Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3955
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Forschungsprogramm auf den Weg gebracht wurde. Ich
kann dem Gesetz zur Änderung des Erneuerbare-Energien-
halte ich zwar sachlich nicht für zwingend notwendig
oder für sachlich geboten, da ich viele Projekte kenne, in
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines … Gesetzes zur Änderung des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6 a)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Mein Votum lau-
tet Enthaltung.
Positiv zu bewerten ist, dass im Zuge der Gesetzgebung
durch die Änderung der Einspeisevergütung die Förderung
des Eigenverbrauchs gestärkt sowie ein Innovations- und
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Becker, Dirk SPD 06.05.2010
Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.05.2010
Binder, Karin DIE LINKE 06.05.2010
Binding (Heidelberg),
Lothar
SPD 06.05.2010
Brinkmann
(Hildesheim),
Bernhard
SPD 06.05.2010
Bulmahn, Edelgard SPD 06.05.2010
Connemann, Gitta CDU/CSU 06.05.2010
Ernst, Klaus DIE LINKE 06.05.2010
Dr. Ott, Hermann BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.05.2010
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
06.05.2010
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 06.05.2010
Scholz, Olaf SPD 06.05.2010
Dr. Schröder, Kristina CDU/CSU 06.05.2010
Werner, Katrin DIE LINKE 06.05.2010
Zapf, Uta SPD 06.05.2010
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Gesetzes dennoch nicht zustimmen, weil die in der No-
velle festgelegte Kürzung der Solarstromförderung in we-
sentlichen Teilen zwar durchaus notwendig, aber nicht
angemessen ist.
Als nicht angemessen beurteile ich die Höhe der De-
gressionsschritte, die kurzen Fristen, durch die Unterneh-
men und Privatinvestoren Planungssicherheit entzogen
und damit Investitionen und Arbeitsplätze gefährdet
werden. Es entsteht ein unnatürlicher Nachfrageboom bis
zur beginnenden Förderungsminderung, der durch einen
für 2010 nicht zeitgleich mit Beginn der Degressionsver-
schärfung startenden Beobachtungszeitraum die Förde-
rungshöhe für 2011 noch einmal überproportional absin-
ken lassen wird. Die in letzter Minute noch veränderten
Degressionsschritte je nach Zubauhöhe werden die dras-
tischen Förderabsenkungen nicht kompensieren können.
Bei der Ausnahmeregelung der Förderstopps für So-
laranlagen auf Ackerflächen wurden zwar Gewerbe- und
Industriegebiete – § 8 und 9 Baunutzungsverordnung –
berücksichtigt, nicht jedoch die unter § 11 Punkt 8 ge-
nannten Sondergebiete zur Erprobung und Erforschung
regenerativer Energien. Ausgerechnet diese Gebiete
nicht in die Ausnahmeregelung aufzunehmen, ist gera-
dezu kurios.
Außerdem gewährleisten die Fristen für den Be-
schluss eines Bebauungsplans, Satzungsbeschluss vom
25. März 2010, keinen hinreichenden Vertrauensschutz
für bereits seit längerer Zeit in Planung befindliche Pro-
jekte. Angesichts der regelmäßigen Verfahrensdauer zur
Aufstellung derartiger Bebauungspläne von üblicher-
weise sieben bis neun Monaten bis zur förmlichen Be-
schlussfassung ist die Stichtagsregelung nicht realistisch.
Dadurch werden zahlreiche – teilweise vorfinanzierte –
Projekte nicht umgesetzt werden können.
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf
stimme ich nur mit Bedenken zu. Dabei lasse ich mich
von einer Gesamtabwägung der positiven Elemente dieses
Gesetzentwurfes mit insbesondere einem gewichtigen
negativen Aspekt leiten.
Die grundsätzliche Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes,
eine unstrittig gegebene Überförderung der Solarenergie
bzw. Fotovoltaik abzubauen, unterstütze ich uneinge-
schränkt. Auch aus persönlichen Gesprächen mit Unter-
nehmen aus der Branche habe ich den Eindruck gewon-
nen, dass diese Absenkung nicht nur akzeptabel, sondern
zwingend notwendig ist. Die Größenordnung der zusätz-
lichen einmaligen Degression halte ich ebenfalls für die
Branche für darstellbar, ohne dass es zu einem Zusam-
menbruch der Solarförderung kommt. Ich bin überzeugt
davon, dass auch mit diesem Gesetzentwurf der ange-
peilte Zubau von jährlich 3 500 Megawatt erzielbar sein
wird.
Den vollständigen Ausschluss landwirtschaftlicher
Nutzflächen aus der Vergütung für Freiflächenanlagen
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denen ohne gravierende Flächenkonkurrenz bei einer ex-
tensiveren Fotovoltaiknutzung auch eine Kombination
mit landwirtschaftlichen oder Naturschutzinteressen
möglich wäre. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung
von Grünflächen statt der ausschließlichen bisherigen Fo-
kussierung auf Ackerflächen. Gegenüber den positiven
Aspekten tritt dieser Aspekt in der Gesamtabwägung je-
doch zurück.
Die größte Schwäche des Gesetzentwurfes sehe ich in
einem mangelnden Vertrauensschutz für weit vorange-
schrittene Freiflächenprojekte. Zahlreiche Projekte be-
finden sich derzeit noch im Genehmigungsverfahren.
Dabei geht es mir insbesondere um die Projekte, die
frühzeitig im Jahr 2009 im Vertrauen auf geltendes
Recht in Planungen investiert haben. Ein Vertrauens-
schutz stellt sich jedoch zeitlich ab Veröffentlichung des
Koalitionsvertrages anders dar, da ab dem Zeitpunkt die
politische Zielsetzung erkennbar gewesen ist, das Gesetz
zu ändern. Wer ab diesem Zeitpunkt in neue Projekte
eingestiegen ist, kann sich nicht mehr auf Vertrauens-
schutz berufen. Allerdings kenne ich viele Projekte, die
erst im Mai oder Juni ihren Satzungsbeschluss in der Ge-
meindevertretung fassen können, aber bereits frühzeitig
im Jahr 2009 mit den Planungen begonnen haben. Dabei
ist das Datum des Aufstellungsbeschlusses nicht ent-
scheidend. Es gibt sowohl Projekte, in denen der Auf-
stellungsbeschluss am Anfang der Planungen stand und
danach erst die Projektentwicklungskosten entstanden
sind, als auch Projekte, in denen die gesamte Projektent-
wicklung vor dem Aufstellungsbeschluss erledigt wurde
und die Gemeinde erst zu einem fertig entwickelten Pro-
jekt mit dem Aufstellungsbeschluss Ja gesagt hat. Ich
hätte deshalb die Stichtagsregelung für den beschlosse-
nen Bebauungsplan lieber auf den 30. Juni festgelegt,
um auch diesen Projekten den gebotenen Vertrauens-
schutz zu gewähren.
Die jetzt vorliegende Stichtagsregelung, die an das
Datum der 1. Lesung des Gesetzes im Deutschen Bun-
destag am 25. März 2010 anknüpft, ist gegenüber dem
ursprünglichen Gesetzentwurf sicherlich eine Verbesse-
rung. Alle Projekte, die nach dem 31. Dezember 2009
und vor dem 25. März 2010 mit einem Satzungsbeschluss
auf den Weg gebracht worden sind, können jetzt nach al-
tem Recht bis zum Ende des Jahres 2010 realisiert werden.
Damit kommen zahlreiche Projekte in den Genuss eines
Vertrauensschutzes, den sie mit dem ursprünglichen Ge-
setzentwurf nicht bekommen hätten. Auf der Strecke
bleiben diejenigen Projekte, die im April, Mai oder Juni
ihren Satzungsbeschluss fassen könnten. Insbesondere
im Mai oder Juni kommen jedoch umso mehr Projekte
hinzu, die erst Ende 2009 begonnen wurden. Deshalb
war hier ein erweiterter Vertrauensschutz, den ich nach
wie vor für notwendig halte, nicht durchsetzbar.
Ich werte allerdings die erweiterte Vertrauensschutz-
klausel als Bereitschaft, auch meinem Anliegen entgegen
zu kommen.
In der Gesamtabwägung komme ich deshalb zu dem
Ergebnis, dem Gesetzentwurf zuzustimmen – insbeson-
dere um deutlich zu machen, dass ich Handlungsbedarf
in der Einschränkung der Überförderung für zwingend
geboten erachte, auch wenn ich die gefundene Kompro-
misslinie beim Vertrauensschutz als nicht ausreichend
erachte.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Das EEG ist, auf-
bauend auf dem Stromeinspeisegesetz aus der Regierung
Kohl, ein Mittelstands- und Technologiefördergesetz
erster Güte. Es bedarf aber im Interesse der Wirksamkeit
eines ständigen Monitorings und einer Anpassung an die
Entwicklungen.
Dass sich die Fotovoltaik hinsichtlich Leistung und
Preis besser entwickelt als vorhersehbar, sollten Bran-
chen und Politik als Erfolg verbuchen. Die Entwicklung
ist im Gesetz unabdingbar nachzuvollziehen. Das
schränkt die Planbarkeit für Investoren naturgemäß ein.
Trotzdem bin ich der Auffassung, dass der von der Ko-
alition mehrheitlich gefundene Kompromiss gerade dies
unnötig verschärft. Der gewährte Vertrauensschutz ist nicht
ausreichend und vernichtet Investorengelder, die – im
Vertrauen auf ein erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getrete-
nes Gesetz – für Anlagen ausgegeben wurden, die nun
nicht fertiggestellt werden können. Die weiterreichenden
Änderungen bei der Zulässigkeit von Freiflächenanlagen
sind an dieser Stelle nicht angemessen und erfolgen ohne
Rücksicht auf den Schutz des Eigentums.
Gleichzeitig weise ich darauf hin, dass die Alternativen
für den Wegfall der Grünflächen zu knapp bemessen
sind. Die rot-grüne Vornutzungsauflage war der Versuch,
Konflikte mit dem Naturschutz zu vermeiden, hat aber
andere provoziert. Die Ackerlandvorschrift war damit zu
beseitigen. Allerdings ist es nicht gelungen, in angemesse-
ner und von der CSU mehrfach geforderter Weise Flächen-
alternativen zu definieren, die mit Blick auf Innovation,
Export und Preiswirkung, auch bei einer unter Landwirt-
schaftsschutzaspekten sinnvollen Priorisierung von Dach-
anlagen, notwendig sind. Bei der regulär anstehenden
Novellierung des EEG ist dies auszugleichen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/
CSU): zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung und den Bericht zu dem Antrag: Über-
gangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des
Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten
des Vertrages von Lissabon
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m. § 10 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun-
desregierung und Deutschem Bundestag in An-
gelegenheiten der Europäischen Union (Tages-
ordnungspunkt 10 a)
Ich bin der Auffassung, dass der spanische Vorschlag
zur Anpassung der Sitzzahl im Europäischen Parlament
Fragen zur demokratischen Legitimation und zum Status
der Abgeordneten aufwirft, sofern die Nachbesetzung
der Mandate in den zwölf Mitgliedstaaten nicht auf der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3957
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Grundlage freier und allgemeiner Wahlen stattfindet, wie
dies der Vertrag von Lissabon, Art. 14 EUV, bestimmt.
