auf eine zukunftsorientierte Politik,
für die wir, CDU und CSU, stehen – in Verantwortung
für unser Land.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun Sie leider gerade nicht!)


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704010400

Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1704010500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wenn man ein Fazit dieser
Aktuellen Stunde zieht, Herr Kollege Poß, muss man
feststellen: Der Versuch, die Wähler in Nordrhein-West-
falen zu verunsichern, ist gescheitert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht Rüttgers schon ganz alleine!)


Was hat uns die Aktuelle Stunde gegeben? Erstens hat
sie erbracht, dass die Steuerschätzung zeigt, dass wir so-
wohl unsere solide Finanzpolitik als auch unsere konse-
quente Wachstumspolitik fortsetzen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo leben Sie denn?)


Die Steuerschätzung für das Jahr 2010 zeigt ein stabili-
siertes Niveau. 2011 werden die Steuereinnahmen etwas
geringer sein. Dies ist aber dadurch bedingt, dass dann
unser Steuerentlastungspaket seine volle Wirksamkeit
entfaltet.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Eben: Es wird weniger!)


Wenn Sie das einmal gegenrechnen, stellen Sie fest, dass
sich die Einnahmesituation weiter stabilisiert. Der Herr
Staatssekretär hat recht: Trotz dieser Tatbestände haben
wir weiterhin einen engen finanziellen Spielraum. Aber
ein enger finanzieller Spielraum bedeutet doch nicht ei-
nen Stillstand; vielmehr resultiert er daraus, dass aus der
Zielsetzung von Haushaltskonsolidierung und steuerli-
cher Entlastung die notwendigen Konsequenzen gezo-
gen und die entsprechenden Wege gegangen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Haushaltskonsolidierung und steuerliche Entlastung

sind keine Gegensätze. Unsere steuerliche Entlastung
wird sich an den Grundsätzen und Prinzipien der Haus-
haltskonsolidierung ausrichten. Das sind zum einen die
verfassungsmäßige Vorgabe der Schuldenbremse und
zum anderen das, was bis 2014 weiterhin zu leisten ist.
Wenn Sie die von der Steuerschätzung prognostizierten
Steuerausfälle bis 2013 von über 30 Milliarden Euro
schon als einen Tatbestand dafür sehen, dass es unter
Umständen keinen Spielraum mehr geben sollte, dann
frage ich mich: Wie wollen Sie zukünftig Politik für die-
ses Land gestalten, wenn Sie das schon als unüberbrück-
bare Hürde ansehen? Das ist für mich nicht nachvoll-
ziehbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Poß und liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD-Fraktion, ein zweiter Punkt. Stellen Sie doch nicht
bei dem, was wir in der Großen Koalition im steuer- und
finanzpolitischen Bereich gemeinsam auf den Weg ge-
bracht haben, das Licht unter den Scheffel!


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun wir doch gar nicht!)


Die christlich-liberale Koalition hat diese Politik in Teil-
bereichen im Grunde fortgesetzt.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie reden an der Sache vorbei!)


Wenn wir dies fortsetzen, kann es doch im Verhältnis zu
dem, was wir vorher gemacht haben, nicht falsch sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: So ein Quatsch! Wir hätten nie die Hoteliers entlastet!)


– Das ist kein Quatsch, sondern wir haben es konsequent
fortgesetzt, indem wir die Familien mit Kindern mit Wir-
kung vom 1. Januar 2010 weiter entlastet haben, in ei-
nem Volumen – es ist genannt worden – von rund 5 Mil-
liarden Euro, wobei der überwiegende Teil zudem nicht
in den Steuerfreibetrag hineinging, sondern in das Di-
rektkindergeld. Wenn Sie das Direktkindergeld sehen,
dann können Sie sich doch auch vorstellen, welche Be-
völkerungsgruppen damit in den Genuss des höheren
Kindergeldes gekommen sind. Warum sollten wir diesen
Prozess und diesen Weg jetzt nicht fortsetzen?

Deshalb ist unsere Zielsetzung: Wenn wir den finan-
ziellen Spielraum aus der Konsolidierung und neben ihr
haben, dann wird sich das in dem Bereich der unteren
und mittleren Einkommen vollziehen, um die kalte Pro-
gression weiter abzubauen. Wir haben doch selber in
dem Wachstumspaket bereits mit dem Abbau der kalten
Progression begonnen, indem wir technisch die soge-
nannte Rechtsverschiebung vorgenommen haben. Das
ist doch nichts anderes als der Abbau der kalten Progres-
sion.

Also stellen Sie doch das Licht unserer gemeinsamen
Ergebnisse nicht unter den Scheffel.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun wir doch gar nicht!)


Es war eine erfolgreiche Politik in diesem Bereich, und
diese erfolgreiche Politik finden wir jetzt auch als Ergeb-
nis der Steuerschätzung wieder. In der Koalition mit den
Liberalen werden wir diesen Weg verstärkt und konzen-
triert in weiteren wichtigen Bereichen fortsetzen. Der er-
forderliche Spielraum ist gerade wegen der Steuerschät-
zung vorhanden.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Was?)


Wenn hier wiederum das Argument kommt, mit die-
ser Politik bluteten die Kommunen aus, dann frage ich
Sie: Zu welchem Zeitpunkt ging es den Kommunen in
Deutschland am schlechtesten, wenn Sie deren gesamte
Einnahme- und Finanzsituation sehen? – Das war doch
in dem Zeitraum 2002 bis 2005.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Leo Dautzenberg


(A) (C)



(D)(B)

In dieser Zeit bestand bei den Kommunen immer Unter-
deckung. Von 2005 bis 2008 verzeichneten wir Haus-
haltsüberschüsse der Kommunen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das war schon im Oktober hinfällig!)


Außerdem reden Sie davon, wir hätten die Kommu-
nen ausgenommen. Worunter sie jetzt selbstverständlich
zu leiden haben, ist der konjunkturelle Einbruch bei der
Gewerbesteuer.


(Bernd Scheelen [SPD]: Quatsch! Unter Ihrer Steuerpolitik!)


Da haben wir im Grunde genommen eine andere Vorstel-
lung, als Sie sie verfolgen. Sie wollen eine Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage mit Hinzurechnungen, näm-
lich Substanzbesteuerung. Wir wollen eine gewinnbezo-
gene Besteuerung auf kommunaler Ebene mit eigenem
Hebesatzrecht, sodass die Kommunen auch noch selber
gestalten können, wie sie ihre Einnahmen erzielen, und
damit auch zu einer kontinuierlichen Einnahmesituation
kommen.

Das Fazit ist also: Diese Aktuelle Stunde hätten Sie
sich auch sparen können. Aber wir können sie jederzeit
wiederholen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704010600

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes

– Drucksache 17/1147 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/1604 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Dorothée Menzner
Hans-Josef Fell

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/1607 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Heinz-Peter Haustein
Sören Bartol
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothée Menzner,
Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Solarstromförderung wirksam ausgestalten

– Drucksachen 17/1144, 17/1604 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Dorothée Menzner
Hans-Josef Fell

Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf
werden wir später auf Antrag der Fraktion Die Linke na-
mentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Christian Ruck für die Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1704010700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit der heutigen Novelle des Erneuerbare-Energien-Ge-
setzes korrigiert die christlich-liberale Koalition


(Ulrich Kelber [SPD]: Die kenne ich nicht! Ich kenne nur Schwarz-Gelb!)


Fehlentwicklungen der Vergangenheit, weist einen Weg
in die Energieversorgung der Zukunft und stärkt den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir setzen konsequent
das um, was wir in der Koalitionsvereinbarung zur Foto-
voltaik vereinbart haben.

Es ist unbestritten, dass die dynamische Entwicklung
des Marktes für Fotovoltaik und der schnelle Ausbau der
Produktionskapazitäten die Kosten und Preise für Foto-
voltaikanlagen in den letzten Jahren stark haben sinken
lassen. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die das
alles bezahlen, im Interesse eines effizienten Klima-
schutzes und im Interesse der Technologieführerschaft
Deutschlands müssen wir handeln. Wir haben dabei das
Wohl aller im Auge und nicht nur das Interesse der Bran-
che.

Wir setzen mit der heutigen Novelle des EEG den er-
folgreichen Weg fort, den Helmut Kohl und Klaus
Töpfer mit der Schaffung des Stromeinspeisungsgeset-
zes eingeschlagen haben. Dank dieser historischen Wei-
chenstellung hat Deutschland heute auf europäischem
und internationalem Gebiet die Technologieführerschaft
bei den erneuerbaren Energien erkämpft. Deutschland ist
im Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch füh-
rend. Insbesondere im Hinblick auf den Export und den





Dr. Christian Ruck


(A) (C)



(D)(B)

zukünftig zu erwartenden weltweiten Ausbau der Foto-
voltaik ist es wichtig, dass wir diesen Technologievor-
sprung bewahren und, wenn möglich, ausbauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die bisherige Förderung der Fotovoltaik war sehr
stark darauf ausgerichtet, einen Markt zu schaffen und
die Markteinführung voranzutreiben. Angesichts der
Zahlen zum Zubau von Fotovoltaik von 3 600 Megawatt
im vergangenen Jahr und erwarteten über 6 000 Mega-
watt in diesem Jahr kann man nur sagen, dass diese
Markteinführung sehr erfolgreich war.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Erwartungen der Experten gehen auch unter verän-
derten Förderbedingungen von einem erheblichen Zubau
in den nächsten Jahren aus.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber nicht alle Experten, die Sie berufen haben!)


Dem haben wir mit einem Zubaukorridor von bis zu
3 500 Megawatt Rechnung getragen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch!)


Das ist mehr als doppelt so viel, Herr Kelber, wie der
frühere Bundesumweltminister angepeilt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch!)


– Sagen Sie nicht, das sei falsch, wenn ich das sage.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das kann ich Ihnen belegen!)


Von einem Abwürgen der Fotovoltaik kann also über-
haupt keine Rede sein. Mit der jetzigen Novelle entwi-
ckeln wir die Förderung weiter, damit sie den aktuellen
Marktgegebenheiten besser angepasst wird und damit
die Integration in den Energiemix und die Netze verbes-
sert wird. Wir geben der Fotovoltaik in Deutschland da-
mit eine neue und zukunftsfähigere Richtung.

Es ist eine Tatsache – die Branche selbst hat es zuge-
geben –, dass sich aufgrund der gefallenen Preise für So-
larmodule eine Überförderung entwickelt hat. Auf 20 Jahre
gesicherte Renditen weit oberhalb dessen, was am Kapi-
talmarkt zu erzielen ist, haben zu Marktverwerfungen
bis hin zu schier unglaublichen Pachtraten für Ackerflä-
chen geführt. Selbst ein namhafter Vertreter der Branche
sagt, dass die Branche Speck angesetzt hat. Genau das
tut Deutschland angesichts wachsender internationaler
Konkurrenz nicht gut. Es tut auch der Akzeptanz des
EEG auf lange Sicht nicht gut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir richten deshalb die Förderung der Fotovoltaik so
aus, dass wir sie wieder mit gutem Gewissen vor den
Bürgerinnen und Bürgern vertreten können. Den Men-
schen, die den Boom bezahlen, ist es egal, ob wir das
Subventionen, Förderung, Markteinführungshilfe oder
wie auch immer nennen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Förderung für die Atomkraftwerke dürfen sie bezahlen!)


Wenn wir ihnen schon zwangsweise Geld aus der Tasche
ziehen, um damit Fotovoltaik zu fördern – das ist mit ku-
mulierten 70 bis 100 Milliarden Euro eine ganz erhebli-
che Zahl –, dann müssen wir das gut begründen können.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ziehen den Menschen verdammt viel aus der Tasche! In vielen Bereichen!)


Subventionen von 150 000 Euro pro Arbeitsplatz oder
auch die CO2-Vermeidungskosten, die bei Fotovoltaik
zehnmal so hoch sind wie bei Windkraft, sind keine gute
Begründung. Deutschland auch in dieser Technologie
für den Weltmarkt fit zu machen, ist eine gute und rich-
tige Begründung. Genau das wollen wir fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Deshalb gefährden Sie gerade die Arbeitsplätze hier! Herzlichen Glückwunsch!)


Liebe Frau Höhn, es bedarf in Deutschland bei der
Fotovoltaik eines weiteren Innovationsschubes. Der
Aufbau der Fotovoltaikindustrie war sehr erfolgreich.
Aber jetzt müssen Kosten weiter gesenkt werden, Her-
stellungsverfahren müssen effizienter gestaltet werden,
höchste Qualität und Leistung müssen im Vordergrund
stehen. Diesem Ziel dient auch die von der Bundesregie-
rung beschlossene „Innovationsallianz Fotovoltaik“. Wir
müssen jetzt das, was wir am besten können, nämlich
unsere Technologie- und unsere Ingenieurskunst, weiter
verbessern und unsere Rolle auf dem Weltmarkt weiter
behaupten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn der damalige SPD-Umweltminister und jetzige
SPD-Parteivorsitzende dies rechtzeitiger erkannt hätte,
dann hätten wir schon früher umsteuern können.

Den notwendigen Innovationsschub auszulösen, dem
dient auch die deutliche Verbesserung der Regelungen
zum Eigenverbrauch von fotovoltaisch erzeugtem
Strom. Wer den Strom, den seine eigene Anlage produ-
ziert, in nennenswerter Weise selbst nutzt, bekommt eine
höhere Vergütung als der, der seinen Strom lediglich ins
Netz speist. Damit geben wir einen technologisch neu-
tralen Anreiz zum intelligenten Umgang mit Strom bis
hin zur Entwicklung und dem Einsatz von Speichertech-
nik. Das ist für das Energieversorgungssystem in
Deutschland und auch für die Zukunft der erneuerbaren
Energien dringend nötig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber das kann nur der Anfang sein. Wir brauchen ei-
nen intelligenteren Umgang mit Strom, eine intelligente
Steuerung des Verbrauchs im eigenen Haus bis hin zu in-
telligenten Netzen. So wird die Zukunft der Energiege-
winnung und die Zukunft der Energienutzung im Be-
reich der Fotovoltaik aussehen müssen. Dazu müssen





Dr. Christian Ruck


(A) (C)



(D)(B)

wir aber noch etliche Schritte gehen. Hierzu dient auch
die uns heute vorliegende Novelle des EEG.

Ich möchte bekennen, dass auch wir etwas als Fehl-
steuerung ansehen. Wir haben dafür gekämpft – das war
auch bei uns mit heftigen Diskussionen verbunden –,
dass wahr wird, was wir beschlossen haben, nämlich
vom Acker weg aufs Dach, und zwar nicht nur aus ir-
gendwelchen ökonomischen Gründen – es gibt gute
Gründe, das ganz anders zu sehen, siehe Anhörung –,
sondern auch aus grundsätzlichen Erwägungen. Diese
Erwägungen muss man nicht teilen, aber wir haben diese
Erwägungen angestellt und insofern die entsprechenden
Konsequenzen daraus gezogen.


(Ulrich Kelber [SPD]: „Grundsätzlich“ ist das deutsche Wort für „ideologisch“!)


Das hat etwas mit der Frage zu tun, was wir mit unseren
Äckern, Landschaften, Wiesen in Zukunft anfangen wol-
len.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stoppen Sie den Maisanbau! Der ist viel schlimmer!)


– Frau Höhn, das eine widerspricht nicht dem anderen.
Man muss über alles dieselben Kriterien ansetzen; da ha-
ben Sie vollkommen recht.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stoppen Sie den Autobahnbau! Da wächst nichts mehr!)


– Auch darüber kann man diskutieren, aber heute ist die
Novelle des EEG dran.

Bei dem Beschluss für diese Novelle handelt es sich
also um eine Grundsatzentscheidung, worüber man auch
anderer Meinung sein kann.

Diese Novelle ist der Auftakt zu einer intensiven Dis-
kussion um die Zukunft unserer Energieerzeugung und
um die Zukunft der Klimaverträglichkeit dieser Energie-
erzeugung. Der Rahmen für unsere Energiepolitik ist die
Erreichung der Klimaziele.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704010800

Kollege Ruck, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1704010900

Jawohl. – Dieser Rahmen heißt: 30 Prozent Anteil der

erneuerbaren Energien an der Stromversorgung im Jahre
2020.


(Ulrich Kelber [SPD]: Mindestens 30 Prozent!)


– Mindestens, ja; das ist der Rahmen.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, 70 Prozent aus Atom und Kohle!)


Dieses Ziel und das Ziel der CO2-Reduktion um
40 Prozent bis 2020 –

Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704011000

Kollege Ruck, Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer

Kollegen.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1704011100

– müssen wir mit den ökonomischen Instrumenten er-

reichen, die wir haben. Sonst werden wir diese Aufgabe
nicht schultern können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704011200

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1704011300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Kollege Ruck, wenn Sie sagen, dass diese
Novelle der Auftakt zu zukünftigen Gesetzen in Sachen
zukünftiger Energieversorgung, die die Regierung und
die Mehrheit des Bundestages vorhat, sein soll, dann
schwant mir Böses. All diejenigen, die in irgendeiner
Form dieses stoppen können, sind aufgerufen – zum ers-
ten Mal bei der NRW-Wahl am Sonntag –, diese falsche
Politik zu beenden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Hier ist doch nicht Wahlkampf!)


Herr Kollege Ruck, wenn Sie hier eine Ruck-Rede
zugunsten dieser Novelle halten, dann sage ich Ihnen: Es
wäre schön gewesen – dies ist ein Anspruch, den Politik
haben sollte –, wenn man sich mit Sachverständigen-
voten auseinandergesetzt hätte. Wir haben im Umwelt-
ausschuss eine Sachverständigenanhörung durchge-
führt. Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen
hat bei dieser Anhörung gesagt, das, was Sie hier vorha-
ben, gefährdet den Fortschritt der Bundesrepublik
Deutschland in dieser Technologie und viele Tausende
von Arbeitsplätzen in Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Selbst die eigenen Sachverständigen!)


Wenn man selbst den Sachverständigen nicht glaubt,
dann sollte man wenigstens den eigenen Kolleginnen
und Kollegen glauben. Ich sage Ihnen: Schauen Sie ein-
mal, was Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat
für Warnungen ausgestoßen haben. Wenigstens das hätte
Sie dazu bewegen müssen, hier an der einen oder ande-
ren Stelle etwas zu ändern. Aber auch hier, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren
Sie auf beiden Ohren taub.

Gestern haben wir eine sehr bedeutende Vorstellung
im Umweltausschuss durch den Sachverständigenrat für
Umweltfragen erlebt. Der Sachverständigenrat hat uns
das erste Mal, wissenschaftlich begleitet, gezeigt, dass





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

bis 2050 eine Versorgung von 100 Prozent mit Erneuer-
baren möglich ist.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis 2030 sogar!)


Er hat gesagt, dass es eine Mär ist, im Zusammenhang
mit den Erneuerbaren von einer Stromlücke zu reden. Er
hat gesagt, dass es für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher sogar kostengünstiger sein wird, auf erneuer-
bare Energien zu setzen. Er hat gesagt, dass hier, in den
erneuerbaren Energien, das Potenzial liegt.

Dieser Sachverständigenrat hat aber auch gesagt, dass
all das nur möglich ist, wenn wir die erneuerbaren Ener-
gien schnell ausbauen. Er hat gesagt, dass wir den Aus-
bau der Stromnetze brauchen. Er hat gesagt, dass wir uns
nicht auf Nebenkriegsschauplätze begeben dürfen
– Stichwort: Hoffnung auf den Ausstieg aus dem Aus-
stieg aus der Atomenergie –, weil das eine Sackgasse sei.
Er hat auch gesagt, dass wir eine Investition in Effizienz
brauchen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und FDP, lieber Bundesminister Röttgen, wenn Sie sich
dieses Gutachten des Sachverständigenrates ansehen und
dann vergleichen, was Sie heute hier und aktuell auch in
anderen Politikbereichen tun, dann sehen Sie, dass Sie
genau das Gegenteil beschließen und damit all diese
hehren Ziele gefährden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1704011400
Wie
lange wollen Sie sich von den Kolleginnen und Kollegen
am Nasenring durch die Manege führen lassen? Wie
lange wollen Sie sich demütigen lassen, wenn es um
MAP und all diese Programme geht, die genau die Ziele,
die Sie immer wieder proklamieren und sogar noch diese
Woche proklamiert haben, konterkarieren? Das ist alles
andere als eine glaubwürdige Politik. Wenn man glaub-
würdig sein will, dann muss man sich hier hinstellen und
sagen: Damit kann ich die Umweltziele, für die ich stehe
und für die ich auf internationaler Ebene werbe, nicht er-
reichen. Das müssen Sie hier heute machen. Ich frage
mich wirklich, wie lange Sie in Ihrer Rolle überhaupt
noch bestehen können. Es kann keine glaubwürdige
Politik sein, wenn man genau das Gegenteil dessen tut,
was die Sachverständigen empfohlen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Lahme Ente schon nach einem halben Jahr!)


Ich will das an drei Punkten deutlich machen. Erstens.
Sie sprechen von einer Laufzeitverlängerung. Dabei hat
uns der Sachverständigenrat eindeutig gesagt, das ist ein
völliger Irrweg. Ich hoffe, dass dieser Spuk spätestens
am Sonntag durch die Änderung der Bundesratsmehrheit
vorbei ist.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Schon wieder Wahlkampf!)


Zweitens. In Sachen Effizienz gehen Sie genau in die
falsche Richtung.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Nein!)


Sie streichen bei den kommunalen Klimaschutzprogram-
men. Sie streichen bei den Marktanreizprogrammen. Sie
machen das Gegenteil von dem, was die Effizienz stei-
gern soll. Es kann doch nicht wahr sein, dass man sich
dann hier hinstellt und sagt: Wir machen zukünftige Kli-
mapolitik.

Drittens. Sie kürzen die Mittel und gefährden in un-
verantwortlicher Weise genau den Bereich, auf den es
ankommen wird, nämlich den Bereich der Erneuerbaren.

Um Ihnen ein aktuelles Feedback zu geben, will ich
Ihnen ein paar Dinge aus meinem Wahlkreis, aus Hanno-
ver, sagen. Erstes Beispiel. Die CDU-Bürgermeister
sagen: Wir haben vor Ort mit Klimaschutzmaßnahmen
begonnen. Bei uns ist viel unterwegs. Die Mitteilungen
aus Berlin über Kürzungen gefährden jahrelange Auf-
bauarbeit. Sie, Herr Röttgen, wollen die kommunalen
Klimaschutzprogramme, die auf den Weg gebracht wor-
den sind, rückwirkend stoppen. Ihre eigenen Kommunal-
politiker werfen Ihnen diese Politik vor. Lassen Sie die
Finger davon, und heben Sie endlich diese Sperre auf.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweites Beispiel. Selbst die Handwerkskammer in
Hannover fragt: Wo liegt das Potenzial der Zukunft? –
Das liegt im Bereich der Effizienz und im Bereich der
Erneuerbaren. Selbst der Geschäftsführer der Hand-
werkskammer in Hannover sagt: Genau diese Entschei-
dungen gefährden Investitionen, gefährden Investitions-
sicherheit, gefährden Vertrauen in diese Investitionen
und damit sehr viele Arbeitsplätze im Mittelstand. – Ich
finde, auch auf diese Leute sollten Sie in solchen Stun-
den einmal hören.


(Beifall bei der SPD sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Seine eigene Handwerkskammer im RheinSieg-Kreis hat sich doch auch beschwert! – Abg. Ingbert Liebing [CDU/CSU], an den Abg. Ulrich Kelber [SPD] gewandt: Tun Sie doch nicht so, als ob alles abgeschafft würde! Das ist doch Blödsinn!)


Ich glaube, dass man sich hierbei wirklich sehr beson-
nen angucken sollte, wo Förderungen angezeigt sind und
wo sie zurückgenommen werden sollten. Da Sie von
Profit von einigen wenigen reden, wünsche ich mir, dass
wir diese Diskussion vor allen Dingen auch dann einmal
führen, wenn es um Profite der großen Konzerne geht,
die dadurch entstehen, dass Sie den Beschluss über den
Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen wol-
len. Wer redet bei Ihnen eigentlich darüber?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer redet darüber, dass all das, was wir augenblick-
lich befürchten, in Spanien bereits erkennbar gewesen
ist, wo man in unverantwortlicher Weise gekappt hat und
wo genau diese Zukunftsbranche in den Keller gegangen
ist? Es gibt diese Beispiele. Ich wünsche mir, dass Sie





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

sich mit diesen Argumenten einmal hätten auseinander-
setzen können. Dann wäre vielleicht ein bisschen Spiel-
raum gewesen.

Wir haben alternative Anträge eingebracht. Sie sind
darauf nicht eingegangen. Ich glaube, dieses ist alles an-
dere als eine zukunftsfähige Energiepolitik, Herr Ruck.
Nein, das geht in die völlig falsche Richtung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704011500

Herr Kollege.


Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1704011600

Ich hoffe, Sie besinnen sich irgendwann noch in die-

ser Legislaturperiode. Ansonsten sieht es, glaube ich,
schlecht für die Zukunft der Energiepolitik hier in der
Bundesrepublik Deutschland aus.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704011700

Für die FDP spricht der Kollege Michael Kauch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1704011800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Miersch, es wäre schön gewesen, wenn Sie darüber
gesprochen hätten, was auf der Tagesordnung steht,
nämlich über die Solarförderung.


(Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP] – Horst Meierhofer [FDP]: Das war inhaltsleer!)


Sie haben einen Rundumschlag über die Klimapolitik
gemacht. Das hatten wir heute Morgen schon, als das auf
der Tagesordnung stand. Dadurch haben Sie wieder ein-
mal deutlich gemacht, dass es Ihnen um nichts anderes
als darum geht, hier Wahlkampfbotschaften zu senden.

Nachdem ich das hier so gehört habe, muss ich Sie
schon fragen: Was würde denn mit Solarfirmen in Nord-
rhein-Westfalen passieren, wenn Rot-Rot-Grün in dem
Land regieren würde?


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besser als bei Ihnen wäre das allemal!)


Die Investitionsbedingungen würden dann so sein, wie
sie 2005 waren, als NRW bei den Investitionsbedingun-
gen auf dem letzten Platz lag. Wir haben NRW nach
vorne gebracht. Es ist ein Aufsteigerland geworden. Mit
Ihnen – Rot-Rot-Grün – würde es wieder ein Absteiger-
land werden,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entscheiden die Bürgerinnen und Bürger und nicht Sie!)


und zwar auch für die Solarindustrie. Sie würde dann
auch nicht mehr in NRW investieren wollen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch die erneuerbaren Energien kaputtgemacht!)


Im Übrigen: Kein Bürger, der sich für Solarenergie in
Nordrhein-Westfalen einsetzt, wird wollen, dass die Alt-
kommunisten aus der Linken in Nordrhein-Westfalen in
die Regierung kommen. Wegen der Leute, die dort mit
Ihnen in die Regierung wollen, schütteln sich ja schon
die meisten Ostlinken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit dieser Debatte zu tun? Sie machen hier Wahlkampf!)


Wir werden deshalb hier und heute über eine gute, zu-
kunftsfähige Reform der Solarförderung reden.

Die Kosten für Solarmodule sind drastisch gefallen,
und ich glaube, es ist fair, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher von diesen Kostensenkungen profitieren;
denn wir machen Umweltpolitik für die Menschen in
diesem Land, für die Verbraucherinnen und Verbraucher,
für die Familien, die mit ihren Stromrechnungen die er-
neuerbaren Energien finanzieren, und wir machen sie
nicht, damit Anleger Traumrenditen erzielen. Das ist die
Politik von Rot-Grün: möglichst viel Geld für diejeni-
gen, die anlegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den großen NRW-Konzernen?)


Das ist die Umverteilung von unten nach oben, die Sie
ansonsten anprangern.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 25 Prozent Rendite sind bei der FDP immer drin! Das, was Sie da erzählen, können Sie doch selber nicht glauben!)


Deshalb ist es richtig, dass wir die Kostensenkungen
an die Verbraucher weitergeben. Das ist auch tragfähig;
denn wir machen das sehr maßvoll. Die Wettbewerbsfä-
higkeit der Solarbranche wird in vollem Umfang erhal-
ten bleiben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sagt wer? Wer außer Ihnen?)


Das Ausbauziel für Solaranlagen ist in diesem Ge-
setzentwurf gegenüber dem, was der SPD-Umweltmi-
nister Gabriel damals verabschiedet hat, um mehr als
50 Prozent gesteigert worden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Unwahrheit! Es gab kein Ausbauziel!)


Deshalb ist es ein Märchen, dass hiermit die Solarbran-
che kaputtgemacht werde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Unwahrheit, was Sie sagen!)


Ich kann nur Kai Lippert vom Bundesverband Solar-
wirtschaft zitieren, der im Bauernblatt-Sonderdruck ge-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

sagt hat, dass die Lage zwar schwierig sei, aber „Photo-
voltaikanlagen weiterhin eine attraktive … Geldanlage“
seien.


(Horst Meierhofer [FDP]: Sind sie ja auch!)


Der Verband hat bei der Anhörung in unserer Fraktion
das eine gesagt, im Bauernblatt-Sonderdruck das andere.
Es ist ganz klar: Wenn ich Interessenvertreter wäre und
etwas gekürzt werden sollte, dann würde auch ich mit
Sicherheit schreien.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Sie ja auch immer!)


Wir müssen aber einmal realisieren, dass die Vertreter
der Verbraucher viel größere Kürzungen gefordert ha-
ben. Das, was wir gemacht haben, ist ein sehr fairer Mit-
telweg zwischen den Forderungen der Verbraucherschüt-
zer und den Forderungen der Branche.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir von der FDP haben insbesondere darauf gedrun-
gen – es ist uns tatsächlich gelungen, dies im neuen Ko-
alitionskompromiss zu verankern –, dass wir in diesem
Jahr die Kostensenkungen umsetzen, aber im nächsten
Jahr eine sehr maßvolle Degression vornehmen, damit
wir nicht zu viel auf einmal absenken und die Unterneh-
men weder überfördern noch überfordern. Wir würgen
die Unternehmen eben nicht ab; vielmehr erhalten sie im
nächsten Jahr eine Möglichkeit zum Durchatmen: Im
Vergleich zu dem, was sonst vorgesehen war, flachen wir
die Degression ab. Wir haben also maßvoll agiert.

Es ist uns gelungen, den Vertrauensschutz für Investo-
ren deutlich zu verbessern. Beispielsweise hatten Haus-
besitzer, die wegen des harten Winters ihre Module nicht
auf dem Dach anbringen konnten, dank der von den Ko-
alitionsfraktionen durchgesetzten Änderungen drei Mo-
nate mehr Zeit, ihre Anlagen zu installieren. Das ist ein
gutes Ergebnis. Wir, die Koalitionsfraktionen, haben er-
reicht, dass jeder Hausbesitzer, der eine Anlage auf dem
Dach anbringen wollte, dies zu den alten Konditionen
umsetzen konnte. Auch bei den Freiflächenanlagen ha-
ben wir den Vertrauensschutz verbessert, allerdings nicht
so sehr, wie wir Liberale uns das gewünscht hätten. Sol-
che Gesetze sind eben immer auch Kompromisse.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Abwürgen, kein Vertrauensschutz!)


Herr Ruck, es sei mir erlaubt, einen Punkt anzuspre-
chen, bei dem Sie gesagt haben, man könne das auch an-
ders sehen: Ja, wir sehen das anders; der Ausschluss der
Ackerflächen war nicht unsere Idee.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum tragen Sie es dann mit?)


Aber auch hier gilt: Eine Koalition bedeutet immer ein
Geben und ein Nehmen. Die Union hat sich beim Aus-
schluss der Ackerflächen durchgesetzt. Wir haben uns bei
der Ausweitung der Konversionsflächen durchgesetzt, bei
denen es zu einer deutlich geringeren Degression als bei
anderen Standorten kommt, und die Randstreifen von Ver-
kehrswegen sowie Verkehrs- und Wohnungsbauflächen
hinzugenommen. Falls sich herausstellen wird, dass
nicht genügend Flächen für die Fotovoltaik vorhanden
sind, kann man gegebenenfalls im Rahmen der großen
EEG-Novelle im Jahre 2012 Veränderungen vornehmen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Dann können Sie ja die Betriebe wieder aufbauen!)


Ich möchte in Richtung der SPD eines deutlich sagen:
Wir haben einen Punkt an diesen Gesetzentwurf ange-
hängt, nämlich die Härtefallregelung für energieintensive
Unternehmen, die aufgrund eines BGH-Urteils ihre An-
träge nicht mehr fristgerecht stellen konnten, obwohl sie
tatsächlich energieintensiv sind. Die SPD-Fraktion war
im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages die
einzige Fraktion, die gegen diese Regelung gestimmt
hat. Das ist eine Politik gegen die Chemieparks wie etwa
in Marl und Krefeld. Darüber sollte eine Partei, die einst
die Arbeiter in diesem Land vertreten wollte, einmal
nachdenken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist erneut die Unwahrheit! Sie sagen laufend die Unwahrheit am Rednerpult! Sie sollten sich schämen! Herr Kauch, was Sie machen, ist eines Parlaments unwürdig! Sie haben erneut die Unwahrheit gesagt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704011900

Ralph Lenkert hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704012000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, ermöglichte
das Entstehen von Firmen, die im deindustrialisierten
Osten für neue Arbeitsplätze und neuen Lebensmut ge-
sorgt haben. Insbesondere dank der Solarbranche sank
zum Beispiel die Arbeitslosenquote in der Region Erfurt
von 19 Prozent im Jahr 2005 auf 12 Prozent im Jahr
2009. Das ist ein Riesenerfolg. So weit, so gut.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Zum 1. Januar 2010 sank die Einspeisevergütung für
Solarstrom aber um 9 Prozent. Zum 1. Januar 2011 wird
sie, das ist seit längerem geplant, um weitere 9 bis
11 Prozent sinken. Das ist viel. Jetzt will die Regierung
die Vergütung zum 1. Juli um weitere 16 Prozent senken.
Das können die Firmen nicht verkraften. Die Folgen sind
Unsicherheiten bei Firmen und Ängste bei den Beschäftig-
ten. Geplante Fertigungsanlagen für Solarprodukte wurden
nicht mehr gebaut, und bestehende Fertigungsanlagen
sind akut gefährdet.

In einem Interview mit der Financial Times Deutsch-
land vom 13. April dieses Jahres ließ uns der Chef von
SCHOTT Solar, Martin Heming, wissen, wegen der zum
1. Juli sinkenden Förderraten steige der Druck, kosten-
günstig zu produzieren; denkbar sei eine neue Fertigung





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

in China. Investitionen in neue Fabriken oder Erweite-
rungen in Deutschland seien wegen der politischen Lage
nicht mehr geplant. Sie, meine Herren und Damen von
CDU/CSU und FDP, ignorieren alle Einwände gegen die
geplanten Kürzungen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das stimmt nicht!)


Sie ignorieren die Proteste der Beschäftigten und Ge-
werkschaften. Sie wischen selbst die Warnungen von In-
dustrieverbänden vor dem Verlust von Arbeitsplätzen
und der Technologieführerschaft vom Tisch. Ich frage
mich: Warum ignorieren Union und FDP im Bundestag
sogar die Bitte von Ministerpräsidentin Lieberknecht,
CDU Thüringen, und die Entschließung des Bundesrates?


(Horst Meierhofer [FDP]: Was hat die mit uns zu tun?)


Der Schutz der Verbraucher vor zu hohen Strompreisen
kann es nicht sein. Wir zahlen 2 Cent je Kilowattstunde
zusätzlich für die erneuerbaren Energien, aber seit 2006
stiegen die Strompreise um 4 Cent je Kilowattstunde,
und das ohne Gegenleistung und ohne Kostengründe.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist die Monopolstruktur!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704012100

Herr Kollege Lenkert, möchten Sie eine Zwischen-

frage zulassen?


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704012200

Nein. – Es ging Ihnen nur um Gewinnerhöhung, Bo-

nussteigerung und Aktionärsbeglückung. Ginge es Ihnen
wirklich um die Verbraucher, hätten Sie diesen Miss-
brauch der Marktmacht verhindert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch heute geht es Schwarz-Gelb vor allem um ei-
nes: die Gewinnsicherung für Großkonzerne.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit geplanten Laufzeitverlängerungen für Atomkraft-
werke fing es an. Nun geht es um die Sicherung des
Stromerzeugungsmonopols für Eon, RWE, Vattenfall
und EnBW durch die Änderung des EEG.


(Beifall bei der LINKEN)


Der umweltfreundliche Solarstrom hat das größte Po-
tenzial dezentral, monopolbrechend erzeugt zu werden.
Mit geringem Investitionsvolumen kann man Strom
produzieren, nicht viel je Modul, aber an vielen Orten.
Solange sich kleine Anlagen rechnen, kann man die
dezentrale Erzeugung kaum verhindern. Aber mit der ra-
dikalen Kürzung der Einspeisevergütung müssen die
Anlagenkosten je installierter Kilowattstunde deutlich
sinken. Wer erhält die großen Preisrabatte bei Herstellern
und Installationsfirmen? Familie Meyer mit 20 Quadrat-
metern Dachfläche oder der Betreiber der 10 000 Qua-
dratmeter im Solarpark? Wo kann man bei den viel nied-
rigeren Zuschüssen für Solarstrom noch wirtschaftlich
Strom erzeugen? Auf Meyers Dach jedenfalls nicht.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum denn nicht? Haben Sie das Gesetz mal gelesen?)


Dass bei ihrer Gewinnsicherung für die gierigen vier
Konzerne ein paar mittelständische Solarunternehmen in
Ostdeutschland mit 50 000 Beschäftigten hinten runter-
fallen, ist den Koalitionären egal. Kollateralschäden gab
es halt schon immer.


(Beifall bei der LINKEN)


Als Ausgleich spendieren Sie eine zusätzliche Förderung
der Solarforschung: 100 Millionen Euro in vier Jahren.
Laut Greenpeace wurden Atomkraftwerke in 60 Jahren
mit 165 Milliarden Euro unterstützt. Die Förderung der
Solarindustrie erreicht bei dauerhafter Beibehaltung des
jetzigen Gesamtniveaus die Höhe der Atomförderung
– also 165 Milliarden Euro – in „nur“ 3 300 Jahren. An-
ders gesagt: Pro Jahr fördern Sie die Solarindustrie mit
so viel Geld, wie der Castortransport pro Jahr kostet,
wenn Sie die Laufzeit für Atomkraftwerke verlängern.
Die 100 Millionen Euro sind die 30 Silberlinge, damit
die Landesregierungen stillhalten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke fordert in ihrem Antrag, die verheerende
Kürzung der Einspeisevergütung durch die Regierung zu
verhindern. Wir setzen auf eine kalkulierbare Verringe-
rung der Einspeisevergütung. Die Verringerung soll zur
Vermeidung von Auftragsspitzen nicht ein Mal im Jahr,
sondern schrittweise erfolgen. Der vorliegende Antrag
brächte die notwendige Zeit für die Anpassungen in der
Solarbranche.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Genau! Und Investitionsfreiheit!)


In den Solarbetrieben zwischen Ostsee und Bodensee,
also auch bei SCHOTT in Jena und Q-Cells in Thalheim,
warten Menschen auf das Resultat der Abstimmung.
Viele der jetzigen Beschäftigten der Solarbranche haben
jahrelang ALG II oder Hartz-IV bezogen. Manche haben
Kinder, die 2009 das erste Mal in ihrem Leben mit ihren
Eltern in einen Urlaub fahren konnten. Von unserer Ent-
scheidung hängt es ab, ob das Schreckgespenst Hartz IV
in die Wohnungen zurückkehrt oder ob es auch 2011 ei-
nen Familienurlaub gibt.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Blanke Demagogie! – Gegenruf von der SPD: Das ist die Wahrheit!)


Ob die heute 500 Azubis dieser Branche in Thüringen zu
Hause bleiben können oder westwärts ihr Glück suchen
müssen, auch das hängt von unserer Entscheidung ab.

Wir Abgeordnete sind nicht den Gewinnen der Kon-
zernzentralen von Eon in Düsseldorf, EnBW in Karlsruhe,
RWE in Essen oder Vattenfall in Stockholm verpflichtet.
Meinen Kollegen aus Ostdeutschland und insbesondere
aus Thüringen sei gesagt: Zerstören Sie nicht die Hoff-
nung der Menschen in der Solarbranche! Blasen Sie einer
Zukunftsindustrie nicht das Licht aus!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704012300

Der Kollege Grund hat das Wort zu einer Kurzinter-

vention.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1704012400

Herr Kollege Lenkert, ich nehme Ihre Aufforderung di-

rekt an. Sie haben in Ihrer Rede den Eindruck vermittelt,
dass Arbeitsplätze in Solarmodulfirmen, insbesondere in
Ostdeutschland, durch die anstehenden Kürzungen ge-
fährdet werden. Wir kürzen die Einspeisevergütung. Es
gibt keinen Zuschuss zum Beispiel für Firmen in Erfurt,
sondern im Rahmen der Einspeisevergütung einen Zu-
schuss für diejenigen, die Solarmodule auf dem Dach
haben oder auf Freiflächen stellen. Bei der Einspeisever-
gütung wird nicht unterschieden, ob ein Solarmodul in
Erfurt hergestellt wurde oder aus Taiwan, China oder In-
dien kommt. Bereits heute kommt die Hälfte der in
Deutschland eingebauten Solarmodule aus dem Ausland,
und das bei einer hohen Einspeisevergütung von rund
39 Cent pro Kilowattstunde. Das heißt, wir fördern mit
der Solarförderung nicht unbedingt die Arbeitsplätze, die
wir fördern wollen, sondern Arbeitsplätze in Asien.


(Frank Schwabe [SPD]: Demnächst sind alle Arbeitsplätze in Asien!)


Das kann nicht das Ziel sein. Das ist der erste Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das Zweite ist: Auch Sie sind vom DGB und vom
Stahlwerk in Thüringen angeschrieben und gebeten wor-
den, als Politiker nichts mehr zu tun, was den Strompreis
in Deutschland – und sei es nur um 1 oder 2 Cent – in die
Höhe treibt.


(Weiterer Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das, was Ihrer Rede zugrunde liegt, und das Geschrei
von Frau Höhn gefährden bestehende Arbeitsplätze in
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704012500

Der Kollege Lenkert hat das Wort zur Erwiderung auf

die Kurzintervention.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704012600

Kollege Grund, ich weiß nicht, wie oft Sie in China

Investitionen getätigt oder gearbeitet haben. Ich weiß
auch nicht, welche wirtschaftlichen Kenntnisse Sie haben.
Ich jedenfalls komme aus der Wirtschaft


(Lachen bei der CDU/CSU)


und sage Ihnen: Wenn der Markt wegbricht, dann setzt
niemand mehr etwas ab. Sie lassen gerade den Markt
wegbrechen.

Sie berücksichtigen nicht die spezielle Situation der
hiesigen Branche. Es gab einen starken Boom und einen
sehr starken Einkaufspreisdruck. Das heißt, die Firmen
mussten langfristige Lieferverträge abschließen. Sie be-
rücksichtigen nicht, dass die hiesigen Firmen von der
EEG-Vergütung leben mussten und dass die chinesische
Regierung – im Gegensatz zu Ihnen – die Zeichen der
Zeit erkannt hat und den chinesischen Firmen Milliar-
denkredite zu extrem günstigen Konditionen zur Verfü-
gung stellt. Das ist übrigens ein Punkt, der in unserem
Antrag steht und den Sie genauso ignorieren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie berücksichtigen nicht, dass der chinesische Staat den
einheimischen Markt mit einem Schutzzoll von 17 Pro-
zent gegen die Einfuhr von Solarmodulen aus der Bundes-
republik abriegelt. Unseren Antrag, dies zu korrigieren,
haben Sie ebenfalls abgelehnt.

Ich frage mich, wie Sie behaupten können, dass Sie
wirtschaftlichen Sachverstand hätten. In meiner Firma
jedenfalls hätten Sie keinen Monat überlebt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704012700

Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704012800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Heute wird in diesem Hohen Hause das erste be-
deutende energiepolitische Gesetzesvorhaben unter der
schwarz-gelben Koalition verabschiedet. Unter dem
Deckmantel schöner Reden und guter Formulierungen
im Koalitionsvertrag bremsen Sie aber in Wirklichkeit,
meine Damen und Herren von der Koalition, das Wachs-
tum der erneuerbaren Energien aus.

Ihre Motivation dafür ist uns klar: Sie wollen aus-
schließlich die Interessen der Atom- und Kohlewirt-
schaft bedienen.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: So ein Quatsch!)


Sie schreiben in der Begründung zur heute vorliegenden
Gesetzesnovelle zur Solarvergütung, dass die vorgesehe-
nen Maßnahmen in ihrer Kombination grundsätzlich
dazu geeignet seien, den Zubau zu verlangsamen und
den derzeitigen, übermäßigen Ausbau auf eine Größen-
ordnung zurückzuführen, die für die Erreichung der
deutschen Ausbauziele ausreichend sei.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Sehr richtig!)


Was sind denn Ihre Ziele? Bis 2020 wollen Sie einen
Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeu-
gung von gerade einmal 30 Prozent erreichen, obwohl
die Branche der erneuerbaren Energien längst aufgezeigt
hat, dass bis 2020 circa 50 Prozent möglich sind. Im
Umweltausschuss haben die Berater der Bundesregie-
rung vom SRU gestern gesagt, dass in Deutschland bis
2030 sogar eine hundertprozentige Stromversorgung
über erneuerbare Energien möglich ist, wenn man beste-





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)

hende Kraftwerke frühzeitig abschaltet. Die Branche der
erneuerbaren Energien schaffe das spielend, so Herr
Hohmeyer in seiner Darstellung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704012900

Kollege Fell, es gibt einen Wunsch nach einer Zwi-

schenfrage des Kollegen Hirte.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013000

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013100

Bitte schön.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1704013200

Herr Kollege Fell, stimmen Sie mir zu, dass es pro-

blematisch ist, wenn wir in Deutschland teilweise einen
Zubau – 60 Prozent der weltweit produzierten Module –
haben? Stimmen Sie mir auch zu, dass Deutschland
nicht die beste Zone für solare Strahlungsenergie ist?


(Zuruf von der SPD: Aua!)


Stimmen Sie mir vor diesem Hintergrund zu, dass es
sinnvoll wäre, diese Module in Deutschland herzustel-
len, dass es aber nicht sinnvoll wäre, sämtliche herge-
stellten Module hier zu installieren?


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013300

Herr Kollege, in der Tat gibt es in der Welt Regionen,

in denen die Solarstrahlung höher ist als in Deutschland.
Ich stimme Ihnen deswegen aber nicht zu, dass in
Deutschland kein ausreichendes Potenzial für Solarener-
gie vorhanden ist. Ganz im Gegenteil: Würden Sie bei-
spielsweise nur die deutschen Dächer mit Solarstroman-
lagen belegen, könnten Sie genug Strom erzeugen, um
den gesamten Strombedarf in Deutschland zu decken.
Ich sage das nur, um Ihnen die Augen dafür zu öffnen,
wie groß das Potenzial hier ist. Wir haben genügend
Sonne.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Haben Sie sich über die Kosten einmal Gedanken gemacht?)


Das zweite Argument ist: Wer einen Binnenmarkt im
eigenen Land eröffnet, wird auch die Technologieführer-
schaft haben. Genau darum geht es; denn die Fotovoltaik
wird einer der größten Zukunftsmärkte der Welt sein. Es
ist ganz wichtig, dass wir die Technologieführerschaft
Deutschlands, die wir in den letzten zehn Jahren, ange-
fangen mit Rot-Grün, aufgebaut haben, behalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Die sozial Schwachen müssen das alles bezahlen!)

Aber genau hier setzen Sie an; Sie nehmen eine Gefähr-
dung der Technologieführerschaft in Kauf.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013400

Herr Fell, Sie haben die Chance, Ihre Redezeit weiter

zu verlängern, weil auch Herr Kauch etwas fragen
möchte.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie auch gegen Wachstum?)



Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013500

Oh ja, ich streite mich gerne mit Herrn Kauch.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013600

Bitte schön.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1704013700

Herr Kollege, ich glaube, wir sind uns einig, dass es

notwendig ist, die Fotovoltaik aus Gründen der Techno-
logiepolitik zu fördern. Die Fotovoltaik ist eine Techno-
logie, die auf dem Weltmarkt auf lange Sicht sehr erfolg-
reich sein wird. Natürlich wollen wir – das haben auch
Sie deutlich gesagt – auf diesem Gebiet Technologiefüh-
rer sein. Ich war sehr überrascht über Ihre Argumenta-
tion, dass dies alles gekürzt werde, damit die Atom- und
die Kohlelobby besondere Erfolge verzeichnen könnten.

Können Sie meiner Feststellung zustimmen, dass der
Beitrag der Fotovoltaik an der Stromerzeugung momen-
tan etwa 1 Prozent und der Anteil der erneuerbaren
Energien an der Stromerzeugung insgesamt gut 15 Pro-
zent betragen und dass die Frage, ob Kohle oder Nuklear-
strom in Zukunft möglicherweise einen geringeren Anteil
haben, nicht von der Frage der Solarförderung abhängig
ist, sondern dass sie vielmehr von den Bereichen ab-
hängt, die von dieser Novelle überhaupt nicht tangiert
werden, nämlich von den Bereichen Wind, Wasser und
Biomasse, die einen viel höheren Anteil an der Stromer-
zeugung haben als die Fotovoltaik?


(Ulrich Kelber [SPD]: Hans-Josef, erklär’ es ihm mal!)



Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013800

Herr Kollege Kauch, wir streiten im Bundestag schon

lange über die Solarförderung und die Solarindustrie. Ich
kann mich an jahrelange Auseinandersetzungen im Um-
weltausschuss erinnern, in denen Sie immer wieder ge-
sagt haben, dass die Solarindustrie gar keine sinnvolle
Industrie sei, dass ihre Förderung hinausgeworfenes
Geld sei usw. Erst im letzten Jahr haben Sie die Kurve
gekriegt und das Erneuerbare-Energien-Gesetz als das
entscheidende Instrument für Technikförderung und In-
novationskraft anerkannt. Das ist das eine.

Dieses Gesetz hat erst vor wenigen Jahren gegriffen.
Vor zehn Jahren hat die Fotovoltaik gerade einmal
0,0001 Prozent zur bundesdeutschen Stromerzeugung
beitragen können.


(Michael Kauch [FDP]: Können Sie die Zahlen denn nun bestätigen?)






Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)

Heute sagen Sie, dass es schon weit mehr als 1 Prozent
ist; in Bayern sind es übrigens schon 3 Prozent.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein! 0,7 Prozent!)


Daran sieht man, wie schnell der Anteil der Fotovoltaik
wächst.


(Abg. Michael Kauch [FDP] nimmt wieder Platz)


– Bleiben Sie bitte noch stehen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Genau! Stehen bleiben, Herr Kollege! Das gehört noch zur Antwort! – Michael Kauch [FDP]: Oh, ich dachte, die Antwort ist zu Ende!)


– Nein. Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig.

Eine Solarstromentwicklung und eine Innovationsent-
wicklung enden nicht mit der Betrachtung des heutigen
Tages. Wir müssen die Wachstumskurven, die hier mög-
lich sind, auch für die Zukunft durchrechnen. Ein Bei-
spiel ist der Mobilfunk. Die Entwicklung von den An-
fängen der Mobilfunktechnologie bis zur Vollversorgung
hat in Deutschland gerade einmal zwölf Jahre gedauert.
Das sind Wachstumskurven, die auch in der Branche der
erneuerbaren Energien möglich sind und sehr schnell zu
einem sehr hohen Anteil der Bedarfsdeckung bei der
Stromversorgung führen können. Das ignorieren Sie. Ich
frage mich, woher Sie Ihren wirtschaftspolitischen Sach-
verstand nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In Wirklichkeit wissen Sie das doch alles, meine Damen
und Herren von Union und FDP.

Sie wissen aber auch etwas anderes – das muss an ge-
nau dieser Stelle gesagt werden –: Wenn Sie die Verlän-
gerung der Laufzeit von Atomreaktoren durchsetzen
wollen, dann muss das erfolgreiche Wachstum der er-
neuerbaren Energien jetzt schnell ausgebremst werden,
weil ihr Volumen ansonsten viel zu schnell steigt.


(Widerspruch bei der FDP – Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ach! So ein Quatsch!)


Mit Ihrer heutigen Gesetzesänderung nehmen Sie in
Kauf, dass sogar Zehntausende von Arbeitsplätzen, vor
allem in der erfolgreichen Solarwirtschaft in Ostdeutsch-
land, vernichtet werden und dass Unternehmen, die sich
auf Fotovoltaikfreiflächen spezialisiert haben, in Kon-
kurs geschickt werden.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Oh Gott! Die Welt geht unter!)


Sie nehmen in Kauf, dass der Stromsektor als größter
Emittent von Klimagasen weiterhin die Atmosphäre be-
lasten darf und dass Deutschland länger in seiner Abhän-
gigkeit von immer teurer werdenden konventionellen
Energieträgern verbleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, Sie stört nicht einmal die
heftige Kritik aus den eigenen Reihen. Herr Ruck, ich zi-
tiere Ihren Parteivorsitzenden Horst Seehofer. Er hat am
3. März dieses Jahres geschrieben:

Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt die
Gefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet
den Verlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hoch-
modernen Branche.

Recht hat er. Gemeint hat er damit die 30-prozentige
Vergütungssenkung, die Sie heute beschließen werden
und innerhalb eines Jahres umsetzen wollen. In der An-
hörung im Umweltausschuss haben auch die Experten
Dr. Seeliger von der LBBW und Professor Weber vom
ISE in Freiburg vor diesen zu starken Vergütungssen-
kungen gewarnt. Doch fachlicher Rat aus Wirtschaft und
Wissenschaft scheint Sie überhaupt nicht zu interessie-
ren.

Natürlich geht es auch uns Grünen nicht um die Auf-
rechterhaltung überhöhter Gewinne.


(Horst Meierhofer [FDP]: Oh nein! Natürlich nicht!)


Wir haben immer gefordert, die Vergütungssätze mit Au-
genmaß zu gestalten. Wir stehen zum Schutz der Ver-
braucher vor überhöhten Strompreisen. Deshalb haben
auch wir für dieses Jahr eine moderate Vergütungssen-
kung vorgeschlagen, und zwar um 10 Prozent und in
mehreren Stufen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist mal wieder typisch! 10 Prozent Rendite und mehr, und der arme Mann bezahlt es!)


Dass dies möglich ist, zeigt, dass die Kostensenkung der
Solarstromhersteller ein großer Erfolg unserer Industrie-
politik in diesem Bereich ist und dass man Kostensen-
kungen mit Augenmaß umsetzen kann. Aber Sie gehen
mit dem Argument des Verbraucherschutzes an dieses
Thema zu scharf heran.

Aribert Peters vom Bund der Energieverbraucher hat
in der Anhörung die wahren Strompreistreiber genannt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Genau!)


Die vier großen Stromkonzerne haben aufgrund ihrer
marktbeherrschenden Stellung zusätzliche Gewinne von
jährlich 6 Milliarden Euro erwirtschaftet und die Strom-
preise ohne jegliche Gegenleistung erhöht. Das ist weit
mehr als die gesamten Mehrkosten, die durch die Um-
lage im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zu
verzeichnen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Herr Kauch, wir nehmen Ihre Beteuerungen zum Schutz
der Stromkunden vor überhöhten Strompreisen nicht
mehr ernst; denn wir vermissen politische Aktionen zur
Verhinderung dieser Abzocke durch die Atom- und Koh-
lekonzerne.

