Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3955
        (A) (C)
        (D)(B)
        Forschungsprogramm auf den Weg gebracht wurde. Ich
        kann dem Gesetz zur Änderung des Erneuerbare-Energien-
        halte ich zwar sachlich nicht für zwingend notwendig
        oder für sachlich geboten, da ich viele Projekte kenne, in
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlage 2
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf
        eines … Gesetzes zur Änderung des Erneuer-
        bare-Energien-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6 a)
        Veronika Bellmann (CDU/CSU): Mein Votum lau-
        tet Enthaltung.
        Positiv zu bewerten ist, dass im Zuge der Gesetzgebung
        durch die Änderung der Einspeisevergütung die Förderung
        des Eigenverbrauchs gestärkt sowie ein Innovations- und
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Becker, Dirk SPD 06.05.2010
        Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        06.05.2010
        Binder, Karin DIE LINKE 06.05.2010
        Binding (Heidelberg),
        Lothar
        SPD 06.05.2010
        Brinkmann
        (Hildesheim),
        Bernhard
        SPD 06.05.2010
        Bulmahn, Edelgard SPD 06.05.2010
        Connemann, Gitta CDU/CSU 06.05.2010
        Ernst, Klaus DIE LINKE 06.05.2010
        Dr. Ott, Hermann BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        06.05.2010
        Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        06.05.2010
        Schmidt (Eisleben),
        Silvia
        SPD 06.05.2010
        Scholz, Olaf SPD 06.05.2010
        Dr. Schröder, Kristina CDU/CSU 06.05.2010
        Werner, Katrin DIE LINKE 06.05.2010
        Zapf, Uta SPD 06.05.2010
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Gesetzes dennoch nicht zustimmen, weil die in der No-
        velle festgelegte Kürzung der Solarstromförderung in we-
        sentlichen Teilen zwar durchaus notwendig, aber nicht
        angemessen ist.
        Als nicht angemessen beurteile ich die Höhe der De-
        gressionsschritte, die kurzen Fristen, durch die Unterneh-
        men und Privatinvestoren Planungssicherheit entzogen
        und damit Investitionen und Arbeitsplätze gefährdet
        werden. Es entsteht ein unnatürlicher Nachfrageboom bis
        zur beginnenden Förderungsminderung, der durch einen
        für 2010 nicht zeitgleich mit Beginn der Degressionsver-
        schärfung startenden Beobachtungszeitraum die Förde-
        rungshöhe für 2011 noch einmal überproportional absin-
        ken lassen wird. Die in letzter Minute noch veränderten
        Degressionsschritte je nach Zubauhöhe werden die dras-
        tischen Förderabsenkungen nicht kompensieren können.
        Bei der Ausnahmeregelung der Förderstopps für So-
        laranlagen auf Ackerflächen wurden zwar Gewerbe- und
        Industriegebiete – § 8 und 9 Baunutzungsverordnung –
        berücksichtigt, nicht jedoch die unter § 11 Punkt 8 ge-
        nannten Sondergebiete zur Erprobung und Erforschung
        regenerativer Energien. Ausgerechnet diese Gebiete
        nicht in die Ausnahmeregelung aufzunehmen, ist gera-
        dezu kurios.
        Außerdem gewährleisten die Fristen für den Be-
        schluss eines Bebauungsplans, Satzungsbeschluss vom
        25. März 2010, keinen hinreichenden Vertrauensschutz
        für bereits seit längerer Zeit in Planung befindliche Pro-
        jekte. Angesichts der regelmäßigen Verfahrensdauer zur
        Aufstellung derartiger Bebauungspläne von üblicher-
        weise sieben bis neun Monaten bis zur förmlichen Be-
        schlussfassung ist die Stichtagsregelung nicht realistisch.
        Dadurch werden zahlreiche – teilweise vorfinanzierte –
        Projekte nicht umgesetzt werden können.
        Ingbert Liebing (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf
        stimme ich nur mit Bedenken zu. Dabei lasse ich mich
        von einer Gesamtabwägung der positiven Elemente dieses
        Gesetzentwurfes mit insbesondere einem gewichtigen
        negativen Aspekt leiten.
        Die grundsätzliche Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes,
        eine unstrittig gegebene Überförderung der Solarenergie
        bzw. Fotovoltaik abzubauen, unterstütze ich uneinge-
        schränkt. Auch aus persönlichen Gesprächen mit Unter-
        nehmen aus der Branche habe ich den Eindruck gewon-
        nen, dass diese Absenkung nicht nur akzeptabel, sondern
        zwingend notwendig ist. Die Größenordnung der zusätz-
        lichen einmaligen Degression halte ich ebenfalls für die
        Branche für darstellbar, ohne dass es zu einem Zusam-
        menbruch der Solarförderung kommt. Ich bin überzeugt
        davon, dass auch mit diesem Gesetzentwurf der ange-
        peilte Zubau von jährlich 3 500 Megawatt erzielbar sein
        wird.
        Den vollständigen Ausschluss landwirtschaftlicher
        Nutzflächen aus der Vergütung für Freiflächenanlagen
        3956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        denen ohne gravierende Flächenkonkurrenz bei einer ex-
        tensiveren Fotovoltaiknutzung auch eine Kombination
        mit landwirtschaftlichen oder Naturschutzinteressen
        möglich wäre. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung
        von Grünflächen statt der ausschließlichen bisherigen Fo-
        kussierung auf Ackerflächen. Gegenüber den positiven
        Aspekten tritt dieser Aspekt in der Gesamtabwägung je-
        doch zurück.
        Die größte Schwäche des Gesetzentwurfes sehe ich in
        einem mangelnden Vertrauensschutz für weit vorange-
        schrittene Freiflächenprojekte. Zahlreiche Projekte be-
        finden sich derzeit noch im Genehmigungsverfahren.
        Dabei geht es mir insbesondere um die Projekte, die
        frühzeitig im Jahr 2009 im Vertrauen auf geltendes
        Recht in Planungen investiert haben. Ein Vertrauens-
        schutz stellt sich jedoch zeitlich ab Veröffentlichung des
        Koalitionsvertrages anders dar, da ab dem Zeitpunkt die
        politische Zielsetzung erkennbar gewesen ist, das Gesetz
        zu ändern. Wer ab diesem Zeitpunkt in neue Projekte
        eingestiegen ist, kann sich nicht mehr auf Vertrauens-
        schutz berufen. Allerdings kenne ich viele Projekte, die
        erst im Mai oder Juni ihren Satzungsbeschluss in der Ge-
        meindevertretung fassen können, aber bereits frühzeitig
        im Jahr 2009 mit den Planungen begonnen haben. Dabei
        ist das Datum des Aufstellungsbeschlusses nicht ent-
        scheidend. Es gibt sowohl Projekte, in denen der Auf-
        stellungsbeschluss am Anfang der Planungen stand und
        danach erst die Projektentwicklungskosten entstanden
        sind, als auch Projekte, in denen die gesamte Projektent-
        wicklung vor dem Aufstellungsbeschluss erledigt wurde
        und die Gemeinde erst zu einem fertig entwickelten Pro-
        jekt mit dem Aufstellungsbeschluss Ja gesagt hat. Ich
        hätte deshalb die Stichtagsregelung für den beschlosse-
        nen Bebauungsplan lieber auf den 30. Juni festgelegt,
        um auch diesen Projekten den gebotenen Vertrauens-
        schutz zu gewähren.
        Die jetzt vorliegende Stichtagsregelung, die an das
        Datum der 1. Lesung des Gesetzes im Deutschen Bun-
        destag am 25. März 2010 anknüpft, ist gegenüber dem
        ursprünglichen Gesetzentwurf sicherlich eine Verbesse-
        rung. Alle Projekte, die nach dem 31. Dezember 2009
        und vor dem 25. März 2010 mit einem Satzungsbeschluss
        auf den Weg gebracht worden sind, können jetzt nach al-
        tem Recht bis zum Ende des Jahres 2010 realisiert werden.
        Damit kommen zahlreiche Projekte in den Genuss eines
        Vertrauensschutzes, den sie mit dem ursprünglichen Ge-
        setzentwurf nicht bekommen hätten. Auf der Strecke
        bleiben diejenigen Projekte, die im April, Mai oder Juni
        ihren Satzungsbeschluss fassen könnten. Insbesondere
        im Mai oder Juni kommen jedoch umso mehr Projekte
        hinzu, die erst Ende 2009 begonnen wurden. Deshalb
        war hier ein erweiterter Vertrauensschutz, den ich nach
        wie vor für notwendig halte, nicht durchsetzbar.
        Ich werte allerdings die erweiterte Vertrauensschutz-
        klausel als Bereitschaft, auch meinem Anliegen entgegen
        zu kommen.
        In der Gesamtabwägung komme ich deshalb zu dem
        Ergebnis, dem Gesetzentwurf zuzustimmen – insbeson-
        dere um deutlich zu machen, dass ich Handlungsbedarf
        in der Einschränkung der Überförderung für zwingend
        geboten erachte, auch wenn ich die gefundene Kompro-
        misslinie beim Vertrauensschutz als nicht ausreichend
        erachte.
        Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Das EEG ist, auf-
        bauend auf dem Stromeinspeisegesetz aus der Regierung
        Kohl, ein Mittelstands- und Technologiefördergesetz
        erster Güte. Es bedarf aber im Interesse der Wirksamkeit
        eines ständigen Monitorings und einer Anpassung an die
        Entwicklungen.
        Dass sich die Fotovoltaik hinsichtlich Leistung und
        Preis besser entwickelt als vorhersehbar, sollten Bran-
        chen und Politik als Erfolg verbuchen. Die Entwicklung
        ist im Gesetz unabdingbar nachzuvollziehen. Das
        schränkt die Planbarkeit für Investoren naturgemäß ein.
        Trotzdem bin ich der Auffassung, dass der von der Ko-
        alition mehrheitlich gefundene Kompromiss gerade dies
        unnötig verschärft. Der gewährte Vertrauensschutz ist nicht
        ausreichend und vernichtet Investorengelder, die – im
        Vertrauen auf ein erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getrete-
        nes Gesetz – für Anlagen ausgegeben wurden, die nun
        nicht fertiggestellt werden können. Die weiterreichenden
        Änderungen bei der Zulässigkeit von Freiflächenanlagen
        sind an dieser Stelle nicht angemessen und erfolgen ohne
        Rücksicht auf den Schutz des Eigentums.
        Gleichzeitig weise ich darauf hin, dass die Alternativen
        für den Wegfall der Grünflächen zu knapp bemessen
        sind. Die rot-grüne Vornutzungsauflage war der Versuch,
        Konflikte mit dem Naturschutz zu vermeiden, hat aber
        andere provoziert. Die Ackerlandvorschrift war damit zu
        beseitigen. Allerdings ist es nicht gelungen, in angemesse-
        ner und von der CSU mehrfach geforderter Weise Flächen-
        alternativen zu definieren, die mit Blick auf Innovation,
        Export und Preiswirkung, auch bei einer unter Landwirt-
        schaftsschutzaspekten sinnvollen Priorisierung von Dach-
        anlagen, notwendig sind. Bei der regulär anstehenden
        Novellierung des EEG ist dies auszugleichen.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/
        CSU): zur Abstimmung über die Beschlussemp-
        fehlung und den Bericht zu dem Antrag: Über-
        gangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des
        Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten
        des Vertrages von Lissabon
        hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
        tages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m. § 10 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun-
        desregierung und Deutschem Bundestag in An-
        gelegenheiten der Europäischen Union (Tages-
        ordnungspunkt 10 a)
        Ich bin der Auffassung, dass der spanische Vorschlag
        zur Anpassung der Sitzzahl im Europäischen Parlament
        Fragen zur demokratischen Legitimation und zum Status
        der Abgeordneten aufwirft, sofern die Nachbesetzung
        der Mandate in den zwölf Mitgliedstaaten nicht auf der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3957
        (A) (C)
        (D)(B)
        Grundlage freier und allgemeiner Wahlen stattfindet, wie
        dies der Vertrag von Lissabon, Art. 14 EUV, bestimmt.
        Ich bin ferner der Meinung, dass die Bestimmung der
        zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Parlamentes
        durch Benennung aus der Mitte der nationalen Parla-
        mente eine Abweichung von Art. 14 des Vertrags von
        Lissabon über die EU darstellt, und habe deshalb grund-
        legende Bedenken gegen diesen Vorschlag. Ich erinnere
        in diesem Zusammenhang an das Urteil des Bundesver-
        fassungsgerichtes vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von
        Lissabon zur eingeschränkten Wahlrechtsgleichheit bei
        den Wahlen zum Europäischen Parlament und damit ver-
        bunden einer nur begrenzt repräsentativen Abbildung
        des europäischen Mehrheitswillens. Aus diesen Gründen
        stimme ich dem Vorhaben nicht zu.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Großen Anfrage: Zu den theo-
        retischen und empirischen Grundlagen des
        Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und der ge-
        mäß Koalitionsvertag beabsichtigten Steuer-
        reform (Tagesordnungspunkt 11)
        Olav Gutting (CDU/CSU): Der Sinn und Zweck die-
        ser Großen Anfrage ist durchsichtig. Sie ist nichts ande-
        res als Wahlkampftheater vor der NRW-Wahl. Zum
        Thema Steuerreform hatten wir ja heute Nachmittag
        schon eine Aktuelle Stunde. Ich kann Ihnen aber noch
        einmal bestätigen: Wir machen erfolgreiche Politik für
        mehr Wachstum und Beschäftigung – und das auch mit
        dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Die Arbeits-
        losigkeit geht zurück, allein im April um 162 000 auf
        3,4 Millionen Arbeitslose. Die Erholung in der deut-
        schen Wirtschaft ist nach der schlimmen Krise von 2009
        deutlich erkennbar.
        Zur Wirkung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
        brauchen Sie sich doch nur die Entwicklung des Wachs-
        tums seit Inkrafttreten des Gesetzes anzuschauen. Allein
        der Ifo-Geschäftsklimaindex hat sich im April zum
        zweiten Mal in Folge kräftig verbessert.
        Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir
        gezielte Impulse zur Entlastung von Familien und Unter-
        nehmen gesetzt. Wesentlicher Teil des Wachstumsbe-
        schleunigungsgesetzes war dabei auch die Familienför-
        derung. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages und
        des Kindergeldes haben wir eine spürbare Entlastung für
        Familien mit Kindern geschaffen. Rechnet man alle
        Maßnahmen, die zum 1. Januar 2010 in Kraft traten,
        zusammen, bedeutet das für eine vierköpfige Familie
        – 54 000 Euro Jahreseinkommen, Alleinverdiener – eine
        Entlastung von knapp 1 600 Euro.
        Wir glauben, dass gerade Familien die Leistungsträ-
        ger unserer Gesellschaft sind. Diese wollen wir entlas-
        ten. Das haben wir im Wahlkampf versprochen, und das
        halten wir. Wenn Sie hingegen Familien und die Bezie-
        her kleiner und mittlerer Einkommen weiter belasten
        wollen, dann sagen Sie das klar und deutlich. Die Er-
        folge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes lassen wir
        uns jedenfalls nicht schlechtreden.
        Und im Übrigen zu Ihrer billigen Polemik, die Erhö-
        hung des Kinderfreibetrages würde die Wohlhabenden
        begünstigen: Während 4,2 Milliarden Euro für die Erhö-
        hung des Kindergeldes bereitgestellt wurden, stehen für
        die Erhöhung des Kinderfreibetrages lediglich 400 Mil-
        lionen, also weniger als ein Zehntel davon, zur Verfü-
        gung. Statt Familien mit höheren oder niedrigeren Ein-
        kommen gegeneinander auszuspielen, investieren wir in
        die Zukunft unserer Gesellschaft.
        Zu dem Thema, jedes Kind sollte dem Staat gleich
        viel wert sein. Beim Kinderfreibetrag beträgt die jähr-
        liche maximale finanzielle Auswirkung 3 154 Euro, bei
        Leistungen für Kinder in Hartz IV ab 14 Jahren
        3 444 Euro.
        Wir haben vor der Wahl versprochen, denjenigen zu
        helfen, die seit Jahren die Hauptlasten in diesem Land
        tragen. Das sind diejenigen, die morgens aufstehen, zur
        Arbeit gehen und ihre Kinder erziehen. Dieses Verspre-
        chen haben wir gehalten.
        Das gilt übrigens auch für Alleinerziehende. Das
        Wachstumsbeschleunigungsgesetz beinhaltet auch eine
        Anhebung des Freibetrages für Betreuungs-, Erzie-
        hungs- und Ausbildungsbedarf. Seine Anhebung wirkt
        sich insbesondere bei Eltern aus, die, getrennt lebend
        vom anderen Elternteil, das Kind alleine aufziehen. Die
        Anhebung führt dazu, das bereits ab einem Jahresein-
        kommen von 15 660 Euro ein Steuervorteil entsteht. Von
        der Anhebung der Freibeträge profitieren also bereits El-
        tern mit geringerem Einkommen.
        Wir haben zudem nicht nur Verbesserungen für die
        Familien erreicht, sondern auch etwas für unsere Wirt-
        schaft getan. Fragen Sie doch mal bei den Mittelständ-
        lern nach! Ich nenne zum Beispiel die Neureglung bei
        der Sofortabschreibung. Mit dem Wachstumsbeschleuni-
        gungsgesetz haben wir die Möglichkeit der Sofortab-
        schreibung von Wirtschaftsgütern bis 410 Euro wieder
        hergestellt. Das verschafft den Unternehmen notwendige
        Liquidität in der Krise.
        Zusammenfassend lässt sich festhalten:
        Erstens. Mit Ihrer in der Anfrage versteckten Kritik
        am Wachstumsbeschleunigungsgesetz greifen sie schlicht
        und einfach daneben. Das Wachstumsbeschleunigungs-
        gesetz ist ein Erfolg.
        Zweitens. Wenn Sie steuerliche Entlastungen immer
        nur von der Einnahmeseite her bewerten, werden Sie
        dieses Land nie auf den notwendigen Wachstumskurs
        bringen.
        Wesentlicher Bestandteil unserer Strategie zur Stär-
        kung der Konjunktur ist ein Steuerrecht, das ein Mehr an
        Wachstum und Beschäftigung ermöglicht. Steuerpoliti-
        schen Stillstand, wie Sie ihn wollen, darf es deshalb auch
        in Zeiten knapper Haushaltskassen nicht geben.
        Klaus Brandner (SPD): Seit ungefähr neun Mona-
        ten erscheinen beinahe täglich Presseberichte, in denen
        3958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        die jetzigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP
        eine Steuerreform und umfassende Steuersenkungen an-
        kündigen. Es werden Reden über dieses Thema gehalten
        oder Interviews gegeben. Dieses Thema ist dementspre-
        chend allgegenwärtig, und es scheint der Dreh- und An-
        gelpunkt für die schwarz-gelbe Koalition zu sein.
        Das ist nicht weiter verwunderlich; denn beim Thema
        Steuern ist die FDP Überzeugungstäterin. Bereits in den
        vergangenen Legislaturperioden hat sie auf jede erdenk-
        liche Herausforderung mit ihrem Patentrezept „Steuer-
        senkungen“ geantwortet. Unabhängig ob es der Wirt-
        schaft gut oder schlecht ging, ob eine vermeintliche
        Bedrohung von innen oder außen kam, ob Steuerschät-
        zungen wachsende oder sinkende Staatsfinanzen ver-
        sprachen – für die FDP passte ihre Forderung nach Steu-
        ersenkungen auf jede Situation.
        Auch die CDU/CSU-Fraktion war noch im Wahl-
        kampf nicht abgeneigt, sich dieser einfachen und popu-
        lären Lösung anzuschließen. Wer hätte schließlich nicht
        gern „mehr Netto vom Brutto“? Dennoch hat sie die
        FDP in den Koalitionsverhandlungen von ihrem 36-Mil-
        liarden-Euro-Wahlkampfversprechen auf 24 Milliarden
        Euro heruntergehandelt. Mittlerweile fordert die FDP
        „nur“ noch Steuerentlastungen von 16 Milliarden Euro,
        und ihr favorisiertes Dreistufenmodell hat nun zwei Stu-
        fen mehr bekommen. Damit wurde das bisherige Wahl-
        versprechen der FDP schon jetzt halbiert. Man könnte
        das einen Abschied in Stufen nennen – oder einfach
        Wählertäuschung.
        Durch die Führungsschwäche der Bundeskanzlerin
        lässt sich bei der CDU/CSU überhaupt kein einheitliches
        Bild erkennen. Während der Bundesfinanzminister bei
        jeder Gelegenheit verkündet, dass es für Steuersenkun-
        gen keine Spielräume gibt, zeigt die Kanzlerin sich an-
        getan. Auch andere Unionskolleginnen und -kollegen
        befürworten die Steuerpläne. Der Kollege Michael
        Fuchs zum Beispiel sagte: Die Entlastung in Höhe von
        16 Milliarden Euro ist möglich und nötig und sollte von
        der Koalition nun gemeinsam auf den Weg gebracht
        werden.
        Mit diesen wohlwollenden Äußerungen und dem nun
        vorgelegten FDP-Steuermodell haben die Regierungs-
        fraktionen – entgegen der Behauptung in der Antwort
        auf die Große Anfrage der SPD – ihre Pläne zur steuer-
        lichen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger vorgelegt.
        Dazu wollen wir jetzt hören, auf welcher Grundlage ihre
        Pläne entwickelt wurden, wer für die Entlastungen auf-
        kommen muss und wer direkt oder indirekt davon be-
        troffen ist. Denn angesichts der aktuellen Lage und Pro-
        gnosen sind diese Pläne nicht nur anachronistisch,
        sondern geradezu absurd.
        Der aktuelle Schuldenstand beträgt rund 1 700 Mil-
        liarden Euro. Wir haben in diesem Jahr eine Rekordneu-
        verschuldung von etwa 80 Milliarden Euro beim Bund
        und 140 Milliarden Euro beim Gesamtstaat. Besonders
        prekär sieht es bei den Kommunen aus. Jetzt die Steuern
        zu senken, wird den Schuldenberg nur weiter steigen las-
        sen. Denn es ist abwegig, anzunehmen, dass man mit
        schuldenfinanzierten Steuersenkungen Wachstumsim-
        pulse setzen könnte. Das zeigt nicht nur die Geschichte
        im In- und Ausland, sondern wird auch in diesem Jahr
        wieder exemplarisch am Wachstumsbeschleunigungsge-
        setz durch die Wirtschaftsweisen bestätigt.
        Auch mit den widersinnigen Steuerplänen müssen wir
        also davon ausgehen, dass es im Hinblick auf das Wirt-
        schaftswachstum bei den Schätzungen der Bundesregie-
        rung von 1,4 Prozent in diesem und 1,6 Prozent im
        nächsten Jahr bleibt. Das hat fatale Auswirkungen auf
        die Staatseinnahmen, wie die heute vorgelegte Steuer-
        schätzung enthüllt. Bund, Länder und Gemeinden wer-
        den in den Jahren 2010 bis 2013 rund 39 Milliarden
        Euro weniger in der Kasse haben als bisher angenom-
        men. In diesem Jahr wird der Gesamtstaat rund
        510,3 Milliarden Euro einnehmen. Das sind 1,2 Milliar-
        den Euro weniger als bisher geschätzt. Hinzu kommen
        die 10 Milliarden Euro Einsparungen, die aufgrund der
        im Grundgesetz festgelegten Schuldenbremse ab 2011
        allein beim Bund jährlich erbracht werden müssen.
        Wer in dieser aktuellen Situation Spielraum für Steu-
        erentlastungen in Höhe von 16 Milliarden Euro sieht, hat
        schon eine besondere Fantasie oder jenseits der Kameras
        und Mikrofone ganz andere Pläne. Denn angesichts die-
        ser Lage bleiben im Falle einer weiteren Steuerentlas-
        tung nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden sie auf
        Kosten der nachfolgenden Generationen den Schulden-
        berg weiter anwachsen lassen, oder sie finanzieren es
        durch Leistungskürzungen im sozialen Bereich. Was das
        bedeutet, kann man dank des sogenannten Wachstums-
        beschleunigungsgesetzes bereits heute spüren: höhere
        Kitagebühren und schlechte Straßen, geschlossene
        Sportplätze, Schulen, Schwimmbäder und Bibliotheken.
        Die Koalitionsfraktionen haben in der bereits ange-
        sprochenen Antwort auf die Große Anfrage der SPD
        deutlich gemacht, dass sie die Pläne über etwaige wei-
        tere Steuerentlastungen unter Berücksichtigung der Not-
        wendigkeit einer mittelfristigen Konsolidierung der öf-
        fentlichen Haushalte treffen wollen, und bekannten sich
        „eindeutig und nachdrücklich“ zum europäischen Stabi-
        litätspakt. Meine Frage ist daher: Besteht die Bundesre-
        gierung angesichts der zu erwartenden Mindereinnah-
        men, angesichts der Notwendigkeit einer mittelfristigen
        Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und ange-
        sichts des europäischen Stabilitätspaktes noch immer auf
        16 Milliarden Euro zusätzliche Steuerentlastungen? Und
        – sofern das der Fall ist –: Wo soll die Finanzierung der
        Mindereinnahmen erbracht werden? Heute ist die Gele-
        genheit, diese offenen Fragen zu klären.
        Bettina Hagedorn (SPD): Thema unserer jetzigen
        Debatte ist die Große Anfrage der SPD-Fraktion an die
        Regierung vom – man höre und staune – 27. Januar 2010,
        in der wir mit einem 16-teiligen Fragenkatalog nach den
        theoretischen und empirischen Grundlagen des – fälsch-
        licherweise so bezeichneten – Wachstumsbeschleuni-
        gungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beab-
        sichtigten Steuerreform gefragt haben. Es geht also um
        die volkswirtschaftliche Schlüssigkeit der Steuersen-
        kungsideen, die Schwarz-Gelb landauf, landab seit Mo-
        naten wie ein Mantra vor sich herträgt. Gerade heute
        mussten wir angesichts der Aktuellen Stunde zu der kata-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3959
        (A) (C)
        (D)(B)
        strophalen Steuerschätzungsprognose erneut eine Kost-
        probe der ungebrochenen Ignoranz der Koalitionäre in
        dieser Frage im Plenum ertragen.
        Dabei lässt sich diese Koalition auch leider nicht
        durch Fakten von ihrem falschen, unverantwortlichen
        Weg abbringen: Im Handelsblatt – nicht gerade als rotes
        Kampfblatt bekannt – stand beispielhaft in seiner Aus-
        gabe vom 30. April 2010 zur geplanten Steuerreform:
        „Das Forschungsinstitut IZA hat die FDP und das FDP-
        geführte Wirtschaftsministerium in eine peinliche Lage
        gebracht, indem es feststellte, die Reform würde nicht
        16 Milliarden Euro kosten, sondern knapp 40 Milliar-
        den.“
        Wir erleben aber täglich in diesem Hohen Haus, dass
        die FDP sich mit solchen ernstzunehmenden kritischen
        Stimmen gar nicht erst auseinandersetzt und gebetsmüh-
        lenartig weiter fordert: Steuersenkung! Gemeinhin ist
        dieser Wesenszug als „Beratungsresistenz“ bekannt.
        Die Tatsache, dass die Anforderungen der Schulden-
        bremse ab 2011 schrittweise mit 10 Milliarden Euro pro
        Jahr zu erfüllen sind und sich bis 2016 auf 60 Milliarden
        Euro pro Jahr aufaddieren werden, ohne dass diese Re-
        gierung Parlament und Öffentlichkeit bisher über ihr
        „Sparkonzept“ auch nur ansatzweise informiert hätte, ist
        eine Unterlassungssünde, die die Glaubwürdigkeit von
        Politik massiv gefährdet. Und die Steuerschätzung von
        heute beschert dem Staat zusätzliche Steuereinnahme-
        verluste von knapp 40 Milliarden Euro bis 2013, auf die
        sie uns und der Öffentlichkeit jede Antwort schuldig
        bleibt. Das kann man getrost mit dem Versuch der
        „Volksverdummung“ betiteln. Angesichts all dieser Tat-
        sachen und angesichts der Krise in Griechenland und
        Europa, die wir aktuell diese Woche nonstop mit großer
        Ernsthaftigkeit beraten, bei der es im Kern auch um die
        Folgen von staatlicher Überschuldung geht, ist es eine
        Dreistigkeit, dass diese Bundesregierung angekündigt
        hat, die 16 – mehr als berechtigten – Fragen der SPD-
        Bundestagsfraktion vom 27. Januar zu beantworten, und
        zwar exakt am 10. Juli 2010. Und was ist am 9. Juli
        2010? Ja, das ist der letzte Sitzungstag des Deutschen
        Bundestages bis Mitte September. Und was ist Mitte
        September? Richtig: die erste Lesung des Bundeshaus-
        haltes 2011 hier in diesem Plenum. So ernst also nimmt
        diese Regierung ihre Rechenschaftspflicht gegenüber
        dem Parlament in der zentralen Frage einer nachhaltigen
        Haushalts- und Finanzpolitik. Aber unbestreitbare Tatsa-
        che ist: Wenn wir in diesen Krisenzeiten unseren Le-
        bensstandard und unseren Sozialstaat in seinen Grund-
        festen erhalten wollen, dann sind angesichts der heute
        veröffentlichten Steuerschätzung, der verfassungsrecht-
        lich verankerten Schuldenbremse und der demografi-
        schen Entwicklung in unserem Land Steuersenkungen
        auf mittlere Sicht schlicht und ergreifend unmöglich.