Ich bin ferner der Meinung, dass die Bestimmung der
zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Parlamentes
durch Benennung aus der Mitte der nationalen Parla-
mente eine Abweichung von Art. 14 des Vertrags von
Lissabon über die EU darstellt, und habe deshalb grund-
legende Bedenken gegen diesen Vorschlag. Ich erinnere
in diesem Zusammenhang an das Urteil des Bundesver-
fassungsgerichtes vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von
Lissabon zur eingeschränkten Wahlrechtsgleichheit bei
den Wahlen zum Europäischen Parlament und damit ver-
bunden einer nur begrenzt repräsentativen Abbildung
des europäischen Mehrheitswillens. Aus diesen Gründen
stimme ich dem Vorhaben nicht zu.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Großen Anfrage: Zu den theo-
retischen und empirischen Grundlagen des
Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und der ge-
mäß Koalitionsvertag beabsichtigten Steuer-
reform (Tagesordnungspunkt 11)
Olav Gutting (CDU/CSU): Der Sinn und Zweck die-
ser Großen Anfrage ist durchsichtig. Sie ist nichts ande-
res als Wahlkampftheater vor der NRW-Wahl. Zum
Thema Steuerreform hatten wir ja heute Nachmittag
schon eine Aktuelle Stunde. Ich kann Ihnen aber noch
einmal bestätigen: Wir machen erfolgreiche Politik für
mehr Wachstum und Beschäftigung – und das auch mit
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Die Arbeits-
losigkeit geht zurück, allein im April um 162 000 auf
3,4 Millionen Arbeitslose. Die Erholung in der deut-
schen Wirtschaft ist nach der schlimmen Krise von 2009
deutlich erkennbar.
Zur Wirkung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
brauchen Sie sich doch nur die Entwicklung des Wachs-
tums seit Inkrafttreten des Gesetzes anzuschauen. Allein
der Ifo-Geschäftsklimaindex hat sich im April zum
zweiten Mal in Folge kräftig verbessert.
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir
gezielte Impulse zur Entlastung von Familien und Unter-
nehmen gesetzt. Wesentlicher Teil des Wachstumsbe-
schleunigungsgesetzes war dabei auch die Familienför-
derung. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages und
des Kindergeldes haben wir eine spürbare Entlastung für
Familien mit Kindern geschaffen. Rechnet man alle
Maßnahmen, die zum 1. Januar 2010 in Kraft traten,
zusammen, bedeutet das für eine vierköpfige Familie
– 54 000 Euro Jahreseinkommen, Alleinverdiener – eine
Entlastung von knapp 1 600 Euro.
Wir glauben, dass gerade Familien die Leistungsträ-
ger unserer Gesellschaft sind. Diese wollen wir entlas-
ten. Das haben wir im Wahlkampf versprochen, und das
halten wir. Wenn Sie hingegen Familien und die Bezie-
her kleiner und mittlerer Einkommen weiter belasten
wollen, dann sagen Sie das klar und deutlich. Die Er-
folge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes lassen wir
uns jedenfalls nicht schlechtreden.
Und im Übrigen zu Ihrer billigen Polemik, die Erhö-
hung des Kinderfreibetrages würde die Wohlhabenden
begünstigen: Während 4,2 Milliarden Euro für die Erhö-
hung des Kindergeldes bereitgestellt wurden, stehen für
die Erhöhung des Kinderfreibetrages lediglich 400 Mil-
lionen, also weniger als ein Zehntel davon, zur Verfü-
gung. Statt Familien mit höheren oder niedrigeren Ein-
kommen gegeneinander auszuspielen, investieren wir in
die Zukunft unserer Gesellschaft.
Zu dem Thema, jedes Kind sollte dem Staat gleich
viel wert sein. Beim Kinderfreibetrag beträgt die jähr-
liche maximale finanzielle Auswirkung 3 154 Euro, bei
Leistungen für Kinder in Hartz IV ab 14 Jahren
3 444 Euro.
Wir haben vor der Wahl versprochen, denjenigen zu
helfen, die seit Jahren die Hauptlasten in diesem Land
tragen. Das sind diejenigen, die morgens aufstehen, zur
Arbeit gehen und ihre Kinder erziehen. Dieses Verspre-
chen haben wir gehalten.
Das gilt übrigens auch für Alleinerziehende. Das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz beinhaltet auch eine
Anhebung des Freibetrages für Betreuungs-, Erzie-
hungs- und Ausbildungsbedarf. Seine Anhebung wirkt
sich insbesondere bei Eltern aus, die, getrennt lebend
vom anderen Elternteil, das Kind alleine aufziehen. Die
Anhebung führt dazu, das bereits ab einem Jahresein-
kommen von 15 660 Euro ein Steuervorteil entsteht. Von
der Anhebung der Freibeträge profitieren also bereits El-
tern mit geringerem Einkommen.
Wir haben zudem nicht nur Verbesserungen für die
Familien erreicht, sondern auch etwas für unsere Wirt-
schaft getan. Fragen Sie doch mal bei den Mittelständ-
lern nach! Ich nenne zum Beispiel die Neureglung bei
der Sofortabschreibung. Mit dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz haben wir die Möglichkeit der Sofortab-
schreibung von Wirtschaftsgütern bis 410 Euro wieder
hergestellt. Das verschafft den Unternehmen notwendige
Liquidität in der Krise.
Zusammenfassend lässt sich festhalten:
Erstens. Mit Ihrer in der Anfrage versteckten Kritik
am Wachstumsbeschleunigungsgesetz greifen sie schlicht
und einfach daneben. Das Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz ist ein Erfolg.
Zweitens. Wenn Sie steuerliche Entlastungen immer
nur von der Einnahmeseite her bewerten, werden Sie
dieses Land nie auf den notwendigen Wachstumskurs
bringen.
Wesentlicher Bestandteil unserer Strategie zur Stär-
kung der Konjunktur ist ein Steuerrecht, das ein Mehr an
Wachstum und Beschäftigung ermöglicht. Steuerpoliti-
schen Stillstand, wie Sie ihn wollen, darf es deshalb auch
in Zeiten knapper Haushaltskassen nicht geben.
Klaus Brandner (SPD): Seit ungefähr neun Mona-
ten erscheinen beinahe täglich Presseberichte, in denen
3958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
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die jetzigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP
eine Steuerreform und umfassende Steuersenkungen an-
kündigen. Es werden Reden über dieses Thema gehalten
oder Interviews gegeben. Dieses Thema ist dementspre-
chend allgegenwärtig, und es scheint der Dreh- und An-
gelpunkt für die schwarz-gelbe Koalition zu sein.
Das ist nicht weiter verwunderlich; denn beim Thema
Steuern ist die FDP Überzeugungstäterin. Bereits in den
vergangenen Legislaturperioden hat sie auf jede erdenk-
liche Herausforderung mit ihrem Patentrezept „Steuer-
senkungen“ geantwortet. Unabhängig ob es der Wirt-
schaft gut oder schlecht ging, ob eine vermeintliche
Bedrohung von innen oder außen kam, ob Steuerschät-
zungen wachsende oder sinkende Staatsfinanzen ver-
sprachen – für die FDP passte ihre Forderung nach Steu-
ersenkungen auf jede Situation.
Auch die CDU/CSU-Fraktion war noch im Wahl-
kampf nicht abgeneigt, sich dieser einfachen und popu-
lären Lösung anzuschließen. Wer hätte schließlich nicht
gern „mehr Netto vom Brutto“? Dennoch hat sie die
FDP in den Koalitionsverhandlungen von ihrem 36-Mil-
liarden-Euro-Wahlkampfversprechen auf 24 Milliarden
Euro heruntergehandelt. Mittlerweile fordert die FDP
„nur“ noch Steuerentlastungen von 16 Milliarden Euro,
und ihr favorisiertes Dreistufenmodell hat nun zwei Stu-
fen mehr bekommen. Damit wurde das bisherige Wahl-
versprechen der FDP schon jetzt halbiert. Man könnte
das einen Abschied in Stufen nennen – oder einfach
Wählertäuschung.
Durch die Führungsschwäche der Bundeskanzlerin
lässt sich bei der CDU/CSU überhaupt kein einheitliches
Bild erkennen. Während der Bundesfinanzminister bei
jeder Gelegenheit verkündet, dass es für Steuersenkun-
gen keine Spielräume gibt, zeigt die Kanzlerin sich an-
getan. Auch andere Unionskolleginnen und -kollegen
befürworten die Steuerpläne. Der Kollege Michael
Fuchs zum Beispiel sagte: Die Entlastung in Höhe von
16 Milliarden Euro ist möglich und nötig und sollte von
der Koalition nun gemeinsam auf den Weg gebracht
werden.
Mit diesen wohlwollenden Äußerungen und dem nun
vorgelegten FDP-Steuermodell haben die Regierungs-
fraktionen – entgegen der Behauptung in der Antwort
auf die Große Anfrage der SPD – ihre Pläne zur steuer-
lichen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger vorgelegt.
Dazu wollen wir jetzt hören, auf welcher Grundlage ihre
Pläne entwickelt wurden, wer für die Entlastungen auf-
kommen muss und wer direkt oder indirekt davon be-
troffen ist. Denn angesichts der aktuellen Lage und Pro-
gnosen sind diese Pläne nicht nur anachronistisch,
sondern geradezu absurd.
Der aktuelle Schuldenstand beträgt rund 1 700 Mil-
liarden Euro. Wir haben in diesem Jahr eine Rekordneu-
verschuldung von etwa 80 Milliarden Euro beim Bund
und 140 Milliarden Euro beim Gesamtstaat. Besonders
prekär sieht es bei den Kommunen aus. Jetzt die Steuern
zu senken, wird den Schuldenberg nur weiter steigen las-
sen. Denn es ist abwegig, anzunehmen, dass man mit
schuldenfinanzierten Steuersenkungen Wachstumsim-
pulse setzen könnte. Das zeigt nicht nur die Geschichte
im In- und Ausland, sondern wird auch in diesem Jahr
wieder exemplarisch am Wachstumsbeschleunigungsge-
setz durch die Wirtschaftsweisen bestätigt.
Auch mit den widersinnigen Steuerplänen müssen wir
also davon ausgehen, dass es im Hinblick auf das Wirt-
schaftswachstum bei den Schätzungen der Bundesregie-
rung von 1,4 Prozent in diesem und 1,6 Prozent im
nächsten Jahr bleibt. Das hat fatale Auswirkungen auf
die Staatseinnahmen, wie die heute vorgelegte Steuer-
schätzung enthüllt. Bund, Länder und Gemeinden wer-
den in den Jahren 2010 bis 2013 rund 39 Milliarden
Euro weniger in der Kasse haben als bisher angenom-
men. In diesem Jahr wird der Gesamtstaat rund
510,3 Milliarden Euro einnehmen. Das sind 1,2 Milliar-
den Euro weniger als bisher geschätzt. Hinzu kommen
die 10 Milliarden Euro Einsparungen, die aufgrund der
im Grundgesetz festgelegten Schuldenbremse ab 2011
allein beim Bund jährlich erbracht werden müssen.
Wer in dieser aktuellen Situation Spielraum für Steu-
erentlastungen in Höhe von 16 Milliarden Euro sieht, hat
schon eine besondere Fantasie oder jenseits der Kameras
und Mikrofone ganz andere Pläne. Denn angesichts die-
ser Lage bleiben im Falle einer weiteren Steuerentlas-
tung nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden sie auf
Kosten der nachfolgenden Generationen den Schulden-
berg weiter anwachsen lassen, oder sie finanzieren es
durch Leistungskürzungen im sozialen Bereich. Was das
bedeutet, kann man dank des sogenannten Wachstums-
beschleunigungsgesetzes bereits heute spüren: höhere
Kitagebühren und schlechte Straßen, geschlossene
Sportplätze, Schulen, Schwimmbäder und Bibliotheken.