Meine Damen und Herren von Union und FDP, weil
Sie immer Ihre Wirtschaftskompetenz herausstellen,
sage ich Ihnen: Einer der wichtigsten Grundsätze für





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)

eine funktionierende Wirtschaft ist der Schutz des Ver-
trauens in getätigte Investitionen. Ein Hilferuf eines mit-
telständischen Unternehmens, der mich dieser Tage er-
reichte, bringt Ihre Fehlleistungen auf den Punkt. Dieser
Firmeninhaber schrieb mir: Herr Fell, zuerst wurde un-
sere Investition in reine Biokraftstoffe durch eine poli-
tisch nie angekündigte Besteuerung weitgehend vernich-
tet. In einem mutigen Schritt haben wir nun mit dem
letzten Geld in erheblichem Umfang Planungskosten für
Fotovoltaikflächen gedeckt. Und nun kommt ohne Vor-
ankündigung


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr, Herr Fell!)


die Streichung der Vergütung für Freiflächen auf
Äckern. Da wir die festgelegten Übergangszeiträume
nicht einhalten können, werden wir nun in Konkurs ge-
hen. – So weit der Brief.

Vor dem Radikalschlag, den Sie vorhaben, hat selbst
der bayerische Wirtschaftsminister, Martin Zeil von der
FDP, gewarnt. Am 24. Februar dieses Jahres schrieb er,
dass ein Ausschluss der EEG-Vergütung für Freiflächen
zu weit gehe. Denn gerade Freiflächenanlagen produ-
zierten Solarstrom zu vergleichsweise günstigen Kosten
und verfügten über besonders innovative Technologien.
Offensichtlich gilt in der FDP nicht das Wort eines Mi-
nisters und in der CSU auch nicht das Wort eines Partei-
vorsitzenden.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war schon immer so!)


Sogar Umweltminister Röttgen hat die erneuerbaren
Energien als Fels in der Brandung der Wirtschaftskrise
bezeichnet. Diesen Fels wollen Sie nun zu Fall bringen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Warum sonst sperren Sie im Marktanreizprogramm die
Mittel für Heizungen mit erneuerbaren Energien? Warum
sonst stoppen Sie die Förderung für die kleine Kraft-
Wärme-Kopplung? All dies geht in die gleiche Richtung:
den Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Energien und
die Entwicklung von Effizienztechnologien abzuwürgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht wahr!)


Trotz Ihrer Atomwünsche und Ihrer radikalen Ein-
schnitte bei der Förderung der erneuerbaren Energien
werden Sie, meine Damen und Herren von Union und
FDP, den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien
nicht bremsen können. 150 000 Menschen haben vor-
letztes Wochenende eindrucksvoll gegen eine Verlänge-
rung der Laufzeit von Atomkraftwerken demonstriert.
Auch in Zukunft werden viele Menschen in Deutschland
Fotovoltaikanlagen auf ihre Dächer bauen.


(Horst Meierhofer [FDP]: Eben! Ist doch super!)


Wir fürchten nur, dass diese Fotovoltaikmodule dann
nicht mehr aus deutscher Produktion, sondern fast aus-
schließlich aus China kommen werden.

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Was hat das damit zu tun?)


Mutwillig setzen Union und FDP die Technologieführer-
schaft der deutschen Solarwirtschaft aufs Spiel, und das
just zu dem Zeitpunkt, wo der Weltmarkt für Fotovoltaik
rasant anzuziehen beginnt. Damit stellen Sie sich für
Ihre angebliche Wirtschaftskompetenz ein Armutszeug-
nis aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin mir sicher, dass Sie auch dafür am kommen-
den Sonntag in Nordrhein-Westfalen die Quittung be-
kommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaube ich auch! – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Völliger Blödsinn!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704013900

Der Bundesminister Dr. Norbert Röttgen hat das

Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Wir beschließen heute über Änderun-
gen an einem Gesetz, das zu einem wichtigen Pfeiler der
deutschen Energiepolitik geworden ist. Der Sinn des
EEG ist, Technologien zur Gewinnung von Strom aus er-
neuerbaren Energien in den Markt einzuführen und zu
fördern.

Der Staat muss sich dabei Schritt für Schritt zurück-
nehmen, weil die erneuerbaren Energien ihre Leistung
im Markt erbringen müssen und erbringen werden. Weil
das so ist, weil es um Markteinführung geht,


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Genau: um Markteinführung!)


müssen wir auf die stürmischen technischen Entwicklun-
gen in diesem Markt reagieren. Immer wieder werden
wir reagieren müssen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht zu schnell!)


Dass es zu Novellen kommt, ist kein schlechtes Zeichen
und kein Grund für Traurigkeit, sondern ein gutes Zei-
chen; denn es ist Ausdruck der Innovationsfähigkeit und
der Fortentwicklung der Technologien in diesen Märk-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Weil es darum geht, Dynamik in diesen Markt zu
bringen, und weil dieser Markt wächst, fehlt der Status-





Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

quo-Rhetorik, die Sie heute zelebrieren, jede Zukunfts-
orientierung und Zukunftsdynamik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben gesagt, dass eine Senkung der Vergütung möglich ist! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie mit dem Popanz auf!)


Man kann solche Politik nicht vom Status quo aus ma-
chen. Wir wollen doch die Erneuerbaren in den Markt
bringen. Darum können wir bei dem Erreichten nicht
stehen bleiben, sondern müssen vorangehen.

Wir werden vorangehen mit dem Ausbau der Solaran-
lagen in Deutschland. Im Unterschied zur früheren Re-
gierung verdoppeln wir – ich glaube, dass Sie damit ein-
verstanden sind – den Ausbau in diesem Bereich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Haushaltssperre bin ich nicht einverstanden!)


Im Vergleich zu Ihrer Zeit werden wir ein doppelt so ho-
hes Wachstum der Solarflächen in Deutschland halten.
Vielleicht sind Sie aus parteipolitischen Gründen nei-
disch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollten Ihren parteipolitischen Neid angesichts des
Erfolges in der Sache zurückstellen, meine Damen und
Herren.

Im letzten Jahr, 2009, sind die Systempreise für Foto-
voltaikanlagen um 30 Prozent gesunken, und sie werden
in diesem Jahr weiter sinken. Darum sage ich ganz ru-
hig: Auf einen Preisverfall von 40 bis 45 Prozent muss
der Staat reagieren. Wir dürfen da nicht tatenlos zu-
schauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bei so viel Aufregung, wie sie gerade herrscht, sind
vielleicht die Zahlen am überzeugendsten: Im Jahr 2009
betrug der Anteil der Solarenergie an der Stromerzeu-
gung 1 Prozent. Der Anteil der Erneuerbaren an der
Stromerzeugung betrug 16 Prozent; 1 Prozent also ent-
fiel auf die Fotovoltaik. Die Differenzkosten bzw. die
Förderkosten der Erneuerbaren, die die Stromkunden zu
bezahlen haben, betrugen 8,2 Milliarden Euro. 4 Milliar-
den Euro davon entfielen ausschließlich auf die Fotovol-
taikförderung.

Die Relation zwischen Förderung und Stromproduk-
tion muss unter Kontrolle gehalten werden. Auch die
Kosten, die wir den Stromkunden aufbürden, müssen un-
ter Kontrolle gehalten werden. Es ist unfair, dass alle
Stromkunden dafür bezahlen, dass einige wenige mit In-
vestmentfonds Renditen in zweistelliger Höhe über
20 Jahre erzielen. Das ist auch aus sozialen Gründen
nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das ist keine soziale Politik! – Widerspruch des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Darum ist es aus sozialen Gründen, aus technologie-
politischen Gründen und aus energiepolitischen Gründen
schlicht geboten, auf diese Überförderung zu reagieren,
sie zurückzunehmen und dadurch eine Marktstabilisie-
rung zu erreichen. Das ist im Übrigen nichts Schlechtes,
weil dadurch zugleich zum Ausdruck kommt, dass die
Technologie erfolgreich ist. Es geht uns aber nicht nur
um Reduzierung und Marktanpassung, sondern wir wol-
len auch den Markt in eine bestimmte Richtung steuern.
Darum erhöhen wir im Verhältnis zur gegenwärtigen
Rechtslage insbesondere die Förderung für den Eigen-
verbrauch – also wenn keine Einspeisung ins Netz er-
folgt, sondern der Anlagenbetreiber seinen selbstprodu-
zierten Strom nutzt – stärker als bislang. Das halte ich
für einen besonders wichtigen Punkt, weil das dazu füh-
ren wird, dass wir schon bald ein selbsttragendes Wachs-
tum erzielen und wahrscheinlich schon 2013 Fotovolta-
ikstrom zu denselben Kosten produziert werden kann
wie konventioneller Strom.

Ich halte die Eigenverbrauchsregelung auch deshalb
für wichtig, weil wir damit Technik fördern, die Netze
entlasten, einen Beitrag zur dezentralen Energieversor-
gung leisten und den Bürgern ein Angebot machen, mit-
zumachen. Jeder Einzelne kann mitmachen. Er kann
Strom produzieren und verbrauchen. Ich glaube, das ist
auch ein politisches Angebot, bei der Energieversorgung
mitzumachen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erfolgreich der Wirklichkeit entronnen, der Herr Minister!)


Denn wir brauchen die Bürger für unseren Umstieg in
der Energiepolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen wird die Freiflächenförderung anders als
nach der alten Regelung über 2014 hinaus fortgesetzt.
Damit sollte ursprünglich Schluss sein. Auch das ist also
eine Erweiterung der bisherigen Regelungen. Wir wer-
den aber dafür sorgen, dass die Freiflächenförderung im
Einklang mit den Regeln des Landschafts- und Natur-
schutzes umgesetzt wird, und darauf achten, dass kein
Anreiz für zusätzlichen Landschaftsverbrauch geschaf-
fen wird. Es ist also auch eine landschafts- und natur-
schutzpolitisch richtige Regelung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Eingriff in die Hoheit der Kommunen, was Sie da machen!)


Ich unterstreiche, was der Kollege Grund eben gesagt
hat. Auf den Preiswettbewerb zwischen chinesischen
und deutschen Produzenten hat die deutsche Einspeise-
vergütung praktisch keine Auswirkung.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: So ist es!)






Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ein eigenes Wettbewerbsverhältnis, auf das un-
sere Förderung keine Auswirkung hat. Aber eine Aus-
wirkung hat unsere Förderung, nämlich hinsichtlich der
Frage, womit wir auf den Weltmärkten bestehen zu kön-
nen glauben. Diese Koalition gibt darauf eine eindeutige
Antwort: Wir sind davon überzeugt, dass unsere interna-
tionale Wettbewerbsfähigkeit von Innovationen abhängt.
Unsere Losung heißt „Innovation statt Subvention“. Das
ist das Erfolgsrezept unserer Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer glaubt, durch Dauersubventionen Wettbewerbsfä-
higkeit herstellen zu können, der muss schon ein ausge-
wiesener Wirtschaftsexperte wie unser Freund von der
PDS sein, der anderen androht, man würde mit dieser
Auffassung im eigenen Betrieb nicht lange überleben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Er hat wenigstens mal in der freien Wirtschaft gearbeitet, Herr Röttgen!)


Dass wir diesen Punkt ernst nehmen, drückt sich darin
aus, dass wir die „Innovationsallianz Photovoltaik“ ins
Leben gerufen haben und die Mittel für die Förderung
der Forschung um bis zu 100 Millionen Euro aufstocken
werden. Das heißt, Innovation, Forschung und Techno-
logie sind der Weg, mit dem wir Erfolge erzielen wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist die Rückkehr der Forschung in den Elfenbeinturm, Herr Minister!)


Wir werden die Förderung an den Markt anpassen,
auf den Erfolg in Form einer geringeren Subventionie-
rung reagieren und Anreize schaffen, dass man sich
nicht auf zweistelligen Renditen ausruht. Es soll nämlich
so bleiben, dass man sich anstrengen muss, wenn man
erfolgreich sein will. Bei dieser Maßnahme geht es über-
haupt nicht darum, die Solarenergie in Deutschland zu
beschränken bzw. ihr etwas zu nehmen, sondern es geht
bei dieser Maßnahme darum, dazu beizutragen, dass die
Solarenergie verlässlich und stetig Erfolg auf den Märk-
ten hat. Das ist unsere Philosophie, wie wir den erneuer-
baren Energien zum Durchbruch verhelfen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind überzeugt davon, ich bin überzeugt davon,
dass die Zukunft den erneuerbaren Energien gehört,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Wunder von Lourdes! Dem Lahmen die Krücken wegnehmen und sagen, er soll laufen!)


aus Klimaschutzgründen und insbesondere aus Gründen
der Ressourcenknappheit. Die natürlichen Ressourcen
sind knapp, sie sind endlich, sie werden immer stärker
nachgefragt werden, und darum wird der Verbrauch im-
mer teurer werden. Wenn wir nicht von einer ressourcen-
verbrauchenden zu einer ressourceneffizienten Wirt-
schaft umschalten, dann haben wir die längste Zeit
Wachstum gehabt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann verlängern Sie doch die Atomkraft nicht!)


Die Wachstumsstrategie, die wir verfolgen, ist allerdings
keine Subventionsstrategie, sondern eine Marktstrategie.
Das unterscheidet wahrscheinlich Regierung und Oppo-
sition in diesem Haus ganz grundsätzlich, meine Damen
und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704014000

Für die SPD spricht die Kollegin Waltraud Wolff.


(Beifall bei der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1704014100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Zwischenfra-
gen von CDU/CSU und FDP zeigen eines ganz deutlich:
Sie wollen – die Katze haben Sie heute aus dem Sack ge-
lassen –,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


dass nicht nur ein Teil der Fotovoltaikanlagen in China
oder anderswo gebaut wird, sondern dass alle Solar-
module dort gebaut werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Kauch [FDP]: Was für ein Schwachsinn!)


Ich habe heute Morgen per E-Mail den Hilferuf eines
Bauern aus Schwandorf bekommen – das ist in der Ober-
pfalz –,


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Den haben alle bekommen!)


der eine Freiflächenfotovoltaikanlage auf seiner eigenen
Ackerfläche errichten will. Seit März 2009 plant er das
und hatte schon erhebliche Kosten. Die Chronologie
liegt vor. Über den Bauantrag sollte jetzt im Mai ent-
schieden werden. Sie beschließen heute aber nicht nur
die EEG-Novelle, Sie beschließen auch, dass dieser
Bauer seine Anlage nicht bauen kann. Herzlichen
Glückwunsch! Ich würde gerne wissen, wer von Ihnen
diese E-Mail beantworten will. Die Adresse kann er
gerne von mir haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für diesen Landwirt bedeutet die Novelle verlorenes
Geld, und für den Ausbau der Solarenergie bedeutet
diese Novelle einen großen Rückschritt. Wir haben vor-
hin schon von der Anhörung am 21. April gehört. Sogar
Ihre eigenen Experten haben Ihnen gesagt, dass Sie auf
dem Holzweg sind. Sie wollen Anlagen auf Ackerflä-
chen grundsätzlich aus der Förderung nehmen. Das ist
absoluter Unsinn, auch aus Sicht der Experten. Wenn Sie
schon nicht auf die Sachverständigen, die Sie selber ein-
geladen haben, hören, dann hören Sie doch wenigstens





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

auf die Meinungen der von Ihnen regierten Länder. Es
war Bayern, das im Bundesrat ganz eindeutige Worte ge-
funden hat: Der Ausschluss landwirtschaftlicher Flächen
ist weder energiepolitisch sinnvoll noch agrarpolitisch
notwendig. – Dem ist nichts hinzuzufügen.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb haben wir als SPD einen Änderungsantrag
mit dem Ziel vorgelegt, dass man diese Anlagen an ei-
nen Planungsvorbehalt der Kommune knüpfen sollte.
Das ist der richtige Weg. Freiflächenanlagen sind das
günstigste Segment der Fotovoltaik. Oder, wie es der
von der FDP eingeladene Sachverständige gesagt hat:
Sie sind der Billigmacher der Fotovoltaik. – Herr Kauch,
hätten Sie doch lieber den Herrn vom Bauernblatt als
Sachverständigen eingeladen statt den von Ihnen be-
nannten Experten, dann hätten Sie vielleicht die entspre-
chende Antwort bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ihrer EEG-Novelle fehlt jedes Augenmaß. Sie beneh-
men sich wie der Elefant im Porzellanladen. Aber das
passt leider zu Ihrer Politik gegen die erneuerbaren Ener-
gien: Die Mittel für das Marktanreizprogramm sind ge-
sperrt; das Impulsprogramm für die Mini-Kraft-Wärme-
Kopplungsanlagen ist eingestellt; Sie wollen das Erneu-
erbare-Energien-Wärmegesetz aufweichen; um die Mit-
tel für die Gebäudesanierung gibt es ein Hickhack; und
jetzt beschneiden Sie die Förderung für die Fotovoltaik.

Es gibt nichts, aber auch gar nichts auf der Habenseite
Ihrer Bilanz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der CSU-Kollege Ruck, der hier vorhin ja auch gere-
det hat, hat im April dieses Jahres in einem Brief ge-
schrieben – ich zitiere –:

Deutschland ist im Bereich der Fotovoltaik welt-
weit technologisch führend. Insbesondere im Hin-
blick auf den Export und den zukünftig zu erwar-
tenden weltweiten Ausbau der Fotovoltaik ist es
wichtig, dass wir diesen Technologievorsprung be-
wahren und wenn möglich ausbauen.

Ja, wie denn mit solchen Beschlüssen, meine Damen und
Herren?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da hat Ruck recht!)


Die zusätzliche Sonderkürzung von 16 Prozent ist zu hoch.
70 000 Arbeitsplätze gerade in Ostdeutschland – wir ha-
ben davon gehört – sind in Gefahr. Sie verspielen den
Erfolg des EEG gerade auch als ökologische Industrie-
politik.

Nun haben Sie, meine Damen und Herren, Forschungs-
gelder in Höhe von 100 Millionen Euro als Unterstützung
für die Solarbranche versprochen. Forschungsmittel aus-
zubauen, ist im Prinzip eine gute Sache. Aber ich frage
mich natürlich: Sind diese 100 Millionen Euro genauso
sicher wie die Mittel für das Marktanreizprogramm? In-
dem Sie Mittel für die Forschung einsetzen, setzen Sie
doch eigentlich auf das falsche Pferd. Die deutschen So-
larhersteller produzieren nämlich im Moment mit Ma-
schinen, deren Nutzungszeit abläuft. Das heißt, es sind
neue Investitionen notwendig. Das bedeutet, dass hohe
Kosten auf die Hersteller zukommen. Hier hilft uns die
Forschung für die übernächste Generation überhaupt
nicht. Besser wäre es, Investitionen in die nächste Gene-
ration zu tätigen. Es wäre ein wirklicher Ansatzpunkt ge-
wesen, wenn Sie die nicht abgerufenen Mittel aus dem
Konjunkturprogramm umgeswitcht hätten und hier für
Unterstützung gesorgt hätten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Gebot der Stunde heißt doch, dass wir diese Ent-
wicklung maßvoll begleiten müssen. Deshalb haben wir
einmal vorgeschlagen, 2011, im nächsten Erfahrungsbe-
richt zum EEG, das Modell einer nach regionaler Strah-
lungsintensität gestaffelten Vergütung zu prüfen. – Lei-
der ohne Erfolg. Wir haben Sie auch aufgefordert,
unverzüglich einen Vorschlag für eine bessere Integra-
tion des Stroms aus erneuerbaren Energien vorzulegen. –
Ohne Erfolg. Außerdem haben wir vorgeschlagen, dass
die Vergütung maßvoll an den Markt angepasst wird. –
Auch ohne Erfolg.

Sie selbst, meine Damen und Herren von den Koali-
tionsfraktionen, berauben unsere Unternehmen der Chance,
grüne Zukunftsmärkte zu erobern. Sie setzen Arbeits-
plätze aufs Spiel. Sie kapitulieren vor dem Kampf gegen
den Klimawandel. Sie verhindern mehr Wettbewerb.
Ihre Politik schadet der Branche, schadet den Stromkun-
den und schadet auch dem Klima.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie zeigen hier wirklich absolute Beratungsresistenz;
die ist so groß, dass ich Sie gar nicht mehr bitten kann,
unseren Änderungsvorschlägen zuzustimmen. Ich bitte
Sie nur um eines: Verschonen Sie uns in Zukunft mit Ih-
ren Sonntagsreden über die Herausforderungen des Kli-
mawandels!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie doch bitte das falsche Lob für die erneuerba-
ren Energien, und sagen Sie den Menschen ehrlich, dass
Ihr Energiekonzept Atomkraft heißt!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind leider nicht die Elefanten, Sie sind die Dinosau-
rier in diesem Porzellanladen.

Um noch einmal auf Ihre Rede zu kommen, Herr Mi-
nister Röttgen: Sie haben gesagt, diese Novelle ist kein
Grund zur Traurigkeit. Ich glaube, viele Menschen in
diesem Land sehen das völlig anders.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704014200

Der Kollege Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für

die FDP.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1704014300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist wirklich absurd, Frau Wolff, welche Unterstellun-
gen Sie hier gemacht haben.


(Iris Gleicke [SPD]: Das sind keine Unterstellungen, das ist die Wahrheit! Die Frau hat recht!)


Ihr Umweltminister Gabriel hat als Zielvorgabe für den
Ausbau der Fotovoltaik im Jahr 1 900 Megawatt ausge-
geben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch! Weithin die Unwahrheit!)


Wir hatten im letzten Jahr und werden in diesem Jahr
und auch im nächsten Jahr 3 000 bis 4 000 Megawatt ha-
ben. Wir bauen aus. Wir sorgen für mehr erneuerbare
Energien, wir sorgen für mehr Fotovoltaik, als Sie sich
jemals zugetraut hätten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Auch wenn man es ständig wiederholt, wird es nicht richtig!)


Es ist nicht nachvollziehbar, wie man uns unterstellen
kann, wir würden Arbeitsplätze gefährden, obwohl wir
in diesem Bereich immer mehr Geld ausgeben. Das Ge-
genteil ist der Fall: Diese Branche wird Arbeitsplätze
schaffen.


(Iris Gleicke [SPD]: In China! – René Röspel [SPD]: Trotz Ihrer Politik!)


Sie wird Leute einstellen und mehr Menschen in ihrem
Bereich beschäftigen. Denn die deutschen Verbraucher
werden Milliardensummen in erneuerbare Energien und
in den Fotovoltaikbereich investieren. Das darf aber
– bitte schön – nicht zulasten des kleinen Mannes und
des normalen Stromkunden gehen. Dafür sollten Sie
doch eigentlich Verständnis haben. Ich verstehe die Welt
nicht mehr: Sie setzen sich nur noch für die Großen ein,
aber nicht für die Leute, die besonders betroffen sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie müssten sich einmal damit beschäftigen, was mo-
mentan im Gespräch ist. Es geht um Eigenverbrauch,
Speichertechnologien und E-Mobility. Während Sie hier
erklären, wir seien gegen irgendwelche Maßnahmen ge-
gen den Klimawandel, hat ein Kollege von Ihnen vor
eineinhalb Stunden gefordert, dass die alten Kohlekraft-
werke länger laufen sollen. Ist diese Politik, die von der
SPD vertreten wird, eine glaubwürdige Klimaschutz-
politik, oder ist es Klientelpolitik? Ich glaube, es ist das
Letztere.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Nur weil Sie es aufgeschrieben haben, ist es noch nicht die Wahrheit! Es ist bewusst die Unwahrheit!)


Sie haben kein Energiekonzept vorgelegt. Die Tatsa-
che, dass die SPD schon im letzten Jahr nicht in der Lage
war, eine Anpassung vorzunehmen, hat dazu geführt,
dass man zum Teil Renditen in Höhe von 15 und
20 Prozent hatte. Das hat sich nicht innovationsfördernd,
sondern innovationshemmend ausgewirkt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es hat dazu geführt, dass die chinesischen Modulherstel-
ler wettbewerbsfähiger geworden sind. Sie haben näm-
lich nicht den Mut gehabt, zu sagen: Wir müssen zu den
Kosten produzieren, die realistischerweise anfallen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Feigheit hat zu dem Problem geführt, vor dem wir
heute stehen. Wir werden jetzt – leider – kürzen müssen.
Aber dies wird dazu führen, dass unsere Verbraucher
geschont werden und gleichzeitig die erneuerbaren Ener-
gien und vor allem die Fotovoltaik weiter ausgebaut
werden.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch des Abg. Marco Bülow [SPD])


Ich will nicht bestreiten, dass sich die FDP-Fraktion,
was die Ackerflächen betrifft, anders entschieden hätte,
wenn sie allein regieren würde. Ich will auch nicht be-
streiten, dass wir uns für längere Übergangsfristen aus-
gesprochen hätten. Aber was die Berücksichtigung des
Eigenverbrauchs betrifft, haben wir uns durchgesetzt.
Dies war ein großer Erfolg. Wir haben heute in Spiegel
online lesen können, dass die großen Hersteller wie So-
larworld, Conergy und Evonik sagen: Das ist der große
Zukunftsmarkt. Wir können erreichen, dass der Eigen-
verbrauchsanteil auf bis zu 80 Prozent ansteigt, und wir
können, wenn die Menschen Elektroautos fahren, sogar
einen Eigenverbrauch von 100 Prozent erreichen. Auf
die Idee wären Sie früher gar nicht gekommen; das wird
erst durch diese EEG-Novelle möglich, indem der
Anreizeffekt für selbstverbrauchten Strom jenseits der
30-Prozent-Schwelle auf 8 Cent erhöht wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieser große Erfolg freut uns sehr. Er wird dazu führen,
dass es endlich wieder zu Innovationen kommt.

Innovationen kommen auch durch die 100 Millionen
Euro zustande, die vom Forschungsministerium bereit-
gestellt werden. Dass Sie von der Linken dieses Geld als
ein paar Silberlinge bezeichnen, zeigt, dass Sie jeden
Realitätssinn und jeden Kontakt zu dem, was die wirkli-
che Welt ausmacht, verloren haben. Wir werden damit
die deutschen Firmen fördern können. Dadurch entsteht
Innovation. Wenn wir die EEG-Vergütung an die chine-
sischen Hersteller verschwenden, werden die deutschen
Hersteller nicht besser. Wir müssen dafür sorgen, dass





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)

wir in Deutschland stärker werden. Dazu tragen wir mit
dieser EEG-Novelle eine Menge bei.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Die FDP freut sich auch über Unwahrheiten!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704014400

Dem Kollegen Hermann Scheer gebe ich das Wort zu

einer Kurzintervention.


Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1704014500

Frau Präsidentin! Ich möchte gerne einige Worte zu

dem Redebeitrag des Bundesministers Röttgen sagen.
Herr Röttgen hat das Prinzip des Marktes stark hervorge-
hoben. Er hat gesagt, dass sich die erneuerbaren Ener-
gien auf dem Markt durchsetzen müssen. Als allgemeine
Aussage ist dieser Satz richtig. Aber vor dem konkreten
Hintergrund der Marktverhältnisse ist es nicht ratsam, zu
solchen Maßnahmen zu greifen.

Markt setzt prinzipiell Marktgleichheit der Marktteil-
nehmer, in diesem Fall der Anbieter, voraus. Von einer
Marktgleichheit der Anbieter kann im doppelten Sinne
leider keine Rede sein.

Es kann zunächst einmal keine Rede davon sein mit
Blick auf das Verhältnis der chinesischen Produktion zu
der deutschen Produktion. Die Kürzung der degressiv
angelegten Subventionen wird mit dem Marktangebot
aus China begründet, wozu in der Debatte schon einiges
gesagt worden ist. Dort wurde die Produktion künstlich
billig gehalten. Man betreibt dort praktisch Produktions-
protektionismus. Aber Protektionismus ist das Gegenteil
von Markt. Wenn also diese Maßnahmen jetzt wegen der
chinesischen Billigprodukte ergriffen werden, dann kann
die Schlussfolgerung doch nur sein, dass die Aussage
von vielen Rednern aus den Koalitionsfraktionen, näm-
lich dass die neu ausgerichtete Förderung nun ausgerech-
net der deutschen Fotovoltaikindustrie helfen würde, pro-
duktiver zu werden, nicht richtig ist. Das ist ein
Widerspruch in sich. Da müssten vielmehr andere, diffe-
renzierte Maßnahmen ergriffen werden, um die deutsche
Produktivitätsentwicklung, die ja nicht die schlechteste
war – sie war bisher sogar immer federführend –, weiter
voranzutreiben. Man kann sie nur vorantreiben, wenn sie
weiterhin existiert, aber nicht, wenn nur eine, zwei oder
drei große Firmen übrig bleiben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein zweiter Punkt, wiederum bezogen auf das Prinzip
der Marktgleichheit. Durch die bisherigen Marktverhält-
nisse, durch das Hochpäppeln mit vielen Subventionen
über Jahrzehnte hinweg – für Kohle, für Atomenergie,
mit vielen Privilegierungen gesetzlicher Art, Energie-
wirtschaftsgesetz usw. –, ist eine hochkonzentrierte her-
kömmliche Energiewirtschaft entstanden. Wer jetzt
glaubt, mit dem vorliegenden Erneuerbare-Energien-Ge-
setz erreichen zu können, dass sich neue Technologien,
erneuerbare Energien einschließlich der Fotovoltaik ge-
gen diese hochkonzentrierten, monopolisierten Struktu-
ren auf dem Markt durchsetzen, übersieht, dass objektiv
keine Marktgleichheit zwischen etablierten Anbietern
und neu auf den Markt gekommenen gegeben ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daraus ergibt sich – –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704014600

Herr Scheer, vielen Dank. Eine Kurzintervention darf

nicht länger als drei Minuten dauern, und die sind um.
Deswegen möchte ich jetzt gern den Bundesminister fra-
gen, ob er antworten möchte. – Das möchte er nicht.


(Iris Gleicke [SPD]: Das traut er sich nicht! – Ulrich Kelber [SPD]: Dafür hat er keinen Sprechzettel!)


Dann gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1704014700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nachdem wir jetzt über eine Stunde wortreich das völ-
lige Aus der Fotovoltaik in Deutschland beklagt haben,
schlage ich vor, dass wir in die Realität zurückkehren
und auf dieser Grundlage vernünftige Politik machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Peinlich!)


Die Fotovoltaikleistung wurde 2009 um 3,8 Giga-
watt erhöht, davon alleine im Dezember um 1 500 Me-
gawatt. Das war fast so viel, wie wir uns mit der Novelle
2009 als Zielhorizont für ein ganzes Jahr vorgestellt hat-
ten. Der Anstieg der Investitionssumme hat mit 17,7 Mi-
lliarden Euro einen neuen Rekordwert erreicht.

Ganz wichtig ist: Fotovoltaik ist ohne Zweifel ein Sta-
bilitätsanker in der Krise. Ebenso wichtig ist aber: Das
EEG – der Minister hat eben darauf hingewiesen – ist kein
Instrument zur Förderung von Branchen oder zur Subven-
tionierung von Arbeitsplätzen, sondern dient letztendlich
als Anreiz für Investitionen in Anlagen zur Erzeugung
von Strom aus erneuerbaren Energien, die möglichst effi-
zient sein soll,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


das heißt möglichst viel Leistung für möglichst wenig
Geld. Um das weiterhin zu erreichen – der Minister hat
eben auf das Verhältnis von Vergütung und Strompro-
duktion in Bezug auf Fotovoltaik hingewiesen –, müssen
wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Akzep-
tanz in der Bevölkerung für erneuerbare Energien und
insbesondere für Fotovoltaik erhalten können.

Es ist doch auch ein Trugschluss, wenn wir glauben,
wir könnten tatsächlich gegen chinesische Subventions-
verhältnisse ansubventionieren. Das macht unsere Wirt-
schaft nicht mit. Das macht unsere Betriebe auch nicht
stark. Ich sage Ihnen: Die Fonds, die auf eine maximale
Rendite aus sind, werden wir auch dadurch nicht erwi-





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

schen; denn deutsche Produkte werden möglicherweise
immer ein bisschen teurer sein als die asiatischen.

Wichtig ist aber: Deutsche Produkte sind besser. Der
Unterschied liegt doch in der Qualität, im Service, in der
Nähe zum Kunden, in der innovativen Technik. Deshalb
werden wir mit dieser Novelle nicht einfach nur kürzen,
Degression steigern oder was auch immer. Vielmehr
wollen wir umsteuern. Wir wollen hin zu intelligenter
Technik. Wir wollen intelligente Netze fördern, auch in-
nerhalb des Hauses zum Beispiel durch Installierung in-
telligenter Hausgeräte. Deshalb fördern wir den Eigen-
verbrauch stärker. Es ist eine massive Erhöhung der
zulässigen Anlagengröße von 30 Kilowatt, wie es im
derzeit geltenden Gesetz vorgesehen ist, auf 500 Kilo-
watt vorgesehen. Damit werden auch die kleinen Gewer-
betreibenden erfasst. Das eröffnet ganz neue Chancen,
ganz neue Märkte für innovative Technologien, insbe-
sondere für Speichertechnologien.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ab wann denn, Frau Flachsbarth?)


Kollege Meierhofer hat es eben bereits gesagt: Die
Branchen reagieren bereits; es gibt diesbezüglich bereits
die ersten Angebote. Von daher müssen wir doch der
deutschen Branche zutrauen, dass sie diese neue Heraus-
forderung meistert. Wir brauchen dringend Innovatio-
nen, damit wir den Ausbau erneuerbarer Energien tat-
sächlich bewältigen können, damit im Jahr 2020
tatsächlich 30 Prozent erneuerbare Energien im Markt
und im Netz integrierbar sein werden; anderenfalls
schießen wir uns doch mit unseren ehrgeizigen Zielen
selbst ins Bein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das tun Sie gerade!)


Die Frage, wie wir mit Ackerflächen und mit Freiflä-
chen umgehen, war ebenfalls eine zentrale Frage in die-
ser Debatte, auf die ich jetzt nicht noch einmal im Detail
einzugehen brauche. Aber es stehen doch tatsächlich fol-
gende Fragen im Raum: Was machen wir mit dem star-
ken Flächenverbrauch in unserem Land, 100 Hektar pro
Tag?


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann bauen wir eben keine Autobahnen mehr!)


Wie können wir der Herausforderung begegnen, dass im
Moment von der Gesamtenergieproduktion durch Erneu-
erbare, die 10 Prozent vom Gesamtenergieverbrauch
beiträgt, 70 Prozent auf flächengebundene Biomasse
entfällt,


(Widerspruch des Abg. Marco Bülow [SPD])


also letztendlich 70 Prozent irgendwo aus dem Wald
oder eben gerade von Äckern erzielt werden? Davon
müssen wir weg. Wir können doch nicht die Augen da-
vor verschließen, dass es in einigen Regionen, gerade in
den viehstarken Regionen meines Heimatlandes Nieder-
sachsen, Pachtpreise von über 1 000 Euro pro Hektar
gibt. Das sind irreale Beträge, die da letztendlich gefor-
dert werden, und es ist an uns, Förderbedingungen, die
zu solchen irrealen Marktsituationen führen, wieder auf
ein Normalmaß zurückzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb ist es richtig und vernünftig, dass wir die
Bedingungen für die Installation von Fotovoltaik auf
Konversionsflächen, die eben tatsächlich zu gar nichts
anderem mehr zu gebrauchen sind, als dort eben Foto-
voltaikanlagen aufzubauen und sie zur Energiegewin-
nung zu nutzen, noch einmal deutlich verbessert haben;
der Minister hat es gesagt. Auch den für das Jahr 2014
vorgesehenen Stopp dieser Förderung haben wir aus
dem Gesetz herausgenommen, weil es vernünftig ist,
dies zu tun. Wir haben neue Optionen geschaffen; so
werden Neuanlagen in bereits ausgewiesenen Gewerbe-
gebieten und ebenso entlang von Verkehrswegen geför-
dert. Meines Erachtens ist dies tatsächlich ein ganz ver-
nünftiger Steuermechanismus.


(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ CSU])


Zudem haben wir in diesem Bereich auch auf Vertrau-
ensschutz geachtet. Wir haben für diejenigen Projekte,
für die es bis zur ersten Lesung, also bis zum 25. März
dieses Jahres, einen festgestellten Bebauungsplan gab,
eine Realisierungsfrist bis zum 31. Dezember dieses Jah-
res eröffnet. Ich halte dies für ein faires Angebot, auch
wenn man überlegt, wie lange wir inzwischen über die-
ses Gesetz debattieren.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sagen Sie den Bauern, Sie zahlen ihnen die Planungskosten zurück!)


Wir haben natürlich schon vor der Sommerpause, vor
der Bundestagswahl darüber gesprochen, dass wir im
Bereich Fotovoltaik nachjustieren werden.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


– Jedenfalls habe ich in meinem Wahlkampf darüber be-
reits gesprochen, lieber Herr Fell. – Es war offensicht-
lich, dass wir das in den Koalitionsverhandlungen be-
sprochen haben, und letztendlich ist es auch noch einmal
deutlich geworden, als der Bundesminister Anfang die-
ses Jahres die ersten Eckpunkte des Gesetzes vorgestellt
hat. Insofern glaube ich, dass wir den Investoren tatsäch-
lich genug Zeit gegeben haben, sich auf diese neuen Be-
dingungen einzustellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist im
Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch führend.
Wir wollen und werden den Technologievorsprung be-
halten und ausbauen, insbesondere im Hinblick auf un-
sere Exportchancen beim weltweit zu erwartenden Aus-
bau. Die Markteinführungsmöglichkeiten werden durch
die jetzige Novelle verbessert werden, auch durch bes-
sere Integration in den Energiemix und in die Netze.
Deutschland bleibt mit dieser Novelle einer der attrak-
tivsten Fotovoltaikstandorte weltweit. Ich bitte um Ihre
Zustimmung für unser Gesetz.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/1604, den Antrag der
empfehlung auf Drucksache 17/1604, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/1147 in der Ausschussfassung anzuneh-
men.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen und bei Ablehnung durch die Opposi-
tionsfraktionen.

Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf in

dritter Beratung

namentlich ab.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be-
setzt? – Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich
die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das noch
nicht in der Lage war, seine Stimme abzugeben? – Das
scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich hier-
mit die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-
geben.2)

Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1611. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung

1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 3888 D

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon

ja: 314
nein: 266
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP
und SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt.
Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Sitzung
unterbreche, teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen
verständigt haben, den Tagesordnungspunkt 7 – dabei
handelt es sich um die Große Anfrage der Fraktion der
SPD zu den Auswirkungen der Verlängerung der Rest-
laufzeiten von Atomkraftwerken – von der Tagesordnung
abzusetzen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstan-
den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Die Sitzung wird jetzt bis circa 19 Uhr unterbrochen.
Falls die Sitzung früher beginnt, wird Ihnen das mitge-
teilt. In jedem Fall wird der Wiederbeginn der Sitzung
rechtzeitig durch ein Klingelsignal bekannt gegeben.

Ich unterbreche die Sitzung.


(Unterbrechung: 17.05 Uhr bis 18.08 Uhr)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704014800

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
komme ich zu Tagesordnungspunkt 6 zurück und gebe
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung be-
kannt. Es ging um den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP zur Änderung des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes, Drucksachen 17/1147 und 17/1604. Abge-
geben wurden 580 Stimmen. Mit Ja haben 313 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt. Mit Nein haben 266 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt. Es gab eine Enthaltung. Der Ge-
setzentwurf ist damit angenommen.

Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer

Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1144 abzulehnen.
Vizepräsidentin Katrin G
Ich schließe die Aussprach

Damit kommen wir zur A
den Fraktionen der CDU/CSU
ten Gesetzentwurf zur Änder
gien-Gesetzes. Es liegen dre
mung vor, erstens von Ingb
Veronika Bellmann und
Nüßlein.1)
öring-Eckardt:
e.

bstimmung über den von
und der FDP eingebrach-

ung des Erneuerbare-Ener-
i Erklärungen zur Abstim-
ert Liebing, zweitens von
drittens von Dr. Georg
durch die Fraktion Bündnis
Großteil der Fraktion Die L
stimmt die CDU/CSU-, die F
Enthalten haben sich einige
Die Linke.

Wir kommen zur Besch
schusses für Umwelt, Natursc
zu dem Antrag der Fraktion
„Solarstromförderung wirksa
schuss empfiehlt unter Buch
90/Die Grünen und einen
inke. Dagegen haben ge-

DP- und die SPD-Fraktion.
Abgeordnete der Fraktion

lussempfehlung des Aus-
hutz und Reaktorsicherheit
Die Linke mit dem Titel
m ausgestalten“. Der Aus-
stabe b seiner Beschluss-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr

zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Müller (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker

Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)






Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Paul K. Friedhoff

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

sichter der Angehörigen zu b
einen Vater, einen Freund ode
trauerten. Das Schwierigste
Versuch, diesen trauernden und
in irgendeiner Weise Trost z
dass es in solch einer Situat
geben kann.

Die Schicksale der gefallen
listischer und für die Betroffen
Weise wider, was es für unser
heutzutage bedeutet, Dienst
leisten. Diese Schicksale we
licken, die um einen Sohn,
r auch um einen Kameraden
war ganz ohne Zweifel der
verzweifelten Angehörigen
u spenden, wohl wissend,

ion eigentlich keinen Trost

en Soldaten spiegeln in rea-
en zum Teil auch in brutaler
e Soldatinnen und Soldaten
in einer Einsatzarmee zu
isen aber auch darauf hin,
men zu können.

Bei meinem zweiten Be
konnte ich dann erfreut festst
große Fortschritte in seiner
Diesmal konnte ich mich mit
gemachten Erfahrungen unte
sich über seine Zukunft Sor
seinem alten Beruf als Mal
könne, wie er mir berichtete. D
dass der Umgang mit Lösun
Dämpfen aufgrund seiner Br
sei.
such zwei Wochen später
ellen, dass der Stabsgefreite
Genesung gemacht hatte.
ihm auch über seine bisher
rhalten. Der Soldat machte
gen, weil er nicht mehr in
er und Lackierer arbeiten
ie Ärzte hatten ihm erklärt,

gsmitteln und chemischen
andwunden ausgeschlossen
vor den Särgen der gefallenen Soldaten stand. Das
Schwierigste meiner Amtszeit war für mich, in die Ge-

seinen seelischen Verletzungen. Er hatte das Glück, sofort
die Hilfe eines versierten Psychiaters in Anspruch neh-
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Thomas Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast

Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe-
auftragten

Jahresbericht 2009 (51. Bericht)


– Drucksache 17/900 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss

Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu
eine Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort dem Wehrbeauftragten des Deut-
schen Bundestages, Reinhold Robbe.


(Beifall im ganzen Hause)


Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Als alter Parlamentarier darf ich
auch sagen: Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor gut
zwei Wochen mussten wir wieder einmal von Soldaten
Abschied nehmen, die im Auslandseinsatz gefallen waren.
Diesmal ging es um vier Angehörige unserer Streitkräfte.
Eine Woche zuvor, am Karfreitag, waren drei gefallene
Soldaten und etliche Schwerverwundete zu beklagen.

Wenn mich gerade in diesen Tagen jemand fragt, was
in den zurückliegenden fünf Jahren meiner Amtszeit das
Schwierigste war, dann gibt es für mich überhaupt kei-
nen Zweifel. Das Schwierigste, das auch bei mir Wun-
den hinterlassen hat, waren die Momente, in denen ich
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe

Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

CDU/CSU

Veronika Bellmann

auf was sich das Hauptaugenmerk richten sollte, wenn es
um die Gesamtbewertung unserer Streitkräfte geht. Nicht
zuletzt lässt sich anhand einzelner Schicksale belegen,
dass Defizite und kritikwürdige Themen nicht nur mit
fehlendem Geld, sondern auch mit grundsätzlichen
Strukturproblemen zu tun haben.

Im Laufe der zurückliegenden fünf Jahre meiner
Amtszeit habe ich – wie Sie sich vorstellen können –
zahlreiche Soldaten kennengelernt, deren Schicksale stell-
vertretend für viele Kameradinnen und Kameraden deut-
lich machen, was es heute bedeutet, in der Einsatzarmee
Bundeswehr Soldat zu sein. Beispielhaft nenne ich Ihnen
einmal den Fall eines 25-jährigen Stabsgefreiten, den ich
hier in Berlin im Bundeswehrkrankenhaus besucht habe.
Dieser Soldat wurde im vergangenen Jahr bei einem der
vielen Gefechte im Großraum Kunduz schwer verwundet.
Neben Splitterverletzungen war dieser junge Soldat vor
allem von großflächigen Brandverletzungen gezeichnet.
Die Erstversorgung und der Transport nach Deutschland
hatten gut geklappt. Die Weiterbehandlung konnte aber
nicht, wie üblich, im Zentralkrankenhaus in Koblenz er-
folgen, weil man dort die Abteilung für Schwerstbrand-
verletzungen wegen Ärztemangels schließen musste.
Daher erfolgte die Überführung in ein ziviles Unfall-
krankenhaus in Berlin.

Bei meinem ersten Besuch fiel mir auf, dass der
Stabsgefreite nicht auf seine eigenen, durch schwere
Brandwunden entstellten Beine schauen konnte. Wenn der
Soldat in irgendwelchen Fernsehsendungen Explosionen
zu sehen bekam, musste er sofort den Fernsehapparat
ausschalten. Wie er mir erklärte, leide er nicht nur unter
seinen äußeren Verletzungen, sondern insbesondere unter





Wehrbeauftragter Reinhold Robbe


(A) (C)



(D)(B)

Aufgrund seiner schweren Verwundungen berief sich
der Stabsgefreite auf das Einsatz-Weiterverwendungs-
gesetz. Nach diesem Gesetz erhalten die Geschädigten
bekanntlich einen Rechtsanspruch auf Weiterbeschäfti-
gung als Berufssoldat, Beamter oder auch auf Lebenszeit
in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beim Bund.
Dies ist aber nur dann der Fall, wenn sie eine dauerhafte
Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Pro-
zent nachweisen können. In dem genannten Beispiel
konnte sich der Stabsgefreite nicht auf das Einsatz-Wei-
terverwendungsgesetz berufen, weil er vermutlich knapp
unter dieser Mindestnorm von 50 Prozent bleiben wird,
wie ihm die Ärzte prognostizierten.

Ich schildere Ihnen den Einzelfall dieses Stabsgefrei-
ten so ausführlich, weil sich daran sehr gut ablesen lässt,
wie es konkret um die soziale Absicherung unserer Sol-
datinnen und Soldaten im Einsatz bestellt sein kann. Für
den Stabsgefreiten ergibt sich folgende Situation: Im
Vertrauen auf die Fürsorgepflicht der Bundeswehr hatte
er sich als Wehrpflichtiger für den Beruf des Soldaten
auf Zeit entschieden. Wegen seiner schweren Verwun-
dungen wird er nicht wieder in seinen alten Beruf zu-
rückkehren können. Eine Weiterverwendung bei der
Bundeswehr kommt aber auch nicht infrage, weil er
nicht über die 50-Prozent-Hürde der Wehrbeschädigung
kommt. Er ist möglicherweise für sein ganzes Leben von
seinen schweren Verwundungen gezeichnet und darüber
hinaus wegen des – zumindest aus seiner Sicht – unsen-
siblen Verhaltens des Dienstherrn enttäuscht.

Dieser Fall dokumentiert aus meiner Sicht nicht nur
die Notwendigkeit, bestimmte Leistungsgesetze nachzu-
bessern. Der Fall macht auch deutlich, dass die Soldaten
besonders im vergangenen Jahr und speziell in Kunduz
jeden Tag miterleben mussten, was es heute bedeutet, im
Einsatz zu sein. Wenn ich mir die Probleme vieler Solda-
ten näher betrachte, stelle ich fest, dass einige Verant-
wortliche in der Bundeswehrführung mit Blick auf die
Fürsorgepflicht gegenüber den Soldatinnen und Soldaten
noch nicht in der Einsatzrealität angekommen sind.
Wenn ich auf die Fürsorge zu sprechen komme, beziehe
ich diese nicht nur auf die soziale Absicherung bei
schwerer Verwundung oder Tod im Einsatz, sondern ge-
rade auch auf den Schutz und die Sicherheit unserer Sol-
datinnen und Soldaten.

Auf Fähigkeitslücken in der Ausbildung weise ich
nicht zum ersten Mal hin. Bereits seit Jahren kritisiere
ich diesen Punkt. Trotzdem ist es bis heute nicht gelun-
gen, die für die Ausbildung erforderliche Zahl von ge-
schützten Fahrzeugen anzuschaffen. Das optimale Be-
herrschen der nicht einfach zu lenkenden Fahrzeuge
kann jedoch für das Überleben im Einsatz entscheidend
sein. Aus diesem Grund fehlt mir jedes Verständnis für
dieses gravierende Defizit in der Ausstattung und in der
Ausbildung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Der immer wieder gehörte Einwand, es stehe für diese
Einsatznotwendigkeiten kein Geld zur Verfügung, ist für
mich nicht hinnehmbar. Wohl wissend, dass es zwar kei-
nen hundertprozentigen, aber sehr wohl einen optimalen
Schutz für die Soldaten geben kann, darf fehlendes Geld
in diesem Fall kein Argument sein.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits bei
der Vorstellung meines vorletzten Jahresberichtes hatte
ich gefragt, ob die bekannten Mängel und Defizite der
Bundeswehr mit den Ansprüchen einer modernen Ein-
satzarmee zu vereinbaren seien. Die Antwort liegt zu-
mindest für mich auf der Hand: ein deutliches Nein. Die
Realität in den deutschen Streitkräften ist von unüber-
sichtlicher Führungsverantwortung, zu viel überflüssiger
Bürokratie, Reibungsverlusten durch Trennung von
Truppe und Truppenverwaltung sowie veralteter Perso-
nal- und Materialplanung gekennzeichnet, um nur die
wichtigsten Stichworte zu nennen. Vor dem Hintergrund
der aufgezeigten Problemfelder sollten aus meiner Sicht
bei der bevorstehenden Überprüfung der Bundeswehr-
struktur die Voraussetzungen für die unverzichtbare Mo-
dernisierung der Streitkräfte geschaffen werden.

Das zurückliegende Jahr gehört für die deutschen
Streitkräfte zu den ereignisreichsten ihrer 55-jährigen
Geschichte: zunächst der Aufwuchs des bisher größten
Auslandseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan mit
einer Personalstärke von rund 4 500 Soldaten, eine sich
permanent verschärfende Sicherheitslage, die von stun-
denlangen schweren Gefechten mit den bereits geschil-
derten Opfern in den eigenen Reihen gekennzeichnet
war, aber ebenso von getöteten gegnerischen Kräften ge-
prägt war. Im Zuge dieser sich zuspitzenden Lage im
Raum Kunduz kam das bekannte Bombardement zweier
Tanklastzüge, in dessen Folge die Entlassung des Gene-
ralinspekteurs und eines Staatssekretärs, der Rücktritt ei-
nes Bundesministers und die Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses stattfanden. Nicht unerwähnt bleiben
darf die von der Koalition beschlossene Reduzierung der
Wehrpflichtdauer von neun auf sechs Monate.

Alles in allem sind das eine Reihe von zum Teil ein-
schneidenden Ereignissen, die natürlich auch nicht spur-
los an den Soldatinnen und Soldaten vorbeigezogen
sind.

Zusammenfassend, meine Damen und Herren, will
ich Folgendes feststellen:

Erstens. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten
trotz der von mir genannten und bekannten Strukturpro-
bleme seit vielen, vielen Jahren einen großartigen Job.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerade das ereignisreiche zurückliegende Jahr hat wie-
der einmal deutlich gemacht, wie belastbar die Soldaten
sind. Fehlendes Material, Lücken bei der strategischen
Fähigkeit, bürokratische Unsinnigkeiten, unzureichende
Planungsvorgaben, Mängel in der Ausbildung und in der
Einsatzvorbereitung sowie demotivierende Besoldungs-
und Beförderungsdefizite werden an der Basis vor allem
durch ein unglaubliches Improvisationstalent und durch
kameradschaftliche gegenseitige Unterstützung kompen-
siert. Deshalb sage ich jetzt, am Schluss meiner Amts-
zeit, auch in meiner speziellen Verantwortung allen Sol-
datinnen und Soldaten in den Heimatstandorten und in





Wehrbeauftragter Reinhold Robbe


(A) (C)



(D)(B)

den Auslandseinsätzen meinen tief empfundenen und
ehrlich gemeinten Dank für ihren aufopferungsvollen
und wirklich großartigen Dienst.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Unabhängig von den bereits beschriebenen
strukturellen Problemen in den Streitkräften ist ein Be-
reich von herausragender Bedeutung. Ich habe in allen
Berichten, die ich dem deutschen Parlament bisher vor-
legte, immer wieder und in einer deutlichen Sprache auf
die Defizite der Sanität hingewiesen. Die Situation hat
sich trotzdem von Jahr zu Jahr verschlechtert. Ob es sich
um die flächendeckende allgemeine sanitätsärztliche
Versorgung der Bundeswehrangehörigen, um die Bun-
deswehrkrankenhäuser, um die Versorgung der posttrau-
matisch belasteten Soldatinnen und Soldaten oder um
die Personalrekrutierung und die Personalführung han-
delt, auf allen Gebieten wurde viel zu spät gehandelt,
wurden Entwicklungen regelrecht verschlafen und Pro-
bleme offensichtlich bewusst schöngeredet. Erst nach
massivem politischen Druck aus dem Verteidigungsaus-
schuss wurden Initiativen entwickelt und sind jetzt end-
lich erste Lösungsansätze erkennbar. Es bleibt zu hoffen,
dass die reformwilligen Verantwortungsträger in der Sa-
nität die erforderlichen Handlungsmöglichkeiten einge-
räumt bekommen.

Drittens. Die Attraktivität des Soldatenberufes war
und ist auch weiterhin schweren Belastungen ausgesetzt.
Insbesondere bei etlichen Spezialverwendungen und bei
den besonders belasteten Truppenteilen hat die Konkur-
renzsituation im zivilen Bereich zur wesentlichen Ver-
schärfung der Personallage in der Bundeswehr beigetra-
gen. Beispielhaft nenne ich die Sanitätsärzte, die Piloten
und die Spezialkräfte.

Viertens. Die innere Verfassung der Streitkräfte ist,
ungeachtet immer wieder aufgetretener Ereignisse wie
jüngst im Zusammenhang mit bestimmten nicht tolerier-
baren Ritualen, als vorbildlich und respektabel zu be-
zeichnen. Die Prinzipien der Inneren Führung und des
Staatsbürgers in Uniform sind auf allen Ebenen verin-
nerlicht und bilden das verlässliche Wertegerüst und das
ethische Fundament des Denkens und Handelns in den
Streitkräften.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Fünftens. Bei jedem Truppenbesuch beklagen die
Soldatinnen und Soldaten die allgemein geringe mensch-
liche Zuwendung durch unsere Gesellschaft. Wir haben
es hier mit einem Phänomen zu tun, das immer wieder
mit anderen Problemen vermengt und verwechselt wird.
Es geht bei diesem Punkt ausdrücklich nicht darum, sich
mit irgendwelchen Auslandseinsätzen politisch zu iden-
tifizieren. Wenn die Soldaten mehr als ein „freundliches
Desinteresse“ von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern
der Zivilgesellschaft erwarten, dann berufen sie sich
vielmehr auf eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Ge-
sundheit und sein Leben für sein Land einsetzt, der darf
das an menschlicher Zuwendung, an Aufmerksamkeit
und Solidarität, ja an Nächstenliebe erwarten, was in vie-
len anderen Ländern, auch bei unseren Bündnispartnern,
eine Selbstverständlichkeit ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Weil es auch über 60 Jahre nach Gründung der Bun-
desrepublik immer noch nicht gelungen ist, den notwen-
digen breiten gesellschaftlichen Rückhalt für unsere Sol-
daten zu schaffen, ist es nach meiner festen Überzeugung
notwendig, diese menschliche Unterstützung durch die
Gesellschaft regelrecht zu organisieren. Hier steht nicht
nur die Politik in der Pflicht, sondern alle Organisationen
und Institutionen in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.
Insbesondere die Eliten bei uns im Land sind hier gefragt.
Ich selber beziehe mich in diese Pflicht übrigens aus-
drücklich ein.