        Wenn die Regierungsfraktionen gefragt werden, wo
        sie denn sparen wollen, sagen sie reflexartig: bei Arbeit
        und Sozialem. Natürlich, auf den ersten Blick könnte das
        im Ansatz sogar nachvollziehbar erscheinen; aber jeder,
        der auch nur für 5 Cent nachdenkt – ja, ich weiß, bei Ih-
        nen in der wirtschaftorientierten Partei FDP muss die
        Summe dafür bestimmt deutlich höher sein – erkennt,
        dass die Mittel zum allergrößten Teil festgelegt sind, bei-
        spielsweise im Etat des Bundesministeriums für Arbeit
        und Soziales in den gesellschaftlich grundlegenden Be-
        reichen Arbeit und Rente.
        Der mit Abstand größte Ausgabenblock in diesem
        Bereich ist der Zuschuss zur Rentenversicherung mit
        80,8 Milliarden Euro – eine so gigantisch große Summe,
        dass sie sich kaum jemand wirklich vorstellen kann. Da-
        rum will ich es bildlich ausdrücken: Das ist mehr als ein
        Drittel aller Steuereinnahmen (239,2 Milliarden Euro in
        2010), die der Bund 2010 überhaupt erhält, und weit
        mehr als ein Viertel aller Ausgaben, die der Bund 2009
        (292,3 Milliarden Euro) geleistet hat. Dies ist der Anteil
        des Haushaltes, wo kein Einsparpotenzial schlummert
        und wo nur ein finanzstarker Staat mit ausreichenden
        Steuern seiner sozialstaatlichen Aufgabe gerecht werden
        kann.
        Um die Dramatik zu erkennen, lohnt ein Blick zu-
        rück: Noch vor 20 Jahren – 1991 – gab der Bund knapp
        30 Milliarden Euro pro Jahr Steuerzuschuss zur Rente,
        schon sieben Jahre später waren es 1998 51,4 Milliarden
        Euro, zehn Jahre später waren es 2008 schon 78 Milliar-
        den Euro und jetzt aktuell 80,8 Milliarden Euro. Dies ist
        eine Kostenexplosion von fast 30 Milliarden Euro – pro
        Jahr! – binnen nur zwölf Jahren. 30 Milliarden Euro –
        das entspricht knapp dem Dreifachen unseres gesamten
        Bildungs- und Forschungsetats (10,91 Milliarden Euro),
        dem Fünffachen aller Leistungen aus dem Familienmi-
        nisterium (6,56 Milliarden Euro) bzw. dem Sechsfachen
        des Etats des Innenministers (5,59 Milliarden Euro) mit
        über 40 000 Beschäftigten im Dienste der inneren Si-
        cherheit unseres Landes.
        Wer nun jedoch – wie diese Regierung aus CDU/CSU
        und FDP – ernsthaft plant, Steuern im zweistelligen Mil-
        liardenbereich dauerhaft zu senken, der legt die Axt an
        die Wurzeln unseres Sozialstaates und nimmt gleichzei-
        tig unsoziale Abgabenerhöhungen – zulasten von Ge-
        ringverdienern und Arbeitslosen, Familien und Rent-
        nern, Auszubildenden und Studenten – in Bund, Ländern
        und vor allem in den Kommunen billigend in Kauf. Wie
        die FDP insgesamt auf diesem Niveau die Berechtigung
        der Steuereinnahmen unseres Staates öffentlich infrage
        stellt, und die ideologische Verbohrtheit, mit der sie un-
        ter dem Deckmantel eines verquasten Leistungs- und
        Freiheitsbegriffs für Steuersenkungen für Hoteliers, Groß-
        erben und Besserverdienende sorgt und zusätzlich noch
        Steuersenkungen für Besserverdienende und Klientelge-
        schenke fordert, sowie die Lethargie, mit der die CDU/
        CSU trotz des „C“ in ihrem Parteinamen auf dieses ge-
        zielte Attentat auf unseren Sozialstaat reagiert, das alles
        muss alle am Gemeinwohl Interessierten in unserer Ge-
        sellschaft auf die Barrikaden oder in die Verzweiflung
        treiben.
        Gestatten Sie mir zum Abschluss ein Zitat aus der
        Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung von heute. In
        dem Kommentar „Der Tag, an dem die Rechnung kam“
        schreibt Thorsten Denkler: „Eine deprimierende Lage –
        wenn es die FDP nicht gäbe. In früheren Zeiten boten
        Quacksalber auf den Marktplätzen manches Gebräu feil,
        das angeblich gegen alles half, was mit Krankheit zu tun
        3960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        hat – vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP ver-
        sucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die Partei
        des Guido Westerwelle verspricht Steuersenkungen,
        wenn es dem Staat gutgeht, weil dann genug Geld dafür
        da sei. ‚Bürger am Aufschwung beteiligen‘, heißt das
        dann. Und sie verspricht Steuersenkungen, wenn es dem
        Staat schlechtgeht, weil das angeblich die Wirtschaft
        massiv ankurbele. Einen Grund, gegen Steuersenkungen
        zu sein, gibt es für die FDP nicht. Wenn es darauf an-
        käme, würde sie mit Steuersenkungen auch den interna-
        tionalen Terrorismus oder isländische Vulkane bekämp-
        fen.“
        Dr. Daniel Volk (FDP): Mit dem Gesetz zur Be-
        schleunigung des wirtschaftlichen Wachstums werden
        Bürger und Unternehmen seit dem 1. Januar 2010 um
        insgesamt 8,4 Milliarden Euro jährlich entlastet.
        Im Gesetzentwurf heißt es:
        Die Folgen der schwersten Finanz- und Wirt-
        schaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik
        Deutschland sind noch nicht überwunden. In dieser
        sehr ernsten und beispiellosen wirtschaftlichen Ge-
        samtsituation gilt es, den Einbruch des wirtschaftli-
        chen Wachstums so schnell wie möglich zu über-
        winden und neue Impulse für einen stabilen und
        dynamischen Aufschwung zu setzen. Nur durch
        nachhaltiges Wachstum können die Folgen der
        Krise überwunden werden. Eine Steuerpolitik, die
        sich in diesem Sinne als Wachstumspolitik versteht,
        schafft Vertrauen und Zuversicht und stärkt durch
        wirksame und zielgerichtete steuerliche Entlastun-
        gen die produktiven Kräfte unserer Gesellschaft.
        Die FDP hat Wort gehalten. Den ersten Schritt zur
        Entlastung haben wir mit dem Gesetz gemacht. Einen
        weiteren Entlastungsschritt werden wir jetzt auf den
        Weg bringen. Wir werden insbesondere die unteren und
        mittleren Einkommensbezieher vorrangig entlasten und
        gleichzeitig den Mittelstandsbauch abflachen, indem wir
        den Einkommensteuertarif zu einem Stufentarif um-
        bauen.
        Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz setzt die
        neue Koalition Impulse für mehr Beschäftigung. Mit
        diesem ersten Schritt stärkten wir bereits zum 1. Januar
        2010 insbesondere Familien und Mittelstand. Daneben
        wurden im Koalitionsvertrag weitere Schritte vereinbart,
        die zeitnah umgesetzt werden.
        Die viel kritisierte Mehrwertsteuersenkung im Hotel-
        und Gaststättengewerbe zeigt nun aber erstaunlicher-
        weise erste positive Wirkungen. Drei Monate nach Ein-
        führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes planen
        knapp 3 000 in einer Befragung erfasste Hotels Investi-
        tionen in Höhe von insgesamt einer halben Milliarde
        Euro (507 Millionen Euro). Diese Investitionen betref-
        fen vor allem Modernisierungen, Neuanschaffungen und
        Umbauten. Für Arbeitnehmer bedeutet das fast 2 700
        neue Vollzeitarbeitsplätze und mehr als 1 300 neue Aus-
        bildungsplätze. Nicht zu vergessen bei dieser Betrach-
        tung ist das schwierige konjunkturelle Umfeld dabei und
        die Anzahl der gesicherten Arbeitsplätze, die leicht in
        die Zehntausende gehen.
        Ebenfalls sollte man bei der Betrachtung nicht verges-
        sen, dass durch die Mehrwertsteuersenkung auch für
        mehr Steuergerechtigkeit gesorgt wurde, da in 21 von
        27 EU-Mitgliedstaaten ein reduzierter Mehrwertsteuer-
        satz gilt.
        Wenn Sie uns vorwerfen, das Gastgewerbe als einen
        Teil der mittelständischen Wirtschaft zu unterstützen,
        der über 1 Million Beschäftigte und mehr als
        100 000 Auszubildende in 240 000 Betrieben hat, mehr
        als 57,2 Milliarden Euro Jahresnettoumsatz erwirtschaf-
        tet und dabei eine Menge Steuern zahlt, dann kann ich
        nur erwidern: Ja, wir unterstützen die Wirtschaft in die-
        sem Land, die Steuern zahlt und Arbeitsplätze schafft.
        Erreichtes:
        Kindergeld erhöht: Bislang wurden die Leistungen
        der Familien nicht ausreichend berücksichtigt. Wir ent-
        lasten und fördern Familien mit Kindern. Für alle, die
        den erhöhten Kinderfreibetrag nicht ausschöpfen kön-
        nen, heben wir das Kindergeld um 20 Euro für jedes
        Kind an.
        Kinderfreibetrag angehoben: Zur besonderen Berück-
        sichtigung der Aufwendungen der Familien für ihre Kin-
        der wurden die Steuerfreibeträge für jedes Kind von
        6 024 Euro auf 7 008 Euro erhöht. Damit sinkt die Steu-
        erlast für Familien mit Kindern erheblich. Das Finanz-
        amt prüft automatisch, ob erhöhtes Kindergeld oder er-
        höhter Freibetrag besser für die Familie ist.
        Schonvermögen verdreifacht: Bevor Sozialleistun-
        gen bezogen werden können, müssen zuerst eigene Ver-
        mögenswerte aufgebraucht werden. Bislang stand den
        Empfängern von Arbeitslosengeld II nur ein sehr kleines
        Schonvermögen von 250 Euro je Lebensjahr zu. Wir
        werden den Freibetrag auf 750 Euro pro Lebensjahr ver-
        dreifachen. So stärken wir die eigenständige Altersvor-
        sorge und mildern die Auswirkungen des sogenannten
        Hartz IV ab.
        Betriebsübergänge erleichtert: Die bisherigen Rege-
        lungen zur Unternehmensnachfolge waren insbesondere
        für Handwerk und Mittelstand oft schwer erfüllbar. Wir
        machen sie krisenfest und planungssicher. So kann die
        Zukunft vieler Betriebe und ihrer Arbeitnehmer schon
        heute gesichert werden.
        Abschreibung verbessert: Wir führen eine Regelung
        zur Sofortabschreibung von Wirtschaftsgütern bis
        410 Euro ein und lassen ein Wahlrecht zur Bildung eines
        Sammelpostens für alle Wirtschaftsgüter zwischen 150
        und 1 000 Euro zu. Das schafft mehr Flexibilität für die
        Unternehmen und trägt zur Vereinfachung der Abschrei-
        bungen bei.
        Forschung unterstützt: Bildung, Ausbildung, Wissen-
        schaft und Forschung sind unser wichtigster Rohstoff.
        Wissenschaft und Forschung brauchen mehr Flexibilität
        und Gestaltungsspielraum. Wir werden mit einem natio-
        nalen Stipendienprogramm den Anteil der Stipendiaten
        von 2 auf 10 Prozent erhöhen. Die Zusammenarbeit zwi-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3961
        (A) (C)
        (D)(B)
        schen Hochschulen und außeruniversitären Forschungs-
        einrichtungen werden wir stärken.
        Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Es geht heute um
        das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Was bedeutet das
        eigentlich? Ziel dieses Gesetzes ist, mit Steuerentlastun-
        gen für Wachstum zu sorgen. Damit berührt es eine
        zentrale Fragestellung. Kann Wachstum durch Steuer-
        senkungen erzeugt werden? Hierzu hat die SPD eine
        Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt, deren
        Antwort uns leider noch nicht vorliegt.
        Aber wir können trotzdem feststellen: Die Bundes-
        regierung argumentiert bisher immer, dass Haushalts-
        konsolidierung letztendlich durch ein erhöhtes Wirt-
        schaftswachstum erreicht werden soll, wobei
        Wirtschaftswachstum durch Steuersenkungen erzeugt
        werden soll. Hier könnte man doch erwarten, dass sie,
        wenn sie schon solch eine Annahme vertritt, diese auch
        mit theoretischen oder praktischen Erfahrungen stützt.
        Aber weit gefehlt, sie kann es nicht. Dies gab sie in einer
        früheren Antwort auf eine SPD-Anfrage zu. Sie habe
        kein verlässliches Mittel zur Abschätzung der Auswir-
        kungen von Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und
        Steuereinnahmen.
        Da stellt sich vielen Menschen die Frage: Woher
        nimmt die Bundesregierung die Annahme, Steuersen-
        kungen würden zu Wachstum führen? Vielleicht schaut
        sie in die Glaskugel?
        Zu dieser irrigen Annahme der Bundesregierung kann
        ich Ihnen nur sagen: Die in den letzten zehn Jahren statt-
        gefundenen Steuerrechtsänderungen haben nicht zu
        Wachstum, sondern zu einer stärkeren Verschuldung des
        Bundes, der Länder und der Kommunen geführt. Dies
        stellte eine Studie des Institutes für Makroökonomie und
        Konjunkturforschung, IMK, fest. Bezüglich der Auswir-
        kungen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
        stellte das IMK auch fest, dass dem Staat bis 2013 jährli-
        che Steuereinnahmen von über 8 Milliarden Euro entge-
        hen werden.
        Dies verschärft die Lage der öffentlichen Haushalte
        weiter. Zu dem von Ihnen vielfach angepriesenen Selbst-
        finanzierungseffekt kann ich Ihnen sagen: Auch hier gab
        es Untersuchungen, die bestätigen, dass sich Steuernach-
        lässe für Unternehmen und Haushalte nicht selbst finan-
        zieren. Überhaupt kein Selbstfinanzierungseffekt ver-
        bleibt, wenn der Staat die Steuern senkt, gleichzeitig
        aber die Ausgaben kürzt. Von daher sollten Sie sich end-
        lich von ihrer Steuersenkungsideologie verabschieden.
        Diese hat die letzten zehn Jahre die öffentlichen Haus-
        halte genug ruiniert. Wenn Sie also nicht auf uns oder
        das IMK hören wollen, dann folgen Sie doch wenigstens
        den Empfehlungen des Sachverständigenrates, der der-
        zeit eine Steuersenkung ebenfalls für unverantwortlich
        hält.
        Die heute erschienene Steuerschätzung rechnet insge-
        samt mit 38,9 Milliarden Euro weniger an Steuereinnah-
        men bis 2013, wobei ein Großteil der Ausfälle auf die
        von Ihnen zu verantwortenden Steuerrechtsänderungen
        zurückzuführen ist. Wer die Einnahmeausfälle kompen-
        sieren soll, dazu hört man aus dem Bundesfinanzminis-
        terium nichts. Wahrscheinlich dürfen es wieder die Bür-
        gerinnen und Bürger ausbaden.
        Das ist mit der Linken nicht zu machen. Nötig sind
        nach Meinung der Linken eine Stabilisierung der öffent-
        lichen Einnahmen und eine sozial gerechtere Politik, die
        unten gibt und oben nimmt und Steuer- und Lohndum-
        ping verhindert. Daher fordert die Linke eine gerechtere
        Einkommensbesteuerung, Zurücknahme der steuerli-
        chen Entlastungen für Unternehmen sowie einen gesetz-
        lichen Mindestlohn. Dieser erhöht letztendlich auch die
        Einnahmen der Sozialkassen und stabilisiert sie.
        Steuern sind die Grundlage, damit der Staat handeln
        kann, damit er für Bürgerinnen und Bürger Schulen,
        Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kul-
        tureinrichtungen bereitstellen kann. Die Linke sagt, dass
        soziale Gerechtigkeit nur hergestellt werden kann, wenn
        Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das heißt,
        starke Schultern müssen mehr tragen als schwächere.
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit dem Klientelbeglückungsgesetz haben Sie,
        liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
        Ende letzten Jahres Teile ihrer Wahlkampfversprechen
        eingelöst und Steuern gesenkt. Haben Sie damit jedoch
        ihr erklärtes Ziel – nämlich Wachstum zu beschleunigen –
        erreicht?
        Modellrechnungen von Experten des Sachverständi-
        genrates zeigen: Die Steuersenkungen für Hoteliers, Un-
        ternehmen, Familien und Erben erhöhen die Wirtschafts-
        leistung in Deutschland um gerade einmal maximal
        0,07 Prozent. Der Sachverstand der Experten – und da-
        rauf beruft sich ja vor allem die Kanzlerin so gerne –
        fasst die Bewertung für das sogenannte Wachstumsbe-
        schleunigungsgesetz in einer simplen Note zusammen:
        Ungenügend!
        Schauen wir uns die realen Zahlen an: Nach Verab-
        schiedung des sogenannten Wachstumsbeschleunigungs-
        gesetzes haben sie die Wachstumsprognosen für 2010
        nicht erhöht. Wenn überhaupt, dann erwarten Sie einen
        winzigen Impuls mit einer faktisch nicht wahrnehmba-
        ren Auswirkung auf die wirtschaftliche Dynamik. Und
        dafür waren Sie bereit, den exorbitanten Preis von 8,5
        Milliarden Euro zu zahlen! Jährlich! Eine ungeheure
        Verschwendung von Steuergeldern in dieser schwierigen
        Zeit, in der die Wissenschaftler, ganz deutlich der Bun-
        despräsident und jetzt auch der eigene Finanzminister ei-
        gentlich nur ein Thema kennen: die Konsolidierung der
        Haushalte. Die Schuldenbremse, die im Grundgesetz
        verankert ist, und die damit verbundene Konsolidie-
        rungsaufgabe lassen keinen Spielraum für Steuersenkun-
        gen. Laut der heutigen Steuerschätzung des Bundes-
        finanzministeriums weisen die gesamtstaatlichen
        Steuereinnahmen bis 2013 fast 50 Milliarden Euro weni-
        ger aus als geplant.
        Und dann die Verteilungswirkung: Von der Anhebung
        der Kinderfreibeträge profitieren überproportional die
        reichen Familien. Die Erben wurden entlastet, und die
        Hoteliers bekamen ihre Klientelgeschenke. Als ob die
        3962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Auseinanderentwicklung von Vermögen und Einkom-
        men in einem anderen Land stattfinden würde! Hier
        zeigt sich die Handschrift der FDP, die immer noch nicht
        kapiert hat, dass wir mit einer Stärkung der niedrigen
        Einkommen – gerade da gibt es viele echte Leistungsträ-
        ger! – Kaufkraft und Binnenkonjunktur stärken müssten.
        Klar ist: Wachstum durch ziellose Steuersenkung
        funktioniert nicht. Es ist eine Illusion. Sie fördert Fehl-
        entwicklungen, und am Ende fehlen uns Einnahmen, die
        wir vor allem in den Kommunen so dringend brauchen:
        für den Klimaschutz, für die Bildung, für die öffentliche
        Daseinsvorsorge, für Investitionen, die ein nachhaltiges,
        qualitatives Wachstum bewirken.
        Wir Grünen wollen ein nachhaltiges qualitatives
        Wachstum, ein ökologisches und sozialverträgliches
        Wachstum. Wir haben das an dieser Stelle schon oft
        durchdekliniert: Wir brauchen eine aktive grüne Indus-
        triepolitik, um den ökologischen Transformationspro-
        zess unserer Wirtschaft zu beschleunigen. Mit neuen
        Schulen, mit verstärkten Aufwendungen für eine energe-
        tische Sanierung, mit einer zielgerichteten Förderung
        neuer Technologien – ich erinnere nur an das Thema
        Elektromobilität –, damit schaffen wir ein nachhaltiges
        Wachstum. Mit einem höheren Ausbildungsstand junger
        Menschen, mit mehr regenerativen Energien, mit einer
        leistungsfähigeren Infrastruktur, damit stärken wir die
        Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, damit erzeugen
        wir Wachstum.
        Mit blinden Steuersenkungen bekommen Sie das
        nicht hin. Es wäre gut, wenn Sie das endlich einsehen
        würden und von Ihren unsäglichen Steuersenkungsfanta-
        sien abrücken würden.
        Hartmut Koschyk (Parlamentarischer Staatssekre-
        tär beim Bundesminister der Finanzen): Die SPD be-
        zweifelt in der vorliegenden Großen Anfrage, dass steu-
        erliche Maßnahmen ein Instrument zur Bewältigung der
        Krise sein können. Noch im vergangenen Jahr hat sie
        genau diesen Kurs mitgetragen, jetzt weiß sie nicht
        mehr, warum.
        Zur Theorie. Sie fragen uns hier nach theoretischen
        Konstrukten und nach dem Titel des Lehrbuchs, aus dem
        wir die Erkenntnisse für unser wirtschaftspolitisches
        Konzept ziehen. Kein Lehrbuch hat diese Krise vorher-
        gesagt, und in keinem Lehrbuch steht, wie man diese
        Krise überwinden kann. Gehen Sie bitte davon aus, dass
        die Berater der Bundesregierung alle wirtschaftspoliti-
        schen Theorien kennen, die auch Sie kennen, und diese
        Theorien widersprechen sich ja vielfach. Politik muss
        aber handeln, und zwar oft auf einer empirisch und theo-
        retisch unsicheren Grundlage. Die Bundesregierung ver-
        folgt dabei nicht dogmatisch ein theoretisches Kon-
        strukt. Wir haben die zueinanderpassenden Elemente
        kombiniert und so mit wichtigen Impulsen der deutschen
        Wirtschaft durch die Krise geholfen.
        Deutschland wurde durch die hohe Auslandsverflech-
        tung besonders hart von der Weltwirtschaftskrise getrof-
        fen. Nie zuvor schrumpfte in der Bundesrepublik das
        Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent in einem Jahr. Dieser
        Einbruch wäre noch größer ausgefallen, hätte die Bun-
        desregierung nicht rasch und umfangreich reagiert. Die
        Maßnahmenpakete zur Stützung der Finanzmärkte und
        der Konjunktur haben deutlich zur Stabilisierung der
        wirtschaftlichen Lage beigetragen. Für 2010 kann jetzt
        sogar wieder mit einem leicht positiven Wachstum von
        rund 1,4 Prozent gerechnet werden. Die Wende ist ge-
        glückt.
        Noch deutlicher sehen Sie den Erfolg unserer Politik,
        wenn Sie auf den Arbeitsmarkt schauen. Alle Experten
        wurden von der positiven Entwicklung überrascht.
        Geschickte Politik hat verhindert, dass die schlimmsten
        Vorhersagen eintrafen. Wir sind viel besser durch diese
        Krise hindurchmarschiert als die meisten anderen euro-
        päischen Länder. In der Medizin gilt: „Wer heilt, hat
        recht.“ Wenn ich diesen Maßstab an unsere Politik an-
        lege, kann ich nur sagen: Wir haben das Richtige getan.
        Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Wachs-
        tumsbeschleunigungsgesetz wird von Ihnen immer wie-
        der auf den abgesenkten Mehrwertsteuersatz für Über-
        nachtungen reduziert. Dies ist aber nur eine – und noch
        nicht einmal die wichtigste – der Maßnahmen, die das
        Gesetz ausmachen. Fiskalisch wesentlich bedeutsamer
        sind beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes und
        die Erhöhung der Kinderfreibeträge. Die spürbare Kin-
        dergelderhöhung nützt vor allem Familien mit kleinen
        und mittleren Einkommen. Sie können diese Entlastung
        für den Konsum nutzen und so zur Stärkung der Binnen-
        nachfrage beitragen.
        Aber auch für die Unternehmen wurden steuerliche
        Entlastungen sowie gezielte Korrekturen umgesetzt, die
        die Anpassung an die krisenbedingten Folgen erleich-
        tern. Diese Korrekturen zugunsten von Unternehmen
        waren wichtig, und sie haben geholfen, die Krise leichter
        zu überwinden, weil sie schnell kamen. Das Wachstums-
        beschleunigungsgesetz hat damit nicht nur eine Nachfra-
        gebelebung erzeugt; verbesserte Investitionsbedingun-
        gen stärken auch die Wachstumsgrundlagen auf Dauer.
        Zur Doppelstrategie. Die Krise hat deutliche Spuren
        in den Haushalten aller Gebietskörperschaften hinterlas-
        sen. Wir müssen deshalb schnell auf einen Konsolidie-
        rungspfad zurückkehren. Die grundgesetzlich verankerte
        Schuldenbremse erfordert in den nächsten Jahren erheb-
        liche Konsolidierungsanstrengungen im Bundeshaus-
        halt. Eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte
        wird aber ohne Wachstum nicht gelingen.
        Die Bundesregierung setzt deshalb auf eine Doppel-
        strategie: Wir stärken die Wachstumskräfte durch steuer-
        liche Entlastungen und halten uns an eine klare, regelge-
        bundene Konsolidierungsstrategie. So haben wir unsere
        Arbeit auch begonnen. Für alle Maßnahmen des Koali-
        tionsvertrages gilt deshalb ein Finanzierungsvorbehalt.
        Den Bogen zwischen Wachstumsanreizen und Konsoli-
        dierung zu schlagen, ist die große finanzpolitische He-
        rausforderung dieser Legislaturperiode, und diese Auf-
        gabe kann diese Bundesregierung besser bewältigen als
        jede andere.
        Wir bekennen uns zu soliden öffentlichen Finanzen,
        auch weil sie notwendige Voraussetzungen für dauerhaft
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3963
        (A) (C)
        (D)(B)
        günstige Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen
        sind. Umgekehrt gilt ebenso: Wirtschaftswachstum und
        ein Anstieg der Beschäftigung schaffen die besten Vo-
        raussetzungen für tragfähige öffentliche Finanzen.
        Wachstum und Konsolidierung gehen Hand in Hand.
        Wer hier einen grundsätzlichen Widerspruch sieht, zeigt
        nur, dass er selbst mit der gestellten Aufgabe überfordert
        wäre.
        Diese Bundesregierung wird beides leisten: Wir wer-
        den die Bürger entlasten, und wir werden die öffentli-
        chen Haushalte konsolidieren.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungs-
        gesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009
        des Europäischen Parlaments und des Rates
        vom 16. September 2009 über Ratingagenturen
        (Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung)
        (Tagesordnungspunkt 12)
        Peter Aumer (CDU/CSU): Es besteht ein breiter
        Konsens darüber, dass die weltweiten Finanzmärkte neu
        geordnet und reguliert werden müssen. Ein ganz ent-
        scheidender Bestandteil ist dabei die internationale Kon-
        trolle der Ratingagenturen.
        Den Ratingagenturen wird in der Finanzmarktkrise
        ein folgenreiches Versagen zum Vorwurf gemacht, da sie
        die schlechte Marktlage in ihren Ratings nicht früh ge-
        nug zum Ausdruck gebracht haben. Bei Zuspitzung der
        Krise hätten die Ratings angepasst werden müssen, was
        nicht oder nicht rechtzeitig erfolgt ist. So wurde ein Sys-
        tem vermeintlicher Sicherheit geschaffen, das es zukünf-
        tig auszuschließen gilt. Mit der im Jahr 2009 auf den
        Weg gebrachten EU-Verordnung haben wir in Europa
        nun die Möglichkeit, einen ersten wichtigen Schritt in
        die richtige Richtung zu gehen.
        Uns allen muss natürlich bewusst sein, dass diese Ver-
        ordnung nicht alle Schwachstellen der Finanzmärkte be-
        heben kann – es gibt kein Allheilmittel im Umgang mit
        der Finanzkrise. Ein solches Ziel wäre mit einer derarti-
        gen Verordnung auch zu hoch gegriffen und somit nicht
        realistisch; aber sie ist dennoch ein wichtiger Schritt in
        die richtige Richtung.