Die Koalitionsfraktionen haben in der bereits ange-
sprochenen Antwort auf die Große Anfrage der SPD
deutlich gemacht, dass sie die Pläne über etwaige wei-
tere Steuerentlastungen unter Berücksichtigung der Not-
wendigkeit einer mittelfristigen Konsolidierung der öf-
fentlichen Haushalte treffen wollen, und bekannten sich
„eindeutig und nachdrücklich“ zum europäischen Stabi-
litätspakt. Meine Frage ist daher: Besteht die Bundesre-
gierung angesichts der zu erwartenden Mindereinnah-
men, angesichts der Notwendigkeit einer mittelfristigen
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und ange-
sichts des europäischen Stabilitätspaktes noch immer auf
16 Milliarden Euro zusätzliche Steuerentlastungen? Und
– sofern das der Fall ist –: Wo soll die Finanzierung der
Mindereinnahmen erbracht werden? Heute ist die Gele-
genheit, diese offenen Fragen zu klären.
Bettina Hagedorn (SPD): Thema unserer jetzigen
Debatte ist die Große Anfrage der SPD-Fraktion an die
Regierung vom – man höre und staune – 27. Januar 2010,
in der wir mit einem 16-teiligen Fragenkatalog nach den
theoretischen und empirischen Grundlagen des – fälsch-
licherweise so bezeichneten – Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beab-
sichtigten Steuerreform gefragt haben. Es geht also um
die volkswirtschaftliche Schlüssigkeit der Steuersen-
kungsideen, die Schwarz-Gelb landauf, landab seit Mo-
naten wie ein Mantra vor sich herträgt. Gerade heute
mussten wir angesichts der Aktuellen Stunde zu der kata-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3959
(A) (C)
(D)(B)
strophalen Steuerschätzungsprognose erneut eine Kost-
probe der ungebrochenen Ignoranz der Koalitionäre in
dieser Frage im Plenum ertragen.
Dabei lässt sich diese Koalition auch leider nicht
durch Fakten von ihrem falschen, unverantwortlichen
Weg abbringen: Im Handelsblatt – nicht gerade als rotes
Kampfblatt bekannt – stand beispielhaft in seiner Aus-
gabe vom 30. April 2010 zur geplanten Steuerreform:
„Das Forschungsinstitut IZA hat die FDP und das FDP-
geführte Wirtschaftsministerium in eine peinliche Lage
gebracht, indem es feststellte, die Reform würde nicht
16 Milliarden Euro kosten, sondern knapp 40 Milliar-
den.“
Wir erleben aber täglich in diesem Hohen Haus, dass
die FDP sich mit solchen ernstzunehmenden kritischen
Stimmen gar nicht erst auseinandersetzt und gebetsmüh-
lenartig weiter fordert: Steuersenkung! Gemeinhin ist
dieser Wesenszug als „Beratungsresistenz“ bekannt.
Die Tatsache, dass die Anforderungen der Schulden-
bremse ab 2011 schrittweise mit 10 Milliarden Euro pro
Jahr zu erfüllen sind und sich bis 2016 auf 60 Milliarden
Euro pro Jahr aufaddieren werden, ohne dass diese Re-
gierung Parlament und Öffentlichkeit bisher über ihr
„Sparkonzept“ auch nur ansatzweise informiert hätte, ist
eine Unterlassungssünde, die die Glaubwürdigkeit von
Politik massiv gefährdet. Und die Steuerschätzung von
heute beschert dem Staat zusätzliche Steuereinnahme-
verluste von knapp 40 Milliarden Euro bis 2013, auf die
sie uns und der Öffentlichkeit jede Antwort schuldig
bleibt. Das kann man getrost mit dem Versuch der
„Volksverdummung“ betiteln. Angesichts all dieser Tat-
sachen und angesichts der Krise in Griechenland und
Europa, die wir aktuell diese Woche nonstop mit großer
Ernsthaftigkeit beraten, bei der es im Kern auch um die
Folgen von staatlicher Überschuldung geht, ist es eine
Dreistigkeit, dass diese Bundesregierung angekündigt
hat, die 16 – mehr als berechtigten – Fragen der SPD-
Bundestagsfraktion vom 27. Januar zu beantworten, und
zwar exakt am 10. Juli 2010. Und was ist am 9. Juli
2010? Ja, das ist der letzte Sitzungstag des Deutschen
Bundestages bis Mitte September. Und was ist Mitte
September? Richtig: die erste Lesung des Bundeshaus-
haltes 2011 hier in diesem Plenum. So ernst also nimmt
diese Regierung ihre Rechenschaftspflicht gegenüber
dem Parlament in der zentralen Frage einer nachhaltigen
Haushalts- und Finanzpolitik. Aber unbestreitbare Tatsa-
che ist: Wenn wir in diesen Krisenzeiten unseren Le-
bensstandard und unseren Sozialstaat in seinen Grund-
festen erhalten wollen, dann sind angesichts der heute
veröffentlichten Steuerschätzung, der verfassungsrecht-
lich verankerten Schuldenbremse und der demografi-
schen Entwicklung in unserem Land Steuersenkungen
auf mittlere Sicht schlicht und ergreifend unmöglich.
Wenn die Regierungsfraktionen gefragt werden, wo
sie denn sparen wollen, sagen sie reflexartig: bei Arbeit
und Sozialem. Natürlich, auf den ersten Blick könnte das
im Ansatz sogar nachvollziehbar erscheinen; aber jeder,
der auch nur für 5 Cent nachdenkt – ja, ich weiß, bei Ih-
nen in der wirtschaftorientierten Partei FDP muss die
Summe dafür bestimmt deutlich höher sein – erkennt,
dass die Mittel zum allergrößten Teil festgelegt sind, bei-
spielsweise im Etat des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales in den gesellschaftlich grundlegenden Be-
reichen Arbeit und Rente.
Der mit Abstand größte Ausgabenblock in diesem
Bereich ist der Zuschuss zur Rentenversicherung mit
80,8 Milliarden Euro – eine so gigantisch große Summe,
dass sie sich kaum jemand wirklich vorstellen kann. Da-
rum will ich es bildlich ausdrücken: Das ist mehr als ein
Drittel aller Steuereinnahmen (239,2 Milliarden Euro in
2010), die der Bund 2010 überhaupt erhält, und weit
mehr als ein Viertel aller Ausgaben, die der Bund 2009
(292,3 Milliarden Euro) geleistet hat. Dies ist der Anteil
des Haushaltes, wo kein Einsparpotenzial schlummert
und wo nur ein finanzstarker Staat mit ausreichenden
Steuern seiner sozialstaatlichen Aufgabe gerecht werden
kann.
Um die Dramatik zu erkennen, lohnt ein Blick zu-
rück: Noch vor 20 Jahren – 1991 – gab der Bund knapp
30 Milliarden Euro pro Jahr Steuerzuschuss zur Rente,
schon sieben Jahre später waren es 1998 51,4 Milliarden
Euro, zehn Jahre später waren es 2008 schon 78 Milliar-
den Euro und jetzt aktuell 80,8 Milliarden Euro. Dies ist
eine Kostenexplosion von fast 30 Milliarden Euro – pro
Jahr! – binnen nur zwölf Jahren. 30 Milliarden Euro –
das entspricht knapp dem Dreifachen unseres gesamten
Bildungs- und Forschungsetats (10,91 Milliarden Euro),
dem Fünffachen aller Leistungen aus dem Familienmi-
nisterium (6,56 Milliarden Euro) bzw. dem Sechsfachen
des Etats des Innenministers (5,59 Milliarden Euro) mit
über 40 000 Beschäftigten im Dienste der inneren Si-
cherheit unseres Landes.
Wer nun jedoch – wie diese Regierung aus CDU/CSU
und FDP – ernsthaft plant, Steuern im zweistelligen Mil-
liardenbereich dauerhaft zu senken, der legt die Axt an
die Wurzeln unseres Sozialstaates und nimmt gleichzei-
tig unsoziale Abgabenerhöhungen – zulasten von Ge-
ringverdienern und Arbeitslosen, Familien und Rent-
nern, Auszubildenden und Studenten – in Bund, Ländern
und vor allem in den Kommunen billigend in Kauf. Wie
die FDP insgesamt auf diesem Niveau die Berechtigung
der Steuereinnahmen unseres Staates öffentlich infrage
stellt, und die ideologische Verbohrtheit, mit der sie un-
ter dem Deckmantel eines verquasten Leistungs- und
Freiheitsbegriffs für Steuersenkungen für Hoteliers, Groß-
erben und Besserverdienende sorgt und zusätzlich noch
Steuersenkungen für Besserverdienende und Klientelge-
schenke fordert, sowie die Lethargie, mit der die CDU/
CSU trotz des „C“ in ihrem Parteinamen auf dieses ge-
zielte Attentat auf unseren Sozialstaat reagiert, das alles
muss alle am Gemeinwohl Interessierten in unserer Ge-
sellschaft auf die Barrikaden oder in die Verzweiflung
treiben.
Gestatten Sie mir zum Abschluss ein Zitat aus der
Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung von heute. In
dem Kommentar „Der Tag, an dem die Rechnung kam“
schreibt Thorsten Denkler: „Eine deprimierende Lage –
wenn es die FDP nicht gäbe. In früheren Zeiten boten
Quacksalber auf den Marktplätzen manches Gebräu feil,
das angeblich gegen alles half, was mit Krankheit zu tun
3960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
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hat – vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP ver-
sucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die Partei
des Guido Westerwelle verspricht Steuersenkungen,
wenn es dem Staat gutgeht, weil dann genug Geld dafür
da sei. ‚Bürger am Aufschwung beteiligen‘, heißt das
dann. Und sie verspricht Steuersenkungen, wenn es dem
Staat schlechtgeht, weil das angeblich die Wirtschaft
massiv ankurbele. Einen Grund, gegen Steuersenkungen
zu sein, gibt es für die FDP nicht. Wenn es darauf an-
käme, würde sie mit Steuersenkungen auch den interna-
tionalen Terrorismus oder isländische Vulkane bekämp-
fen.“
Dr. Daniel Volk (FDP): Mit dem Gesetz zur Be-
schleunigung des wirtschaftlichen Wachstums werden
Bürger und Unternehmen seit dem 1. Januar 2010 um
insgesamt 8,4 Milliarden Euro jährlich entlastet.
Im Gesetzentwurf heißt es:
Die Folgen der schwersten Finanz- und Wirt-
schaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland sind noch nicht überwunden. In dieser
sehr ernsten und beispiellosen wirtschaftlichen Ge-
samtsituation gilt es, den Einbruch des wirtschaftli-
chen Wachstums so schnell wie möglich zu über-
winden und neue Impulse für einen stabilen und
dynamischen Aufschwung zu setzen. Nur durch
nachhaltiges Wachstum können die Folgen der
Krise überwunden werden. Eine Steuerpolitik, die
sich in diesem Sinne als Wachstumspolitik versteht,
schafft Vertrauen und Zuversicht und stärkt durch
wirksame und zielgerichtete steuerliche Entlastun-
gen die produktiven Kräfte unserer Gesellschaft.
Die FDP hat Wort gehalten. Den ersten Schritt zur
Entlastung haben wir mit dem Gesetz gemacht. Einen
weiteren Entlastungsschritt werden wir jetzt auf den
Weg bringen. Wir werden insbesondere die unteren und
mittleren Einkommensbezieher vorrangig entlasten und
gleichzeitig den Mittelstandsbauch abflachen, indem wir
den Einkommensteuertarif zu einem Stufentarif um-
bauen.
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz setzt die
neue Koalition Impulse für mehr Beschäftigung. Mit
diesem ersten Schritt stärkten wir bereits zum 1. Januar
2010 insbesondere Familien und Mittelstand. Daneben
wurden im Koalitionsvertrag weitere Schritte vereinbart,
die zeitnah umgesetzt werden.