Abschließend will ich mich ganz herzlich bei all de-
nen bedanken, die mich in den zurückliegenden fünf
Jahren bei meinen Aufgaben unterstützt haben. Diesen
Dank beziehe ich auf den jetzt amtierenden Bundes-
minister Dr. zu Guttenberg, auf die Minister, mit denen
ich es vorher zu tun hatte, auf die politische und militäri-
sche Führung der Streitkräfte und auf alle Dienststellen,
die mit meinem Amt besonders eng zusammengearbeitet
haben, sowie natürlich auf die Vertrauenspersonen in der
Bundeswehr und ganz besonders auf die Militärseel-
sorge. Vor allem bedanke ich mich bei Ihnen, bei allen
Mitgliedern des Deutschen Bundestages, hier wiederum
natürlich besonders beim Verteidigungsausschuss für das
zumindest aus meiner Sicht sehr gute, nein, ich möchte
sagen: ausgezeichnete und vertrauensvolle Zusammen-
wirken. Nicht zuletzt danke ich meiner eigenen Mann-
schaft im Amt des Wehrbeauftragten. Ohne die tatkräf-
tige Unterstützung meiner Leute hätte ich meine Arbeit
nicht so leisten können.


(Beifall im ganzen Hause)


Die zurückliegenden fünf Jahre waren für mich eine
durchaus erfüllte und auch prägende Zeit. Ich habe ver-
sucht, der Institution des Wehrbeauftragten ein Gesicht
zu geben. Ich hoffe, dass man das ein wenig gespürt hat.
Herzblut war sicher auch dabei. Meinem Amtsnachfol-
ger, Herrn Königshaus, wünsche ich eine glückliche
Hand und viel Erfolg. Ich biete ihm jegliche Unterstüt-
zung an und bitte Sie, dass Sie ihm das an Unterstützung
und Aufmerksamkeit geben, was ich in diesem Hause
immer wieder erfahren durfte. In diesem Sinne auch Ih-
nen alles Gute und Gottes Segen.

Ich melde mich ab.


(Beifall im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704014900

Herr Robbe, während Sie die Glückwünsche und den

Dank entgegennehmen, will ich Ihnen im Namen des ge-
samten Hauses offiziell danken. Vielen Dank für den Be-
richt 2009, auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Vielen Dank für Ihren Einsatz und für Ihr Engagement in
den letzten fünf Jahren. Wir wünschen Ihnen alles Gute
und ich persönlich ebenfalls Gottes Segen.


(Beifall)






Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Ich gebe das Wort der Kollegin Anita Schäfer für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1704015000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, zunächst
möchte ich Ihnen, Herr Robbe, auch namens der CDU/
CSU-Fraktion noch einmal ganz herzlich Dank sagen für
Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren. In diesen Dank
möchte ich Ihre Mitarbeiter einschließen.

Sie haben dieses Amt zu einer Zeit ausgeübt, in der
das Wohlergehen der Soldaten der Bundeswehr so stark
im Fokus der Öffentlichkeit steht, wie es vielleicht noch
nie der Fall war. Denn zum ersten Mal sind die Streit-
kräfte der Bundesrepublik Deutschland so massiv an ei-
nem bewaffneten Konflikt beteiligt. In diesem Konflikt
gibt es Verwundete und Gefallene. Unabhängig davon,
ob der Einzelne diesem Einsatz zustimmt oder nicht,
wird zum ersten Mal auch in der breiten Öffentlichkeit
kritisch gefragt: Sind unsere Soldaten, die gerade in die-
sem Moment in Afghanistan ihr Leben riskieren, mit al-
lem Notwendigen versorgt? – Nach meinem Eindruck
zeigt sich hier eine neue Anteilnahme in der Öffentlich-
keit, die Sie, Herr Robbe, in Ihren letzten Jahresberich-
ten völlig zu Recht angemahnt haben. Es ist bedauerlich,
dass sich diese Anteilnahme offenbar erst durch die Ver-
luste des vergangenen Monats so verbreitet hat. Aber es
ist gut, dass sich die Gesellschaft verstärkt zu ihren Sol-
daten bekennt.

So sehr ich dies begrüße, sehe ich allerdings auch die
Verantwortung aller Mitglieder in diesem Hohen Hause,
der Bevölkerung den Sinn dieser Auslandseinsätze zu
vermitteln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt gerade für den Einsatz der Bundeswehr in
Afghanistan, der von vielen abgelehnt wird. Wenn es uns
gelingt, die Notwendigkeit dieser Einsätze zu vermitteln,
wird die Unterstützung für unsere Soldaten umso stärker
wachsen. Denn diese leisten ihren Dienst gerade für die
Sicherheit unserer Bevölkerung, auch, vielleicht sogar
gerade auch am Hindukusch, gemeinsam mit unseren
Bündnispartnern, die sich früher in unserem eigenen
Land jahrzehntelang gegen eine gemeinsame Bedrohung
engagiert haben. Afghanistan darf nicht wieder zur Ope-
rationsbasis des internationalen Terrors werden, der uns
alle im Visier hat.

Neben Verbesserungen in einigen Bereichen werden
im aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten erneut Män-
gel festgestellt, die angesichts der laufenden Einsätze be-
sonders kritisch erscheinen. Die Probleme treten dabei
häufig gar nicht im Einsatz selbst auf; denn vorhandene
Ressourcen werden mit Priorität den dortigen Kontin-
genten zugeleitet. Dies führt jedoch in einigen Fällen zu
einem Verdrängungseffekt bei den Ressourcen im In-
land, wovon wiederum nicht zuletzt die Einsatzvorberei-
tung betroffen ist. Dieser Effekt ist beispielsweise bei
den geschützten Fahrzeugen und im Sanitätsdienst sicht-
bar.
Wir hatten bereits bei der Befassung mit dem letzten
Jahresbericht festgehalten, dass das Fehl an geschützten
Fahrzeugen geringer geworden ist. Ich verfolge mit Inte-
resse die Bemühungen, die noch vorhandenen Lücken zu
schließen, wie erst jüngst mit der Bestellung weiterer
60 Fahrzeuge vom Typ EAGLE IV. Natürlich werden
die verfügbaren Fahrzeuge zuerst dort eingesetzt, wo sie
am dringendsten gebraucht werden, nämlich im Einsatz
selbst. Das führt dann aber dazu, dass im Inland nur eine
geringe Zahl für die einsatzvorbereitende Ausbildung
zur Verfügung steht.

Nach wie vor kritisch ist die Situation im Sanitäts-
dienst. Auch dies betrifft zuerst die truppenärztliche
Versorgung im Inland ebenso wie den Betrieb an den
Bundeswehrkrankenhäusern. Daher müssen wir sehr ge-
nau beobachten, welche Auswirkungen die eingeleiteten
Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung im Sanitäts-
dienst haben.

Ein weiterer einsatzrelevanter Punkt in dem Bericht
ist erneut die Problematik der posttraumatischen Belas-
tungsstörungen. Im Bericht wird noch einmal die Ver-
wirklichung eines PTBS-Kompetenzzentrums für die
Bundeswehr gefordert. Dieses Vorhaben haben bekannt-
lich vor kurzem nochmals alle Fraktionen im Verteidi-
gungsausschuss unterstützt. Ich freue mich, Herr Minis-
ter zu Guttenberg, dass Sie nunmehr die Einrichtung
eines solchen Zentrums in Berlin angewiesen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die anstehende Aufstockung und Umstrukturierung
des deutschen ISAF-Kontingents wird die eben genann-
ten Probleme nicht vereinfachen. Ich begrüße die ver-
schiedenen Initiativen, die bereits im Bundesvertei-
digungsministerium ergriffen worden sind, um Abhilfe
zu schaffen, um Ausstattung und Ausbildung weiter zu
verbessern und die Truppe durchsetzungsfähiger zu ma-
chen. Wir müssen aber realistisch sehen, dass diese
Maßnahmen nicht schon morgen alle Engpässe beseiti-
gen werden. Der Bedarf für die optimale Versorgung im
Einsatz hat sich auch nicht erledigt, wenn die Bundes-
wehr ihre Aufgaben nach und nach an die afghanischen
Sicherheitskräfte übergibt, auch dann nicht, wenn diese
Mission in einigen Jahren hoffentlich erfolgreich abge-
schlossen ist.

Wir dürfen bei eventuellen künftigen Einsätzen nicht
wieder denselben Problemen gegenüberstehen. Dazu be-
darf es langfristiger Bemühungen, einschließlich der
notwendigen Unterlegung durch Haushaltsmittel. Hier
tragen wir alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
Verantwortung. Dies gilt übrigens auch für die wehrtech-
nische Industrie. Kostspielige Verzögerungen wie beim
A400M oder beim Kampfhubschrauber TIGER müssen
wieder die Ausnahme werden; denn schließlich wird
modernes Gerät so schnell wie möglich für die Einsätze
gebraucht, um durch bestmöglichen Schutz und wir-
kungsvolle Technik weitere Opfer unter unseren Solda-
ten im Einsatz möglichst zu vermeiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch wenn die Situation im Einsatz derzeit die Dis-
kussion beherrscht, möchte ich zum Schluss auf die





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)

Attraktivität der Bundeswehr insgesamt zu sprechen
kommen. Auch dazu werden im Bericht des Wehrbeauf-
tragten erneut eindeutige Aussagen getroffen. Überpro-
portional zur Zahl der tatsächlichen Eingaben bleibt
etwa die Vereinbarkeit von Familie und Dienst bestim-
mend. Insbesondere gilt dies für Möglichkeiten zur
Kinderbetreuung. Da müssen manchmal vorhandene
Möglichkeiten einfach nur konsequent genutzt werden.
Im Rahmen eines entsprechenden Pilotprojekts, so wird
im Bericht festgestellt, wurden vielfach bereits Beleg-
rechte an kommunalen Betreuungseinrichtungen wieder-
entdeckt, insgesamt 9 000 Plätze an 350 Einrichtungen
in 150 Bundeswehrstandorten.

Gute Nachrichten gibt es auch beim Sonderprogramm
zur Sanierung der Westkasernen. Hier sind in den letzten
drei Jahren 356 Millionen Euro verbaut worden. Für die-
ses und das nächste Jahr sind weitere 246 Millionen
Euro geplant. Ab Ende dieses Jahres wird zugleich der
neue Unterkunftsstandard umgesetzt, der vor allem für
die längerdienenden Mannschaftsdienstgrade eine Ver-
besserung bedeutet, die gewissermaßen den Muskel der
Einsatzkontingente darstellen. Ein kritischer Punkt
bleibt nach wie vor die ausreichende Verfügbarkeit von
Pendlerunterkünften für Soldaten ab 25, die nicht mehr
in der Kaserne unterkunftspflichtig sind. Im Bericht wird
auch hier auf Beispiele erfolgreicher Kooperation mit
örtlichen Anbietern hingewiesen. Es ist wünschenswert,
dass das Schule macht und an allen Standorten der Be-
darf gedeckt werden kann.

Ich selbst möchte diese Rede nicht beenden, ohne al-
len Männern und Frauen der Bundeswehr für ihren
Dienst zu danken, denen im Einsatz, aber auch denen in
unseren Heimatstandorten. Ich bitte darum, dass wir sie
dabei weiterhin auf jede Weise unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704015100

Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1704015200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr

Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Mittelpunkt des Jahres 2009 stand für die
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor allem ei-
nes, nämlich ihre schwere und gefährliche Arbeit in
Afghanistan. Das spiegelt sich auch im Jahresbericht des
Wehrbeauftragten wider; es spiegelt sich dort auch wi-
der, dass die Soldatinnen und Soldaten in diesem realen,
tagtäglichen Einsatz in Afghanistan ihr Leben und ihre
Gesundheit riskieren. Wie wir alle wissen, war auch das
Jahr 2009 ein Jahr, das Opfer gefordert hat. An die Sol-
datinnen und Soldaten und ihre Angehörigen müssen wir
alle, wir Politiker, Journalisten, Fachleute und die ge-
samte Öffentlichkeit heute und jeden Tag denken, wenn
wir über den Einsatz der Bundeswehr sprechen. An die
müssen wir denken, und wir müssen uns in der Öffent-
lichkeit der brutalen Härte dieses Einsatzes stellen. Den-
ken reicht aber natürlich nicht aus. Wir müssen auch
handeln. Dass wir dies nicht tun, jedenfalls nicht in dem
Umfang, wie unsere Soldatinnen und Soldaten dies er-
warten, auch das können wir im Bericht des Wehrbeauf-
tragten nachlesen.

Ich kann gut verstehen, dass sich viele Soldatinnen
und Soldaten heute manchmal alleingelassen fühlen.
Dieser Jahresbericht zeigt Zustände bei den Auslands-
einsätzen auf, die inakzeptabel sind und die schnellst-
möglich abzustellen sind. Das fängt bei der mangelhaf-
ten materiellen Ausstattung an, die sich insbesondere in
den Einsätzen und in der Vorbereitung darauf bemerkbar
macht. Gerade nach den schweren Gefechten der letzten
Monate in Afghanistan wurde immer wieder auf den
Mangel an geschützten Fahrzeugen hingewiesen. Auch
wenn ich Verständnis dafür habe, dass geschützte Fahr-
zeuge natürlich nicht über Nacht beschafft werden
können: Es gibt auch Mängel beim Material, die sich
wirklich schneller abstellen ließen. So weist der Wehrbe-
auftragte darauf hin, dass letztes Jahr sage und schreibe
vier Monate vergingen, bis geeignete Schutzbrillen für
den Einsatz in Afghanistan beschafft wurden. Das sind
Verzögerungen, für die unsere Soldaten – zu Recht, finde
ich – kein Verständnis haben.

Auch die Vorbereitung auf das im Einsatz verwendete
Material muss deutlich verbessert werden. Es ist in der
Tat ein Unding, wenn Fahrer und Mannschaften in Deutsch-
land, wenn überhaupt, nur unzureichend auf Einsatzfahr-
zeugen wie dem DINGO geschult werden. Hier muss die
Bundeswehr dringend Abhilfe schaffen. Wir werden das
als Parlament genau verfolgen.


(Beifall bei der SPD)


Was die Infrastruktur in Deutschland angeht, will ich
an dieser Stelle nicht ins Detail gehen. Ich denke, jeder
von uns kennt abschreckende Beispiele über den
schlechten Zustand von Kasernen, vor allem in West-
deutschland. Aber eine Zahl hat mich den Bericht doch
sehr aufmerksam lesen lassen: Teilweise sind bis zu zehn
Stellen an der Genehmigung von Bauvorhaben beteiligt.
Das kann doch wirklich schneller und unbürokratischer
gemacht werden. Das Ministerium und die Bundeswehr
sollten sich endlich bemühen, derartige Zustände abzu-
stellen.

Zweiter Punkt der Mängelliste: Defizite bei Personal
und Ausbildung. Beklagt wird im Bericht der fehlende
Praxisbezug in der Ausbildung von Offizieren und Un-
teroffizieren. Gerade im Hinblick auf spätere Führungs-
verwendungen sollte man darüber nachdenken, ob ein
früherer und intensiverer Kontakt zur Truppe nicht von
Vorteil wäre.

Die Bundeswehr hat einen jährlichen Personalbedarf
von 23 700 Soldatinnen und Soldaten. Diese Bedarfs-
marke wurde 2009 um rund 2 000 verpasst. Mit dem
Blick auf die Zukunft muss die Truppe deshalb vor allen
Dingen im Bereich der Attraktivität endlich mehr tun,
um guten Nachwuchs zu bekommen. Im Bericht des
Wehrbeauftragten wird deutlich, dass das Thema „At-
traktivität der Streitkräfte“ oft immer noch vernachläs-





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)

sigt wird. So gibt es nach wie vor zahlreiche Klagen über
eine wirklich unbefriedigende Beförderungssituation
und über ein unfaires Beurteilungssystem.

Schließlich geht es – drittens – in vielen Zuschriften
von Soldatinnen und Soldaten um das Thema „Attrakti-
vität der Bundeswehr“, wozu die Infrastruktur genauso
zählt wie die leider immer noch zu schlechte Vereinbar-
keit von Familie und Beruf. Über gut gemeinte Absichts-
erklärungen ist man hier offensichtlich immer noch nicht
weit hinausgekommen. So gibt es für die immerhin rund
30 000 Soldatenkinder unter sechs Jahren keine ausrei-
chende Zahl an Betreuungsplätzen, auch wenn nicht zu-
letzt unter Druck der Berichte des Wehrbeauftragten in-
zwischen zahlreiche „Belegrechte“ entdeckt wurden, die
in Vergessenheit geraten waren. Sorgen bereitet darüber
hinaus die Betreuung der Kinder während der Einsatz-
zeiten. Zwar leisten hier Familienbetreuungszentren gute
Arbeit; aber diese Betreuung steht und fällt eben auch
mit einer guten finanziellen Ausstattung dieser Zentren.

Geradezu ein Klassiker in jedem Jahresbericht sind
die Klagen über den Wehrdienst. Ich kann nur immer
und immer wieder wiederholen: Wenn wir wollen, dass
junge Männer diesen Dienst leisten, müssen wir dafür
sorgen, dass die Dienstzeit als sinnvoll empfunden wird.
Ich bin eine Anhängerin der Wehrpflicht. Deswegen är-
gern mich die jährlichen Hinweise aus den Reihen der
Wehrpflichtigen, die ihre Dienstzeit als vergeudete Mo-
nate empfinden.

Meine Forderung an die Regierung lautet daher: Ma-
chen Sie sich endlich ernsthafte Gedanken über die Zu-
kunft der Wehrpflicht, und sorgen Sie auch für eine sinn-
volle Ausgestaltung dieser Zeit! Was wir in den letzten
Wochen über Ihre Pläne zum sechsmonatigen Wehr-
dienst lesen mussten, beruhigt uns leider nicht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Ende. Lassen Sie mich noch dem scheidenden
Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für ihre her-
vorragende Arbeit danken. Lieber Reinhold Robbe, du
hast dir in den vergangenen fünf Jahren über Parteigren-
zen hinweg ein hohes Ansehen erarbeitet. Vor allen Din-
gen hast du es geschafft, das Vertrauen der Soldatinnen
und Soldaten zu erlangen. Das ist schließlich die vor-
nehmste Aufgabe eines Wehrbeauftragten. Deine Be-
richte waren schonungslos, detailliert und kompetent.
Sie haben den Finger in die Wunde gelegt und Mängel
aufgezeigt. Du hast keine Konfrontation gescheut – auch
das müssen wir sagen –, sei es mit dem Parlament oder
mit dem Bundesministerium der Verteidigung.

Du hast aber noch etwas anderes geschafft, das ich
ebenfalls für wichtig halte: Immer wieder hast du in der
Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass die materielle
Ausstattung der Bundeswehr nicht alles ist. Soldaten
brauchen auch den Rückhalt der Gesellschaft, sprich:
den Rückhalt in der Bevölkerung. Ihre Sorgen und Pro-
bleme gehen uns alle an. Damit, lieber Reinhold Robbe,
wird dein Name lange verbunden bleiben. Ich danke dir
dafür im Namen meiner Fraktion sehr herzlich.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704015300

Christoph Schnurr hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1704015400

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Lieber Herr Wehrbeauftragter Robbe!
Es ist nicht lange her, da übergab der amtierende Wehrbe-
auftragte des Deutschen Bundestages seinen Jahresbe-
richt 2009, zuerst dem Bundestagspräsidenten und dann
dem Verteidigungsausschuss. Das scheint auf den ersten
Blick nur ein kleiner Kreis interessierter Leser zu sein.
Doch dieser 51. Jahresbericht wurde seit dem 16. März
2010 über 16 000-mal heruntergeladen. Er führt damit die
Rangliste der Downloads an, die im März von der Bun-
destagswebsite abgefragt wurden. Dies zeigt einmal
mehr, wie wichtig dieser Bericht ist und welch großes In-
teresse er in der Bevölkerung hervorruft.

Lieber Herr Robbe, ich möchte Ihnen auch im Namen
meiner Fraktion für Ihre Arbeit danken, die Sie in den
letzten fünf Jahren geleistet haben. Der Dank gilt auch
Ihrem Hause und Ihrem Team, die Sie bei der Erstellung
der Berichte unterstützt und die ein Auge auf die Bun-
deswehr gehabt haben, um Missstände offenzulegen.
Doch wollen wir nicht vergessen: Ohne die Eingaben der
Betroffenen wäre es für jeden, der das Amt des Wehrbe-
auftragten bekleidet, schwer, Mängel aufzudecken. Die
Eingaben machen deutlich, dass die Institution des
Wehrbeauftragten alternativlos ist und gebraucht wird.

In der letzten Debatte zeichnete sich bereits ab, wel-
che Themen und welche Probleme diesem 51. Bericht zu
entnehmen sein würden. Heute lässt sich sagen: Unsere
Erwartungen haben sich bestätigt.

Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Zum wie-
derholten Male fallen Probleme besonders im Sanitäts-
dienst auf: fehlendes Personal, Abwanderung der Fach-
kräfte und Nachwuchssorgen. Die Attraktivität des
Dienstes ist ein Thema, das in allen Bereichen der Bun-
deswehr angegangen werden muss. Hier bleibt weiterhin
viel zu tun. Ich warte gespannt auf die Stellungnahme
des Ministeriums zu diesem 51. Bericht, insbesondere
im Bezug auf den Sanitätsdienst und die Maßnahmen,
die folgen müssen.

Der Sanitätsdienst nimmt eine besondere Stellung in
der Bundeswehr ein. Ihm obliegt es, die Gesundheit und
Leistungsfähigkeit der Soldaten im In- und Ausland auf-
rechtzuerhalten. Hier besteht dringender Handlungsbe-
darf. Herr Minister, die Probleme und Schwierigkeiten
im Sanitätsdienst sind hinlänglich bekannt. Jetzt müssen
sie rasch abgestellt werden, damit dieser Dienst wieder
in geordnete Bahnen kommt.

Der erste Fortschritt innerhalb des Sanitätswesens ist
sicherlich das im Koalitionsvertrag vereinbarte PTBS-
Zentrum. Hier wurden erste ernsthafte Anstrengungen
unternommen. Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht
nachlassen. Ich bedanke mich ausdrücklich beim gesam-
ten Parlament, das dieses Vorhaben fraktionsübergrei-
fend unterstützt hat, wenn es auch maßgeblich von mei-
ner Kollegin Elke Hoff angestoßen wurde. Vielen Dank.

(B)






Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. ErnstReinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU])


Reden wir von Ausrüstung und Ausbildung. Auf der
Reise mit dem Minister nach Afghanistan habe ich mich
mit einigen Soldaten unterhalten können. Mir gegenüber
sagten einige Infanteristen, dass sie erst im Einsatz mit
den Fahrzeugen DINGO und EAGLE IV fahren konnten
und erst vor Ort in diese Geräte eingewiesen wurden.
Meine Damen und Herren, es ist ein Unding, dass Solda-
ten ohne ordentliche Ausbildung für das entsprechende
Gerät in den Einsatz geschickt werden. Es ist nicht nur
sinnvoll, unsere Soldaten mit der bestmöglichen Aus-
stattung auszurüsten; es ist auch zwingend erforderlich,
die Soldaten an den entsprechenden Geräten in der Hei-
mat auszubilden. Vielleicht sollten wir überlegen, den
Grundsatz des einsatzbedingten Sofortbedarfs auch in
Deutschland anzuwenden. Denn die Ausbildung für den
Einsatz ist ebenfalls einsatzbedingt.

An dieser Stelle möchte ich allen Soldaten der Bun-
deswehr, ihren Familien und Angehörigen, ob im In-
oder Ausland, für ihren beispiellosen Dienst danken und,
damit verbunden, meinen Respekt vor ihrer Arbeit be-
kunden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das bringt mich auch schon zum nächsten Thema. In
Großbritannien gab es vor dem Irakkrieg über das ge-
samte Land verteilt Demonstrationen gegen eine Teil-
nahme. Als die Regierung eine Beteiligung beschloss,
war noch immer ein Großteil der Bevölkerung dagegen.
Es hat sich jedoch niemand gegen die Streitkräfte ge-
wandt.

Es steht jeder Bürgerin und jedem Bürger frei, wie sie
oder er die Einsätze bewertet, in die wir Parlamentarier
die Bundeswehr geschickt haben. Von der Bevölkerung
und einigen Abgeordneten würde ich mir allerdings et-
was mehr Respekt vor den Menschen wünschen, die den
Beruf des Soldaten gewählt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Niemand wird gezwungen, aus Solidarität einen Aufkle-
ber mit einer gelben Schleife als Zeichen an seinem Auto
zu befestigen; doch eine sachliche Auseinandersetzung
mit der Thematik und normale zwischenmenschliche So-
lidarität sind, glaube ich, nicht zu viel verlangt.

Die Bundeswehr hat nicht selbst entschieden, in die
Einsätze zu gehen. Das waren wir, die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages. Das dürfen wir nicht vergessen.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LINKEN: Wir nicht!)


– Sie nicht; das ist hinlänglich bekannt. Aber auch wenn
Sie dem nicht zugestimmt haben, sollten Sie an der einen
oder anderen Stelle Solidarität mit den Soldaten, die im
Namen der Bundesrepublik Deutschland in Auslandsein-
sätzen sind, zeigen. Das ist, glaube ich, nicht zu viel ver-
langt, liebe Kollegen von der Linkspartei.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Was bringt die Zukunft? Die Strukturkommission
nimmt ihre Arbeit auf. Unter der verantwortungsvollen
Führung von Frank-Jürgen Weise wird sie sicherlich
tiefgreifende Änderungsvorschläge bringen. Eins ist
klar: Es darf dabei keine Tabus geben. Wir alle in diesem
Haus sind gespannt auf den Abschlussbericht der Kom-
mission und sollten auch mit unangenehmen Inhalten
rechnen. Der 51. Bericht des Wehrbeauftragten ist si-
cherlich auch eine gute Quelle für die Arbeit der Kom-
mission.

Lieber Kollege Königshaus, bald werden Sie dieses
Hohe Haus verlassen, um das Amt des Wehrbeauftragten
zu bekleiden. Für Ihre Verdienste als Mitglied des Bun-
destages möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich
bedanken. Für das neue Amt wünsche ich Ihnen alles er-
denklich Gute. Bei einem Richter, der Wehrbeauftragter
wird, ist der Vertrauensvorschuss bestimmt nicht falsch
angelegt. Ich habe keine Sorge, dass Sie bei den Solda-
tinnen und Soldaten der Bundeswehr bald genau das
gleiche hohe Ansehen und Vertrauen haben, wie Sie es
bei uns im Parlament genießen. Ihnen viel Erfolg!

Ihnen, Herr Robbe, zum Abschluss noch einmal ein
ganz herzliches Dankeschön.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704015500

Paul Schäfer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704015600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Streit-

kräfte – auch die Bundeswehr – brauchen parlamenta-
risch-demokratische Kontrolle. Das wussten auch dieje-
nigen, die das Amt des Wehrbeauftragten ins Grundgesetz
geschrieben haben.

Kontrolle beginnt mit Information. Dabei sind die Be-
richte des Wehrbeauftragten eine ganz entscheidende
Quelle. Ohne diese wüssten Parlament und Öffentlich-
keit entschieden zu wenig über den inneren Zustand der
Bundeswehr; denn solche Großorganisationen neigen
zur Schönfärberei. Der vorliegende Bericht unterstreicht
diese Bedeutung.

Der Wehrbeauftragte sollte derjenige sein, der sich in-
nerhalb des Systems Bundeswehr nicht ein X für ein U
vormachen lässt, der Fehlentwicklungen ungeschminkt
benennt und der auch bereit ist, sich in den Clinch mit
der Bundesregierung zu begeben, wenn es notwendig ist.
Das ist der Maßstab. Reinhold Robbe, den wir heute
gleichsam hier verabschieden, hat sich genau dieser Auf-
gabe gestellt, zum Beispiel indem er überwiegend unan-
gemeldete Truppenbesuche durchgeführt hat, um mög-
lichst viele Informationen zu erhalten, oder sich – das
hat er in seinem Redebeitrag eindrucksvoll zum Aus-
druck gebracht – der Situation der im Ausland stationier-
ten Soldatinnen und Soldaten angenommen hat. Das hal-
ten wir für richtig.





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Er hat etwas bewirkt: mit seinem Engagement für
eine verbesserte Unterbringung, eine bessere sanitäts-
dienstliche Versorgung und eine adäquate Betreuung der
posttraumatisierten Soldatinnen und Soldaten. Das ist
ein wichtiges Kriterium. Dafür übermittle ich ihm und
seinem Team von hier aus vielen Dank und gute Wün-
sche für die Zukunft.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Ich will aber einen Streitpunkt nicht verschweigen.
Dabei geht es weniger um die Person als um das Amts-
verständnis. Weil der Wehrbeauftragte eine der wenigen
Personen ist, die von außen Einblick in die Bundeswehr
haben, die viel mit den Soldatinnen und Soldaten zu tun
haben, ist natürlich die Versuchung vorhanden, sich vor
allem als Vertrauensperson der Soldatinnen und Solda-
ten, als Ombudsmann für alle zu verstehen, im schlim-
meren Fall als jemand, der vor allem die Belange der
Streitkräfte zu vertreten hat. Das ist aber nicht der Kern
des Auftrags des Wehrbeauftragten. Um es zugespitzt zu
formulieren: Der Wehrbeauftragte ist meines Erachtens
nicht der Beschaffer von Akzeptanz für die jeweiligen
Einsätze der Bundeswehr; das muss klar sein. Ich weiß,
das ist eine schwierige Gratwanderung; denn der Wehr-
beauftragte muss sich – wie gesagt: das unterstützen wir
– um die Soldatinnen und Soldaten kümmern, die das
Parlament entsendet. In diesem Sinne ist er aber nicht
der Ombudsmann, sondern muss vor allem überprüfen,
ob die Prinzipien der Inneren Führung durchgesetzt wer-
den; das ist der gesetzliche Auftrag.

Aufgrund der Auslandseinsätze scheinen Entwicklun-
gen aufzutreten, auf die man verstärkt das Augenmerk
richten muss, gerade auch der Wehrbeauftragte. Die ver-
schärfte Lage in Afghanistan wird hierzulande von einer
gewissen Kriegsrhetorik begleitet, die meines Erachtens
schlimme Folgen für das Denken und Verhalten der
Truppen haben kann. Der Wehrbeauftragte sagt an der
Stelle: Es geht um Empathie; man muss sich mit der Be-
findlichkeit der Soldaten und ihrer Lage auseinanderset-
zen. – Ja, das ist richtig. Es ist naheliegend, dass die Sol-
daten für ihren großen Einsatz eine Gegenleistung der
Gesellschaft verlangen; dazu gehört in der Tat auch Re-
spekt. Diese Empathie darf aber nicht dazu führen, dass
elementare Verhaltensmaßstäbe ad acta gelegt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Stichworte sind hier Kunduz und das Menetekel des
4. September.

Bestimmte Stimmungen in der Truppe machen mir
schon Sorgen. Zum Beispiel fragt man: Warum gibt es
überhaupt staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, wenn
wir Gewalt anwenden müssen? Warum untersucht das
Parlament Dinge, von denen es nichts versteht? – Ich
finde, hier muss gegengesteuert werden. Die Abgeordne-
ten und das Führungspersonal der Bundeswehr sind hier
in der Pflicht, damit sich die Maßstäbe, um die es bei der
Inneren Führung geht – Recht und Gesetz, Völkerrecht,
Humanität –, nicht abschleifen und nicht verloren gehen.
Darum müssen wir uns gemeinsam kümmern. An dieser
Stelle müssen wir den Wehrbeauftragten unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)


Bei den Auslandseinsätzen ist ein weiteres Problem zu
verzeichnen, das sich wie ein roter Faden durch die Jah-
resberichte des Wehrbeauftragten zieht: Immer wieder ist
vom Missbrauch der Dienstaufsicht die Rede, von Unzu-
länglichkeiten in der Fürsorge, mangelnden Rechtskennt-
nissen etc. Auch die Schattenseite im inneren Gefüge der
Bundeswehr, die gern als Einzelfälle abgetan werden
– Stichworte: Mittenwald, Elitetruppen –, gehören hier
hinein. Ich finde, dass hier endlich gehandelt werden
muss; denn solche Vorfälle werden Jahr für Jahr festge-
stellt. Das Ministerium wiegelt ab: Business as usual.

Nein, es handelt sich offensichtlich um festgefahrene
strukturelle Probleme, für deren Behebung wir endlich
ein Gesamtkonzept benötigen, anstatt diese Flickschus-
terei fortzusetzen. Wir reden hier grundsätzlich über die
Stärkung der Rechte der Soldatinnen und Soldaten, mehr
Anstrengungen in der politischen und ethischen Bildung,
sorgfältigere Personalauswahl und viele Dinge mehr, die
wirklich im Rahmen eines Gesamtkonzeptes aufgegrif-
fen und umgesetzt werden müssen.

Hier hat der neue Wehrbeauftragte eine ganze Menge
Arbeit vor sich. Wir wollen ihn dabei gern unterstützen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704015700

Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Omid

Nouripour das Wort.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704015800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Reinhold Robbe!
Ihre Mannschaft und Sie haben in den letzten fünf Jahren
eine hervorragende Arbeit gemacht, für die wir als Frak-
tion danken, für die auch ich persönlich danke, und zwar
deswegen, weil diese Arbeit Spuren hinterlassen wird,
nicht nur in der Parlamentsarmee, sondern auch im Par-
lament. Dafür herzlichen Dank!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An dieser Stelle möchte ich auch den Soldatinnen und
Soldaten danken, die im Einsatz waren, die im Einsatz
sind und die sich auf den nächsten Einsatz vorbereiten,
aber natürlich ebenso den Soldatinnen und Soldaten, die
nicht in den Einsatz fahren.

Außerdem sind unsere Gedanken bei denjenigen, die
getötet worden sind, bei ihren Angehörigen und bei den-
jenigen, die versehrt worden sind, und dies nicht nur kör-
perlich. Dass ich dies an dieser Stelle sage und dass es
mittlerweile zum Mainstream der Diskussion gehört,
auch auf die seelischen Schäden hinzuweisen, dass dies
hier und ebenso in der Truppe wie selbstverständlich dis-
kutiert wird, ist ein absolutes Verdienst der Arbeit des
Wehrbeauftragten in den letzten fünf Jahren. Auch dafür
ein großer Dank!





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

Herr Wehrbeauftragter, Sie schreiben von großen
„Herausforderungen“ für die Bundeswehr, die sich ge-
rade in der sich zuspitzenden Lage in Afghanistan sehr
klar darstellen, und Sie beschreiben Ihre wachsende
„Ungeduld“ angesichts der immer wieder offen zutage
tretenden Mängel bei der Ausstattung und bei der Füh-
rung. Wir verstehen und wir teilen diese Ungeduld.

Die Ausstattung nicht nur in Afghanistan, aber gerade
im Auslandseinsatz ist wortwörtlich lebenswichtig. Des-
halb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig,
dass wir als Politiker uns nicht als Hobbyfeldherren auf-
spielen, sondern dass wir die Ohren aufsperren, dass wir
genau zuhören, was denn die Truppe selbst eigentlich
sagt, welche Ausstattung sie braucht. In diesem Zusam-
menhang ist es aber wichtig, dass wir Rahmenbedingun-
gen schaffen, um flexibel bleiben zu können, wenn sich
die Bedürfnisse der Truppe verändern. Das heißt, wir
müssen auch das Geld zusammenhalten.

Dies ist nicht wirklich gelungen, wenn man bedenkt,
dass in naher Zukunft neue Herausforderungen auf uns
zukommen werden, wenn man bedenkt, wie groß einer-
seits die Ausstattungsmängel jetzt schon sind und wie
groß andererseits die Summe – ich sage es jetzt einmal
so drastisch – der erpressten Millionenzuschläge bei-
spielsweise für den A400M ist. Dies sind Mittel, die ge-
rade in den jetzigen Zeiten knapper Mittel bei der Aus-
stattung fehlen. Es geht um unsere Flexibilität. Ich nenne
als Beispiel den dritten Einsatzgruppenversorger, bei
dessen Beschaffung kein Wettbewerb stattgefunden hat,
wodurch die Preise in die Höhe gegangen sind. Dafür
gibt es sehr viele Beispiele, Beispiele dafür, wie die
Wirksamkeit der Truppe im Einsatz beeinträchtigt wird.
Aber was diese Wirksamkeit angeht, sind die Äußerun-
gen der Bundesregierung aus unserer Sicht weiterhin ne-
bulös.

Ich nenne dafür zwei Beispiele: Das eine ist die neue
Strategie für Afghanistan, die im Januar sehr laut ver-
kündet wurde, wenn auch damals wenig konkret. Das
kann man verstehen; das ist ja auch der erste Aufschlag
gewesen. Wir haben mittlerweile zig Fragen gestellt,
aber die Aussagen sind nicht wirklich konkreter gewor-
den. Immer noch sind sehr viele unserer Fragen unbeant-
wortet geblieben.

Es gibt auch Widersprüche. Wenn in der Antwort auf
unsere Kleine Anfrage gesagt wird, das Partnering, das
stärkere Hinausgehen in die Fläche, bedeute mehr Si-
cherheit für die Soldaten, dann steht das im Widerspruch
zu dem, was der Minister in der letzten Woche auf seiner
Pressekonferenz gesagt hat. Ich glaube, dass der Minis-
ter recht hat mit dem, was er sagte. Es ist logisch, dass
das Risiko steigt, wenn man mehr hinausgeht. Aber dann
muss man auch darauf achten, dass man dem Parlament
nicht schwarz auf weiß andere Informationen zukommen
lässt, die im Widerspruch dazu stehen. Daran zeigt sich,
dass die Kritik des Wehrbeauftragten an der Führung
auch weiterhin gültig ist.

Das zweite Beispiel ist das Strukturchaos. Herr Mi-
nister, Anfang der Woche war ich jetzt endgültig ver-
wirrt. Haben wir jetzt W6, wird es eine sechsmonatige
Wehrpflicht geben? Sie haben gesagt: Wenn wir uns
nicht einigen können, dann machen wir doch neun Mo-
nate. – Sie haben vor ein paar Wochen noch gesagt, am
1. Oktober werde die veränderte Wehrpflicht eingeführt.
Das ist nicht zu verstehen; das ist auch nicht unbedingt
etwas, was die Wirksamkeit der Bundeswehr vergrößert.
Wenn die Koalition in diesen Tagen verkündet, dass der
Inspekteur des Heeres recht habe, wir brauchten mehr
Infanteristen – ich teile diese Auffassung –, dann ist die
Frage, ob nicht, bevor man an die Lösung dieses Pro-
blems gehen kann, größere Strukturreformen wie bei der
Wehrpflicht kommen müssen.

Wenn Sie von einem Termin 1. Oktober sprechen und
ein solches Chaos produzieren, dann biete ich Ihnen hier
eine Wette an: Zum 1. Oktober bekommen Sie das nicht
hin. Der Wetteinsatz ist: Der Verlierer muss einen Tag
lang Zivildienst in der Altenpflege leisten. Wir werden
sehen, ob Sie das bis zum 1. Oktober hinbekommen oder
nicht. Ich befürchte, das wird nicht klappen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Wette gilt!)


Selbstverständlich bin ich auch sehr gespannt auf die
Arbeit der Kommission. Natürlich wünschen wir Herrn
Weise allen Erfolg; wir werden seine Arbeit konstruktiv
und kritisch begleiten. Ich hoffe, dass die Arbeit der
Weise-Kommission viele der strukturellen Mängel, von
denen der Wehrbeauftragte seit Jahren berichtet, auffan-
gen kann.

Meine Damen und Herren, wir können uns glücklich
schätzen, dass wir die Institution des Wehrbeauftragten
haben. Der Wehrbeauftragte Robbe hat auch immer wie-
der darauf hingewiesen, dass das Ausland auf unsere In-
stitution des Wehrbeauftragten mit einer Mischung aus
Faszination und Neid schaut. Heute war eine Delegation
aus Japan zu Gast. Die Kollegen aus Japan haben viele
Fragen dazu gestellt, wie die Institution des Wehrbeauf-
tragten funktioniert. Diese Institution ist eine gute Ein-
richtung.

Sie haben diesen Job hervorragend gemacht, Herr
Robbe, unter anderem durch die Einführung von unan-
gemeldeten Besuchen. Diese unangemeldeten Besuche
haben sich absolut bewährt. Ich hoffe, dass diese unan-
gemeldeten Besuche von Ihrem Nachfolger – auf den
wir uns freuen und mit dem wir sicher auch gut zusam-
menarbeiten werden – fortgesetzt werden. Ich wünsche
Herrn Königshaus bei seiner Amtsausübung, vor allem
aber bei der nicht immer einfachen Balance zwischen
Parlament und Armee ein glücklicheres Händchen, als er
es in den letzten Wochen manchmal hatte.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704015900

Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidi-

gung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Robbe, wenn wir heute über den
Bericht des Wehrbeauftragten diskutieren, debattieren
wir immer über Verantwortung: über Verantwortung des
Dienstherren – von mir –, über Verantwortung dieses
Hauses, über Verantwortung von uns allen als Parlamen-
tarier.

Wir machen Dienst in diesen Tagen – so haben Sie
auch eingeleitet, Herr Robbe – immer noch unter dem
Eindruck der Ereignisse der letzten Wochen. Diese Wo-
chen haben uns überaus traurige Ereignisse beschert,
gleichzeitig aber den Begriff „Verantwortung“ substan-
ziell unterfüttert.

Ich will an dieser Stelle Ihnen allen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, danken für die Anteilnahme, die un-
sere Soldaten und ihre Familien, auch die Verwundeten,
die nach Hause zurückgekehrt sind, erfahren haben.

Ich will an dieser Stelle auch sagen: Durch die große
Anwesenheit bei den Trauerfeiern hat das Parlament ein
wirklich bemerkenswertes, großartiges Bild gezeichnet.
An dieser Stelle von meiner Seite herzlichen Dank!
Diese Anwesenheit hat die Verbindung zwischen dem
Parlament und unseren Soldatinnen und Soldaten in be-
sonderer Weise hervorgehoben; ich glaube, wir können
das gar nicht fest genug unterstreichen und darstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Robbe, Sie haben auch diese bitteren Realitäten
in Ihrem Jahresbericht klar dargestellt. Sie haben damit
auf Realitäten hingewiesen, die der Diskussion und der
Debatte in der Öffentlichkeit bedürfen, auch der kontro-
versen Debatte. Vor allem aber kommt es darauf an, dass
diese Realitäten endlich in diesem Ausmaß diskutiert
werden. Ich glaube, dass damit ein notwendiger Schritt
gegangen wurde. Das ist gut.

Der Hinweis auf die Bedeutung von Solidarität mit
unseren Soldaten und Unterstützung unserer Soldaten
kam von allen Rednern. Ich kann dem von meiner Seite
nur flankierend zur Seite stehen, indem ich sage: Das
entspricht auch der Erfahrung, die ich mache, wenn ich
unsere Soldaten besuche. Unsere Soldatinnen und Solda-
ten sagen: Wir haben Verständnis für die politische De-
batte, die über Sinn und Unsinn eines Einsatzes geführt
wird. Wir wünschen uns allerdings mehr Anerkennung
und Unterstützung von zu Hause, aus der Gesellschaft
heraus und aus dem Parlament heraus. – Ich glaube, die-
sem Ansinnen unserer Soldaten kann man nur beipflich-
ten, und man sollte alles tun, um das entsprechend zu un-
terfüttern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Hinweis auf die Bedeutung der Attraktivität des
Dienstes ist berechtigt. Den Dienst attraktiv zu halten, ist
eine Daueraufgabe, der wir uns zu unterwerfen haben.
Hier sind viele Einzelhinweise dazu gegeben worden,
und hier ist in den letzten Jahren seitens des Wehrbeauf-
tragten und seines Teams viel geleistet worden. Wir ha-
ben diese Hinweise aufzugreifen und in die Umsetzung
zu bringen. Das muss aber, damit es den Boden und das
Fundament bekommt, das wir brauchen, finanziell auch
entsprechend unterfüttert werden.

Herr Robbe, Sie scheiden jetzt nach fünf Jahren aus
dem Amt des Wehrbeauftragten. Ich darf Ihnen aus mei-
ner Position heraus, aber auch ganz persönlich danken
für Ihren Dienst, für Ihr großes Engagement bei der Un-
terstützung unserer Soldatinnen und Soldaten – gerade
derer, die sich im Einsatz befinden – durch das Beschrei-
ben der Einsatzrealitäten. Die ständige Präsenz – gerade
die unangemeldete; das ist schon gesagt worden –, die
Sie gezeigt haben, ist etwas, was zum Verständnis von
dem Amt des Wehrbeauftragten gehören muss: die not-
wendige Unbequemlichkeit, gerade gegenüber der
Spitze eines Hauses. Ich habe das gottlob von Ihnen er-
fahren dürfen, aber gleichzeitig eben auch vertrauensvoll
und eng mit Ihnen zusammenarbeiten dürfen. Ich darf
Ihnen auch von meiner Seite aus sagen: Herzlichen Dank
für die Arbeit der letzten Jahre. Sie haben exzellente Ar-
beit geleistet. Danke hierfür!


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das darf man auch sagen, wenn man bei der einen oder
anderen Frage quer liegt; auch das gehört dazu.

Ich darf Ihnen, lieber Herr Königshaus, zurufen, dass
ich mich auf die künftige Zusammenarbeit aufrichtig
freue. Sie haben in den letzten Wochen an der einen oder
anderen Stelle erfahren dürfen, was mit dem Amt des
Wehrbeauftragten und mit den Themen, mit denen wir
uns befassen, unter anderem einhergeht, nämlich harte,
teilweise überharte Kritik. Zu nahezu jedem Themen-
komplex, nahezu jedem Aspekt gibt es – auch aus mei-
nem Hause – unterschiedliche begründete Meinungen.
Mit einer solchen Kritik wird man im Zweifel umgehen
müssen, und mit der werden wir gemeinsam umgehen
können; daran habe ich keinen Zweifel. Ich freue mich
auf die Zusammenarbeit und wünsche Ihnen eine glück-
liche Hand und Gottes Segen für Ihre künftigen Aufga-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will noch einmal das aufgreifen, was den Bericht
des Wehrbeauftragten auch in der öffentlichen Wahrneh-
mung im Wesentlichen prägt. Das ist der Hinweis auf
Defizite. Ich freue mich natürlich, wenn an der einen
oder anderen Stelle auch die Dinge genannt werden, die
positiv laufen und einen guten Eindruck von der Bundes-
wehr vermitteln. Aber es ist geboten und richtig, die De-
fizite darzustellen, sie klar, deutlich und ungeschminkt
zu benennen. Anders kann man keine Abhilfe schaffen.

Verfehlungen gegen den Geist der Inneren Führung
wurden benannt. Diesen ist nachzugehen – das steht au-
ßer Frage –, und zwar unmittelbar. Die notwendigen Fol-
gerungen sind zu ziehen. Ich habe das unter den Drei-
klang gefasst: nachgehen, abstellen und Konsequenzen
ziehen. Natürlich, lieber Kollege Schäfer, kann und darf
das niemals business as usual sein, mit dem man den Din-
gen begegnet. Jedem Einzelfall muss entsprechend be-
gegnet werden, wobei ich auch betonen darf – auch Herr





Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) (C)



(D)(B)

Robbe hat diesen Hinweis immer wieder gegeben –, dass
es sich um Einzelfälle handelt. Jeder Fall ist einer zu viel,
aber der Großteil, die überwältigende Mehrheit unserer Sol-
datinnen und Soldaten leistet einen erstklassigen Dienst.
Man sollte sie nicht über einen Kamm scheren – das ha-
ben Sie auch nicht gemacht –, und so einen Eindruck
sollte man auch nicht nach außen vermitteln.

Die Kritik an Ausrüstung und Ausbildung begleitet
uns in diesen Tagen und schon seit Monaten, seit Jahren.
Durch die intensive öffentliche Debatte wurde und wird
sie aufgegriffen. Ich bin für diese Hinweise überaus
dankbar. Einiges ist bereits erreicht, einiges muss defini-
tiv noch erreicht werden. Absoluten Schutz wird es nie
geben können. Es wird immer ein Prozess der Optimie-
rung sein, in den man sich hineinbegeben muss. Ich bin
umso dankbarer, wenn man auch die finanzielle Unter-
stützung seitens des Parlaments bekommt, wenn von un-
seren Soldaten zu Recht Wünsche an uns herangetragen
werden.

Der Aspekt Ausbildung, gerade auch Ausbildung an
Fahrzeugen, wurde von einigen genannt. Wir werden in
diesem Jahr knapp 200 neue geschützte Fahrzeuge zur
Verfügung stellen mit der Maßgabe und mit meiner Wei-
sung, dass sie auch und gerade zur Ausbildung zur Verfü-
gung gestellt werden, und zwar nicht erst zur Ausbildung
im Einsatz, sondern bereits zur Ausbildung in unserem
Lande. Ich glaube, das ist wichtig. Das ist ein Prozess, der
jetzt angegangen wurde und den der Generalinspekteur
entsprechend einplant.

Der berechtigte Hinweis auf die Mängel in den Struk-
turen wurde gegeben. Die Strukturen müssen die Einsatz-
realitäten dieser Tage abbilden. Daher wurde die Struk-
turkommission eingesetzt, von der ich mir, wie es gesagt
wurde, einiges erwarte, ohne dass Tabus in irgendeiner
Form aufgestellt werden. Diese Strukturkommission wird
zum Ende des Jahres ihre Vorschläge vorlegen.

Die Finanzausstattung wurde genannt.

Ich möchte mit einem Punkt schließen, der mir ein
Herzensanliegen ist


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Wette?)


und den Herr Robbe, Frau Hoff und viele andere bereits
seit Jahren thematisieren. Das ist die seelische Verfas-
sung unserer Soldaten, gerade jener, die aus dem Einsatz
kommen, und besonders jener, die bedrückende Erleb-
nisse hatten. Hier muss das Optimum an Versorgung
vorgehalten werden. Auch hier bin ich für die Hinweise
jener, die sich damit befassen – gerade von Ihnen, Herr
Robbe; hier baue ich weiter auf Ihre Impulse –, außeror-
dentlich dankbar. Von den Erfahrungswerten anderer
kann man gelegentlich lernen, aber hier müssen wir un-
seren Soldaten das Beste bieten. Erste Schritte sind ge-
gangen, aber hier müssen wir noch drauflegen. Ich freue
mich über die Unterstützung des gesamten Hauses. Es
wurde ja bereits angekündigt, sich parteiübergreifend fi-
nanziell entsprechend einbringen zu wollen.

Das geht Hand in Hand mit der Sanität. Im Bereich
der Sanität sehen wir Probleme. Der Ärztemangel – das
ist übrigens ein gesellschaftliches Problem, Herr
Schnurr, um das einmal aufzugreifen; das haben wir
nicht nur bei uns – ist ein Problem. Dieses Problem muss
zeitnah gelöst werden.

Frau Präsidentin, ich nehme Ihr Signal wahr. Ich
danke Ihnen noch einmal für Ihren Dank an unsere Sol-
daten. Sie haben es wahrlich verdient.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704016000

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Dr. Susanne Kastner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1704016100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Wehrbeauftrag-

ter, lieber Reinhold Robbe! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Unser Wehrbeauftragter hat heute wieder einmal
eindringlich darauf hingewiesen und uns erklärt, wie die
Einsatzrealität der Bundeswehr aussieht und wo es Miss-
stände zu beseitigen gilt.

Wir sind uns sicherlich alle einig, dass eine vernünf-
tige Ausrüstung das A und O für den Erfolg von Bundes-
wehreinsätzen und in erster Linie für die Sicherheit
unserer Soldatinnen und Soldaten ist. Geld ist zugegebe-
nermaßen im Bundeshaushalt derzeit recht knapp. Ge-
rade in Zeiten der Krise wird zwischen den einzelnen
Ressorts sehr hart gerungen. Angesichts der wachsenden
Aufgaben und der damit verbundenen Herausforderung
für unsere Bundeswehr muss ich aber ganz offen sagen,
dass kein Verteidigungspolitiker – auch ich als Vorsit-
zende des Verteidigungsausschusses nicht – dafür Ver-
ständnis hat, dass dem Verteidigungsetat fast eine halbe
Milliarde Euro gestrichen wurde. Die dramatische Kon-
sequenz ist, dass dringend benötigtes Material nicht er-
neuert und beschafft werden kann. In Anbetracht der
Einsatzbelastungen bräuchte die Bundeswehr ein sattes
Plus an Haushaltsmitteln und keinen Rotstift.

Aufgrund der Bedrohungslage in den Einsatzgebie-
ten, insbesondere natürlich in Afghanistan, ist die Ein-
satzvorbereitung entscheidend für den Erfolg und für das
Wohlergehen unserer Soldaten. Die Verwicklung in
Kampfhandlungen ist heute eher die Regel als die Aus-
nahme. Damit – das hat Reinhold Robbe bereits gesagt –
ist der routinierte und sichere Umgang mit allen Ausrüs-
tungsgegenständen, mit Waffensystemen, Gerätschaften
und Fahrzeugen, überlebenswichtig. Umso schwerer
wiegen die Mängel in der Ausbildung und der Ausrüs-
tung hier vor Ort. Routine kann bekanntlich nur dann
entstehen, wenn der sichere Umgang mit den hochspezi-
ellen Gerätschaften vorab reichlich und ausreichend ge-
übt wurde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden mir si-
cherlich zustimmen, dass die Erfüllung eines Auftrages
eine sachgerechte und angemessene Ausstattung voraus-
setzt. Der Jahresbericht moniert hier verschiedene Defi-





Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) (C)



(D)(B)

zite und zeigt auf, dass dies bei unserer Parlamentsarmee
leider keine Selbstverständlichkeit ist.

Klar ist, dass sich der Einsatz für unsere Soldatinnen
und Soldaten stark gewandelt hat und gefährlicher ge-
worden ist. Das haben wir erst wieder im April auf tragi-
sche Weise erfahren müssen. Mir persönlich geht es aber
nicht nur darum, dass unsere Soldaten gut ausgebildet
und sachgerecht ausgerüstet in den Einsatz gehen. Ganz
besonders liegt mir und vielen anderen hier im Hause am
Herzen, wie sie nach ihrer Rückkehr hier wieder aufge-
nommen und angenommen werden, insbesondere dann,
wenn sie infolge des Einsatzes an posttraumatischen Be-
lastungsstörungen leiden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im zurückliegenden Berichtsjahr wurden 466 Fälle von
posttraumatischer Belastungsstörung verzeichnet. Da-
rüber, wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich nur speku-
lieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle tragen
große Verantwortung für das körperliche und seelische
Wohlergehen unserer Soldaten, gerade weil es eine Par-
lamentsarmee ist. Bereits im vergangenen Jahr hat das
Parlament die Gründung eines Traumazentrums be-
schlossen, das, wie wir jetzt lesen konnten, dankenswer-
terweise von der Bundesregierung eingerichtet werden
soll.

Eine gute ärztliche Versorgung ist grundlegend dafür,
dass Probleme erkannt und behandelt werden können.
Der Zentrale Sanitätsdienst gibt mir jedoch Grund zur
Sorge. Um es kurz zu machen: Uns fehlen schlicht und
ergreifend Ärzte bei der Bundeswehr, um eine flächen-
deckende, lückenlose und auf die Bedürfnisse der Bun-
deswehr zugeschnittene Versorgung der Truppe gewähr-
leisten zu können.

Seit Jahren wird vom Wehrbeauftragten der akute
Handlungsbedarf angemahnt. Leider muss zu oft erst et-
was Schlimmes passieren, bis gehandelt wird. Ich wün-
sche der jüngst eingesetzten Kommission zur Überprü-
fung der Bundeswehr-Strukturen unter der Leitung von
Frank-Jürgen Weise viel Erfolg dabei, die vielen bekann-
ten Missstände und Defizite konsequent aufzuarbeiten,
und würde mich freuen, wenn im nächsten Jahresbericht
eine Verbesserung erkennbar wäre.