        Mit diesem Ausführungsgesetz können Zeichen ge-
        setzt werden, um die Vertrauenswürdigkeit und die Neu-
        tralität der Einschätzungen von Ratingagenturen zu ge-
        währleisten, um auch so das Vertrauen in die
        Finanzmärkte wieder nachhaltig zu stärken. Nur ein ge-
        meinsamer Regulierungsansatz bietet die nötigen Vo-
        raussetzungen, um unternehmerische Verantwortung und
        Verlässlichkeit unter den Ratingagenturen zu fördern
        und eben auch zu fordern und um in Zukunft mehr
        Transparenz zu schaffen. Dazu gehört es, dass die Agen-
        turen ihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transpa-
        renter gestalten. Sie müssen angewandte Methoden, his-
        torische Ausfallquoten von Ratingkategorien oder eine
        Liste ihrer größten Kunden in Zukunft regelmäßig veröf-
        fentlichen. Wir brauchen in Europa einen umfassenden
        Rechts- und Aufsichtsrahmen für die Finanzmärkte. Die
        Umsetzung der EU-Verordnung leistet einen wichtigen
        Beitrag hierfür. Ratingagenturen spielen jetzt und in Zu-
        kunft eine essenzielle Rolle in unserer Finanzwelt. Wir
        sind angewiesen auf die Einschätzungen von Experten.
        Gerade aufgrund der besonderen sich daraus ergebenden
        Verantwortung und des wichtigen Stellenwerts von Ra-
        tings muss man diese mit der notwendigen Sensibilität
        behandeln und einzelne Urteile kritisch hinterfragen. In-
        teressenkonflikte bei der Bewertung, offensichtliche
        Verstöße gegen das Gebot der Trennung von Beratung
        und Bewertung hinterlassen Zweifel an der Qualität der
        Ratings. Eine stufenweise Abkehr von der bedingungs-
        losen Akzeptanz dieser Ratings ist unabdingbar, und des-
        halb ist es auch notwendig, dass Marktteilnehmer parallel
        eigene Risikobewertungen vornehmen müssen.
        Mithilfe dieser EU-Verordnung werden Ratingagen-
        turen mit einem klar definierten Bußgeldkatalog zu mehr
        Disziplin gezwungen und über ihre Verantwortung be-
        lehrt. Auch wenn dieser Katalog von verschiedenen Sei-
        ten als zu mild eingestuft wird, so beinhaltet er aus mei-
        ner Sicht ein klares Signal: Wir sind überzeugt und fest
        entschlossen, Verstößen entschieden entgegenzuwirken.
        Gerade weil sich der Markt der Ratingagenturen durch
        einen stark eingeschränkten Wettbewerb charakterisie-
        ren lässt, bedarf es einer effizienten, zielgerichteten Re-
        gulierung der Ratingagenturen, und gerade deswegen
        bedarf es einer Aufsicht.
        Grundlegende Voraussetzungen werden durch das
        heute zur Abstimmung stehende Ausführungsgesetz ge-
        schaffen. Mit der BaFin haben wir eine zentrale und neu-
        trale Aufsichtsbehörde, die die Ratingagenturen im
        Blick behält und Verstöße frühzeitig erkennen muss.
        Dies ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Rich-
        tung.
        Das Aufbrechen des Oligopols der Ratingagenturen
        erscheint mir langfristig besonders wichtig. Es muss eine
        nichtstaatliche europäische Ratingagentur geben, die
        dem Oligopol der bestehenden Ratingagenturen ange-
        messen begegnet. Es ist sehr bedenklich, dass die Kredit-
        würdigkeit europäischer Staaten allein vom Urteil dreier
        Ratingagenturen mit Sitz in New York abhängig ist. Ne-
        ben dem Vorteil der räumlichen Nähe zu den bewerteten
        Firmen und Staaten könnten mit einer eigenen europäi-
        schen Ratingagentur transparente Strukturen geschaffen
        und mehr Unabhängigkeit sichergestellt werden.
        Für ein funktionierendes und stabiles Finanzsystem,
        das nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Bedürf-
        nissen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und
        Europas gerecht wird, brauchen wir einen international
        orientierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen. Die
        Umsetzung der vorliegenden EU-Rating-Verordnung ist
        ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur Umsetzung
        eines solchen Systems.
        Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Das Europäische
        Parlament und der Rat haben im Herbst 2009 die soge-
        nannte EU-Ratingverordnung verabschiedet. In dieser
        Verordnung wird die Regulierung von Ratingagenturen
        3964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        geregelt. Ich denke, ich muss angesichts der vergange-
        nen zwei Jahre nicht näher erläutern, warum diese Ver-
        ordnung notwendig war.
        Die Überprüfung der Einhaltung der Regeln der Ra-
        tingverordnung obliegt zunächst den nationalen Auf-
        sichtsbehörden. Hierfür ist vom Bundestag der rechtli-
        che Rahmen zu schaffen. Darüber hinaus muss der
        Bundestag „wirksame, verhältnismäßige und abschre-
        ckende Sanktionen“ festlegen, um Verstöße gegen die
        Ratingverordnung zu ahnden. Im vorliegenden Gesetz-
        entwurf werden genau diese Punkte umgesetzt:
        Die Aufsicht über die Ratingagenturen soll der Bun-
        desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, ob-
        liegen. Die operative Durchführung der Aufsicht soll
        durch geeignete Wirtschaftsprüfungsgesellschaften er-
        folgen. Verstöße gegen die Ratingverordnung sollen mit
        Bußgeldern von 200 000 bis 1 Million Euro geahndet
        werden. Jede Ratinggesellschaft muss sich bei der BaFin
        registrieren lassen.
        Der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzge-
        bers ist bei diesem Ausführungsgesetz gering – Eile ist
        geboten –; die Mitgliedstaaten sollen bis zum 7. Juni die
        Voraussetzungen 2010 für die Überwachung der Rating-
        verordnung geschaffen haben. Der Finanzausschuss hat
        daher mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen diesem
        Gesetzesentwurf zugestimmt.
        Ob die EU-Ratingverordnung ausreicht, um die funk-
        tionalen Schwächen des gegenwärtigen Ratingsystems
        zu beseitigen, ist hier und heute nicht der Punkt. Dies
        sollten und müssen wir an anderer Stelle diskutieren.
        Heute geht es einzig und allein darum, durch die Festle-
        gung der Aufsichtsstrukturen den Einstieg in eine effi-
        ziente Regulierung von Ratingagenturen auch hier in
        Deutschland zu ermöglichen. Insofern ist es für mich un-
        verständlich, wenn sich die Oppositionsfraktionen die-
        sem nützlichen und notwendigen Gesetzentwurf verwei-
        gern, und zwar mit der Begründung, dass sie in dieser
        Vorlage gerne noch weitere Punkte wie den Anleger-
        schutz unterbringen möchten. Wir sind gerne bereit, mit
        Ihnen darüber zu diskutieren, aber nicht im Rahmen die-
        ses Gesetzgebungsverfahrens; denn jetzt ist Eile gebo-
        ten, um die Ratingagenturen endlich zu regulieren. Die
        Verbesserung des Anlegerschutzes ist im Übrigen auch
        ein Anliegen der Bundesregierung, für das sie schon ein
        Diskussionspapier herausgegeben hat. Denn wir sehen,
        dass es notwendig ist, weitere Maßnahmen zu ergreifen.
        Die fehlerhafte Arbeit von Ratingagenturen war eine we-
        sentliche Ursache für die Finanzkrise.
        Die wesentlichen Kritikpunkte an den Ratingagentu-
        ren sind – neben dem Vorwurf, Marktentwicklungen viel
        zu spät erkannt zu haben –: mangelnde Transparenz be-
        züglich der Beurteilungsmethoden und -daten, man-
        gelnde Wettbewerbsstrukturen – drei große amerikani-
        sche Agenturen haben den Markt unter sich aufgeteilt –,
        Interessenkonflikte, insbesondere zwischen Beratungs-
        und Bewertungsleistungen, mangelnde Möglichkeiten,
        Ratingagenturen bei Fehlverhalten in die Haftung zu
        nehmen.
        Vor allem die Fragen nach den Wettbewerbsstruktu-
        ren und den Interessenkonflikten sind noch nicht ausrei-
        chend beantwortet worden. Deswegen setzen sich die
        Regierungsfraktionen für eine weitere Verschärfung der
        Regulierungen sowie für die Schaffung einer unabhängi-
        gen europäischen Ratingagentur ein.
        Die Arbeit und das Verhalten der Ratingagenturen
        sind das eine. Auf der anderen Seite steht allerdings das,
        was wir aus den Ratingagenturen gemacht haben. – Aber
        der Reihe nach: Warum sind eigentlich Ratingagenturen
        gegründet worden? Es ging doch darum, dass Banker
        und Kaufleute eine zweite, eine unabhängige, eine an-
        dere Meinung haben wollten, bevor Kredite gegeben
        bzw. Anleihen und andere Finanzprodukte gekauft wur-
        den. Zwei Meinungen – eine davon von einem unabhän-
        gigen Experten, das hört sich gut an und verbessert zwei-
        felsohne das Urteil.
        Aus dieser zweiten Meinung ist aber leider allzu oft
        die einzige Meinung geworden. Urteile von Ratingagen-
        turen wurden überhöht. Auf ein eigenes Urteil wurde
        verzichtet. Wir haben dies in der ersten Finanzkrise sehr
        deutlich gesehen. Es wurden Produkte allein auf Basis
        von Ratingurteilen gekauft. Verstanden wurden sie von
        vielen Käufern wohl nicht.
        Wir haben diese Entwicklung als Gesetzgeber nicht
        gestoppt, sondern gefördert, indem wir Ratingagenturen
        zum Beispiel bei der Festlegung von Eigenmitteln von
        Kreditinstituten oder bei der Beleihbarkeit von Anleihen
        der EZB eine wichtige Rolle zugeteilt haben.
        Für mich heißt die Schlussfolgerung daraus: Banker
        und Kaufleute müssen sich wieder ihr eigenes Urteil bil-
        den. Das Urteil von Ratingagenturen darf und kann auch
        gerne als zweite Meinung danebenstehen, sollte aber
        niemals das einzige Beurteilungskriterium sein. Dies gilt
        es, über die Regulierung von Ratingagenturen hinaus
        notfalls auch gesetzlich klarzustellen.
        Die EZB hat in den letzten Tagen gezeigt, wie dies in
        der Praxis gehen kann: Die EZB hat beschlossen, das
        Länderrating für Griechenland als Kriterium für die Be-
        leihung von Staatsanleihen auszusetzen, da sie den Kon-
        solidierungsmaßnahmen in Griechenland vertraut. Sie
        hat ihr eigenes Urteil über die Kreditwürdigkeit von
        Griechenland getroffen – dabei aber die Urteile der Ra-
        tingagenturen im Blick gehabt. Die zweite Meinung
        wurde erwogen, die eigene Meinung war letztlich ent-
        scheidend.
        Zum Abschluss vielleicht noch einige Anmerkungen
        zu einer europäischen Ratingagentur. Das Projekt lohnt
        den Schweiß der Edlen, wie es so schön heißt. Es lohnt
        sich deswegen, weil ein Markt, den drei Anbieter unter
        sich aufgeteilt haben, nicht gesund ist. Eine Alternative
        wäre die wettbewerbsrechtliche Zerschlagung der beste-
        henden Agenturen, eine andere der staatlich geförderte
        Aufbau einer eigenen europäischen Agentur.
        Wir sollten von dieser Agentur aber keine Wunder-
        dinge erwarten. Auch die Urteile einer europäischen Ra-
        tingagentur basieren auf subjektiven Einschätzungen
        und mathematischen Modellen, sind also fehleranfällig.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3965
        (A) (C)
        (D)(B)
        Eine europäische Ratingagentur, die ernst genommen
        werden will, muss unabhängige und keine politischen
        Urteile fällen. Deswegen halte ich es für gefährlich, die
        prozyklische Wirkung von Ratingurteilen zu kritisieren.
        So hatten die unlängst abgestuften Länder schlechte
        Fundamentaldaten. Es wäre auch die Aufgabe einer eu-
        ropäischen Ratingagentur gewesen, dies öffentlich zu
        adressieren und das Ratingurteil gegebenenfalls anzu-
        passen, egal ob dies die Krise verschärft oder nicht. Ich
        kann in diesem Zusammenhang im Übrigen nur davor
        warnen, die EZB zu einer Ratingagentur für Länder aus-
        zubauen. Dies birgt Interessenkonflikte und gefährdet
        die Unabhängigkeit der EZB.
        Für heute kann ich nur alle Fraktionen bitten, den vor-
        liegenden Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen. Das
        wird die dringend benötigte Regulierung der Rating-
        agenturen auf den Weg bringen, sie unter Aufsicht stel-
        len und Sanktionen der Ratingagenturen bei Verstößen
        ermöglichen. Das Gesetz gibt uns nicht die abschlie-
        ßende Lösung der Ratingproblematik, ist aber ein guter
        Einstieg für weitere Maßnahmen. Es trägt dazu bei, die
        Finanzmärkte für uns alle ein wenig sicherer zu machen.
        Manfred Zöllmer (SPD): Der Fall Griechenland
        zeigt noch einmal sehr eindrücklich die Notwendigkeit
        einer Reform des Ratingagenturunwesens. Warum Unwe-
        sen? Dies lässt sich sehr gut an den aktuellen Ereignissen
        rund um Griechenland erklären: In der letzten Woche, am
        Dienstag, war ich gerade vor Ort in Griechenland, als die
        Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit
        des Landes auf Ramschniveau heruntergestuft hat. Dabei
        gab es keinen sachlich nachvollziehbaren Grund, warum
        das Griechenland-Downgrading ausgerechnet letzte Wo-
        che erfolgen musste – keinen!
        Das Rating für griechische Anleihen sank gleich um
        drei Stufen, obwohl es positive Einsparzahlen für den
        griechischen Staatshaushalt gegeben hatte, immerhin
        40 Prozent im ersten Quartal. Angeblich reichten die
        Einsparungen nicht. Und dies mitten im Prozess der Ver-
        handlungen der griechischen Regierung mit Vertreten
        des IWF und der EZB vor Ort. Das Rating wurde noch
        mit negativem Ausblick versehen, das heißt, eine weitere
        Abstufung ist für die Ratingagentur denkbar. Das, was
        die Agentur für Griechenland befürchtet hatte, wurde
        durch das Herabstufen der Bonität dann ausgelöst.
        Es geht also nicht darum, wie es eine Zeitung schrieb,
        den Überbringer einer schlechten Nachricht zu kritisieren.
        Ich kritisiere, dass die schlechte Nachricht, vor der man
        warnen wollte, erst produziert wurde. Wer garantiert uns
        eigentlich, dass dies nicht im Zusammenspiel mit be-
        stimmten Akteuren auf den Finanzmärkten erfolgte?
        Wer rechtzeitig im Besitz einer solchen Nachricht ist,
        kann daraus sehr hohen Gewinn ziehen. Die Börsen und
        der Euro haben natürlich entsprechend reagiert.
        Wenn Ratingagenturen nur nach objektiven Kriterien
        vorgehen, warum sind dann die Bewertungen der Agen-
        turen so unterschiedlich? Bei Moody’s hat Griechenland
        noch eine A-Benotung. Vielleicht geht es ja bei den Ra-
        tingagenturen nach dem Motto eines Wirtschaftswitzes,
        der da lautet: „50 Prozent der Wirtschaft sind Psycholo-
        gie – die Fakten sollten daher nicht überbewertet wer-
        den.“ Schaut man sich die Arbeit der Agenturen in der
        Vergangenheit an, dann wird man das Gefühl nicht los,
        hier hat man ein Branchenmotto gefunden.
        Auch in den USA stehen Ratingagenturen aktuell er-
        neut in der Kritik, weil sie mit ihren Einschätzungen
        weit danebenlagen. So nahm ein Bundesgericht in New
        York nun eine Klage gegen die beiden Agenturen
        Standard & Poor’s sowie Moody’s und die deutsche Mit-
        telstandsbank IKB an. Die Vorwürfe der Kläger zielen
        gegen das Kerngeschäft der Unternehmen: die Bewer-
        tung von Finanzprodukten. Im konkreten Fall steht ein
        strukturiertes Anlageprodukt im Mittelpunkt, das 2007
        von der IKB aufgelegt und von den Agenturen mit Spit-
        zennoten versehen wurde. Im August 2008 musste das
        unter dem Namen „Rheinbrücke“ vermarktete Produkt
        mit großem Verlust für die Anleger abgewickelt werden.
        Sie konnten von ihren ursprünglich investierten 1,1 Mil-
        liarden Dollar nur noch 55 Prozent retten.
        Wer so dramatisch fehlerhaft arbeitet – und dies ist
        nur ein Beispiel von vielen –, der darf nicht solchen Ein-
        fluss auf das Wirtschaftsgeschehen von Staaten haben,
        wie es am Beispiel Griechenlands exemplarisch deutlich
        wird. Dies löst doch häufig erst das Problem aus, vor dem
        sie warnen wollen. Es ist absolut prozyklisch. Ratingagen-
        turen verschärfen häufig Krisen, statt sie zu verhindern.
        Warum lassen wir es eigentlich zu, dass solche Dilettan-
        ten einen so großen Einfluss haben?
        Sehen wir uns einmal an, was durch den vorliegenden
        Gesetzentwurf der Bundesregierung geändert werden soll.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die nationale
        Umsetzung der im September 2009 in Kraft getretenen
        EU-Ratingverordnung – 1060/2009/EG – vorgenom-
        men. Mit der EU-Verordnung wollen die Mitgliedstaaten
        die Ratingagenturen als wichtige Finanzmarktakteure
        besser überwachen und vor allem mehr Transparenz
        schaffen. So müssen sich in der EU tätige Ratingagentu-
        ren ab Juni 2010 bei der Finanzaufsicht des jeweiligen
        Landes registrieren lassen und ihre Geschäfte offenlegen.
        Um registriert zu werden, haben sie international festge-
        legte Anforderungen zu erfüllen. Außerdem müssen sie in
        mindestens einem Mitgliedstaat niedergelassen sein.
        Das Ausführungsgesetz sieht die Bundesanstalt für Fi-
        nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, als Aufsichtsbehörde
        in Deutschland vor, bei der sich Agenturen registrieren
        und ihre Geschäfte offenlegen müssen. Auch Verstöße
        gegen die EU-Ratingverordnung kann die BaFin künftig
        anhand eines Bußgeldkataloges ahnden. Für die Verwen-
        dung von Ratings aus Ländern außerhalb der EU schreibt
        die Union außerdem besondere Anforderungen vor.
        Um Interessenkonflikte zu vermeiden, dürfen Rating-
        analysten zudem nicht mehr Kunden beraten und sie
        gleichzeitig bewerten. Ferner verpflichtet die Verordnung
        Ratingagenturen zur regelmäßigen Überprüfung ihrer
        Ratings und Methoden. Für strukturierte Finanzinstru-
        mente müssen die Agenturen gesonderte und klar gekenn-
        zeichnete Ratingkategorien angeben. Das sind Verbesse-
        rungen, die dringend notwendig sind.
        3966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Frage ist: Reicht das aus? Wenn wir uns die Er-
        gebnisse des Hearings einmal vor Augen führen, dann
        können wir feststellen: Dies ist ein Schritt in die richtige
        Richtung, aber auch nicht mehr. Die Bundesregierung
        macht eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben,
        nicht mehr. Wichtige Probleme bleiben damit ungelöst.
        Ratingagenturen werden auch künftig für ihre Urteile
        von den Beurteilten bezahlt. Das ist und bleibt der größte
        Fehler im System. Die Gefahr, dass Risiken falsch einge-
        schätzt werden, bleibt damit bestehen. Die vorgesehene
        Trennung von Rating und Beratung ist ein erster Schritt,
        greift aber zu kurz. Sie lässt sich zu leicht durch gesell-
        schaftsrechtliche Konstruktionen aushebeln. Rating-
        agenturen agieren wie ein Finanz-TÜV, haften aber nicht
        für das Ergebnis. Der – für andere Verstöße – vorgese-
        hene Bußgeldrahmen erfüllt das Kriterium „Peanuts“,
        vor dem Hintergrund von Milliarden Umsätze der großen
        Ratingagenturen.
        Auch die Frage: „Wie bekommen wir mehr Wettbe-
        werb in den Markt“ wird nicht angegangen. Es fehlt die
        Konkurrenz einer alternativen europäischen unabhängigen
        Agentur.
        Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erster Schritt
        zur Verbesserung von Qualität, Unabhängigkeit und
        Transparenz. Aber er ist nicht ausreichend; das zeigt die
        aktuelle Entwicklung. Die systemischen Risiken der Ra-
        tingagenturen werden nicht angegangen. Hier sind Chan-
        cen vertan worden. Wir werden uns deshalb enthalten.
        Es scheint nach den eingangs geschilderten Ereignissen
        in Bezug auf Griechenland inzwischen auch der EU-Kom-
        mission zu dämmern, dass Verbesserungen notwendig
        sind. So äußerte sich der EU-Kommissar Barnier dieser
        Tage: Wir müssen weitergehen, um die Auswirkungen der
        Ratings auf das gesamte Finanz- und Wirtschaftssystem
        zu sehen. – Recht hat er. Überschrieben war die Meldung
        mit: EU zeigt sich offen für Nachjustierung bei Rating-
        agenturen. – Vielleicht gelingt es dann ja doch noch, die
        angesprochenen Schwachpunkte zu beseitigen.
        Björn Sänger (FDP): Die Griechenlandkrise zeigt,
        dass hinsichtlich Ratingagenturen dringender Hand-
        lungsbedarf besteht. Die Zahlungsfähigkeit Griechen-
        lands wurde schon über längere Zeit in Zweifel gezogen.
        Trotzdem erhielt die Bonität des Landes Spitzenwertun-
        gen durch die drei großen Ratingagenturen. Dann wurde
        bekannt, dass die griechische Haushaltsdefizitquote ge-
        schönt war, und erst nach geraumer Zeit folgte die Ab-
        wertung. Die fiel dann aber so drastisch aus, dass die Re-
        finanzierung Griechenlands auf dem Anleihemarkt fast
        unmöglich wurde. Die Märkte sind, wie man sieht, gera-
        dezu hörig, was die „reinen Meinungsäußerungen“ – wie
        die Agenturen nicht müde werden zu betonen – betrifft,
        und verlassen sich auf die Ratings und blenden andere
        Indikatoren weitgehend aus.
        Das war den Marktteilnehmern zu einem gewissen
        Grad auch nicht vorzuwerfen, mangelte es bisher doch
        an Transparenz, und Bewertungen wurden trotz mangel-
        hafter oder fehlender Daten vorgenommen. Zudem wa-
        ren Interessenkonflikte möglich, wenn eine Agentur ei-
        nen Kunden bewertete und eben dazu auch beriet. Durch
        die EU-Ratingverordnung werden diese Probleme ange-
        gangen. Die enthaltenen Verhaltensnormen und eine ver-
        stärkte Aufsicht darüber werden dazu führen, dass die
        Agenturen ihre Rolle auf den Finanzmärkten künftig
        besser wahrnehmen werden können.
        Die Situation bezüglich Griechenlands zeigt nun
        auch, dass wir hier einer europäischen Dimension der
        Problematik gegenüberstehen, weshalb es wichtig war,
        die Thematik auf europäischer Ebene anzugehen und
        nun national umzusetzen, womit die Bundesregierung
        praktisch den Zug aus Brüssel auf die Schiene gesetzt
        hat und der Dringlichkeit entsprechend auch keine Zeit
        verloren hat. Die Bundesregierung nimmt ihre Verant-
        wortung in der Krise wahr.
        Zugegebenermaßen gibt es mit dem Zugverkehr bei
        dem Zug aus Brüssel nun aber Schwierigkeiten, wie es
        Bahnreisende tagtäglich erleben – die Sache hat Macken
        und läuft noch nicht so richtig rund. Nun ist Deutschland
        aber keine Insel, und der Zugverkehr bricht an der Küste
        ab. Nein, der Ratingmarkt muss nicht national, sondern
        europäisch optimiert werden. Probleme bereiten uns
        weiterhin die Oligopolstruktur aus im Wesentlichen drei
        privatwirtschaftlich organisierten amerikanischen Unter-
        nehmen, die erheblichen wirtschaftlichen Einfluss ha-
        ben, und der Umstand, dass der Anbieter der Finanzpro-
        dukte die Agentur bezahlt, von der er beurteilt werden
        soll, was doch wieder zu Interessenkonflikten der Agen-
        tur führen kann. Denn wer beißt schon gerne die Hand,
        die einen füttert?
        Die Bundesregierung wird, wie Bundeskanzlerin
        Merkel am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung be-
        tonte und wie es unser Koalitionsvertrag vorsieht, natür-
        lich am Ball bleiben und etwa die Prüfung der Gründung
        einer europäischen Ratingagentur als Gegenpol zum bis-
        herigen Oligopol auf dem Ratingmarkt vornehmen.
        Natürlich ist dies ein sehr kniffliges Thema, und die
        EU müsste etwas schaffen und dabei Staatsnähe vermei-
        den, um eben glaubwürdig und dem Vorwurf der Staats-
        wirtschaft nicht ausgesetzt zu sein. Eine Möglichkeit
        wäre da eine unabhängige Stiftung für Finanzprodukte,
        wobei hier die Bezahlung von Ratings zu klären wäre.
        Doch durch die Unabhängigkeit würde sich die Stiftung
        Glaubwürdigkeit bewahren.
        Für alle so oder so Beteiligten auf dem Ratingmarkt
        ist auch eine Verschärfung der Haftung anzustreben. Wie
        bereits erwähnt, sind die Ratingbewertungen Meinungs-
        äußerungen; doch darf sich damit nicht einfach aus der
        Verantwortung für Probleme gestohlen werden, die solch
        ein Rating hervorrufen kann. Für eine Meinung ist man
        nicht haftbar, aber für die korrekte Anwendung der
        durch die Ratingverordnung nun offenzulegenden Me-
        thodik sollte man es schon sein.
        Weiterhin müssen, unabhängig von einem europäi-
        schen Gegenpol zum jetzigen amerikanischen Oligopol,
        insgesamt Rahmenbedingungen für mehr Wettbewerb
        geschaffen werden, und deshalb sind bei solchen Rege-
        lungen Bedürfnisse von kleineren auf dem Markt befind-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3967
        (A) (C)
        (D)(B)
        lichen oder in den Markt strebenden Agenturen beson-
        ders im Auge zu behalten.
        All dies muss nun durch die Mitwirkung aller Fraktio-
        nen erörtert werden. Begleitet durch diese wichtige Dis-
        kussion wird die Bundesregierung auf ihrem Weg zur Si-
        cherung unserer Finanzmärkte weiter voranschreiten.
        Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Um es gleich klarzu-
        machen: Wir lehnen das Gesetz ab. In der ersten Lesung
        hatten wir hier bereits erhebliche Zweifel und Kritik an-
        gebracht. In der zwischenzeitlichen Anhörung des Fi-
        nanzausschusses wurde unsere Kritik bestätigt, und aus
        unseren Zweifeln wurde Gewissheit. Ich komme gleich
        zu den Details.
        Die EU-Ratingverordnung und das Ausführungs-
        gesetz sind im Vergleich zum bestehenden Regelungsbe-
        darf glatter Hohn. Die Bundeskanzlerin wird seit dem
        G-20-Gipfel in Washington im November 2008 nicht
        müde, zu wiederholen, Staaten dürften nicht länger von
        Akteuren auf den Finanzmärkten erpressbar sein. Die
        Krise in Griechenland zeigt, dass die Bundesregierung
        mit diesem Ziel erbärmlich gescheitert ist, weil sie nicht
        einmal den beherzten Versuch unternommen hat, mit der
        Regulierung anzufangen.
        Wir reden hier von den Ratingagenturen, also den
        Finanzmarkt-Auguren, die in allen relevanten Finanz-
        krisen der vergangenen 15 Jahre falsche Einschätzungen
        abgegeben haben. Ich frage Sie: Wie sehr und wie oft
        müssen eigentlich Institutionen versagen, bevor man zu
        der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Aufgabe nicht
        gewachsen sind?