Die viel kritisierte Mehrwertsteuersenkung im Hotel-
und Gaststättengewerbe zeigt nun aber erstaunlicher-
weise erste positive Wirkungen. Drei Monate nach Ein-
führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes planen
knapp 3 000 in einer Befragung erfasste Hotels Investi-
tionen in Höhe von insgesamt einer halben Milliarde
Euro (507 Millionen Euro). Diese Investitionen betref-
fen vor allem Modernisierungen, Neuanschaffungen und
Umbauten. Für Arbeitnehmer bedeutet das fast 2 700
neue Vollzeitarbeitsplätze und mehr als 1 300 neue Aus-
bildungsplätze. Nicht zu vergessen bei dieser Betrach-
tung ist das schwierige konjunkturelle Umfeld dabei und
die Anzahl der gesicherten Arbeitsplätze, die leicht in
die Zehntausende gehen.
Ebenfalls sollte man bei der Betrachtung nicht verges-
sen, dass durch die Mehrwertsteuersenkung auch für
mehr Steuergerechtigkeit gesorgt wurde, da in 21 von
27 EU-Mitgliedstaaten ein reduzierter Mehrwertsteuer-
satz gilt.
Wenn Sie uns vorwerfen, das Gastgewerbe als einen
Teil der mittelständischen Wirtschaft zu unterstützen,
der über 1 Million Beschäftigte und mehr als
100 000 Auszubildende in 240 000 Betrieben hat, mehr
als 57,2 Milliarden Euro Jahresnettoumsatz erwirtschaf-
tet und dabei eine Menge Steuern zahlt, dann kann ich
nur erwidern: Ja, wir unterstützen die Wirtschaft in die-
sem Land, die Steuern zahlt und Arbeitsplätze schafft.
Erreichtes:
Kindergeld erhöht: Bislang wurden die Leistungen
der Familien nicht ausreichend berücksichtigt. Wir ent-
lasten und fördern Familien mit Kindern. Für alle, die
den erhöhten Kinderfreibetrag nicht ausschöpfen kön-
nen, heben wir das Kindergeld um 20 Euro für jedes
Kind an.
Kinderfreibetrag angehoben: Zur besonderen Berück-
sichtigung der Aufwendungen der Familien für ihre Kin-
der wurden die Steuerfreibeträge für jedes Kind von
6 024 Euro auf 7 008 Euro erhöht. Damit sinkt die Steu-
erlast für Familien mit Kindern erheblich. Das Finanz-
amt prüft automatisch, ob erhöhtes Kindergeld oder er-
höhter Freibetrag besser für die Familie ist.
Schonvermögen verdreifacht: Bevor Sozialleistun-
gen bezogen werden können, müssen zuerst eigene Ver-
mögenswerte aufgebraucht werden. Bislang stand den
Empfängern von Arbeitslosengeld II nur ein sehr kleines
Schonvermögen von 250 Euro je Lebensjahr zu. Wir
werden den Freibetrag auf 750 Euro pro Lebensjahr ver-
dreifachen. So stärken wir die eigenständige Altersvor-
sorge und mildern die Auswirkungen des sogenannten
Hartz IV ab.
Betriebsübergänge erleichtert: Die bisherigen Rege-
lungen zur Unternehmensnachfolge waren insbesondere
für Handwerk und Mittelstand oft schwer erfüllbar. Wir
machen sie krisenfest und planungssicher. So kann die
Zukunft vieler Betriebe und ihrer Arbeitnehmer schon
heute gesichert werden.
Abschreibung verbessert: Wir führen eine Regelung
zur Sofortabschreibung von Wirtschaftsgütern bis
410 Euro ein und lassen ein Wahlrecht zur Bildung eines
Sammelpostens für alle Wirtschaftsgüter zwischen 150
und 1 000 Euro zu. Das schafft mehr Flexibilität für die
Unternehmen und trägt zur Vereinfachung der Abschrei-
bungen bei.
Forschung unterstützt: Bildung, Ausbildung, Wissen-
schaft und Forschung sind unser wichtigster Rohstoff.
Wissenschaft und Forschung brauchen mehr Flexibilität
und Gestaltungsspielraum. Wir werden mit einem natio-
nalen Stipendienprogramm den Anteil der Stipendiaten
von 2 auf 10 Prozent erhöhen. Die Zusammenarbeit zwi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3961
(A) (C)
(D)(B)
schen Hochschulen und außeruniversitären Forschungs-
einrichtungen werden wir stärken.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Es geht heute um
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Was bedeutet das
eigentlich? Ziel dieses Gesetzes ist, mit Steuerentlastun-
gen für Wachstum zu sorgen. Damit berührt es eine
zentrale Fragestellung. Kann Wachstum durch Steuer-
senkungen erzeugt werden? Hierzu hat die SPD eine
Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt, deren
Antwort uns leider noch nicht vorliegt.
Aber wir können trotzdem feststellen: Die Bundes-
regierung argumentiert bisher immer, dass Haushalts-
konsolidierung letztendlich durch ein erhöhtes Wirt-
schaftswachstum erreicht werden soll, wobei
Wirtschaftswachstum durch Steuersenkungen erzeugt
werden soll. Hier könnte man doch erwarten, dass sie,
wenn sie schon solch eine Annahme vertritt, diese auch
mit theoretischen oder praktischen Erfahrungen stützt.
Aber weit gefehlt, sie kann es nicht. Dies gab sie in einer
früheren Antwort auf eine SPD-Anfrage zu. Sie habe
kein verlässliches Mittel zur Abschätzung der Auswir-
kungen von Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und
Steuereinnahmen.
Da stellt sich vielen Menschen die Frage: Woher
nimmt die Bundesregierung die Annahme, Steuersen-
kungen würden zu Wachstum führen? Vielleicht schaut
sie in die Glaskugel?
Zu dieser irrigen Annahme der Bundesregierung kann
ich Ihnen nur sagen: Die in den letzten zehn Jahren statt-
gefundenen Steuerrechtsänderungen haben nicht zu
Wachstum, sondern zu einer stärkeren Verschuldung des
Bundes, der Länder und der Kommunen geführt. Dies
stellte eine Studie des Institutes für Makroökonomie und
Konjunkturforschung, IMK, fest. Bezüglich der Auswir-
kungen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
stellte das IMK auch fest, dass dem Staat bis 2013 jährli-
che Steuereinnahmen von über 8 Milliarden Euro entge-
hen werden.
Dies verschärft die Lage der öffentlichen Haushalte
weiter. Zu dem von Ihnen vielfach angepriesenen Selbst-
finanzierungseffekt kann ich Ihnen sagen: Auch hier gab
es Untersuchungen, die bestätigen, dass sich Steuernach-
lässe für Unternehmen und Haushalte nicht selbst finan-
zieren. Überhaupt kein Selbstfinanzierungseffekt ver-
bleibt, wenn der Staat die Steuern senkt, gleichzeitig
aber die Ausgaben kürzt. Von daher sollten Sie sich end-
lich von ihrer Steuersenkungsideologie verabschieden.
Diese hat die letzten zehn Jahre die öffentlichen Haus-
halte genug ruiniert. Wenn Sie also nicht auf uns oder
das IMK hören wollen, dann folgen Sie doch wenigstens
den Empfehlungen des Sachverständigenrates, der der-
zeit eine Steuersenkung ebenfalls für unverantwortlich
hält.
Die heute erschienene Steuerschätzung rechnet insge-
samt mit 38,9 Milliarden Euro weniger an Steuereinnah-
men bis 2013, wobei ein Großteil der Ausfälle auf die
von Ihnen zu verantwortenden Steuerrechtsänderungen
zurückzuführen ist. Wer die Einnahmeausfälle kompen-
sieren soll, dazu hört man aus dem Bundesfinanzminis-
terium nichts. Wahrscheinlich dürfen es wieder die Bür-
gerinnen und Bürger ausbaden.
Das ist mit der Linken nicht zu machen. Nötig sind
nach Meinung der Linken eine Stabilisierung der öffent-
lichen Einnahmen und eine sozial gerechtere Politik, die
unten gibt und oben nimmt und Steuer- und Lohndum-
ping verhindert. Daher fordert die Linke eine gerechtere
Einkommensbesteuerung, Zurücknahme der steuerli-
chen Entlastungen für Unternehmen sowie einen gesetz-
lichen Mindestlohn. Dieser erhöht letztendlich auch die
Einnahmen der Sozialkassen und stabilisiert sie.
Steuern sind die Grundlage, damit der Staat handeln
kann, damit er für Bürgerinnen und Bürger Schulen,
Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kul-
tureinrichtungen bereitstellen kann. Die Linke sagt, dass
soziale Gerechtigkeit nur hergestellt werden kann, wenn
Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das heißt,
starke Schultern müssen mehr tragen als schwächere.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit dem Klientelbeglückungsgesetz haben Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
Ende letzten Jahres Teile ihrer Wahlkampfversprechen
eingelöst und Steuern gesenkt. Haben Sie damit jedoch
ihr erklärtes Ziel – nämlich Wachstum zu beschleunigen –
erreicht?
Modellrechnungen von Experten des Sachverständi-
genrates zeigen: Die Steuersenkungen für Hoteliers, Un-
ternehmen, Familien und Erben erhöhen die Wirtschafts-
leistung in Deutschland um gerade einmal maximal
0,07 Prozent. Der Sachverstand der Experten – und da-
rauf beruft sich ja vor allem die Kanzlerin so gerne –
fasst die Bewertung für das sogenannte Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz in einer simplen Note zusammen:
Ungenügend!
Schauen wir uns die realen Zahlen an: Nach Verab-
schiedung des sogenannten Wachstumsbeschleunigungs-
gesetzes haben sie die Wachstumsprognosen für 2010
nicht erhöht. Wenn überhaupt, dann erwarten Sie einen
winzigen Impuls mit einer faktisch nicht wahrnehmba-
ren Auswirkung auf die wirtschaftliche Dynamik. Und
dafür waren Sie bereit, den exorbitanten Preis von 8,5
Milliarden Euro zu zahlen! Jährlich! Eine ungeheure
Verschwendung von Steuergeldern in dieser schwierigen
Zeit, in der die Wissenschaftler, ganz deutlich der Bun-
despräsident und jetzt auch der eigene Finanzminister ei-
gentlich nur ein Thema kennen: die Konsolidierung der
Haushalte. Die Schuldenbremse, die im Grundgesetz
verankert ist, und die damit verbundene Konsolidie-
rungsaufgabe lassen keinen Spielraum für Steuersenkun-
gen. Laut der heutigen Steuerschätzung des Bundes-
finanzministeriums weisen die gesamtstaatlichen
Steuereinnahmen bis 2013 fast 50 Milliarden Euro weni-
ger aus als geplant.
Und dann die Verteilungswirkung: Von der Anhebung
der Kinderfreibeträge profitieren überproportional die
reichen Familien. Die Erben wurden entlastet, und die
Hoteliers bekamen ihre Klientelgeschenke. Als ob die
3962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
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Auseinanderentwicklung von Vermögen und Einkom-
men in einem anderen Land stattfinden würde! Hier
zeigt sich die Handschrift der FDP, die immer noch nicht
kapiert hat, dass wir mit einer Stärkung der niedrigen
Einkommen – gerade da gibt es viele echte Leistungsträ-
ger! – Kaufkraft und Binnenkonjunktur stärken müssten.
Klar ist: Wachstum durch ziellose Steuersenkung
funktioniert nicht. Es ist eine Illusion. Sie fördert Fehl-
entwicklungen, und am Ende fehlen uns Einnahmen, die
wir vor allem in den Kommunen so dringend brauchen:
für den Klimaschutz, für die Bildung, für die öffentliche
Daseinsvorsorge, für Investitionen, die ein nachhaltiges,
qualitatives Wachstum bewirken.