Nun möchte ich aber die heutige Gelegenheit natür-
lich nutzen, um unserem scheidenden Wehrbeauftragten
Reinhold Robbe zu danken. Lieber Reinhold, wir kennen
uns seit vielen Jahren, und deshalb weiß ich, wie wichtig
dir die Arbeit als Wehrbeauftragter des Deutschen Bun-
destages war und wie viel Engagement und Einsatz du
darin eingebracht hast. Du warst immer ganz dicht an
der Truppe dran. Dir waren die Unterkünfte genauso ver-
traut wie die Verpflegung und die Ausrüstung in den
Auslandseinsätzen. Du konntest einschätzen, wie die Si-
tuation der Truppe tatsächlich war.

Als Wehrbeauftragter warst du immer ein ernsthafter
Anwalt für die Belange der Soldatinnen und Soldaten.
Dabei hast du dich jedoch nie gescheut, Missstände
deutlich zu benennen und, wenn nötig, öffentlich zu ma-
chen. In den zurückliegenden Jahren hast du für unsere
Bundeswehr viel erreicht und ein echtes Interesse für die
einzelnen Soldaten bewiesen.

Lieber Reinhold, du hast darauf aufmerksam ge-
macht, dass in unserer Bundeswehr hochmotivierte und
qualifizierte Soldatinnen und Soldaten tagtäglich einen
harten Dienst leisten, für den sie unsere Anerkennung
verdienen. Deine Arbeit war ein Aushängeschild für un-
ser Parlament und ein Segen für unsere Soldatinnen und
Soldaten.

Dafür danke ich dir, deiner Mannschaft und deiner
Frauschaft im Namen, so glaube ich, aller Kolleginnen
und Kollegen nicht nur des Verteidigungsausschusses,
sondern auch des gesamten Parlaments sehr herzlich.
Wir wünschen dir für die Zukunft alles erdenklich Gute.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704016200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/900 an den Verteidigungsausschuss vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsiche-
rung

– Drucksachen 17/659, 17/953 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner

Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.

Interfraktionell wurde vereinbart, dass darüber eine
halbe Stunde diskutiert wird. – Ich sehe, auch damit sind
Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.

Ich darf nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen,
die der Debatte nicht folgen wollen, bitten, ihre Gesprä-
che vor dem Saal zu führen, damit wir uns auf die Red-
nerinnen und Redner konzentrieren können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Heike Brehmer für die Fraktion CDU/
CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1704016300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Wir behandeln den Antrag der





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)

Linken mit dem Titel „Weg mit Hartz IV“. In Ihrem An-
trag behaupten Sie, dass die Hartz-IV-Regelleistungen
verfassungswidrig sind. Sie haben offenbar das Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes nicht verstanden.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das steht da überhaupt nicht drin!)


Die Hartz-IV-Regelsätze sind vom Bundesverfassungs-
gericht in Karlsruhe nicht für verfassungswidrig erklärt
worden; es wurde mehr Transparenz gefordert.

Kolleginnen und Kollegen von den Linken, gerne ge-
ben wir Ihnen Nachhilfe, wenn Sie das Urteil noch im-
mer nicht verstehen, und wir können auch heute schon
klar sagen, wie wir vorgehen: Wir werden uns dann mit
den Regelsätzen im Plenum befassen, wenn im Septem-
ber die aktuellen Zahlen der Einkommens- und Ver-
brauchsstichproben vorliegen, und anschließend ein
transparentes und realitätsgerechtes Verfahren zur Be-
rechnung der Regelsätze gesetzlich fixieren. So viel zur
Klarstellung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Zur Erinnerung: Die Hartz-IV-Reform 2005 hatte das
Ziel, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzule-
gen und Leistungen aus einer Hand anzubieten. Vor der
Reform lebten circa 2,9 Millionen Bürger von Sozial-
hilfe. Der Sozialhilfesatz lag damals unter den jetzigen
Regelsätzen von Hartz IV.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Die Betroffenen hatten kaum Chancen, in den ersten Ar-
beitsmarkt integriert zu werden.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es! Es waren keine Instrumentarien da!)


Mit der Hartz-IV-Reform hat sich dies für die Betrof-
fenen grundlegend geändert. Im gleichen Augenblick er-
höhten sich die Regelsätze der Sozialhilfe um 16 Pro-
zent. Noch eine Zahl zum Vergleich: Im April 2005
hatten wir insgesamt 5 Millionen Arbeitslose, davon
circa 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger. Das waren
1,6 Millionen mehr als im April 2010. Unser Weg ist of-
fensichtlich erfolgreich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Von der Reform von Hartz IV hatten wir uns insge-
samt natürlich mehr versprochen. Es gibt noch immer
eine große Zahl von Langzeitarbeitslosen. Sie brauchen
noch Förderkonzepte, und daran arbeiten wir. Die Re-
form der Jobcenter wird jetzt kommen. Wir versprechen
uns davon mehr Vermittlung und Integration in den ers-
ten Arbeitsmarkt.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Man kann es nicht oft genug wiederholen – auch
wenn Sie es nicht hören wollen –: Die unionsgeführte
Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits viele
Programme zur Förderung von Langzeitarbeitslosen auf
den Weg gebracht, zum Beispiel den Beschäftigungszu-
schuss für Langzeitarbeitslose, den Jobbonus, die JobPer-
spektive sowie den Qualifizierungskombi zur Verbesse-
rung der Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25.
Unsere Entscheidungen in der Krise waren richtig.
Schauen Sie nach Europa, dann sehen Sie, was ich
meine.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Minister Karl-Josef Laumann hat heute Morgen die
Erfolge der Arbeitsmarktpolitik in Nordrhein-Westfalen
dargestellt. Allein in Nordrhein-Westfalen konnte die
Arbeitslosenzahl in den letzten fünf Jahren um über
230 000 gesenkt werden. Gleichzeitig sind über 290 000
neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden.
Das müssen Sie in Berlin erst einmal nachmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Meine Damen und Herren von der Linken, in Ihrem
Antrag verkennen Sie die unterschiedlichen Arbeits-
marktsituationen in den einzelnen Bundesländern. Sie
ignorieren auch die Bemühungen der Länder, durch die
Arbeitslosen und Hilfebedürftigen gezielt geholfen wird.
Der Deutsche Landkreistag hat aufgezeigt, dass ange-
sichts der erheblichen Unterschiede bei der Hilfebedürf-
tigkeit nach SGB II zwischen den Bundesländern eine
stärkere Ausrichtung der Bemühungen auf die örtlichen
Rahmenbedingungen notwendig ist. Nur ein Beispiel: In
Bayern und Baden-Württemberg beträgt die Hilfebe-
dürftigkeit weniger als ein Viertel der Quote Berlins, das
den höchsten Wert aufweist. Werte Kolleginnen und
Kollegen der Linken, tragen Sie nicht die Regierungs-
verantwortung in Berlin? Ist es nicht Ihre Senatorin, die
das zu verantworten hat?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gucken Sie doch mal nach Mecklenburg-Vorpommern!)


Die Fraktion der Linken fordert in ihrem Antrag mehr
öffentliche Beschäftigung und gut bezahlte Arbeit. In
Brandenburg und Berlin, wo Sie mitregieren, stimmen
Sie der Streichung von 11 000 Stellen im öffentlichen
Dienst zu.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ja ungeheuerlich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)


Wie verträgt sich das mit Ihren Forderungen nach mehr
öffentlicher Beschäftigung? Sie predigen Wasser und
trinken Wein und lösen keinesfalls die Probleme in unse-
rem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden im Rahmen einer Aktivierungs- und Ver-
mittlungsoffensive mit innovativer Förderung gezielt die
Beschäftigungschancen wichtiger Zielgruppen erhöhen.
Insbesondere junge Menschen, Alleinerziehende und äl-
tere Leistungsempfänger sollen von gezielten und konse-
quent verstärkten Integrationsbemühungen profitieren.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, sollen!)






Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)

Mithilfe einer intensiven und individuell zugeschnitte-
nen Betreuung werden wir dafür sorgen, dass den Men-
schen aus den betroffenen Personengruppen der dauer-
hafte Ausstieg aus dem Leistungsbezug deutlich
häufiger und schneller gelingen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Die Arbeitsplätze fehlen!)


Deshalb werden wir die Bürgerarbeit realisieren. Sie se-
hen: Wir handeln. Sie aber versprechen auf den Plaka-
ten: Reichtum für alle.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, das ist doch schön, oder? – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Reichtum für alle und nicht nur für wenige!)


Wir handeln verantwortungsbewusst. Wir lehnen Ihren
Antrag daher ab.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704016400

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Angelika

Krüger-Leißner das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1704016500

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Debattentag
rankt sich von früh bis spät um das Thema Grundsiche-
rung. Ich finde, das ist auch gut so. Denn es ist für
6,5 Millionen Menschen in unserem Land eine wahrhaft
existenzielle Frage.

Heute Morgen ging es zunächst einmal um die zu-
künftige Organisation der Grundsicherung vor Ort. Der
mühsam erarbeitete Kompromiss, den die Ministerin
nun vorlegen konnte, hat seine Blessuren bereits weg,
und zwar noch bevor er intensiv beraten und von Exper-
ten hinterfragt werden konnte. Gerade die Verbesserung
in der Beratung, in der Betreuung und in der Vermittlung
von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen war und ist eines
der Herzstücke von Hartz IV. Dafür brauchen wir ausrei-
chend und gut qualifizierte Mitarbeiter, die in der Lage
sind, kontinuierlich zu arbeiten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich glaube, Sie haben die falsche Rede, Frau Kollegin! Das ist die von heute Morgen!)


Umso peinlicher und unverständlicher ist, dass Sie,
werte Kollegen der Regierungsfraktionen, den 3 200 Mit-
arbeitern mit befristeten Arbeitsverträgen diesen Rück-
halt nicht geben wollen.


(Otto Fricke [FDP]: Das ist die Rede von heute morgen!)


Wir schließen die heutige Debatte mit der Beratung
des Antrags der Fraktion Die Linke ab. In gewohnt
populistischer Manier wird wieder einmal gefordert:
weg mit Hartz IV.


(Otto Fricke [FDP]: Nein! Der Weg mit Hartz IV!)


Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfrak-
tion, ist die Entwicklung der letzten Jahre wirklich gänz-
lich an Ihnen vorbeigegangen?


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Natürlich! Die leben auf einem anderen Stern!)


Machen Sie sich das in dieser Form nicht einen Tick zu
einfach? Es lohnt sich nämlich, in diesem Zusammen-
hang den IAB-Bericht zur Bilanz von fünf Jahren
SGB II gründlich zu lesen und die richtigen Schlussfol-
gerungen daraus zu ziehen, um die Weichen zukünftig
besser zu stellen. Wenn man diesen Bericht ganz kritisch
liest, dann kommt man jedoch nicht daran vorbei, zur
Kenntnis zu nehmen, dass diese Reform notwendig war
und in die richtige Richtung ging.

Ich möchte an dieser Stelle dennoch sagen: Es gibt
Licht, aber es gibt auch Schatten.


(Otto Fricke [FDP]: Das ist immer so! Es sei denn, man ist im Weltall!)


Ich möchte beides erwähnen und für meine Fraktion die
richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Zu der
Lichtseite gehört die Tatsache, dass die Zahl der er-
werbsfähigen Hilfebedürftigen seit 2006 kontinuierlich
zurückgegangen ist. Das ist Fakt. Es reicht aber über-
haupt nicht aus. Wir müssen uns nur einmal die Situation
von alleinerziehenden Frauen oder Hilfebeziehern über
55 Jahre anschauen. Die aktivierende Arbeitsmarktpoli-
tik soll helfen, die gesellschaftliche Teilhabe zu sichern.
Daran, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am besten
über Teilhabe am Erwerbsleben erreichen lässt, gibt es
keinen Zweifel.

Wir können feststellen, dass die Teilnahme an arbeits-
marktpolitischen Maßnahmen im SGB-II-Bereich
generell zu einer Verbesserung der individuellen Einglie-
derungschancen beigetragen hat. Wir wissen, arbeits-
marktnahe Instrumente sind effektiv. Das gilt für
Eingliederungszuschüsse, betriebliche Trainingsmaß-
nahmen und auch für die Förderung der beruflichen Wei-
terbildung. Wir wissen aber auch, dass die Betreuung
und Aktivierung allzu oft nicht individuell angepasst
war. An dieser Stelle sehen wir enorme Reserven.

Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die
überspitzte Kritik am SGB II generell verfehlt ist.
SGB II bedeutet nicht Armut per Gesetz. Es hat für die
Betroffenen aber einschneidende Veränderungen ge-
bracht. Zudem gab es Ungerechtigkeiten, die bei der
Umsetzung zutage getreten sind. Diese Schwachstellen
müssen wir beseitigen. „Weg mit Hartz IV“ löst die Pro-
bleme aber nicht. Nur die gezielte Veränderung dieser
Problempunkte kann uns weiterhelfen. Drei davon
möchte ich benennen.

Erstens. Wir stimmen mit dem Antragsteller durchaus
überein, dass mit der Grundsicherung das menschenwür-





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)

dige Existenzminimum sicherzustellen ist. Hier muss
nachgebessert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist auch ganz klar der Auftrag durch das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts. Die Regelsätze müssen
transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Das
muss kommen, genauso wie eine grundlegende Neu-
berechnung der Regelsätze für die Kinder. Ich bin
überzeugt, dass sich die Regelsätze auch in der Höhe
verändern werden. Bei der kürzlich getroffenen Härte-
fallregelung hat die Regierungskoalition leider den Auf-
trag des Bundesverfassungsgerichtes nicht erfüllt. Ich
bedauere das. Nun haben wir eine Regelung, die schon
eine Woche später durch eine Entscheidung des Sozial-
gerichts Detmold überholt wurde. Ich versichere Ihnen:
Das wird so weitergehen. Unser Vorschlag war wesent-
lich näher an der Praxis und an den Erwartungen der Be-
troffenen.

Zweitens möchte ich etwas zu Ihrer Forderung nach
einem gesetzlichen Mindestlohn sagen. Diese Forderung
ist nicht neu. Jeder weiß, dass wir uns hierfür schon
lange einsetzen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht so lange wie wir, aber immerhin!)


Aber überzogene Forderungen wie die in Ihrem Antrag
nach einem Mindestlohn von 10 Euro lehnen wir ab. Wir
setzen uns für einen Mindestlohn von 8,50 Euro ein.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt bei 7,50 Euro angefangen!)


Darin sind wir uns mit dem Deutschen Gewerkschafts-
bund einig. Unser Antrag belegt das. Es steht ohnehin
außer Frage: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn
ist notwendig. Es ist an der Zeit, dass wir ihn in diesem
Land haben.

Drittens möchte ich Ihre Forderung nach einem
öffentlichen Programm für zusätzliche Arbeitsplätze an-
sprechen. Auch das ist nicht neu. Es gibt ein hervorra-
gendes Beispiel aus meinem Bundesland. In Branden-
burg wird mit dem Programm „Qualifizierung und
Arbeit für Brandenburg“ derzeit der öffentliche Arbeits-
markt qualitativ und quantitativ ausgebaut. Wer bislang
eher geringe Vermittlungschancen hatte, benötigt in be-
sonderem Maße staatliche Unterstützung. Das heißt ver-
besserte Qualifizierung, um Langzeitarbeitslose für den
ersten Arbeitsmarkt zu befähigen und fit zu machen. Der
öffentliche Arbeitsmarkt bringt soziale Integration,
stärkt darüber hinaus die regionale Wirtschaft und kann
auch für den Ausbau der kommunalen Infrastruktur
durch ergänzende und unterstützende Tätigkeiten sor-
gen. Arbeit zu finanzieren statt reine Fürsorge, ist richtig
und allemal besser, als nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD)


Dafür haben wir Brandenburger bis 2014 immerhin bis
zu 40 Millionen Euro vorgesehen.

Es gibt noch aus einem anderen Bundesland einen
ähnlichen Vorstoß. Ich erinnere daran, dass Hannelore
Kraft diesen gemacht hat. Er geht in die gleiche Rich-
tung.

(Zuruf von der FDP: Der Name musste ja jetzt fallen, Frau Kollegin!)


– Ganz zufällig! – Statt der unsinnigen Diskussion à la
Westerwelle über Kürzungen der Regelsätze brauchen
wir bessere Angebote auf dem sozialen Arbeitsmarkt.


(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Wann hat denn Herr Westerwelle das gesagt?)


Die Zahl der Angebote muss deutlich ausgebaut werden;
darauf hat Hannelore Kraft hingewiesen. Es ist kein Ge-
heimnis: Ich drücke ihr die Daumen, dass sie ihre Vor-
stellungen umsetzen kann.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum Schluss. Der Bericht des IAB hat uns
zu verschiedenen Fragen Hausaufgaben aufgegeben, die
wir in den nächsten Wochen erledigen müssen, und zwar
gerade in Bezug auf bestimmte Personengruppen, die
besonders benachteiligt sind. Ich denke an Geringquali-
fizierte und eingeschränkt Beschäftigungsfähige, aber
auch an Alleinerziehende und Bedarfsgemeinschaften,
die schon lange in der Grundsicherung sind. Wir haben
dieses Jahr viel zu tun, angefangen von der Neuordnung
der Jobcenter über die Neubemessung des Regelsatzes
bis hin zur Veränderung auf dem Arbeitsmarkt. Unser
Ziel ist, Menschen in Beschäftigung zu bringen, den
Weg dorthin zu ebnen und ihnen echte, wahre Teilhabe
in dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Packen wir es an!


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704016600

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1704016700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Hier!)


Ihr Antrag belegt, wie ich meine, zweierlei: Erstens. Sie
haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
9. Februar dieses Jahres nicht verstanden.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Völlig falsch! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr wahr! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gar nicht gelesen!)


Zweitens. Ihr Antrag zeigt ein Bild von Sozialpolitik,
dass man geneigt ist, zu glauben, dass Sie von sozial-
politischer Verantwortung überhaupt nichts verstanden
haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber Sie, ja? Gerade Sie! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Und Sie sind die geballte soziale Kompetenz!)


– Die Wahrheit scheint Sie in Erregung zu versetzen.





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Zum Ersten. Sie haben das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht verstanden. Sie fordern in Ihrem An-
trag pauschal die Erhöhung der Regelsätze auf 500 Euro
im Monat. Genau dieser Politik hat das Bundesverfas-
sungsgericht eine Absage erteilt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ausdrücklich kritisiert das Bundesverfassungsgericht
– ich zitiere – „Schätzungen ‚ins Blaue hinein‘“, die der
Festsetzung der Regelsätze im Jahr 2005 zugrunde lie-
gen. Genau diese Politik, die das Bundesverfassungsge-
richt gerade erst verworfen hat, setzen Sie mit Ihrem An-
trag fort, indem Sie einen Regelsatz von 500 Euro ins
Blaue hinein schätzen, ohne jegliche Begründung.

Ausdrücklich stellt das Bundesverfassungsgericht
fest, der Gesetzgeber habe – jetzt zitiere ich wieder –

die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Exis-
tenzminimums im Gesetzgebungsverfahren einge-
setzten Methoden und Berechnungsschritte nach-
vollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht
hinreichend nach, steht die Ermittlung des Exis-
tenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht
mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.

Genau das haben Sie mit Ihrem Antrag jetzt wieder
vorgelegt: Schätzungen ins Blaue hinein. Sie fordern ei-
nen Regelsatz von 500 Euro, sind aber nicht in der Lage,
ihn zu begründen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was
Sie vorgelegt haben, kann nach dem 9. Februar dieses
Jahres nicht Ihr Ernst sein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch!)


Nun zum Zweiten. Mit Ihrem Antrag zeigen Sie, wie
ich finde, dass Sie von Sozialpolitik nicht wirklich etwas
verstehen. Ziel der Sozialpolitik im Bereich der Lang-
zeitarbeitslosigkeit muss es sein, dass wir den betroffe-
nen Menschen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt
eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist mir völlig schleier-
haft, wie Sie einen flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohn von 10 Euro fordern können.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswegen ja!)


Das würde Arbeitsplätze gefährden,


(Widerspruch bei der LINKEN)


auf die gerade langzeitarbeitslose Menschen angewiesen
sind.

Darauf hat nicht zuletzt der Sachverständigenrat zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in einem
Gutachten unter ausdrücklicher Einbeziehung der Erfah-
rungen aus dem Ausland, wo es bekanntlich zum Teil
Mindestlöhne gibt, hingewiesen. Nach Auskunft des
Sachverständigenrates hat schon ein flächendeckender
gesetzlicher Mindestlohn von 7,50 Euro – das sage ich
auch an die Adresse der SPD – eine negative Beschäfti-
gungswirkung.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
wem die betroffenen Menschen wirklich wichtig sind,
der geht nicht das Risiko des Arbeitsplatzabbaus ein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was die betroffenen Menschen wirklich brauchen, ist
eine Politik, die ihnen in schwierigen Situationen zur
Seite steht, und nicht eine Politik, die ihnen in schwieri-
gen Situationen im Weg steht. Wir als christlich-liberale
Koalition wollen den Menschen mit unserer Politik
Chancen eröffnen.


(Zurufe von der LINKEN: Oh ja! – Das sieht man!)


Wir möchten sie zur Teilhabe befähigen. Wir möchten
ihnen die Chance auf ein Leben in Eigenverantwortung
und Solidarität eröffnen. Wir werden deshalb eine Poli-
tik wie die der Linken verhindern, die einen Teil der
Menschen dauerhaft aus der Mitte der Gesellschaft aus-
schließt und in der Abhängigkeit staatlicher Fürsorge-
systeme gefangen hält.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)


Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linkspartei, hat mit sozialer Verantwortung und sozialer
Gerechtigkeit nichts zu tun. Ich fühle mich in meinen
Ausführungen durch Ihre Aufregung am heutigen Abend
durchaus bestätigt. Die Wahrheit tut manchmal weh.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist ja spätrömische Dekadenz!)


Ihre Politik hat mit sozialer Kompetenz nichts zu tun.
Deshalb lehnen wir Ihren Antrag im Sinne der betroffe-
nen Menschen ab und stimmen der Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704016800

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Matthias

W. Birkwald das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704016900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Wir erleben derzeit nicht allein eine
Wirtschafts- oder eine Finanzkrise.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sondern eine Krise des Denkens!)


Wir erleben eine umfassende Krise des gesellschaft-
lichen Zusammenhalts, Herr Zimmer. Banken und





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)

Spekulanten werden mit Milliarden gehätschelt und
Hartz-IV-Betroffene für ein paar Kröten gegängelt. Das
ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit!


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Also doch eine Krise des Denkens bei Ihnen!)


Acht Jahre ist das Hartz-Konzept bald alt, und im
Kern heißt es: Die Erwerbslosen wollen nicht arbeiten.
Das war schon damals falsch. Heute Morgen hat NRW-
Arbeitsminister Laumann hier im Plenum doch zugege-
ben: Es gibt nicht genug Arbeitsplätze; das ist das Pro-
blem.


(Beifall bei der LINKEN)


Es mangelt an guter Arbeit, nicht am Willen zu arbeiten.
Die meisten Hartz-IV-Betroffenen sind aktiv. Sie arbei-
ten, betreuen kleine Kinder oder nehmen an Beschäfti-
gungsmaßnahmen teil. Weniger als die Hälfte sind
tatsächlich arbeitslos, und 90 Prozent von ihnen wollen
dringend arbeiten. Nicht die Arbeitsmoral ist das Pro-
blem, sondern das Fehlen von Millionen Arbeitsplätzen.
Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Erwerbslosen die Schuld für ihre Situation in die
Schuhe zu schieben, ist erbärmlich. Dieser Grundansatz
von Hartz IV ist ein Angriff auf die Würde der Men-
schen. Darum sage ich: Nicht allein die einzelnen Re-
gelungen, nicht allein das Gesetz, nein, die gesamte
Hartz-IV-Denke ist komplett falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Herr
Kober, von Ihnen höre ich immer: Die Menschen sollen
Verantwortung für sich selbst übernehmen.


(Pascal Kober [FDP]: Und für andere!)


Was heißt das konkret für Hartz-IV-Betroffene? Was ist denn
daran verantwortungsbewusst, sich in einem 1-Euro-Job
über alle Maßen ausbeuten zu lassen? Was ist daran ver-
antwortungsvoll, zu jeder Zumutung Ja und Amen sagen
zu müssen? Wer von Eigenverantwortung spricht, darf
doch zur Entscheidungsfreiheit nicht schweigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Was dürfen die Betroffenen im Hartz-IV-System denn
entscheiden? Sie dürfen nichts entscheiden, rein gar
nichts. „Klappe halten und setzen“, das ist das Motto von
Hartz IV. Die Betroffenen haben nichts zu melden und
sollen doch für alles die Verantwortung tragen. Das ist
unzumutbar, schäbig, und es ist respektlos.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur wer Nein sagen darf, kann frei für sich selbst ent-
scheiden. Doch was passiert, wenn Hartz-IV-Betroffene
Nein sagen? Sie werden abgestraft. Ihnen wird so lange
das Geld gekürzt – im Extremfall wird es sogar ganz
gestrichen –, bis sie gefügig und willig sind. Solche
Sanktionen führen zu Ängsten, Druck und Widerstand,
und das lehnen wir Linken ab.

(Beifall bei der LINKEN)


Wir sagen – ich habe das an diesem Pult schon einmal
gesagt –: Sozial ist, was Würde schafft. Darum will die
Linke eine soziale Mindestsicherung für alle Menschen,
die über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen
verfügen, um ihren Mindestbedarf zu decken. Wir wol-
len eine Mindestsicherung ohne Drohgebärden, ohne
Sanktionen und ohne Angst der Betroffenen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und wie hoch soll die sein? Sagen Sie einmal eine Zahl!)


Das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum darf
nicht unterschritten werden, Herr Kolb. Überschritten
werden darf es schon. Das gilt auch für die Flüchtlinge,
die hier leben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katja Kipping [DIE LINKE]: Das stand auch im Urteil!)


Die Gegenwart sieht leider noch anders aus: Billige
und willige Arbeitskräfte, das ist das wirkliche Ziel von
Hartz IV. Es ist kein Zufall, sondern politisch gewollt,
dass ausgerechnet die 1-Euro-Jobs das Instrument im
Hartz-IV-System sind, das mit großem Abstand am häu-
figsten eingesetzt wird. Wir reden hier nicht mehr nur
über 1-Euro-Jobs. In Nordrhein-Westfalen gibt es schon
längst 0-Euro-Jobs. Ich habe hier einen konkreten Fall
aus meinem Wahlkreis vorliegen, ein Angebot der Arge
Köln – ich zitiere –: 0 Euro für 38,5 Stunden pro Woche
und die zusätzliche Auflage, sich zu bewerben. Ich sage:
Das ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir Linke wollen wirkliche soziale Sicherheit und
gute Arbeit. Wir wollen tariflich bezahlte Jobs mit So-
zialversicherung und ohne Zwang zur Arbeit. Wir strei-
ten für eine soziale Mindestsicherung in Höhe von
500 Euro und für einen gesetzlichen Mindestlohn in
Höhe von 10 Euro.


(Pascal Kober [FDP]: Eine Schätzung ins Blaue hinein!)


Wir wollen, dass die Betroffenen endlich wirklich etwas
zu entscheiden haben und die Finanzinstitute zur Verant-
wortung gezogen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen eine Mindestsicherung, die Würde schafft.
Deswegen sagen wir: Hartz IV muss weg.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704017000

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704017100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Birkwald, im Sozialgesetzbuch II gibt es in der Tat
eindeutig Änderungsbedarf. Nach unseren grünen Vor-
stellungen kommt es vor allen Dingen darauf an, das
Fördern unter Beteiligung der Menschen zu organisie-
ren,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


das heißt, die Menschen mit ihren Fähigkeiten, Bedürf-
nissen und eigenen Vorstellungen ernst zu nehmen.

Es geht darum, den defizitorientierten Ansatz zu über-
winden. Wir müssen davon wegkommen, immer nur die
Mängel zu sehen. Fähigkeiten und Potenziale müssen in
den Mittelpunkt gestellt werden. Es geht auch um die
Überwindung der obrigkeitsstaatlichen Elemente, die
sich auch im Sozialgesetzbuch II finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir schlagen dazu sehr konkrete Maßnahmen vor.
Zum Beispiel wäre es ein Leichtes, die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs wieder einzuführen. Das
würde nebenbei auch zu mehr Rechtstreue im Verwal-
tungshandeln führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eingliederungsvereinbarungen sollten nur auf freiwil-
liger Basis geschlossen und nicht als Verwaltungsakt
verhängt werden können.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es wäre absolut sinnvoll, ähnlich wie in anderen Sozial-
gesetzbüchern ein sogenanntes Wunsch- und Wahlrecht
einzuführen, das den Menschen, die Hilfebedarf haben,
ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumt, statt sie in
Maßnahmen wie 1-Euro-Jobs zu zwingen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Solange das nicht durchgesetzt ist, treten wir, Bünd-
nis 90/Die Grünen, für ein Aussetzen der Sanktionen
und des Sanktionsparagrafen ein.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht auch um eine vernünftige Ausgestaltung der
sogenannten passiven Leistungen, das heißt der Regel-
sätze. Wir haben mehrfach an dieser Stelle und im gan-
zen Land die Anhebung der Regelsätze für Erwachsene
und die Einführung einer Kindergrundsicherung gefor-
dert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber erst, nachdem ihr nicht mehr regiert habt!)


Es geht auch darum, dass wir im Lichte der Erfahrun-
gen und auch der Rechtsprechung die passiven Leistun-
gen an die Lebenswirklichkeit anpassen. Es geht nicht
an, dass das Bundessozialgericht wie in seinem heutigen
Urteil feststellt, dass Eltern eines behinderten Kindes
keinen Anspruch auf Mehrbedarf haben. Die Eltern
eines entwicklungsverzögerten sechsjährigen Kindes,
das nicht gehen kann, beantragen Mehrbedarf, weil sie
einen erhöhten Transportbedarf haben, und das Bundes-
sozialgericht sagt, das sei kein Sozialgesetz, sondern ein
Arbeitsmarktgesetz, und darum stehe der Mehrbedarf
nur Menschen im erwerbsfähigen Alter zu.

Das sind Lücken und Mängel, die dramatische Konse-
quenzen für die betroffenen Personen haben. Das muss
geändert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Es geht uns auch um eine aktive Förderung, die nicht
nur kurzfristig angelegt ist, sondern auch langfristige
Perspektiven eröffnet. Ich blicke mit Sorge auf Ihr Pro-
gramm der sogenannten Sofortangebote für Jugendliche
unter 25 Jahre. Praktikerinnen und Praktiker in den Job-
centern sagen, dass es vielleicht sinnvoller ist, die Mittel
zu konzentrieren, weil wir nicht jedem ein gleich gutes
Angebot machen können. Wir sollten versuchen, konkret
etwas zu erreichen, statt nur statistische Effekte über
eine höhere Aktivierungsquote zu erzielen.

Es gibt in der Tat viele Punkte, in denen wir überein-
stimmen würden, Herr Birkwald und meine Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, aber in Ihrem Antrag
überziehen Sie in einer Reihe von Punkten leider wieder
maßlos. Haarsträubend ist zum Beispiel der Ansatz, den
Regelsatz einfach auf 500 Euro festzusetzen und das
Prinzip der Bedarfsgemeinschaft aufzulösen. Das führt
doch zu bizarren Situationen. Nach Ihrer Berechnung
bekäme ein vierköpfiger Haushalt 2 000 Euro netto plus
etwa 1 000 Euro Miete, also 3 000 Euro insgesamt.
Damit diskreditieren Sie ernstzunehmende Kritik, indem
Sie weit über das Ziel hinausschießen.

Die Linke betreibt damit – vielleicht, ohne es zu wol-
len – objektiv das Geschäft derer, die das SGB II eben
nicht im Sinne der Betroffenen verbessern wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit solchen unrealistischen Forderungen und einem sol-
chen Aufpumpen erschweren Sie eine sachliche und
machbare, lösungsorientierte Debatte. Darum müssen
wir Ihren Antrag ablehnen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704017200

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul

Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1704017300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!

Werte Kollegen! Lieber Kollege Birkwald, ich war ge-
neigt, zu sagen, dass wir Ihrem Antrag „Weg mit
Hartz IV – Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie,
bedarfsdeckende Mindestsicherung“ zustimmen können.
Die Begrifflichkeit „Hartz IV“ ist nicht so toll und kann
weg, aber das SGB II behalten wir.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich sage ja: Jetzt wird es lustig!)


Es wurde bereits von den Vorrednern ausgeführt, dass
es bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den
Regelsätzen im SGB-II-Bereich um das Verfahren zu
deren Herleitung und ausdrücklich nicht um die Höhe
geht. Das Bundesverfassungsgericht hat an keiner Stelle
in dem eingangs genannten Urteil ausgeführt, dass die
Regelsätze zu niedrig sind. Wir müssen sie neu berech-
nen. Wir sind im Begriff, das zu tun. Das wissen Sie bei
der christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Sie
dürfen uns im Ausschuss begleiten, aber wir werden das
letztendlich schon hinbekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ihr verhängnisvoller Fehler wurde auch schon vom
Kollegen Kurth angeprangert. Ein pauschaler Regelsatz
von 500 Euro hilft uns auch nicht weiter. Mit der von Ih-
nen geforderten Regelung würden wir genauso verfas-
sungswidrig handeln, wie uns im Urteil vom 9. Februar
bestätigt worden ist. Liebe Freunde, kommen Sie auf den
Boden der Realität zurück! Streuen Sie den Leuten kei-
nen Sand in die Augen! Versuchen Sie, eine konstruktive
Lösung für den SGB-II-Bereich hinzubekommen!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe das Gefühl, dass fast alle in diesem Saale ver-
standen haben, welche Konsequenzen aus dem Urteil
des Verfassungsgerichts zu ziehen sind, nur die Linken
nicht. Die wollen es nicht verstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn es Ihnen wirklich um die Sache gehen würde, wür-
den Sie konstruktiv mit uns zusammenarbeiten und nicht
von der Überwindung des, wie Sie es nennen, repressi-
ven Hartz-IV-Systems schwadronieren. Die Oktoberre-
volution war vor 90 Jahren. Der real existierende Sozia-
lismus ist seit 20 Jahren Geschichte. Rein von der
physischen Präsenz her, lieber Herr Birkwald, sind Sie
mittlerweile in der parlamentarischen Demokratie des
Jahres 2010 angekommen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die sind noch nicht angekommen!)


Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zu Ihren einzelnen Punkten: Frau Kipping hat heute
Morgen ausgeführt, heute Abend komme die Lösung für
den SGB-II-Bereich. Ich habe heute Abend nichts fest-
stellen können, was diese Euphorie rechtfertigen würde.

Das Bundesverfassungsgericht hat zu den Regelsät-
zen geurteilt:

Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuches
Zweites Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1
Abs. 1 GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz
der Erwerbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem
Hilfebedürftigen schnell zur Sicherung seiner eige-
nen Existenz zu verhelfen.

Das heißt im Klartext: Fordern und Fördern. Der Grund-
satz „Fordern und Fördern“ ist explizit in der Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts als Ziel festgestellt
worden. Das, was Sie, die Linken, als sogenannten Sank-
tionsparagrafen im SGB II ersatzlos streichen wollen,
hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als statt-
haft bezeichnet. Das Urteil unterstreicht die Richtigkeit
der Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist keine Rede davon, zu ali-
mentieren und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu
gewähren, ohne Eigenverantwortung zu fordern. Das
Ziel der Grundsicherung ist nicht, dass Menschen dauer-
haft abhängig von staatlichen Leistungen bleiben sollen.
Sie sollen vielmehr so lange unterstützt werden, bis sie
wieder selbst auf eigenen Beinen stehen können. Das
wollen wir tun, dahin bewegen wir uns. Wir wollen nicht
Arbeitslosigkeit, sondern wir wollen die Wiedereinglie-
derung in sozialversicherungspflichtige Arbeit fördern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das versucht ihr seit Jahren!)


Zu dem von Ihnen, Herr Birkwald, geforderten öffent-
lichen Beschäftigungsbereich: Die Linke fordert ein so-
genanntes öffentliches Zukunftsprogramm, das 2 Millio-
nen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen soll, davon 500 000
öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse. Die
Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung ist
nicht der richtige Weg zur Bewältigung der Wirtschafts-
krise. Wir haben im Südosten Europas ein Land, dessen
Name in den letzten Tagen hier sehr oft gefallen ist, in
dem der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst
bei über 25 Prozent liegt. Dieses Land hat erhebliche fi-
nanzielle Schwierigkeiten, und diesem Land müssen wir
jetzt helfen. Dieser Weg führt in die Sackgasse. Dieser
Weg ist kein probates Mittel, um aus der Krise zu kom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vorrang hat bei unserer Bundesregierung vielmehr die
Sicherung der bestehenden Arbeitsplätze. Unter anderem
wollen wir dazu das Instrument des Kurzarbeitergeldes
als Bestandteil der Konjunkturpakete I und II weiterent-
wickeln. Die Arbeitsmarktpolitik der christlich-liberalen
Koalition kann die Bewältigung der Wirtschaftskrise le-
diglich flankieren, sie kann sie nicht komplett ungesche-
hen machen. Bereits jetzt werden Maßnahmen der öffent-
lich geförderten Beschäftigung flexibel eingesetzt.






(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704017400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Wunderlich?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1704017500

Eigentlich wollte ich das nicht, aber in Anbetracht des

großen Auditoriums kann ich dem Kollegen Wunderlich
diese Show nicht verwehren.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704017600

Bitte sehr.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704017700

Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. – Sie betonen

in Ihrer Rede – auch seitens der FDP wird das gerne
gemacht – immer, wie christlich-liberal die Koalition
und die Politik derselben ist. Von den Grünen ist schon
der Fall, der vor dem Bundessozialgericht in Kassel ver-
handelt wurde, erwähnt worden. Können Sie dem Arti-
kel der Frankfurter Rundschau vom heutigen Tage zu-
stimmen, in dem auf diese Entscheidung angespielt wird
und in dem es heißt:

Rechtssystematisch ist den Richtern kein Vorwurf
zu machen. Wir schlagen den Politikern, die diesen
Blödsinn verzapft haben, mit Freude das Gesetz um
die Ohren und verlangen, dass der Missstand end-
lich behoben wird.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1704017800

Lieber Kollege Wunderlich, die von Ihnen zitierte

Terminologie zeigt, dass es sich ausschließlich um eine
subjektive Wahrnehmung handelt. Für mich ist viel
wichtiger, was im Urteil steht, als das, was ein Journalist
da versucht hineinzulesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Allein „Politikern um die Ohren schlagen“, das ist eine
Ausdrucksweise, die hier in der christlich-liberalen Ko-
alition gänzlich unbekannt ist.


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der war gut!)


– Herr Birkwald, Sie hatten vorhin ausgeführt, dass die
Weiterentwicklung der 1-Euro-Jobs ein verhängnisvoller
Fehler sei. Sie haben dem geneigten Auditorium natür-
lich verschwiegen, dass es sich nicht um 1-Euro-Jobs,
sondern in der Regel – je nach der Höhe der Grundleis-
tungen – um 4-, 5-, 6- oder 7-Euro-Jobs handelt. Dieser
Betrag wird zusätzlich zu den Sozialleistungen bezahlt.
Das sollte man den Leuten gelegentlich auch mal erzählen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Richtig!)


Herr Kollege Birkwald, Sie zitieren die Arge Köln
und vergießen hier Krokodilstränen darüber, dass in
Köln für 0 Euro gearbeitet werden muss. Ich bitte Sie,
schauen Sie mal nach Köln. Wer regiert in Köln? – In
Köln haben wir stabile rot-rot-grüne Verhältnisse, Herr
Birkwald.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben wir nicht!)


Meine Damen und Herren, es gäbe noch einiges zum
Mindestlohn zu sagen. Darüber haben wir schon zigmal
diskutiert. Sie wollen die alten, unprobaten Mittel, die
uns in die wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen wür-
den, in denen andere Länder Europas bereits sind. Das
wollen wir nicht. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.

Einen schönen Abend. Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704017900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti-
tel „Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/953, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/659 abzulehnen. Wir stimmen nun
über die Beschlussempfehlung namentlich ab.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann er-
öffne ich die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Abstimmung geschlossen.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-
mung wird Ihnen dann später bekannt gegeben.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
Ihre Gespräche vor dem Saal weiterzuführen, damit wir
die Beratung fortsetzen können.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP

Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset-
zung des Europäischen Parlamentes nach
Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon
hier: Stellungnahme des Deutschen Bun-

destages nach Artikel 23 Absatz 3 GG
i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-
sammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angele-
genheiten der Europäischen Union

1) Ergebnis Seite 3912 C





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Vorschlag der spanischen Regierung für die
Änderung der Verträge in Bezug auf die
Übergangsmaßnahmen betreffend die Zu-
sammensetzung des Europäischen Parla-
ments – Herstellung des Einvernehmens
über die Aufnahme von Verhandlungen
über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48
EUV

– Drucksachen 17/1179, 17/235, 17/1460 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Axel Schäfer (Bochum)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Änderung der Verträge – Übergangsmaßnah-
men betreffend die Zusammensetzung des Eu-
ropäischen Parlaments

– Drucksache 17/1417 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Veränderung der Zusammensetzung des Euro-
päischen Parlaments in der laufenden Wahlpe-
riode

– Drucksache 17/1568 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Heinz Golombeck das Wort für die
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heinz Golombeck (FDP):
Rede ID: ID1704018000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Vertrag von Lissabon ist am 1. Dezember
2009 und somit nach den Wahlen zum Europäischen
Parlament vom Juni 2009 in Kraft getreten. Die Be-
schlüsse des Vertrages sehen vor, dass die Zahl der Ab-
geordneten des Europäischen Parlaments von 12 Mit-
gliedstaaten um insgesamt 18 Mandate erhöht wird.
Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordneten
vorübergehend bis zum Ende der Legislaturperiode im
Jahr 2014 von 736 auf 754.

Die Staats- und Regierungschefs haben sich politisch
darauf verständigt, diese Änderung möglichst bereits
während des Jahres 2010 in Kraft zu setzen. Dass wir
heute über die Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset-
zung des Europäischen Parlaments im Deutschen Bun-
destag debattieren können, ist eine Errungenschaft aus
dem Lissabonner Vertrag.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist einer der ersten Anwendungsfälle der neuen
Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung
nach dem Begleitgesetz, nämlich nach § 10 EUZBBG.
Darum hat der Bundestag hier großen Wert darauf ge-
legt, frühzeitig von der Bundesregierung unterrichtet zu
werden, um am Entscheidungsprozess voll beteiligt zu
werden.

Die Koalitionsfraktionen möchten der Einberufung
einer Regierungskonferenz zu Verhandlungen, die Über-
gangsbestimmungen zur Zusammensetzung des Euro-
päischen Parlaments betreffend, zustimmen. Sie halten
allerdings den spanischen Vorschlag zur Anpassung der
Sitzzahl im Europäischen Parlament für problematisch,
soweit Abgeordnete aus der Mitte der nationalen Parla-
mente nachbenannt werden sollen. Dieses Verfahren wider-
spricht der demokratischen Legitimation des Parlaments
durch direkte Wahlen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


Wir alle sind demokratisch gewählte Volksvertreter
und können in diesem Hause eindrucksvoll beobachten,
wie der Souverän, das Volk, über unsere Köpfe seine
Runden dreht und unsere Entscheidungen kritisch von
oben betrachtet. Das hat nicht nur Symbolcharakter;
diese Erfahrung machen wir alle vier Jahre.

Auch die Direktwahlen zum Europäischen Parlament
wurden mühsam erkämpft und durchgesetzt. Es ist unser
aller Anliegen, Europa demokratischer zu gestalten. Die
Koalitionsfraktionen fordern daher die Bundesregierung
auf, in den Verhandlungen deutlich zu machen, dass die
Variante der Nachbenennung von Abgeordneten dem
Geist – ich betone: dem Geist – des Direktwahlaktes von
1976 widerspricht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auch hier gibt es zwei Seiten der Medaille. Wir
sind die Europapartei und wissen, wie wichtig gerade in
der Europäischen Union gegenseitiger Respekt und
Rücksichtnahme auch auf Besonderheiten jedes Landes
sind. Nur so können wir das Ziel erreichen, dass Europa
mit einer Stimme spricht, und nur so kann Europa funk-
tionieren.

Am 9. Mai 1950 hat der französische Außenminister
Robert Schuman einen bahnbrechenden Plan vorgestellt,
der die gesamte deutsch-französische Kohle- und Stahl-
produktion einer Hohen Behörde unterstellen sollte, in
einer Organisation, die den anderen Ländern Europas
zum Beitritt offenstand.

In drei Tagen begehen wir zum 60. Mal den Europa-
tag, den Tag, an dem damals der erste Grundstein für





Heinz Golombeck


(A) (C)



(D)(B)


möglich sind. Außerdem fordern die Koalitionsfraktionen Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ren Partnern in der EU für ein einheitliches Wahlrecht
bis zu den Wahlen des Europäischen Parlaments im Jahr
2014 einzusetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir Liberale setzen uns für mehr Demokratie und für
mehr Rechte der Parlamente im legislativen Prozess der

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 539;
davon

ja: 477
nein: 62

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser

Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“ be-
kannt. Abgegebene Stimmen: 540. Mit Ja haben gestimmt
478, mit Nein haben gestimmt 62 Kolleginnen und Kolle-
gen. Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung
ist damit angenommen.

Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser

Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
die Bundesregierung auf, sich im Dialog mit den ande- ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
eine europäische Föderation
Tages leben wir im vereini
über 60 Jahren in Frieden.


(Beifall bei der FDP so der CDU Besonders das gute deutsch-f ein Grundstein der Aussöhnu europäischen Integration imm pulse. Wir begreifen es als et und wollen es weiter pflegen Dem Vernehmen nach sol die Variante der Nachbenen Parlament wichtig sein. Wen für gibt, wollen wir die Über zelfall letztlich nicht blocki lange Tradition der Assemblé schätzen. Die Koalitionsfraktionen s dere Verpflichtung an, dafür Bundesregierung dem Bund Nachauszählung der zusätzlic des Ergebnisses der letzten E Ad-hoc-Wahlen in einzelnen gelegt wurde. Dank dieses gten Europa nunmehr seit wie bei Abgeordneten /CSU)


ranzösische Verhältnis war
ng in Europa und gab der
er wieder bedeutende Im-

was fundamental Wichtiges
.

l besonders für Frankreich
nung aus dem nationalen

n es gewichtige Gründe da-
gangslösung in diesem Ein-
eren, zumal wir auch die
e nationale außerordentlich

ehen es aber als ihre beson-
Sorge zu tragen, dass die
estag darlegt, warum eine
hen Mandate auf der Basis
uropawahl oder allgemeine
EU-Mitgliedstaaten nicht
Europäischen Union ein. D
ständnis unserer Partei. Wir
Rechte in Bezug auf Stellung
Gesetzgebungsprozess nutze
auch weiterhin um einen inten
Dialog mit anderen Partnern
Präambel unseres Grundges
rechtigtes Glied in einem ver
der Welt zu dienen“.

Vielen Dank für Ihre Aufm


(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der S Vizepräsidentin Gerda H Herr Kollege Golombeck, diesem Hause. Ich gratulier wünsche Ihnen bei Ihrer weit Erfolg. (Beif Bevor ich nun dem nächs komme ich zurück zum Tages ies gehört zum Selbstver werden weiterhin unsere nahmen zum europäischen n. Aber wir werden uns siven und verständnisvollen bemühen, um, wie es in der etzes steht, „als gleichbeeinten Europa dem Frieden erksamkeit. der CDU/CSU sowie PD und der LINKEN)


asselfeldt:
das war Ihre erste Rede in
e Ihnen sehr herzlich und
eren Arbeit viel Freude und

all)

ten Redner das Wort gebe,
ordnungspunkt 26 und gebe





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Müller (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Michael Groschek
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Ulla Schmidt (Aachen)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz

Nun hat das Wort der Ko
Fraktion der SPD.


(Beifall bei Axel Schäfer Frau Präsidentin! Liebe K Die Frage der Zusammensetz lamentes ist so alt wie die G Parlamentes selbst. Sie war Punkt verbunden: der Direktw chen, freien, geheimen Wahl Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marieluise Beck Volker Beck Alexander Bonde Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink llege Axel Schäfer für die der SPD)


(Lüdenscheid)


SPD):
olleginnen und Kollegen!
ung des Europäischen Par-

eschichte des Europäischen
immer mit einem zentralen

ahl, der allgemeinen, glei-
durch die Bürgerinnen und
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Elisabeth Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus

Bürger Europas. Unsere Vorg
haben 24 Jahre, nämlich von
um das durchzusetzen, gegen
nicht so begeistert davon war
etwa bei unseren Vorgänger
Deutschen Bundestag, die am
begeistert davon waren; Got
geändert. Der SPD-Abgeord
über viele Legislaturperioden

1976 wurde die Grundlage
schaffen. Dieser Direktwahla
liches, nicht nur wegen des ge
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

ängerinnen und Vorgänger
1952 bis 1976, gebraucht,
über den Regierungen, die

en, und in den Parlamenten,
innen und Vorgängern im
Anfang auch nicht alle so

t sei Dank hat sich einiges
nete Karl Mommer hat das
hinweg verfolgt.

für den Direktwahlakt ge-
kt ist etwas Außergewöhn-
meinsamen Wahlrechts der
Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Rainer Stinner Dr. Konstantin von Notz Jutta Krellmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)


Dr. Christiane Ratjen-
Damerau

Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Ute Koczy
Thomas Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle

Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte





Axel Schäfer (Bochum)



(A) (C)



(D)(B)

Europäer: Es ist das erste Mal, dass eine supranationale
Volksvertretung gewählt wird. Seitdem haben wir die
Rechte des Europäischen Parlaments, seine Möglichkei-
ten zur demokratischen Mitbestimmung gestärkt: beim
Haushalt, bei der Gesetzgebung und zuletzt bei der Wahl
der Europäischen Kommission. Dabei haben wir immer
darauf geachtet, dass wir einen demokratischen Fort-
schritt erreichen und nah an eine gleiche Gewichtung der
Stimmen herankommen, Stichwort: degressive Propor-
tionalität. Das ist sehr schwer; das Bundesverfassungs-
gericht hat uns da bekanntlich einiges ins Stammbuch
geschrieben.

Wir haben ein Zweites hinbekommen: Bei allen Er-
weiterungsrunden seit der ersten Direktwahl – 1981,
1986, 1995 und 2004 – haben wir es so geregelt, dass die
neuen Mitgliedstaaten auf Zeit Abgeordnete aus der
Mitte des nationalen Parlaments entsenden, die dann in-
nerhalb von zwei Jahren durch eine allgemeine Wahl le-
gitimiert werden. Nach der deutschen Einheit gab es eine
Besonderheit – ich sehe hier eine Reihe von Kolleginnen
und Kollegen aus der früheren DDR –: Wir haben es da-
mals nicht nur akzeptiert, sondern als richtig erachtet,
dass die 18 Kolleginnen und Kollegen aus dem Deut-
schen Bundestag, die zusätzlich in das Europäische Par-
lament entsandt wurden, dort fast eine komplette Legis-
laturperiode lang, nämlich von 1990 bis 1994, nicht
stimmberechtigt waren, also dort nicht die gleichen, vol-
len Rechte erhielten, weil sie nicht ausreichend durch
Wahlen legitimiert waren. Man nannte sie Beobachter.
Es ist wichtig, auf diesen Umstand hinzuweisen; denn
Deutschland sollte in einer spezifischen Situation, in der
es auch darum geht, dass die Zahl der deutschen Abge-
ordneten im Europäischen Parlament von derzeit 99 auf
96 reduziert werden soll, nicht so tun, als müssten wir
besondere Rechte für Vertreter aus neuen Mitgliedstaa-
ten einfordern.

Jetzt kommt es darauf an, in der Debatte hier, in den
anderen nationalen Parlamenten der EU und in besonde-
rer Weise im Europäischen Parlament sowie mit den Re-
gierungen, die an der Regierungskonferenz teilnehmen
werden, klarzumachen: Kompromisse sind in Europa
zwar immer notwendig und in vielen Fällen richtig – wir
werden immer schauen, dass es gelingt, das Gemein-
same über das Trennende zu stellen –, aber hier diskutie-
ren wir nicht über eine Frage, bei der man so oder so ent-
scheiden kann. Bei dieser Frage kann man sich nur so
entscheiden: für die Direktwahl.

Meine Fraktion hat deshalb bereits im Dezember eine
klare Positionierung vorgenommen. Dementsprechend
sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen in die-
sem Hause, aber insbesondere der Bundesregierung: Un-
sere Erwartung ist, dass im Rat und auf der Regierungs-
konferenz eine Regelung gefunden wird, die sicherstellt,
dass die zusätzlichen Kolleginnen und Kollegen, die in
das Europäische Parlament nachrücken, durch die Euro-
pawahl vom Juni 2009 legitimiert sind. Es gibt keine an-
dere Legitimation.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Alle Veränderungen können nie taktisch sein; bei Ver-
fassungsfragen taktiert man nicht. Vielmehr müssen alle
Veränderungen, die wir treffen müssen, auf den Prinzi-
pien basieren, für die wir lange gekämpft haben. An die-
ser Stelle gibt es auch keine Ausnahme. Es gibt keine
Ausnahmen in irgendeinem Land, das bisher seine Ab-
geordneten durch Direktwahl entsandt hat. Weil es hier
auch um vertragliche Änderungen geht, sehen wir es als
eine Verpflichtung der Bundesregierung an, dies deutlich
zu machen.

Die SPD-Fraktion wird nur einer Regelung zustim-
men, die dem Geiste und dem Inhalt dessen entspricht,
was wir hier seit 1952 an Tradition hinsichtlich der Di-
rektwahl haben, und keiner sonstigen, anderen Rege-
lung. Das sollten wir heute noch einmal ganz, ganz deut-
lich machen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704018100

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1704018200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Schäfer, wir sollen das Gemeinsame über das Trennende
stellen. Wenn ich dies als Überschrift über die ersten
Sätze wähle, dann sage ich dazu, wie Sie die Genese des
Direktwahlakts von 1976 beschrieben haben: Ich teile
Ihre Einschätzung uneingeschränkt, dass es nicht nur ein
großer Kampf bis 1976 war, sondern dass es auch eine
große Errungenschaft der Kolleginnen und Kollegen des
Europäischen Parlaments war und ist, diesen Status seit
1979 gehalten zu haben, und zwar nicht nur, was das
Wahlrecht angeht, sondern auch den Umstand – dazu
war der Lissabon-Vertrag einer der letzten Bausteine –,
Kompetenzen, Zuständigkeiten und Legitimität des Eu-
ropäischen Parlaments seit 1979 bis zum heutigen Tage
Zug um Zug ausgebaut zu haben. Deswegen reagieren
wir in diesem Hohen Hause zu Recht mit hoher Sensibi-
lität, wenn es um die Frage geht, die wir heute miteinan-
der diskutieren.

Allerdings sind wir damit dann auch schon am Ende
der Gemeinsamkeiten, Herr Kollege Schäfer, und kom-
men eher in den Bereich, in dem wir uns unterscheiden.
Wir sind uns in Bezug auf diese drei Vorschläge der spa-
nischen Ratspräsidentschaft zumindest bei den Vorschlä-
gen 1 und 2 einig, dass dies tragfähige Grundlagen wären,
um die Erweiterung der Sitze des Europäischen Parla-
ments darzustellen.

Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die
Einschätzung gegenüber dem dritten Vorschlag, nämlich
der Benennung aus den Reihen des nationalen Parla-
ments, über den wir uns hier im Deutschen Bundestag,
wenn ich die Debatte im Ausschuss richtig in Erinnerung





Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)(B)

habe, weitgehend einig sind, dass diese Auffassung der
großen Mehrheit des Deutschen Bundestages so in ande-
ren Ländern und in anderen nationalen Parlamenten
nicht geteilt wird. Das mag uns nun gefallen oder nicht,
und meine Begeisterung über diesen Umstand – das ge-
stehe ich offen und ehrlich – hält sich auch in Grenzen.
Aber ich darf sehr wohl zur Kenntnis nehmen, dass dies
so ist.