        Mit dem Herunterstufen Griechenlands haben die Ra-
        tingagenturen massiv Öl ins Feuer gegossen und eine
        sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgesprochen,
        nämlich dass Griechenland an den Märkten keinen Kre-
        dit mehr bekommt. Aufgrund der geradezu tyrannischen
        Machtkonzentration der Ratingagenturen werden wir lei-
        der nie erfahren, ob es für Griechenland auch einen an-
        deren Weg gegeben hätte. Die Ratingagenturen haben
        Fakten geschaffen, die jetzt in Form dramatischer sozia-
        ler Belastungen auf den unteren und mittleren Einkom-
        mensgruppen in Griechenland lasten. Anschaulicher
        kann man die Diktatur der Finanzmärkte kaum in Au-
        genschein nehmen.
        Nun zu den Kritikpunkten am Gesetz. Die Bundes-
        regierung behauptet, dass das Gesetz Interessenkonflikte
        löst, weil die Ratingagenturen nicht länger in eigener Sa-
        che beraten dürften. Das ist nur sehr vordergründig rich-
        tig. Tatsächlich enthält das Gesetz Schlupflöcher so groß
        wie Scheunentore. Sobald das Beratungs- und Bewer-
        tungsgeschäft in zwei separate Gesellschaften innerhalb
        eines Ratingunternehmens aufgespalten wird, läuft das
        Gesetz komplett ins Leere. Das haben in der Anhörung
        im Übrigen auch die Sachverständigen moniert, die nicht
        von uns benannt worden waren. Wolfgang Gerke vom
        Bayerischen Finanz Zentrum hat zum Beispiel vorge-
        schlagen, man solle den Ratingagenturen die Beteiligung
        an einer Ratingberatungsgesellschaft verbieten, um die-
        ses Schlupfloch zu schließen. Die Reaktion der Koali-
        tion: Schulterzucken und Nichtstun.
        Auch bei der vermeintlichen Unterwerfung der Ra-
        tingagenturen unter eine staatliche Finanzaufsicht bleibt
        es letztlich bei Augenwischerei. Die konkreten jährli-
        chen Prüfungen werden im Auftrag der BaFin von priva-
        ten Wirtschaftsprüfern durchgeführt. Dabei wird sich
        sehr schnell dasselbe Kartell der Big Four herausbilden,
        nämlich KPMG, PricewaterhouseCoopers, Deloitte und
        Ernst & Young, die den Markt unter sich aufteilen. Und
        wie genau die hinschauen, wissen wir spätestens seit den
        Bilanzskandalen in den USA und seit den lupenreinen
        Prüfberichten für Banken wie die IKB, Lehman Brothers
        oder die HRE, die von diesen Prüfungsgesellschaften
        ausgestellt wurden.
        Der Gesetzgeber muss endlich aufhören, den Ratings
        der Agenturen in gesetzlichen Regeln, wie zum Beispiel
        im Basel-Abkommen, eine besondere Funktion und
        Glaubwürdigkeit zuzuweisen. Wir brauchen endlich eine
        öffentliche europäische Ratingagentur, die das Kartell
        von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch aufbricht und
        dem Diktat der Finanzmärkte Paroli bietet.
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Das Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung ist
        kein großer Wurf. In einem Zwischenschritt wird die
        Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit der
        Beaufsichtigung weniger neuer Verhaltensregeln für
        Ratingagenturen beauftragt, bevor die europäische Wert-
        papierbehörde diese Aufgabe ab 2011 übernimmt. Der
        gewählte Ansatz, Interessenkonflikte offenzulegen, löst
        die damit verbundenen Probleme nicht ausreichend, so-
        weit keine alternativen, möglichst unabhängigen Bewer-
        tungen und Informationen erhältlich sind.
        So sinnvoll es ist, dass Ratingagenturen keine Beratung
        mehr für Unternehmen, die zugleich bewertet werden,
        durchführen dürfen und so aussagekräftig die offenge-
        legten Methodiken, Modelle und Annahmen der Rating-
        agenturen sein mögen, kann das nicht darüber hinweg-
        täuschen, dass das Kernproblem bleibt. Ratingagenturen
        haben nach wie vor eine zu große Bedeutung am Kapi-
        talmarkt und wirken wie aktuell im Fall Griechenland
        krisenverschärfend.
        Wieder einmal haben die Ratingagenturen die Markt-
        lage nicht früh genug in ihren Bewertungen zum Aus-
        druck gebracht und ihre Bewertungen nicht rechtzeitig
        angepasst. Das plötzliche Herabsetzen einer Länder-
        bewertung gleich um mehrere Stufen wirkt wie ein Start-
        signal auf Spekulanten. Wir können gerade bei Portugal
        und Spanien wieder beobachten, wie die Gefahr eines
        Überschwappens der griechischen Schuldenkrise steigt.
        Ratingagenturen sind nicht die harmlosen Überbringer
        der Botschaft, sondern können Trends mitentwickeln.
        Ganz besonders problematisch war die Rolle der Rating-
        agenturen bei strukturierten Finanzprodukten.
        Dieses Muster müssen wir jetzt dringend durchbrechen.
        Wir meinen daher, es ist höchste Zeit für eine europäische
        öffentlich-rechtliche Ratingagentur, die ein Gegenge-
        wicht zu den drei Monopolisten am Markt bildet.
        Nun endlich muss die politische Aufgabe gelöst werden,
        die Rolle von Ratings in einem insgesamt verbesserten
        und umfassenderen Informationssystem auf ein positives
        Maß zu stutzen und mehr Vielfalt in den Markt zu bringen.
        3968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dafür sind auch Veränderungen bei der Europäischen
        Zentralbank und bei den bankenaufsichtlichen Regelun-
        gen zu beschließen. Dafür gilt es auch, die kartellähnli-
        che und missbrauchsanfällige Markt- und Machtstruktur
        der drei großen Agenturen zu brechen.
        Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hatte sich bereits
        im Juni 2008 für die Gründung einer europäischen Ra-
        tingagentur ausgesprochen. Bisher sind ihren Worten
        aber keinerlei Taten oder Initiativen gefolgt. Das Ziel in
        Koalitionsverträgen aufzuschreiben und in Sonntagsreden
        im Mund zu führen, reicht eben nicht.
        In unserem Entschließungsantrag zeigen wir auch die
        Schwächen des Ausführungsgesetzes in der Umsetzung
        des Anlegerschutzziels und der Veröffentlichungspflichten
        von Sanktionen auf. Der deutsche Gesetzgeber hat die
        bestehende Befugnis, Sanktionen zu veröffentlichen,
        nicht genutzt, um ein überfälliges Transparenzregime in
        deutschen Gesetzen zu verankern. Auch die Zielsetzung der
        EU-Ratingverordnung, dem Anleger- und Verbraucher-
        schutz Rechnung zu tragen, wurde nicht aufgegriffen.
        Wir benennen weiter die seit dem Enron-Skandal im
        Jahr 2001 bekannten, aber unbearbeiteten strukturellen De-
        fizite: fehlender Wettbewerb, die ungeeignete Finanzie-
        rungsbasis für Bewertungen und die zu große Abhängigkeit
        der Banken von Ratings schon bei Standardprüfungen.
        Und schließlich fordern wir, verpflichtende und um-
        fassendere Offenlegungs- und Informationsvorschriften
        für relevante Kapitalmarktinformationen gesetzlich zu
        regeln. Dies liegt im öffentlichen Interesse und schafft
        die Voraussetzungen, dass Aufsicht, Anleger, Analysten
        und Investoren sich eine fundierte Meinung zur Güte der
        Ratings und den zugrundeliegenden Aktiva, Instituten
        und Ländern bilden können.
        Vor allem im Verbriefungsmarkt bleiben die Offenle-
        gungspraktiken in Verkaufsprospekten und Investoren-
        mitteilungen hinter denen auf dem Markt der Unterneh-
        mensschuldverschreibungen zurück. Als gemeinsamer
        Ansatz sollten relevante Informationen präzise gesetzlich
        bestimmt und obligatorisch, fortlaufend und breit offen-
        gelegt werden sowie von unabhängigen Dritten verifiziert
        werden. Im Vorfeld sind notwendige Definitionen und
        Ermittlungsmethoden europäisch zu vereinheitlichen.
        Die Finanzmärkte benötigen nicht nur eine Detailkor-
        rektur, sondern einen grundlegenden Wandel von Ziel-
        setzung, Strukturen und Akteuren.
        Es ist entscheidend, dass wir jetzt zu grundlegenden
        Veränderungen kommen. Bei den Ratingagenturen bleibt
        dabei noch viel zu tun.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
        Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
        trägen:
        – Mehr Chancengleichheit für Jugendliche –
        Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom-
        men anrechnen
        – Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das
        Arbeitslosengeld II
        (Tagesordnungspunkt 17)
        Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Bislang hat
        das SGB II zwischen dem Einkommen eines Arbeit-
        suchenden und dem Einkommen eines Schülers aus ei-
        nem Ferienjob keinen Unterschied gemacht. Dies wurde
        in den letzten Wochen und Monaten zu Recht von allen
        im Bundestag vertretenen Fraktionen kritisiert und eine
        entsprechende Korrektur angemahnt.
        Da es bis zu den Sommerferien auch nicht mehr weit
        ist und viele Schülerinnen und Schüler schon jetzt Pläne
        schmieden, wie sie sich in dieser Zeit etwas Taschengeld
        verdienen können, freue ich mich, dass wir jetzt eine
        Lösung gefunden haben, die nicht nur zweckmäßig, son-
        dern auch unbürokratisch ist: Ab dem 1. Juni 2010 kön-
        nen Einkommen aus Ferientätigkeiten bis zu einer
        Grenze von 1 200 Euro pro Jahr gänzlich freigestellt
        werden. Diese neue Regelung wird auf dem Wege einer
        Verordnung erlassen, das heißt, wir gehen den schnellen
        und direkten Weg.
        Durch die Festsetzung eines Grenzbetrages, bis zu
        dem Einkommen anrechnungsfrei bleiben kann, haben
        wir zudem klargestellt, dass wir nach wie vor der An-
        sicht sind, dass Ferien vorrangig der Erholung dienen
        sollen. Eine komplette Freistellung – wie von den Lin-
        ken gefordert – ist abzulehnen; denn damit würde dem
        schlichten „Knetemachen“ höchste Priorität eingeräumt.
        Das wäre ein falsches Signal an die jungen Menschen.
        Auf der anderen Seite wurde aber der Freibetrag so
        hoch angesetzt, dass Leistungsbereitschaft und Fleiß der
        jungen Menschen nicht im Keim erstickt, sondern auch
        belohnt werden. So ermöglicht die Neuregelung bei-
        spielsweise den Schülerinnen und Schülern, bei einem
        Stundenlohn von 10 Euro 30 Stunden in der Woche zu
        arbeiten, und zwar in einem Zeitraum von vier Wochen.
        Ich denke, dass hiermit ein guter Kompromiss gefunden
        wurde; denn er berücksichtigt den Aspekt der Erholung
        wie auch den Aspekt des Leistungsanreizes in einem
        verantwortbaren und ausgewogenen Maße.
        Die Neuregelung bei den Ferienjobs kann aber nur ein
        kleiner Baustein zur Förderung der jungen Menschen im
        SGB II sein. Solange es noch immer junge Menschen
        gibt, die als Berufsziel „Hartz IV“ angeben, solange die
        Quoten derjenigen, die ohne Abschluss die Schule ver-
        lassen, in einigen Bundesländern noch immer im zwei-
        stelligen Bereich liegen, solange immer wieder Mel-
        dungen durch die Presse gehen, dass vorhandene
        Ausbildungsplätze aufgrund mangelnder Ausbildungs-
        reife der Bewerberinnen und Bewerber nicht besetzt
        werden konnten, können und dürfen wir die Hände nicht
        in den Schoß legen. Gefragt sind alle gesellschaftlichen
        Kräfte, aber natürlich in erster Linie auch die Politik.
        Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung
        jetzt einen wichtigen Schritt in dieser Richtung unter-
        nommen hat: Am 21. April wurde eine stärkere Förde-
        rung für Jugendliche im SGB II vereinbart mit dem Ziel,
        jedem erwerbsfähigen Jugendlichen innerhalb von sechs
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3969
        (A) (C)
        (D)(B)
        Wochen einen Ausbildungsplatz oder eine qualifizierte
        Beschäftigung anzubieten.
        Paul Lehrieder (CDU/CSU): In Teilen ihrer Begrün-
        dung haben Linke und SPD mit ihren Anträgen recht.
        Mit allen Fraktionen dieses Hauses bin auch ich der Mei-
        nung: Eigeninitiative von Schülern darf nicht blockiert
        werden.
        Der Ferienjob ist in der Regel der erste Kontakt mit
        der Arbeitswelt. Im Idealfall führt er später zum ersten
        Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, eigene Fähigkeiten
        realistisch einzuschätzen, und geben Selbstbewusstsein
        für die Bewerbungsphase. Nicht zuletzt machen Ferien-
        beschäftigungen Jugendlichen Mut, deren Eltern auf
        Hartz IV angewiesen sind und die eigenes Erwerbsein-
        kommen aus ihrem familiären Umfeld nicht oder zu wenig
        kennen. Sie können Perspektivlosigkeit und Resignation
        vorbeugen helfen.
        Niemand kann wollen, dass die SGB-II-Gesetzgebung
        einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt
        entwickelt. Das SGB II hat sich als lernendes System
        bewährt – auch mit Blick auf die gegenwärtige Wirt-
        schaftskrise. Was gesetzlich geregelt ist, muss aber nicht
        sakrosankt sein.
        Deshalb war auch der Aspekt der Ferienjobs in die
        Generalüberprüfung des SGB II miteinbezogen. Im
        Sinne einer umfassenden Regelung ist die Bundesregie-
        rung längst tätig geworden – gründlicher, als Linke und
        SPD es hier vorschlagen. Die christlich-liberale Koalition
        hat jetzt ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, in
        das auch der Aspekt der Ferienjobs eingebunden ist. Die
        Koalitionsfraktionen haben entschieden, Ferienjobs bei
        Kindern von Hartz-IV-Empfängern bis zu 1 200 Euro
        künftig nicht mehr auf die Bezüge der Eltern anzurechnen.
        Das gilt für Jobs von längstens vier Wochen je Kalender-
        jahr. Diesen Betrag pauschal für das ganze Jahr anzuset-
        zen, war die richtige Entscheidung.
        Rechtzeitig vor den Sommerferien geben wir damit
        allen Jugendlichen das Signal: Es lohnt sich, aktiv zu
        werden und sich selbst etwas dazuzuverdienen. Schul-
        pflichtige Kinder hilfebedürftiger Eltern werden damit
        weitgehend anderen Schülern gleichgestellt, deren Eltern
        nicht hilfebedürftig sind. Mit ihrer Ferienarbeit können
        sie sich eigene Wünsche erfüllen. Der Führerschein oder
        das Moped aus eigener Tasche, das ist damit auch für Ju-
        gendliche aus Hartz-IV-Haushalten möglich.
        In der Ausschusssitzung vom 24. Februar 2010 hatten
        die Kollegen von den Grünen eine pragmatische Lösung
        in der Sache „Anrechnung von Ferienjobs“ gefordert.
        Liebe Kollegen von den Grünen, das brauchen Sie nicht
        von uns zu fordern. Pragmatisch im Sinne des Gemein-
        wohls sind wir immer. Vernünftigen und sinnvollen An-
        liegen verweigern wir uns nicht. ln der Plenardebatte am
        28. Januar 2010 zum selben Thema hat mich der Kollege
        Markus Kurth von den Grünen direkt angesprochen. Ich
        zitiere: „Haben Sie nicht vor zwei Monaten den Ein-
        druck erweckt, eine Lösung des Problems stünde unmit-
        telbar bevor?“ Herr Birkwald von den Linken hatte in der-
        selben Sitzung von der Bundesregierung gefordert:
        „Legen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf
        vor!“
        Bei uns geht Gründlichkeit vor. Die Ferienjobs sind
        ein Teil der großen SGB-II-Reform. Dazu hatte ich in
        meiner Rede vom 26. November 2009 schon ausgeführt:
        „Wir haben bis Mitte des Jahres eine Lösung bei den
        Hinzuverdienstgrenzen – nicht mehr und nicht weniger“.
        Nur im Kontext mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten
        sind die Ferienjobs zu sehen.
        Sie haben von uns Pragmatismus und Schnelligkeit
        gefordert – dann seien auch Sie pragmatisch. Springen
        Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie unserem Maß-
        nahmenpaket zu, wenn es im Plenum behandelt wird.
        Dieses Maßnahmenpaket begleitet die Ferienjobregelung
        der Bundesregierung und umfasst auch das Beschäfti-
        gungschancengesetz. Damit Ihnen die Zustimmung später
        leichter fällt, möchte ich es den Kollegen von der Opposi-
        tion kurz noch einmal vorstellen: Neben der Ferienjob-
        regelung, die als Rechtsverordnung erlassen wird, sieht
        es unter anderem vor: die Verlängerung der Sonderregelun-
        gen zur Erstattung der Sozialbeiträge für das Kurzarbei-
        tergeld um 15 Monate bis Ende März 2012, die Verlän-
        gerung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten für
        ältere Beschäftigte und Berufseinsteiger, die Fortführung
        der Möglichkeit für arbeitslose Existenzgründer und
        Auslandsbeschäftigte, sich freiwillig in der Arbeitslo-
        senversicherung abzusichern, die Verbesserung der Ar-
        beitsmarktchancen für junge Menschen, Alleinerzie-
        hende und ältere Arbeitsuchende sowie die Verbesserung
        der Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung
        für Arbeitsuchende, um stärkere Anreize zur Aufnahme
        einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu
        geben.
        Das neue Maßnahmenpaket ist damit ein weiteres In-
        strument, um der Wirtschafts- und Finanzkrise ent-
        schlossen entgegenzutreten. Unser Ziel ist es, aus der
        Krise heraus neue Brücken zu mehr Beschäftigung zu
        bauen und gezielt die zu unterstützen, die es auf dem Ar-
        beitsmarkt besonders schwerhaben. Um ihnen helfen zu
        können, bevorzugen wir Lösungsmechanismen, die si-
        cherlich wichtige Einzelaspekte wie die Ferienjobs nicht
        isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachten.
        Katja Mast (SPD): Es ist schon erstaunlich, was un-
        ser Antrag zu den Ferienjobs in den vergangenen Wo-
        chen ins Rollen gebracht hat. Was haben Sie, Kollegin-
        nen und Kollegen von Schwarz-Gelb, nicht alles für
        Gründe vorgebracht, warum Sie unserem Antrag nicht
        zustimmen können! Was wollten Sie nicht alles im Zuge
        dieser Debatte in Kommissionen beraten!
        Und währenddessen? Ist wieder Monat um Monat
        verstrichen, und wieder wussten die Jugendlichen aus
        Familien, die von Arbeitslosengeld II leben, nicht, ob ihr
        Lohn vom Ferienjob angerechnet wird oder nicht. Auch
        konnten Sie keine Antwort auf die Frage vieler Jugendli-
        cher aus Arbeitslosengeld-II-Familien geben, ob ihr ers-
        ter Kontakt mit der Berufswelt weniger wert ist als die
        Berufserfahrung von Jugendlichen, deren Eltern nicht
        auf Sozialleistungen des Staates angewiesen sind.
        3970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Und dann haben Sie die Jugendlichen immer wieder
        öffentlich verunsichert. Erst wurde in der Sendung Hart
        aber fair gesagt, das müsse man regeln, dann kam ein
        striktes Nein zu jeglicher Regelung. Anschließend prä-
        sentierten Sie einen Vorschlag, der vorsah, die Hinzuver-
        dienstgrenze im Jahr auf 2 000 Euro zu erhöhen, gleich-
        zeitig aber die 100 Euro Freibetrag pro Monat
        abzuschaffen. Im April schließlich waren die Ferienjobs
        plötzlich wieder Teil Ihrer Sozialstaatsdebatte, die Teil-
        habe verhindert und keine Perspektiven schafft.
        Ich sage Ihnen von Schwarz-Gelb: Das war wahrlich
        keine sozialpolitische Glanzleistung. Das war Abwarten
        und Aussitzen. Sie haben die berechtigten Anliegen der
        Jugendlichen nicht ernst genommen. Da kann die zu-
        ständige Ministerin noch so viel versprechen, was sie für
        junge Erwachsene ändern will. Im Detail lösen sich
        diese Versprechen schnell in Luft auf. Ohne die SPD-
        Bundestagsfraktion hätten Sie, Frau von der Leyen, sich
        nicht bewegt. Ohne unseren konkreten Vorschlag hätte
        Schwarz-Gelb keine Idee gehabt, wie durch den Ferien-
        job der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Jugendli-
        chen gleich wird.
        Der Entwurf für die entsprechende Verordnung zur
        Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II
        liegt jetzt vor. 1 200 Euro sind für Jugendliche bis
        25 Jahre zukünftig zusätzlich anrechnungsfrei. Das ist
        gut und längst überfällig. Die Bundesregierung nennt als
        Beispiel einen vierwöchigen Ferienjob à 30 Stunden mit
        einem Stundenlohn von 10 Euro. Das von der Bundesre-
        gierung gewählte Beispiel zeigt: Schwarz-Gelb ist im-
        mer noch weit weg von der Realität der Jugendlichen.
        Wer in den Sommerferien bei einem Mittelständler, bei-
        spielsweise in Baden-Württemberg, mit anpackt, der ar-
        beitet in der Regel 40 Stunden. Der Jugendliche kommt
        so schnell über die Freigrenze, die jetzt in die Verord-
        nung geschrieben wird. Dieser bittere Beigeschmack
        bleibt.
        Unser Vorschlag, dem Sie heute zustimmen können,
        geht weiter. Vier Wochen Ferienjob bei angemessener
        Bezahlung anrechnungsfrei zu gestalten, das ist unsere
        Vorstellung vom fairen Umgang mit der ersten Berufs-
        orientierung. Heute können Sie dem zustimmen.
        Die Debatte um die Ferienjobs zeigt auch: Die Bun-
        desregierung hat keine Antwort darauf, wie sie Jugendli-
        chen echte Brücken in den Arbeitsmarkt bauen will, da-
        rauf, wie wir es schaffen, den jungen Menschen, die sich
        derzeit in Warteschleifen befinden, ein faires Angebot zu
        unterbreiten. Wir Sozialdemokraten wollen mehr als das
        Gefühl, gebraucht zu werden.
        Die Zahlen können einen nicht kaltlassen: Die Bun-
        desagentur für Arbeit hat 2009 alleine 12 200 Neuzu-
        gänge in Warteschleifen gezählt. Rund 1,5 Millionen
        junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben gar
        keinen Berufsabschluss. Wir nehmen diese Zahlen und
        vor allem jedes einzelne Gesicht dahinter sehr ernst. Nur
        so schaffen wir echte Chancen für einen Einstieg in den
        beruflichen Aufstieg. Nur so ist Teilhabe am sozialen
        und gesellschaftlichen Leben möglich.
        Dafür brauchen wir – und das ist unser Verständnis –
        Rechtsansprüche statt Lippenbekenntnisse in Form
        neuer Eckpunkte. Die SPD fordert einen Rechtsanspruch
        auf Ausbildung, und zwar für alle, die innerhalb der ers-
        ten drei Jahre nach der Schule keinen Ausbildungsplatz
        finden. Die Bundesregierung sieht hier keinen Hand-
        lungsbedarf. Die Bundesregierung sagt nüchtern: Dies
        ist derzeit nicht Gegenstand politischer Planungen. –
        Aber wie wollen Sie denn die Ausbildungsmisere behe-
        ben? Es geht um unsere Zukunft, um unsere Jugend.
        Ein zweiter Punkt ist in diesem Zusammenhang wich-
        tig: Wer junge Menschen in Arbeit bringen will, der
        muss auch dafür sorgen, dass genügend arbeitsmarkt-
        politische Instrumente zur Verfügung stehen, um Ju-
        gendlichen eine Chance zu geben, gerade auch den Ju-
        gendlichen, die es ein wenig schwerer als andere haben.
        Immer noch sind über 40 Prozent der Ausbildungsplatz-
        suchenden sogenannte Altbewerber. Sie haben sich be-
        reits mindestens ein Jahr lang um einen Ausbildungs-
        platz bemüht und keinen gefunden. Viele von ihnen
        geben nach jahrelanger, vergeblicher Suche auf.
        Um diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, haben
        wir, unter Federführung unseres damaligen Bundesar-
        beitsministers Olaf Scholz, den Ausbildungsbonus ein-
        geführt. Dieser Bonus ist bis zum 31. Dezember dieses
        Jahres befristet. Sie wollen ihn klammheimlich auslau-
        fen lassen, obwohl der Bedarf nach wie vor da ist. Ich
        fordere Sie, Frau von der Leyen, auf: Schaffen Sie auch
        hier endlich Klarheit und lassen Sie die Jugendlichen mit
        besonderen Problemen nicht im Regen stehen.
        Es ist gut, dass jeder Jugendliche unabhängig von sei-
        nem Elternhaus ab Sommer bessere Anreize zur Berufs-
        orientierung durch einen Ferienjob hat. Aber was Sie
        von Schwarz-Gelb am selben Tag mit Ihren Eckpunkten
        zu sogenannten besseren Arbeitsmarktchancen für Ju-
        gendliche vorgelegt haben, überzeugt nicht. Auch an
        dieser Stelle werden wir von der SPD-Bundestagsfrak-
        tion den Stein ins Rollen bringen müssen – wir wollen
        ein Recht auf Ausbildung statt Lippenbekenntnissen.
        Pascal Kober (FDP): Dass wir hier heute die An-
        träge der SPD und der Linken zum Thema „Anrechnung
        von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II“ beraten, ver-
        wundert doch ein wenig. Warum sie sie nicht von der Ta-
        gesordnung haben absetzen lassen, ist mir ein Rätsel.
        Denn das Bundeskabinett hat am 21. April dieses Jahres
        durch die Dritte Verordnung zur Änderung der
        Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung die Unge-
        rechtigkeit, die wir bisher hatten, aufgehoben. Die Unge-
        rechtigkeit bestand darin, dass Kinder aus ALG-II-Be-
        darfsgemeinschaften von dem, was sie in Ferienjobs
        verdienen, nur einen Bruchteil behalten dürfen. Das
        führte dazu, dass von zwei Kindern, die die gleiche Ar-
        beit in den Ferien machen und dabei 1 000 Euro verdie-
        nen, eines 1 000 Euro behalten darf und das andere, das
        mit seiner Familie unverschuldet in einer Bedarfsge-
        meinschaft lebt, nur 260 Euro. Diesen Zustand hat die
        Bundesregierung nun verändert. Damit sind die Anträge
        von SPD und Linken gegenstandslos.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3971
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit
        und Soziales tritt am 1. Juni 2010 in Kraft und damit
        noch vor dem Beginn der ersten Sommerferien in Bre-
        men, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am
        24. Juni dieses Jahres. Damit hat die christlich-liberale
        Koalition wieder einmal bewiesen, dass sie die Pro-
        bleme, die Rot-Grün im Bereich der Grundsicherung für
        Arbeitsuchende hinterlassen hat, entschieden anpackt
        und im Sinne der Menschen löst. Deshalb ist es gut, dass
        nach der Verordnung das Einkommen aus einer Tätigkeit
        von Schülerinnen und Schülern allgemein- oder berufs-
        bildender Schulen, die das 25. Lebensjahr noch nicht
        vollendet haben und die in den Schulferien für höchstens
        vier Wochen je Kalenderjahr ausgeübt wird, bis zu
        1 200 Euro pro Jahr anrechnungsfrei wird.
        Mit der neuen Regelung durch die Verordnung sehen
        wir ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellun-
        gen verwirklicht. Sie wird gerne zusammengefasst unter
        dem Motto „Leistung muss sich lohnen“. Dies gilt nun
        endlich auch für die Schülerinnen und Schüler aus Be-
        darfsgemeinschaften, die einer Ferientätigkeit nachge-
        hen.
        Maßgeblich sind für uns Liberale die Erfahrungen,
        die Jugendliche bei der Aufnahme einer solchen Tätig-
        keit machen können. Es geht dabei um erste Erfahrungen
        des Gelingens, die Entwicklung von Selbstbewusstsein
        und das Erlernen von Vertrauen in die eigenen Fähigkei-
        ten. Viel zu oft hören wir von Familien im Bezug von
        Arbeitslosengeld II, deren Kinder als Berufswunsch
        „Hartz IV“ nennen. Dies ist für uns ein alarmierendes Si-
        gnal, dem wir entgegentreten müssen. Dadurch, dass wir
        die Anrechnung der Ferienjobs jetzt gerechter gestalten,
        gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige
        Richtung. Nicht zu vergessen ist, dass der Ferienjob
        auch oft der erste Kontakt zur Arbeitswelt ist. Diese Er-
        fahrung ist nicht zu vernachlässigen.