Wir Grünen wollen ein nachhaltiges qualitatives
Wachstum, ein ökologisches und sozialverträgliches
Wachstum. Wir haben das an dieser Stelle schon oft
durchdekliniert: Wir brauchen eine aktive grüne Indus-
triepolitik, um den ökologischen Transformationspro-
zess unserer Wirtschaft zu beschleunigen. Mit neuen
Schulen, mit verstärkten Aufwendungen für eine energe-
tische Sanierung, mit einer zielgerichteten Förderung
neuer Technologien – ich erinnere nur an das Thema
Elektromobilität –, damit schaffen wir ein nachhaltiges
Wachstum. Mit einem höheren Ausbildungsstand junger
Menschen, mit mehr regenerativen Energien, mit einer
leistungsfähigeren Infrastruktur, damit stärken wir die
Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, damit erzeugen
wir Wachstum.
Mit blinden Steuersenkungen bekommen Sie das
nicht hin. Es wäre gut, wenn Sie das endlich einsehen
würden und von Ihren unsäglichen Steuersenkungsfanta-
sien abrücken würden.
Hartmut Koschyk (Parlamentarischer Staatssekre-
tär beim Bundesminister der Finanzen): Die SPD be-
zweifelt in der vorliegenden Großen Anfrage, dass steu-
erliche Maßnahmen ein Instrument zur Bewältigung der
Krise sein können. Noch im vergangenen Jahr hat sie
genau diesen Kurs mitgetragen, jetzt weiß sie nicht
mehr, warum.
Zur Theorie. Sie fragen uns hier nach theoretischen
Konstrukten und nach dem Titel des Lehrbuchs, aus dem
wir die Erkenntnisse für unser wirtschaftspolitisches
Konzept ziehen. Kein Lehrbuch hat diese Krise vorher-
gesagt, und in keinem Lehrbuch steht, wie man diese
Krise überwinden kann. Gehen Sie bitte davon aus, dass
die Berater der Bundesregierung alle wirtschaftspoliti-
schen Theorien kennen, die auch Sie kennen, und diese
Theorien widersprechen sich ja vielfach. Politik muss
aber handeln, und zwar oft auf einer empirisch und theo-
retisch unsicheren Grundlage. Die Bundesregierung ver-
folgt dabei nicht dogmatisch ein theoretisches Kon-
strukt. Wir haben die zueinanderpassenden Elemente
kombiniert und so mit wichtigen Impulsen der deutschen
Wirtschaft durch die Krise geholfen.
Deutschland wurde durch die hohe Auslandsverflech-
tung besonders hart von der Weltwirtschaftskrise getrof-
fen. Nie zuvor schrumpfte in der Bundesrepublik das
Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent in einem Jahr. Dieser
Einbruch wäre noch größer ausgefallen, hätte die Bun-
desregierung nicht rasch und umfangreich reagiert. Die
Maßnahmenpakete zur Stützung der Finanzmärkte und
der Konjunktur haben deutlich zur Stabilisierung der
wirtschaftlichen Lage beigetragen. Für 2010 kann jetzt
sogar wieder mit einem leicht positiven Wachstum von
rund 1,4 Prozent gerechnet werden. Die Wende ist ge-
glückt.
Noch deutlicher sehen Sie den Erfolg unserer Politik,
wenn Sie auf den Arbeitsmarkt schauen. Alle Experten
wurden von der positiven Entwicklung überrascht.
Geschickte Politik hat verhindert, dass die schlimmsten
Vorhersagen eintrafen. Wir sind viel besser durch diese
Krise hindurchmarschiert als die meisten anderen euro-
päischen Länder. In der Medizin gilt: „Wer heilt, hat
recht.“ Wenn ich diesen Maßstab an unsere Politik an-
lege, kann ich nur sagen: Wir haben das Richtige getan.
Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetz wird von Ihnen immer wie-
der auf den abgesenkten Mehrwertsteuersatz für Über-
nachtungen reduziert. Dies ist aber nur eine – und noch
nicht einmal die wichtigste – der Maßnahmen, die das
Gesetz ausmachen. Fiskalisch wesentlich bedeutsamer
sind beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes und
die Erhöhung der Kinderfreibeträge. Die spürbare Kin-
dergelderhöhung nützt vor allem Familien mit kleinen
und mittleren Einkommen. Sie können diese Entlastung
für den Konsum nutzen und so zur Stärkung der Binnen-
nachfrage beitragen.
Aber auch für die Unternehmen wurden steuerliche
Entlastungen sowie gezielte Korrekturen umgesetzt, die
die Anpassung an die krisenbedingten Folgen erleich-
tern. Diese Korrekturen zugunsten von Unternehmen
waren wichtig, und sie haben geholfen, die Krise leichter
zu überwinden, weil sie schnell kamen. Das Wachstums-
beschleunigungsgesetz hat damit nicht nur eine Nachfra-
gebelebung erzeugt; verbesserte Investitionsbedingun-
gen stärken auch die Wachstumsgrundlagen auf Dauer.
Zur Doppelstrategie. Die Krise hat deutliche Spuren
in den Haushalten aller Gebietskörperschaften hinterlas-
sen. Wir müssen deshalb schnell auf einen Konsolidie-
rungspfad zurückkehren. Die grundgesetzlich verankerte
Schuldenbremse erfordert in den nächsten Jahren erheb-
liche Konsolidierungsanstrengungen im Bundeshaus-
halt. Eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte
wird aber ohne Wachstum nicht gelingen.
Die Bundesregierung setzt deshalb auf eine Doppel-
strategie: Wir stärken die Wachstumskräfte durch steuer-
liche Entlastungen und halten uns an eine klare, regelge-
bundene Konsolidierungsstrategie. So haben wir unsere
Arbeit auch begonnen. Für alle Maßnahmen des Koali-
tionsvertrages gilt deshalb ein Finanzierungsvorbehalt.
Den Bogen zwischen Wachstumsanreizen und Konsoli-
dierung zu schlagen, ist die große finanzpolitische He-
rausforderung dieser Legislaturperiode, und diese Auf-
gabe kann diese Bundesregierung besser bewältigen als
jede andere.
Wir bekennen uns zu soliden öffentlichen Finanzen,
auch weil sie notwendige Voraussetzungen für dauerhaft
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3963
(A) (C)
(D)(B)
günstige Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen
sind. Umgekehrt gilt ebenso: Wirtschaftswachstum und
ein Anstieg der Beschäftigung schaffen die besten Vo-
raussetzungen für tragfähige öffentliche Finanzen.
Wachstum und Konsolidierung gehen Hand in Hand.
Wer hier einen grundsätzlichen Widerspruch sieht, zeigt
nur, dass er selbst mit der gestellten Aufgabe überfordert
wäre.
Diese Bundesregierung wird beides leisten: Wir wer-
den die Bürger entlasten, und wir werden die öffentli-
chen Haushalte konsolidieren.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungs-
gesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 16. September 2009 über Ratingagenturen
(Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung)
(Tagesordnungspunkt 12)
Peter Aumer (CDU/CSU): Es besteht ein breiter
Konsens darüber, dass die weltweiten Finanzmärkte neu
geordnet und reguliert werden müssen. Ein ganz ent-
scheidender Bestandteil ist dabei die internationale Kon-
trolle der Ratingagenturen.
Den Ratingagenturen wird in der Finanzmarktkrise
ein folgenreiches Versagen zum Vorwurf gemacht, da sie
die schlechte Marktlage in ihren Ratings nicht früh ge-
nug zum Ausdruck gebracht haben. Bei Zuspitzung der
Krise hätten die Ratings angepasst werden müssen, was
nicht oder nicht rechtzeitig erfolgt ist. So wurde ein Sys-
tem vermeintlicher Sicherheit geschaffen, das es zukünf-
tig auszuschließen gilt. Mit der im Jahr 2009 auf den
Weg gebrachten EU-Verordnung haben wir in Europa
nun die Möglichkeit, einen ersten wichtigen Schritt in
die richtige Richtung zu gehen.
Uns allen muss natürlich bewusst sein, dass diese Ver-
ordnung nicht alle Schwachstellen der Finanzmärkte be-
heben kann – es gibt kein Allheilmittel im Umgang mit
der Finanzkrise. Ein solches Ziel wäre mit einer derarti-
gen Verordnung auch zu hoch gegriffen und somit nicht
realistisch; aber sie ist dennoch ein wichtiger Schritt in
die richtige Richtung.
Mit diesem Ausführungsgesetz können Zeichen ge-
setzt werden, um die Vertrauenswürdigkeit und die Neu-
tralität der Einschätzungen von Ratingagenturen zu ge-
währleisten, um auch so das Vertrauen in die
Finanzmärkte wieder nachhaltig zu stärken. Nur ein ge-
meinsamer Regulierungsansatz bietet die nötigen Vo-
raussetzungen, um unternehmerische Verantwortung und
Verlässlichkeit unter den Ratingagenturen zu fördern
und eben auch zu fordern und um in Zukunft mehr
Transparenz zu schaffen. Dazu gehört es, dass die Agen-
turen ihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transpa-
renter gestalten. Sie müssen angewandte Methoden, his-
torische Ausfallquoten von Ratingkategorien oder eine
Liste ihrer größten Kunden in Zukunft regelmäßig veröf-
fentlichen. Wir brauchen in Europa einen umfassenden
Rechts- und Aufsichtsrahmen für die Finanzmärkte. Die
Umsetzung der EU-Verordnung leistet einen wichtigen
Beitrag hierfür. Ratingagenturen spielen jetzt und in Zu-
kunft eine essenzielle Rolle in unserer Finanzwelt. Wir
sind angewiesen auf die Einschätzungen von Experten.
Gerade aufgrund der besonderen sich daraus ergebenden
Verantwortung und des wichtigen Stellenwerts von Ra-
tings muss man diese mit der notwendigen Sensibilität
behandeln und einzelne Urteile kritisch hinterfragen. In-
teressenkonflikte bei der Bewertung, offensichtliche
Verstöße gegen das Gebot der Trennung von Beratung
und Bewertung hinterlassen Zweifel an der Qualität der
Ratings. Eine stufenweise Abkehr von der bedingungs-
losen Akzeptanz dieser Ratings ist unabdingbar, und des-
halb ist es auch notwendig, dass Marktteilnehmer parallel
eigene Risikobewertungen vornehmen müssen.
Mithilfe dieser EU-Verordnung werden Ratingagen-
turen mit einem klar definierten Bußgeldkatalog zu mehr
Disziplin gezwungen und über ihre Verantwortung be-
lehrt. Auch wenn dieser Katalog von verschiedenen Sei-
ten als zu mild eingestuft wird, so beinhaltet er aus mei-
ner Sicht ein klares Signal: Wir sind überzeugt und fest
entschlossen, Verstößen entschieden entgegenzuwirken.
Gerade weil sich der Markt der Ratingagenturen durch
einen stark eingeschränkten Wettbewerb charakterisie-
ren lässt, bedarf es einer effizienten, zielgerichteten Re-
gulierung der Ratingagenturen, und gerade deswegen
bedarf es einer Aufsicht.
Grundlegende Voraussetzungen werden durch das
heute zur Abstimmung stehende Ausführungsgesetz ge-
schaffen. Mit der BaFin haben wir eine zentrale und neu-
trale Aufsichtsbehörde, die die Ratingagenturen im
Blick behält und Verstöße frühzeitig erkennen muss.
Dies ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Rich-
tung.
Das Aufbrechen des Oligopols der Ratingagenturen
erscheint mir langfristig besonders wichtig. Es muss eine
nichtstaatliche europäische Ratingagentur geben, die
dem Oligopol der bestehenden Ratingagenturen ange-
messen begegnet. Es ist sehr bedenklich, dass die Kredit-
würdigkeit europäischer Staaten allein vom Urteil dreier
Ratingagenturen mit Sitz in New York abhängig ist. Ne-
ben dem Vorteil der räumlichen Nähe zu den bewerteten
Firmen und Staaten könnten mit einer eigenen europäi-
schen Ratingagentur transparente Strukturen geschaffen
und mehr Unabhängigkeit sichergestellt werden.