Da Sie gesagt haben, Herr Kollege Schäfer – dies teile
ich wiederum –, dass die Europapolitik, mit meinen
Worten gesagt, vielleicht der Teilbereich der deutschen
Politik ist, der in den letzten Jahren das Höchstmaß an
Pragmatismus vollzogen hat – das hat der Europapolitik
gut getan, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa –,
so merke ich an: Wir tun uns an dieser Stelle keinen Ge-
fallen, wenn wir den Teil 3 des spanischen Ratspräsiden-
tenvorschlags sozusagen als Guillotine-Klausel begrei-
fen und sozusagen artikulieren: Wenn es aber zu diesem
Vorschlag kommt und der Rat sich auch auf diesen drit-
ten Vorschlag verständigt, dann machen wir im Deut-
schen Bundestag die Jalousie nach unten. Meines Erach-
tens – darauf hat Kollege Golombeck zu Recht
hingewiesen – täten wir uns nicht nur im Verhältnis zu
Frankreich, sondern auch generell im europäischen Kon-
zert mit einer solchen harten, aber herzlichen Kopf-
durch-die-Wand-Position keinen Gefallen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen vertrete ich die Position, wie sie die Koali-
tionsfraktionen in ihrem Antrag formuliert haben, dass
wir die Bundesregierung einerseits seitens des Deut-
schen Bundestags beauftragen, Herr Staatsminister, in
den anstehenden Verhandlungen im Rat deutlich zu ma-
chen, beispielsweise mit Verweis auf den Direktwahlakt
von 1969,


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 1976!)


dass es unseren Vorstellungen nicht entspricht – 1976 –,
Teil 3 des spanischen Vorschlags zu realisieren. Gleich-
wohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass manche eu-
ropäischen Staaten eine andere Auffassung haben. Wir
müssen der Bundesregierung die Möglichkeit einräu-
men, den Vorschlag, den sie im Rat miterarbeitet und an-
schließend dem Deutschen Bundestag zur Beschlussfas-
sung vorschlägt, so auszugestalten, dass er unserer
Rechtsauffassung nicht zur Gänze widerspricht. Etwas
Pragmatismus nützt der Sache mehr, als wenn wir versu-
chen, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Die Wand
hat sich in der Geschichte in den meisten Fällen nämlich
als stärker erwiesen als der Kopf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will zum Abschluss noch zwei Punkte nennen. In
dem ersten Punkt, Herr Kollege Schäfer, dürften wir uns
einig sein – er ist Gegenstand aller Anträge, über die wir
heute beraten –: Wir wollen die Bundesregierung beauf-
tragen, bei den Verhandlungen im Rat darauf hinzuwir-
ken, dass wir bis zu den Europawahlen im Jahr 2014 ein
einheitliches Wahlrecht bekommen, das trägt.
Mein zweiter Punkt – damit greife ich eine Debatte
auf, die hinter den Kulissen des Europäischen Parla-
ments von der einen oder anderen Kollegin und dem ei-
nen oder anderen Kollegen bereits geführt wird –: Für
den Fall, dass während einer laufenden Legislaturpe-
riode ein Staat der Europäischen Union beitritt – in naher
Zukunft steht beispielsweise der Beitritt Islands an –,
brauchen wir ein System, mit dem wir das berechtigte
Interesse dieses Landes nach parlamentarischer Vertre-
tung darstellen können. Wir sollten uns auf einen Modus
verständigen, den wir nicht bei jedem Beitritt eines Lan-
des aktualisieren müssen, sondern der die nächsten fünf
bis zehn Jahre trägt. Ich weiß von Kolleginnen und Kol-
legen aus dem Europaparlament, dass diese Diskussion
dort geführt wird und es diesbezüglich schon Vorschläge
gibt. Ich lade herzlich dazu ein, neben der Beschlussfas-
sung über den Antrag der Koalition, die heute ansteht,
diese Debatte mit den Kolleginnen und Kollegen im
Ausschuss zu führen; dann leisten wir einen echten Bei-
trag zur Zukunft Europas.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704018300

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Nord für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Nord (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704018400

Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr

geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Die Debatte über eine Veränderung der Zusam-
mensetzung des Europäischen Parlaments in der laufen-
den Wahlperiode scheint mir komplett unnötig zu sein.


(Roland Claus [DIE LINKE]: Aber nur bis eben!)


Das Europäische Parlament wurde in seiner jetzigen Zu-
sammensetzung – das bestreitet hier niemand – nach de-
mokratischen Regeln gewählt. Wenn durch das Inkraft-
treten des Lissabon-Vertrages zukünftig neue Regeln
gelten, ist das meiner Ansicht nach kein Grund, in der
laufenden Wahlperiode Veränderungen vorzunehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Einberufung einer Regierungskonferenz zu diesem
Thema scheint mir völlig deplaziert.

Wir haben in diesen Tagen nun wirklich Wichtigeres
zu tun, zum Beispiel uns mit der Lage Griechenlands
auseinanderzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke ist solidarisch an der Seite der protestierenden
Bevölkerung in Griechenland.


(Beifall bei der LINKEN)


Die soziale Situation in Griechenland ist keinesfalls so,
wie die Bild-Zeitung schreibt. Wir gehen davon aus, dass
die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands jedes Recht
haben, deutlich zu machen, dass sie den radikalen So-





Thomas Nord


(A) (C)



(D)(B)

zialabbau, der sich mit den Auflagen der Banken und der
Staaten verbindet, nicht hinnehmen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Festzuhalten ist aber auch: Kein Protest der Welt darf
zum Tod unschuldiger Menschen führen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir trauern mit um die Menschen, die gestern in Grie-
chenland ums Leben gekommen sind.

Die Debatte um die riesige Staatsverschuldung vieler
Euro-Länder macht deutlich, dass die bisherige Vertrags-
architektur der EU nicht geeignet ist, eine erfolgreiche
europäische Integration zu sichern. Das gilt vor allem
– das ist in vielen Diskussionen der letzten Tage deutlich
geworden – für den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wir
reden diese Woche über Griechenland; doch die Wahr-
heit ist: Die Euro-Zone wackelt in Gänze.

Die Linke fand viele der europäischen Verträge in we-
sentlichen Punkten falsch. Sie hat sie seit Langem – wie
sich jetzt zeigt, zu Recht – kritisiert bzw. abgelehnt.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerade weil wir eine dauerhafte stabile Europäische
Union wollen, brauchen wir neue Regeln. Wenn aber
schon solche Verträge gemacht werden, dann sollten sich
die vertragschließenden Parteien in ihrem Handeln daran
halten. Auch hier gilt der alte Satz: Pacta sunt servanda.
Ein Beispiel für den kreativen Umgang mit Verträgen
– davon war hier ja schon die Rede – war der Umgang
mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt durch Rot-
Grün. Die Einleitung eines Verfahrens wegen Über-
schreitung der festgelegten Stabilitätskriterien wurde
durch Rot-Grün verhindert. Das hat – scheinbar zum
Vorteil Deutschlands und Frankreichs – zur Entwertung
von geltendem europäischem Recht geführt. Kein Wun-
der, finde ich, dass andere Länder ebenfalls Recht im ei-
genen Interesse interpretiert haben; auch davon war hier
in den letzten Tagen wiederholt die Rede.

Die heutige Regierungskoalition ist meiner Ansicht
nach dabei, diesen Fehler zu wiederholen. Die deutsch-
französische Freundschaft – das konnten wir jetzt mehr-
fach hören – ist ein dafür vorgetragenes Argument. Mit
dem Antrag von CDU/CSU und FDP wird die Bundes-
regierung aufgefordert, schwerwiegende Gründe mitzu-
teilen, warum zusätzliche Mandate nicht auf der Grund-
lage der Ergebnisse der letzten Europawahlen oder über
allgemeine Ad-hoc-Wahlen bestimmt werden. Das ist
eine Einladung, dem undemokratischen Selbstbenen-
nungsverfahren durch nationale Parlamente zuzustim-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Lösung verstößt gegen Art. 14 Abs. 3 des EU-
Vertrages und fällt hinter europäische Wahlrechtstan-
dards von 1979 zurück. Um Frankreich einen Freund-
schaftsdienst zu erweisen, wird das Vertrauen in europäi-
sches Recht beschädigt. Das verstärkt den Eindruck,
dass es in der EU Mitglieder erster und zweiter Klasse
gibt: solche, deren Mitgliedschaft oder deren Beitritt mit
ganzer Konsequenz am geltenden Recht gemessen wird,
und solche, wo man auch einmal ein Auge zudrücken
kann.

Mit dem kreativen Handhaben von hart erkämpften
Regeln der EU verstärkt die Bundesrepublik vorhandene
Instabilitäten. Die Linke ist der Überzeugung: Es genügt,
die neuen Regeln zur Besetzung des Europäischen Parla-
ments laut Vertrag von Lissabon mit der Wahl 2014 um-
zusetzen. Wenn Sie das aber jetzt machen wollen, for-
dern wir die Bundesregierung auf, keinem Verfahren
zuzustimmen, mit dem nationale Parlamente Abgeord-
nete in das Europaparlament entsenden können.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn schon eine Regierungskonferenz einberufen
wird, ist es angesichts der aktuellen Lage nötig, über
drängendere Probleme als diese zu sprechen. Stellen Sie
den Stabilitäts- und Wachstumspakt auf ein solides Fun-
dament. Verhandeln Sie über eine Wirtschaftsregierung.
Beschließen Sie eine soziale Fortschrittsklausel. Es ist
an der Zeit, dass sozialstaatliche Grundwerte Vorrang
vor der Kapitalfreiheit erhalten.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704018500

Herr Kollege Nord, auch für Sie war das die erste

Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück-
wunsch dazu, verbunden mit den besten Wünschen für
Ihre weitere Arbeit.


(Beifall)


Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704018600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In die-

sen Tagen, gerade heute, ist eine Frage drängend, die
auch mit dieser Abstimmung zu tun hat. Es ist die alte
Frage nach dem Verhältnis zwischen den Bürgerinnen
und Bürgern und der Europäischen Union. Wir haben in
dem schmerzhaften Prozess, den wir durchgehen muss-
ten, damit der Vertrag von Lissabon beschlossen werden
konnte, gemerkt, dass Europa in den Köpfen und Herzen
der Menschen nicht mehr so weit trägt, wie es einmal ge-
tragen hat.

In den letzten Wochen haben wir gemerkt, dass in
ganz drängenden europapolitischen Fragen nationale
Debatten, nationale Stereotypen, nationale Bilder oft-
mals Vorrang haben vor einer europäischen Denke oder
auch nur vor einem Blick über den Tellerrand. Wenn
man lernt, nationale Sonderwege zu beenden, auch den
deutschen Sonderweg, der das letzte Jahrhundert maß-
geblich und in schrecklichster Form geprägt hat, zu be-
enden, dann wissen wir, dass die Zusammensetzung des
Europäischen Parlaments als Vertretungsorgan der Bür-
gerinnen und Bürger Europas gerade durch die direkte
Wahl eine besondere Legitimation hat: diesen europäi-
schen Gedanken auszuführen.





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

Diese besondere Legitimation speist sich, mit alle-
dem, was Herr Kollege Schäfer gesagt hat, aus der
Stimme, die der Bürger und die Bürgerin seinem bzw. ih-
rem Abgeordneten im Europäischen Parlament gibt. Das
ist unabänderlich, sodass diese Stimme das besondere
Verhältnis und auch die besondere Legitimität des Euro-
päischen Parlaments ausmacht, die gerade mit dem Ver-
trag von Lissabon gestärkt wurde. Das ist der Geist von
Art. 14 Abs. 3 des EU-Vertrags, die Direktwahl. Das ist
der Geist des genannten Direktwahlakts und auch der
ersten Direktwahlen von 1979.

Meine große Sorge, wenn Option C durchkäme, Herr
Staatsminister, ist, dass wir damit das Europäische Parla-
ment schwächen. Deswegen haben wir Grüne einen An-
trag vorgelegt, der eine Conditio formuliert, die sagt:
nicht mit Option C. Diese Einschätzung wird von unse-
ren grünen Kollegen in allen anderen europäischen Län-
dern und auch im Europaparlament geteilt. Das heißt,
uns trennen nicht nur nationale Grenzen, sondern auch
Parteigrenzen, wobei ich weiß, dass Sie im Hinterkopf
dieselben Gedanken haben. Aber wenn man denkt, die
Position der Koalition hätte sich gemausert und mit Ih-
rem Antrag würde ein gelbes oder rotes Licht aufgehen,
dann muss man leider sagen, dass Ihr Antrag eher einer
Figur aus Lukas, der Lokomotivführer gleicht, dem
Herrn Tur Tur.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ein Scheinriese!)


Herr Tur Tur ist wie Ihr Antrag und auch wie Ihre Reden
hier: Er sieht groß aus, er kommt groß, stark und furcht-
erregend daher, aber mit jedem Schritt, den man näher
auf ihn zukommt, wird er ein Stück kleiner. Und ganz
am Ende stellt man fest: Auch Herr Tur Tur ist nur ein
Zwerg.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ein Scheinriese!)


– Ein Scheinriese. Vielen Dank, Herr Schäfer. – In die-
sem Zusammenhang muss ich sagen, dass die Koalition
oftmals nur ein Scheinriese ist. Ich füge hinzu: Leider ist
dem so. Ich würde mir wünschen, dass Sie nicht ein
Scheinriese oder Zwerg, sondern riesig und standhaft
wären. Ich spreche Ihnen nicht die richtige Motivation
ab. Aber dass Sie nicht zu den richtigen Schlüssen kom-
men, das bedauere ich sehr.

Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem
Antrag. Wir halten die Nachbesetzung der Sitze zum
Europäischen Parlament für notwendig. Wir wollen für
diese den Weg freimachen. Gerade die Spanier, die mit
ihrem erfolgreichen Referendum über die Europäische
Verfassung viel Europamut bewiesen haben, haben diese
Sitze verdient, ohne dass andere inhaltliche Erwägun-
gen, die lobenswert und wichtig sind, als Conditio mit
hineingebracht werden müssen. Aber dennoch ist die
einzige Lösung, um Herrn Tur Tur groß und mächtig zu
machen, sich zu besinnen und dem Grünenantrag zuzu-
stimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704018700

Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1704018800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Manchmal ist es ein Privileg, in der Opposition zu sein.
Joschka Fischer hätte Ihnen etwas gehustet, wenn Sie in
der Zeit, als er Außenminister war, einen solchen Antrag
vorgelegt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Er hätte nämlich seinen schönen Spaß gehabt, dies sei-
nem französischen Amtskollegen zu erklären.

In der Europapolitik verdrängt häufig das Banale das
Erhabene. So war es auch mit dem Lissabon-Vertrag, ein
epochales Werk, das die Rechte der Bürgerinnen und
Bürger der Europäischen Union und die Rechte des
Europäischen Parlaments massiv gestärkt hat. Dennoch
hat es die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen,
dass er am 1. Dezember letzten Jahres in Kraft getreten
ist. Wenn jüngste Umfragen belegen, dass lediglich ein
Fünftel der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland der
Meinung ist, die Europäische Union würde Vorteile für
Deutschland bringen, dann zeigt das, dass wir ein Rie-
sendelta zwischen dem gefühlten und dem tatsächlichen
Europa haben.

Ich darf den Exkurs wagen: Ich habe die leichte Be-
fürchtung, dass wir morgen auch wieder eine Bundes-
tagsdebatte erleben werden, in der das Erhabene durch
das Banale überdeckt und nicht über Europapolitik de-
battiert, sondern etwas ganz anderes gemacht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun aber zurück zum Thema Lissabon-Vertrag und
Europäisches Parlament.

Die Bedeutung der Europäischen Union für das Le-
ben eines jeden einzelnen Bürgers erfordert, dass wir bei
der Ausgestaltung der Regeln für das Zusammenwirken
in der Union besonderen Wert auf die Einhaltung der Re-
geln legen. Ein sensibler Punkt ist das Europäische Par-
lament. Seine Rolle als Vertretung der Bürger in der de-
mokratischen EU ist durch die Weiterentwicklung über
die einzelnen Verträge Schritt für Schritt verstärkt wor-
den. Wie sich das Europäische Parlament zusammen-
setzt, ist in Art. 14 des Lissabon-Vertrages, wie in den
Verträgen zuvor, eindeutig geregelt. Deswegen ist es er-
laubt, dass wir bei der Zusammensetzung des Europäi-
schen Parlaments sorgfältig vorgehen und vielleicht
auch ein bisschen pingelig sind.

Wir unterstützen die Vereinbarung der Regierungs-
konferenz, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrages von
Lissabon die Anzahl der Mandate von zwölf Mitglied-
staaten im Europäischen Parlament jetzt direkt um insge-





Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

samt 18 angehoben werden kann. Wir akzeptieren auch,
dass wir als Deutsche ab 2014 drei Sitze weniger haben,
und wir begrüßen es natürlich, dass wir als Deutsche
nicht etwa jetzt drei Sitze abgeben müssen, sondern dass
wir unsere drei Sitze in der laufenden Periode behalten
dürfen.

Wir müssen aber darauf bestehen, dass die jetzige
Aufstockung der Mandate durch andere Länder den glei-
chen strengen demokratischen Prinzipien unterliegt wie
die Europawahl selbst.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist auch in allen Mitgliedstaaten möglich: entwe-
der durch die Ableitung aus dem Ergebnis der Europa-
wahl vom Juni 2009 oder aber durch eine entsprechende
Nachwahl von Mitgliedern.

Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich
deshalb gegen die Variante c) des Vorschlags der spani-
schen Präsidentschaft ausspricht. Eine Benennung von
Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus den na-
tionalen Parlamenten heraus wäre ein Rückschritt in die
Zeit vor 1979; denn seitdem gibt es die Direktwahl des
Europaparlaments.

Das wäre undemokratisch im politischen Sinne, und
das wäre auch nicht demokratisch im rechtlichen Sinne.
Es würde gegen den Lissabon-Vertrag verstoßen – das ist
hier bereits häufig gesagt worden –, und es würde auch
einen anderen, wie ich finde, wichtigen Grundsatz ver-
letzen; denn das Wahlvolk bei einer nationalen Parla-
mentswahl ist eben ein anderes als das Wahlvolk bei der
Europawahl.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Bei der Europawahl werden die Europaabgeordneten
auch von den EU-Bürgern mitgewählt, die in dem jewei-
ligen Gastland ihren Wohnsitz haben – Griechen wählen
also in Deutschland deutsche Europaabgeordnete mit –,
nationale Parlamente werden aber in der Regel lediglich
durch die Staatsbürger des jeweiligen Landes bestimmt.
Es gibt also eine andere Legitimationsgrundlage für die
nationalen Parlamente, als dies beim Europaparlament
der Fall ist.

Auch dies ist ein Umstand – er bestand im Übrigen
vor 1979 und auch 1979 so noch nicht –, der die Regie-
rung veranlassen sollte, auf die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union nachhaltig einzuwirken, dass sie
vielleicht doch etwas anderes als das wollen könnten,
was die spanische Präsidentschaft in Variante c) ihres
Vorschlages konkret vorsieht. Wir würden uns sehr wün-
schen, dass es der deutschen Bundesregierung gelingt,
die anderen Mitgliedstaaten, die der Variante c) viel-
leicht zustimmen wollen, davon abzubringen, das zu tun,
und sie davon zu überzeugen, diesen Weg nicht zu ge-
hen.

In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu dem
Antrag von CDU/CSU und FDP.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704018900

Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1704019000

Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir sollten die Debatte heute Abend nicht
alleine dazu nutzen, nur über die Nachbesetzung von Sit-
zen im Europäischen Parlament zu reden, sondern wir
sollten hier im Bundestag auch noch einmal darüber
nachdenken, welche Rolle der Parlamentarismus in
Europa, in der Europäischen Union eigentlich spielen
sollte; denn machen wir uns nichts vor: Die Kritik, die
nicht wenige von uns heute Morgen in der Süddeutschen
Zeitung sicherlich auch gelesen haben, beinhaltete den
Vorwurf der Entparlamentarisierung in Europa. Ich will
hier nur einen Satz zitieren:

Es muss aber auch darüber geredet werden, wie
man es wieder hinkriegt, dass in Europa nicht das
Geld und die Finanzmärkte das Sagen haben, son-
dern die Volksvertretungen und die von ihnen ge-
wählten Regierungen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die Behandlung der Frage, welche Rolle die nationa-
len Parlamente in der Europäischen Union spielen und
welche Rolle wir ihnen zubilligen wollen, würde dem
Deutschen Bundestag sicherlich gut anstehen.

Wir haben in den letzten Jahren in der Debatte über
die europäische Verfassung und den Vertrag von Lissa-
bon mit großer Geschlossenheit für eine Stärkung des
Europäischen Parlamentes gekämpft. Das Europäische
Parlament ist durch den Vertrag von Lissabon stärker ge-
worden. Eine bestimmte Rolle hat der Deutsche Bundes-
tag traditionell für sich in Anspruch genommen: nicht
Konkurrent und auch nicht Ersatzorgan des Europäi-
schen Parlamentes, sondern sein Partner zu sein. Ich rate
nicht nur uns, sondern auch der Bundesregierung, sich
als Sachwalter der Interessen des Europäischen Parla-
mentes zu verstehen. Nicht zuletzt hat das Europäische
Parlament selbst ein klares Bekenntnis abgegeben, dass
es inakzeptabel wäre, wenn seine Mitglieder nicht direkt
gewählt, sondern von den nationalen Parlamenten ent-
sandt würden.


(Beifall bei der SPD)


Ich meine, dass wir die Rolle des Europäischen Parla-
mentes als die des zentralen parlamentarischen Organs
in der Europäischen Union zu verstehen haben. Wir kön-
nen vielleicht assistieren und ergänzen. Wir sollten aber
nicht in die Rolle derjenigen schlüpfen, die anstelle des
Europäischen Parlamentes Entscheidungen zu treffen
haben. Auch das ist einmal diskutiert worden, ich erin-
nere an die Humboldt-Rede von Joschka Fischer. Er hat
aus einer vermeintlichen Ermangelung an demokrati-
scher Legitimation des Europäischen Parlaments, aus
mangelnder Sichtbarkeit und Präsenz des Europäischen
Parlaments in der europäischen und der nationalen Öf-
fentlichkeit vorgeschlagen, dass eine dritte Kammer ein-





Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

gerichtet wird, die sich aus nationalen Parlamentarierin-
nen und Parlamentariern zusammensetzt.

Ich bin davon überzeugt, dass wir heute weiter sind.
Auch das ist ein Ergebnis und ein Auftrag des Lissabon-
ner Vertrages: Nationale Parlamente haben sich inner-
staatlich stärker an der europäischen Gesetzgebung und
an der Willensbildung in der Europäischen Union zu be-
teiligen. Diese Rolle ist schwer genug. Wir haben eine
Menge Arbeit vor uns. Wir merken im politischen Alltag
und in der parlamentarischen Praxis, was noch alles auf
uns zukommt.

Wir leiden nicht unter zu wenig Pragmatismus, lieber
Kollege Dörflinger, sondern wir leiden aus meiner Sicht
an einem Mangel an Visionen, an Konzepten und an
Ideen, wie wir den Bürgerinnen und Bürgern verdeutli-
chen können, dass Parlamente ein wesentlicher Beitrag
dazu sind, eine notwendige Nähe zwischen den Bürge-
rinnen und Bürgern einerseits und den EU-Institutionen
andererseits herzustellen.

Ich rate zu klaren Beschlussfassungen hier im Parla-
ment. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon zu einem
sehr frühen Zeitpunkt einen Antrag dazu eingebracht.
Ich glaube nicht, dass es die deutsch-französische Part-
nerschaft beschädigt, wenn wir uns klar und unmissver-
ständlich auf die Position des Europäischen Parlamentes
beziehen und wenn wir uns dort sehen, wohin der Deut-
sche Bundestag traditionell gehört, nämlich an die Seite
des Europäischen Parlamentes.

Es ist gut, wenn wir heute Abend darüber sprechen,
wie wir den Parlamentarismus in Europa stärken kön-
nen. Wir können ihn nur dann stärken, wenn wir dem
Bundesverfassungsgericht nicht auf den Leim gehen – es
hat aus meiner Sicht in sehr defätistischer Weise über die
Rolle des Europäischen Parlamentes geurteilt –, sondern
wenn wir Mut machen und deutlich bekennen: Das Eu-
ropäische Parlament ist auf EU-Ebene das zentrale Or-
gan, um die demokratische Legitimation Europas zu
stärken und zu sichern. In dieser Hinsicht bitte ich Sie
alle um wohlwollende Prüfung unseres Antrages.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704019100

Nun hat das Wort der Kollege Karl Holmeier für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Redezeitbegrenzung! Sie haben noch vier Minuten gut bei uns!)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1704019200

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegent-
lich den Ansichten anderer Leute zu beugen.

Dieses Zitat stammt, wie Sie vielleicht wissen, von
Winston Churchill. Die Demokratie ist zweifelsfrei eine
der bedeutendsten Errungenschaften unserer Gesell-
schaft. Wir sind zu Recht stolz auf sie.

Im Grundsatz sind wir uns alle einig, dass wir aus-
schließlich demokratisch legitimierte Abgeordnete im
Europäischen Parlament haben möchten. Aufgrund die-
ser weitgehend gemeinsamen politischen Wertvorstel-
lungen sind sich die heute zur Debatte stehenden An-
träge im Wesentlichen ziemlich ähnlich. Die Frage ist
nur – darin unterscheiden sich die Anträge dann doch –:
Wie weit wollen wir als nationales Parlament gehen, um
unsere politischen Wertvorstellungen europaweit durch-
zusetzen?

Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man zwei
zentrale Gesichtspunkte im Hinterkopf behalten:

Erstens. Die Kollegen von der Opposition haben im
Ausschuss mehrfach zu Recht darauf hingewiesen, dass
die Direktwahl zum Europäischen Parlament ein Meilen-
stein in der europäischen Politik gewesen ist. Wenn das
so ist, dann muss man den direkt gewählten Mitgliedern
dieses Parlaments aber auch zugestehen, dass zuallererst
sie selbst über die zu betreffenden Angelegenheiten ent-
scheiden. Es wäre den direkt gewählten Europaparla-
mentariern gegenüber eine ziemliche Respektlosigkeit,
wenn wir uns als Abgeordnete eines nationalen Parla-
ments hinstellen und sagen würden: Es ist uns egal, wie
das Europaparlament diese Angelegenheit sieht; wir
stimmen in jedem Fall gegen eine Vertragsänderung,
wenn die zusätzlichen Abgeordneten aus der Mitte der
nationalen Parlamente bestimmt werden können.

Hierzu muss man wissen: Erstens. Das Europäische
Parlament hat heute Mittag eine Entschließung verab-
schiedet, in der festgestellt wird, dass die hier in Rede
stehende Option 3 nicht mit dem Geist des Akts von
1976 vereinbar ist. Zweitens. Das Europäische Parla-
ment ist der Auffassung, dass im Falle unüberwindbarer
technischer oder politischer Schwierigkeiten eine indi-
rekte Wahl durch die nationalen Parlamente dennoch ak-
zeptabel ist. Ich finde, wir sollten diese Position des Eu-
ropäischen Parlaments respektieren.

Ein weiterer Gesichtspunkt, auf den ich hinweisen
möchte, wenn es darum geht, wie weit wir als Bundes-
tagsabgeordnete gehen sollten, um unsere politischen
Wertevorstellungen europaweit durchzusetzen, ist fol-
gender: Mit unserer Entscheidung versuchen wir auch,
darüber zu bestimmen, wie sich ein anderer Mitglied-
staat zu verhalten hat – an dieser Stelle ist Frankreich zu
nennen –, der aufgrund seiner innerstaatlichen Regelun-
gen die umstrittene Variante ins Auge fasst. Wenn wir
diese Option kategorisch ausschließen, maßen wir uns
im Grunde genommen an, die Franzosen darüber zu be-
lehren, wie Demokratie auszusehen hat. Ich denke, an
dieser Stelle sollten wir vorsichtig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aus demokrati-
schen Gesichtspunkten halte ich eine Benennung der zu-
sätzlichen Europaabgeordneten aus der Mitte der nationa-
len Parlamente sehr wohl für sehr kritisch. Ich denke aber
auch, dass wir als deutsche Abgeordnete anderen Parla-
menten nichts vorschreiben sollten. Stattdessen sollten





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

wir uns ins Gedächtnis rufen, dass wir mit dem Europa-
parlament ein eigenständiges Organ in der Europäischen
Union installiert haben, das demokratisch legitimiert ist.
Wir müssen daher akzeptieren, dass dieses eigenständige
Organ eine eigenständige Entscheidung trifft, die nicht
immer hundertprozentig unserer Meinung entspricht.

Ferner widerspricht es dem freundschaftlichen und
respektvollen Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten,
wenn wir ihnen vorschreiben, wie sie die zusätzlichen
Mandate nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften
vergeben sollen. Dies gilt umso mehr vor dem Hinter-
grund, dass Deutschland seine derzeitigen Sitze im Eu-
ropaparlament bis zur nächsten Wahl behält und damit
die im Vertrag vorgesehene Höchstzahl an Sitzen vo-
rübergehend weiterführt.

Ich halte es daher für sinnvoll, dass wir unsere Posi-
tion – wie im Antrag der CDU/CSU formuliert – klarma-
chen und sie der Bundesregierung für die Verhandlungen
mit auf den Weg geben. Wir sollten der Bundesregierung
aber auch einen gewissen Handlungsspielraum lassen
und nicht versuchen, unsere Meinung und unsere Werte-
vorstellungen stur europaweit durchzuboxen. Deshalb
bitte ich Sie recht herzlich, dem Antrag der christlich-li-
beralen Koalition zuzustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704019300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Es liegt
eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Thomas Silberhorn vor, die
zu Protokoll gegeben wird.1)

Tagesordnungspunkt 10 a. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union auf Drucksache 17/1460.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/1179 mit
dem Titel „Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset-
zung des Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten
des Vertrages von Lissabon – hier: Stellungnahme des
Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m.
§ 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun-
desregierung und Deutschem Bundestag in Angelegen-
heiten der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 10 a. Unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/235 mit dem Titel „Vorschlag der spa-
nischen Regierung für die Änderung der Verträge in Be-
zug auf die Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusam-

1) Anlage 3
mensetzung des Europäischen Parlaments – Herstellung
des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlun-
gen über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 EUV“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist da-
gegen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 10 b. Es geht um den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1417
mit dem Titel „Änderung der Verträge – Übergangsmaß-
nahmen betreffend die Zusammensetzung des Europäi-
schen Parlaments“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der SPD abge-
lehnt. Für den Antrag haben die Mitglieder der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gestimmt.

Tagesordnungspunkt 10 c. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1568 mit
dem Titel „Veränderung der Zusammensetzung des Eu-
ropäischen Parlaments in der laufenden Wahlperiode“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –
Gibt es Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. Dafür
haben die Mitglieder der Fraktion Die Linke gestimmt.
Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Carsten Schneider (Erfurt), Joachim Poß, Hubertus
Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Zu den theoretischen und empirischen Grund-
lagen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
und der gemäß Koalitionsvertrag beabsichtig-
ten Steuerreform

– Drucksache 17/568 –

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es geht um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Olav
Gutting, Klaus Brandner, Bettina Hagedorn, Dr. Daniel
Volk, Dr. Barbara Höll, Dr. Thomas Gambke und des
Parlamentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk.2)

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ausfüh-
rungsgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/
2009 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 16. September 2009 über Rating-

(Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung)


– Drucksachen 17/716, 17/984 –

2) Anlage 4





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/1609 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Björn Sänger

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier wurde interfrak-
tionell vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben
werden, und zwar von folgenden Kolleginnen und Kol-
legen: Peter Aumer, Ralph Brinkhaus, Manfred Zöllmer,
Björn Sänger, Dr. Axel Troost und Dr. Gerhard Schick.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ausfüh-
rungsgesetzes zur EU-Ratingverordnung. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1609, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksachen 17/716 und 17/984 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1612. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer ist gegen den Entschließungsantrag? –
Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist damit
abgelehnt. Dafür haben die Mitglieder der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Der Entschließungs-
antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Enthaltung der Fraktion der SPD und der
Fraktion Die Linke.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Mehr Chancengleichheit für Jugendliche –
Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom-
men anrechnen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

1) Anlage 5
Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das
Arbeitslosengeld II

– Drucksachen 17/524, 17/76, 17/841 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald

Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. – Auch damit sind Sie,
wie ich sehe, einverstanden. Es sind die Reden folgender
Kolleginnen und Kollegen: Dr. Carsten Linnemann, Paul
Lehrieder, Katja Mast, Pascal Kober, Matthias W.
Birkwald und Markus Kurth.2)

Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/841.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a) seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/524. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der SPD-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion der
Linken.

Unter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung
empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/76. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-
Fraktion.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des
Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwen-
dung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner-
kennung von Geldstrafen und Geldbußen

– Drucksache 17/1288 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, wer-
den die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar von fol-
genden Kollegen: Ansgar Heveling, Dr. Peter Danckert,
Wolfgang Nešković, Jerzy Montag und Parlamentari-
scher Staatssekretär Dr. Max Stadler.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1704019400

Europa ist für uns im alltäglichen Erleben schon viele

Jahre scheinbar grenzenlos. So können wir sorglos von
Land zu Land reisen. Grenzen stellen keine physischen
Hindernisse mehr dar. In vielen europäischen Ländern
bezahlen wir mit der gleichen Währung. Der einheitli-
che Wirtschaftsraum ist bereits seit langem Realität.

2) Anlage 6

Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Gäbe es keine sprachlichen Unterschiede, würden wir
kaum bemerken, wenn wir uns in einem anderen Land
befinden würden.

Im Alltag nehmen wir dabei ebenso kaum noch wahr,
dass sich die einzelstaatlichen Rechtsordnungen in
Europa in vielen Punkten teilweise deutlich unterschei-
den. Selbst auf viele alltägliche Sachverhalte bezogen ist
die Harmonisierung an vielen Stellen jedoch noch nicht
so weit fortgeschritten, dass wir neben dem einheitli-
chen Wirtschaftsraum auch von einem einheitlichen
Rechtsraum in Europa sprechen könnten. Das gilt bis-
lang etwa für die gegenseitige Anerkennung und Voll-
streckung von Geldstrafen und Geldbußen, was insbe-
sondere im Bereich des Straßenverkehrs von Bedeutung
ist. Verkehrsordnungswidrigkeiten und Verkehrsstrafta-
ten, die ein deutscher Autofahrer im Ausland begangen
hat, sind bislang für ihn ohne Folgen, es sei denn, er
wird unmittelbar vor Ort im Ausland „zur Kasse gebe-
ten“. Bis auf Österreich, mit dem es seit 1998 einen ent-
sprechenden Vertrag gibt, existieren keine bilateralen
Vollstreckungshilfeabkommen zwischen der Bundes-
republik und anderen EU-Staaten, und das EU-Strafvoll-
streckungsabkommen von 1991 wurde lediglich von den
Niederlanden, Spanien und Deutschland ratifiziert. Die-
ses Abkommen betrifft aber etwa Verkehrsordnungswid-
rigkeiten nicht.

Bislang fehlte es also an einem einheitlichen Instru-
mentarium für eine effektive Vollstreckung von Geld-
sanktionen im europäischen Raum, da alle bisher beste-
henden Abkommen keine Verpflichtung zur Vollstreckung
enthalten.

Auf Initiative von Frankreich, Schweden und Groß-
britannien wurde im Jahr 2001 ein Rahmenbeschluss
über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und
Geldbußen eingebracht und am 24. Februar 2005 vom
EU-Rat beschlossen. Er orientiert sich dabei an voran-
gegangenen Rahmenbeschlüssen zur Anwendung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Der nun
vorliegende und hier zu beratende Gesetzentwurf dient
damit der nationalstaatlichen Umsetzung des Rahmen-
beschlusses. Bis zum Beginn des Jahres 2011 müssen
alle beteiligten europäischen Staaten den Rahmenbe-
schluss zur Umsetzung gebracht haben.

Die Umsetzung zieht vor allem im Hinblick auf
Geldsanktionen, die in anderen Mitgliedstaaten ver-
hängt wurden und in Deutschland vollstreckt werden
sollen, einen erheblichen Bedarf an Änderungen im IRG
nach sich.

Auf der einen Seite sollen in anderen Mitgliedstaaten
verhängte Geldstrafen und Geldbußen grundsätzlich an-
erkannt und in einem auch für hohe Fallzahlen mög-
lichst praktikablen Verfahren vollstreckt werden. Auf der
anderen Seite ist der Gesetzgeber gehalten, die Umset-
zungsspielräume, die der Rahmenbeschluss den Mit-
gliedstaaten belässt, in einer grundrechtsschonenden
Weise auszufüllen. Dem Spannungsverhältnis zwischen
Rahmenbeschluss adäquater Praktikabilität und grund-
rechtsschonender Ausgestaltung von Umsetzungsspiel-
räumen sollen vor allem die folgenden Weichenstellun-
gen im Umsetzungsgesetz Rechnung tragen:
Zu Protokoll
Erstens. Das aufwendige, auch für Geldstrafen und
Geldbußen ohne Berücksichtigung der Höhe der Sank-
tion geltende Exequaturverfahren von § 48 ff. IRG wird
im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses abge-
löst und durch eine behördliche Entscheidung ersetzt.

Zweitens. Die nach dem Rahmenbeschluss zulässigen
Verweigerungsgründe werden ganz überwiegend als
zwingende Zulässigkeitshindernisse ausgestaltet.

Drittens. Gegen eine behördliche Bewilligungsent-
scheidung, die in einem ersten Verfahrensabschnitt er-
geht, ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten
eröffnet. Festgelegt wird eine Zuständigkeit der Amtsge-
richte. Als Rechtsmittel ist die Rechtsbeschwerde statt-
haft.

Viertens. Dem am 1. Januar 2007 als zentrale Dienst-
leistungsbehörde errichteten Bundesamt für Justiz wird
als weitere Aufgabe eine zentrale Zuständigkeit als Be-
willigungsbehörde und, soweit kein Gericht befasst
wurde, als Vollstreckungsbehörde im Bereich eingehen-
der Ersuchen sowie als Bewilligungsbehörde im Bereich
ausgehender Ersuchen übertragen.

Fünftens. Eine gerichtliche Entscheidung ergeht
zwingend, wenn die Entscheidung des anderen Mitglied-
staates unter eine im Umsetzungsgesetz festgelegte Fall-
gruppe fällt, zum Beispiel eine Entscheidung gegen ei-
nen Jugendlichen oder gegen eine juristische Person.

Und sechstens. Effektiver richterlicher Rechtsschutz
im Inland wird durchgängig bei allen Geldsanktionen
gewährt. Der Weg zu den Gerichten wird nicht abhängig
gemacht von Differenzierungen nach der Art der Sank-
tion oder nach der Stelle, die sie verhängt hat.

Das Umsetzungsgesetz dient damit einerseits der not-
wendigen Harmonisierung, ohne gleichzeitig anderer-
seits aus dem Blick zu lassen, dass die Unterschiedlich-
keit der einzelnen Rechtsordnungen es naturgemäß
erschwert, voneinander abweichende Instrumente ein-
heitlich unter dem Blickwinkel effektiven Rechtsschutzes
zu beurteilen. So wird dem Gedanken des einheitlichen
Rechtsraums Europa in ausreichender Weise Rechnung
getragen und gleichzeitig den unserem Rechtsverständ-
nis nach notwendigen Anforderungen an einen effekti-
ven Rechtsschutz Genüge getan.

Nach den Rahmenbeschlüssen zum Europäischen
Haftbefehl, zur Sicherstellung von Beweismitteln und
zur Anerkennung von Einziehungsentscheidungen ist
dies das vierte Rechtsinstrument, das auf dem Grundsatz
der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Ent-
scheidungen beruht. Durch das Umsetzungsgesetz bewe-
gen wir uns damit einen Schritt weiter auf dem Weg, aus
Europa nicht nur einen einheitlichen Wirtschafts- und
Freiheitsraum, sondern auch einen einheitlichen
Rechtsraum zu schaffen.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1704019500

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll endlich der

Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Februar 2005 über
die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An-
erkennung von Geldstrafen und Geldbußen in das natio-



gegebene Reden

Dr. Peter Danckert


(A) (C)



(D)(B)

nale Recht umgesetzt werden. Durch den Rahmenbe-
schluss, an dem schon die rot-grüne Regierung der
15. Wahlperiode „mitverhandelt“ hat, werden alle in ei-
nem EU-Mitgliedstaat verhängten Geldstrafen und
Geldbußen bei allen Formen von Straftaten und Ord-
nungswidrigkeiten grundsätzlich gegenseitig anerkannt
und ab einem Betrag von 70 Euro – § 87 b Abs. 3 Nr. 2
IRG-E – europaweit vollstreckt. Zwar ist aus deutscher
Sicht eine Vollstreckung von Geldsanktionen bereits
nach den herkömmlichen Vorschriften über die interna-
tionale Rechtshilfe in Strafsachen möglich, allerdings
traten hier oft Schwierigkeiten in der praktischen Um-
setzung vor allem bei Massenverfahren auf. Durch den
nun umzusetzenden Rahmenbeschluss sollen bisherige
Hindernisse bei der grenzüberschreitenden Vollstre-
ckung von Geldsanktionen behoben und wesentliche Er-
leichterungen erreicht werden. Der vorliegende Gesetz-
entwurf knüpft dabei an unsere Vorarbeiten in der
16. Wahlperiode an. Damit wird der Weg zur Schaffung
eines einheitlichen Rechtsraumes in Europa kontinuier-
lich fortgesetzt.

In einem Europa der offenen Grenzen darf eine effek-
tive Strafverfolgung nicht an den nationalen Grenzen
der Mitgliedstaaten enden. Das betrifft beispielsweise
auch die grenzüberschreitende Verfolgung von Verkehrs-
sündern. Autofahrer, die sich auf Straßen anderer EU-
Staaten vorschriftswidrig verhalten, können nicht mehr
darauf vertrauen, dass ein Strafzettel praktisch folgen-
los bleibt. Das betrifft zum einen deutsche Autofahrer im
EU-Ausland, aber auch Autos mit ausländischem Kenn-
zeichen, die auf Deutschlands Straßen unterwegs sind.
Als eines der wichtigsten Ziel- und Transitländer des eu-
ropäischen Kontinents, geht es hier auch darum, auslän-
dische Verkehrsteilnehmer zur Einhaltung der Verkehrs-
regeln zu bewegen. Und das funktioniert eben nur, wenn
die Einhaltung dieser Regeln auch kontrolliert wird und
Verstöße gegebenenfalls auch geahndet und anschlie-
ßend auch vollstreckt werden. Zwar gab es in der Ver-
gangenheit wenig Begeisterung der Autofahrer für den
auch als „Knöllchenbeschluss“ bekannt gewordenen
Rahmenbeschluss und dessen Umsetzung. Letztendlich
geht es aber darum, die Gefahren auf unseren Straßen zu
reduzieren und die Sicherheit zu erhöhen, was schließ-
lich jedem Autofahrer am Herzen liegen sollte und zugu-
tekommt.

Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses bezieht sich
aber nicht nur auf Verkehrsdelikte. Er enthält eine Liste
von 39 Straftaten und Verwaltungsübertretungen
– § 87 b Abs. 1 Satz 2 IRG-E – bei denen die beidersei-
tige Sanktionierbarkeit seitens des Vollstreckungsstaates
nicht zu prüfen ist. Geldstrafen und Geldbußen werden
unter anderem bei folgenden Straftaten und Verstößen
auferlegt: Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung,
Terrorismus, Menschenhandel, Waffenschmuggel, Be-
trug, Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen, Verge-
waltigung, Korruption, Cyberkriminalität, Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit, Flugzeug-/Schiffsentführung,
Warenschmuggel.

Mit der Vereinfachung des Verfahrens zur Vollstre-
ckung von Bußgeldern und Geldstrafen kann somit eine
effektivere und effizientere Strafverfolgung erfolgen.
Zu Protokoll
Diese wird weiterhin dadurch erleichtert, dass die Ent-
scheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geld-
buße auf einer Bescheinigung in der Amtssprache des
Vollstreckungsstaates auszustellen ist. Kommunikations-
probleme und Übersetzungsfehler dürfen kein Hindernis
bei der Verfolgung von Rechtsverstößen sein.

Der Heimatstaat eines Betroffenen kann die grenz-
überschreitende Vollstreckung verweigern, wenn die aus-
ländische Entscheidung in einem Verfahren ergangen
ist, das Grundrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien
verletzt. Diese Überprüfungsmöglichkeit eines ausländi-
schen Vollstreckungstitels im Rahmenbeschluss ist von
der damaligen rot-grünen Bundesregierung erfolgreich
durchgesetzt worden, sie bleibt eine unverzichtbare Vo-
raussetzung.

Im Bundesrat wird der Gesetzentwurf von den Län-
dern in zwei Punkten kritisiert. Zum einen wird die im
Entwurf vorgesehene Konzentration von Verordnungs-
ermächtigungen auf das Bundesamt für Justiz abge-
lehnt. Die Regelung ermögliche dem Bund, den elektro-
nischen Rechtsverkehr und die entsprechende Aktenfüh-
rung auch insoweit einzuführen, als Landesjustiz-
behörden betroffen seien. Wie bei der Prozessordnung
müsse eine solche Entscheidung jedoch den Ländern
vorbehalten sein. Hier muss das weitere Vorgehen ge-
prüft werden und gegebenenfalls Änderungen erfolgen.
Zum anderen kritisieren die Länder, dass der Erlös aus
einer Vollstreckung allein dem Bund zustehen soll. Des-
halb soll, laut Vorschlag der Länder, eine Regelung ge-
troffen werden, wonach der Vollstreckungserlös je zur
Hälfte dem Bund und den Ländern zufließe, da diese ei-
nen erheblichen Teil des Verwaltungsaufwandes leisten
müssten. Die Bundesregierung lehnt das mit der Be-
gründung, dass der Bund die Hauptlast trage, ab. Nach
Auffassung unserer Fraktion, die dem Gesetzentwurf im
Übrigen zustimmt, sollte der Vollstreckungserlös zu zwei
Dritteln dem Bund und zu einem Drittel den jeweiligen
Bundesländern zufließen. Ich sagte schon, wir werden
dem Gesetz zustimmen. Noch in dieser Legislaturpe-
riode erwarten wir einen Bericht über die Umsetzung
dieses Gesetzes.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1704019600

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundes-

regierung einen Rahmenbeschluss über die Anwendung
des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von
Geldstrafen und Geldbußen umsetzen. Sie hat sich mit
dieser Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist drei
Jahre Zeit gelassen. Das ist kein Grund zur Kritik. Sie
hätte sich noch viel mehr Zeit nehmen sollen, am besten
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Das Vorhaben ist erheblichen verfassungsrechtlichen
Bedenken ausgesetzt. Es widerspricht den Prinzipien
von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, die in Art. 20
der Verfassung genannt werden. Es widerspricht damit
Prinzipien, die der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3
des Grundgesetzes unterfallen, weil sie gegen alle Ände-
rungen der Nachgeborenen vor Veränderungen geschützt
sind.



gegebene Reden

Wolfgang Neškoviæ


(A) (C)



(D)(B)


Wolfgang Nešković
Sie kennen die Lissabon-Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts. Danach kann es unter der Geltung
des Grundgesetzes keine Vereinigten Staaten von Europa
geben. Deshalb verbleiben auch die Kernbefugnisse eines
Europäischen Staates bei den Mitgliedstaaten.

Dazu gehört auch das Strafrecht. Ein europäisches
Strafrecht kann es danach nur nach zwei Möglichkeiten
geben, die beide völlig außer Blick- und Reichweite lie-
gen:

Erstens. Wir geben uns eine neue gesamtdeutsche
Verfassung, die eine weitergehende Übertragung von
Hoheitsbefugnissen auf die EU gestattet. Doch vor einer
gesamtdeutschen Verfassung fürchtet sich die Mehrheit
dieses Hauses seit der Wiedervereinigung. Sie fürchtet
den progressiven Gehalt dieser Verfassung.

Zweitens. Alle Staaten der EU würden die an den
Grundrechten orientierten Kernelemente und Grundideen
unseres Straf- und Strafprozessrechtes übernehmen.
Durch den hier in Rede stehenden Rahmenbeschluss und
seine Umsetzung wird aber – wie schon beim Europäi-
schen Haftbefehl – europäisches Strafrecht durch die
Hintertür eingeführt.

Es spielt aber keine Rolle, ob Sie einen grundgesetz-
widrigen Bereich nun durch die Hintertür oder durch die
Vordertür betreten. Als Gesetzgeber des Grundgesetzes ist
Ihnen der Zutritt gleichermaßen untersagt – zumindest
solange die sehr unterschiedlichen Rechtsstandards der
Mitgliedstaaten im Straf- und Ordnungswidrigkeiten-
recht nicht im Sinne des bundesdeutschen Grundrechts-
schutzes angeglichen worden sind.

Nach dem Gesetzentwurf sollen Geldstrafen und
Geldbußen, die in einem anderen Mitgliedstaat verhängt
wurden, in der Bundesrepublik wesentlich leichter als
bisher vollstreckt werden. Diese Vollstreckung ist bereits
nach dem geltenden Recht möglich. Das Gesetz über die
internationale Rechtshilfe in Strafsachen beinhaltet aus
gutem Grund hohe rechtsstaatliche Hürden. Diese Hür-
den schützen die Bundesbürger vor unangemessenen
Strafandrohungen und vor der Verfolgung wegen nicht
nachvollziehbarer Tatbestände.

Diesen unverzichtbaren Schutz will der Entwurf entfal-
len lassen. Stattdessen soll er innerhalb der EU durch das
System der gegenseitigen Anerkennung ersetzt werden. Es
soll ein Prinzip, das für Produkte und Dienstleistung
entwickelt wurde, auf die Strafverfolgung von Menschen
Anwendung finden. Im Wirtschafsrecht sollte es die – wirt-
schaftliche – Freiheit der Bürgerinnen und Bürger erwei-
tern. Im Strafrecht soll es nun als Instrument eingesetzt
werden, um so den europaweiten Import von Unfreiheiten
in die Bundesrepublik zu ermöglichen.

Nicht Freiheitsrechte werden also anerkannt, sondern
die Befugnis zur Beschränkung der grundrechtlichen
Freiheiten. Der Rahmenbeschluss ordnet also die Ver-
kehrsfähigkeit und die damit mögliche Durchsetzung
von Unfreiheiten an. Mit dem Prinzip der gegenseitigen
Anerkennung werden die sehr unterschiedlichen Rechts-
standards und Rechtsgrundsätze in Strafverfahren in den
europäischen Mitgliedstaaten als gleichwertig behandelt,
obwohl die Anforderungen – etwa an Beweisverfahren,
Zu Protokoll
Beweiserhebungen und Beweisverwertungen – sehr un-
terschiedlich sind.

Unterschiedlich sind auch die Straftatbestände. Es
bestehen in Europa erhebliche Unterschiede bei der Be-
urteilung der Frage, welches Verhalten überhaupt als
strafwürdig zu erachten ist. Nach dem Willen der Ent-
wurfsverfasser soll in 37 sehr unbestimmt formulierten
Deliktsgruppen bei der Vollstreckung von Geldsanktionen
auf die Prüfung der beiderseitigen Sanktionierbarkeit
verzichtet werden. Doch diese Deliktsgruppen reichen
von schweren Straftaten, wie zum Beispiel Terrorismus,
Menschenhandel, Vergewaltigung und Flugzeugentfüh-
rung, bis zu einfachen Verkehrsdelikten. In dem Katalog der
Deliktsgruppen auftauchende Schlagworte wie „Cyber-
kriminalität“, „Fremdenfeindlichkeit“ und „Sabotage“
sind – mangels hinreichender Bestimmtheit – allenfalls
Karikaturen einer rechtsstaatlichen Regelung. Die An-
erkennung und Vollstreckung einer strafrechtlichen Ent-
scheidung eines anderen Mitgliedstaates kann dabei
auch zur Folge haben, dass die Bundesrepublik Delikte
anerkennt, die sie in der eigenen Rechtsordnung nicht
kennt, die ihr Parlament bewusst nicht für strafwürdig
befand.

Das ist undemokratisch. Denn der Grundrechtsein-
griff eines Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und
Bürgern kann nicht auf der Grundlage des Rechts eines
anderen Staates vorgenommen werden. Es ist zumindest
auf dem Gebiet des Strafrechts eine unverzichtbare
Bedingung der Demokratie, dass die Bürgerinnen und
Bürger nur solchen Eingriffen in ihre Freiheit ausgesetzt
sind, auf deren Regelung sie durch parlamentarische
Rechtsetzung Einfluss nehmen konnten. Das erkennt
auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es in sei-
ner Lissabon-Entscheidung ausführt: „Das Strafrecht in
seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches
Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zu-
sammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible
demokratische Entscheidung über das rechtsethische
Minimum.“

Die gegenseitige Anerkennung ohne die Prüfung der
beiderseitigen Strafbarkeit kann aber auch in der Praxis
zu ganz absurden Ergebnissen führen. Der Gesetzent-
wurf sieht vor – im Ansatz ist dem durchaus zuzustim-
men –, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat gegen
einen Jugendlichen verhängte Geldstrafe in eine Sank-
tion nach den Vorgaben des Jugendgerichtsgesetzes um-
zuwandeln ist. Das ist richtig, weil das am Erziehungs-
gedanken orientierte Jugendstrafrecht die Verhängung
einer Geldstrafe gar nicht kennt. Wenn der Jugendliche
in einem anderen Mitgliedstaat jedoch wegen eines Ver-
haltens verurteilt wurde, das die hiesige Rechtsordnung
schon nicht als in irgendeiner Form sanktionswürdig
betrachtet, dann steht der Jugendrichter vor einem un-
lösbaren Problem. Er soll mit den Mitteln des Jugend-
gerichtsgesetzes erzieherisch auf den Jugendlichen ein-
wirken.

Aus bundesdeutscher Sicht gibt es jedoch überhaupt
nichts zu erziehen. Es gibt nur etwas zu lassen – am besten
gleich den gesamten Entwurf zur Umsetzung des Rah-
menbeschlusses, der solche Widersinnigkeit ermöglicht.



gegebene Reden

Wolfgang Neškoviæ


(A) (C)



(D)(B)


Wolfgang Nešković
Es droht Ihnen also nicht einmal Ungemach, wenn Sie
auf den Bänken der Regierungsfraktion zur Abwechslung
einmal Rückgrat zeigen würden. Das Bundesverfassungs-
gericht hat Ihnen in seiner Entscheidung zum Europäi-
schen Haftbefehl gleichsam einen Freibrief ausgestellt.
Nie brauchte man so wenig Mut, um so viel Sinnvolles
für die Bundesrepublik und die Freiheit ihrer Bürger zu
stiften.

Die „Segelanweisung“ des Bundesverfassungsge-
richts lautet: Das Europäische Parlament, eigenständige
Legitimationsquelle des europäischen Rechts, wird in

(vergleiche Art. 39 Abs. 1 EUV)

den Anforderungen des Demokratieprinzips entspricht,
weil die mitgliedschaftlichen Legislativorgane die poli-
tische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung,
notfalls auch durch Verweigerung der Umsetzung, be-
halten. – Das heißt, Sie können die Umsetzung auch
schlicht verweigern. Sie haben also eine demokratische
Pflicht, die Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit eines
Rahmenbeschlusses selbst zu prüfen, und sind dann auch
in der Lage, seine Umsetzung zu verweigern. Kommen Sie
dieser Pflicht also nach! Dafür sind Sie alle gewählt
worden.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704019700

Fünf Jahre hat es gedauert, bis die Europäische

Union ihre Vorstellung, die Vollstreckung von Geldstra-
fen und Geldbußen in den Mitgliedstaaten zu ermögli-
chen und zu vereinfachen, realisiert hat. Vom 15. Januar
2001 stammt das Maßnahmenprogramm des Rates zur
Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner-
kennung gerichtlicher Entscheidungen, in dem der
Anwendung dieses Grundsatzes auf Geldstrafen und
Geldbußen Vorrang eingeräumt wurde. Und erst am
24. Februar 2005 hat der Rat der EU den entsprechen-
den Rahmenbeschluss angenommen.