        Ziel der Verordnung, die das Kabinett beschlossen
        hat, ist es, für junge Menschen gezielte Anreize zur Auf-
        nahme von Ferienjobs zu schaffen. Es werden Schülerin-
        nen und Schüler hilfebedürftiger Eltern denjenigen
        gleichgestellt, deren Eltern nicht hilfebedürftig sind: Sie
        können die Einnahmen aus ihrer Arbeit weitgehend für
        eigene Wünsche verwenden. Viele von uns kennen aus
        eigener Erfahrung oder aus dem familiären Umfeld,
        welch tolles und wichtiges Erlebnis es ist, vom ersten
        selbstverdienten Geld etwas zu kaufen. Dies prägt einen
        jungen Menschen. Es prägt sein Verhältnis zur Markt-
        wirtschaft, und zwar nachhaltig und positiv.
        Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von SPD und
        Linke, haben in der Vergangenheit Lösungen eingefor-
        dert. Wir hatten Ihnen gesagt, dass wir dies sorgfältig
        prüfen und regeln würden. Dies haben wir nun getan und
        das Problem gelöst. Gerade Sie, liebe Kolleginnen und
        Kollegen der SPD, hatten in den vergangenen Jahren die
        Chance zur Änderung des Problems. Dies haben Sie
        nicht getan, obwohl Sie den Arbeitsminister gestellt ha-
        ben.
        Wir haben nun gehandelt und gezeigt, dass sich die
        christlich-liberale Koalition um die Belange der Men-
        schen kümmert. Ihre Anträge haben sich damit durch un-
        ser Handeln erübrigt. Deswegen lehnen wir sie ab.
        Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Hinhalten,
        rausschieben und feist für sich vereinnahmen – das ist
        die Gangart der schwarz-gelben Bundesregierung, der
        sich die SPD angeschlossen hat. Aber wir wollen nicht
        nachtragend sein: Halten Sie ihr Fähnchen ruhig in den
        Wind – wir sorgen für den Sturm!
        Links wirkt! Allein der Beharrlichkeit seitens der Lin-
        ken ist es zu verdanken, dass die Hartz-IV-Parteien nun
        reagieren und endlich das Ferienjobärgernis anpacken.
        Das hat viel zu lang gedauert!
        Im August 2008 haben wir von der Großen Koalition
        aus SPD und den Unionsparteien im Rahmen einer Klei-
        nen Anfrage wissen wollen, ob sie bereit wären, Ein-
        kommen aus Ferienjobs nicht auf Hartz IV anzurechnen.
        Was taten SPD und CDU/CSU? Sie leugneten das Pro-
        blem und taten nichts. Stattdessen heuchelten Volker
        Kauder und Klaus Wowereit im August 2009 in der Sen-
        dung Hart aber fair Betroffenheit. Unseren Antrag, end-
        lich zu handeln und Schluss zu machen mit der Anrech-
        nung der Ferienjobs auf Hartz IV, lehnte die Große
        Koalition schlicht ab – und die FDP konnte sich gerade
        mal dazu durchringen, sich zu enthalten. Nach der Bun-
        destagswahl haben wir das Thema wieder aufgegriffen
        und erneut in den Bundestag getragen. Und was ist pas-
        siert? Die Unionsparteien und die FDP haben den Antrag
        abgelehnt, und die SPD hat sich nur enthalten. Das ist
        angesichts des Problems nichts anderes als Parteipolitik
        auf dem Rücken von Jugendlichen aus armen Familien,
        und das ist nicht akzeptabel.
        Jetzt endlich will die Bundesregierung auf dem Wege
        einer Verordnung Einkommen aus Ferienjobs teilweise
        freistellen. Damit hat sich der Antrag der SPD erledigt.
        Aber damit hat sich der Antrag der Linken noch nicht
        erledigt.
        Zwei Ziele müssen wir mit einer Ferienjobregelung
        für Jugendliche erreichen, deren Familien von Hartz IV
        betroffen sind: Wir wollen Schutz und Motivation. Wir
        wollen die Jugendlichen nicht entmutigen, sondern er-
        muntern, ihr eigenes Geld zu verdienen. Wir brauchen
        einen Sozialstaat, der es den Einzelnen ermöglicht, ei-
        gene Entscheidungen zu treffen. Denn nur wer tatsäch-
        lich etwas zu entscheiden hat, kann Verantwortung über-
        nehmen. Im System Hartz IV gibt es für die Betroffenen
        nichts zu entscheiden – weder für die Eltern noch für die
        Kinder. Hier setzen wir an. Denn wir Linken wissen
        – und weisen immer wieder darauf hin –, dass Motiva-
        tion das eine, Schutz aber gerade bei Kindern und Ju-
        gendlichen das andere Ziel sein muss.
        Deswegen ist uns sehr wichtig, nicht über das Ziel hi-
        nauszuschießen und die Balance zu halten. Der Jugend-
        schutz muss eingehalten werden; denn eine reguläre
        Schulbildung ist wichtiger als der schnell und früh
        verdiente Euro. Deswegen ist es richtig, die Verdienst-
        möglichkeiten von Schülerinnen und Schülern strikt
        nach Alter der Schülerinnen und Schüler und Dauer des
        Jobs zu begrenzen. Ja, wir wollen den Arbeitsmarkt
        3972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        regulieren – aber selbstverständlich nur mit Sinn und
        Verstand. Vier Wochen im Jahr, wie es das Jugendar-
        beitsschutzgesetz vorsieht, reichen. Wozu also zusätzlich
        die Einkommenshöhe beschränken? Die Bundesregie-
        rung schlägt nun vor, dass Schülerinnen und Schüler
        innerhalb der vier Wochen maximal 1 200 Euro verdie-
        nen dürfen und beispielsweise bei einem Stundenlohn
        von 10 Euro 30 Stunden pro Woche arbeiten sollen.
        Diese Verdienstbegrenzung auf 1 200 Euro lehnen wir
        ab!
        Meine Damen und Herren von Union und FDP, Sie
        haben da etwas vollkommen falsch verstanden. Wir
        müssen einen Mindestlohn festlegen – da sind Ihre
        10 Euro genau richtig –, aber doch keinen Durch-
        schnitts- oder Höchstlohn. Ich fordere Sie auf: Streichen
        Sie die Verdienstgrenze für jobbende Schülerinnen und
        Schüler, die im Hartz-IV-System stecken! Schutz und
        Motivation brauchen eine Arbeitszeitbegrenzung, aber
        keine Verdienstgrenze.
        Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        glaube, ich habe hier ein Déjà-vu; denn wir haben doch
        schon im November 2009 und im Januar 2010 darüber
        gesprochen, dass Ferienjobs nicht mehr auf das ALG II
        angerechnet werden sollen. Leider ist seit dem nichts ge-
        schehen. Schon damals haben wir Grüne gesagt, dass es
        nicht sein kann, dass Jugendliche die deprimierende Er-
        fahrung machen, dass ihnen das erste selbstverdiente
        Geld wieder genommen wird. Deshalb haben wir den
        Anträgen von SPD und Linken im Ausschuss für Arbeit
        und Soziales zugestimmt, die hier Änderungen gefordert
        haben; denn sie sind in der Sache richtig und vernünftig.
        Wir haben hier keine Differenz mit diesen beiden Frak-
        tionen.
        Gegen die Anträge gestimmt haben da allerdings die
        Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und FDP, die
        sich jetzt damit brüsten, dass sie den Jugendlichen einen
        Freibetrag für Ferienjobs von 1 200 Euro einräumen
        wollen. Man muss schon sagen, dass die Lernkurve die-
        ser Kolleginnen und Kollegen nur sehr langsam ansteigt.
        Zweimal waren die Ferienjobs Thema in der Sendung
        Hart aber fair, und es hat diese beiden Sendungen ge-
        braucht, in der die Vertreter der Koalition vorgeführt
        worden sind, bis sie sich dazu entschieden haben, end-
        lich im Kabinett zum Freibetrag von 1 200 Euro zu kom-
        men. Eine stramme Leistung finde ich aber, dass sie es
        bis heute nicht geschafft haben, diese Lösung der Pro-
        blematik hier in den Bundestag einzubringen, sodass wir
        darüber abstimmen können und endlich dafür sorgen
        können, dass sich Jugendliche mit dem ersten selbstver-
        dienten Geld Wünsche erfüllen können, die sie sich
        sonst nicht erfüllen könnten.
        Ein neues Fahrrad, einen neuen Computer oder die
        viel zitierte Gitarre können sich Kinder von ALG-II-
        Empfängerinnen und -empfängern nicht leisten, weil das
        Geld dafür schlicht und einfach fehlt. Es reicht ja schon
        für Bekleidung und Schulbedarf nicht, wie im Februar
        sogar das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat. Ist es
        da nicht verständlich, dass man sich gern im Ferienjob
        etwas dazuverdient, um sich einen solchen Wunsch zu
        erfüllen? Ich finde, das ist so. Ich selbst bin auch in Fe-
        rienjobs an die Arbeitswelt herangeführt worden. Ich
        habe erste Einblicke gewonnen und gleichzeitig gelernt,
        dass ich mit meiner Hände Arbeit etwas erreichen kann.
        Ist das nicht eine Erfahrung, die alle Jugendlichen ma-
        chen sollten, auch die, die leider häufig nicht in der eige-
        nen Familie erleben dürfen, welche sozialen Kontakte
        die Einbindung in die Arbeitswelt schafft und welche
        Chancen in Arbeit liegen, die Jugendlichen, deren Eltern
        ALG II beziehen?
        Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs-
        fraktionen, heute haben Sie die Gelegenheit, dafür zu
        sorgen, dass Ferienjobs für Jugendliche anrechnungsfrei
        bleiben. Ich kann Sie nur noch einmal auffordern, diese
        Chance zu nutzen, denn Ihre Argumente dagegen ste-
        chen nicht. Kollege Kober von der FDP hat sogar gesagt,
        die Linke griffen ein Kernelement liberaler Gerechtig-
        keitsvorstellungen auf, das die FDP gerne unter dem
        Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck
        brächte. Aber zustimmen wollte Kollege Lehrieder von
        der CDU/CSU-Fraktion dann doch nicht, um keinen ge-
        setzgeberischen Flickenteppich zu schaffen. Da frage ich
        den Kollegen: Was ist denn jetzt anders an dem ins Kabi-
        nett eingebrachten Vorschlag? Ist der gleiche Teppich,
        wenn Sie ihn weben, kein Flickenteppich? Machen Sie
        Schluss mit dieser Herumdrückerei und nutzen Sie die
        Chance zur Veränderung. Streichen Sie die unsinnigen
        Sanktionen und erhöhen Sie die Anreize für junge Men-
        schen, sich etwas dazuzuverdienen. Zögern Sie nicht und
        stärken Sie das Selbstbewusstsein des und der einzelnen
        jungen Menschen.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Menschenrechtsschutz im Handels-
        abkommen der Europäischen Union mit
        Kolumbien und Peru verankern
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
        Anträgen:
        – VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
        Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Un-
        abhängigkeit Lateinamerikas solidarisch
        unterstützen
        – Klimaschutz und gerechten Handel mit
        Lateinamerika und der Karibik voran-
        bringen
        – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
        Antrag: Menschenrechte in Kolumbien auf
        die Agenda setzen – Freihandelsabkommen
        EU-Kolumbien stoppen
        (Tagesordnungspunkt 18 a bis c)
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3973
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anette Hübinger (CDU/CSU): Heute debattieren
        wir zum zweiten Mal über Anträge von Bündnis 90/Die
        Grünen und der Fraktion Die Linke anlässlich des in der
        nächsten Woche in Madrid zum sechsten Mal stattfin-
        denden EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfels. Die Staats-
        und Regierungschefs werden zusammentreffen, um über
        die großen globalen Herausforderungen wie Armutsbe-
        kämpfung, fortschreitenden Klimawandel und den stei-
        genden Energiebedarf zu diskutieren und nach gemein-
        samen Handlungswegen zu suchen.
        Die nunmehr seit zehn Jahren bestehende strategische
        Partnerschaft zwischen diesen beiden Regionen, die ge-
        meinsame Werteorientierung und unser gemeinsames
        Verständnis von Demokratie bilden dafür eine gute Ba-
        sis. Sie sind auch die Grundlage für eine künftig intensiv
        gelebte Partnerschaft.
        Die geopolitische Bedeutung Lateinamerikas und der
        Karibik hat in den vergangenen Jahren stark zugenom-
        men. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich spielen die
        Länder Lateinamerikas eine wachsende Rolle, was auch
        das Selbstbewusstsein dieser Länder gestärkt hat.
        Der wachsende Wohlstand ist aber für viele latein-
        amerikanische Staaten auch mit großen Herausforderun-
        gen verbunden. Insbesondere die Sicherung einer ad-
        äquaten Energieversorgung wird in den kommenden
        Jahren für diese Länder ein Schlüsselthema sein, wenn
        es darum geht, auch in Zukunft weiteres wirtschaftliches
        und soziales Wachstum zu erreichen und die Armut zu
        reduzieren.
        Daher widmet sich der diesjährige Gipfel besonders
        dem Themenbereich Innovation und Technologie für
        eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion.
        Denn zum einen sind Innovation und Technologie nicht
        nur für Europa Wachstums- und Wohlstandsvorausset-
        zungen, sondern ebenso für die Staaten Lateinamerikas
        und der Karibik, und zum anderen liegen in diesen Be-
        reichen die Lösungsansätze, um die Herausforderungen
        des Klimawandels, der Energiesicherung und der Ar-
        mutsbekämpfung in Einklang bringen zu können.
        Schon im Vorfeld des Gipfels trafen sich in der ver-
        gangenen Woche in Berlin führende Vertreter aus Poli-
        tik, Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Ein Grund für
        das Treffen war, die Weltklimakonferenz in Cancún vor-
        zubereiten und zu gemeinsamen Positionen zu kommen.
        Ein weiterer war, sich über den Ausbau von erneuerba-
        ren Energien auszutauschen. Gerade im Bereich der er-
        neuerbaren Energien ist der technologische Entwick-
        lungsstand in Europa sehr weit fortgeschritten, und
        deutsche Technologien gehören zur Weltspitze. Dieses
        Potenzial wollen wir bei der künftigen Kooperation mit
        unseren lateinamerikanischen Partnern einbringen. Der
        Ausbau dieser Technologie bedeutet neue Arbeitsplätze
        und auch wachsenden Wohlstand. Voraussetzung dafür
        sind jedoch gewaltige finanzielle Investitionen. Deshalb
        müssen wir uns ebenso für Rahmenbedingungen stark
        machen, die diese – auch von privater Seite – ermögli-
        chen.
        Der Transfer von Technologie allein reicht aber nicht
        aus. Hinzukommen muss der Austausch und die Koope-
        ration im Wissenschaftsbereich und die Durchführung
        von gemeinsamen Forschungsprojekten.
        Die Bundesregierung unterstützt bereits diese Koope-
        ration, wie am deutsch-brasilianischen Wissenschafts-
        jahr 2010/2011 zu erkennen ist. – So viel in Kürze zum
        Gipfel in Madrid.
        Nun zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Alle
        drei Oppositionsparteien beschäftigen sich in ihren An-
        trägen mit den Freihandelsabkommen zwischen der EU
        und den Ländern Peru und Kolumbien, die in Madrid be-
        schlossen werden sollen. Die SPD und die Grünen wol-
        len den Menschenrechtsschutz in den Handelsabkom-
        men verankert wissen. Die Achtung der Menschenrechte
        ebenso wie das Rechtsstaatsprinzip sind im Vertrag auf-
        geführt. Darüber hinaus enthält das Freihandelsabkom-
        men Sanktionsmöglichkeiten bei Zuwiderhandlung. Da-
        mit gehen in diesem Punkt beide Anträge nach Ansicht
        der CDU/CSU ins Leere.
        Die Fraktion Die Linke lehnt die Abkommen auf-
        grund von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien
        und Peru gänzlich ab. Aus ideologischer Sicht geben sie
        einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, die mit freiem
        Handel nichts anzufangen weiß, den Vorzug. Auch bele-
        gen sie in ihrem Antrag zum wiederholten Mal ihre se-
        lektive Sichtweise in Bezug auf Menschenrechtsverlet-
        zungen, die sie zum Beispiel in Kolumbien und
        Honduras beklagen, aber in Kuba und Venezuela nicht
        anprangern. Weiter werden die altbekannten Ressenti-
        ments der Linken gegenüber den Vereinigten Staaten im
        Antrag bedient. Die Kolleginnen und Kollegen von der
        Fraktion Die Linke begeben sich damit in eine politische
        Einbahnstraße, die nicht den Bedürfnissen der Men-
        schen, sondern einem ideologischen Konzept folgt, das
        den Menschen das Paradies verspricht, aber sie der Hölle
        ein Stück näher bringt, wie es die Geschichte lehrt.
        Der Antrag der Grünen enthält neben den Forderun-
        gen zu den Freihandelsabkommen weitere, die sich auf
        Klima, Umweltschutz und multilaterale Kooperation be-
        ziehen, die die CDU/CSU-Fraktion in weiten Bereichen
        ähnlich sieht. Jedoch enthält der Antrag im Bereich
        Energie Forderungen im Hinblick auf Atomenergie, die
        wir aus zwei Gründen so nicht mittragen können. Ers-
        tens achten wir die Souveränität der lateinamerikani-
        schen Staaten, auch in ihrer Energiepolitik, und zweitens
        sind bereits Entscheidungen auf deutscher Seite gefallen,
        die über die europäische Schiene nicht korrigiert werden
        sollen.
        Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Anträge der Oppo-
        sitionsparteien aus den genannten Gründen ab.
        Ich wünsche dem Gipfel in Madrid viel Erfolg. Ich er-
        hoffe mir, dass der vertiefte politische Dialog in eine
        konkrete, breit angelegte Kooperation mündet.
        Michael Frieser (CDU/CSU): Die Oppositionsfrak-
        tionen haben zum VI. Gipfeltreffen zwischen der Euro-
        päischen Union und den Ländern Lateinamerikas in
        Madrid zwei qualitativ höchst unterschiedliche Anträge
        zur Beratung vorgelegt. Einige Forderungen scheinen
        auf den ersten Blick schlüssig, doch der zweite Blick
        3974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        fördert – wie so oft – auch hier die Probleme ans Tages-
        licht.
        Der Antrag der SPD zur Verankerung des Menschen-
        rechtsschutzes im Handelsabkommen der Europäischen
        Union mit Kolumbien und Peru ist ausgesprochen
        zurückhaltend und diplomatisch formuliert.
        Im Gegensatz dazu ist der Antrag der Fraktion der
        Linken von einem globalisierungskritischen, revolutio-
        nären Pathos getragen. Der Antrag zielt nicht auf eine
        Beförderung der Menschenrechte, sondern trägt abstruse
        Thesen und Behauptungen über Wirtschaftsprozesse,
        den Weltmarkt und die Armut vor. Die Aussagen stecken
        voller Widersprüche und instrumentalisieren die Angst
        vor einem wirtschaftlichen Strukturwandel. Den Verfas-
        sern geht es eindeutig um Globalisierungskritik und
        nicht um Menschenrechte. Der Titel ist irreführend.
        Seine Forderungen lehnen wir ab.
        Dass der Antrag der SPD-Fraktion ausgewogener
        scheint, ist der Tatsache geschuldet, dass die Sozialde-
        mokraten in ihrem Antrag weder die kolumbianische
        Regierung noch die peruanische Regierung für Men-
        schenrechtsverletzungen verantwortlich machen. Wohl-
        weislich geschieht dies, weil es in Kolumbien nicht die
        Regierung ist, die die schweren Menschenrechtsverlet-
        zungen zu verantworten hat. Es sind die Paramilitärs und
        Guerillas, wie die marxistischen Organisationen FARC
        und Ejército de Liberación Nacional, ELN, und Nachfol-
        georganisationen, wie die Autodefensas Unidas de Co-
        lombia, AUC, die Verbrechen wie Massaker, Vertreibun-
        gen, Tötungen, Vergewaltigungen und Erpressung
        verüben. Es sind nichtstaatliche Gruppen, die für das
        Klima der Angst in dem Land verantwortlich sind.
        Dies kann man in den Länderberichten von Human
        Rights Watch nachlesen. Ich lege diese Berichte den
        Kollegen der Opposition als Lektüre ans Herz. Unter
        Präsident Uribe hat Kolumbien eine insgesamt positive
        Entwicklung im Feld der Menschenrechte gemacht. Prä-
        sident Uribe steht in dem von einem jahrzehntelangen
        bürgerkriegsähnlichen Konflikt zerrissenen Land für ein
        hartes Durchgreifen gegen die kolumbianischen Guerilla-
        organisationen. In den Berichten über die Menschen-
        rechtssituation in Peru kritisiert Human Rights Watch
        den „überzogenen“ Umgang der Polizei mit der opposi-
        tionellen Vertretern der indigenen Bevölkerung sowie
        mit Straftatverdächtigen. In einigen Provinzen stellt Hu-
        man Rights Watch die Einschüchterung von Journalisten
        fest.
        So müssen die Feststellungen der Antragsteller zu-
        mindest gegenüber Peru als alarmistisch bezeichnet wer-
        den. In umfangreichen Ausführungen möchte die SPD-
        Fraktion, dass der Bundestag die Bundesregierung zu bi-
        lateralen Gesprächen mit den Regierungen in Bogotá
        und Lima auffordert. Auf bilateraler Ebene soll die Bun-
        desregierung erreichen, dass in beiden Ländern der Dia-
        log zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren
        intensiviert wird mit dem Ziel, Menschenrechte zu för-
        dern. Dies alles ist jedoch bereits Teil des täglichen Ge-
        schäfts der deutschen Botschaft in Kolumbien und somit
        der Bundesregierung. Der Bundestag muss die christ-
        lich-liberale Bundesregierung nicht vordergründig kri-
        tisch zu einem Handeln aufrufen, welchem die deutsche
        Botschaft in Bogotá regelmäßig nachgeht und welches
        die kolumbianische Seite zu schätzen weiß.
        Es lässt sich beim besten Willen aus meiner Sicht
        nichts wesentlich Neues im Antrag der SPD entdecken,
        was eine Zustimmung rechtfertigen würde. Das ist der
        erste Grund, weshalb wir den Antrag nicht befürworten
        werden.
        Doch diese Forderungen sind aus meiner Sicht nicht
        der Knackpunkt dieses Antrags. Der Knackpunkt ist die
        Verknüpfung von Handelspolitik und Menschenrechts-
        politik, welche im Übrigen in beiden Anträgen auf-
        taucht. Das ist eine Vorstellung von Außenpolitik, die
        nicht funktioniert. Es ist ein Kardinalfehler, zu denken,
        dass mit einer Sanktionierung von Handelskooperatio-
        nen eine Verbesserung der menschenrechtlichen Situa-
        tion innerhalb eines Landes erreicht werden könne. Wir
        mussten in den 1990er-Jahren schmerzlich erfahren, dass
        die Verkettung von Wirtschafts- und Menschenrechts-
        politik nicht die erwünschte politische Wirkung entfaltet.
        Dies zeigte ganz besonders eindrucksvoll die Praxis der
        gemeinsamen Politik der EU-Staaten gegenüber Staaten
        wie China, Russland, Iran und Irak. Bekenntnisse zur
        Demokratie und zur Einhaltung politischer und bürgerli-
        cher Rechte wurden zu reinen Lippenbekenntnissen. Die
        rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und
        Joschka Fischer hat in Bezug auf China und Russland
        dies schmerzlich lernen müssen und dann von einer Ver-
        knüpfung von Handelspolitik und Menschenrechtspoli-
        tik abgesehen.
        Auch die US-Administrationen haben diese Tatsache
        nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erst lernen
        müssen und verzichten heute darauf. Populistische Reso-
        lutionen aus dem Repräsentantenhaus ändern an dieser
        Haltung der US-Administrationen nichts; das sollte auch
        die Opposition im Deutschen Bundestag zur Kenntnis
        nehmen. Eine Aussetzung oder ein Zur-Disposition-Stel-
        len von Handelsabkommen bewirkt das Gegenteil des
        Erwünschten. Der Einfluss auf die innenpolitische Situa-
        tion in den Staaten nimmt ab. Die Verfasser des SPD-
        Antrages erkennen dieses Problem, wenn sie schreiben:
        „Die Regierungen von Kolumbien und Peru wehren sich
        grundsätzlich gegen die Verknüpfung von Handels- und
        Menschenrechtsfragen.“ Doch sie ziehen nicht die richti-
        gen Konsequenzen aus ihrer Erkenntnis.
        In der Frage, wie Freihandelsabkommen gerade in
        den schwierigsten Situationen helfen können, unter-
        scheidet sich die Fraktion der CDU/CSU von den Vor-
        stellungen der Antragsteller ganz grundsätzlich. Aus
        unserer Sicht haben Freihandelsabkommen eine ent-
        wicklungspolitische Bedeutung, da sie Entwicklungslän-
        dern den Zugang zu den Märkten von Industrieländern
        öffnen, indem Zölle, nicht-tarifäre Handelshemmnisse
        wie Ein- und Ausfuhrverbote sowie Kontingente abge-
        schafft werden. Aus diesem Grund fördert die WTO die
        Abschlüsse von Freihandelsabkommen und Freihandels-
        zonen. Aus diesem Grunde verhandelt die EU mit Staa-
        ten in Afrika, in der Karibik und im Pazifik über den Ab-
        schluss von Freihandelsabkommen. Wenn ein Land für
        die Schaffung von Märkten „bestraft“ oder zumindest
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3975
        (A) (C)
        (D)(B)
        vom Warenaustausch abgehalten wird, dann bedeutet
        dies, dass sich die Situation der einfachen Arbeitnehmer
        und damit der Ärmsten verschärft. Ich glaube nicht, dass
        dies Ziel der deutschen Außen- und Menschenrechts-
        politik sein kann.
        Kurzum: Die Forderung der Fraktionen SPD und
        Linke, die Bundesregierung solle innerhalb der Europäi-
        schen Union für ein Ende der laufenden Verhandlungen
        zu einem Freihandelsabkommen zwischen Europa und
        Kolumbien sowie Peru eintreten, unterstützen wir nicht.
        Wolfgang Gunkel (SPD): Wir dürfen uns nichts
        vormachen: In Peru und in Kolumbien, in den beiden
        Ländern, mit denen die Europäische Union jetzt ein
        Freihandelsabkommen unterzeichnen will, werden Men-
        schenrechte auf eklatante Weise verletzt. Menschen wer-
        den von ihrem Land vertrieben, weil sie den wachsenden
        Großplantagen oder dem Bergbau im Weg sind. Gewerk-
        schaftsaktivisten verschwinden für immer, und jeder
        weiß, sie sind nicht mehr am Leben.
        In Peru wird die politische Opposition unterdrückt.
        Wer unter Strafverdacht steht, muss Folter und Miss-
        handlungen befürchten. Journalistinnen und Journalisten
        werden bedroht und mundtot gemacht. Bei den Protesten
        indigener Bevölkerungsgruppen gegen die Landpolitik
        und Vertreibung im Juni 2009 haben mehr als 50 Men-
        schen ihr Leben verloren.
        In Kolumbien werden Verteidiger von Menschenrechten
        vehement eingeschüchtert, ihre Familien werden bedroht,
        oder sie werden kurzerhand von Paramilitärs erschossen.
        Dafür gibt es den perfiden Begriff „Extralegale Hinrich-
        tungen“. Ebenfalls in Kolumbien wurden junge Männer
        von Soldaten erschossen, dann in Guerillero-Uniform ge-
        kleidet und als gefallene Terroristen deklariert. 2 000 Fälle
        dieser „Falsos Positivos“ – falsche Gefallene – sind bis-
        lang bekannt. Mütter und Anwälte der Ermordeten sind
        ihres Lebens nicht sicher, wenn sie um Aufklärung der
        Morde kämpfen. Eine ordentliche Ermittlung und Straf-
        verfolgung findet nicht statt.
        Ich war mehrmals in Kolumbien, ich habe mir jenseits
        der offiziellen Besucherrouten – unterstützt von Menschen-
        rechtsaktivisten, dem katholischen Hilfswerk Misereor
        und anderen Hilfsorganisationen – die Situation vor Ort
        angesehen. Ich kann bestätigen, was die UN-Hochkom-
        missarin für Menschenrechte in ihrem Bericht zu Kolum-
        bien festgestellt hat. Sie kritisiert die fehlende unabhän-
        gige Kontrolle der dortigen Geheimdienste in deren
        Zusammenarbeit mit dem Militär. Sie beklagt die Gefahren
        für Menschenrechtsverteidiger und die außergerichtli-
        chen Hinrichtungen. Es gibt kein Opfergesetz für Opfer
        von sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Gewalt, das
        internationalen Grundstandards standhält.