Für ein funktionierendes und stabiles Finanzsystem,
das nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Bedürf-
nissen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und
Europas gerecht wird, brauchen wir einen international
orientierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen. Die
Umsetzung der vorliegenden EU-Rating-Verordnung ist
ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur Umsetzung
eines solchen Systems.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Das Europäische
Parlament und der Rat haben im Herbst 2009 die soge-
nannte EU-Ratingverordnung verabschiedet. In dieser
Verordnung wird die Regulierung von Ratingagenturen
3964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
geregelt. Ich denke, ich muss angesichts der vergange-
nen zwei Jahre nicht näher erläutern, warum diese Ver-
ordnung notwendig war.
Die Überprüfung der Einhaltung der Regeln der Ra-
tingverordnung obliegt zunächst den nationalen Auf-
sichtsbehörden. Hierfür ist vom Bundestag der rechtli-
che Rahmen zu schaffen. Darüber hinaus muss der
Bundestag „wirksame, verhältnismäßige und abschre-
ckende Sanktionen“ festlegen, um Verstöße gegen die
Ratingverordnung zu ahnden. Im vorliegenden Gesetz-
entwurf werden genau diese Punkte umgesetzt:
Die Aufsicht über die Ratingagenturen soll der Bun-
desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, ob-
liegen. Die operative Durchführung der Aufsicht soll
durch geeignete Wirtschaftsprüfungsgesellschaften er-
folgen. Verstöße gegen die Ratingverordnung sollen mit
Bußgeldern von 200 000 bis 1 Million Euro geahndet
werden. Jede Ratinggesellschaft muss sich bei der BaFin
registrieren lassen.
Der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzge-
bers ist bei diesem Ausführungsgesetz gering – Eile ist
geboten –; die Mitgliedstaaten sollen bis zum 7. Juni die
Voraussetzungen 2010 für die Überwachung der Rating-
verordnung geschaffen haben. Der Finanzausschuss hat
daher mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen diesem
Gesetzesentwurf zugestimmt.
Ob die EU-Ratingverordnung ausreicht, um die funk-
tionalen Schwächen des gegenwärtigen Ratingsystems
zu beseitigen, ist hier und heute nicht der Punkt. Dies
sollten und müssen wir an anderer Stelle diskutieren.
Heute geht es einzig und allein darum, durch die Festle-
gung der Aufsichtsstrukturen den Einstieg in eine effi-
ziente Regulierung von Ratingagenturen auch hier in
Deutschland zu ermöglichen. Insofern ist es für mich un-
verständlich, wenn sich die Oppositionsfraktionen die-
sem nützlichen und notwendigen Gesetzentwurf verwei-
gern, und zwar mit der Begründung, dass sie in dieser
Vorlage gerne noch weitere Punkte wie den Anleger-
schutz unterbringen möchten. Wir sind gerne bereit, mit
Ihnen darüber zu diskutieren, aber nicht im Rahmen die-
ses Gesetzgebungsverfahrens; denn jetzt ist Eile gebo-
ten, um die Ratingagenturen endlich zu regulieren. Die
Verbesserung des Anlegerschutzes ist im Übrigen auch
ein Anliegen der Bundesregierung, für das sie schon ein
Diskussionspapier herausgegeben hat. Denn wir sehen,
dass es notwendig ist, weitere Maßnahmen zu ergreifen.
Die fehlerhafte Arbeit von Ratingagenturen war eine we-
sentliche Ursache für die Finanzkrise.
Die wesentlichen Kritikpunkte an den Ratingagentu-
ren sind – neben dem Vorwurf, Marktentwicklungen viel
zu spät erkannt zu haben –: mangelnde Transparenz be-
züglich der Beurteilungsmethoden und -daten, man-
gelnde Wettbewerbsstrukturen – drei große amerikani-
sche Agenturen haben den Markt unter sich aufgeteilt –,
Interessenkonflikte, insbesondere zwischen Beratungs-
und Bewertungsleistungen, mangelnde Möglichkeiten,
Ratingagenturen bei Fehlverhalten in die Haftung zu
nehmen.
Vor allem die Fragen nach den Wettbewerbsstruktu-
ren und den Interessenkonflikten sind noch nicht ausrei-
chend beantwortet worden. Deswegen setzen sich die
Regierungsfraktionen für eine weitere Verschärfung der
Regulierungen sowie für die Schaffung einer unabhängi-
gen europäischen Ratingagentur ein.
Die Arbeit und das Verhalten der Ratingagenturen
sind das eine. Auf der anderen Seite steht allerdings das,
was wir aus den Ratingagenturen gemacht haben. – Aber
der Reihe nach: Warum sind eigentlich Ratingagenturen
gegründet worden? Es ging doch darum, dass Banker
und Kaufleute eine zweite, eine unabhängige, eine an-
dere Meinung haben wollten, bevor Kredite gegeben
bzw. Anleihen und andere Finanzprodukte gekauft wur-
den. Zwei Meinungen – eine davon von einem unabhän-
gigen Experten, das hört sich gut an und verbessert zwei-
felsohne das Urteil.
Aus dieser zweiten Meinung ist aber leider allzu oft
die einzige Meinung geworden. Urteile von Ratingagen-
turen wurden überhöht. Auf ein eigenes Urteil wurde
verzichtet. Wir haben dies in der ersten Finanzkrise sehr
deutlich gesehen. Es wurden Produkte allein auf Basis
von Ratingurteilen gekauft. Verstanden wurden sie von
vielen Käufern wohl nicht.
Wir haben diese Entwicklung als Gesetzgeber nicht
gestoppt, sondern gefördert, indem wir Ratingagenturen
zum Beispiel bei der Festlegung von Eigenmitteln von
Kreditinstituten oder bei der Beleihbarkeit von Anleihen
der EZB eine wichtige Rolle zugeteilt haben.
Für mich heißt die Schlussfolgerung daraus: Banker
und Kaufleute müssen sich wieder ihr eigenes Urteil bil-
den. Das Urteil von Ratingagenturen darf und kann auch
gerne als zweite Meinung danebenstehen, sollte aber
niemals das einzige Beurteilungskriterium sein. Dies gilt
es, über die Regulierung von Ratingagenturen hinaus
notfalls auch gesetzlich klarzustellen.
Die EZB hat in den letzten Tagen gezeigt, wie dies in
der Praxis gehen kann: Die EZB hat beschlossen, das
Länderrating für Griechenland als Kriterium für die Be-
leihung von Staatsanleihen auszusetzen, da sie den Kon-
solidierungsmaßnahmen in Griechenland vertraut. Sie
hat ihr eigenes Urteil über die Kreditwürdigkeit von
Griechenland getroffen – dabei aber die Urteile der Ra-
tingagenturen im Blick gehabt. Die zweite Meinung
wurde erwogen, die eigene Meinung war letztlich ent-
scheidend.
Zum Abschluss vielleicht noch einige Anmerkungen
zu einer europäischen Ratingagentur. Das Projekt lohnt
den Schweiß der Edlen, wie es so schön heißt. Es lohnt
sich deswegen, weil ein Markt, den drei Anbieter unter
sich aufgeteilt haben, nicht gesund ist. Eine Alternative
wäre die wettbewerbsrechtliche Zerschlagung der beste-
henden Agenturen, eine andere der staatlich geförderte
Aufbau einer eigenen europäischen Agentur.
Wir sollten von dieser Agentur aber keine Wunder-
dinge erwarten. Auch die Urteile einer europäischen Ra-
tingagentur basieren auf subjektiven Einschätzungen
und mathematischen Modellen, sind also fehleranfällig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3965
(A) (C)
(D)(B)
Eine europäische Ratingagentur, die ernst genommen
werden will, muss unabhängige und keine politischen
Urteile fällen. Deswegen halte ich es für gefährlich, die
prozyklische Wirkung von Ratingurteilen zu kritisieren.
So hatten die unlängst abgestuften Länder schlechte
Fundamentaldaten. Es wäre auch die Aufgabe einer eu-
ropäischen Ratingagentur gewesen, dies öffentlich zu
adressieren und das Ratingurteil gegebenenfalls anzu-
passen, egal ob dies die Krise verschärft oder nicht. Ich
kann in diesem Zusammenhang im Übrigen nur davor
warnen, die EZB zu einer Ratingagentur für Länder aus-
zubauen. Dies birgt Interessenkonflikte und gefährdet
die Unabhängigkeit der EZB.
Für heute kann ich nur alle Fraktionen bitten, den vor-
liegenden Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen. Das
wird die dringend benötigte Regulierung der Rating-
agenturen auf den Weg bringen, sie unter Aufsicht stel-
len und Sanktionen der Ratingagenturen bei Verstößen
ermöglichen. Das Gesetz gibt uns nicht die abschlie-
ßende Lösung der Ratingproblematik, ist aber ein guter
Einstieg für weitere Maßnahmen. Es trägt dazu bei, die
Finanzmärkte für uns alle ein wenig sicherer zu machen.
Manfred Zöllmer (SPD): Der Fall Griechenland
zeigt noch einmal sehr eindrücklich die Notwendigkeit
einer Reform des Ratingagenturunwesens. Warum Unwe-
sen? Dies lässt sich sehr gut an den aktuellen Ereignissen
rund um Griechenland erklären: In der letzten Woche, am
Dienstag, war ich gerade vor Ort in Griechenland, als die
Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit
des Landes auf Ramschniveau heruntergestuft hat. Dabei
gab es keinen sachlich nachvollziehbaren Grund, warum
das Griechenland-Downgrading ausgerechnet letzte Wo-
che erfolgen musste – keinen!
Das Rating für griechische Anleihen sank gleich um
drei Stufen, obwohl es positive Einsparzahlen für den
griechischen Staatshaushalt gegeben hatte, immerhin
40 Prozent im ersten Quartal. Angeblich reichten die
Einsparungen nicht. Und dies mitten im Prozess der Ver-
handlungen der griechischen Regierung mit Vertreten
des IWF und der EZB vor Ort. Das Rating wurde noch
mit negativem Ausblick versehen, das heißt, eine weitere
Abstufung ist für die Ratingagentur denkbar. Das, was
die Agentur für Griechenland befürchtet hatte, wurde
durch das Herabstufen der Bonität dann ausgelöst.
Es geht also nicht darum, wie es eine Zeitung schrieb,
den Überbringer einer schlechten Nachricht zu kritisieren.
Ich kritisiere, dass die schlechte Nachricht, vor der man
warnen wollte, erst produziert wurde. Wer garantiert uns
eigentlich, dass dies nicht im Zusammenspiel mit be-
stimmten Akteuren auf den Finanzmärkten erfolgte?
Wer rechtzeitig im Besitz einer solchen Nachricht ist,
kann daraus sehr hohen Gewinn ziehen. Die Börsen und
der Euro haben natürlich entsprechend reagiert.
Wenn Ratingagenturen nur nach objektiven Kriterien
vorgehen, warum sind dann die Bewertungen der Agen-
turen so unterschiedlich? Bei Moody’s hat Griechenland
noch eine A-Benotung. Vielleicht geht es ja bei den Ra-
tingagenturen nach dem Motto eines Wirtschaftswitzes,
der da lautet: „50 Prozent der Wirtschaft sind Psycholo-
gie – die Fakten sollten daher nicht überbewertet wer-
den.“ Schaut man sich die Arbeit der Agenturen in der
Vergangenheit an, dann wird man das Gefühl nicht los,
hier hat man ein Branchenmotto gefunden.