Ich will deshalb nicht kritisieren, dass auch die Bun-
desregierung fünf Jahre gebraucht hat, um ein entspre-
chendes Umsetzungsgesetz vorzulegen. Aber wir müssen
uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Kom-
mission in ihrem neuesten Aktionsplan schon für 2011
erneut einen Legislativvorschlag zur gegenseitigen An-
erkennung von Geldstrafen und Geldbußen einschließ-
lich Geldbußen für Straßenverkehrsdelikte angekündigt
hat (Ratsdokument 8895/10). Es würde wenig Sinn ma-
chen, wenn wir uns an die Umsetzung eines Rahmensbe-
schlusses machen würden, der absehbar durch neue
europäische Vorgaben ersetzt werden soll.

Aber zurück zum heutigen Gesetzentwurf der Bundes-
regierung: Für die Bürgerinnen und Bürger wird sich
nach der Verabschiedung dieses Gesetzes wegen der
Anzahl der Betroffenen Entscheidendes ändern. Die bis-
herigen Rahmenbeschlüsse – so der Europäische Haft-
befehl, die Beweisanordnung und Anerkennung von
Einziehungen – betrafen Strafverfahren und Freiheits-
entziehungen.

Jetzt werden ungleich mehr Menschen betroffen sein.
Bei uns in Deutschland kam es 2006 zu 124 694 Frei-
heitsstrafen, aber zu 520 791 Geldstrafen. Geldbußen
Zu Protokoll
übertreffen diese Zahlen um ein Vielfaches. Von den
14 309 durch die Amtsgerichte im Jahr 2008 verhängten
Geldbußen war der größte Anteil im Straßenverkehr

(12 539). Bereits aus dem Verhältnis dieser Zahlen lässt

sich ermessen, welche praktische Bedeutung das Gesetz
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Anwen-
dung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung
von Geldstrafen und Geldbußen haben wird. Umso
wichtiger ist es, dass sich der Bundestag – ohne sich da-
für fünf weitere Jahre Zeit zu lassen – intensiv mit den
Folgen der neuen Regelungen für die Bürgerinnen und
Bürger befasst.

Leider hat sich auch beim umzusetzenden Rahmenbe-
schluss die wohl so bald nicht umkehrbare Vorgehens-
weise durchgesetzt, weitgehend auf die Anforderung
gegenseitiger Strafbarkeit zu verzichten. Es sind eben
nicht, wie aber im Regierungsentwurf ausgeführt,
„39 Straftaten“, bei denen auf gegenseitige Strafbarkeit
verzichtet wird. Es sind 39 Deliktsgruppen, deren zum
Teil unpräzise und amorphe Beschreibung hart am Rand
des Bestimmtheitsgebots verläuft. Das ist Anlass genug,
zum wiederholten Male die Präzisierung dieser soge-
nannten Listendelikte auf europäischer Ebene zu for-
dern.

Der Gesetzentwurf sieht klare Regelungen zum ge-
richtlichen Rechtsschutz vor. Das begrüßen wir aus-
drücklich. Ob es aber bei der Unanfechtbarkeit der
möglichen gerichtlichen Verwerfung eines Einspruchs
bleiben muss, will ich infrage stellen.

Gut und richtig ist auch, dass eine Umwandlung von
Geldstrafen und Geldbußen in Ersatzfreiheitsentzug
oder andere Ersatzstrafen nicht vorgesehen ist. Der
Rahmenbeschluss sieht vor, von einer Vollstreckung ab-
zusehen, wenn die betroffene Person im ausländischen
Verfahren nicht einwenden konnte, für die Handlung
nicht verantwortlich zu sein. Es geht um nichts weniger
als um die Halterhaftung, die wir aus guten Gründen bei
Verkehrsverstößen im fließenden Verkehr nicht kennen.

Der Gesetzentwurf macht hier von der gewährten
Vollstreckungsverweigerung Gebrauch. So weit, so gut.
Aber es ist nicht einzusehen, warum dabei nicht zum
Mittel eines zwingenden Zulässigkeitshindernisses ge-
griffen wurde, sondern nur zu einem Bewilligungshin-
dernis in Form einer Ermessensentscheidung. Ich halte
dies für mit dem Schuldprinzip des deutschen Strafrechts
nicht vereinbar und darf an die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag
von Lissabon erinnern. Darin heißt es – ich zitiere aus
Randnummer 364 –: „Das Schuldprinzip gehört zu der
wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungs-
identität, die auch vor Eingriffen durch die supranatio-
nal ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“

Auf das Urteil nimmt auch die Gesetzesbegründung
Bezug. Umso unverständlicher ist es, dass § 87 d Abs. 2
des Gesetzentwurfs nur regelt, dass die Bewilligung ei-
nes Ersuchens um Vollstreckung vom zuständigen Bun-
desamt für Justiz abgelehnt werden „kann“, wenn die
betroffene Person in dem ausländischen Verfahren keine
Gelegenheit zu dem Einwand hatte, für die Handlung
nicht verantwortlich zu sein, und auch nur dann, wenn



gegebene Reden

Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

sie dies gegenüber dem Bundesamt ausdrücklich „gel-
tend macht“. Meines Erachtens wird das dem Gehalt des
Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht gerecht.

Außerdem sollten wir noch über die Stichtagsrege-
lung für die Anwendbarkeit des Gesetzes diskutieren.
Hier erscheint es mir aus Vertrauensschutzerwägungen
plausibel, auf den Zeitpunkt der Tatbegehung oder je-
denfalls einen früheren Zeitpunkt, als im Regierungsent-
wurf vorgesehen, abzustellen. Der Regierungsentwurf
macht dagegen die Rechtskraft einer gerichtlichen Ent-
scheidung zum maßgeblichen Zeitpunkt. Bei behördli-
chen Entscheidungen ist es das Datum der Entschei-
dung, die dann allerdings noch nicht bestandskräftig
sein muss. Hierüber kann man reden, aber allein die
längst abgelaufene Umsetzungsfrist sollte jedenfalls
nicht das entscheidende Argument sein.

Von diesen Kritikpunkten abgesehen will ich aber
ausdrücklich festhalten, dass wir das Ende der Schon-
frist für Verkehrssünder – ein wesentlicher Anwendungs-
bereich des Gesetzes in der Praxis wird ja die Vollstre-
ckung von Strafzetteln über 70 Euro aus dem Ausland
und die effektivere Sanktionierung von Verkehrsverstö-
ßen im Urlaubs- und Transitverkehr durch Deutschland
sein – sehr begrüßen.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1704019800


Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Europäi-
schen Rates vom 24. Februar 2005 zur EU-weiten Voll-
streckung von Geldstrafen und Geldbußen vorgelegt.
Dieser Rahmenbeschluss ist nach den Rahmenbeschlüs-
sen über den Europäischen Haftbefehl, die Sicherstel-
lung von Beweismitteln und die Anerkennung von Ein-
ziehungsentscheidungen das vierte auf dem Grundsatz
der gegenseitigen Anerkennung beruhende europäische
Rechtsinstrument, dessen Umsetzung in innerstaatliches
Recht nun ansteht.

Der Rahmenbeschluss zur Vollstreckung von Geldsank-
tionen stellt einen wichtigen Baustein für die internatio-
nale Zusammenarbeit in Strafsachen dar.

Er legt die grundsätzliche Verpflichtung der Mitglied-
staaten fest, eine in einem anderen Mitgliedstaat rechts-
kräftig verhängte Geldstrafe oder Geldbuße anzuerken-
nen und zu vollstrecken, ohne die materielle Richtigkeit
der zu vollstreckenden Entscheidung nochmals zu prü-
fen. Dies ist der Grundgedanke des Grundsatzes der ge-
genseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen.
Weiterhin enthält der Rahmenbeschluss eine Liste von
Delikten, bei deren Vorliegen das Erfordernis der bei-
derseitigen Strafbarkeit vom Vollstreckungsstaat nicht
mehr zu überprüfen ist.

Aktuell sind bereits in 18 EU-Mitgliedstaaten ent-
sprechende Umsetzungsgesetze in Kraft. Dazu gehören
alle unsere Nachbarstaaten, ausgenommen Belgien.

Aus Sicht der Bundesregierung hat der europäische
Gesetzgeber mit diesem Rahmenbeschluss ein sehr
wichtiges Instrument geschaffen, um in einem Europa
ohne Grenzen gleichsam rechtsfreie Räume zu verhin-
Zu Protokoll
dern. Denn bislang ist es so, dass wir zwar über vielfäl-
tige Instrumente der strafrechtlichen Zusammenarbeit
bei der Bekämpfung von schwerer Kriminalität und
Terrorismus verfügen. Aber was fehlte, war die Möglich-
keit, bei kleineren Delikten und Vergehen, die nur mit
einer Geldsanktion zu ahnden sind, dem innerstaatli-
chen Recht effektiv zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn
der Täter seinen Wohnsitz nicht in Deutschland hat.

Gerade für Deutschland ist dies besonders wichtig.
Schließlich leben wir in einem Staat, der in der Mitte
Europas liegt und durch den täglich Hunderttausende
Menschen reisen, die meisten aus den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union. Künftig werden sowohl Geld-
bußen für Verkehrsverstöße als auch Geldstrafen für
strafrechtliche Delikte tatsächlich vollstreckt werden.
Das bringt uns einem europäischen Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts ein gutes Stück näher.

Allerdings muss das Prinzip der Gegenseitigkeit ein-
gehalten werden. Aber – und das ist wichtig –: Die An-
erkennung ausländischer Sanktionen darf nicht um
jeden Preis erfolgen. Es besteht auch ein Anspruch der
Bürgerinnen und Bürger auf Rechtsklarheit und Rechts-
sicherheit. Unser Augenmerk lag deshalb von Anfang an
darauf, sicherzustellen, dass bei der Umsetzung des
Rahmenbeschlusses die Rechte unserer Bürgerinnen und
Bürger gewahrt bleiben. Das heißt konkret: Wir dürfen
uns nicht an der Vollstreckung von ausländischen Geld-
bußen und Geldstrafen beteiligen, die unter Missach-
tung elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze zustande
gekommen sind.

Selbstverständlich haben wir großes Vertrauen in die
Rechtssysteme unserer europäischen Partner. Wir gehen
deshalb davon aus, dass in der weit überwiegenden An-
zahl der Fälle die Grundrechte der Betroffenen gewahrt
werden. Gleichwohl haben wir in Deutschland – in
Übereinstimmung mit den Vorgaben des Rahmenbe-
schlusses – dafür gesorgt, dass in den Fällen, in denen
dieses Vertrauen einmal nicht gerechtfertigt ist, eine
Vollstreckung durch deutsche Behörden nicht in Be-
tracht kommt.

Hier gibt es im Wesentlichen zwei Schwerpunkte:

Erstens. Die Betroffenen dürfen darauf vertrauen,
sich gegen eine zu Unrecht ergangene ausländische
Sanktion zur Wehr setzen zu können. Dieses Vertrauen
müssen wir schützen. Dazu gehört die Gewährung recht-
lichen Gehörs ebenso wie die Möglichkeit, sich gegen
eine ausländische Geldsanktion verteidigen zu können.

Zweitens. Elementare Grundsätze des Schuldprinzips
dürfen nicht infrage gestellt werden.

Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
wurf wird diesen Anforderungen vollständig gerecht.
Wir sind überzeugt, damit eine stabile Balance zwischen
der Notwendigkeit einer erleichterten Strafverfolgung
innerhalb eines Europas der offenen Grenzen einerseits
und dem angemessenen Schutz vor rechtsstaatlich frag-
licher Verfolgung unserer Bürger andererseits gefunden
zu haben.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704019900

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/1288 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zu-
satzpunkt 4 auf:

19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

In historischer Verantwortung – Für ein Blei-
berecht der Roma aus dem Kosovo

– Drucksache 17/784 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Zwangsrückführungen von Minderhei-
tenangehörigen in das Kosovo

– Drucksache 17/1569 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
legen zu Protokoll gegeben werden: Stephan Mayer

(Altötting), Rüdiger Veit, Jimmy Schulz, Ulla Jelpke und

Josef Philip Winkler.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1704020000

Die Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grü-

nen verkennen nicht nur die rechtlichen Grundsätze im
deutschen Aufenthaltsrecht, sondern sie sind auch
realitätsfern. Das Rückübernahmeabkommen zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Kosovo ist am 14. April 2010 durch den Bundesinnen-
minister und seinen kosovarischen Amtskollegen unter-
zeichnet worden und mittlerweile im Bundesgesetzblatt
veröffentlicht worden. Es enthält die auch in anderen
etwa von der EU mit Drittstaaten geschlossenen Rück-
übernahmeabkommen, üblichen Komponenten der Rück-
übernahme eigener Staatsangehöriger, der Übernahme
Drittstaatsangehöriger und Staatenloser sowie Regelun-
gen zur Durchbeförderung von Personen. Somit handelt
es sich also keineswegs um ein Abkommen, das aus-
schließlich die Abschiebung von bestimmten ethnischen
Gruppen zum Ziel hätte. Vielmehr ist international aner-
kannter Anknüpfungspunkt für die Frage einer Pflicht
zur Rückübernahme stets nur die Staatsangehörigkeit
oder die Herkunft einer Person aus dem Zielstaat, nicht
aber ethnische oder sonstige persönliche Merkmale.
Hierauf stellt auch dieses Rückübernahmeabkommen
ab. Mit dem Rückübernahmeabkommen werden somit
lediglich die verfahrensmäßigen und technischen Ein-
zelheiten für die Verpflichtung zur Rückübernahme einer
Person zwischen den Vertragsstaaten geregelt. Dies be-
trifft etwa die Nachweis- und Glaubhaftmachungsmittel
für die Staatsangehörigkeit, Fristen zur Beantwortung
eines Übernahmeersuchens und dessen erforderliche
Angaben oder die für die Stellung der Ersuchen zustän-
digen Behörden. Es findet hingegen keine Bewertung
der Frage statt, ob eine Person tatsächlich zurückge-
führt werden kann. Diese erfolgt im Rahmen der Einzel-
fallprüfung durch die zuständigen Ausländerbehörden
der Länder bzw. durch das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge nach den Maßgaben des deutschen Aufent-
haltsgesetzes.

Im Rahmen einer solchen Einzelfallprüfung werden
dann selbstverständlich auch humanitäre und men-
schenrechtliche Aspekte berücksichtigt. Dies ist ein
Kernbestandteil des deutschen Ausländer- bzw. Asyl-
rechts. Ausländer, denen im Herkunftsland politische
Verfolgung, eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben
oder Folter droht, erhalten in Deutschland Asyl, Flücht-
lingsschutz oder subsidiären Schutz. Dieser Schutz kann
vorliegend nur im Wege einer Einzelfallprüfung gewährt
werden, da die Bundesregierung unter Beiziehung von
Berichten internationaler Organisationen zurecht fest-
gestellt hat, dass keine unmittelbare Gefährdung nur
aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie
und auch keine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in der
Republik Kosovo mehr herrscht.

Zu der gleichen Einschätzung sind im Übrigen auch
andere europäische Aufnahmestaaten, die ebenfalls be-
reits mit der Rückführung von ethnischen Minderheiten
begonnen haben, gekommen. Erst kürzlich hat etwa das
Vereinigte Königreich die Republik Kosovo in seine
Liste sicherer Zielstaaten aufgenommen. Auch der von
Ihnen in der Antragsdrucksache zitierte Bericht des
Kommissars für Menschenrechte des Europarates,
Thomas Hammarberg, spricht sich lediglich gegen
„Massenabschiebungen“ von Personen in das Kosovo
aus.

Unabhängig davon existieren im geltenden Aufent-
haltsrecht eine Reihe von Regelungen, die eine Legali-
sierung des Aufenthaltes Geduldeter ermöglichen.
Hierzu gehören die §§ 25 Abs. 4 und 5 und 23 a Aufent-
haltsgesetz sowie die Bleiberechtsregelung des § 104 a
Aufenthaltsgesetz, die durch Beschluss der Innenminis-
terkonferenz Anfang Dezember 2009 um zwei Jahre ver-
längert und um weitere Verlängerungstatbestände
ergänzt wurden, unter anderem für Personen mit abge-
schlossener Schul- oder Berufsausbildung.

Auch angesichts dieser Regelungen, von denen in der
Vergangenheit bereits mehrere Tausend kosovarische
Staatsangehörige profitiert haben, besteht aus meiner
Sicht zu Recht kein Handlungsbedarf für eine spezielle
Bleiberechtsregelung für Roma-Familien aus dem Ko-
sovo oder die Anregung einer Aussetzung der Abschie-
bungen von Personen aus dem Kosovo gegenüber den
Bundesländern.

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu den tat-
sächlichen Bedingungen bei der Rückführung ausfüh-
ren. Die Angaben in den beiden Anträgen von den Lin-
ken und von Bündnis 90/Die Grünen entsprechen leider
nicht der Realität. Der kosovarischen Seite wurde am
Rande der Abkommensverhandlungen zugesagt, dass
jährlich maximal 2 500 Übernahmeersuchen durch die
Ausländerbehörden übermittelt werden und auf ein an-
gemessenes Verhältnis der ethnischen Zugehörigkeiten
geachtet wird. Massenabschiebungen, so wie von Ihnen
vorgetragen, kann es somit gerade nicht geben.

Die tatsächlichen Rückführungszahlen belegen zu-
dem, dass Deutschland seine Zusagen auch einhält. Im
Jahr 2009 wurden bei 2 385 Ersuchen nur 541 Personen
zurückgeführt, hiervon 179 Angehörige ethnischer Min-
derheiten, darunter 76 Roma. Bis Ende März 2010 wur-
den 177 Personen zurückgeführt, hierunter 66 Angehö-
rige ethnischer Minderheiten, davon 47 Roma.

Bund und Länder bevorzugen die freiwillige Ausreise
von illegal aufhältigen Personen und fördern diese ge-
rade bei rückkehrwilligen Kosovaren auch finanziell in
beachtlichem Umfang. So erhält zum Beispiel eine vier-
köpfige Roma-Familie – zwei Erwachsene, zwei Kinder –
neben der vollständigen Übernahme ihrer Heimreise-
kosten eine Starthilfe und eine Reisebeihilfe von insge-
samt 2 850 Euro, was einem durchschnittlichen Jahres-
bruttoeinkommen im Kosovo entspricht.

Im Übrigen leistet für Rückkehrer aus den Ländern
Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-West-
falen und Sachsen-Anhalt das vom Bund und diesen
Ländern betriebene Rückkehrprojekt „URA 2“ mit ei-
nem Beratungszentrum in Pristina wertvolle Unterstüt-
zung bei der Wiedereingliederung in die kosovarische
Gesellschaft durch vielfältige Beratungs- und Betreu-
ungsangebote. Diese Angebote reichen von sozialer und
psychologischer Beratung über Arbeits- und Wohn-
raumvermittlung bis hin zur Gewährung von Lohn- und
Mietkostenzuschüssen oder einer Existenzgründungs-
hilfe. Dabei werden alle Rückkehrer ohne Rücksicht auf
die Art ihrer Rückkehr oder ihre ethnische Zugehörig-
keit gleichermaßen betreut. Somit sind auch die in den
Anträgen geschilderten tatsächlichen Voraussetzungen
für ein Einschreiten des Bundestages nicht gegeben.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1704020100

Die Zahl der ethnisch motivierten Gewalttaten im Ko-

sovo ist im Vergleich zu den schweren Übergriffen 2004
zurückgegangen, und auch die Befürchtung, dass die
Spirale der Gewalt gegen Minderheiten nach der Unab-
hängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 ei-
nen neuerlichen Höhepunkt erreicht – die ich im Übri-
gen auch geteilt habe –, hat sich zum Glück nicht
bewahrheitet. Dass es zu weniger Übergriffen kommt,
liegt aber leider nicht so sehr daran, dass es kein ethni-
sches Konfliktpotentzial mehr gibt, sondern daran, dass
die ethnischen Gruppen größtenteils in homogenen
Gruppen voneinander getrennt leben. Wo es eine solche
Trennung aber nicht gibt, muss man leider nach wie vor
drohende Diskriminierungen von Minderheiten konsta-
tieren.
Zu Protokoll
Vor allem aber fehlt es im Kosovo an fast allen sozial-
ökonomischen Voraussetzungen für Rückkehrer und Ab-
geschobene. Dies betrifft Fragen des Zugangs zum Ar-
beitsmarkt sowie zur Gesundheitsversorgung und – wie
bescheiden auch immer – Fragen der Sicherung ihres
Lebensunterhalts.

Unser Kollege Gerold Reichenbach hat als Teilneh-
mer der SPD-Fraktion an einer Delegationsreise des In-
nenausschusses vom 12. bis zum 14. April dieses Jahres
in das Kosovo teilgenommen, um sich vor Ort ein Bild
über die Lage zu machen und um uns bei der realisti-
schen Beurteilung der verschiedenen Einschätzungen zu
helfen. Seiner Einschätzung nach ist die soziale Situa-
tion vor allem für Roma im Kosovo nach wie vor prekär,
insbesondere auch für Rückkehrer. Zwar hat die Regie-
rung des Kosovo bereits 2007 ein Programm zur Reinte-
gration von Rückkehrern aufgelegt, allerdings halten die
Behörden ihre diesbezüglichen Verpflichtungen bislang
nicht ein. Beispielsweise soll über Koordinierungsme-
chanismen eine Abstimmung zwischen zentralen und lo-
kalen Behörden erreicht werden. Die meisten der von
der OSZE befragten lokalen Behördenvertreter kannten
das Programm zur Reintegration von Rückkehrern aber
nicht einmal. Auch gab es keinerlei Vernetzung mit den
zentralen Behörden. Dies erklärt, dass keiner der be-
fragten Behördenvertreter von der zentralen Behörde je-
mals über die bevorstehende Ankunft unfreiwilliger
Rückkehrer informiert wurde und deshalb keine Vorkeh-
rungen für deren Reintegration treffen konnte.

Gerold Reichenbach berichtete, dass sich diese Situa-
tion bislang auch nicht grundlegend verbessert hat. Da
die lokalen Behörden zumeist bereits mit der Reintegra-
tion der freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehrer der
größeren Bevölkerungsgruppen überfordert sind, sind
bei verstärkter Rückführung von Minderheiten ein An-
wachsen der Konfliktpotenziale und die Gefahr erneuter
Gewaltausbrüche zu befürchten.

Wenn nun im Antrag der Fraktion Die Linke aller-
dings darauf abgestellt wird, dass die Massenvertrei-
bung der Roma aus dem Kosovo vor allem auf der „krie-
gerischen Intervention der NATO gegen das ehemalige
Jugoslawien“ beruht und Deutschland vor allem des-
halb eine große Verantwortung für das Elend dieser
Menschen trifft, dann müssen wir dem entschieden wi-
dersprechen. Keinesfalls möchten wir die grundsätzli-
che Verantwortung negieren, die Deutschland für die
Sinti- und Roma-Angehörigen aufgrund der gegen diese
Menschen verübten abscheulichen Verbrechen während
der Nazidiktatur trägt; nein, der Hauptverantwortliche
für die Massenvertreibungen von Minderheiten aus dem
Kosovo ist der als Kriegsverbrecher in Den Haag vor
einem UN-Tribunal wegen des Vorwurfs der Kriegsver-
brechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit
angeklagt gewesene Slobodan Milosevic.

Schon aufgrund dieser Wertung des Antrages der
Fraktion Die Linke werden wir ihn nicht mittragen.
Hinzu kommt, dass man sich in ihm pauschal für die
sofortige Aussetzung der Abschiebung von Flüchtlingen
aus dem Kosovo ausspricht. Die Gruppe, die jedoch
besonderen Schutzes vor Abschiebung bedarf, sind, wie



gegebene Reden

Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

weiter oben ausgeführt, die ethnischen Minderheiten
und besonders schutzwürdige Personen. Auch der For-
derung der Linken, das deutsch-kosovo-albanische
Rückführungsabkommen nicht zu unterschreiben bzw.
aufzukündigen, können wir uns nicht anschließen. Wir
erwägen stattdessen eine Aussetzung des Abkommens
bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Programme für Rück-
kehrer in der Praxis greifen.

Etwas anders sieht es mit dem differenzierteren An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus. Richtig
ist ja an dem Antrag, dass für Minderheitenangehörige
– insbesondere für die Roma – aufgrund der Sicherheits-
lage bis Anfang 2009 ein faktischer Abschiebestopp
galt, der durch die Innenministerkonferenz regelmäßig
verlängert wurde. Richtig ist auch, dass die Roma trotz-
dem von den Bleiberechtsregelungen bisher kaum profi-
tieren konnten. Aber die alles entscheidende Frage, wie
die konkrete gegenwärtige Situation im Kosovo nun
wirklich einzuschätzen ist, um einen Abschiebungsstopp
zwingend zu fordern, wird in diesem Antrag ebenso
wenig beantwortet.

Wenn die SPD-Bundestagsfraktion selbst noch keinen
Antrag eingebracht hat, dann nicht etwa, weil wir noch
keinen formuliert hätten. Allerdings haben wir von sei-
ner Einbringung bislang aus guten Gründen abgesehen.
Wir wollten erstens die verschriftlichten Ergebnisse der
Delegationsreise des Innenausschusses in das Kosovo
abwarten, um anschließend zu einer fundierteren Be-
wertung der teils doch sehr widersprüchlichen Charak-
terisierung der Situation vor Ort zu kommen.

Aber auch dies reicht uns noch nicht. Wir möchten
zweitens – erst recht nach den heutigen Gesprächen von
Mitgliedern des Innenausschusses auf Einladung des
Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zur Situation
von Roma, Aschkali und Kosovo-Ägyptern im Kosovo –
eine Anhörung zur Lage der Minderheiten im Kosovo
vorschlagen. Als Experte bietet sich unter anderem Pro-
fessor Dr. Christian Schwarz-Schilling an, nicht etwa als
„Kronzeuge“ gegen die Haltung seiner Parteifreunde,
sondern weil er uns als Hoher Repräsentant für Bos-
nien-Herzegowina a. D. und als Initiator des uns allen
bekannten Oster-Appells besonders sachkundig und
glaubwürdig erscheint.

Wir sind der Überzeugung, dass wir erst nach dem
ausführlichen Reisebericht des Innenausschusses und
dieser von uns beantragten Anhörung die bestmögliche
Entscheidungsgrundlage für unser Handeln haben wer-
den. Aber unbeschadet von diesen Informationen sowie
den anschließenden Beratungen meiner Fraktion will
ich Sie heute mit meinen persönlichen Überlegungen
und Schlussfolgerungen vertraut machen:

Erstens. Generell gehören Rückführungen oder gar
Abschiebungen von bereits seit vielen Jahren in
Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern
zu dem traurigsten Kapitel unserer bis Ende der 90er-
Jahre nur auf Abwehr ausgerichteten Gesetzgebung auf
dem Gebiet des Ausländer- und Flüchtlingsrechtes. Dies
gilt vor allem für die in Deutschland geborenen und/
oder hier aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen,
aber auch für andere, die längst begonnen haben sich in
Zu Protokoll
Deutschland zu integrieren. Dieses Phänomen unsägli-
cher Kettenduldungen beschäftigt die SPD-Fraktion und
im Übrigen auch mich persönlich, seitdem ich hier im
Bundestag bin, also seit rund zwölf Jahren. Ich verweise
in diesem Zusammenhang auf unsere letzte gesetzgebe-
rische Initiative vom Dezember für eine gesetzliche Blei-
berechtsregelung, von der dann auch gerade Kinder und
Jugendliche und solche eine Aufenthaltserlaubnis und
damit eine sichere Zukunftsperspektive ohne weitere für
sie nicht erreichbare Voraussetzung erhalten können, die
sich als Alleinstehende mindestens zwölf und als Familie
mindestens zehn Jahre bei uns aufgehalten haben.

Zweitens. Vor allem Sinti und Roma – die wohl größ-
ten ethnischen Minderheiten in ganz Europa – sind seit
vielen Jahrzehnten fast nirgendwo besonders willkom-
men und häufig besonderer Diskriminierung ausgesetzt.
Ihnen gegenüber sollten wir besondere Sensibilität und
Mitmenschlichkeit an den Tag legen, anstatt sie in ein
ungewisses Schicksal notfalls sogar abzuschieben.

Drittens. Generell sind die sozial-ökonomischen Vo-
raussetzungen im Kosovo nicht nur für die Rückkehrer
– aber für diese ganz besonders –, alles andere als güns-
tig anzusehen. Zumindest in dieser Einschätzung werden
vermutlich alle Teilnehmer der Delegationsreise des In-
nenausschusses übereinstimmen.

Viertens. Daraus folgt, dass Angehörige von Minder-
heiten – namentlich also Sinti und Roma, Aschkali und
Kosovo-Ägypter – oder auch besonders schutzbedürf-
tige Personengruppen nicht zurückgeführt und schon
gar nicht dorthin zwangsweise abgeschoben werden
sollten. Unter besonders schutzwürdigen Personengrup-
pen verstehe ich in diesem Zusammenhang Kinder und
Jugendliche, alte und gebrechliche Menschen, Kranke,
die im Kosovo nicht zufriedenstellend behandelt werden
können, Familien mit kleinen Kindern, Alleinerziehende
und auch diejenigen Menschen, die zwar familiäre
Beziehungen in Deutschland, aber keinerlei Angehörige
mehr im Kosovo haben.

Dies soll und muss jedenfalls so lange gelten, als die
Voraussetzungen im Sinne tatsächlicher Reintegrations-
maßnahmen nicht greifen. Insoweit sollten auch Rück-
führungsabkommen in ihrer Anwendung jedenfalls zu-
nächst noch ausgesetzt werden.

Über diese und weitere Details sollten uns der mehr-
fach erwähnte Bericht und die durchzuführende Exper-
tenanhörung weiteren Aufschluss geben, um dann
daraus die notwendigen Maßnahmen im Deutschen
Bundestag zu entwickeln. Warum sollte es in diesem
Punkt der Bewältigung einer besonderen menschen-
rechtlichen Verantwortung nicht auch einmal möglich
sein, dass sich sowohl die Oppositionsparteien als auch
die Parteien der derzeit regierenden Koalition auf einen
einheitlichen Wortlauf verständigen? Lassen Sie uns
daran arbeiten.


Jimmy Schulz (FDP):
Rede ID: ID1704020200

Der Antrag der Linken ist abzulehnen. Er ist abzuleh-

nen, weil er in weiten Teilen auf Basis falscher Behaup-
tungen zu den falschen Schlüssen und Ergebnissen



gegebene Reden

Jimmy Schulz


(A) (C)



(D)(B)

kommt. Auf der jüngsten Delegationsreise des Innenaus-
schusses konnte ich mir selbst vor Ort ein Bild der Situa-
tion der Heimkehrer machen.

Ja, die Situation der Roma, Ashkali und Ägypter,
RAE, im serbisch dominierten Norden des Landes, im
Lager Osterode in Mitrovica, ist sehr schwierig. Dort le-
ben Menschen in kaum erträglichen Zuständen. Dies ist
aber die Ausnahme. Für die dort Lebenden werden doch
gerade mit europäischen Mitteln in Roma Malhala mo-
derne Wohnungen gebaut, und Zug um Zug können die
Betroffenen dorthin umziehen. In anderen Landesteilen
ist die Situation deutlich entspannter. Dort konnten wir
keine unwürdigen Lebensumstände feststellen.

Ja, das Land ist noch von Krieg und Zerstörung ge-
zeichnet; aber dieser jüngste Staat der Welt macht sich
mit Hoffnung und mit Tatkraft auf den Weg, ein neues
Kosovo in Freiheit und Unabhängigkeit zu formen.
KFOR und EULEX sind noch Garanten für Frieden und
Ordnung. Beide unterstützen diesen Aufbau, und in vie-
len Fällen kann die Kontrolle schon weitgehend in die
Hände der Kosovaren übergeben werden.

Dies ist übrigens eine der kaum beachteten Erfolgs-
geschichten internationaler Friedenseinsätze, die auf
dem Weg sind, mit schrittweisem Abzug eine Übergabe
in Frieden und Freiheit zu leisten. Deswegen konnte der
Verteidigungsminister auch am Sonntag bekannt geben,
dass das deutsche Kontingent um weitere 1 000 Soldaten
reduziert werden kann.

Bei unserem Gespräch mit dem Innenausschuss des
kosovarischen Parlaments hatten wir auch Gelegenheit,
mit dem Roma-Abgeordneten Zylfi Merxha zu sprechen.
Er hat im Parlament einen der 20 für ethnische Minder-
heiten reservierten Sitze inne. Auf mehrfache Nachfrage
bestätigte er mehrmals: Es gibt keine Diskriminierung
von RAE im Kosovo, so der demokratisch legitimierte
Vertreter dieser Minderheit im Parlament.

Auch im Übrigen scheint der Antrag der Linken eher
eine innenpolitische Motivation zu haben als ernsthaft
zu einer Lösung des Problems beitragen zu wollen. Die
genannten Zahlen werden verdreht oder falsch interpre-
tiert. Von einer Massenabschiebung kann keine Rede
sein. Anstatt der genannten 10 000 RAE wurden in den
letzten Jahren nur wenige Hundert in ihre Heimat zu-
rückgeführt. Eine deutliche Erhöhung dieser Zahlen,
wie von den Linken kolportiert, ist weder realistisch
noch auch im neuen Abkommen geplant.

Unsere Gespräche mit den Organisationen vor Ort,
aber gerade auch mit den Mitarbeitern des BAMF haben
unsere Position bestätigt. Freiwillige Rückkehrer be-
kommen eine deutliche Starthilfe von mehreren Hundert
Euro, unter anderem mit Wohngeld und Jobstartgeld.
Bei Wohnungssuche und Jobsuche wird hier aktiv gehol-
fen, bis eine Lösung gefunden wird.

Im Gegensatz zu anderen Ländern unterstützen wir
aber auch die unfreiwillig zurückkehrenden Kosovaren.
Auch sie werden, mit leicht geringeren Sätzen, bei der
Reintegration über sechs Monate durch das URA-2-Pro-
jekt des BAMF unterstützt. Die Behauptung, es gebe
Zu Protokoll
keine Unterstützung, ist also ganz offensichtlich eine
politisch motivierte Falschbehauptung.

Ebenso scheinen im Lichte der aktuellen Erkennt-
nisse der Informationsreise viele Zahlen entweder veral-
tet oder vermutlich eher aus der Luft gegriffen zu sein.
Die Arbeitslosigkeit unter den Roma beispielsweise lag
mitnichten bei 95 Prozent, sondern deutlich darunter.

Natürlich ist dieser junge Staat noch in einer sehr
schwierigen Phase, und das Sozialsystem ist noch deut-
lich unterentwickelt; dies trifft aber eben nicht nur die
Roma oder die anderen ethnischen Minderheiten, son-
dern die gesamte kosovarische Bevölkerung. Somit sind
die wirtschaftliche Situation und das schwache soziale
Netz kein Beleg für Diskriminierung.

Besonders perfide erscheint mir die Behauptung,
dass die 92 000 freiwilligen Heimkehrer, die am Aufbau
ihres Landes mitarbeiten wollen, in vielen Fällen „ge-
zwungenermaßen“ zurückgeschickt worden sein sollen.
Wenn jemand Zwang als Freiwilligkeit verkauft hat,
dann doch die SED, deren Mitglieder ja alle „freiwillig“
Mitglied der Unrechtspartei waren.

Der Informationsbesuch des Innenausschusses lässt
nur ein Fazit zu: Die Situation im Kosovo ist mit Sicher-
heit verbesserungswürdig und muss von uns auch mit
großer Aufmerksamkeit begleitet werden. Einen Grund,
Sonderrechte ausgerechnet für die Flüchtlinge in
Deutschland einzuräumen, sehe ich jedoch nicht. Viel-
mehr kümmert sich gerade Deutschland mit einem au-
ßerordentlich großen Engagement um alle heimkehren-
den Flüchtlinge, gerade auch um die ethnischen
Minderheiten, und besonders um diejenigen, die sich
nicht zu einer freiwilligen Heimkehr durchringen konn-
ten. Dieses Engagement verdient es, weiter gut von uns
unterstützt zu werden; denn es dient dem Frieden, der
Sicherheit und der Freiheit des jungen Staates Kosovo.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704020300

Die Linke hat sich bereits in der letzten Wahlperiode

für einen Abschiebestopp und ein Bleiberecht insbeson-
dere für die Roma aus dem Kosovo eingesetzt, und zwar
noch bevor die Massenabschiebungen von Roma aufge-
nommen wurden. Leider vergeblich. Inzwischen gibt es
für das Thema eine weitaus größere und vor allem kriti-
sche Öffentlichkeit, sodass wir die Zeit gekommen se-
hen, die Forderung nach einem Bleiberecht für die
Roma aus dem Kosovo erneut in den Bundestag einzu-
bringen. Wir erhoffen uns zum jetzigen Zeitpunkt eine
andere und ernsthafte Debatte zu diesem Thema.

Am 12. April dieses Jahres besiegelten die Regierun-
gen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Kosovo endgültig die Abschiebung von mindestens
10 000 Roma in den Kosovo. Weitere 4 000 Menschen,
darunter viele Ashkali und auch Serben aus mehrheit-
lich von Albanern bewohnten Gebieten, müssen nun
ebenfalls verstärkt mit ihrer Abschiebung rechnen.
Diese mehr als 14 000 Menschen werden nach langjäh-
rigem Aufenthalt in Deutschland aus ihren sozialen Be-
ziehungen gerissen, die sie sich hier aufgebaut haben.
Es werden Kinder abgeschoben, die in Deutschland ge-



gegebene Reden

Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

boren sind und dieses Land als ihre Heimat ansehen. Es
werden Alte und Kranke in medizinische Unterversor-
gung und damit in den Tod abgeschoben. Für viele, die
von ihrer erzwungenen Flucht vor zehn Jahren noch
traumatisiert sind, bedeutet die Abschiebung eine Art
zweiter Vertreibung, mit allen psychologischen Folgen.
All dies ist hinlänglich bekannt.

Es gibt eine Vielzahl von Studien und Berichten von
Nichtregierungsorganisationen, der OSZE, dem UNHCR,
dem Menschenrechtskommissar des Europarats usw.
über die schlimme Situation gerade der Minderheiten-
angehörigen – der Roma, Ashkali und Ägypter – im Ko-
sovo. Es gibt eine Legion an Berichten von engagierten
Journalistinnen und Journalisten, die das unerträgliche
Schicksal von Abgeschobenen für Zeitungen, Radio und
Fernsehen dokumentiert haben. Als Teilnehmerin einer
Delegation des Bundestagsinnenausschusses, die vom
12. bis 14. April im Kosovo war, konnte ich mich mit ei-
genen Augen von der völligen Perspektivlosigkeit über-
zeugen, in die Roma aus Deutschland abgeschoben wer-
den. Die Wirtschaft des Landes liegt völlig am Boden,
und Roma sind von der allgemein immens hohen Ar-
beitslosigkeit durch rassistische Ausgrenzung in beson-
derem Maße betroffen.

Wir als Linke stehen mit unserer Forderung nach ei-
nem Bleiberecht für diese Menschen nicht allein. Die
Migrationskommission der Deutschen Bischofskonfe-
renz hat in einer Pressemitteilung davor gewarnt, Men-
schen in „unsichere und unwürdige Verhältnisse“ abzu-
schieben.

Ich will an dieser Stelle auch auf den Osterappell
2010 verweisen, der vor Abschiebungen in den Kosovo
warnt und eine humanitäre Aufenthaltsregelung für
Roma aus dem Kosovo fordert. Wie bereits im Jahr 2000
haben sich unter anderem eine Reihe aktiver oder
ehemaliger Abgeordneter fraktionsübergreifend gegen
die Abschiebung von Roma gewendet, darunter
Dr. Hermann Otto Solms, Professor Dr. Schwarz-
Schilling, Claudia Roth, Barbara Lochbihler und viele

(siehe http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/ NEWS/2010/Oster-Appell_2010.pdf)

eine Passage zitieren, die mir besonders am Herzen
liegt: „Deutschlands historische Verantwortung gegen-
über den Roma kann sich nicht allein in historischen Ge-
denkveranstaltungen erschöpfen. Deutschland hat sich
zur historischen Verantwortung für den Holocaust an
den Juden bekannt und praktische Maßnahmen wie aus-
länderrechtliche Sonderregelungen in diesem Zusam-
menhang ergriffen; siehe zum Beispiel die gesetzliche
Regelung für jüdische Kontingentflüchtlinge. Gegen-
über den Roma scheint die historische Verantwortung in
der Praxis keinerlei Niederschlag zu finden. Wie anders
lässt es sich erklären, dass routinemäßig Roma und da-
runter auch Alte, Kranke, Kinder und Jugendliche jetzt
in den Kosovo abgeschoben werden, ohne dass politisch
Verantwortliche gegenüber solchen Maßnahmen Einhalt
gebieten und unserer Verantwortung gegenüber den
Roma gerecht werden?“

Diese Frage kann ich nur an jene weiterreichen, die
sich hier im parlamentarischen Raum verweigern, un-
Zu Protokoll
verantwortlichen Abschiebungen Einhalt zu gebieten
und jede humanitäre und historische Verantwortung von
sich weisen. Ich bin auf ihre Antworten in der weiteren
parlamentarischen Beratung gespannt.

Wir sollten uns alle klarmachen, welche vielleicht
einmalige Chance sich uns als Bundestag bei diesem
Thema bietet: Die Schuld, die Deutschland durch die
systematische Ermordung von 500 000 Roma und Sinti
auf sich geladen hat, ist niemals und durch nichts wie-
dergutzumachen. Aber wir haben die Chance – und
meines Erachtens nach auch die Verpflichtung – einigen
Tausend Roma-Familien, die seit Jahren unter uns le-
ben, die Perspektive einer sicheren Zukunft ohne Angst
und eines gleichberechtigten Zugangs zu Bildung und
Arbeit zu geben. Schieben wir sie jedoch ab, bringen wir
diese Menschen sehenden Auges in eine ausweglose
Notlage, in existenzielle Armut und systematische Dis-
kriminierung. Wir zerstören die Zukunft dieser Men-
schen, insbesondere der Kinder. Das wäre meines Er-
achtens unverantwortlich und historisch und moralisch
gesehen ein großes Versagen des Deutschen Bundesta-
ges.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Antrag der Fraktion der Grünen greift die Forde-
rungen von Bundestagsabgeordneten und Menschen-
rechtlern für einen Abschiebungsschutz von Roma und
Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo auf. Zum
8. April, dem Internationalen Tag der Roma, hatten sie ei-
nen entsprechenden Aufruf an Bundesregierung und Bun-
desländer gerichtet. Zu den Unterstützern des Appells ge-
hören neben den Initiatoren – Professor Dr. Schwarz-
Schilling, Claudia Roth, Rainer Eppelmann, Klaus-
Dieter Kottnik, Barbara Lochbihler, Dr. Hermann Otto
Solms – etliche aktive und ehemalige Bundestagsabge-
ordnete, Vertreter von Flüchtlingsorganisationen, Kir-
chen- und Wohlfahrtsverbänden sowie Romani Rose,
Bärbel Bohley, Hans Koschnick und weitere Promi-
nente. Mit ihrem Appell fordern sie, den Roma-Flücht-
lingsfamilien „endlich einen rechtmäßigen Aufenthalt
aus humanitären Gründen zu erteilen und sie so vor ei-
ner Abschiebung zu schützen und von ihrer existenziel-
len Angst zu befreien”.

Für Minderheitenangehörige – insbesondere für
Roma aus dem Kosovo – galt bis Anfang 2009 aufgrund
der Sicherheitslage für diesen Personenkreis im Kosovo
ein faktischer Abschiebestopp, der durch die Innen-
ministerkonferenz regelmäßig verlängert wurde. Trotz-
dem konnten die Roma aus dem Kosovo von den seit
2007 in Deutschland existierenden Bleiberechtsregelun-
gen nicht profitieren. Durch die hohen Hürden zum Bei-
spiel bei der Lebensunterhaltssicherung sind gerade
Roma strukturell benachteiligt, da sie häufig viele Kin-
der haben und dadurch die geforderte wirtschaftliche
Unabhängigkeit nur schwer erreichen können.

In Deutschland droht circa 11 000 Personen aus dem
Kreis der Roma, Ashkali und Ägypter die Abschiebung
in das Kosovo. Viele der von Abschiebung Bedrohten
sind hier aufgewachsen oder geboren; nur wenige konn-



gegebene Reden





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)

ten von den bisherigen Bleiberechtsregelungen profitie-
ren. Die beabsichtigte Abschiebung dieser Personen in
das Kosovo ist unverantwortlich. Die Vorgehensweise
steht in eklatantem Widerspruch zur tatsächlichen Situa-
tion der Roma im Kosovo. Wer heute Roma dorthin
abschiebt, der weiß: Sie landen fast ausnahmslos in un-
zumutbaren Verhältnissen und sind auf sich alleine ge-
stellt. Roma sind im Kosovo weiterhin Opfer massiver
Diskriminierung. Ihr Zugang zu elementaren Lebens-
chancen ist faktisch verhindert. Es ist ein Gebot der
Menschlichkeit, den seit langen Jahren in Deutschland
lebenden Familien endlich ein Aufenthaltsrecht aus hu-
manitären Gründen zu erteilen und die Rückführungs-
pläne zu stoppen.

Der Menschenrechtskommissar des Europarates,
Thomas Hammarberg, hatte bereits im November 2009
in einem Schreiben an die Bundeskanzlerin zum Aus-
druck gebracht, dass „die Zeit schlicht noch nicht reif ist
für zwangsweise Rückführungen in das Kosovo, insbe-
sondere von Angehörigen der Roma“, und hat Deutsch-
land aufgefordert, von Zwangsrückführungen abzuse-
hen, die das Leben und die persönliche Sicherheit der
Rückkehrer ernsthaft gefährden. Bei der Vorstellung sei-
nes Jahresberichtes Ende April 2010 hat er diese Auffor-
derung an die europäischen Mitgliedstaaten wiederholt.

Mit seiner Einschätzung steht Hammarberg nicht al-
lein. Andere internationale Organisationen wie der
UNHCR, die OSZE und UNICEF sowie Menschen-
rechts- und Flüchtlingsorganisationen warnen weiterhin
vor einer Diskriminierung und Verfolgung von Roma
und anderen Minderheitenangehörigen im Kosovo.
UNHCR spricht in seinem jüngsten Bericht davon, dass
Angehörigen von Minderheitengemeinschaften weiter-
hin Opfer von tätlichen und verbalen Angriffen und Be-
drohungen, Brandstiftungen, Einschüchterungen und
Plünderungen sind.

Neben der fragilen Sicherheitslage erst zwei Jahre
nach der Unabhängigkeit des Kosovo stellt jedoch für
Zwangsrückkehrer die prekäre wirtschaftliche und so-
ziale Situation eine ernsthafte Bedrohung dar. Es gibt
nach wie vor im Kosovo keine ausreichende Aufnahme-
und Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke
oder mittellose Rückkehrer. Davon konnte ich mich
selbst Anfang April anlässlich einer Reise des Innenaus-
schusses vor Ort im Kosovo überzeugen. Unterstützung
gibt es weder von kosovarischen noch von internationa-
len Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völlig
auf sich selbst gestellt bzw. auf Hilfe aus dem Familien-
verbund angewiesen. Roma und andere ethnische Min-
derheiten haben häufig keine Unterkunftsmöglichkeit
und finden keine Arbeit. Die ohnehin nicht ausreichende
Sozialhilfe muss an dem Ort beantragt werden, an dem
die Person im Kosovo vor der Ausreise zuletzt ihren
Wohnsitz hatte. Personen, die auf derartige Leistungen
angewiesen sind, können sich also nicht frei an anderen
Orten im Kosovo niederlassen.

Die Bundesregierung hingegen verharmlost die Lage
der Minderheiten im Kosovo – nicht nur in den Lagebe-
richten des Auswärtigen Amtes. Die Antwort auf eine
Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen zu
„Rückführungen in das Kosovo“ (Drucksache 17/692)

zeigt erneut, dass sie die Warnungen internationaler Or-
ganisationen in den Wind schlägt. Stattdessen hat der
Bundesinnenminister kürzlich das Rückübernahmeab-
kommen mit dem Kosovo erzwungen. Auf der Basis die-
ser Vereinbarung schieben die Bundesländer schon seit
einiger Zeit auch Minderheitsangehörige nach Pristina
ab. Dabei hält sich Deutschland nicht einmal an die dem
Kosovo gegebenen Zusagen, sondern schiebt prozentual
mehr Roma ab als vereinbart.

In unserem Antrag fordern wir daher die sofortige
Aussetzung der Abschiebungen von Minderheitenange-
hörigen aus dem Kosovo und eine Aufenthaltsgewäh-
rung aus humanitären Gründen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704020400

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen

auf den Drucksachen 17/784 und 17/1569 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
– Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Omid Nouripour, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Wehrpflicht beenden

– Drucksache 17/1431 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Agnes Malczak für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704020500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Obwohl die
FDP die Argumente gegen die Wehrpflicht selber in ihr
Bundestagswahlprogramm geschrieben hat, hat sie sich
bei den Koalitionsverhandlungen auf einen durchsichti-
gen Kuhhandel mit der CDU/CSU eingelassen. Beim
Koalitionsstreit um die Zukunft der Wehrpflicht soll der
Weisheit letzter Schluss jetzt eine Verkürzung der Wehr-
dienstzeit auf sechs Monate sein. Davon dürften noch
nicht einmal Sie selbst überzeugt sein. Die Kolleginnen
und Kollegen der Liberalen haben ihren Frieden mit der
Aufrechterhaltung eines längst überholten Zwangsdiens-
tes erstaunlich schnell gemacht. Sonst nur für den
Spruch „Ausstieg aus dem Ausstieg“ in Sachen Atompo-
litik bekannt, spricht Ihre Jugendorganisation plötzlich
von einem Einstieg in den Ausstieg.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die wissen, was richtig ist!)






Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

Wenn wir klare Worte finden wollen, dann müssen
wir bei der Wehrdienstverkürzung von einem faulen
Kompromiss sprechen. Durch die Verkürzung wird näm-
lich keines der Probleme der Wehrpflicht beseitigt. Im
Gegenteil: Es werden damit sogar neue Probleme ge-
schaffen. Beispiel Wehrungerechtigkeit: Auch nach Ein-
führung des sechsmonatigen Wehrdienstes werden im-
mer noch weniger als die Hälfte der jungen Männer
eines Jahrgangs einen Pflichtdienst leisten müssen. Bei
ihrer Lebensplanung und ihrem Ausbildungs- und Be-
rufsweg sind sie gegenüber ihren männlichen und weib-
lichen Altersgenossen, die keinen Pflichtdienst leisten
müssen, benachteiligt. Durch Ihre Reform werden pro
Jahr 10 000 Männer mehr von der Wehrungerechtigkeit
betroffen sein. Somit schaffen Sie nicht weniger, son-
dern sogar noch mehr Wehrungerechtigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ihnen selbst scheint bewusst zu sein, dass Sie mehr
Fragen aufwerfen als schlüssige Antworten liefern. Das
jedenfalls würde Ihren anhaltenden Streit und das trau-
rige Possenspiel erklären, das Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, aufgeführt haben, als Sie
zeitgleich mit zwei völlig unterschiedlichen Konzepten
für die Ausgestaltung der Wehrdienstreform an die Öf-
fentlichkeit traten.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Mit Ihrem Hin und Her verunsichern Sie geradezu noto-
risch die jungen Männer, die beteiligten Institutionen
und insbesondere die Soldaten und Soldatinnen. Das ist
keine verantwortungsvolle Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Auch Ihnen ist die Aussage von Roman Herzog aus
dem Jahr 1995 bekannt, dass eine Regierung die – Zitat –
„Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und
ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes“ sicherheits-
politisch begründen können muss. Meine Damen und
Herren der Koalition, genau diese sicherheitspolitische
Begründung bleiben Sie schuldig. Sie haben die Ent-
scheidung für die Beibehaltung der Wehrpflicht getrof-
fen, ohne sich die wesentlichen Fragen zu stellen. Von
Ihnen hätte ich, bevor Sie die Entscheidung über die
Wehrform treffen, eine Antwort auf die folgenden Fra-
gen erwartet: Was können unsere Streitkräfte leisten, und
was sollen sie zukünftig leisten können?

Erst im vergangenen Monat haben Sie die Bundes-
wehr-Strukturkommission eingesetzt. Mit Ihrer Ent-
scheidung haben Sie diesem Gremium aber bereits ein
Denkverbot erteilt. Die bestehende Wehrform soll nicht
hinterfragt werden. Es wird deutlich: Die Entscheidung
für die Beibehaltung der Wehrpflicht ist nicht in eine si-
cherheitspolitische Gesamtkonzeption eingebunden.

Die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr haben
sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. In den
aktuellen Konfliktszenarien brauchen wir nicht mehr den
klassischen Soldatentypus, den wir zur territorialen Lan-
desverteidigung brauchten, sondern gut ausgebildete, gut
ausgerüstete und hochspezialisierte Soldatinnen und Sol-
daten. Im Zusammenhang mit dem Bericht des Wehrbe-
auftragten haben wir heute über mangelnde Ressourcen
und schlechte Ausrüstung, gerade bei Einsätzen, gespro-
chen. Daran möchte ich hier erinnern.

Im Diskurs wird die Nachwuchswerbung oft als Ar-
gument für die Wehrpflicht ins Feld geführt. Rund
13 700 Euro veranschlagen Sie für jeden Grundwehr-
dienstleistenden. Bei derzeit 40 000 Grundwehrdienst-
leistenden sind das 548 Millionen Euro im Jahr. Der
Website der Bundeswehr können wir entnehmen, dass
sich jährlich rund 9 100 junge Männer nach ihrem
Grundwehrdienst freiwillig länger verpflichten. Jede die-
ser Verpflichtungen kostet Sie folglich rund 60 000 Euro.
Abgesehen davon, dass die Nachwuchsrekrutierung eine
verfassungsrechtlich bedenkliche Begründung der Wehr-
pflicht ist, kann ich mir kaum eine unwirtschaftlichere
Form der Nachwuchsgewinnung vorstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Statt diese Wahlperiode mit dem Hin und Her über
Modelle der verkürzten Pflichtdienste zu vergeuden,
muss jetzt mit einem planvollen Ausstieg aus den
Pflichtdiensten und dem massiven Ausbau der Freiwilli-
gendienste begonnen werden. Dieser Paradigmen- und
Systemwechsel darf nicht länger vertagt werden; denn er
ist seit Jahren überfällig. Deshalb haben wir Grünen den
Antrag gestellt, die Wehrpflicht abzuschaffen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704020600

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Karl Lamers für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1704020700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die Wehr-
pflicht zu beenden, halte ich für falsch. Lassen Sie mich
kurz darlegen, warum.

Erstens hat sich die Wehrpflicht in mehr als fünf Jahr-
zehnten bewährt. Zweitens ist sie Ausdruck der persönli-
chen Mitverantwortung der Bürger für ein Leben in Frie-
den und Freiheit. Drittens ist sie ein Symbol für den
gesellschaftlichen Konsens über die Landes- und Bünd-
nisverteidigung. Außerdem verbindet die Wehrpflicht
unsere Streitkräfte mit der Gesellschaft und verhindert
Entfremdung und Abschottung von dieser. Die Wehr-
pflicht sichert 40 Prozent des Freiwilligen- und 30 Pro-
zent des Führungsnachwuchses der Streitkräfte. Dies al-
les sind gute Gründe, warum wir auch in Zukunft an der
Wehrpflicht festhalten wollen.





Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Schaffung ei-
ner Freiwilligenarmee. Ja, meine Damen und Herren, Ih-
nen ist aber sicherlich bekannt, dass die Bundeswehr
niemals eine reine Wehrpflichtarmee war, sondern schon
immer aus einem Mix aus Grundwehrdienstleistenden,
freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden, Reservis-
ten sowie Berufs- und Zeitsoldaten bestand.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Eben!)