        Angesichts dieser katastrophalen Menschenrechtslage
        muss es für die Opfer wie Hohn klingen, wenn die FDP
        behauptet, dass seitens der kolumbianischen Regierung
        glaubhaft erklärt worden sei, dass es zwar noch immer
        Menschenrechtsverletzungen gebe, aber das Land in den
        letzten Jahren erhebliche Fortschritte in der Aufarbeitung
        dieser Vorgänge gemacht habe. Das ist eher nicht der Fall.
        Genau deshalb bietet sich mit dem Handelsabkom-
        men im Interesse der Menschenrechte, im Interesse der
        Verfolgten und Opfer die Möglichkeit, auf die Regierun-
        gen Druck auszuüben, mit ihren Aussagen auch wirklich
        ernst zu machen; ernst zu machen mit der Einhaltung
        fundamentaler Menschenrechte und ernst zu machen mit
        der Aufarbeitung der Verbrechen. Denn Kolumbien hat
        nicht nur ein hohes wirtschaftliches Interesse an diesem
        Abkommen. Ein solches Abkommen mit der Europäi-
        schen Union würde die kolumbianische Regierung inter-
        national erheblich aufwerten, ihre Politik legitimieren.
        Das war auch einer der wesentlichen Gründe, warum die
        Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens ähnliche
        Handelsabkommen mit Kolumbien nicht ratifiziert haben.
        Das sind Parlamente, die nicht unter Verdacht stehen,
        Handelsinteressen leichtfertig zurückzustellen. Aber mit
        Hinweis auf die katastrophale Menschenrechtslage in
        Kolumbien sind diese Parlamente bislang nicht bereit,
        einem solchen Abkommen zuzustimmen.
        Nicht zuletzt die Gewerkschaftsbewegung – allen voran
        die deutschen Gewerkschaften – hat eindeutig Position
        gegen ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien bezogen.
        Die Gewerkschaften fordern vor allem Sicherheit und
        Garantie der fundamentalen Menschenrechte ihrer Gewerk-
        schaftskolleginnen und -kollegen. In den letzten 15 Jah-
        ren sind in Kolumbien weit mehr als 2 000 Gewerk-
        schafter ermordet worden.
        Kommt das Handelsabkommen jetzt ohne klare und
        eindeutige Bedingungen zur Einhaltung der Menschen-
        rechte, ohne Ausstiegsklausel bei Nichteinhalten von Zu-
        sagen zustande, so ist das ein Zeichen an die Regierung in
        Kolumbien, dass ein „Weiter-so“ möglich ist, dass die
        Staaten der Europäischen Union ihr nicht ernsthaft Einhalt
        gebieten wollen. Und das ist ein Zeichen an die USA, an
        Kanada und an Norwegen, dass man für Wettbewerbs-
        vorteile im Welthandel anderen Prinzipien folgt. Der Ab-
        schluss des Freihandelsabkommens könnte Anlass für
        die Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens sein,
        ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.
        Auch die Art und Weise, wie das Handelsabkommen
        zustande gekommen ist, wird dem Anspruch einer trans-
        parenten Politik unter Beteiligung aller Akteure aus der
        Zivilgesellschaft nicht gerecht. Die Verhandlungen fanden
        mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen statt.
        Eine politische Debatte über Inhalte und Ziele hat es zu
        keinem Zeitpunkt gegeben, Verbände, Gewerkschaften
        und Nichtregierungs-Organisationen wurden auf beiden
        Seiten nicht einbezogen. Der fertige Vertragstext wurde
        dem Europäischen Parlament – sozusagen zum Abni-
        cken – am 31. März dieses Jahres auf den Tisch gelegt.
        Das ist nicht unser Anspruch an Politik, an eine parla-
        mentarische Demokratie.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
        glaube Sie geben uns weitgehend recht, stimmen unse-
        rem Antrag aber aus vorgeschobenen Gründen nicht zu.
        Wenn ich Ihre Argumente in der Beschlussempfehlung
        des Ausschusses für Menschenrechte lese, so lese ich im
        Grundtenor vorsichtige Zustimmung. Sie attestieren uns
        „Zurückhaltung“ und „Diplomatie“. Ihre Einwände sind
        rein formaler Natur, wenn Sie bemängeln, dass „Men-
        3976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        schenrechte als Texte in Handelsabkommen nichts zu su-
        chen hätten“ und man die Situation in Kolumbien und
        Peru „nicht in einen Topf werfen“ dürfe. Ich denke, diese
        Einwände sind nicht schwerwiegend genug, um die
        große Chance verstreichen zu lassen, im Zuge der Ver-
        handlungen mit Peru und Kolumbien dort die Garantie
        grundlegender Menschenrechte voranzubringen. Wir ha-
        ben dabei die Unterstützung der Parlamente der USA,
        Kanadas und Norwegens. Mit unserem Antrag kann der
        Deutsche Bundestag in diesem Sinne ein deutliches Zei-
        chen setzen und gleichzeitig die Parlamentarier im Euro-
        päischen Parlament ermutigen, dem Freihandelsvertrag
        nicht zuzustimmen.
        Denn wir sind nicht der Meinung der FDP, die in un-
        ternehmerischen Tätigkeiten eine Chance sieht, um auf
        eine Verbesserung der Menschenrechtsstandards hinzu-
        wirken. So jedenfalls begründen die Liberalen die Ableh-
        nung unseres Antrags. Der Markt kann nicht alles regeln,
        und die Durchsetzung von Menschenrechten kann ganz
        bestimmt nicht auf dem freien Markt verhandelt werden.
        Ohnehin laufen wir Gefahr, unsere Glaubwürdigkeit im
        grundlegenden Bekenntnis für die Einhaltung universeller
        Menschenrechte zu verlieren, wenn wir unsere Außenbe-
        ziehung in erster Linie von Wirtschaftsinteressen leiten
        lassen. Wir können nicht bei Menschenrechtsverletzungen
        in dem einen Land wegsehen und uns einreden, durch
        Handel dort Wandel herbeizuführen, und gleichzeitig
        Menschenrechtsverletzungen in dem anderen Land an-
        klagen, das uns politisch missliebig ist. Menschenrechte
        sind unteilbar und universell gültig. Sie sind nicht verhan-
        delbar. An diesem Leitmotiv müssen wir unsere Politik
        messen lassen.
        Harald Leibrecht (FDP): Es liegen heute Abend
        vier Anträge vor. Zwei davon haben wir bereits vergan-
        gene Sitzungswoche debattiert. Meine Kollegin Marina
        Schuster hat zu dem Antrag der Linken zum Thema EU-
        Lateinamerika-Gipfel und dem Antrag der Grünen zum
        Klimaschutz und Handel mit Lateinamerika die wich-
        tigsten Aspekte aus liberaler Sicht bereits genannt hat.
        Daher möchte ich hier nur noch auf die zwei anderen
        Anträge eingehen.
        Einen Satz kann ich mir zum Antrag der Linken nicht
        verkneifen: Obwohl ich einiges von Ihren Initiativen
        mittlerweile gewohnt bin, habe ich mich bei Ihrem An-
        trag zum EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel wirklich er-
        schrocken; darüber, wie undifferenziert Sie über die
        Lage der Menschen in Venezuela und Kuba sprechen
        und sie als Musterstaaten darstellen. Ich frage mich, wie
        Sie die Probleme der Misswirtschaft von Hugo Chávez,
        die politischen Gefangenen und vielfachen Menschen-
        rechtsverletzungen einfach beiseiteschieben können. Sie
        sprechen immer von Solidarität und Gerechtigkeit –
        doch diese Werte scheinen Sie nicht allen Menschen
        gleichermaßen zugestehen zu wollen. Wenn es Staaten
        wie Kuba, Venezuela oder China sind, die Menschen-
        rechtsverbrechen begehen, dann legen Sie zweierlei Maß
        an. Dieser politische Doppelstandard diese Doppelmoral
        ist unerträglich und widerspricht der Universalität der
        Menschenrechte.
        Nun zum Antrag der SPD zum Thema Menschen-
        rechtsschutz in Handelsabkommen der EU mit Kolum-
        bien und Peru. Es ist natürlich wichtig, kritische Men-
        schenrechtsfragen zu thematisieren. Dies geschieht
        sowohl für Kolumbien als auch für Peru vonseiten der
        Bundesregierung und der EU. Bereits in den Verhand-
        lungen für das Abkommen zwischen der EU und Kolum-
        bien bzw. Peru hat sich die Bundesregierung dafür ein-
        gesetzt, dass es Menschenrechtsverpflichtungen enthält.
        Auch im Abkommen selbst wurde Wert darauf gelegt,
        dass der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
        und den geltenden Rechtsstaatsprinzipien Rechnung ge-
        tragen wird: In der Präambel und in Art. I ist jeweils ein
        ausdrücklicher Hinweis auf die Bedeutung der Men-
        schenrechte enthalten. Nur muss auf der anderen Seite
        ebenso bedacht werden, dass es in einem Handelsab-
        kommen vorwiegend um die Regelung der gegenseitigen
        wirtschaftlichen Beziehungen geht und dass diese Bezie-
        hungen von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt
        werden. Sie sprechen in Ihren Anträgen unisono von
        dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Staaten Latein-
        amerikas und der Karibik. Ich stimme mit Ihnen darin
        überein, dass es für die jeweiligen Länder wichtig ist,
        selbstbestimmt über ihre Außenhandelspolitik zu ent-
        scheiden. Deshalb ist es aber an uns Europäern, zu ak-
        zeptieren, dass es auf der anderen Seite auch diesen
        Staaten obliegt, ihre Verträge und Abkommen selbst-
        ständig abzuschließen.
        Für uns Europäer bietet das Freihandelsabkommen
        auf der einen Seite die Gelegenheit, wichtige Gesprächs-
        kanäle offenzuhalten, über die wir gegenüber Regierun-
        gen auch Menschenrechtsanliegen kommunizieren kön-
        nen. Dies muss selbstverständlich entsprechend genutzt
        werden, um die zu Recht kritisierte Menschenrechtslage
        in Kolumbien und Peru zu verbessern. Eine Nichtunter-
        zeichnung des Freihandelsabkommens wäre auf der an-
        deren Seite nicht in unserem Sinne; denn dies würde in
        erster Linie den Wirtschaftssektor treffen und nicht die
        politische Führung des Landes.
        Bezüglich der Menschenrechtslage in Kolumbien, die
        im Antrag der Linken thematisiert wird, muss ich Sie,
        liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, korri-
        gieren. Die Bundesregierung hat sich mit Nachdruck in
        den Verhandlungen für das Abkommen zwischen der EU
        und Kolumbien dafür eingesetzt, dass es Menschen-
        rechtsverpflichtungen enthält. Die EU bringt im politi-
        schen Dialog sowie im kürzlich eingerichteten bilatera-
        len Menschenrechtsdialog mit den kolumbianischen
        Behörden regelmäßig ihre Menschenrechtsanliegen zum
        Ausdruck, und auch die EU-Kommission hat in diesem
        Zusammenhang die kolumbianische Regierung auf ver-
        mehrte Anstrengungen gedrängt, um beispielsweise Ge-
        werkschafter und Angehörige von Opferverbänden zu
        schützen.
        Betrüblich finde ich auch, dass in jedem außenpoliti-
        schen Antrag Antiamerikanismus mitschwingt. Da frage
        ich mich tatsächlich, ob Sie überhaupt in der Lage sind,
        ausgewogene Entscheidungen zu treffen, oder ob Sie
        nicht vielmehr Informationen und Erkenntnisse ignorie-
        ren, um Ihrem ideologischen Kompass zu folgen. Das
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3977
        (A) (C)
        (D)(B)
        bringt uns in Deutschland als Teil der internationalen
        Gemeinschaft nicht weiter.
        Lassen Sie mich noch einige Worte zur Lateiname-
        rika-Politik sagen. Zu lange ist das Potenzial einer Zu-
        sammenarbeit der EU mit Lateinamerika vernachlässigt
        worden. Ich freue mich, dass unter dieser Bundesregie-
        rung das stiefmütterliche Dasein Lateinamerikas in der
        deutschen Außen- und Entwicklungspolitik beendet
        wird. Mit dem neuen Lateinamerika-Konzept, das der-
        zeit ressortübergreifend ausgearbeitet wird, unterstreicht
        die Bundesregierung zudem die neue Kohärenz der deut-
        schen Außen- und Entwicklungspolitik. Der Abschluss
        der Handelsabkommen ist gerade auch für unsere latein-
        amerikanischen Partner wichtig. Natürlich müssen
        Deutschland und die EU dabei ihren Beitrag leisten und
        Handelspolitik auch im entwicklungspolitischen Sinne
        sinnvoll gestalten. Dazu gehören selbstverständlich auch
        die Reduktion von Zollhemmnissen und der Abbau von
        Agrarsubventionen.
        Natürlich ist dies kein einfaches Unterfangen. Die la-
        teinamerikanischen Staaten sind, politisch und wirt-
        schaftlich gesehen, sehr divers und stehen vor den unter-
        schiedlichsten Herausforderungen: Armutsbekämpfung,
        soziale Ungleichheit, der Kampf gegen Kriminalität und
        Drogen, Klimaschutz und, und, und. Hier müssen wir
        mit dem Instrument der Entwicklungszusammenarbeit
        mehr Möglichkeiten für nachhaltige Entwicklung schaf-
        fen. Jedes der lateinamerikanischen Länder muss eigen-
        ständige Managementprozesse entwickeln, um diese He-
        rausforderungen zu bewältigen – und Deutschland und
        die EU können und müssen dabei wichtige Partner sein.
        Auch gerade weil die lateinamerikanischen Staaten zwar
        den Willen, aber noch nicht den Weg zu einer funktio-
        nierenden regionalen Integration gefunden haben, kann
        die EU hier einen wichtigen Beitrag leisten.
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Der EU-Lateiname-
        rika-Gipfel, der übernächste Woche in Madrid stattfin-
        den wird, steht unter keinem guten Stern. Die Europäi-
        sche Union hat es mit ihrer Arroganz der Macht
        geschafft, fast die gesamte lateinamerikanische Staaten-
        gemeinschaft gegen sich aufzubringen. Jetzt droht der
        Gipfel zu platzen, weil die spanische EU-Ratspräsident-
        schaft trotz Protest der lateinamerikanischen Regierun-
        gen den illegitimen honduranischen Präsidenten Porfirio
        Lobo nach Madrid eingeladen hat.
        Als in Honduras der demokratisch gewählte Präsident
        Manuel Zelaya aus dem Amt geputscht wurde, haben
        sich die lateinamerikanischen Regierungen hinter ihn
        und gegen den Putsch gestellt. Bis heute weigern sie sich
        zu Recht, den unter den Bedingungen des Putschregimes
        aus höchst umstrittenen Wahlen hervorgegangenen Prä-
        sidenten Lobo anzuerkennen.
        Vor diesem Hintergrund stellt die Zusammenarbeit
        der EU mit Honduras einen skandalösen Vorgang dar
        und zeigt: Die EU stellt ganz offen ihre Wirtschaftsinte-
        ressen über die Achtung von Demokratie und Menschen-
        rechten. Deshalb frage ich die Bundesregierung, wie sie
        sich dazu verhält. Unterstützt sie die Einladung an Lobo
        nach Madrid? Trägt sie die Assoziierungsverhandlungen
        unter Einschluss von Honduras mit? Angesichts des Um-
        standes, dass die zuständigen Bundesministerien mittler-
        weile von der FDP geleitet werden, die damals den
        Putsch in Honduras offen unterstützt hat, ist anzuneh-
        men, dass die Bundesregierung diesen Kurs der EU nicht
        nur mit trägt, sondern aktiv befördert hat.
        Die Fraktion Die Linke fordert: Keine Einladung für
        Lobo! Der für Madrid geplante Abschluss des Assoziie-
        rungsabkommens der EU mit Zentralamerika muss
        gestoppt werden.
        Dasselbe gilt für das Freihandelsabkommen, das die
        EU in Madrid mit Kolumbien und Peru abschließen will.
        Der jüngste Skandal um die Aktivitäten des kolumbiani-
        schen Geheimdienstes DAS, der in Brüssel Menschen-
        rechtsorganisationen und kritische Europaabgeordnete
        ausspioniert hat, wirft ein grelles Schlaglicht auf die
        Situation in Kolumbien. Menschenrechtsverteidiger,
        Friedensaktivisten und Gewerkschafter sind dort ständi-
        gen Bedrohungen ausgesetzt, politische Morde und Ver-
        treibungen immer noch an der Tagesordnung. Von der
        Bundesregierung, die sich die Wertorientierung auf die
        Fahnen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik geschrie-
        ben hat, ist hierzu keine kritische Stellungnahme zu
        vernehmen. Auch hier zeigt sich: Die wirtschaftlichen
        Interessen gehen vor.
        Die Linke solidarisiert sich mit den sozialen Bewe-
        gungen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen in
        Honduras, Kolumbien und Peru, die für ihre Rechte
        kämpfen und die von der EU fordern: Keine Freihan-
        delsabkommen mit Kolumbien und Peru! Keine politi-
        sche Unterstützung für den kolumbianischen Präsidenten
        Uribe! Für ein Ende der US-militärischen Präsenz auf
        den Niederländischen Antillen, die eine direkte Bedro-
        hung für Venezuela darstellen! Wir fordern das EU-Mit-
        gliedsland Niederlande auf, diese Unterstützung einzu-
        stellen.
        Der UNASUR-Gipfel gestern, auf dem mehrere süda-
        merikanische Staaten gedroht hatten, den EU-Latein-
        amerika-Gipfel in Madrid zu boykottieren, zeigt: Die
        lateinamerikanischen Staaten sind nicht mehr bereit, die
        Politik der Europäischen Union einfach so hinzuneh-
        men. Sie haben mittlerweile starke Strukturen für eine
        eigenständige regionale Integration gebildet. Teile und
        herrsche – diese Zeiten sind für die Europäische Union
        in Lateinamerika vorbei.
        Die regionale Integration, die sich auf der Grundlage
        dieser neuen Solidarität in Lateinamerika vollzieht, hat
        den Menschen viel gebracht: den komplementären Aus-
        tausch von Gütern und Dienstleistungen statt Freihandel
        und Verdrängungswettbewerb, die solidarische Bereit-
        stellung von gegenseitiger Hilfe statt neoliberale Ent-
        wicklungskonzepte aus dem Norden, eine eigenständige
        Stimme auf dem internationalen Parkett statt Gängelung.
        Das betrifft auch die Klimapolitik. So kamen Ende April
        mehr als 30 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum
        Klimagipfel der Völker nach Bolivien. In der Abschluss-
        erklärung wurde das kapitalistische System für den Kli-
        mawandel verantwortlich gemacht, das die Menschen zu
        reinen Konsumenten und Arbeitskräften mache und die
        Natur zerstöre. Gefordert wird deshalb ein weltweites
        3978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Referendum über das derzeit herrschende Weltwirt-
        schaftssystem und ein Klimagerichtshof für klimaschäd-
        liches Verhalten von Staaten. Dies sind zukunftswei-
        sende Projekte.
        Ein Wort zum Antrag der Grünen. Wem zu Kuba
        nichts anderes einfällt, als die arrogante unilaterale Poli-
        tik des sogenannten gemeinsamen Standpunkts der EU
        zu wiederholen, die ja sogar innerhalb der EU nur noch
        von Hardlinern wie der Bundesregierung verteidigt wird,
        hat nicht allzu viel vom sozialen Aufbruch in Lateiname-
        rika verstanden. Da kann ich nur sagen: In Lateiname-
        rika wird diese Haltung auf wenig Verständnis stoßen,
        dort tritt Kuba als einer der wichtigsten Akteure der
        regionalen Integration und als bedeutender Geber im Ge-
        sundheits- und Bildungssektor auf. Die Linke fordert
        Anerkennung für diese solidarische Leistung der Kuba-
        nerinnen und Kubaner. In einer gleichberechtigten
        Zusammenarbeit mit Kuba steckt viel Potenzial für die
        Entwicklung in ganz Lateinamerika – das hat sich nach
        dem Erdbeben in Haiti gezeigt, wo viele internationale
        Helfer auf die langjährigen kubanischen Strukturen vor
        Ort zurückgreifen konnten.
        Nach mehr als 500 Jahren kapitalistischer Ausbeu-
        tung und 200 Jahre nach dem Beginn der politischen
        Unabhängigkeit brechen die Menschen in Lateinamerika
        auf zu einer „zweiten Unabhängigkeit“, die ihnen end-
        lich auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle
        Eigenständigkeit bringen soll. Die Linke formuliert in
        ihrem Antrag eine solidarische Haltung zu diesem Auf-
        bruch. Für den 11. Mai haben wir Vertreterinnen und
        Vertreter linker Regierungen und sozialer Bewegungen
        zu einer öffentlichen Anhörung in den Bundestag einge-
        laden, und wir starten ein Solidaritätsschiff auf der
        Spree. Ich lade Sie alle sehr herzlich dazu ein. Sie kön-
        nen viel von Lateinamerika lernen.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der Lateinamerika-Gipfel übernächste Woche in
        Madrid bietet die Chance für einen Neuanfang der Be-
        ziehungen zu den Ländern Südamerikas, einem Konti-
        nent im Wandel, eine gute Gelegenheit, den Dialog über
        Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Menschenrechte und
        Demokratie zu intensivieren und die Ergebnisse der Dis-
        kussion in die Verhandlungen einfließen zu lassen.
        Wichtig ist, dass der Dialog nicht hochnäsig und be-
        lehrend geführt wird, sondern mit Respekt gegenüber
        den Gesprächspartnern und auf gleicher Augenhöhe. Zu
        Recht fordern dies Botschafter oder andere Gesprächs-
        partner aus Lateinamerika immer wieder ein, wie zuletzt
        in der Fachkonferenz der Grünen gestern Nachmittag
        hier im Bundestag oder bei meinem Treffen mit Abge-
        ordneten in Nicaragua Mitte April oder in Kolumbien im
        vergangenen Jahr. Zutreffend sind ihre Hinweise auf ei-
        gene Leistungen, die sich sehen lassen können.
        Nicht wenige Völker des Kontinents haben sich von
        Militärmachthabern und Diktaturen befreit. Einige ha-
        ben in einem mühsamen Diskussionsprozess Verfassun-
        gen erarbeitet, die in vielen Punkten vorbildlich sind wie
        etwa die Sicherung der Rechte der indigenen Völker und
        der kulturellen Diversität der Gesellschaft in Ecuador
        oder Bolivien. Jetzt geht es um die Fortentwicklung und
        den Ausbau demokratischer Strukturen und die Intensi-
        vierung der wirtschaftlichen und politischen Zusammen-
        arbeit der Länder hin zu Gemeinschaften in Mittelame-
        rika, dem Andenraum oder ganz Südamerika. In diesem
        Dialog sind häufig unsere europäischen Erfahrungen bei
        der Entwicklung von der Europäischen Wirtschafts-
        gemeinschaft zur Europäischen Union gefragt. Armuts-
        bekämpfung geschieht nicht nur durch Notprogramme.
        Das kann wichtig sein nach Naturkatastrophen wie Erd-
        beben in Haiti oder Verwüstungen durch Wirbelstürme
        wie „Mitch“. Gerade habe ich in Posoltega in Nicaragua
        ein erfolgreiches Projekt besucht, bei dem 1 000 Men-
        schen ein Dach über dem Kopf und Staatsland zur Ei-
        genversorgung mit deutscher Hilfe verschafft wurden.
        Viel wichtiger sind faire und gerechte Handelsbezie-
        hungen. Mit absolutem Freihandel, wie dies der große
        Bruder USA und europäische Länder immer wieder ver-
        langen und zum Teil auch durchgesetzt hatten, haben die
        Völker schlechte Erfahrungen gemacht. Vor allem in der
        Landwirtschaft wurden eigene Ökonomien zur Selbst-
        versorgung und bescheidenen Export zu Tode konkur-
        riert. So lohnte sich der Anbau von Mais im Urland des
        Mais Mexiko bald nicht mehr. Subventionierte Agrar-
        produkte machen noch heute die lokalen Märkte kaputt,
        wie jetzt noch 5 000 Tonnen Milchpulver aus Europa.
        Den Bauern bei uns mag es gefallen, aber die Bauern in
        Lateinamerika müssen eigene Produktion mangels Ren-
        tabilität aufgeben. Anbau von Genprodukten, Palmöl
        und Biosprit ruinieren die Landwirtschaft zur Selbstver-
        sorgung und die biologische Vielfalt.
        Freihandelsabkommen mit einzelnen Ländern wie
        jetzt mit Kolumbien und Peru sind nicht der richtige
        Weg. Regionale Abkommen sind die sinnvolle Alterna-
        tive zur umfassenden WTO-Liberalisierungsagenda. Da-
        mit ist eine sanfte Heranführung an den Weltmarkt mög-
        lich. Nicht nur ökologische Landwirtschaft braucht vor
        allem in der Anfangszeit häufig gezielte Förderung und
        Schutz. Dies gilt für die Landwirtschaft insgesamt. Am
        ökologischen Anbau und fairen Handel haben wir als
        Verbraucher und die Produzenten in den Ländern Latein-
        amerikas ein gemeinsames Interesse. Dies muss in den
        Handelsabkommen zu finden sein.
        Die EU verlangt dagegen eine weitgehende Öffnung
        des Dienstleistungsmarktes, aber auch Regelungen zum
        staatlichen Schutz von Investitionen, die rechtliche Gleich-
        behandlung ausländischer Investoren und die Durchset-
        zung von Patenten. In diesen Forderungen spiegeln sich
        weitgehend die Wünsche der europäischen multinationa-
        len Konzerne wider.
        Die Landwirtschaft spielt bei den EU-Forderungen nur
        eine untergeordnete Rolle. Die EU-Kommission sieht
        hier bei Milchprodukten gute Chancen für europäische
        Exporteure. Dabei ist keine Rede vom Abbau oder der
        Streichung der Agrarsubventionen. Das ist kein fairer
        Handel.
        Stattdessen fordern wir mit vielen lateinamerikani-
        schen NGOs und Verbänden unter anderem einen deutli-
        chen Schuldenerlass sowie eine echte Garantie für die
        Rechte und Förderung von kleinbäuerlichen Betrieben.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3979
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Menschenrechte sind kein Luxusgut nur für reiche
        Länder. Gerade in meinen Gesprächen mit Vertretern
        von Menschenrechtsorganisationen in Nicaragua und
        Kolumbien wurde dies immer wieder betont. Ohne Men-
        schenrechte gibt es keine nachhaltige Entwicklung der
        Gesellschaft. Meinungs- und Pressefreiheit, die Mög-
        lichkeit, sich frei und ungehindert in Gewerkschaften
        und politischen Parteien zu organisieren, sind genauso
        wichtig wie die persönliche Sicherheit für Leib und Le-
        ben, persönliches Hab und Gut. In El Salvador und
        Guatemala sind tägliche Überfälle, Morde, Straflosigkeit
        der Täter und das Fehlen öffentlicher Sicherheit das
        Haupthindernis für die wirtschaftliche und gesellschaft-
        liche Entwicklung der Länder.
        Deshalb verlangen wir in unserem heutigen Antrag
        eine verbindliche Menschenrechtsklausel in Abkommen
        für die Verhandlungen auf dem EU-Lateinamerika-Kari-
        bik-Gipfel. Völlig unverständlich ist, wieso dieser An-
        trag gestern im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-
        menarbeit und Entwicklung abgelehnt wurde. Ohne eine
        solche Klausel sind die Beteuerungen der Bedeutung der
        Menschenrechte nicht glaubwürdig. Zu einem partner-
        schaftlichen Verhältnis gehört der Einsatz für die Einhal-
        tung der Menschenrechte. Bedrohte Menschenrechtsak-
        tivisten wie in Kolumbien, die vom Geheimdienst des
        Präsidenten überwacht und beobachtet wurden, müssen
        auf unsere Unterstützung bauen können. Thema auf dem
        Gipfel sollten durchaus auch Meldungen sein, dass die-
        ser Geheimdienst, DAS, das UN-Hochkommissariat für
        Menschenrechte in Genf sowie Abgeordnete des Men-
        schenrechtsauschusses des EU-Parlaments ausspioniert
        haben soll und gegen sie gearbeitet hat. Der kolumbiani-
        schen Wochenzeitung La Semana zufolge unterhielt oder
        unterhält der kolumbianische Geheimdienst in Brüssel
        eine Dependance, um Informationen über Abgeordnete
        zu sammeln, die sich kritisch zur Politik in Kolumbien
        äußern, um sie gezielt zu denunzieren. Wenn das stimmt,
        ist das ein Skandal und widerspricht der kolumbiani-
        schen Selbsteinschätzung, wonach sich die Verhältnisse
        im Lande rechtsstaatlich entwickelt haben sollen.