Auch in den USA stehen Ratingagenturen aktuell er-
neut in der Kritik, weil sie mit ihren Einschätzungen
weit danebenlagen. So nahm ein Bundesgericht in New
York nun eine Klage gegen die beiden Agenturen
Standard & Poor’s sowie Moody’s und die deutsche Mit-
telstandsbank IKB an. Die Vorwürfe der Kläger zielen
gegen das Kerngeschäft der Unternehmen: die Bewer-
tung von Finanzprodukten. Im konkreten Fall steht ein
strukturiertes Anlageprodukt im Mittelpunkt, das 2007
von der IKB aufgelegt und von den Agenturen mit Spit-
zennoten versehen wurde. Im August 2008 musste das
unter dem Namen „Rheinbrücke“ vermarktete Produkt
mit großem Verlust für die Anleger abgewickelt werden.
Sie konnten von ihren ursprünglich investierten 1,1 Mil-
liarden Dollar nur noch 55 Prozent retten.
Wer so dramatisch fehlerhaft arbeitet – und dies ist
nur ein Beispiel von vielen –, der darf nicht solchen Ein-
fluss auf das Wirtschaftsgeschehen von Staaten haben,
wie es am Beispiel Griechenlands exemplarisch deutlich
wird. Dies löst doch häufig erst das Problem aus, vor dem
sie warnen wollen. Es ist absolut prozyklisch. Ratingagen-
turen verschärfen häufig Krisen, statt sie zu verhindern.
Warum lassen wir es eigentlich zu, dass solche Dilettan-
ten einen so großen Einfluss haben?
Sehen wir uns einmal an, was durch den vorliegenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung geändert werden soll.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die nationale
Umsetzung der im September 2009 in Kraft getretenen
EU-Ratingverordnung – 1060/2009/EG – vorgenom-
men. Mit der EU-Verordnung wollen die Mitgliedstaaten
die Ratingagenturen als wichtige Finanzmarktakteure
besser überwachen und vor allem mehr Transparenz
schaffen. So müssen sich in der EU tätige Ratingagentu-
ren ab Juni 2010 bei der Finanzaufsicht des jeweiligen
Landes registrieren lassen und ihre Geschäfte offenlegen.
Um registriert zu werden, haben sie international festge-
legte Anforderungen zu erfüllen. Außerdem müssen sie in
mindestens einem Mitgliedstaat niedergelassen sein.
Das Ausführungsgesetz sieht die Bundesanstalt für Fi-
nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, als Aufsichtsbehörde
in Deutschland vor, bei der sich Agenturen registrieren
und ihre Geschäfte offenlegen müssen. Auch Verstöße
gegen die EU-Ratingverordnung kann die BaFin künftig
anhand eines Bußgeldkataloges ahnden. Für die Verwen-
dung von Ratings aus Ländern außerhalb der EU schreibt
die Union außerdem besondere Anforderungen vor.
Um Interessenkonflikte zu vermeiden, dürfen Rating-
analysten zudem nicht mehr Kunden beraten und sie
gleichzeitig bewerten. Ferner verpflichtet die Verordnung
Ratingagenturen zur regelmäßigen Überprüfung ihrer
Ratings und Methoden. Für strukturierte Finanzinstru-
mente müssen die Agenturen gesonderte und klar gekenn-
zeichnete Ratingkategorien angeben. Das sind Verbesse-
rungen, die dringend notwendig sind.
3966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
Die Frage ist: Reicht das aus? Wenn wir uns die Er-
gebnisse des Hearings einmal vor Augen führen, dann
können wir feststellen: Dies ist ein Schritt in die richtige
Richtung, aber auch nicht mehr. Die Bundesregierung
macht eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben,
nicht mehr. Wichtige Probleme bleiben damit ungelöst.
Ratingagenturen werden auch künftig für ihre Urteile
von den Beurteilten bezahlt. Das ist und bleibt der größte
Fehler im System. Die Gefahr, dass Risiken falsch einge-
schätzt werden, bleibt damit bestehen. Die vorgesehene
Trennung von Rating und Beratung ist ein erster Schritt,
greift aber zu kurz. Sie lässt sich zu leicht durch gesell-
schaftsrechtliche Konstruktionen aushebeln. Rating-
agenturen agieren wie ein Finanz-TÜV, haften aber nicht
für das Ergebnis. Der – für andere Verstöße – vorgese-
hene Bußgeldrahmen erfüllt das Kriterium „Peanuts“,
vor dem Hintergrund von Milliarden Umsätze der großen
Ratingagenturen.
Auch die Frage: „Wie bekommen wir mehr Wettbe-
werb in den Markt“ wird nicht angegangen. Es fehlt die
Konkurrenz einer alternativen europäischen unabhängigen
Agentur.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erster Schritt
zur Verbesserung von Qualität, Unabhängigkeit und
Transparenz. Aber er ist nicht ausreichend; das zeigt die
aktuelle Entwicklung. Die systemischen Risiken der Ra-
tingagenturen werden nicht angegangen. Hier sind Chan-
cen vertan worden. Wir werden uns deshalb enthalten.
Es scheint nach den eingangs geschilderten Ereignissen
in Bezug auf Griechenland inzwischen auch der EU-Kom-
mission zu dämmern, dass Verbesserungen notwendig
sind. So äußerte sich der EU-Kommissar Barnier dieser
Tage: Wir müssen weitergehen, um die Auswirkungen der
Ratings auf das gesamte Finanz- und Wirtschaftssystem
zu sehen. – Recht hat er. Überschrieben war die Meldung
mit: EU zeigt sich offen für Nachjustierung bei Rating-
agenturen. – Vielleicht gelingt es dann ja doch noch, die
angesprochenen Schwachpunkte zu beseitigen.
Björn Sänger (FDP): Die Griechenlandkrise zeigt,
dass hinsichtlich Ratingagenturen dringender Hand-
lungsbedarf besteht. Die Zahlungsfähigkeit Griechen-
lands wurde schon über längere Zeit in Zweifel gezogen.
Trotzdem erhielt die Bonität des Landes Spitzenwertun-
gen durch die drei großen Ratingagenturen. Dann wurde
bekannt, dass die griechische Haushaltsdefizitquote ge-
schönt war, und erst nach geraumer Zeit folgte die Ab-
wertung. Die fiel dann aber so drastisch aus, dass die Re-
finanzierung Griechenlands auf dem Anleihemarkt fast
unmöglich wurde. Die Märkte sind, wie man sieht, gera-
dezu hörig, was die „reinen Meinungsäußerungen“ – wie
die Agenturen nicht müde werden zu betonen – betrifft,
und verlassen sich auf die Ratings und blenden andere
Indikatoren weitgehend aus.
Das war den Marktteilnehmern zu einem gewissen
Grad auch nicht vorzuwerfen, mangelte es bisher doch
an Transparenz, und Bewertungen wurden trotz mangel-
hafter oder fehlender Daten vorgenommen. Zudem wa-
ren Interessenkonflikte möglich, wenn eine Agentur ei-
nen Kunden bewertete und eben dazu auch beriet. Durch
die EU-Ratingverordnung werden diese Probleme ange-
gangen. Die enthaltenen Verhaltensnormen und eine ver-
stärkte Aufsicht darüber werden dazu führen, dass die
Agenturen ihre Rolle auf den Finanzmärkten künftig
besser wahrnehmen werden können.
Die Situation bezüglich Griechenlands zeigt nun
auch, dass wir hier einer europäischen Dimension der
Problematik gegenüberstehen, weshalb es wichtig war,
die Thematik auf europäischer Ebene anzugehen und
nun national umzusetzen, womit die Bundesregierung
praktisch den Zug aus Brüssel auf die Schiene gesetzt
hat und der Dringlichkeit entsprechend auch keine Zeit
verloren hat. Die Bundesregierung nimmt ihre Verant-
wortung in der Krise wahr.
Zugegebenermaßen gibt es mit dem Zugverkehr bei
dem Zug aus Brüssel nun aber Schwierigkeiten, wie es
Bahnreisende tagtäglich erleben – die Sache hat Macken
und läuft noch nicht so richtig rund. Nun ist Deutschland
aber keine Insel, und der Zugverkehr bricht an der Küste
ab. Nein, der Ratingmarkt muss nicht national, sondern
europäisch optimiert werden. Probleme bereiten uns
weiterhin die Oligopolstruktur aus im Wesentlichen drei
privatwirtschaftlich organisierten amerikanischen Unter-
nehmen, die erheblichen wirtschaftlichen Einfluss ha-
ben, und der Umstand, dass der Anbieter der Finanzpro-
dukte die Agentur bezahlt, von der er beurteilt werden
soll, was doch wieder zu Interessenkonflikten der Agen-
tur führen kann. Denn wer beißt schon gerne die Hand,
die einen füttert?
Die Bundesregierung wird, wie Bundeskanzlerin
Merkel am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung be-
tonte und wie es unser Koalitionsvertrag vorsieht, natür-
lich am Ball bleiben und etwa die Prüfung der Gründung
einer europäischen Ratingagentur als Gegenpol zum bis-
herigen Oligopol auf dem Ratingmarkt vornehmen.
Natürlich ist dies ein sehr kniffliges Thema, und die
EU müsste etwas schaffen und dabei Staatsnähe vermei-
den, um eben glaubwürdig und dem Vorwurf der Staats-
wirtschaft nicht ausgesetzt zu sein. Eine Möglichkeit
wäre da eine unabhängige Stiftung für Finanzprodukte,
wobei hier die Bezahlung von Ratings zu klären wäre.
Doch durch die Unabhängigkeit würde sich die Stiftung
Glaubwürdigkeit bewahren.
Für alle so oder so Beteiligten auf dem Ratingmarkt
ist auch eine Verschärfung der Haftung anzustreben. Wie
bereits erwähnt, sind die Ratingbewertungen Meinungs-
äußerungen; doch darf sich damit nicht einfach aus der
Verantwortung für Probleme gestohlen werden, die solch
ein Rating hervorrufen kann. Für eine Meinung ist man
nicht haftbar, aber für die korrekte Anwendung der
durch die Ratingverordnung nun offenzulegenden Me-
thodik sollte man es schon sein.
Weiterhin müssen, unabhängig von einem europäi-
schen Gegenpol zum jetzigen amerikanischen Oligopol,
insgesamt Rahmenbedingungen für mehr Wettbewerb
geschaffen werden, und deshalb sind bei solchen Rege-
lungen Bedürfnisse von kleineren auf dem Markt befind-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3967
(A) (C)
(D)(B)
lichen oder in den Markt strebenden Agenturen beson-
ders im Auge zu behalten.
All dies muss nun durch die Mitwirkung aller Fraktio-
nen erörtert werden. Begleitet durch diese wichtige Dis-
kussion wird die Bundesregierung auf ihrem Weg zur Si-
cherung unserer Finanzmärkte weiter voranschreiten.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Um es gleich klarzu-
machen: Wir lehnen das Gesetz ab. In der ersten Lesung
hatten wir hier bereits erhebliche Zweifel und Kritik an-
gebracht. In der zwischenzeitlichen Anhörung des Fi-
nanzausschusses wurde unsere Kritik bestätigt, und aus
unseren Zweifeln wurde Gewissheit. Ich komme gleich
zu den Details.
Die EU-Ratingverordnung und das Ausführungs-
gesetz sind im Vergleich zum bestehenden Regelungsbe-
darf glatter Hohn. Die Bundeskanzlerin wird seit dem
G-20-Gipfel in Washington im November 2008 nicht
müde, zu wiederholen, Staaten dürften nicht länger von
Akteuren auf den Finanzmärkten erpressbar sein. Die
Krise in Griechenland zeigt, dass die Bundesregierung
mit diesem Ziel erbärmlich gescheitert ist, weil sie nicht
einmal den beherzten Versuch unternommen hat, mit der
Regulierung anzufangen.