Genau dies garantiert bis heute eine hohe Professionali-
tät unserer Streitkräfte. Es gibt keinen vernünftigen
Grund, dieses erfolgreiche Modell ohne Not aufzugeben.

Auslandseinsätze sind zu einer zentralen Aufgabe der
Streitkräfte geworden. Grundwehrdienstleistende wer-
den in solche Einsätze nicht entsandt. Aber das heißt
noch lange nicht, dass sie nun überhaupt nicht mehr ge-
braucht werden. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade heute
werden unsere Wehrpflichtigen gebraucht, um zum Bei-
spiel die Grundorganisation der Streitkräfte sicherzustel-
len, indem sie in der Heimat notwendige Aufgaben über-
nehmen.

Gegen die Wehrpflicht führen Sie darüber hinaus die
aus Ihrer Sicht angeblich ungenügende Ausschöpfung
der Jahrgänge an. Wir alle sind uns einig: Wehrgerech-
tigkeit ist in der Tat ein hohes Gut. Das Bundesverwal-
tungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. Januar 2005
und seinem Beschluss vom 26. Juni 2006 Kriterien dafür
aufgestellt. Wehrgerechtigkeit ist demnach dann gewähr-
leistet, wenn die Zahl derjenigen, die Wehrdienst leisten,
der Zahl der Wehrdienstfähigen zumindest nahekommt.
Fakt ist, dass heute wie auch in Zukunft der weitaus
überwiegende Teil aller verfügbaren jungen Männer ei-
nen Dienst leistet. Ich gehe davon aus, dass W6 ein Bei-
trag zu mehr Wehrgerechtigkeit gerade in diesem Sinne
ist.

Meine Damen und Herren von den Grünen, in Ihrem
Antrag sehen Sie eine Überforderung der Wehrdienst-
leistenden darin, diesen „die Verantwortung für die …
Verzahnung von Bundeswehr und Gesellschaft aufzu-
bürden“, wie Sie es ausdrücken. Ich sehe das anders:
Wehrpflichtige leisten einen exzellenten Dienst und sor-
gen durch ständigen Personalaustausch dafür, dass die
Bundeswehr ein lebendiger Teil von Staat und Gesell-
schaft ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist doch keine Bürde und führt auch nicht zu Über-
forderung.

Was die Innere Führung anbetrifft, auf die Sie in Ihrer
Begründung abheben, hat dieses übergreifende Füh-
rungskonzept der Streitkräfte in der Tat prägend für das
Selbstverständnis der gesamten Bundeswehr nach innen
und außen gewirkt. Die Frage, ob Wehrpflicht heute
noch sinnvoll ist oder nicht, lässt sich aber nicht mit dem
Konzept der Inneren Führung beantworten. Das ist viel-
mehr eine politische Grundsatzentscheidung, die wir in
diesem Hohen Hause treffen.

Sie unterstellen den Wehrpflichtigen, dass ihre Quali-
fikationen für die Tätigkeiten in Deutschland nicht aus-
reichen. Wir sehen das anders. Gerade die Wehrpflichti-
gen brachten in der Vergangenheit und bringen auch
heute noch berufliche Qualifikationen und Fertigkeiten
mit, die die Bundeswehr für den Dienst in der Truppe
sehr gut nutzen kann. Die Qualifikation unserer Wehr-
pflichtigen ist ein wesentlicher Grund für die Beibehal-
tung des Wehrdienstes. Wehrpflicht und Professionalität
schließen sich nicht aus.


(Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Die Koalition hat entschieden, den Grundwehrdienst
auf sechs Monate zu verkürzen, beginnend mit dem
1. Oktober 2010. Wir bekennen uns damit auf der einen
Seite zur Institution der Wehrpflicht, andererseits wollen
wir die Belastung der jungen Generation durch das Ab-
verlangen des Grundwehrdienstes so gering wie möglich
halten. Wie bereits dargelegt, wird die Verkürzung des
Grundwehrdienstes eine Verbesserung der Wehrgerech-
tigkeit mit sich bringen; denn natürlich haben wir bei
sechs Monaten Dienstzeit einen höheren Personalbedarf
als bei neun Monaten. Wir werden alles tun, dass unsere
Wehrpflichtigen auch die verkürzte Grundwehrdienstzeit
als positive Lebenserfahrung empfinden. Ich danke Ih-
nen, Herr Minister zu Guttenberg, dass Sie sich gerade
dafür auch persönlich stark machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wichtig ist in meinen Augen, dass die Grundausbil-
dung durch eine Funktionsausbildung ergänzt wird, die
sich sowohl an den Interessen der Wehrpflichtigen orien-
tiert als auch gleichzeitig auf die Belange der Bundes-
wehr Rücksicht nimmt. Ich begrüße es, dass die Wehr-
pflichtigen nach erfolgter Ausbildung auf echten
Funktionsdienstposten in der Truppe eingesetzt werden.
Genau darum geht es: Wir wollen die Wehrpflichtigen in
den normalen Organisations- und Truppenstrukturen der
Streitkräfte halten. In der Teilstreitkraft Heer zum Bei-
spiel ist geplant, Wehrpflichtige in Sicherungskompa-
nien einzusetzen, angegliedert an Bataillone der Einsatz-
kräfte. Genau dies zeigt meines Erachtens sehr klar, dass
die Wehrpflichtigen sinnvoll eingesetzt und dass sie ge-
braucht werden.

Meine Damen und Herren, der erste Bundespräsident
der Bundesrepublik Deutschland, Professor Dr. Theodor
Heuss, hat einmal in einer Rede festgestellt: „Die Wehr-
pflicht ist das legitime Kind der Demokratie.“ Daran hat
sich bis heute nichts geändert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten an der Wehrpflicht
fest, erstens, weil sie sich bewährt hat, und zweitens,
weil sie auch heute sinnvoll ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704020800

Nun hat der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1704020900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Lieber Kollege Lamers, wenn man den
„tobenden“ Beifall bei Ihrem Koalitionspartner sieht,


(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


dann wird deutlich, dass diese Regierung kein Konzept
für die Wehrpflicht hat. Es werden spannende Wochen,
bis Sie die Wehrpflichtfrage geklärt haben. Ich will mich
hier ausdrücklich bei den Grünen dafür bedanken, dass
sie diesen Antrag vorgelegt haben. Auch ich persönlich
bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland keine
Zwangsdienste mehr brauchen und dass die Wehrpflicht
nicht mehr zeitgemäß ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Wo wart ihr denn in den letzten elf Jahren?)


– Ich kann die Aufregung der FDP in dieser Frage ver-
stehen. Ich komme dazu gleich in meiner Rede.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass
wir als Parlamentarier die Diskussion beginnen. Auch
wenn man nicht allen Punkten im Antrag der Grünen zu-
stimmen kann, so muss man doch festhalten: Im Gegen-
satz zur Regierung haben die Grünen hier wenigstens ein
Konzept vorgelegt, und das ist ein vernünftiger Schritt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Reinhard Brandl [CDU/ CSU]: Wo?)


Die Wehrpflicht ist ein Thema, das wir gesellschaft-
lich und politisch kontrovers diskutieren. Auch ich bin
mir bewusst, dass in der letzten Legislaturperiode auch
Kollegen meiner Partei hier vorne gestanden und für die
Wehrpflicht geredet haben. Wir haben das auch inner-
halb der SPD sehr kontrovers diskutiert. Wir Sozial-
demokraten sind uns aber einig, dass nicht mehr der
Zwang, sondern die Freiwilligkeit im Vordergrund ste-
hen muss. Vor allem sagen wir Sozialdemokraten: Wir
brauchen eine Entscheidung, die langfristig trägt. Die
Bundeswehr braucht eine grundlegende Entscheidung,
die langfristig trägt. Deswegen brauchen wir einen poli-
tischen Konsens, der vom Militär nicht nur akzeptiert
wird, sondern der vom Militär auch unterstützt wird. Wir
brauchen vor allem einen politischen Konsens, der sich
auf mehr als auf die Regierungsmehrheit beruft.

Ich bin überzeugt: Wir brauchen den besten Nach-
wuchs für unsere Armee, für eine Armee, die sich immer
größeren Herausforderungen stellen muss. Die Anforde-
rungen an unsere Soldaten werden immer größer. Viele
wollen auch freiwillig den Dienst in der Bundeswehr
leisten. Durch eine Erhöhung der Attraktivität, durch
verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten und durch eine
gesellschaftliche Anerkennung, die endlich dem Solda-
tenberuf gerecht wird, werden wir es schaffen, dass auch
diejenigen freiwillig zur Bundeswehr gehen, die wir für
die Armee brauchen.


(Beifall bei der SPD)

Um das zu schaffen, brauchen wir als Parlament aber
endlich den Mut, einen großen Schritt zu machen, eine
wirkliche Reform zu verabschieden. Wir brauchen als
Parlament den Mut, endlich den Wandel der Bundeswehr
hin zu einer Freiwilligenarmee in die Wege zu leiten.


(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Herr Lamers, Sie haben die Wehrgerechtigkeit ange-
sprochen.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Ja!)


Ich sehe ein Problem bei der Wehrpflicht mit der Wehr-
gerechtigkeit und möchte etwas zitieren:

Derzeit müssen von durchschnittlich 420 000 jähr-
lich zur Verfügung stehenden Männern lediglich
70 000 der Wehrpflicht nachkommen … Insgesamt
leisten jährlich nur rund 175 000 Männer einen

(Wehrdienst, Zivildienst oder andere Ersatzdienste)

bensplanung nicht für neun Monate unterbrechen
müssen.

Ich kann für diese Zahlen keine Garantie übernehmen;
sie sind aus dem Jahr 2006 und per Copy und Paste in
meinen Redetext von einem Antrag der FDP-Bundes-
tagsfraktion vom 18. Januar 2006 gekommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, glau-
ben Sie wirklich, dass Sie mit dem W6-Kompromiss die
von Ihnen angeprangerte Wehrungerechtigkeit beseiti-
gen? Nach all dem, was man bisher gelesen hat, ist W6
ein bisschen Herumdoktern am Problem der Wehrge-
rechtigkeit, aber keine Lösung dieser Probleme. Es ist
ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einer Ungerechtig-
keit. Deswegen will ich es hier so deutlich sagen: Wer
jahrelang die Fahne der Abschaffung der Wehrpflicht
hochhält und dann gerade mal so einen Kompromiss er-
reicht, der sollte hier nachher mal erklären, wie er denn
zu diesem W6-Modell steht. Ich bin gespannt auf Ihre
Rede, Herr Spatz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Wehrgerechtigkeit ist aber nur ein Aspekt von
vielen. Wir haben in den letzten Wochen sehr viel da-
rüber diskutiert, dass die Armee die beste Ausstattung
braucht und dass wir als Parlament der Armee auch mit
auf den Weg geben müssen, was sie braucht. Wir waren
uns einig, dass wir mehr auf die Soldaten hören sollten.
Da muss doch am Anfang die Frage nach der sicherheits-
politischen Relevanz einer Wehrpflicht stehen.

Sicherheitspolitisch ist die Wehrpflicht nicht zu recht-
fertigen. In einer Welt, die immer schneller wird, die im-
mer mehr zusammenwächst, in einer globalisierten Welt,
in der die Gefahren nicht mehr an den Landesgrenzen
lauern, sondern am Hindukusch oder am Horn von
Afrika, können wir auf die Wehrpflicht sicherheitspoli-
tisch verzichten. Diese Legitimation greift nicht mehr.

Auch hier will ich ein Zitat bringen:





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)

Die äußere Sicherheit Deutschlands und der Bünd-
nisstaaten ist aber nicht durch konventionelle An-
griffe bedroht, auch nicht nach den Attentaten vom
11. September 2001. Die frühere Landesverteidi-
gung ist heute ausschließlich als Bündnisverteidi-
gung zu begreifen. Die NATO fordert auch deshalb
von Deutschland keine Wehrpflichtarmee, sondern
Streitkräfte, die gut ausgebildet, modern ausgerüs-
tet, voll einsatzbereit und schnell verlegbar sind.
Dafür benötigt die Bundeswehr keine Grundwehr-
dienstleistenden.

Auch das ist aus dem Antrag der FDP vom Jahr 2006.
Ich freue mich darauf, dass Sie gleich erklären werden,
was Sie erreicht haben,


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da können Sie sicher sein!)


und kann Ihrer sicherheitspolitischen Begründung nichts
mehr hinzufügen.

Die Wehrgerechtigkeit und die sicherheitspolitische
Relevanz sind zwei Argumente, die nicht mehr im Ein-
klang mit der Wehrpflicht stehen. Auch die Integration
der Bundeswehr dient ja immer wieder als Argument für
die Beibehaltung der Wehrpflicht. Herr Lamers, Sie ha-
ben es gerade auch erwähnt. Aber ich sage, wir müssen
an dieser Stelle der Realität in die Augen schauen.

Erstens. Schon heute erreichen wir mit der Wehr-
pflicht nicht mehr alle männlichen Bürger, unabhängig
von Herkunft, Beruf oder Bildung, und wir erreichen
schon heute nicht mehr das gesamte Spektrum, das in
der Gesellschaft vorhanden ist, und integrieren es in die
Bundeswehr.

Zweitens würden wir die Wehrdienstleistenden
schlichtweg überfordern, wenn wir sie mit der gesell-
schaftlichen Integration der Bundeswehr beauftragen
würden.

Ich sage, die Bundeswehr ist heute schon wesentli-
cher integrierter Bestandteil dieser Gesellschaft. Ich
komme aus Munster – das ist der größte Heeresstandort
Deutschlands –, und da erlebe ich jeden Tag, wie die In-
tegration der Bundeswehr in die Gesellschaft funktio-
niert. Ich sehe Soldaten, die in Vereinen, in Elternbeirä-
ten, bei der Freiwilligen Feuerwehr und – auch das kann
ich sagen – sogar im SPD-Ortsverein perfekt integriert
sind. Deswegen muss es uns zwar darauf ankommen,
den Soldaten als Staatsbürger in Uniform zu stärken,
aber wir dürfen keine Scheindebatten führen. Wenn ich
höre, dass man so argumentiert, dass die Wehrdienst-
pflichtigen die Integration der Bundeswehr leisten sol-
len, dann entgegne ich ganz klar: Ich habe genauso viel
Vertrauen darauf, dass diejenigen, die freiwillig ihren
Dienst leisten, oder diejenigen, die Berufssoldaten sind,
genau diese Integration der Bundeswehr in die Gesell-
schaft leisten können. Lassen Sie uns also keine Schein-
debatten an dieser Stelle führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das heißt aber nicht, dass wir bei dieser Integration
nicht noch vieles verbessern können. Wir haben vorhin
den Wehrbeauftragten verabschiedet, wir haben den
neuen begrüßt. Das ist eine ganz wichtige Institution, die
wir haben, um die Bundeswehr in die Gesellschaft zu in-
tegrieren. Wir haben die Innere Führung, die wir stärken
müssen, und ich sage, wir müssen auch dringend wieder
stärker über den Staatsbürger in Uniform reden. Ich hätte
mir in den letzten Wochen gewünscht, dass wir mehr
Soldaten haben, die sich auch in die gesellschaftlichen
und politischen Debatten einmischen, die stärker ihr
Wort erheben und auch deutlich machen, wo eigentlich
Missstände und wo Mängel bei der Armee sind. Das
nehmen wir als Politiker dann auf.

An dieser Stelle will ich noch einmal aus dem Antrag
der FDP aus dem Jahr 2006 zitieren:

Deshalb ist der Vollzug der Allgemeinen Wehr-
pflicht so schnell wie möglich auszusetzen und der
Planungsprozess des Umbaus der Bundeswehr in
eine Freiwilligenarmee unverzüglich zu beginnen.

Sie sagen in diesem Antrag deutlich, dass die Integration
der Bundeswehr in die Gesellschaft schon umgesetzt ist.
Dieses Argument kann also nicht dazu dienen, die Wehr-
pflicht aufrechtzuerhalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich
kann ja verstehen, dass man in einer Koalition Kompro-
misse aushandeln muss. Das haben wir Sozialdemokra-
ten an vielen Stellen erleben müssen. Aber wenn der
Kompromiss in einem Modell besteht, das keiner ver-
steht, das keiner akzeptiert und das hinter verschlosse-
nen Türen keiner trägt, dann frage ich mich schon, ob
Sie die Situation mit dem Modell W6 nicht noch ver-
schlechtern. Von der Bundeswehr wird dieser Kompro-
miss nicht akzeptiert. Die Truppe setzt natürlich um, was
die Politik beschließt. Aber Sie führen wahrscheinlich
genauso wie ich dieselben Vieraugengespräche mit Sol-
daten, in denen Sie erfahren, dass die Truppe mit diesem
Beschluss nicht zufrieden ist. Deswegen bitte ich Sie,
diese Entscheidung noch einmal zu überdenken.

Wir Sozialdemokraten haben den Koalitionsfraktio-
nen angeboten, gemeinsam ein Modell zu finden, das
langfristig trägt und das gesellschaftlich trägt. Was Sie
hier auf den Weg bringen wollen, hat nur eine geringe
Halbwertzeit. Ich sage Ihnen, es wird sehr schnell vom
Tisch sein. Deshalb noch einmal das Angebot von uns
Sozialdemokraten: Lassen Sie uns gemeinsam ein Mo-
dell finden, das der sicherheitspolitischen Relevanz ge-
recht wird und das eine gesellschaftliche Akzeptanz fin-
det! W6 kann dieses Modell nicht sein. Deswegen
werden wir Ihrem Modell nicht zustimmen, sobald Sie
es in den Bundestag einbringen. Nutzen Sie die Chance,
eine politische Mehrheit zu finden, die über Ihre eigenen
Fraktionen hinausgeht.

Vielen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704021000

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Elke Hoff das

Wort.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU])







(A) (C)



(D)(B)


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1704021100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Kollege Klingbeil, ich glaube, dass Sie sich bei der
Bewertung der Verständlichkeit des Modells in der
Hausnummer geirrt haben. Ich kann mich nämlich sehr
gut daran erinnern, dass das Modell, das von Ihrer Frak-
tion in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegt
worden ist, von allen nur sehr schwer nachzuvollziehen
war. Ich habe es, offen gesagt, bis heute noch nicht ver-
standen.


(Sönke Rix [SPD]: Das kann auch mit etwas anderem zu tun haben!)


Was die Koalition vorlegt, ist ein Kompromiss. Die
Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs Monate ist ein
Schritt, mit dem es beiden Partnern gelungen ist, eine so-
lide Nachwuchsgewinnung, die diese Armee so dringend
braucht, für die Zukunft auf den Weg zu bringen.


(Sönke Rix [SPD]: Murks ist das!)


Aufgrund Ihrer Erfahrungen in der Vergangenheit wis-
sen auch Sie: Bei einem Kompromiss finden sich beide
Partner nicht zu 100 Prozent wieder. Aber wir wissen ge-
nau, dass in der Vergangenheit bei der Bewertung der
Wehrpflicht gerade aus der von Ihnen zitierten Truppe
sehr häufig die Beschwerde kam, dass aufgrund einer
langen Wehrdienstdauer eine Art Gammeldienst entstan-
den ist, dass viele Wehrpflichtige nicht so recht wussten,
was sie mit der verbleibenden Zeit nach der Grundaus-
bildung anfangen sollten. Unser Ziel ist es, den jungen
Männern in Form des sechsmonatigen Wehrdienstes die
Möglichkeit zu eröffnen, in einer angemessenen Zeit ei-
nen Zugang zur Truppe zu finden, damit sie danach die
Entscheidung treffen können, ob sie dabeibleiben wollen
oder nicht.

Wir werden sehen, wie sich die Ergebnisse nach vier
Jahren im Einzelnen darstellen werden. Meine Fraktion
hat mit besonderem Nachdruck vorgetragen, dass die
Ausgestaltung des Wehrdienstes eine große politische
Herausforderung sein wird. Meine Fraktion hat diesbe-
züglich Vorstellungen entwickelt. Ich bin fest davon
überzeugt, dass wir gemeinsam mit unserem Koalitions-
partner, mit dem wir diesen Kompromiss geschlossen
haben, auch bei der Ausgestaltung des Wehrdienstes ei-
nen Weg finden werden, der zu einem Erfolgsmodell
werden wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir
dann, wenn die notwendigen gesetzlichen Voraussetzun-
gen geschaffen sind, dieses Modell umsetzen werden.

Dass meine Partei programmatisch nach wie vor eine
andere Auffassung vertritt, ist dadurch selbstverständlich
nicht außer Kraft gesetzt. Aber jeder von uns weiß, dass
die Kunst in der Politik darin liegt, das Machbare zu fin-
den. Wir sind der Überzeugung, dass wir hier einen Weg
zu mehr Professionalität auch in der Bundeswehr gefun-
den haben.


(Beifall bei der FDP)


Der Erfolg wird jetzt in hohem Maße davon abhängen,
ob wir es schaffen, dass sich die Strukturen innerhalb der
Bundeswehr darauf einstellen können.

(Sönke Rix [SPD]: Aber doch nicht mit W6!)


Wir müssen vor allen Dingen verhindern, dass es durch
eine große Anzahl von Wehrpflichtigen zu einer Über-
forderung der Truppenstrukturen kommt. Stattdessen
müssen wir dafür sorgen, dass die Anzahl der Wehr-
pflichtigen angemessen ist und dass sie wirklich ausge-
bildet werden können. Das müssen wir jetzt gemeinsam
auf den Weg bringen.

Ein Thema, das in diesem Zusammenhang noch zu
klären ist, ist – das ist kein Geheimnis – die Ausfüllung
des Wehrersatzdienstes. Aber auch hier sind wir auf
einem guten Weg, gemeinsam mit dem Koalitionspartner
einen Kompromiss zu finden.


(Sönke Rix [SPD]: Schon ziemlich lange!)


Insofern bin ich völlig unbesorgt, dass wir für unsere
Wehrpflichtigen ein attraktives Angebot schaffen wer-
den.

Der Bundesverteidigungsminister hat hier klar signa-
lisiert, dass es bei einer Beibehaltung der Wehrpflicht
auch sein Anliegen ist, dafür Sorge zu tragen, dass die
Voraussetzungen geschaffen werden, dass unsere jungen
Männer in einer möglichst kurzen Zeit, aber mit einer
möglichst qualifizierten Ausbildung eine Entscheidungs-
grundlage für eine zukünftige Verpflichtung an die Hand
bekommen. Deswegen ist es unser Anliegen, dafür zu
sorgen, dass die jungen Männer in möglichst viele Berei-
che der Bundeswehr, auch in den Teilstreitkräften, einen
Einblick bekommen, damit sie am Ende ihres Wehr-
dienstes fundiert entscheiden können, zu welcher Teil-
streitkraft sie wollen. Dass das wirklich möglich ist, wird
sehr stark davon abhängen, wie wir das jetzt ausgestal-
ten.


(Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Ich glaube, der Kollege Nouripour hat eine Frage.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704021200

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Nouripour?


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1704021300

Bitte schön.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704021400

Bitte.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704021500

Frau Kollegin Hoff, nachdem der Minister es vorhin

abgelehnt hat, auf mein Angebot der Wette einzugehen,
dass die Wehrpflicht wahrscheinlich zum 1. Oktober
nicht so kommen wird, wie er angekündigt hat, frage ich
Sie: Sind Sie bereit, uns mitzuteilen, ob das der Fall ist?
Wird die Reform der Wehrpflicht zum 1. Oktober in
Kraft treten, wie vom Minister angekündigt?






(A) (C)



(D)(B)


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1704021600

Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung festge-

legt, dass wir anstreben, die sechsmonatige Wehrpflicht
zum 1. Januar 2011 einzuführen. Ich habe zum jetzigen
Zeitpunkt keinen Zweifel daran, dass dies der christlich-
liberalen Koalition auch gelingen wird. Alles andere, lie-
ber Kollege Nouripour, wäre Kaffeesatzleserei, an der
ich mich in diesem Hause nicht beteilige. Die Verhand-
lungen sind auf einem guten Wege. Deswegen greift
eigentlich Ihr Antrag ein wenig zu kurz. Er wird, auch
vor dem Hintergrund des Ziels, das Sie damit erreichen
wollten, viel zu früh gestellt.


(Lachen des Abg. Sönke Rix [SPD])


Aber ich kann Sie beruhigen: Die Verhandlungen sind
auf einem guten Wege.


(Sönke Rix [SPD]: Schon sehr lange!)


Ich gehe davon aus, dass beide Koalitionspartner die ent-
sprechenden Voraussetzungen schaffen werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass alles Nötige gesagt worden ist. Bei der Einbringung
des Gesetzentwurfes werden wir über die Ausgestaltung
und den Erfolg von W6 noch einmal in aller Breite
diskutieren können. Heute geht es darum, über den von
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag zu entschei-
den. Fakt ist, lieber Kollege Nouripour, dass wir diesem
Antrag auch in der vergangenen Legislaturperiode nicht
hätten zustimmen können, weil meine Fraktion nie für
eine Abschaffung der Wehrpflicht, sondern immer für
eine Aussetzung der Wehrpflicht eingetreten ist. Insofern
haben wir schon in der Vergangenheit die Dinge immer
auf unterschiedlichen Pfaden verfolgt. Aber warten Sie
ab! Wir werden mit W6 eine vernünftige Lösung auf den
Weg bringen. Vor allen Dingen werden wir einen Beitrag
dazu leisten, dass der Bundeswehr die qualifizierten Sol-
daten zur Verfügung stehen, die sie in Zukunft braucht.
Dass wir gemeinsam die Strukturen darauf ausrichten
werden, darauf können Sie sich verlassen.

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-
keit und freue mich auf die nächste Debatte, wenn der
Gesetzentwurf in diesem Hohen Hause eingebracht
wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir uns auch!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704021700

Der Kollege Harald Koch ist nun der nächste Redner

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704021800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Titel des Antrages von Bündnis 90/Die Grü-
nen bringt es auf den Punkt: „Wehrpflicht beenden“. Die
Linke fordert, die Wehrpflicht mit sofortiger Wirkung
aufzuheben.

Dafür gibt es mehr als nur einen Grund:

Erstens. Die Wehrpflicht ist ein Zwangsdienst, durch
den immer Grund- und Bürgerrechte eingeschränkt und
zum Teil aufgehoben werden.


(Karin Strenz [CDU/CSU]: Er spricht über Bürgerrechte!)


Dieser übermäßige Eingriff in die Lebensplanung und
das Selbstbestimmungsrecht junger Menschen muss ein
Ende haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann nicht einerseits die Bedeutung von Bildung
hervorheben und andererseits Menschen durch Verzöge-
rungen bei Ausbildung und Studium deutlich benachtei-
ligen.

Zweitens. Die Umsetzung der Wehrpflicht, im Spezi-
ellen der Auswahlprozess, ist willkürlich und ungerecht.
Nur etwa 15 Prozent eines Jahrgangs leisten den Grund-
wehrdienst; mehr als 50 Prozent der Wehrpflichtigen
leisten weder Grundwehrdienst noch Zivildienst. Es ist
doch blauäugig, zu denken, dass eine Verkürzung der
Dienstzeit auf sechs Monate daran grundlegend etwas
ändern würde. Da im Zivildienst etwa dreimal so viele
Dienstposten zur Verfügung stehen, werden Kriegs-
dienstverweigerer mit einer deutlich höheren Wahr-
scheinlichkeit zum Zivildienst einberufen als die Nicht-
verweigerer zum Grundwehrdienst. In Anbetracht der
derzeitigen Haushaltslage wäre die komplette Abschaf-
fung der Wehrpflicht auch kostengünstiger als die
Verkürzung der Dienstzeit. Ungleichbehandlung ist an
der Tagesordnung; Wehrgerechtigkeit gibt es schon seit
langem nicht mehr – ein Grund mehr, die absolut unge-
rechte und überflüssige Wehrpflicht abzuschaffen.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Die einzige Aufgabe der Wehrpflicht ist es
heute, auf praktische, wenn auch sehr teure Art und
Weise Nachwuchs zu gewinnen. Das ist verfassungs-
rechtlich nicht gewollt; das wird die Linke nicht hinneh-
men.


(Karin Strenz [CDU/CSU]: Das kümmert uns gar nicht!)


Viertens. Ob Schwarz-Gelb, die Große Koalition oder
Rot-Grün: Bei allen war Sozialabbau Regierungspro-
gramm. Der Sozialstaat wurde unaufhörlich geschleift.
Der durch die Wehrpflicht begründete Zivildienst, der
schon längst Regel- statt Ersatzdienst ist, macht junge
Menschen zu unterbezahlten Lückenbüßern in einem
Sozialsystem, das vorher bewusst und wissentlich finan-
ziell ausgetrocknet wurde. Dass das Gebot der Arbeits-
marktneutralität des Zivildienstes reine Makulatur ist,
sieht man zum Beispiel im Pflegebereich, wo reguläre
Arbeitsplätze ersetzt und verdrängt werden. Zivildienst-
leistende übernehmen oft Tätigkeiten, die eigentlich von
ausgebildeten Fachkräften ausgeübt werden müssten. Ihr
Einsatz führt dazu, dass die Schaffung besserer Arbeits-





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)

bedingungen und die Durchsetzung höherer Löhne für
Beschäftigte im Sozialbereich erschwert wird.

Die Linke fordert: Es muss endlich aufhören, dass Zi-
vildienstleistende im sozialen Bereich als billige Ar-
beitskräfte missbraucht werden. Diese Lohndrückerei im
Sozial- und Gesundheitswesen lehnen wir ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen in erster Linie mehr tariflich entlohnte, so-
zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Pflege- und
Gesundheitsbereich.


(Karin Strenz [CDU/CSU]: Reichtum für alle! – Gegenruf von der LINKEN: Warum nicht?)


Wir brauchen dafür auch einen starken öffentlich finan-
zierten Beschäftigungssektor.

Daneben müssen Jugendfreiwilligendienste gestärkt
werden, sodass jeder, der sich dort freiwillig engagieren
möchte, dies auch tun kann. Freiwilliges bürgerschaftli-
ches Engagement braucht insgesamt Stärkung, Förde-
rung und sozial gerechte Rahmenbedingungen. Es ist
eine wichtige soziale Zugabe, darf aber nicht die Schaf-
fung regulärer Arbeitsplätze verhindern.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Wehr-
pflicht schützt nicht vor Krieg, sondern behindert grund-
sätzliche Abrüstungsschritte bei der Bundeswehr und
erleichtert somit die Fortführung bewaffneter Konflikte.
Sie ist ein Auslaufmodell und wird keineswegs für die
Landesverteidigung gebraucht. Deshalb: weg mit der
Wehrpflicht! Schluss mit allen Zwangsdiensten!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704021900

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1704022000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Einberufung zum Wehrdienst ist ein gravieren-
der Eingriff in die Freiheit und den Lebenslauf eines
jungen Menschen. Ein solcher Eingriff ist nur gerecht-
fertigt, wenn er der Bewahrung der äußeren Sicherheit
unseres Landes dient.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Genau deshalb muss sie aufgehoben werden!)


Erst in zweiter Linie können andere Argumente wie die
Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft, die
Nachwuchsgewinnung oder die Kosten als Begründung
für die Beibehaltung oder auch für die Abschaffung oder
Aussetzung der Wehrpflicht angeführt werden.

Der Zivildienst, die Frage der Wehrgerechtigkeit oder
die Situation in anderen Ländern sind keine Argumente
für die grundsätzliche Entscheidung über die Beibehal-
tung oder die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutsch-
land.

Wir sind es den jungen Männern, die ihren Wehr-
dienst oder Ersatzdienst ableisten, schuldig, regelmäßig
zu überprüfen, ob ihr Dienst sicherheitspolitisch weiter-
hin begründbar ist. Diesem zentralen Punkt, verehrte
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, widmen Sie in
dem vorliegenden Antrag genau zwei Sätze. Ich zitiere:

Die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr haben
sich in den vergangenen Jahren deutlich verscho-
ben. Nicht mehr die territoriale Landesverteidi-
gung, sondern die Teilnahme an UN-mandatierter
multilateraler Krisenbewältigung ist für die Bun-
deswehr heute strukturbestimmend.

Diese bloße Feststellung der momentanen Situation wird
der Bedeutung dessen, was Sie in Ihrem Antrag fordern,
nämlich die Aussetzung und damit faktisch die Abschaf-
fung der Wehrpflicht in Deutschland, in keinster Weise
gerecht. Sie brauchen nur in die jüngere Geschichte
unseres Landes zu blicken, um zu erkennen, dass sich
solch eine Situation auch einmal ändern kann.

In den letzten 30 Jahren haben sich etwa alle zehn
Jahre die sicherheitspolitische Weltlage und damit auch
die Anforderungen an die Bundeswehr grundlegend ver-
schoben. In den 80er-Jahren steckten wir noch mitten im
Kalten Krieg. Die Bundeswehr war auf diesen Ost-West-
Konflikt hin ausgerichtet. Dann kam, für viele überra-
schend, der 9. November 1989 und der Fall des Eisernen
Vorhangs. Eineinhalb Jahre später begann der Krieg auf
dem Balkan. Damit ergaben sich eine vollkommen neue
sicherheitspolitische Lage in Europa und, damit verbun-
den, auch ganz neue Einsatzaufgaben für die Bundes-
wehr. Dann kam, wieder überraschend, der 11. Septem-
ber 2001, der uns in schrecklicher Art und Weise die
wachsende asymmetrische Bedrohung durch den inter-
nationalen Terrorismus vor Augen geführt hat. Diese Be-
drohung bestimmt unsere Einsätze heute.

Keine dieser grundlegenden Verschiebungen hat sich
jeweils zehn Jahre zuvor abgezeichnet, und so wissen
wir heute auch nicht genau, welchen Aufgaben sich die
Bundeswehr im Jahr 2020 stellen muss.


(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie begründen Sie das jetzt?)


Es ist wahrscheinlich, dass sich die Einsätze weiter
schwerpunktmäßig im Ausland abspielen werden. Das
Argument, die Wehrpflicht müsse deshalb abgeschafft
werden, weil im Ausland keine Grundwehrdienstleisten-
den eingesetzt werden könnten, sticht allerdings nicht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Völliger Quatsch!)


Die Wehrpflichtigen entlasten unsere Zeit- und Berufs-
soldaten von vielen Aufgaben im Inland und leisten
wichtige Unterstützung bei der Einsatzvor- und -nachbe-
reitung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unabhängig davon, was wir aus heutiger Sicht für
wahrscheinlich erachten, ist eine Armee immer auch ein
Schutz gegen Unwahrscheinliches. Gewiss, es ist Gott
sei Dank im Moment kein Szenario vorstellbar, in dem





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

wir unsere Bundeswehr zur Landes- oder Bündnisvertei-
digung einsetzen müssten. Aber trotzdem wollen wir uns
die grundsätzliche Fähigkeit dazu erhalten. Hierfür brau-
chen wir nicht nur gut ausgebildete Spezialisten für Ein-
sätze im Ausland, sondern auch eine größere Zahl von
Reservisten, auf die wir im Krisenfall zurückgreifen
können. Die Zahl der ausgebildeten Reservisten würde
bei einer Aussetzung der Wehrpflicht jedoch drastisch
schrumpfen.

Bei all dem, was wir in den vergangenen fünf Jahr-
zehnten an sicherheitspolitischen Veränderungen erleben
durften und erleben mussten, hat sich die Struktur der
Bundeswehr mit genau dieser Mischung aus Zeit- und
Berufssoldaten, ergänzt durch Grundwehrdienstleistende
und Reservisten, hervorragend bewährt. Ich sehe im
Moment keinen Grund, von dieser grundsätzlichen
Struktur abzurücken.

Nichtsdestotrotz müssen wir uns ständig fragen, wie
wir diese Struktur angesichts neuer Anforderungen und
Aufgaben weiter verbessern können. Für mich gelten bei
der Wehrpflicht dabei folgende Leitlinien: Der Dienst
muss sowohl für die Truppe als auch für den Einzelnen
sinnvoll ausgestaltet sein. Gleichzeitig soll die Dauer des
Pflichtdienstes auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben.
Die Verkürzung auf sechs Monate ist daher nicht als Ein-
stieg in den Ausstieg zu verstehen. Es ist ein Auftrag an
die Bundeswehr, die Ausbildung und den Einsatz der
Wehrpflichtigen weiter zu optimieren.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unterstützen wir
die Bundeswehr bei diesem Auftrag, einen für die
Gesellschaft und den Einzelnen sinnvollen Dienst anzu-
bieten! Auch das sind wir den jungen Männern schuldig,
die diesen Dienst für uns ableisten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704022100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1431 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c
auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gunkel, Lothar
Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Gernot Erler, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen
der Europäischen Union mit Kolumbien und
Peru verankern

– Drucksachen 17/883, 17/1545 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Wolfgang Gunkel
Marina Schuster
Annette Groth
Volker Beck (Köln)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unab-
hängigkeit Lateinamerikas solidarisch un-
terstützen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Klimaschutz und gerechten Handel mit La-
teinamerika und der Karibik voranbringen

– Drucksachen 17/1403, 17/1419, 17/1608 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Thilo Hoppe

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Annette Groth,
Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda
setzen – Freihandelsabkommen EU-Kolum-
bien stoppen

– Drucksachen 17/1015, 17/1546 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Wolfgang Gunkel
Marina Schuster
Annette Groth
Tom Koenigs

Interfraktionell wurde vereinbart, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es
handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen: Anette Hübinger, Michael Frieser, Wolfgang
Gunkel, Harald Leibrecht, Heike Hänsel und Hans-
Christian Ströbele.1)

Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst zu
Tagesordnungspunkt 18 a. In seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1545 empfiehlt der Ausschuss

1) Anlage 7





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/883 mit dem
Titel „Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen der
Europäischen Union mit Kolumbien und Peru veran-
kern“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Tagesordnungspunkt 18 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 17/1608. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1403 mit dem Titel „VI. EU-Lateiname-
rika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zwei-
ten Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unter-
stützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke.

Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 18 b. Unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1419 mit
dem Titel „Klimaschutz und gerechten Handel mit La-
teinamerika und der Karibik voranbringen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak-
tion.

Tagesordnungspunkt 18 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda setzen –
Freihandelsabkommen EU-Kolumbien stoppen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1546, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/1015 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen zum Zusatzpunkt 5:

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangen-
heit offenlegen

– Drucksache 17/1556 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Interfraktionell wurde vereinbart, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden folgender
Kollegen: Clemens Binninger, Michael Hartmann,
Hartfrid Wolff, Jan Korte und Wolfgang Wieland.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1556 an den Innenausschuss vorgeschla-
gen. – Sie sind, wie ich sehe, damit einverstanden. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kernfusionsforschung kritisch überprüfen –
ITER-Vertrag kündigen
– Drucksache 17/1433 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Hier ist in der Tagesordnung bereits ausgewiesen,
dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es han-
delt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
legen: Dr. Stefan Kaufmann, René Röspel, Dr. Martin
Neumann (Lausitz), Dr. Petra Sitte und Sylvia Kotting-
Uhl.


Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1704022200

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist ein neuer-

liches Beispiel für die fast irrationale Technologiefeind-
lichkeit der Grünen. Lassen Sie mich Ihnen erläutern,
warum. Noch in diesem Jahrhundert wird der weltweite
Strombedarf etwa auf das Sechsfache des heutigen Be-
darfs ansteigen. Der von den Experten prognostizierte
Bedarf an Energie ist mit keiner heute bekannten Tech-
nik zu decken. In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass die
Kernfusion bei einer voraussichtlichen Realisierung im
Jahre 2050 mit ihrem unbestreitbaren Beitrag zum Kli-
maschutz zu spät komme. Dabei blenden Sie den stetig
wachsenden Energiebedarf schlicht aus.

Die Fusionskernkraft ist eine saubere Energieform.
Wir dürfen daher die Kernfusion – anders als Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen in Ziffer 3
Ihres Antrags – nicht gegen die Förderung erneuerbarer
Energien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei der
Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissio-
nen. Auch das Problem der Endlagerung radioaktiver
Abfälle stellt sich im Gegensatz zur Kernspaltung nicht –
oder jedenfalls in weit abgeschwächter Form. Mit Ihrer
Behauptung, die Menge radioaktiven Inventars sei in
Fusionsreaktoren etwa genauso hoch wie in Kernspal-
tungsreaktoren, wird fälschlicherweise eine Vergleich-
barkeit der Entsorgungsprobleme von Ihnen unterstellt.
Lassen Sie mich Ihnen erläutern, warum die Endlage-
rungsproblematik nicht vergleichbar ist. Die Eigen-
schaften des Abfalls sind sehr verschieden. Wie intensiv
die Aktivierung im Fall der Fusion ausfällt, hängt stark

1) Anlage 8

Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

von den benutzten Materialien ab, lässt sich also beein-
flussen. Im Falle der Kernspaltung ist dies anders. Dort
ist die anfallende Radioaktivität durch die Spaltprodukte
naturgesetzlich mit der erzeugten Energie verknüpft und
entsteht zwangsläufig. Daher werden für die Fusion spe-
zielle Materialien – beispielsweise für die Ummantelung –
mit niedrigem Aktivierungspotenzial entwickelt. Die
Halbwertszeiten der wesentlichen Fusionsrückstände
sind damit bedeutend kleiner. Man rechnet nach heuti-
gem Kenntnisstand mit ein bis fünf Jahren gegenüber
100 bis 10 000 Jahren im Fall der Kernspaltung.

Das biologische Gefährdungspotenzial der Fusions-
abfälle klingt rasch ab und ist im Vergleich zu Spaltab-
fall nach 100 Jahren um mehr als das Zehntausendfache
geringer. Etwa die Hälfte des Fusionsabfalls kann – je
nach Materialauswahl – nach einer Wartezeit von
100 Jahren uneingeschränkt freigegeben werden. Das
übrige Material könnte rezykliert und in neuen Kraft-
werken wiederverwendet werden. Die Fusionsenergie
verspricht vor diesem Hintergrund gegenüber den be-
kannten Energiequellen derart große Vorteile, dass sich
alle Anstrengungen lohnen, ihr zum Durchbruch zu ver-
helfen. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn man das
Projekt als Ganzes noch als großes Experiment betrach-
ten mag.

In den letzten fünf Jahrzehnten wurde enorm viel
wertvolle Forschungsarbeit im Bereich der Kernfusion
geleistet. Die für den Fusionsprozess nötigen Grund-
stoffe – Deuterium und Lithium, aus denen im Kraftwerk
Tritium hergestellt wird – sind nahezu überall auf dieser
Welt vorhanden; der Vorrat ist nach menschlichen Maß-
stäben unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine ex-
trem hohe Energiekonzentration zur Folge hat, wird im
Gegensatz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur
sehr wenig Fläche verbraucht. Klimatische Schwankun-
gen haben – wie auch bei der Kernspaltung – keinerlei
Einfluss auf die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfu-
sion ideal für die Grundlastversorgung von Ballungs-
räumen sowie der Großindustrie.

Vor dem Hintergrund all dessen müssen wir ITER
eher voranbringen als beenden. ITER eröffnet zudem
große Chancen sowohl für die deutsche Industrie wie
auch für unsere Forschungslandschaft. Für den Bau von
ITER sind industriell großmaßstäbliche Beiträge aus
den Bereichen Bauingenieurwesen, Maschinenbau,
Elektrotechnik und Kerntechnik erforderlich, die unter
völlig neuartigen Bedingungen miteinander kombiniert
werden – ich zitiere insoweit aus der jüngsten Mitteilung
der Europäischen Kommission zu ITER vom 4. Mai
2010 –, Bereiche also, in denen wir traditionell gut auf-
gestellt sind und schon viel Know-how mitbringen.
Deutschland als größter europäischer Partner des Pro-
jekts könnte daher in Wissenschaft und Technologie rund
um das Projekt auf internationaler Ebene eine Füh-
rungsrolle übernehmen, und unsere Unternehmen könn-
ten langfristig von ITER profitieren. So haben sich be-
reits zwei deutsche Unternehmen am Standort des ITER
im Raum Cadarache angesiedelt. 5 von 16 interessierten
Unternehmen haben Aufträge bei Ausschreibungen von
„Fusion for Energy“ erhalten. Dabei sind 28 Prozent
Zu Protokoll
der Vergaben als Aufträge an die deutsche Industrie zu-
rückgeflossen.

Seit einem halben Jahrhundert wird an der Kernfu-
sion gearbeitet. Anfangs sind die Experten von etwa
zehnmal kleineren Fusionskraftwerken ausgegangen als
jenem, das heute vor der Realisierung steht. Man hat
also durch wissenschaftlichen Fortschritt vieles er-
reicht. Zwischenzeitlich kamen allerdings erschwerend
auch höhere Qualitätsanforderungen und verteuerte
Rohstoffpreise hinzu. All dies hat zu erheblichen Kosten-
steigerungen geführt. Diese Kostenentwicklung des
ITER-Projektes ist nicht nur vor dem Hintergrund der
schwierigen Haushaltslage praktisch aller der im Rah-
men von Euratom beteiligten Staaten problematisch. Es
müssen daher nochmals alle Möglichkeiten zur Kosten-
einsparung ausgelotet werden. Der Bundesregierung
obliegt es, die Kontrolle über die Ausgabenentwicklung
und damit auch über die Aktivitäten der internationalen
ITER-Organisation auszuüben. Im Bereich der Verwal-
tung von ITER durch das gemeinsame Unternehmen
„Fusion for Energy“ liegt doch einiges im Argen – wie
nicht zuletzt der Rücktritt des Direktors offenbart hat.
Denn eines ist auch klar: ITER kann es nicht um jeden
Preis geben. Vor allem aber darf ITER nicht zu einem
Fass ohne Boden werden.

Noch überwiegt allerdings mein Vertrauen in die
Chancen der Kernfusion. Um das Projekt wirklich zu ei-
nem Erfolg zu machen, müssten wir die Entwicklung der
Fusion aber eher beschleunigen als Tempo herauszu-
nehmen. Es gilt daher, gemeinsam mit unseren europäi-
schen Partnern zeitnah Farbe zu bekennen, wohin die
Reise gehen soll. Hierbei sind auch die schon getätigten
erheblichen Investitionen zu berücksichtigen. Letztlich
kann eine Entscheidung aber nicht ohne eine – auch von
der Kommission geforderte – glaubwürdige und belast-
bare Kostenschätzungs- und Kosteneindämmungsstrate-
gie getroffen werden. Derzeit schwirren noch zu viele
unterschiedliche Zahlen durch den Raum, als dass eine
klare Positionierung der Vertragspartner beim Rat der
Wettbewerbsfähigkeit am 25. und 26. Mai 2010 realis-
tisch erscheint. Deutlich ist nur, dass eine beträchtliche
Finanzierungslücke besteht. Richtig ist auch, dass für
eine tragfähige Zukunft des Projekts eine nachhaltige
Finanzierung statt eines ständigen Klein-Klein erforder-
lich ist.

Man mag nun zu ITER stehen wie man will. Doch ei-
nes ist klar: Eine einseitige Kündigung des ITER-Ab-
kommens ist – abgesehen von den außenpolitischen Ver-
werfungen – auch forschungs- und umweltpolitisch
unverantwortlich. Das ITER-Abkommen enthält im Üb-
rigen auch keine Rücktrittsmöglichkeit für Euratom als
einen der Vertragspartner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die
Beendigung des Vertrages nur durch eine Vereinbarung
aller Partner möglich.

Ich empfehle daher im Ergebnis, den vorliegenden
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Beratung an den
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung zu überweisen.



gegebene Reden

(A) (C)



(D)(B)


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1704022300

Die Zeit der fossilen Energieträger läuft aus. Ich

denke, wir alle sind uns darin einig, dass die nachhal-
tige und effiziente Gewinnung und Bereitstellung von
Energie eine der wichtigsten gesellschaftlichen Heraus-
forderungen der nächsten Jahre sein wird. Dabei spielt
die frühzeitige Forschungsförderung eine entscheidende
Rolle. Aber die Weichen müssen richtig gestellt sein.

Wir Sozialdemokraten haben deshalb bereits vor Jah-
ren zusammen mit unserem damaligen grünen Koali-
tionspartner große Anstrengungen in die Förderung der
regenerativen Energietechnologien gesteckt. Davon
profitiert Deutschland noch und gerade heute in vielfa-
cher Hinsicht. Teil der Energiewende war der Ausstieg
aus der schon damals nicht zukunftsfähigen Kerntechno-
logie. Die Gefahr eines Unfalls, die ungelöste und für
den Steuerzahler mit immensen Kosten verbundene End-
lagerproblematik sowie die Gefahr der Proliferation von
waffentauglichem Kernmaterial sind einfach zu groß.
Rentabel sind diese Technikmonster allein für die Atom-
industrie. Zudem stellen Kernkraftwerke das Sinnbild
der zentralen – manche sagen zentralistischen – Ener-
gieversorgung mit Großkraftwerken dar, die nicht mehr
in die kommende Zeit der dezentralen und effizienten
Kleinkraftwerke passt. Für die Bürgerinnen und Bürger
sind Kernkraftwerke ein Graus. Das haben die vielen
Tausend Demonstranten vorletztes Wochenende einmal
mehr gezeigt. Wenn CDU, CSU und FDP immer noch
für eine Laufzeitverlängerung plädieren, kann man das
nur noch mit schierem Atomlobbyismus erklären.

Seit mehr als 60 Jahren arbeiten Wissenschaftler in
aller Welt an einer weiteren Technologie zur Energiebe-
reitstellung, an der sogenannten Fusionstechnologie.
Dabei sollen die Abläufe, die in der Sonne stattfinden, in
einem Kraftwerk nachempfunden werden. Im Unter-
schied zur Kernspaltung werden bei der Kernfusion
Atomkerne verschmolzen. Dabei werden wie bei der
Kernspaltung große Mengen Energie freigesetzt. Eine
unkontrollierbare Kettenreaktion ist aber, anders als bei
der Atomkraft, zum Glück nicht möglich. Auch die Pro-
bleme mit radioaktivem Müll sowie die Möglichkeit der
Nutzung als Waffe erscheinen nach heutigem Wissens-
stand im Vergleich zur Kernspaltung als eher unproble-
matisch. Die Technik klingt also erst einmal vielverspre-
chend.

In Deutschland wird heute bei der Max-Planck-Ge-
sellschaft in Garching und Greifswald und der Helm-
holtz-Gemeinschaft in Karlsruhe und Jülich auf diesem
Gebiet geforscht. Dafür werden die beiden Versuchs-
reaktoren Wendelstein 7-X und TEXTOR betrieben. Alle
Arbeiten sind bis zum heutigen Tag immer noch der
Grundlagenforschung zuzurechnen. Der Beweis, ob
diese Technologie jemals kommerziell Energie liefern
wird, steht noch aus.

Übrigens waren nur wenige der heutigen politischen
Entscheidungsträger an den Anfängen dieses Prozesses
beteiligt, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird nie-
mand der heutigen Entscheider noch die Anwendung
dieser Technologie in Verantwortung erleben. Inwieweit
ein solches Verfahren überhaupt politisch akzeptabel
Zu Protokoll
sein kann, muss bei Gelegenheit an anderer Stelle disku-
tiert werden.

Wie so oft in der Wissenschaft wurde auch im Bereich
der Fusionsforschung deutlich, dass man zum Erreichen
der Ziele international zusammenarbeiten muss. Aus
diesem Grund haben sich 2006 die EU, Japan, Russ-
land, die USA, China, Indien und Südkorea zusammen-
getan und den Bau und Betrieb des internationalen ther-
monuklearen Experimentalreaktors, ITER, vereinbart.
Innerhalb der EU wird ITER über Euratom abgewickelt.
Als Standort wurde das französische Cadarache ge-
wählt. Vereinbart wurde, dass die EU als Sitzregion
45,5 Prozent der Kosten trägt. Nach erfolgreichem Ab-
schluss der ITER-Experimente soll der Versuchsreaktor
DEMO gebaut werden. Erst dieser wird zeigen, ob die
kommerzielle Stromgewinnung mit der Fusionstechnolo-
gie überhaupt möglich ist. Mit einem endgültigen Ergeb-
nis wird frühestens im Jahr 2050 gerechnet.

Für die SPD ist die Fusionstechnologie ein spannen-
der Bereich der Grundlagenforschung. Das Problem ist,
dass die Gesellschaft bereits in den nächsten Jahren
konkrete und anwendbare Alternativen für die Energie-
versorgung braucht. In diesem Zeitraum wird die Fu-
sionstechnologie nicht als Option zur Verfügung stehen.

Im Bereich der erneuerbaren Energien existieren
schon funktionsfähige Technologien, bei denen Bio-
masse, Geothermie, Sonne, Wasserkraft und Wind zur
Energieerzeugung genutzt werden. Sie sind bereits heute
anwendbar, dienen dem Umwelt- und Klimaschutz, sind
Innovations- und Technologietreiber und tragen in brei-
tem Umfang zur Wertschöpfung und Schaffung von Ar-
beitsplätzen in Hand- und Stahlwerk bei. Diese Anlagen
erzeugen heute 15 Prozent des gesamten Bruttostrom-
verbrauchs in Deutschland. Das Potenzial ist dabei
noch lange nicht ausgeschöpft. Mit diesen Technologien
ist die Energiewende somit machbar. Deshalb besitzt für
uns Sozialdemokraten dieser Bereich ganz klare Priori-
tät.

Mit ITER haben wir ein Finanzierungsproblem. Die
aktuelle Mitteilung der Kommission lässt vermuten, dass
der Kostenanteil für Europa sogar von 2,7 auf 7,2 Mil-
liarden Euro steigt. Schon jetzt klafft eine Finanzie-
rungslücke von 1,4 Milliarden Euro für die Jahre 2012
und 2013, die entweder über eine Anhebung des Finanz-
rahmens oder zusätzliche Beiträge der Mitgliedstaaten
gefüllt werden muss. Da stellt sich schon die Frage, ob
diese Technologie, bei aller Forschungsfaszination, in
dieser Größenordnung vernünftig oder verantwortbar
ist, insbesondere wenn man überlegt, was diese Summen
in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Energieeffizienz,
-einsparung oder regenerativen Energietechnologien,
möglich machen würden. Insofern sympathisiere ich
durchaus mit dem Antrag der Grünen. Aber aus unserer
gemeinsamen Koalitionszeit weiß ich auch, dass der von
ihnen geforderte Ausstieg eben leider nicht so einfach
umzusetzen ist.

Wenn die aktuellen Zahlen der Kommission sich be-
stätigen, muss die Bundesregierung beim Wettbewerbs-
fähigkeitsrat am 25./26. Mai in Brüssel Druck machen.
Klar ist für uns Sozialdemokraten, dass die erneute Kos-



gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

tensteigerung in diesem Umfang nicht hingenommen
werden kann und schon gar nicht zulasten der Förde-
rung der regenerativen Energie gehen darf. Die erste
Kürzung in diesem Bereich durch die schwarz-gelbe
Koalition lässt nichts Gutes erwarten. In Zeiten, in de-
nen wir auf der einen Seite die Ursachen und Auswir-
kungen des Klimawandels konkret und zeitnah bekämp-
fen müssen und auf der anderen Seite infolge der
Finanzkrise mit finanziellen Schwierigkeiten in unge-
ahnter Größe zu kämpfen haben, sind weitere Mittel-
erhöhungen nicht zu verkraften.

Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, auch die
potenziellen Nutznießer der Fusionstechnologie – sprich
die Industrie – stärker an den Forschungsausgaben zu
beteiligen. Wenn Frau Merkel so sehr an die Machbar-
keit der Technologie glaubt, sollte die Überzeugungs-
arbeit ja eigentlich ein Kinderspiel sein.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Für uns So-
zialdemokraten ist die Fusionstechnologie ein spannen-
des Forschungsthema; sie wird aber, selbst wenn alle
Experimente positiv verlaufen, nicht rechtzeitig als
Energieoption zur Verfügung stehen. Wir müssen uns
also auf andere Energieträgertechnologien konzentrie-
ren. In Anbetracht der finanziellen Zwänge sollte das
Geld deshalb vorrangig in bereits ausgereifte und ein-
setzbare regenerative Energietechnologie gesteckt wer-
den. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, nun endlich
eine Deckelung der ITER-Kosten in Brüssel durchzuset-
zen.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1704022400

Die Investition in Zukunftsenergien, die keine das

Klima schädigenden Emissionen, keine Endlagerpro-
bleme und keine Proliferationsprobleme mit sich brin-
gen und die die Energieversorgung in der Grundlast
dauerhaft sichern, ist lohnend und vielversprechend. Es
wird bereits viel auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener-
gien geforscht und erprobt. Es macht keinen Sinn, sich
nur auf ein Gebiet der Energieversorgung zu konzentrie-
ren. Das haben wir aus der Vergangenheit gelernt. Kern-
spaltungs- oder Kernfusionsforschung zu verteufeln ist
forschungspolitisch fatal. Denn wäre die Kernforschung
in den letzten Jahren stärker forciert worden, wären wir
auf diesem Gebiet vielleicht schon weiter.

Wir rufen uns kurz in Erinnerung: ITER ist ein inter-
national gefördertes Fusionsexperiment, das einzig und
allein zu Forschungszwecken gebaut wird. Es soll die
technische Machbarkeit der Energiegewinnung aus
Kernfusion demonstrieren. Folgt man den Berechnun-
gen, so soll etwa zehnmal so viel Energie aus der Fusion
von Deuterium und Tritium freigesetzt werden, wie
Energie für den Betrieb eingesetzt wird.

Sieben gleichberechtigte ITER-Partner – Europa, Ja-
pan, Russland, die USA, China, Indien und Südkorea –
haben am 21. November 2006 in Paris den Vertrag zur
Gründung der ITER-Organisation nach langem Ringen
unterzeichnet. Der geplante Fusionsreaktor ITER im
südfranzösischen Cadarache soll die Nutzung der Kern-
fusion zur Stromerzeugung im industriellen Maßstab
vorbereiten. Eigens dafür richteten alle sieben Partner-
Zu Protokoll
länder eine eigene nationale Behörde ein, die die Auf-
gabe hat, die vertraglichen Verpflichtungen des jeweili-
gen Landes gegenüber ITER zu erfüllen.

Welche Bedeutung hat ITER für Deutschland? Am
ITER-Projekt sind führend deutsche Forschungseinrich-
tungen beteiligt. So arbeitet das Institut für Plasmaphy-
sik in Garching, eines der größten Fusionsforschungs-
zentren in Europa, mit seinem Experiment ASDEX
Upgrade seit Jahren an ITER-relevanten Fragen. Nicht
zuletzt hat das IPP die physikalischen Grundlagen für
den Testreaktor entwickelt.

Auch zukünftig muss Deutschland, vertreten durch
die Max-Planck-Gesellschaft und die Helmholtz-For-
schungszentren Karlsruhe und Jülich, eine wichtige
Rolle spielen, so zum Beispiel bei der Suche nach opti-
mierten Betriebsweisen für den Testreaktor, bei der Ent-
wicklung der Plasmaheizung von ITER sowie bei der
Suche nach Analyseverfahren für das Plasma und natür-
lich nicht zuletzt auch nach geeigneten Werkstoffen für
die Brennkammer.

Das ITER-Projekt bedeutet auf keinen Fall, das
nationale Projekt Wendelstein 7-X in Greifswald aufzu-
geben. Dieses Leuchtturmprojekt mit seinem Alleinstel-
lungsmerkmal ist für die Plasmaphysik ein außer-
ordentlich wichtiges Instrument und hat auch
international eine hohe Strahlkraft.

Auch wirtschaftliche Aspekte dürfen nicht außer Acht
gelassen werden. Es ist jetzt besonders wichtig, an die
Aufträge für die Bauteilfertigung sowie die dafür erfor-
derlichen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben für
die deutsche Industrie und die deutsche Fusionsfor-
schung zu denken. Interessant ist, welche wesentlichen
technischen Komponenten Deutschland im Rahmen des
europäischen Lieferbeitrages liefert. Alle ITER-Partner
liefern ihre Anteile im Wesentlichen als fertige Kompo-
nenten, die in den jeweiligen Ländern hergestellt wer-
den. Die Ausschreibung und Vergabe der europäischen
ITER-Komponenten erfolgen aber bekanntlich durch die
europäische Agentur Fusion for Energy, F4E, in Barce-
lona. Diesen wichtigen Aspekt dürfen wir nicht aus den
Augen verlieren.

Sie führen in Ihrem Antrag die Kostenexplosion aus,
die nicht unerheblich ist. Aber diese Fakten sind nicht
neu. Bereits im Jahr 2008 wurde bekannt, dass bei ITER
mit einer erheblich höheren Kostensteigerung zu rech-
nen sein wird, als bei der Vertragsunterzeichnung abzu-
sehen war.

Aber sind wir mal ehrlich: Haben wir in der Vergan-
genheit nicht bewusst die Augen zugedrückt? Ich erin-
nere an die damalige Entscheidung für ITER, lange be-
vor über den Standort gestritten wurde. Ich erinnere
auch an die Entscheidung für ebendiesen ITER-light.
Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamt-
summe der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Heute sind
wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekom-
men. Die Kostensteigerung ist im Wesentlichen auf
erhöhte Rohstoffpreise, neue wissenschaftliche Erkennt-
nisse, höhere Qualitätsanforderungen und Fehleinschät-
zungen des notwendigen Umfangs von Diagnostiken zu-
rückzuführen.



gegebene Reden

Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)

Übrigens halte ich es für bemerkenswert, dass heute
über den schrittweisen Aufbau von ITER nachgedacht
wird. Also kommt in einer ersten Phase dem sicheren
Einschluss des Plasmas bei circa 100 Millionen Grad
Celsius eine besondere Bedeutung zu. Nach erfolgrei-
chem Abschluss dieser Forschungsarbeiten soll in einem
zweiten Schritt das Inventar für die eigentliche Fusion
und Wärmeableitung eingebaut werden.

Klar ist, dass, auch wenn Deutschland ITER nicht di-
rekt finanziert, sondern Euratom, es an dieser Stelle Ver-
antwortung übernehmen muss. Das bedeutet, dass wir
und unsere Partner Wege suchen müssen, die heute auf
7,2 Milliarden Euro kalkulierten Kosten für den Fu-
sionsforschungsreaktor ITER durch die EU aufzubrin-
gen, und dass auch Pläne für die Finanzierung der
Kostensteigerungen zu erarbeiten sind. Das heißt,
80 Prozent der Kosten sind von Euratom – und somit an-
teilig von Deutschland – und 20 Prozent von Frankreich
zu tragen. Aus dem 7. FRP würden insgesamt 2,1 Mil-
liarden Euro für die Jahre 2012/13 benötigt. Zusätzlich
zu den vorgesehenen 346 Millionen Euro für 2012 und
den 344 Millionen Euro für 2013 besteht somit eine
Finanzierungslücke für diesen Zeitraum in Höhe von

(550 Millionen Euro in 2012 und 850 Millionen Euro in 2013)

schen Investitionsbank oder die Umschichtung inner-
halb des EU-Finanzierungsrahmens hält die Kommis-
sion für nicht möglich. Vielmehr schlägt die Kommission
zwei Finanzierungsoptionen vor: Option I: zusätzliche
Beiträge der Mitgliedstaaten, Option II: Anhebung des
Finanzrahmens.

Das Problem wurde jetzt benannt, und wir sind aufge-
fordert, Lösungen zu erarbeiten. Sich aber jetzt aus dem
Projekt zu verabschieden, ist für uns der falsche Weg.
Vielmehr ist es wichtig, neu zu kalkulieren, Kostenfallen
deutlich zu machen und das Projekt als wirkliches Zu-
kunftsprojekt für nächste Generationen zu betrachten.
Klar ist: ITER darf nicht zu einem „schwarzen Loch“
für Steuergelder verkommen.

Mitte Juni 2010 tagt der ITER-Rat, in dem die EU
durch die Kommission vertreten ist, um über die weite-
ren Schritte im ITER-Projekt zu entscheiden. Bis zu die-
sem Zeitpunkt müssen wir Lösungen vorweisen. Es ist
aber unstrittig, dass das Fusionsforschungsprojekt ITER
von der Bundesregierung weiterhin befürwortet und un-
terstützt wird. Die Entwicklungen werden aufmerksam
und kritisch beobachtet und analysiert. Deutsche Inte-
ressen und die der übrigen Mitgliedstaaten müssen ge-
genüber der EU-Kommission mit Nachdruck vertreten
werden.

Die FDP-Bundestagsfraktion appelliert an die bishe-
rigen Gegner von ITER: Setzen Sie sich in Ihren Frak-
tionen für ITER ein und beenden Sie die Politik der klei-
nen Messerstiche gegen die Fusionsforschung.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704022500

Michail Gorbatschow kennt sich mit Fusionen aus.

Er begleitete nicht nur die Fusion der beiden deutschen
Staaten, sondern rief mit François Mitterrand und
Ronald Reagan auch das Kernfusionsprojekt ITER ins
Zu Protokoll
Leben. Das geschah bereits 1985, und der politische
Glaube an solche Großtechnologien wie die Atomkraft
schien in dieser Zeit ungebrochen.

In den nachfolgenden 20 Jahren erlebte das Projekt
viele Planungsphasen und Kostenschätzungen. Die USA
zogen sich 1998 als Hauptfinanzier zurück, weil ihnen
die damals prognostizierten Baukosten von 13 Milliar-
den D-Mark, also knapp 7 Milliarden Euro, nach heuti-
gen Maßstäben für einen Forschungsreaktor zu hoch
erschienen. Zwischenzeitlich wurden die Gesamtbau-
kosten heruntergerechnet. Nach dem Preisstand von
1989 lag man bei 3,577 Milliarden US-Dollar. Das be-
deutet preisbereinigt, bezogen auf 2008, 5,366 Milliar-
den Euro.

Nun, im Jahr 2010, ist man wieder bei Kostenplanun-
gen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro gelandet. Es ist
also eine gewaltige Finanzierungslücke entstanden. Nie-
mand weiß, ob bei Fortsetzung des Projektes und seines
Baus nicht weitere Anpassungen nach oben nötig wer-
den, zum einen infolge neuer Forschungserkenntnisse
und zum anderem infolge neuer Reibungsverluste durch
technische, bauliche, aber auch bürokratische Inkompa-
tibilitäten. Fakt ist: ITER bleibt für alle beteiligten Sei-
ten mit unabsehbaren finanziellen Risiken behaftet.

Es gibt aber eine weitere Entwicklung, die ITER
grundsätzlich infrage stellt, und das ist der Klimawan-
del. 1985 war er noch kein öffentliches Thema. Heute
aber haben uns sein Umfang und seine dramatischen
Folgen eingeholt. Wir waren und sind gezwungen, umzu-
denken und anders zu handeln.

Effektivität und Effizienz sind zu den entscheidenden
Kriterien einer nachhaltigen Weichenstellung in unserer
Energieerzeugung geworden. Zur Hauptfrage ist ange-
sichts des engen Zeitfensters, innerhalb dessen wir den
Klimawandel eindämmen wollen, geworden: Welchen
Beitrag kann eine Technologie zur Reduzierung von kli-
maschädlichen Emissionen in welcher Zeit und zu wel-
chen Kosten leisten? Vor dem Hintergrund dieser Aus-
gangssituation hat die Linke dieses Mammutprojekt, so
spannend es aus wissenschaftlicher Sicht auch sein mag,
kritisch betrachtet.

Sollte ITER, wie geplant, 2018 zum ersten Mal Strom
produzieren, wäre das wiederum der Startschuss für
weitere vorrangig öffentlich finanzierte milliarden-
schwere Demonstrationsprojekte, so auch für den Reak-
tor DEMO. Von einer kommerziellen Nutzung ist man
dann allerdings immer noch 30 bis 40 Jahre entfernt.
Vor 2050, so schätzen Experten, wird auch im Best-
Case-Szenario kein Strom aus Kernfusion ins Netz kom-
men. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir jedoch längst
Maßnahmen für eine klimafreundliche Energieerzeu-
gung getroffen und umgesetzt haben, oder – um noch-
mals Michail Gorbatschow zu bemühen –: „Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben.“

Die Linke strebt, wie andere Fraktionen hier im Haus
auch, eine vollständige Umstellung der Stromversor-
gung auf erneuerbare Energien an. Diese haben den
Vorteil, vor allem dezentrale Stromproduktion zu ermög-
lichen. So können nicht nur Synergien, etwa bei der



gegebene Reden

Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)

Kraft-Wärme-Kopplung oder der Verwertung von Bio-
masse, genutzt werden, auch die Abhängigkeit von Mo-
nopolstrukturen in der Energiewirtschaft ließe sich deut-
lich verringern.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat am
Tag vor dieser Debatte in einer Stellungnahme bestätigt,
dass eine vollständige Umstellung auf erneuerbare
Energien bis 2050 umsetzbar ist, wenn klare politische
Weichenstellungen erfolgen. Ich zitiere selbigen: „Die
Politik muss die Zielrichtung eindeutig vorgeben. Wich-
tig ist es, die systemischen Konflikte zwischen grundlast-
basierten und erneuerbaren Systemen und die daraus
entstehende Notwendigkeit einer Systementscheidung
für die Öffentlichkeit transparent zu machen.“ Das Ver-
sprechen auf die Zukunftsvision, die Kernfusion könne
uns von allen Energieproblemen der Welt erlösen, birgt
die große Gefahr, dass wir nicht energisch genug die
notwendigen energetischen Weichenstellungen angehen
und uns vor der genannten Systementscheidung drü-
cken.

Die schwarz-gelbe Koalition bremst jetzt bereits:
nicht nur durch Pläne für längere Laufzeiten von Atom-
kraftwerken, nicht nur mit der überzogenen Kürzung der
Einspeisevergütung im Rahmen des Energieeinspei-
sungsgesetzes, sondern auch durch stagnierende For-
schungsmittel im Bereich der erneuerbaren Energien.
Wer abseits von Sonntagsreden etwas zu den Initiativen
des Umweltministeriums in diesem Bereich erfahren
will, hat Pech. Dessen Übersicht zur Forschung bei Er-
neuerbaren auf der Ministeriumsseite verharrt auf dem
Stand Mai 2009. Ein Innovationsbericht für diesen Be-
reich ist zum letzten Mal im Januar 2009 erschienen.
Nach einer eindeutigen Prioritätensetzung für For-
schung an nachhaltiger Energieerzeugung sieht das al-
les nun wirklich nicht aus.

Wir können nur appellieren: Nehmen Sie die Verant-
wortung an! ITER und die Fusionsforschung mögen
spannende wissenschaftliche Hypothesen überprüfen.
Wohl wahr. Aber zur Lösung unserer drängenden Pro-
bleme tragen sie bestenfalls langfristig, schlechtesten-
falls niemals etwas bei. Beenden Sie die Teilnahme an
diesem Projekt, bevor es weitere Milliarden verschlingt,
die heute weit effektiver für eine Energiewende einge-
setzt werden können.

Wir wissen, dass das Kündigen multilateraler Ver-
träge dieses Umfangs besonders kritisch zu prüfen ist.
Verlässlichkeit und Vertrauen sind durchaus bedeutende
Kriterien. Wir haben diese und die Komplexität des Pro-
jektes bei unserer Prüfung berücksichtigt. Dabei muss-
ten wir auch feststellen, dass es bei dem gewaltigen
Missverhältnis zwischen dem Engagement öffentlicher
Haushalte und der Wirtschaft geblieben ist.

Veränderte Situationen zu analysieren, Folgen abzu-
schätzen und entschlossen zu reagieren, ist durchaus mit
veränderten Prioritätensetzungen verbunden. Dieser
Frage müssen sich auch die Koalitionsfraktionen stel-
len. Immerhin haben sich die umwelt- und finanzpoliti-
schen Bedingungen erheblich verschärft. Vor diesem
Hintergrund übernehmen wir mit unseren Förderent-
scheidungen auch Verantwortung für die nachfolgenden
Zu Protokoll
Generationen und ihre Lebensbedingungen, für das ge-
samte Ökosystem Erde. Eine Nummer kleiner geht es bei
der Tragweite dieses Megaprojektes nicht.

Meine Fraktion kann dem Antrag der Grünen daher
zustimmen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704022600

Große Ideen üben große Faszination aus: als Mensch

die Kraft der Sonne beherrschen, Grenzen überwinden
und gemeinsam, ja völkerverbindend, für ein großes Ziel
forschen. Es ist ja nachvollziehbar, dass die damit Be-
fassten solche Träume nicht den schnöden Realitäten
opfern wollen. Aber wir hier im Bundestag müssen uns
den Realitäten stellen. Wir müssen nicht nur über die zu-
künftige Energiestruktur, die Maßnahmen zum Klima-
schutz entscheiden, wir sind auch verantwortlich, mit
den Steuergeldern unserer Mitbürgerinnen und Mitbür-
ger redlich umzugehen.

Tatsächlich ist die Fusionsforschung nichts als eine
unendliche Geschichte von Versprechen. Schon in den
50er-Jahren des letzten Jahrhunderts glaubte man, die
Kernfusion in 20 bis 30 Jahren für die Energienutzung
verfügbar machen zu können. Dieses durch alle Jahr-
zehnte wiederholte Versprechen auf eine Zukunftsoption
ist unter Naturwissenschaftlern als Fusionskonstante
bekannt: Es bleibt in der näheren Zukunft, ist zum Grei-
fen nah; nur ein paar wissenschaftliche Wunder fehlen
zum Durchbruch.

Bisher gibt es kein Material, was radioaktives und
krebserregendes Fusionsplasma zurückhalten kann.
Durch freigesetzte Neutronen wird im Inneren des Reak-
tors auch die Hülle, das sogenannte Blanket, radioaktiv
kontaminiert und brüchig und muss immer wieder aus-
getauscht werden. Damit sind radioaktive Kontamina-
tion und strahlende Abfälle eines der Hauptprobleme
dieser Technologie. Ein Drittel dieses Atommülls wäre
langlebig und müsste in ein geologisches Endlager. Der
Traum von „unendlich viel Energie“ hat jedenfalls die
typischen Begleiterscheinungen einer Hochrisikotech-
nologie; von der Nähe zur Neutronen- oder Wasserstoff-
bombe, für die schon wenige Gramm Tritium reichen,
ganz zu schweigen.

Beim nach der internationalen Raumstation zweitteu-
ersten Forschungsvorhaben, dem ITER-Projekt, sind die
Kosten gerade explodiert. Für Europa heißt das 1,4 Mil-
liarden Euro Mehrkosten alleine in den Jahren 2012/
2013. Mit ITER soll im südfranzösischen Cadarache
erstmals demonstriert werden, dass sich mit Fusion
Energie gewinnen lässt. 1985 wurde das Projekt ange-
stoßen, für 2026 ist eine erste Fusion geplant. Falls
ITER irgendwann funktioniert, soll mit dem Folgepro-
jekt DEMO im Versuchsmaßstab Elektrizität generiert
werden. Erst wenn auch DEMO seine Tests besteht, kann
es an den Bau eines stromliefernden Fusionsreaktors ge-
hen. 2055 soll es so weit sein. Die Fusionskonstante
lässt grüßen. Bis dahin werden die Forschungskosten
auf mindestens 100 Milliarden Euro geklettert sein.

Im Kampf gegen den Klimawandel könnte die Fu-
sionstechnik übrigens nicht helfen. Dieser Kampf wird



gegebene Reden





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)

nicht in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entschie-
den, sondern in den nächsten Jahren. Selbst wenn die
Fusionsenergie 2055 zur Verfügung stehen würde: Für
die dann bereitzustellende Energieversorgung käme sie
auf jeden Fall zu spät.

Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Es ist an der
Zeit, das Notwendige zu tun und die Forscherkapazität
auf zukunftsverträgliche Lösungen zu lenken. Wir haben
nur eine Erde. Unser Lebensraum, ja selbst unser Leben
sind begrenzt. Schon heute aber können wir die Kern-
fusion nutzen. Unser Fusionsreaktor ist die Sonne. Die
Sonne schickt uns genügend Energie auf die Erde. Sie ist
in jedem Land verfügbar. Wir müssen nur lernen, diesen
Reichtum intelligent und naturverträglich zu nutzen.

Die Kernfusionsforschung ist ein Milliardengrab.
Einer Forschung, die zukunftsfähige Lösungen sucht
und den vielfältig verfügbaren natürlichen Reichtum
sinnvoll nutzt, gehört die Zukunft – und in diese Zukunft
gehören die Forschungsmilliarden. Es ist Zeit, aus der
Fusionsforschung auszusteigen.

Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, darauf
hinzuwirken, dass das ITER-Abkommen einvernehmlich
aufgehoben oder, falls dies nicht kurzfristig erreicht
werden kann, außerordentlich gekündigt wird, sowie un-
verzüglich damit zu beginnen, die Fusionsforschungs-
mittel aus dem Bundeshaushalt schrittweise auf die
Erforschung der erneuerbaren Energien und der Ener-
gieeinsparung zu übertragen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704022700

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1433 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:

ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und
weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-

(Bleiberechtsregelung/Vermeidung von Kettenduldungen)


– Drucksache 17/1557 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine wirksame und stichtagsunabhängige
gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufent-
haltsgesetz

– Drucksache 17/1571 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Interfraktionell wird auch hier vereinbart, die Reden
zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden
folgender Kolleginnen und Kollegen: Helmut Brandt,
Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Ulla Jelpke
und Josef Philip Winkler.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1557 und 17/1571 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbraucherfreundliche kostenfreie Warte-
schleifen bei telefonischen Dienstleistungen
einführen

– Drucksachen 17/1029, 17/1549 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Bögel

Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden.
Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen: Lucia Puttrich, Martin Dörmann, Dr. Erik
Schweickert, Caren Lay und Nicole Maisch.


Lucia Puttrich (CDU):
Rede ID: ID1704022800

Heute diskutieren wir den Antrag der Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen: „Verbraucherfreundliche kosten-
freie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen
einführen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bünd-
nis 90/Die Grünen: Sie wollen immer wieder den Ein-
druck erwecken, dass Sie allein zum Wohle des Verbrau-
chers handeln würden – so auch mit diesem Antrag.

Die unionsgeführte Bundesregierung hat die Proble-
matik jedoch längst erkannt. Dies haben wir schon in
unserem Koalitionsvertrag mit den Kolleginnen und
Kollegen von der FDP festgeschrieben.

Dort können Sie nachlesen: „Wir wollen die Proble-
matik der unterschiedlichen Handhabung der Kosten-
verteilung bei Warteschleifen im Telefonverkehr auf de-
ren Praxistauglichkeit hin überprüfen.“ Und genau das
werden wir tun.

Sie fordern in Ihrem Antrag eine gesetzliche Pflicht,
Warteschleifen bei telefonischen Mehrwertdiensten, be-
sonders bei den 0900- und 0180-Rufnummern, kostenlos

1) Anlage 9

Lucia Puttrich


(A) (C)



(D)(B)

anzubieten. Sie begründen das unter anderem damit,
dass Kunden bei Problemen unverhältnismäßig belastet
würden. Es wäre besser, Sie hätten genauer hinge-
schaut: Im Gewährleistungs- oder Garantiefall können
Kunden die Kosten für die Servicehotline von dem
dienstleistenden Unternehmen zurückfordern.

Aber in der Tat ärgern sich viele Verbraucherinnen
und Verbraucher über die Kosten bei Warteschleifen.
Das Thema Servicenummern muss man differenziert be-
trachten. Die Pauschalierung, dass Servicenummern mit
kostenpflichtigen Warteschleifen generell nicht vertret-
bar wären, ist schlicht und einfach falsch. Grundsätzlich
gilt: Eine Dienstleistung darf Geld kosten; sie muss die-
ses aber wert sein.

Sie verlangen, dass Verbraucherinnen und Verbrau-
cher erst dann für eine Mehrwertdienstrufnummer zah-
len, „wenn sie tatsächlich mit einem Berater verbunden
werden“. Dies ist technisch nicht einfach zu lösen, aber
es ist lösbar. Darauf werde ich gleich im Detail einge-
hen. Denn auch an dieser Stelle tut sich bereits einiges.

Lassen Sie mich zunächst einmal die tatsächliche Si-
tuation darstellen. Es gibt in der Bundesrepublik
Deutschland viele unterschiedliche Rufnummern, die
von der Bundesnetzagentur vergeben werden. Der we-
sentlichste Unterschied zwischen den einzelnen Num-
mern – nämlich die Angabe und Ansage von entstehen-
den Kosten – ist in § 66 Telekommunikationsgesetz
geregelt.

Die Preisangabe, zum Beispiel auf Verpackungen
oder in Anzeigen, ist schon heute generelle Pflicht für

(0800-, 118xy-, 0120-, 0900-, 0137-, 0180-Nummern sowie Kurzwahldienste)

Kunden bereits vor dem Anruf erkennen, welche Kosten
ihnen durch den Anruf entstehen und ob sie unter diesen
Konditionen die Verbindung nutzen wollen. Auch die
Preisansagepflicht vor Beginn der Verbindung besteht
bereits heute für die sogenannten sprachgestützten Pre-
miumdienste, insbesondere die 0900-Nummern. So kann
der Kunde hier noch vor Eintritt in das Gespräch oder
gegebenenfalls die Warteschleife entscheiden, ob er das
Angebot nutzen will.

Für uns als christlich-liberale Koalition kommt es auf
eines besonders an: Der Verbraucher hat das Recht, zu
entscheiden, welches Angebot er nutzen möchte. Hier
können die Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem
Telefonhörer abstimmen. Viele Unternehmen in
Deutschland wissen, dass kurze Warteschleifen zum
Kundendienst gehören. In Form einer Selbstverpflich-
tung haben sich bedeutende Unternehmen dazu erklärt.
Ich zitiere aus dem Leitfaden für eine verbraucher-
freundliche Kundenbetreuung, der auf der Homepage
des Wirtschaftsministeriums abgerufen werden kann:
„Die hier mitzeichnenden Unternehmen erklären aber
klar, dass sie mit den Warteschleifen kein Geld verdienen
wollen.“ Der Leitfaden ist in Zusammenarbeit mit
Unternehmen der Informations- und Kommunika-
tionstechnologien im Rahmen des von der Bundeskanz-
lerin initiierten Zweiten Nationalen IT-Gipfels 2007
verabschiedet worden. Die darin aufgenommene Selbst-
Zu Protokoll
verpflichtung der Wirtschaft hat zum Ziel, den Service zu
verbessern.

Neben Qualitätsstandards zur Ausbildung der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter sind auch Kriterien zur Er-
reichbarkeit, zu Wartezeiten und zur Transparenz im Te-
lefonkontakt Kunde/Unternehmen festgelegt worden.
Eine Reihe von Unternehmen hat inzwischen Service-
nummern geschaltet, bei denen weder in einer Warte-
schleife noch bei der Serviceauskunft für den Kunden
Kosten entstehen. Die Unternehmen aus dem Bereich
der Informations- und Kommunikationstechnologien ha-
ben sich dabei verpflichtet, über die geltenden Preisan-
sageverpflichtungen hinaus Kosteninformationen zu ge-
ben. Dies ist ein wichtiger Schritt, der belegt, dass
Unternehmen auch durchaus bereit und in der Lage
sind, selbstständig Verbraucherinteressen zu berück-
sichtigen. Doch eine Selbstverpflichtung ist nicht immer
ausreichend.

An einer entscheidenden Stelle hat die Bundesregie-
rung besonders im Bereich der 0180-Nummern nachge-
bessert. Für die 0180-Servicenummern hat die Bundes-
regierung schon Preisobergrenzen realisiert. Seit dem
1. März 2010 sind diese Änderungen gültig. Anrufe aus
dem Festnetz zu 0180-Nummern kosten maximal
14 Cent pro Minute und der gesamte Anruf maximal
20 Cent. Anrufe aus dem Mobilfunknetz zu 0180-Num-
mern kosten nun höchstens 42 Cent pro Minute und der
komplette Anruf maximal 60 Cent. Die gilt im Übrigen
auch für die von Ihnen bemängelten Warteschleifen,
wenn eine 0180-Nummer angewählt wird. Hier ist der
Verbraucher bereits erheblich entlastet.

Eine gesetzeskonforme Preisangabe für Bewerbun-
gen von diesen 0180-Rufnummern muss dem Rechnung
tragen. Schummeleien sind nicht zulässig und werden
von der Bundesnetzagentur geahndet. Bei festgestellten
Verstößen gegen die Preisangabe-/Preisansagepflicht
schreitet die Bundesnetzagentur wegen Rufnummern-
missbrauchs ein.

Anfänglich wurde den Ende 2007 in Kraft getretenen
Preisangabepflichten in der Werbung, sowohl in Print-
medien, in Funk und Fernsehen als auch im Internet,
nicht ausreichend nachgekommen. Das ist richtig. Die
Bundesnetzagentur hat jedoch zeitnah in einer Vielzahl
von Fällen Abmahnungen ausgesprochen oder die be-
treffenden Rufnummern konsequent abgeschaltet.

Es ist falsch, dass die Verbraucher ohne den Antrag
der Grünen schutzlos wären. Die Bundesregierung han-
delt – und das nicht erst seit Ihrem Antrag. Gerade die
Frage der Abzocke in Warteschleifen akzeptieren wir
nicht. Ressortübergreifend hat auch Ministerin Ilse
Aigner immer wieder darauf hingewiesen und das
Thema mit Nachdruck ins politische Bewusstsein ge-
rückt.

Ein erster Schritt ist durch die Bundesnetzagentur be-
reits ermöglicht worden, indem eine Änderung der Ab-
rechnungsverfahren erfolgt. Bisher konnte bei den 0180-
Nummern nur das sogenannte Onlinebilling genutzt
werden; nun soll das Verfahren des Offlinebilling mög-
lich werden. Beim Onlinebilling kann bei der Abrech-



gegebene Reden

Lucia Puttrich


(A) (C)



(D)(B)

nung nicht zwischen Gespräch und Warteschleife unter-
schieden werden. Beim Offlinebilling hingegen schon.
Damit besteht die Möglichkeit, erst dann eine Dienst-
leistung abzurechnen, wenn diese tatsächlich erbracht
wurde. Dies ist ein erster entscheidender Teilerfolg.
Durch die Einführung einer neuen Nummerngasse

(0180-0) wird es für das abzurechnende Unternehmen

ersichtlich sein, ob in der bestehenden Verbindung ein
Gespräch geführt wurde, das heißt, ob eine Dienstleis-
tung erbracht wurde oder der Kunde sich in einer War-
teschleife befindet. Diese Veränderung ermöglicht den
Unternehmen den Weg hin zu kostenfreien Warteschlei-
fen.

Die Bundesregierung wird diese Frage auch im Rah-
men der anstehenden Novelle zum Telekommunikations-
gesetz zur Umsetzung der europäischen Änderungsricht-
linien erörtern. Im Zuge dieser Novelle soll die
Bundesnetzagentur ermächtigt werden, umfassende Ver-
braucherschutzanforderungen durchzusetzen. So soll die
Pflicht zur Information über Preise verstärkt, der Anbie-
terwechsel erleichtert und sollen die Möglichkeiten der
Ausdehnung der Streitschlichtung geprüft werden.

Das Wirtschaftsministerium und das Verbraucher-
schutzministerium erarbeiten gerade gemeinsam einen
Gesetzentwurf. Hier wird schließlich nicht nur die Frage
der Warteschleifen, sondern auch die der Preisansage
bei Call-by-call-Anrufen untersucht. Denn leider gibt es
auch hier schwarze Schafe, die den Verbraucher täu-
schen und kurzfristig Preisänderungen vornehmen, ohne
diese den Verbrauchern zu kommunizieren.

Im Zuge der Novellierung des TKG werden mehrere
Bereiche neu geregelt. Es ist purer Populismus, dass Sie
nun mit diesem Antrag einen einzelnen Punkt heraus-
greifen. Wir werden nicht allein die Warteschleifen, son-
dern auch die Preisansagen bei Call-by-call-Anrufen
prüfen.

Eines sollte man festhalten: Letztendlich entscheidet
der Kunde darüber, welches Angebot er nutzt. Die
Macht des Verbrauchers muss an dieser Stelle auch ein-
mal deutlich herausgestellt werden. Ein gutes Beispiel
ist folgendes: Ein Verbraucher entscheidet sich für ein
Konto einer Direktbank, für das keine Kontoführungsge-
bühren anfallen. Damit kann jedoch verbunden sein,
dass er weitere Leistungen gesondert berechnet be-
kommt. Wenn zum Beispiel für die Servicehotline hohe
Entgelte gezahlt werden müssen, muss dies dem Kunden
allerdings transparent dargestellt werden. Gute Dienst-
leistungen dürfen auch berechnet werden. Es kann des-
halb keine Pflicht zum Anbieten kostenloser Dienstleis-
tungen geben. Allerdings müssen die Entgelte hierfür
transparent und angemessen sein.

Was wir in jedem Fall wollen und realisieren werden:
Es muss eine klare Preistransparenz geben, die es den
Verbrauchern ermöglicht, sich für oder gegen eine
Dienstleistung zu entscheiden. Denn nur ein informier-
ter Bürger kann verantwortliche Entscheidungen treffen.
Ich sagte es bereits: Unser Leitbild ist das des mündi-
gen, informierten und aufgeklärten Verbrauchers.
Zu Protokoll
Der Weg muss ein anderer sein als der, den Sie vor-
schlagen. Denn in einer zunehmend komplexeren und di-
gitalisierten Welt kommt es immer stärker darauf an,
dass die Kunden selbstbestimmt handeln. Daher müssen
wir einen Beitrag zu Transparenz und Information leis-
ten – und daran arbeiten wir.

Ihr Antrag ist schlichtweg überflüssig. Die Entschei-
dung, ob Mehrwertdienste angeboten werden, unterliegt
allein den dienstleistenden Unternehmen und nicht den
Telekommunikationsanbietern. Die Branche selbst hat
die Problematik erkannt. Die Bundesregierung arbeitet
an Verbesserungen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag
ab.


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1704022900

Wer kennt das Problem nicht: Es gibt Schwierigkeiten

mit einem Haushaltsgerät und man will die telefonische
Serviceauskunft des jeweiligen Unternehmens nutzen.
Im besten Fall wird man schnell mit einer kundigen
Fachkraft verbunden und erhält eine passende Antwort
auf die drängende Frage, damit das Gerät wieder rich-
tig funktioniert.

Doch es gibt leider viel zu oft auch die gegenteilige
Erfahrung. Man wartet minutenlang, ehe man dran-
kommt, weil das Unternehmen Geld für Mitarbeiter ein-
sparen will. Oder man muss sich erst mühsam durch eine
komplizierte Bandansage quälen, ehe man den richtigen
Gesprächspartner hat. Dies kostet die Anrufer nicht nur
Zeit und Nerven, sondern auch noch Geld. Denn abge-
rechnet wird das Telefonat von Beginn an und nicht erst
ab dem Zeitpunkt, an dem das eigentliche Informations-
oder Beratungsgespräch beginnt.

Die Mehrzahl der Unternehmen arbeitet wohl seriös
und versteht guten Kundenservice zu Recht als wichti-
gen Wettbewerbsvorteil, und die Verbraucherinnen und
Verbraucher haben sicherlich auch Verständnis dafür,
wenn sie in Spitzenzeiten einige Sekunden warten müs-
sen. Aber leider gibt es noch immer zu viele Unterneh-
men, die meinen, sie könnten ihre Kunden minutenlang
an der langen Leitung zappeln lassen. Diese Telefonab-
zocke ist mehr als ärgerlich und muss ein Ende haben.

Bei den Servicenummern handelt es sich insbeson-
dere – aber nicht nur – um die Rufnummerngassen der
0180-Service-Dienste und 0900-Premium-Dienste, die
unterschiedlich hohe Kosten verursachen können. Bei
den 0900-Nummern können immerhin bis zu 3 Euro pro
Minute abgerechnet werden.

Warteschleifen sollten grundsätzlich kostenlos sein.
Diese Zielsetzung im Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen, den wir heute beraten, teilen wir.

Die SPD-Bundestagsfraktion wollte das Problem be-
reits in der letzten Legislaturperiode entsprechend
lösen. Damals ging es in der Großen Koalition um die
Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, um mehr
Verbraucherschutz zu verankern. Ein gutes Beispiel
hierbei sind die 0180-Rufnummern. Es war wichtig,
diese Rufnummerngasse so auszugestalten und zu struk-
turieren, dass die Anrufenden wissen, welche Kosten bei
der Nutzung auf sie zukommen. Neu geregelt wurde



gegebene Reden

Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)

beispielsweise damals auch eine Preishöchstgrenze für
Anrufe aus dem Mobilfunknetz und ein verbesserter
Schutz vor untergeschobenen Verträgen.

Das Bundeswirtschaftsministerium hatte aber in den
seinerzeitigen Beratungen vorgetragen, dass kostenfreie
Warteschleifen technisch nur schwer umsetzbar seien,
zumindest aber noch erheblicher Prüfungsbedarf
bestehe. Um andere verbraucherschützende Regelungen
zügig zu verabschieden, haben wir damals auf eine
gesetzliche Regelung vorerst verzichtet und diese auf
„Wiedervorlage“ für die nächste Novellierung gelegt.

Da eine solche demnächst ansteht, ist nun der rich-
tige Zeitpunkt, das Thema wieder aufzugreifen, zumal
unsere damalige Hoffnung, die Branche würde Lösun-
gen finden, um das Problem selbst in den Griff zu
bekommen, bislang nicht erfüllt wurde. Auch die SPD-
Fraktion hat deshalb die Warteschleifen in ihr
Arbeitsprogramm aufgenommen und arbeitet derzeit an
einem eigenen Antrag. Vor diesem Hintergrund werden
wir uns beim Antrag der Grünen enthalten. Denn wir
sehen durchaus noch Klärungsbedarf im Hinblick auf
die technische Umsetzung. Anders als es im Antrag der
Grünen steht, ist diese nicht ganz unproblematisch,
wenn auch am Ende wohl zu lösen.

Konkret geht es beispielsweise um die Unterschei-
dung zwischen den 0180- und den 0900-Rufnummern-
gassen. Man muss dabei differenzieren zwischen dem so-
genannten Onlinebilling und dem Offlinebilling. Beim
Onlinebilling verhält es sich so: Der Anrufer ruft eine
0180-Servicenummer an. Das Gespräch läuft über einen
Netzbetreiber, etwa die Deutsche Telekom, und landet
dann bei einem Callcenter des betroffenen Geräteher-
stellers, von dem man Hilfe erfragen will. Die Gebühren
fallen hier bereits beim Zustandekommen der Verbin-
dung bei der Telekom an. Diese hat aber weder einen
Einfluss darauf, wann jemand im Callcenter das Ge-
spräch annimmt, noch kann sie die Wartezeit irgendwie
selbst ermitteln. Umgekehrt kann aufseiten des Callcen-
ters die konkrete Gesprächszeit nicht erfasst werden. So-
mit liefe in diesem Fall eine gesetzliche Regelung ins
Leere.

Anders beim Offlinebilling: Hier werden die Telefon-
gebühren, die dem Kunden in Rechnung gestellt werden,
anders ermittelt und abgerechnet. Vonseiten des
Diensteanbieters, der sich des Callcenters bedient, wird
dem Netzbetreiber mitgeteilt, welcher Anteil der Tele-
fonrechnung dem Anrufer in Rechnung gestellt werden
soll und welcher von ihm selbst getragen wird. Tech-
nisch kann dieses Offlinebilling bereits heute bei den
0900er-Nummern, nicht jedoch bei den 0180er-Num-
mern angewendet werden. Derzeit ist die Bundesnetz-
agentur dabei, die technischen Voraussetzungen zu prü-
fen, damit das Offlinebilling auch bei der 0180er-
Nummerngasse umgesetzt werden kann.

Die Bundesregierung steht in der Pflicht, die noch
offenen technischen Fragen endlich zügig anzugehen
und zu entscheiden. Wir haben bislang viele Ankündi-
gungen gehört, etwa von Ministerin Aigner, aber nur
wenig konkrete Taten gesehen. Konsequentes Handeln
ist gefragt. Die Bundesregierung sollte zeitnah einen
Zu Protokoll
Gesetzentwurf vorlegen, um kostenfreie Warteschleifen
zu schaffen. Dieser müsste beispielsweise eine klare
Definition einer „Warteschleife“ enthalten, die notwen-
digen technischen Voraussetzungen regeln und dabei
sowohl den wirtschaftlichen Erfordernissen als auch
den notwendigen Verbraucherschutzaspekten Rechnung
tragen. Auch die unterschiedlichen Aspekte von Festnetz
und Mobilfunk sind zu lösen. Ich weiß, dass es derzeit
Gespräche in der TK-Branche gibt, um solche Fragen zu
diskutieren. Es wäre gut, wenn konstruktive Vorschläge
von den TK-Unternehmen und -Verbänden erarbeitet
werden, die mit aufgegriffen werden könnten, soweit sie
zielführend sind. Umgekehrt darf es aber nicht sein, dass
eine Lösung des Problems auf die lange Bank geschoben
wird. In einer gesetzlichen Regelung könnten ausrei-
chende Übergangsfristen für die technische Umstellung
vorgesehen werden.

Eines ist klar: Der Telefonabzocke unseriöser Unter-
nehmen muss ein Riegel vorgeschoben werden, vor allen
um Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen,
aber letztlich auch im Interesse derjenigen seriösen Un-
ternehmen, die erkannt haben, dass wir besseren Service
brauchen – und nicht höhere Telefonrechnungen.


Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1704023000

Für viele Verbraucher wird der Anruf bei einer Ser-

vicehotline zu einem nervenaufreibenden und teuren
Warteakt. Im schlimmsten Falle fliegt der Anrufer sogar
irgendwann mit dem Hinweis aus der Leitung, noch im-
mer seien alle Berater im Gespräch, man solle es später
wieder versuchen. Dies ist insbesondere bei 0180er- und
0900er-Nummern ein kostenintensives Ärgernis. Dies ist
nicht weiter hinnehmbar.

Ob bei Telefonanbietern, Kabelanbietern, bei Pay-
TV-Anbietern, Reparaturhotlines von Firmen – überall
lauern die Kostenfallen bei den Warteschleifen. Manch-
mal leiten sogar 0180er-Nummern auf alternative Fest-
netznummern um, obwohl den Kunden die Mehrkosten
einer 0180er-Nummer in Rechnung gestellt werden. Da-
her hat sich im Internet bereits ein florierendes Websei-
tenangebot entwickelt, das die zur 0180er-Nummer ge-
hörende Festnetznummer offenlegt.

Fest steht: Die Warteschleifenabzocke bei Sonder-
nummern müssen wir beenden. Aus meinen Gesprächen
mit dem Bundewirtschaftsminister weiß ich, dass derzeit
im Bundeswirtschaftsministerium über Lösungen nach-
gedacht und der Dialog mit der Wirtschaft geführt wird.

Grundsätzlich muss es aber jedem Unternehmen frei-
stehen, wie es seine Serviceleistungen ausgestaltet. Und
ich habe auch grundsätzlich gar nichts dagegen, wenn
Unternehmen mit ihrer Servicehotline kostenpflichtige
Rufnummern schalten. Aber es muss eine Leistung da-
hinterstehen. Die Serviceleistung darf dann auch ruhig
teuer sein. Dem Unternehmen muss es freistehen, wie es
seinen Service ausgestaltet. Manch ein Unternehmen
mag für ein Produkt oder eine Dienstleistung ein höhe-
res Entgelt verlangen, dafür aber eine kostenfreie Ser-
vicehotline anbieten. Dagegen bietet ein anderes Unter-
nehmen ein Produkt oder eine Dienstleistung zu einem
niedrigeren Preis an, dafür entstehen aber für weitere



gegebene Reden

Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)

Serviceleistungen per Telefon deutlich höhere Kosten.
Dagegen ist nichts einzuwenden, denn der Kunde hat
aufgrund der verschiedenen Geschäftsmodelle der An-
bieter auch selbst die Wahlmöglichkeit, ob er lieber ei-
nen höheren Grundpreis oder eben Mehrkosten im Ser-
vicefall tragen will.

Aber eine Warteschleife ist nun einmal keine Service-
leistung. Daher schafft die Bundesnetzagentur derzeit
im Rahmen des Rufnummernmanagements Vorausset-
zungen, die es ermöglichen, 0180er-Rufnummern bei
Warteschleifen kostenfrei zu schalten. Derzeit ist es
nämlich nicht möglich, bei der Abrechnung durch den
Rufnummernanbieter zu unterscheiden, ob ein Anrufer
sich in einer Warteschleife befand oder ob dieser bereits
mit einem Kundenbetreuer verbunden worden war. Die
Möglichkeit zum sogenannten Offlinebilling wird aber
im Zuge der Umstellung der 0180er-Nummern erfolgen.
Solange eine solche technische Möglichkeit aussteht,
kann eine gesetzliche Verpflichtung für den gesamten
Bereich der 0180er-Rufnummern nicht greifen.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
birgt darüber hinaus einige Unschärfen bei der Konno-
tation der „telefonischen Mehrwertdienste“. Denn Sie
wissen ja sicherlich auch, dass es deutliche Unter-
schiede zwischen den einzelnen Servicenummern gibt.
So existieren beispielsweise für 0137er-Nummern be-
reits Festpreise pro Anruf, zum Beispiel bei TV-Votings
mit der Sicherheit der Durchstellung. Bei diesen Ruf-
nummern findet also eine Warteschleifenabzocke schon
heute nicht statt. Und auch bezogen auf die 0180er-
Nummern ist Ihr Antrag in gewisser Weise überholt.
Denn seit dem Inkrafttreten von Änderungen des Tele-
kommunikationsgesetzes am 1. März 2010 gelten auch
für die Nummernbereiche 0180-2 und 0180-4 Festpreise
von 6 Cent pro Minute bzw. 20 Cent pro Minute.

Aber nicht nur bei teuren, sondern auch bei kostenlo-
sen Servicehotlines sind lange Wartezeiten in Warte-
schleifen ein Ärgernis für die Verbraucher. Daher appel-
liere ich an die Unternehmen, die Voraussetzungen zu
schaffen, um die Zeit in den Warteschleifen grundsätz-
lich möglichst gering zu halten.

Seien Sie gewiss: Die schwarz-gelbe Koalition wird
sich weiterhin dafür einsetzen, dass der Verbraucher am
Telefon nicht abgezockt wird. Wenn die technische Rea-
lisierbarkeit gegeben ist, werden wir entsprechende wei-
tere Schritte unternehmen. Eine gesetzliche Pflicht vor
der technischen Realisierbarkeit einzuführen, lehnen
wir jedoch ab.


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704023100

Das Problem kostenintensiver Warteschleifen ist

nicht neu. Bereits beim dritten nationalen IT-Gipfel
2008 haben sich Bundesregierung, Industrie und Ver-
braucherverbände auf einen Leitfaden für eine verbrau-
cherfreundliche Kundenbetreuung verständigt. Die War-
tezeiten in den Schleifen sollten reduziert, und über
deren voraussichtliche Dauer sollte vorab informiert
werden. Warteschleifen sollten auch kostenlos sein. Da-
rauf – und auf mehr – hat sich die Telekommunikations-
Zu Protokoll
branche freiwillig selbst verpflichtet. Leider hat sie es
bis heute nicht umgesetzt.

Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen mit der
Selbstverpflichtung der Unternehmen sind ernüchternd:
Eine Stichprobe der Verbraucherzentrale Nordrhein-
Westfalen vom vergangenen Jahr ergab, dass nur zwei
von 60 Unternehmen eine kostenlose 0800-Nummer an-
bieten. Während ungefähr ein Viertel der Unternehmen
wenigstens eine Ortsnetzvorwahl oder Sparvorwahlen
ermöglichen, drängen zwei Drittel der Firmen ihre Kun-
den in teure Sondernummern. Dabei sind technische
Probleme für die Trennung zwischen kostenpflichtiger
Auskunft und kostenfreier Warteschleife längst keine
Ausrede mehr. Denn für diese Probleme gibt es mittler-
weile eine Lösung. Wenn ein Unternehmen verbraucher-
freundlich sein will, dann kann es bereits heute eine kos-
tenlose Servicenummer anbieten.

Dass das so gut wie gar nicht passiert, zeigt doch
deutlich, dass Selbstverpflichtungen der Wirtschaft in
der Praxis nichts bringen. Insbesondere in Bereichen, in
denen Dumpingpreise den Wettbewerb beherrschen,
werden sich freiwillige Lösungen niemals durchsetzen,
wenn sie die Unternehmen Geld oder Profit kosten. Die
Strategie der Bundesregierung greift deshalb viel zu
kurz. Wir brauchen verbindliche, gesetzlich festgelegte
Regelungen statt unverbindlicher freiwilliger Verspre-
chungen, an die sich kaum ein Unternehmen hält. Aber
auch außerhalb der Wirtschaft zählt Kundenservice
nicht viel. Wer als Erwerbsloser bei der Agentur für Ar-
beit anruft und seinen sogenannten Kundenberater spre-
chen will oder muss, der zahlt kräftig: 3,9 Cent pro Mi-
nute, Das klingt zunächst nicht teuer. Bleibt man
allerdings in der Warteschleife des Callcenters hängen
oder ruft vom Handy aus dort an, dann kann es richtig
teuer werden. Denn Handytelefonate sind 11-mal so
teuer wie Anrufe aus dem Festnetz und schlagen mit
42 Cent pro Minute zu Buche. Die Arbeitsagentur wählt
damit die absolute Obergrenze: Mehr wäre gesetzlich
verboten.

Die Bundesnetzagentur hat für Anrufe mit dem Handy
bei Servicediensten (0180er-Nummern) derzeit einen
Höchstpreis von 42 Cent pro Minute bzw. 60 Cent pro
Anruf festgesetzt. Ruft man aus dem Festnetz eine Ser-
vicenummer an, werden maximal 14 Cent pro Minute
bzw. 20 Cent pro Anruf fällig. Das ist zwar immer noch
zu viel, und eine Obergrenze von 10 Cent wäre angemes-
sener, aber ich möchte auf einen anderen Punkt hinwei-
sen: Denn bei der heutigen technischen Entwicklung ist
für uns als Linke die Unterscheidung zwischen Festnetz-
und Handypreisen absolut unangemessen. Viele Ver-
braucherinnen und Verbraucher haben nicht zuletzt aus
Kostengründen gar keinen Festnetzanschluss mehr, son-
dern telefonieren nur noch mit dem Handy. Die unter-
schiedlichen Preise für Anrufe bei Servicenummern sind
nicht zu begründen und dienen nur den Telekommunika-
tionsanbietern. Warum sollten diese freiwillig auf die
Gewinne aus überhöhten Minutenpreisen verzichten?

Ich möchte noch ein weiteres Thema ansprechen, bei
dem sich insbesondere Telekommunikationsunterneh-
men auch nicht gerade mit Ruhm bekleckern. Das ist das



gegebene Reden





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)


Thema Störungsmeldungen, bei dem man ja auch sehr
gerne Bekanntschaft mit Warteschleifen macht. Wenn
die Festnetzleitung nicht funktioniert, müssen Kundin-
nen und Kunden mit dem Handy zu einem noch teureren
Verbindungstarif den Servicedienst anrufen. Und wer

nige deutsche Firmen handhaben das so. Technisch ist
diese verbraucherfreundliche Regelung also ohne Pro-
bleme möglich.

Nachdem wir im Dezember durch unsere Erhebung

hat nicht schon mal die Erfahrung gemacht, dass die te-
lefonische Klärung lange dauern kann. Deshalb fordern
wir: Störungsmeldungen müssen kostenfrei sein. Denn
Unternehmen müssen im Rahmen ihrer Schadensersatz-
pflichten die Kosten für eigenes Leistungsversagen tra-
gen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wissen
das aber nicht, oder es ist ihnen zu aufwendig, eine Kos-
tenrückerstattung zu verlangen.

Die Bundesregierung muss endlich handeln, damit
Verbraucherinnen und Verbraucher nicht länger zur
Kasse gebeten werden. Unternehmen müssen deshalb
gesetzlich verpflichtet werden, kostenlose Warteschlei-
fen und auch kostenfreie Störungshotlines anzubieten.
Außerdem werden schnell weitere Schritte folgen müs-
sen, um die überfällige und dringend notwendige Stär-
kung der Verbraucherrechte im Telekommunikationsbe-
reich voranzubringen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704023200

Wir beraten heute unseren grünen Antrag „Verbrau-

cherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefoni-
schen Dienstleistungen einführen“. Grundlage für
diesen Antrag sind unsere beiden Erhebungen aus dem
Dezember 2009 und April 2010, die zu ärgerlichen Er-
gebnissen führten.

Bei Debitel und Alice hängt der Kunde durchschnitt-
lich drei bis sechs Minuten in der Warteschleife, beim
DSL-Anbieter Alice einmal sogar unglaubliche, kosten-
pflichtige 18 Minuten. Auch die Billigairline Easyjet
lässt ihre Kunden gerne in der teuren Warteschleife hän-
gen: Dort bezahlt man für die völlig überflüssige Band-
ansage schon 1,50 Euro.

Bei vielen Unternehmen gehören lange Warteschlei-
fen offenbar zum Geschäftsmodell. Es werden Millionen
Euro damit verdient. Die Zeche zahlen die zu Recht ge-
nervten Verbraucher, die keine Gegenleistung dafür er-
halten. Die freiwillige Selbstverpflichtung vom 20. No-
vember 2008, die im Rahmen des IT-Gipfels entwickelt
wurde, entfaltet in der Praxis keine Wirkung. Eines ihrer
Hauptziele war die gute Erreichbarkeit, also kurze War-
tezeiten und die Bereitstellung kostenloser Warteschlei-
fen von Kundenhotlines. Zwei Jahre später müssen wir
leider feststellen, dass viele Unternehmen es nicht ernst
damit meinen. Deshalb muss die Abzocke durch lange
und kostenpflichtige Warteschleifen endlich gesetzlich
verboten werden.

Wir Grüne fordern deshalb, dass Verbraucher erst
dann für ein Gespräch zahlen müssen, wenn sie auch
tatsächlich mit einem Mitarbeiter verbunden sind. In
Frankreich gibt es diese Regelung längst, und auch ei-
herausfanden, dass die Abzocke über Warteschleifen re-
gelmäßig vorkommt, hat auch Verbraucherministerin
Aigner dieses Thema medial für sich entdeckt. So konn-
ten wir unter anderem am 10. April in der „Welt“ lesen:
„Aigner poltert gegen Warteschleifen – und Red Bull. …
Wer Anrufer zu lange zappeln lässt, soll dafür kein Geld
verlangen dürfen.“

Leider verhält es sich hier wie bei so vielen anderen
Verbraucherthemen auch: Außer Pressemeldungen ha-
ben die Verbraucher von Frau Aigner nicht viel zu er-
warten. Besonders erstaunt waren wir jedoch über die
Reaktion der Koalitionskolleginnen und -kollegen im
Verbraucherausschuss in der letzten Sitzungswoche.
Denn der Antrag traf zwar auf allgemeinen inhaltlichen
Konsens. Aber leider haben CDU/CSU und FDP trotz-
dem geschlossen dagegengestimmt und damit auch ge-
gen ihre eigene Ministerin. Die Begründungen für das
Stimmverhalten waren fadenscheinig. Die Ministerin sei
ja eigentlich gar nicht zuständig, man wolle keine Ein-
zelprobleme per Gesetz lösen usw.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, bitte
wiederholen Sie diese kleinliche und inhaltlich falsche
Entscheidung heute nicht, sondern beenden Sie die poli-
tischen Spielchen und stimmen Sie dem grünen Antrag
zu. Handeln Sie im Interesse der Verbraucherinnen und
Verbraucher und lassen Sie Frau Aigner nicht als An-
kündigungsministerin stehen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704023300

Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss

für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/1549, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1029 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion.

Damit sind wir auch schon am Schluss der heutigen
Tagesordnung. Sie haben sich nach einem arbeitsreichen
langen Tag heute Abend noch ein paar schöne, ange-
nehme Stunden verdient. Diese wünsche ich Ihnen.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 7. Mai 2010, 9 Uhr,
ein.

Ich schließe die Sitzung.