        Klimaschutz kann nur erfolgreich sein, wenn er welt-
        weit unterstützt wird. Dazu ist ein völkerrechtlich ver-
        bindliches Kioto-Nachfolgeabkommen erforderlich. Wenn
        Wälder in Lateinamerika zur Lunge der Welt gehören,
        müssen wir auch gemeinsam dafür sorgen, dass sie wei-
        terlebt und atmet. Die Kosten müssen wir gemeinsam tra-
        gen, etwa durch Einrichtung eines Green Fund.
        Der Lateinamerika-Gipfel ist der richtige Ort, um
        diese und weitere Klimaschutzanstrengungen, wie etwa
        die Emissionen um 15 bis 30 Prozent zu vermindern, auf
        die Tagesordnung zu setzen, ebenso wie die Forderun-
        gen des alternativen Umweltgipfels vom 20. April 2010
        in Cochabamba aufzunehmen. Die Bundesregierung hat
        die Möglichkeit, wenigstens einen Teil des in Kopenha-
        gen Versäumten nachzuholen.
        Der Gipfel in Madrid kann erfolgreich sein, wenn er
        zusammen mit Wirtschafts- und Handelsfragen Armuts-
        bekämpfung, Klima, Menschenrechte und Demokratie
        zum Thema macht und in allen Bereichen zu substanziel-
        len und nachhaltigen Vereinbarungen kommt.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Alle BND-Akten
        zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen (Zu-
        satztagesordnungspunkt 5)
        Clemens Binninger (CDU/CSU): Die aktive Be-
        schäftigung mit unserer Geschichte und der Verantwor-
        tung, die uns daraus erwächst, ist eine wichtige Aufgabe,
        der wir uns stellen müssen und der wir uns auch stellen.
        Die Bundesregierung unterstützt diese wichtige Aufgabe
        auf vielfältige Weise. Bekannte Einrichtungen, die der
        Bund fördert, sind das Deutsche Historische Museum in
        Berlin, das Haus der Geschichte in Bonn, das Zeitge-
        schichtliche Forum in Leipzig, die Topographie des Ter-
        rors und das jüngst ins Leben gerufene Zentrum gegen
        Vertreibungen. Die wichtigste Einrichtung ist jedoch das
        Bundesarchiv in Koblenz, das auch die historischen Ak-
        ten des Bundesnachrichtendienstes verwaltet.
        Arbeitsgrundlage des Bundesarchivs ist das Bundes-
        archivgesetz. Darin ist ganz klar und völlig eindeutig ge-
        regelt, dass die Verfassungsorgane und Behörden des
        Bundes alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öf-
        fentlichen Aufgaben einschließlich der Wahrung der Si-
        cherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ih-
        rer Länder nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv
        oder dem jeweils zuständigen Landesarchiv zu überge-
        ben haben. Als Bundesoberbehörde unterliegt selbstver-
        ständlich auch der Bundesnachrichtendienst den Bestim-
        mungen des Bundesarchivgesetzes. Das heißt ganz
        konkret, dass diejenigen Unterlagen, die der Bundes-
        nachrichtendienst zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht
        mehr benötigt, dem Bundesarchiv in Koblenz als Ar-
        chivgut übergeben werden. Dieser Verpflichtung kommt
        der Bundesnachrichtendienst nach. Er hat bisher rund
        2 000 Akten, 300 Mikrofilme, 74 000 Fotos und
        129 000 Negative abgegeben.
        Diese beeindruckenden Zahlen, meine Damen und
        Herren von der Linken, machen deutlich, dass das Bun-
        desarchiv in Koblenz die selbstverständliche Endstation
        aller regierungsbehördlichen Akten ist, selbstverständ-
        lich auch der Akten des Bundesnachrichtendienstes. Die
        Zahlen belegen außerdem – und um diese Frage geht es
        heute –, dass der Bundesnachrichtendienst sich keines-
        wegs der Aufarbeitung seiner Geschichte widersetzt,
        sondern sich aktiv darum bemüht. Archivgut aus dem
        Bundesnachrichtendienst erfährt im Bundesarchiv keine
        Sonderbehandlung, sondern wird wie alle anderen regie-
        rungsbehördlichen Akten archiviert. Das bedeutet, die
        Unterlagen sind Journalistinnen und Journalisten ge-
        nauso wie Historikerinnen und Historikern in der Regel
        nach Ablauf der allgemeinen gesetzlichen Schutzfristen
        zugänglich.
        Naturgemäß unterliegen bestimmte Unterlagen staat-
        licher Behörden strengen Geheimschutzbestimmungen.
        Einzelne Akten des Bundesnachrichtendienstes können
        beispielsweise nicht veröffentlicht werden, weil sie von
        befreundeten Nachrichtendiensten stammen, die eine
        Veröffentlichung ablehnen. In anderen Fällen ist eine
        3980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Veröffentlichung nicht möglich, weil sie den Schutz von
        Informanten oder anderen Personen gefährden würde.
        Solche Akten durch Sperrerklärungen zu schützen ist
        sinnvoll, und ich sehe keinen vernünftigen Grund, an
        dieser Praxis irgendetwas zu ändern. Ich sehe dagegen
        die reale Gefahr, dass Informanten und befreundete
        Dienste uns zukünftig weit weniger Informationen zur
        Verfügung stellen würden, wenn wir diese Praxis ändern
        sollten.
        In Ihrem Antrag nehmen Sie konkret auf die Akten
        des Bundesnachrichtendienstes zum Fall Adolf
        Eichmann Bezug. Nachdem eine Journalistin Informa-
        tionen zu Adolf Eichmann im weitesten Sinne angefragt
        hatte, verweigerte das Bundeskanzleramt dem Bundes-
        nachrichtendienst die Freigabe der betreffenden Akten.
        Wesentliche Gründe für die Sperrerklärung waren Nach-
        teile für das Wohl des Bundes durch die Beeinträchti-
        gung auswärtiger Beziehungen, die durch die Offen-
        legung entstehen würden, sowie der Schutz von Infor-
        manten. Dagegen hatte die Journalistin geklagt. Das
        Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss, der
        am 30. April 2010 bekannt gegeben wurde, die vorgetra-
        genen Geheimhaltungsgründe nicht als solche infrage
        gestellt, aber eine stärkere konkrete Zuordnung zu den
        jeweiligen Aktenbeständen gefordert. Grundsätzlich hat
        das Gericht den Aspekt der fortdauernden Schutzwür-
        digkeit bestimmter personenbezogener Daten, etwa in
        Bezug auf Informanten, aber anerkannt.
        Die öffentliche Darstellung nachrichtendienstlichen
        Handelns findet naturgemäß im Spannungsfeld zwischen
        notwendigem Geheimschutz und wünschenswerter
        Transparenz statt. Diese Feststellung gilt selbstverständ-
        lich auch für die historische Darstellung. Dass der Bun-
        desnachrichtendienst hier nicht mauert, sondern dort, wo
        es möglich ist, die Öffentlichkeit über sein Handeln in-
        formiert, hat er in der jüngsten Vergangenheit immer
        wieder unter Beweis gestellt. Zum 20-jährigen Jubiläum
        des Mauerfalls im vergangenen Jahr hat der Bundes-
        nachrichtendienst dem Bundesarchiv beispielsweise
        durch eine Schutzfristverkürzung ermöglicht, Erkennt-
        nisse aus den Wendejahren schon heute der Öffentlich-
        keit zugänglich zu machen. Konsequent wurden auch
        Akten zur Tätigkeit ehemaliger Angehöriger des Reichs-
        sicherheitshauptamts, der Gestapo, des Sicherheitsdiens-
        tes und der Geheimen Feldpolizei für den Bundesnach-
        richtendienst zugänglich gemacht. Sie liegen der
        Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Auf-
        klärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigs-
        burg vor, die eng mit dem Bundesarchiv zusammenar-
        beitet. Dies zeigt, dass keine Rede davon sein kann, der
        Bundesnachrichtendienst oder das Bundeskanzleramt
        behinderten die historische Forschung oder die Aufar-
        beitung der Vergangenheit. Genau das Gegenteil ist der
        Fall: Zur Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt der
        Bundesnachrichtendienst alleine in diesem Jahr über fi-
        nanzielle Mittel in Höhe von rund 500 000 Euro.
        Spekulationen, wie sie die Linke jetzt mit ihrem An-
        trag betreibt, der Bundesnachrichtendienst habe die Er-
        greifung nationalsozialistischer Verbrecher vereitelt,
        schaden dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland
        und entbehren überdies jeglicher Grundlage. Der Deut-
        sche Bundestag hat mit dem Parlamentarischen Kon-
        trollgremium eine Einrichtung, in der Vertreter aller
        Fraktionen, auch der Linken, über die Arbeit der Nach-
        richtendienste informiert werden. Sollte es vonseiten der
        Linken Informationsbedarf geben, schlage ich vor, dies
        im Parlamentarischen Kontrollgremium auf die Tages-
        ordnung zu setzen, anstatt in wilde Spekulationen zu
        verfallen.
        Der Antrag der Linken ist daher abzulehnen.
        Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Licht ins
        Dunkel der Vergangenheit unseres Auslandsnachrichten-
        dienstes zu bringen, muss ein gemeinsames Bemühen
        der Regierung wie des gesamten Parlaments sein. Denn
        nur dann, wenn auch endlich bei den Sicherheitsbehör-
        den offen darüber berichtet und geredet werden kann,
        wie insbesondere in der Gründungszeit während der
        Adenauer-Ära Altnazis wieder Platz gefunden haben,
        werden wir Lehren für die Zukunft ziehen können. Wer
        die unschöne Anfangsgeschichte vertuschen will, der
        verhindert Vertrauen, schürt Misstrauen und Zweifel,
        gibt Raum für Spekulationen und Unterstellungen. Wer
        sie aber aufarbeitet, der schafft Vertrauen und ist sicher-
        lich alles andere als ein Nestbeschmutzer.
        Vorbildlich und mutig hat BKA-Präsident Ziercke be-
        reits die hässlichen Seiten der Geschichte seiner Behörde
        wissenschaftlich analysieren lassen. Der Präsident des
        Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, treibt seiner-
        seits die Aufarbeitung der Geschichte des BND voran.
        So ist es auch sein Verdienst, dass das Bundeskanzleramt
        500 000 Euro in 2010 dafür bereitgestellt hat. Im März
        dieses Jahres wurden erstmals geheime Akten zum
        Thema freigegeben. Wer also seriös nach Transparenz
        fragt, muss auch dies in Rechnung stellen und darf nicht
        in boshafter Weise Verweigerung unterstellen.
        Übrigens: Zur ganzen Wahrheit gehört die Erinnerung
        daran, dass nicht nur westliche Dienste – vielleicht da
        und dort unvermeidlicherweise – auf ehemalige Nach-
        richtenoffiziere des Hitlerreiches zurückgriffen, sondern
        auch der KGB war munter unterwegs, um sie anzuwerben.
        Nun ist das mit geheimen Nachrichtendiensten aber
        so eine Sache. Sie agieren nämlich naturgemäß geheim,
        wie vielleicht manchen entgeht, die gerne – stets verbun-
        den mit dunklen Andeutungen und üblen Unterstellun-
        gen – völlige Offenheit und Transparenz dort fordern.
        Sie werden kaum ein Land auf der Erde finden, das
        seine Nachrichtendienste so umfassend und tiefgehend
        parlamentarisch kontrollieren lässt. Damit fahren wir
        gut. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind wir ja
        auch gebrannte Kinder, die verhindern wollen, dass
        „Schlapphüte“ ein Eigendasein führen. Mit dem Parla-
        mentarischen Kontrollgremium, dessen Rechte wir in der
        vergangenen Wahlperiode auf Initiative der damaligen
        Regierungsfraktionen erheblich ausgebaut haben, verfügen
        wir zum Beispiel über ein gutes, wenn auch nicht perfek-
        tes Instrument, um dies zu verhindern.
        Das Verfassungsgericht hat außerdem die Rechte des
        Deutschen Bundestages im vergangenen Jahr weiter ge-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3981
        (A) (C)
        (D)(B)
        stärkt. Das gehört genauso zur Wahrheit wie die ständig
        nötige Mahnung, doch mehr Transparenz walten zu lassen.
        Wahr ist und bleibt aber auch: Nicht alles kann einfach
        so in die Öffentlichkeit gezerrt werden, wenn wir unsere
        Sicherheitsinteressen, die Funktionsfähigkeit unserer
        Dienste, die im Auftrag unseres freiheitlichen Rechts-
        staates ihre Pflicht tun, sowie den Austausch mit ihren
        Partnern nicht gefährden wollen. In diesem Spannungs-
        feld bewegt sich in Wahrheit die Auseinandersetzung
        mit der Geschichte wie der Gegenwart des BND.
        Anstatt also billig ideologische Feindbilder zu pflegen,
        dürfen wir unserem Auslands- wie unserem Inlandsge-
        heimdienst gelegentlich auch einmal Danke sagen für
        ihre Pflichterfüllung für unser Land, zum Beispiel beim
        Schutz unserer Soldaten im Ausland und bei der Abwehr
        von Angriffen islamistischer oder anderer Terroristen.
        Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Linken grei-
        fen nach dem jüngst erfolgten Urteil des Bundesverwal-
        tungsgerichtes über die BND-Akten zum Eichmann-Pro-
        zess ein Thema auf, das die FDP-Fraktion bereits in der
        letzten Wahlperiode des Bundestages aufgegriffen hat:
        die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Nach-
        richtendiensten. Wir haben dazu eine Kleine Anfrage ge-
        stellt, die die damalige Bundesregierung im Dezember
        2007 beantwortet hat. Die FDP steht nach wie vor dazu:
        Die Aufarbeitung der Vergangenheit insbesondere per-
        soneller Kontinuität von Geheimdiensten unter dem natio-
        nalsozialistischen Regime und dem frühen BND bleibt
        ein wichtiges Anliegen.
        Diese Aufarbeitung ist grundsätzlich wichtig und
        richtig. Allerdings gehen die Vorstellungen der Linken
        doch zu weit. Schon die Begrifflichkeit der Linken
        stimmt bedenklich, denn die Formulierung „deutscher
        Faschismus“, mit der die Linke den DDR-Brauch fort-
        setzt, die historisch richtige Bezeichnung „Nationalso-
        zialismus“ zu vermeiden, schafft eine irreführende Nähe
        zum italienischen Faschismus, der zu einem verharmlo-
        send-relativierenden Verständnis der NS-Zeit führen
        könnte. Zugleich leugnet er den sozialistisch-revolutio-
        nären Anspruch des NS-Regimes, der konstituierend für
        sein Profil und seinen Erfolg bei den breiten Massen in
        Deutschland war und den die jüngere Forschung heraus-
        gearbeitet hat.
        Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass
        die Akten des Falles Eichmann durch den BND nicht
        komplett gesperrt werden dürfen. „Nicht komplett sper-
        ren“ heißt aber auch: nicht komplett freigeben. Hier
        muss aus Gründen des Staatswohls und im Interesse der
        Funktionsfähigkeit des Dienstes sicherlich genau im
        Einzelfall geprüft werden, was für die Öffentlichkeit
        freigegeben werden kann.
        Allerdings haben auch wir Liberalen uns gegen die re-
        striktive Aktenvorlagepraxis auch des BND positioniert.
        Keine komplette Freigabe heißt jedoch nicht, dass wir et-
        was verschleiern oder vertuschen wollen. Aufarbeitung
        ist wichtig und mit dem gegebenen historischen Abstand
        auch in vielen Fällen im Hinblick auf den Persönlich-
        keitsschutz Betroffener problemlos geworden. Aber man-
        che Frage dieser historischen Aufdeckung kann und sollte
        auch, wenn Akten im Einzelfall aus nachvollziehbaren
        Gründen nicht freigegeben werden können, über das für
        die Dienste zuständige Gremium des Bundestages, das
        PKGr, erfolgen. Zusätzliche finanzielle Mittel sind hierzu
        nicht erforderlich. Die historischen Lehrstühle der Uni-
        versitäten und andere Forschungseinrichtungen werden,
        wenn mehr Aktenmaterial zugänglich wird, diese Mög-
        lichkeit auch ohne die von den Linken beantragten Sub-
        sidien zu nutzen wissen.
        Jan Korte (DIE LINKE): Am kommenden Samstag
        jährt sich zum 65. Mal der Jahrestag der Befreiung vom
        NS-Faschismus. Damit endete auch die industrielle Ver-
        nichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden. Der Ho-
        locaust war ein Zivilisationsbruch, und er wurde arbeits-
        teilig, bürokratisch und mit bis ins Detail ausgefeilten
        Fahrplänen in die Todesfabriken durchgeführt. Und klar
        war auch: In diesen größten Massenmord aller Zeiten
        waren viele, sehr viele verwickelt, und noch mehr wuss-
        ten, was geschieht – spätestens seit Ende 1941. Voran-
        gegangen war eine beispiellose, systematische Entrech-
        tung von Jüdinnen und Juden, nach biologischen
        Kriterien, die schließlich in den Massenmord führte.
        Mittlerweile gibt es eine hervorragend erschlossene
        Quellenlage über den Nationalsozialismus, den Zweiten
        Weltkrieg und den Holocaust. Besonders das Standard-
        werk Raul Hilbergs hat die Einzigartigkeit des Holocaust
        dokumentiert. In den letzten Jahrzehnten rückte dement-
        sprechend der Umgang mit dem NS-Regime in der Bun-
        desrepublik in den Fokus der Wissenschaft und eben
        auch der Politik.
        Der heute vorliegende Antrag „Alle BND-Akten zum
        Thema NS-Vergangenheit offenlegen“ macht deutlich,
        dass die Politik der Wissenschaft hinterherhinkt. Die
        massenhafte Verstrickung von Behörden und Personen
        in die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre
        spätere Rolle in Politik und Verwaltung der Bundesrepu-
        blik sind in sehr vielen Teilen erforscht und belegt. Dies
        geschah allerdings nicht freiwillig: Jede kritische
        Erschließung, jede juristische Verfolgung von NS-Ver-
        brechen und jede öffentliche Auseinandersetzung muss-
        ten stets erstritten werden. Und das hatte Gründe: Der
        Politikwissenschaftler Professor Joachim Perels hat die
        50er-Jahre beschrieben: „Die Signatur der frühen 50er-
        Jahre wurde aber überwiegend, wie gerade neuere For-
        schungen gezeigt haben, von einer Politik des Verges-
        sens, vor allem der Staatsverbrechen und der Abwehr
        ihrer Ahndung, bestimmt, die von der evangelischen und
        katholischen Kirche, von der Mehrheit der Bevölkerung
        und der öffentlichen Meinung getragen wurde.“
        Dementsprechend wurde fast kein NS-Richter verur-
        teilt, die meisten schwer NS-belasteten Beamten kehrten
        in die Verwaltungen zurück, und viele Gestapo-Beamte
        bildeten das Personal von Polizei und Ermittlungsbehör-
        den. Die Zahl der inhaftierten Kriegsverbrecher sank
        von 1950 bis 1952 von 3 400 auf 1 258 Personen, wie
        der Historiker Norbert Frei belegt. Schon zwei Jahre
        nach Gründung der BRD waren zum Beispiel 66 Prozent
        der führenden Beamten des Auswärtigen Amtes ehema-
        3982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        lige NSDAP-Mitglieder, mehr als 25 Prozent der Abtei-
        lungsleiter der Ministerien ebenso. Globke und Oberlän-
        der waren nur die Spitze des Eisberges. Ein wesentlicher
        Teil der Funktionseliten des NS-Regimes, der Wehr-
        macht, der Justiz und der Wirtschaft nahm wichtige
        Schlüsselstellungen im neuen Staat ein. Die Hauptflos-
        kel fast aller in den Terror Verstrickten lautete: Hitler
        war es! Ein Schuldeingeständnis, Reue oder gar der
        Wille, die Verbrechen und die individuelle Verstrickung
        politisch und juristisch aufzudecken – leider Fehlan-
        zeige.
        Diese ausgewählten Punkte machen deutlich, wie
        schwer die kritische Aufarbeitung des NS-Regimes, ins-
        besondere was ihre Funktionseliten und deren Rolle in
        der Bundesrepublik angeht, gewesen ist und welche Hin-
        dernisse hiergegen aufgebaut wurden. Es zeigt, dass eine
        Auseinandersetzung, Forschung und politischer Ent-
        scheidungswillen notwendig sind.
        Nachdem beispielsweise das BKA mit der wissen-
        schaftlichen Aufarbeitung der Verstrickung von Mitar-
        beitern in das NS-System eine große Resonanz erfahren
        konnte, geht es im vorliegenden Antrag um die Rolle des
        BND und die heutige Frage: Warum mauern die Bundes-
        regierung und der BND bei der vollständigen Offenle-
        gung der Akten, in denen es um die Verstrickung von
        NS-Tätern bei der Gründung der Organisation Gehlen,
        der Vorläuferorganisation des BND geht?
        Heute, fast genau auf den Tag 65 Jahre nach Ende des
        Krieges, muss mit solch einer Behinderungspraxis end-
        lich Schluss sein. Es sollte in diesem Haus Einigkeit
        darüber herrschen, dass die rückhaltlose Aufarbeitung
        der NS-Vergangenheit zentral für unsere Demokratie ist
        und dass sie in den letzten 60 Jahren viel zu zögerlich
        und langsam voranging. Wir sollten heute dafür plädie-
        ren, alle Beschränkungen der wissenschaftlichen Aufar-
        beitung der Geschichte des BND im Zusammenhang mit
        personellen Kontinuitäten zum NS-Regime und seiner
        Rolle in der Bundesrepublik bei der Verfolgung von NS-
        Tätern aufzuheben.
        In diesem Zusammenhang ist von besonderem Inte-
        resse, ob und welche Rolle der BND im Fall Eichmann
        spielte. Es kann ja kein Zufall sein, dass der bewun-
        dernswerte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
        seine Ermittlungsergebnisse eben nicht mit deutschen
        Stellen und Geheimdiensten austauschte. Bauer reiste
        nach Israel, um sich dort mit dem Generalstaatsanwalt
        Haim Cohn auszutauschen, was schließlich zu konkreten
        Schritten führte. Diese Umstände und die Frage, ob deut-
        sche Stellen und Dienste gegen eine Verfolgung Eich-
        manns agierten, muss endlich aufgeklärt werden. Der
        Bundestag ist es auch mutigen Menschen wie Fritz
        Bauer schuldig, alles offenzulegen, was diese Frage auf-
        klären kann. Offenbar hatte der BND damals Informatio-
        nen über Eichmann und verschwieg sie gegenüber den
        Justizbehörden.
        Die Autorin Irmtrud Wojak schreibt über Bauers Er-
        mittlungen gegen Eichmann: „Fritz Bauer informierte
        den israelischen Geheimdienst und seinen Regierungs-
        chef Georg August Zinn über den Aufenthaltsort Eich-
        manns – niemanden sonst. Fürchtete er, dass durch offi-
        zielle Maßnahmen Eichmann beizeiten gewarnt worden
        und wiederum entflohen wäre?“ – Und sie stellt fest:
        „Nicht zuletzt vertrat mit Werner Junkers ein ehemaliger
        Nationalsozialist, der schon im Auswärtigen Amt der
        NS-Zeit tätig gewesen war, die Deutsche Botschaft in
        Buenos Aires.“ Diese Fragen und Zusammenhänge müs-
        sen endlich offengelegt werden.
        All diese Fragen müssen beantwortet werden. Wir
        sollten gerade auch den vielen jungen Wissenschaftlerin-
        nen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, die
        Geschichte weiter aufzuarbeiten. Daher wird die Bun-
        desregierung in dem heute eingebrachten Antrag aufge-
        fordert – dies sind die Kernforderungen –, erstens den
        freien Zugang zu BND-Akten, die im Zusammenhang
        mit personellen Kontinuitäten zum NS-Regime stehen,
        zu gewährleisten und zweitens alle Akten im Zusam-
        menhang mit der juristischen Verfolgung von NS-Ver-
        brechen und besonders mit dem Fall Eichmann der Wis-
        senschaft und Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
        Die Bundesregierung sollte ein Interesse an einer wei-
        teren kritischen Aufarbeitung dieses Kapitels der Ge-
        schichte haben. Der vorliegende Antrag ist ein weiterer
        Schritt für eine kritische Auseinandersetzung beim Um-
        gang mit der NS-Vergangenheit in der Geschichte der
        Bundesrepublik Deutschland. Zugleich kann er die Mög-
        lichkeit bieten, zu diskutieren, wie mit der NS-Zeit in der
        Bundesrepublik umgegangen wurde und wird. Und er ist
        als Aufforderung zu verstehen, alle noch nicht unter-
        suchten Verstrickungen und verdrängten Zusammen-
        hänge in staatlichen Stellen und der Wirtschaft aufzude-
        cken.
        Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Es wird Sie nicht überraschen: Der Antrag, die BND-
        Akten zur NS-Vergangenheit zu öffnen, findet unsere
        volle Unterstützung. Wir haben dafür mindestens zwei
        gute Gründe. Grund Nummer eins: Die zeitgeschichtliche
        Forschung braucht die Eichmann-Akten. Dazu ist schon
        viel Richtiges gesagt worden. Eichmann wurde in Argen-
        tinien sehr wahrscheinlich gedeckt, und wie wir alle wis-
        sen, gab es viele Eichmänner in Deutschland und etliche,
        die ihnen nach dem Krieg geholfen haben, möglicher-
        weise auch im BND. Das muss breit erforscht werden.
        Es geht also um die Rolle des BND, es geht um seine
        NS-vorbelasteten Mitarbeiter aus der Organisation Gehlen.
        Aber es geht gerade nicht um den Quellenschutz oder die
        Zusammenarbeit mit anderen Diensten. Wir sprechen
        hier über zeitgeschichtliche Vorgänge, über die wir drin-
        gend mehr wissen müssen.
        Jetzt könnten sie als Bundesregierung und vor allem
        könnte das Kanzleramt ein Zeichen setzen. Sie könnten
        die historische Aufarbeitung selbst in die Hand nehmen, die
        dazu notwendigen Mittel bereitstellen und unabhängige
        Historiker mit der Auswertung beauftragen – Joschka
        Fischer hat das im Auswärtigen Amt getan. Aber sie ver-
        weigern sich dem, und sie sperren sogar die Akten für die
        wissenschaftliche Forschung. Es ist ein Unding, dass eine
        Bürgerin erst zum obersten deutschen Verwaltungsgericht
        gehen muss, damit Informationen von öffentlichem In-
        teresse über Vorgänge im BND aus den 50er- und 60er-
        Jahren auch wirklich an die Öffentlichkeit gelangen.
        Mein Kollege Christian Ströbele fragte die Bundesregie-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3983
        (A) (C)
        (D)(B)
        rung, warum sie das tut. Sie hat geantwortet, dass sie das
        Interesse der Öffentlichkeit mit sicherheitspolitischen
        Belangen – ich zitiere wörtlich – „sorgfältig abwägen
        würde“. Was ist denn das für eine Abwägung, wenn sie
        am Ende immer Nein sagen? Das ist allenfalls ein sorg-
        fältiges Mauern.
        Das Schlimmste ist aber, dass das Boykottieren und der
        falsch verstandene Schutz der Geheimdienste bei Ihnen
        schon System hat. Und das ist der zweite Grund, warum
        wir dem Antrag zustimmen werden. Sie haben bei den
        Eichmann-Akten vor dem Bundesverwaltungsgericht
        verloren, weil sie Geheimdienstbelange pauschal höher
        als Auskunftsrechte bewerten. Die Begründung, die das
        Gericht gegeben hat, sollte ihnen verdächtig bekannt
        vorkommen. So wichtig sind die Informationen nicht, sagt
        das Bundesverwaltungsgericht, und wenn es schützens-
        werte Belange in Einzelfällen gibt, kann man deswegen
        noch nicht den gesamten Aktenbestand sperren. Das ist
        es aber, was Sie immer wieder tun. Schon in der vergange-
        nen Wahlperiode haben Sie eine Klage unserer Fraktion
        vor dem Bundesverfassungsgericht verloren. Auch da
        hatten Sie, wie jetzt wieder, pauschal die Wünsche der
        Dienste erfüllt. Damit haben Sie das Fragerecht des Par-
        laments verletzt. Wenn es tatsächlich echte und nicht nur
        behauptete Geheimhaltungsbedürfnisse geben sollte,
        dann gibt es immer noch die Möglichkeit, diese geforder-
        ten Auskünfte im Parlamentarischen Kontrollgremium
        abzugeben. Aber bei dieser Missachtung sind wir Parla-
        mentarierinnen und Parlamentarier in guter Gesellschaft.
        Denn Sie handhaben es bei den Bürgerinnen und Bürgern
        genauso. Am Dienstag hat Ihnen der Bundesbeauftragte
        für den Datenschutz und die Informationsfreiheit vorge-
        rechnet, dass die Ministerien sich allzu oft auf schützens-
        werte „Regierungstätigkeit“ berufen und Informationen
        verweigern, diese Verweigerung aber in zwei Dritteln
        der geprüften Fälle mindestens rechtlich zweifelhaft ist.
        Ich fasse zusammen: Wir müssen uns dringend mit
        den braunen Wurzeln des BND auseinandersetzen; das ist
        längst überfällig. Und die Auskunftsverweigerung ist bei
        Ihnen leider kein Einzelfall. Das ist bei Ihnen Methode.
        Welches Rechtsstaatsverständnis haben Sie eigentlich,
        wenn Sie Ihre eigenen Gesetze nicht anwenden? Diese
        Bundesregierung tut so, als stünde das Recht auf Informa-
        tionsfreiheit nicht im Grundgesetz. Das muss aufhören.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
        Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsregelung/
        Vermeidung von Kettenduldungen)
        – Antrag: Für eine wirksame und stichtagsun-
        abhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung
        im Aufenthaltsgesetz
        (Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7)
        Helmut Brandt (CDU/CSU): Das Thema Bleibe-
        recht für langjährig in Deutschland lebende ausreise-
        pflichtige Ausländer war in den letzten Jahren sowohl
        auf Bundes- als auch auf Landesebene immer wieder
        Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen
        und kontrovers geführten Diskussionen, insbesondere
        vor dem Ablauf der ursprünglichen Regelungsfrist zum
        31. Dezember 2009.
        Auch heute ist das Thema Bleiberecht wieder Gegen-
        stand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Zugrunde
        liegt dieser Debatte zum einen ein Gesetzentwurf der
        Fraktion Die Linke, mit dem das Aufenthaltsgesetz in ei-
        nigen Punkten geändert werden soll, und zum anderen
        ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit
        diesem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert,
        einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsge-
        setzes vorzulegen.
        Die Linke fordert eine Änderung des § 25 Aufent-
        haltsgesetz dahin gehend, Ausländern statt einer Dul-
        dung eine sofortige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen,
        wenn die Abschiebung rechtlich oder tatsächlich unmög-
        lich ist. Allein die zu weite Formulierung würde Miss-
        brauch Tür und Tor öffnen.
        Außerdem fordert sie die Einfügung eines neuen
        § 25 a Aufenthaltsgesetz – Aufenthaltserlaubnis bei län-
        gerfristigem Aufenthalt –, der die Gewährung eines dau-
        erhaften Bleiberechts für diejenigen Personen vorsehen
        soll, die seit fünf Jahren in Deutschland leben – für be-
        sonders schutzbedürftige Personen bereits früher. Eine
        besondere nachvollziehbare Begründung für die Fünf-
        jahresfrist bietet der Entwurf und seine Begründung al-
        lerdings nicht.
        Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a, 104 b
        Aufenthaltsgesetz soll aufgehoben werden. Stattdessen
        sollen gemäß einem neu einzufügenden § 25 a Aufent-
        haltsgesetz bereits erteilte Aufenthaltserlaubnisse ohne
        die Bedingungen einer eigenständigen Lebensunterhalts-
        sicherung als Aufenthaltserlaubnis fortgelten.
        Nicht zuletzt soll § 2 Abs. 3, der die Sicherung des
        Lebensunterhalts regelt, dahin gehend ergänzt werden,
        dass der Erwerbstätigenfreibetrag bei der Ermittlung des
        Einkommens keine Berücksichtigung finden soll. Dies
        würde dazu führen, dass Transferleistungen als Einkom-
        men gewertet werden müssten.
        Begründet wird der Gesetzentwurf im Wesentlichen
        damit, Kettenduldungen zu vermeiden. Die Ergänzung
        in § 2 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz wird darauf gestützt,
        dass nach derzeitiger Rechtslage in vielen Fällen selbst
        bei voller Erwerbstätigkeit die eigenständige Lebensun-
        terhaltssicherung nicht möglich sei.
        Mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die
        Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur
        Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorzulegen. Inhalt-
        lich entspricht dieser Antrag in dem Punkt Bleiberecht
        dem Gesetzentwurf der Linken. Weiterhin wird unter an-
        derem gefordert, die Kriterien für die eigenständige Si-
        cherung des Lebensunterhalts sowie bei den Deutsch-
        kenntnissen abzusenken. Zudem soll die Regelung in
        § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsgesetz gestrichen werden, wo-
        nach begangene Straftaten eines in häuslicher Gemein-
        schaft lebenden Familienmitglieds die Versagung der
        Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder zur
        3984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        Folge hat, zusammenfassend also eine deutliche Herab-
        senkung der Kriterien für ein dauerndes Bleiberecht, mit
        der Folge, dass dieses von der Bevölkerung als unakzep-
        tabel empfunden werden muss.
        Wir stimmen mit Sicherheit darin überein, dass die
        aus der Bleiberechtsregelung in bestimmten Fällen resul-
        tierenden Kettenduldungen für die Betroffenen und auch
        für die Allgemeinheit einen sehr unbefriedigenden Zu-
        stand darstellen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass in
        sehr vielen Fällen die Ursache für die Kettenduldungen
        von den Betroffenen selbst herbeigeführt wird. Insofern
        sehe ich es als sehr problematisch an, dass der hier vor-
        liegende Gesetzentwurf sowie der Antrag die Vorausset-
        zungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an Ge-
        duldete im Vergleich zur Altfallregelung des § 104 a
        AufenthG in einem nicht vertretbaren Umfang herabset-
        zen will.
        In der Konsequenz führen die Forderungen zu einem
        bedingungslosen Daueraufenthaltsrecht. Die in diesen
        Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts beste-
        hende Ausreisepflicht der Betroffenen liefe damit ins
        Leere. Und die Frage, die sich mir dann aufdrängt, ist:
        Können wir eine solche Konsequenz als Gesetzgeber ak-
        zeptieren und widerspricht dies nicht auch dem Gerech-
        tigkeitsgefühl der Allgemeinheit?
        Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Wenn man auch
        eine Lösung des Problems weiter anstreben sollte, so
        stellen die hier vorgelegten Forderungen keine sachge-
        rechte Lösung dar. Insbesondere der Verzicht auf die Vo-
        raussetzung der eigenständigen Lebensunterhaltssiche-
        rung würde eine Sogwirkung mit nicht vorhersehbaren
        Konsequenzen für die Stabilität der sozialen Sicherungs-
        systeme entfalten und die kommunale Ebene mit weite-
        ren zusätzlichen Kosten belasten.
        Den aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise er-
        schwerten Bedingungen für die Aufnahme und Fortset-
        zung einer Erwerbstätigkeit trägt der jüngste IMK-Be-
        schluss Rechnung. Die Lebensunterhaltssicherung der
        Betroffenen war und ist Kern jeder Bleiberechtsregelung
        und muss es meiner Meinung nach auch künftig bleiben.
        Der Erfolg am Arbeitsmarkt als wesentliche Vorausset-
        zung für die wirtschaftliche Integration muss auch wei-
        terhin entscheidender Maßstab für die Beantwortung der
        Frage sein, wer dauerhaft in Deutschland bleiben darf,
        obwohl ein legaler Anspruch nach den einschlägigen ge-
        setzlichen Bestimmungen nicht besteht (kein Bleiberecht
        durch Aussitzen).
        Das bedeutet in der Konsequenz auch, den Aufenthalt
        derjenigen beenden zu können und zu müssen, die kei-
        nerlei Bemühungen um ihre Integration nachgewiesen
        haben. Diese Maxime ist im wohlverstandenen Interesse
        gerade auch jener, die sich in Deutschland legal aufhal-
        ten beziehungsweise sich ernsthaft um ihre Integration in
        Deutschland bemüht haben. Ansonsten ist nämlich der
        Ehrliche der Dumme. Und solch eine Ungerechtigkeit
        birgt meiner Meinung nach einen gesellschaftlich nicht
        vertretbaren Zündstoff.
        Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die An-
        forderungen an die Sprachkenntnisse herabzusetzen,
        lehne ich ebenfalls vehement ab. Wir alle haben in den
        letzten Jahre die Erfahrung gemacht, dass Sprache der
        Schlüssel zur Integration schlechthin ist. Es ist deshalb
        auch nicht im Interesse der Betroffenen selbst, die An-
        forderungen an deren Sprachkenntnisse noch weiter he-
        rabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen
        als Mindeststandard anzusehen.
        Mit der Verlängerung der Altfallregelung haben die
        Betroffenen eine faire Chance erhalten. Sie müssen diese
        aber auch nutzen und sich aktiv um die Sicherung des ei-
        genen Lebensunterhalts sowie den Erwerb befriedigen-
        der Sprachkenntnisse kümmern. Aus meiner Sicht
        spricht deshalb einiges dafür, zunächst den Erfolg der
        durch den IMK-Beschluss erfolgten Verlängerung der
        Altfallregelung bis Ende 2011 abzuwarten, als unmittel-
        bar nach der Verabschiedung dieses Beschlusses die ge-
        setzlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Auf-
        enthaltstitels an Geduldete zu erweitern.
        Rüdiger Veit (SPD): Wir sprechen heute erneut über
        ein Thema, das wir nun schon wahrlich oft behandelt ha-
        ben. Doch ist dies eine notwendige Wiederholung; denn
        nach wie vor leben in Deutschland rund 89 000 Men-
        schen mit einer Duldung, viele von ihnen seit vielen Jah-
        ren. Zwar haben wir mit den vorangegangenen Altfallre-
        gelungen bereits einiges erreicht. Die eben genannten
        Zahlen liegen weit unter den Zahlen, mit denen wir noch
        2007 konfrontiert waren, als wir in der Großen Koalition
        die gesetzliche Altfallregelung beschlossen haben. Und
        dennoch, das Problem der Kettenduldungen ist längst
        nicht gelöst.
        Deshalb hat meine Fraktion bereits im vergangenen
        Dezember einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir
        langjährig hier lebenden geduldeten Menschen eine Per-
        spektive bieten möchten. In diesen Tagen haben nun auch
        die beiden anderen Oppositionsfraktionen ihre eigenen
        Vorschläge vorgelegt. Im Interesse der Sache und dieses
        wichtigen Themas kann ich dies nur begrüßen. Ich
        möchte deshalb hier nicht im Detail auf die Unterschiede
        zwischen den vorliegenden Vorschlägen eingehen. Dass
        wir Sozialdemokraten unseren Gesetzentwurf für den
        durchdachteren und weiterführenderen, für den besser zu
        realisierenden halten, brauche ich an dieser Stelle nicht
        ernsthaft zu betonen, zumal die „Reden“ heute wiederum
        und bedauerlicherweise lediglich zu Protokoll gegeben
        werden. Ich verweise daher auf meine Einbringungsrede
        vom 17. Dezember 2009. Der Interessierte kann also im
        entsprechenden Plenarprotokoll nachlesen und im Übri-
        gen auch unseren Entwurf eines Gesetzes zur Altfallrege-
        lung (Drucksache 17/207 vom 15. Dezember 2009) mit
        dem heute eingereichten vergleichen.
        Ich möchte vielmehr eine Gemeinsamkeit herausstel-
        len: Die Regierungskoalition irrt, wenn sie meint, dass
        die von den Innenministern der Länder beschlossene
        Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe aus
        dem vergangenen Dezember das Problem insoweit löst,
        als wir es bis Ende Dezember 2011 liegen lassen können.
        Das können wir aus mehreren Gründen nicht. Zum einen
        ist auch diese Verlängerung eine Stichtagsregelung. Wir
        sind aber davon überzeugt, dass es einer nicht stichtags-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3985
        (A) (C)
        (D)(B)
        bezogenen, einer sogenannten rollierenden Regelung be-
        darf: Unabhängig von einem fixierten Datum müssen
        Menschen nach mehreren Jahren, in denen sie hier Wur-
        zeln geschlagen, Kinder bekommen und sich in die hie-
        sige Gesellschaft integriert haben, die Chance auf eine
        Perspektive in Deutschland bekommen. Zum anderen
        haben wir im vergangenen Herbst mit ansehen müssen,
        dass die Koalition sich aus ihrer Verantwortung als Ge-
        setzgeber gestohlen hat. Sie hat die Betroffenen bis zum
        letzten Moment zittern lassen, bis die Innenministerkon-
        ferenz – vor allem auf Betreiben der SPD-regierten Län-
        der, deren Verantwortlichen ich an dieser Stelle noch
        einmal ausdrücklich dafür danken möchte – einer Ver-
        längerung der Fristen zugestimmt hat. Die SPD-Bundes-
        tagsfraktion hatte sich zuvor vergeblich bemüht, die
        Union zu Zeiten der Großen Koalition davon zu über-
        zeugen, diese notwendige Verlängerung im Deutschen
        Bundestag zu verabschieden.
        Vielleicht gelingt es ja diesmal – ich gebe die Hoff-
        nung jedenfalls nicht auf –, mithilfe von externem Sach-
        verstand in einer öffentlichen Anhörung die augenblick-
        lich regierende Koalition endlich von der tatsächlichen
        Notwendigkeit schnellen gesetzgeberischen Handelns in
        Fragen des Bleiberechts zu überzeugen.
        Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Innenminis-
        terkonferenz hat Ende letzten Jahres die Bleiberechtsre-
        gelung um zwei Jahre verlängert. Die FDP hat das nach-
        drücklich begrüßt. Die Vereinbarung der Innenminis-
        terkonferenz und auch die progressiven Äußerungen vor
        und während der Innenministerkonferenz sind eine gute
        Basis. Das gibt uns Zeit, eine dauerhafte Regelung zu
        finden, die das Problem der Kettenduldungen nachhaltig
        löst. Darüber hinausgehende Vorschläge sind derzeit Ak-
        tivismus.
        Die Sachlage bleibt unverändert: Wenn bei lange ge-
        duldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung
        nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch
        eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rech-
        nung getragen werden. Die Kettenduldungen müssen
        einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden; wir brau-
        chen für alle, insbesondere auch für die bisher „Gedulde-
        ten“, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.
        Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleibe-
        rechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren
        Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits
        aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern,
        dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerin-
        nen und Bürgern findet.
        In den Vorlagen wird zwar tapfer das erstgenannte
        Problem thematisiert, aber keine Lösung für das zweite
        aufgezeigt. Tatsächliche Integration in Deutschland
        muss das zentrale Kriterium sein. Der eigenständige
        Lebensunterhalt ist dabei von entscheidender Bedeu-
        tung.
        Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer
        eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen
        verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland
        suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion
        Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche
        Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr er-
        weist Die Linke damit den Bemühungen um Ausländer-
        integration einen Bärendienst. Wer einem schrankenlo-
        sen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer
        Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ableh-
        nung von Zuwanderern in der Bevölkerung.
        Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigen-
        ständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sehr wohl
        ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das
        dient der Integration. Zuwanderer sind zu fördern, aber
        selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demo-
        kratie und der Rechtsstaat, die Grund- und Menschen-
        rechte sind das für alle geltende Fundament unserer Ge-
        sellschaft.
        Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
        von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial-
        systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
        die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie
        falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur
        Anspruchsdenken fördert.
        Wir Liberalen wollen dagegen eine neue Kultur des
        Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf
        Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per-
        spektiven eröffnet.
        Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Bundesinnenminister
        und die Regierungsfraktionen haben erklärt, dass sie
        keine Korrekturen beim Bleiberecht beabsichtigen, so-
        lange die IMK-Regelung von Ende 2009 gilt. In anderen
        Worten: Sie wollen bis zum Jahr 2012 untätig bleiben!
        Diese Seelenruhe können Sie von uns nicht verlan-
        gen. Denn weit über 100 000 Menschen müssen weiter-
        hin in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit leben, obwohl
        sie bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland
        sind. Immer noch werden Familien mit Kindern, aber
        auch alte und kranke Menschen, die faktisch längst zu
        Inländern geworden sind, morgens von der Polizei aus
        ihren Betten geholt und gewaltsam in absolutes Elend
        abgeschoben. Das Schicksal dieser Menschen zwingt
        uns als Parlament dazu, schnell eine wirksame, humani-
        täre Lösung zu finden – die Innenminister der Länder
        sind zu einer solchen Tat nicht fähig oder willens! Eine
        gesetzgeberische Untätigkeit bis 2012 kann schon des-
        halb nicht mit der aktuellen IMK-Regelung begründet
        werden, weil diese – wie auch die sogenannte Altfallre-
        gelung von 2007 – einen Stichtag enthält, der Personen
        vom Bleiberecht ausschließt, obwohl sich ihre Situation
        in nichts von der unterscheidet, für die ein Handlungsbe-
        darf erkannt wurde. Infolge des Stichtags 1. Juli 2007
        entstehen also täglich neue Härtefälle.
        Trotz dreier Bleiberechtsregelungen seit 2006 hat sich
        an der Gesamtproblematik nichts Grundlegendes geän-
        dert: Die Zahl der langjährig Geduldeten liegt immer
        noch bei fast 60 000, und ihr Anteil an allen Geduldeten
        ist mit 64 Prozent so hoch wie nie. Die SPD hat im Ge-
        genzug für ihre Zustimmung zu erheblichen Verschär-
        fungen im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht in
        Aussicht gestellt, dass bis zu 60 000 Menschen von der
        3986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        sogenannten Altfallregelung würden profitieren können.
        Doch wie ist die tatsächliche Bilanz? Gerade einmal
        6 500 Personen konnten bis heute eine relativ sichere
        Aufenthaltserlaubnis aufgrund eigenen Einkommens er-
        langen. Weitere 5 000 erhielten einen Aufenthalt, weil ihr
        Lebensunterhalt zumindest überwiegend ohne staatliche
        Unterstützung gesichert war. Vielleicht 12 000 – statt der
        versprochenen 60 000 – Menschen haben also ein Blei-
        berecht erhalten. Das ist eine mehr als dürftige Bilanz,
        auch wenn dieses Ergebnis angesichts der viel zu hohen
        gesetzlichen Hürden absehbar war und von uns vorher-
        gesagt wurde. Es bedurfte deshalb auch eines erneuten
        IMK-Beschlusses, um zahlreichen Betroffenen eine
        „zweite Chance“ zu geben – nur „auf Probe“, versteht
        sich.
        Ich möchte an dieser Stelle auf eine Personengruppe
        aufmerksam machen, die in der bisherigen Bleiberechts-
        debatte noch gar keine Rolle spielte. Es geht um knapp
        70 000 zur Ausreise verpflichtete Personen, die aktuell
        nicht einmal über eine Duldung verfügen. Drei Viertel
        von ihnen, knapp 53 000 Menschen, leben bereits seit
        mehr als sechs Jahren in Deutschland. Auch sie sind in
        ihrer großen Mehrheit aufgrund des langen Aufenthalts
        längst „heimisch“ geworden in Deutschland. Auch ihnen
        wird ein Aufenthaltsrecht jedoch versagt, genauso wie
        den gut 56 000 Langzeit-Geduldeten. Dass sie nicht ein-
        mal förmlich geduldet werden, dürfte in den meisten
        Fällen rechtswidrig sein. Denn wenn eine Ausreisever-
        pflichtung nicht in absehbarer Zeit konkret durchsetzbar
        ist, so entschied das Bundesverwaltungsgericht bereits
        im Jahr 1997, muss eine schriftliche Duldung erteilt wer-
        den. Es ist unzulässig, diese Menschen lediglich faktisch
        zu dulden und sie mit dem Entzug ihrer Duldungsbe-
        scheinigung unter Druck zu setzen und zur „freiwilli-
        gen“ Ausreise zwingen zu wollen. Die Rechtswidrigkeit
        dieser Praxis wird offenkundig, wenn die Zahl der
        70 000 zur Ausreise verpflichteten Personen ohne Dul-
        dung der Zahl von knapp 8 000 Abschiebungen im letz-
        ten Jahr gegenüber gestellt wird. Unsere Vorschläge
        beziehen deshalb diese zur Ausreise verpflichteten Men-
        schen mit ein.
        Die Linke legt einen Gesetzentwurf vor, mit dem die
        Probleme der Kettenduldung und des verweigerten Auf-
        enthaltsrechts – und noch ein paar weitere mehr – ein für
        alle Mal gelöst werden sollen, und zwar im Sinne der
        Betroffenen und nach humanitären Kriterien! Geändert
        werden muss vor allem die misslungene Regelung nach
        § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, um das Entstehen
        immer neuer Kettenduldungen schon im Ansatz verhin-
        dern zu können. Zudem bedarf es eines Rechtsanspruchs
        auf einen sicheren Aufenthaltstitel, wenn die Betroffe-
        nen nach längerem Aufenthalt faktisch längst integriert
        sind. Unser Gesetzentwurf enthält, darauf möchte ich
        hinweisen, bei Weitem noch nicht alles Notwendige, um
        zu einer grundlegend anderen Politik kommen zu kön-
        nen. Die Stichworte Residenzpflicht, Arbeitsverbote und
        Diskriminierungen infolge des Asylbewerberleistungs-
        gesetzes mögen an dieser Stelle zur Erläuterung des
        enormen Handlungsbedarfs genügen. Wir freuen uns,
        dass sich die Grünen mit ihrem aktuellen Antrag mittler-
        weile den Forderungen der Linken und der außerparla-
        mentarischen Bleiberechtsbewegung im Wesentlichen
        angeschlossen haben. Noch zu Beginn der letzten Wahl-
        periode hatten die Grünen eine Gesetzesänderung vorge-
        schlagen, die lediglich eine „Kann-Regelung“ darstellte
        und die einen Ausschlussstichtag ebenso vorsah wie die
        grundsätzliche Forderung nach eigenständiger Lebens-
        unterhaltssicherung. Auch die SPD bewegt sich inzwi-
        schen in eine richtige Richtung, allerdings hat ihr später
        Wandel in Oppositionszeiten angesichts der von mir ge-
        schilderten Vorgeschichte einen etwas schalen Beige-
        schmack.
        Ich hoffe, dass wir durch eine Anhörung des Innen-
        ausschusses zu den von der Opposition vorgelegten Vor-
        schlägen auch die Regierungsfraktionen aus ihrer
        Lethargie reißen und von der Notwendigkeit baldiger
        Gesetzesänderung überzeugen können. Wir brauchen
        eine wirksame Bleiberechtsregelung, die diesen Namen
        auch verdient!
        Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a und
        104 b des Aufenthaltsgesetzes und die Verlängerung der
        Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1
        Aufenthaltsgesetz durch Beschluss der Innenminister-
        konferenz vom Dezember 2009 sind wegen ihrer restrik-
        tiven Ausgestaltung nicht dazu geeignet, die weithin kri-
        tisierte Praxis der „Kettenduldungen“ wirksam zu
        beenden. Dies belegt die weiterhin anhaltend hohe Zahl
        langjährig in Deutschland geduldeter Personen.
        Beide Regelungen berücksichtigen aufgrund des zen-
        tralen Kriteriums der eigenständigen Lebensunterhalts-
        sicherung humanitäre Härtefälle nicht ausreichend; denn
        gerade alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeits-
        markt keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien
        werden von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen.
        Stichtagsregelungen führen überdies immer wieder zu
        neuen humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauer-
        hafte gleitende Bleiberechtsregelung notwendig, die
        auch auf zukünftige Fälle Anwendung finden kann.
        Deshalb fordern wir im vorliegenden Antrag die Bun-
        desregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
        vorsieht, dass einem geduldeten Ausländer oder einer ge-
        duldeten Ausländerin eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
        wird, wenn er oder sie sich seit mindestens fünf Jahren
        geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis
        aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten
        hat. Wenn der Ausländer oder die Ausländerin zusammen
        mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kin-
        dern in häuslicher Gemeinschaft lebt, soll die Aufent-
        haltserlaubnis nach drei Jahren erteilt werden. Besonders
        schutzbedürftigen Personen, insbesondere unbegleiteten
        Minderjährigen, durch kriegerische Auseinandersetzun-
        gen in ihrer Heimat traumatisierten Personen oder Opfern
        von rassistischen Gewalttaten oder Menschenhandel, soll
        die Aufenthaltserlaubnis nach zwei Jahren erteilt werden.
        Weiterhin darf das Kriterium der eigenständigen Si-
        cherung des Lebensunterhalts keine unüberwindbare
        Hürde darstellen. Ernsthafte Bemühungen, den Lebens-
        unterhalt überwiegend zu sichern, müssen ausreichend
        sein. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3987
        (A) (C)
        (D)(B)
        Linksfraktion, die vollständig auf das Kriterium der Le-
        bensunterhaltssicherung verzichten will. Wir wollen
        Ausnahmen von diesem Erteilungskriterium für Perso-
        nen, die wegen ihres Alters, einer körperlichen, geistigen
        oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder, weil
        sie mit minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher
        Gemeinschaft leben, wegen der Kinderbetreuung von
        ernsthaften Bemühungen zur überwiegenden Sicherung
        des Lebensunterhalts abgehalten waren.
        Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen
        an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt wer-
        den. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwie-
        gende Verletzungen von Mitwirkungspflichten sollten
        zum Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltser-
        laubnis führen können. Insbesondere die Frage, ob eine
        Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht ein-
        deutig zu beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen
        Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen im Her-
        kunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung
        sinnvoll und gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des
        Rechtsweges darf im Rechtsstaat nicht negativ sanktio-
        niert werden.
        Keinesfalls darf die in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsge-
        setz festgeschriebene Regelung, nach der die ganze Fa-
        milie von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus-
        Ende Dezember 2009 lebten trotz mehrerer Bleibe-
        rechtsregelungen erneut circa 89 500 Menschen in
        Deutschland in einer rechtlichen Grauzone: rechtlich ge-
        duldet, aber ohne legales Aufenthaltsrecht. Fast 57 000
        von ihnen leben bereits länger als sechs Jahre hier. Viele
        dieser Personen sind Kriegsflüchtlinge, die kein Asyl er-
        hielten, aber nicht abgeschoben werden können. Inzwi-
        schen haben sich diese Menschen in der Regel in
        Deutschland integriert. Dies gilt erst recht für die hier
        geborenen und aufgewachsenen Kinder und Jugendli-
        chen – für sie ist Deutschland das Zuhause. Doch selbst
        nach jahrelangem Aufenthalt droht ihnen die Abschie-
        bung, häufig in ein Land, das ihnen völlig fremd ist.
        Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist
        nicht nur eine unzumutbare Härte – mit tragischen Fol-
        gen für den Einzelnen und seine Familie. Ein solches
        Vorgehen steht auch in Widerspruch zu den humanitären
        Grundsätzen, denen deutsche Politik verpflichtet ist, und
        widerspricht allen integrationspolitischen Überlegungen.
        Auch die circa 37 000 Personen, denen bis Ende 2009
        eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe erteilt wurde, leben
        weiter in einem Schwebezustand. Zwar kann ihre Aufent-
        haltserlaubnis unter gewissen Voraussetzungen nach dem
        Beschluss der IMK bis Ende 2011 verlängert werden. An-
        gesichts der für das Jahr 2010 erwarteten weiteren nega-
        geschlossen ist, sobald ein mit dieser in häuslicher
        Gemeinschaft lebendes Familienmitglied bestimmte
        Straftaten begangen hat, übernommen werden. Im Übri-
        gen müssen bei der Festlegung von Ausschlusstatbestän-
        den wegen der Verurteilung nach einer im Bundesgebiet
        begangenen vorsätzlichen Straftat Taten, die nach dem
        Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur
        von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden
        können, außer Betracht bleiben.
        tiven Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf
        den Arbeitsmarkt bleibt ihre aufenthaltsrechtliche Situa-
        tion jedoch höchst ungewiss.
        Das weitere Schicksal dieser Menschen, die seit Jah-
        ren hier in Deutschland leben, darf uns nicht kaltlassen.
        Ich hoffe daher, dass es in den weiteren parlamentari-
        schen Beratungen einen breiten Konsens für eine wirk-
        same, stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsre-
        gelung geben wird.
        40. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9