Wir reden hier von den Ratingagenturen, also den
Finanzmarkt-Auguren, die in allen relevanten Finanz-
krisen der vergangenen 15 Jahre falsche Einschätzungen
abgegeben haben. Ich frage Sie: Wie sehr und wie oft
müssen eigentlich Institutionen versagen, bevor man zu
der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Aufgabe nicht
gewachsen sind?
Mit dem Herunterstufen Griechenlands haben die Ra-
tingagenturen massiv Öl ins Feuer gegossen und eine
sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgesprochen,
nämlich dass Griechenland an den Märkten keinen Kre-
dit mehr bekommt. Aufgrund der geradezu tyrannischen
Machtkonzentration der Ratingagenturen werden wir lei-
der nie erfahren, ob es für Griechenland auch einen an-
deren Weg gegeben hätte. Die Ratingagenturen haben
Fakten geschaffen, die jetzt in Form dramatischer sozia-
ler Belastungen auf den unteren und mittleren Einkom-
mensgruppen in Griechenland lasten. Anschaulicher
kann man die Diktatur der Finanzmärkte kaum in Au-
genschein nehmen.
Nun zu den Kritikpunkten am Gesetz. Die Bundes-
regierung behauptet, dass das Gesetz Interessenkonflikte
löst, weil die Ratingagenturen nicht länger in eigener Sa-
che beraten dürften. Das ist nur sehr vordergründig rich-
tig. Tatsächlich enthält das Gesetz Schlupflöcher so groß
wie Scheunentore. Sobald das Beratungs- und Bewer-
tungsgeschäft in zwei separate Gesellschaften innerhalb
eines Ratingunternehmens aufgespalten wird, läuft das
Gesetz komplett ins Leere. Das haben in der Anhörung
im Übrigen auch die Sachverständigen moniert, die nicht
von uns benannt worden waren. Wolfgang Gerke vom
Bayerischen Finanz Zentrum hat zum Beispiel vorge-
schlagen, man solle den Ratingagenturen die Beteiligung
an einer Ratingberatungsgesellschaft verbieten, um die-
ses Schlupfloch zu schließen. Die Reaktion der Koali-
tion: Schulterzucken und Nichtstun.
Auch bei der vermeintlichen Unterwerfung der Ra-
tingagenturen unter eine staatliche Finanzaufsicht bleibt
es letztlich bei Augenwischerei. Die konkreten jährli-
chen Prüfungen werden im Auftrag der BaFin von priva-
ten Wirtschaftsprüfern durchgeführt. Dabei wird sich
sehr schnell dasselbe Kartell der Big Four herausbilden,
nämlich KPMG, PricewaterhouseCoopers, Deloitte und
Ernst & Young, die den Markt unter sich aufteilen. Und
wie genau die hinschauen, wissen wir spätestens seit den
Bilanzskandalen in den USA und seit den lupenreinen
Prüfberichten für Banken wie die IKB, Lehman Brothers
oder die HRE, die von diesen Prüfungsgesellschaften
ausgestellt wurden.
Der Gesetzgeber muss endlich aufhören, den Ratings
der Agenturen in gesetzlichen Regeln, wie zum Beispiel
im Basel-Abkommen, eine besondere Funktion und
Glaubwürdigkeit zuzuweisen. Wir brauchen endlich eine
öffentliche europäische Ratingagentur, die das Kartell
von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch aufbricht und
dem Diktat der Finanzmärkte Paroli bietet.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung ist
kein großer Wurf. In einem Zwischenschritt wird die
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit der
Beaufsichtigung weniger neuer Verhaltensregeln für
Ratingagenturen beauftragt, bevor die europäische Wert-
papierbehörde diese Aufgabe ab 2011 übernimmt. Der
gewählte Ansatz, Interessenkonflikte offenzulegen, löst
die damit verbundenen Probleme nicht ausreichend, so-
weit keine alternativen, möglichst unabhängigen Bewer-
tungen und Informationen erhältlich sind.
So sinnvoll es ist, dass Ratingagenturen keine Beratung
mehr für Unternehmen, die zugleich bewertet werden,
durchführen dürfen und so aussagekräftig die offenge-
legten Methodiken, Modelle und Annahmen der Rating-
agenturen sein mögen, kann das nicht darüber hinweg-
täuschen, dass das Kernproblem bleibt. Ratingagenturen
haben nach wie vor eine zu große Bedeutung am Kapi-
talmarkt und wirken wie aktuell im Fall Griechenland
krisenverschärfend.
Wieder einmal haben die Ratingagenturen die Markt-
lage nicht früh genug in ihren Bewertungen zum Aus-
druck gebracht und ihre Bewertungen nicht rechtzeitig
angepasst. Das plötzliche Herabsetzen einer Länder-
bewertung gleich um mehrere Stufen wirkt wie ein Start-
signal auf Spekulanten. Wir können gerade bei Portugal
und Spanien wieder beobachten, wie die Gefahr eines
Überschwappens der griechischen Schuldenkrise steigt.
Ratingagenturen sind nicht die harmlosen Überbringer
der Botschaft, sondern können Trends mitentwickeln.
Ganz besonders problematisch war die Rolle der Rating-
agenturen bei strukturierten Finanzprodukten.
Dieses Muster müssen wir jetzt dringend durchbrechen.
Wir meinen daher, es ist höchste Zeit für eine europäische
öffentlich-rechtliche Ratingagentur, die ein Gegenge-
wicht zu den drei Monopolisten am Markt bildet.
Nun endlich muss die politische Aufgabe gelöst werden,
die Rolle von Ratings in einem insgesamt verbesserten
und umfassenderen Informationssystem auf ein positives
Maß zu stutzen und mehr Vielfalt in den Markt zu bringen.
3968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
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(D)(B)
Dafür sind auch Veränderungen bei der Europäischen
Zentralbank und bei den bankenaufsichtlichen Regelun-
gen zu beschließen. Dafür gilt es auch, die kartellähnli-
che und missbrauchsanfällige Markt- und Machtstruktur
der drei großen Agenturen zu brechen.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hatte sich bereits
im Juni 2008 für die Gründung einer europäischen Ra-
tingagentur ausgesprochen. Bisher sind ihren Worten
aber keinerlei Taten oder Initiativen gefolgt. Das Ziel in
Koalitionsverträgen aufzuschreiben und in Sonntagsreden
im Mund zu führen, reicht eben nicht.
In unserem Entschließungsantrag zeigen wir auch die
Schwächen des Ausführungsgesetzes in der Umsetzung
des Anlegerschutzziels und der Veröffentlichungspflichten
von Sanktionen auf. Der deutsche Gesetzgeber hat die
bestehende Befugnis, Sanktionen zu veröffentlichen,
nicht genutzt, um ein überfälliges Transparenzregime in
deutschen Gesetzen zu verankern. Auch die Zielsetzung der
EU-Ratingverordnung, dem Anleger- und Verbraucher-
schutz Rechnung zu tragen, wurde nicht aufgegriffen.
Wir benennen weiter die seit dem Enron-Skandal im
Jahr 2001 bekannten, aber unbearbeiteten strukturellen De-
fizite: fehlender Wettbewerb, die ungeeignete Finanzie-
rungsbasis für Bewertungen und die zu große Abhängigkeit
der Banken von Ratings schon bei Standardprüfungen.
Und schließlich fordern wir, verpflichtende und um-
fassendere Offenlegungs- und Informationsvorschriften
für relevante Kapitalmarktinformationen gesetzlich zu
regeln. Dies liegt im öffentlichen Interesse und schafft
die Voraussetzungen, dass Aufsicht, Anleger, Analysten
und Investoren sich eine fundierte Meinung zur Güte der
Ratings und den zugrundeliegenden Aktiva, Instituten
und Ländern bilden können.
Vor allem im Verbriefungsmarkt bleiben die Offenle-
gungspraktiken in Verkaufsprospekten und Investoren-
mitteilungen hinter denen auf dem Markt der Unterneh-
mensschuldverschreibungen zurück. Als gemeinsamer
Ansatz sollten relevante Informationen präzise gesetzlich
bestimmt und obligatorisch, fortlaufend und breit offen-
gelegt werden sowie von unabhängigen Dritten verifiziert
werden. Im Vorfeld sind notwendige Definitionen und
Ermittlungsmethoden europäisch zu vereinheitlichen.
Die Finanzmärkte benötigen nicht nur eine Detailkor-
rektur, sondern einen grundlegenden Wandel von Ziel-
setzung, Strukturen und Akteuren.
Es ist entscheidend, dass wir jetzt zu grundlegenden
Veränderungen kommen. Bei den Ratingagenturen bleibt
dabei noch viel zu tun.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
trägen:
– Mehr Chancengleichheit für Jugendliche –
Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom-
men anrechnen
– Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das
Arbeitslosengeld II
(Tagesordnungspunkt 17)
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Bislang hat
das SGB II zwischen dem Einkommen eines Arbeit-
suchenden und dem Einkommen eines Schülers aus ei-
nem Ferienjob keinen Unterschied gemacht. Dies wurde
in den letzten Wochen und Monaten zu Recht von allen
im Bundestag vertretenen Fraktionen kritisiert und eine
entsprechende Korrektur angemahnt.
Da es bis zu den Sommerferien auch nicht mehr weit
ist und viele Schülerinnen und Schüler schon jetzt Pläne
schmieden, wie sie sich in dieser Zeit etwas Taschengeld
verdienen können, freue ich mich, dass wir jetzt eine
Lösung gefunden haben, die nicht nur zweckmäßig, son-
dern auch unbürokratisch ist: Ab dem 1. Juni 2010 kön-
nen Einkommen aus Ferientätigkeiten bis zu einer
Grenze von 1 200 Euro pro Jahr gänzlich freigestellt
werden. Diese neue Regelung wird auf dem Wege einer
Verordnung erlassen, das heißt, wir gehen den schnellen
und direkten Weg.
Durch die Festsetzung eines Grenzbetrages, bis zu
dem Einkommen anrechnungsfrei bleiben kann, haben
wir zudem klargestellt, dass wir nach wie vor der An-
sicht sind, dass Ferien vorrangig der Erholung dienen
sollen. Eine komplette Freistellung – wie von den Lin-
ken gefordert – ist abzulehnen; denn damit würde dem
schlichten „Knetemachen“ höchste Priorität eingeräumt.
Das wäre ein falsches Signal an die jungen Menschen.
Auf der anderen Seite wurde aber der Freibetrag so
hoch angesetzt, dass Leistungsbereitschaft und Fleiß der
jungen Menschen nicht im Keim erstickt, sondern auch
belohnt werden. So ermöglicht die Neuregelung bei-
spielsweise den Schülerinnen und Schülern, bei einem
Stundenlohn von 10 Euro 30 Stunden in der Woche zu
arbeiten, und zwar in einem Zeitraum von vier Wochen.
Ich denke, dass hiermit ein guter Kompromiss gefunden
wurde; denn er berücksichtigt den Aspekt der Erholung
wie auch den Aspekt des Leistungsanreizes in einem
verantwortbaren und ausgewogenen Maße.
Die Neuregelung bei den Ferienjobs kann aber nur ein
kleiner Baustein zur Förderung der jungen Menschen im
SGB II sein. Solange es noch immer junge Menschen
gibt, die als Berufsziel „Hartz IV“ angeben, solange die
Quoten derjenigen, die ohne Abschluss die Schule ver-
lassen, in einigen Bundesländern noch immer im zwei-
stelligen Bereich liegen, solange immer wieder Mel-
dungen durch die Presse gehen, dass vorhandene
Ausbildungsplätze aufgrund mangelnder Ausbildungs-
reife der Bewerberinnen und Bewerber nicht besetzt
werden konnten, können und dürfen wir die Hände nicht
in den Schoß legen. Gefragt sind alle gesellschaftlichen
Kräfte, aber natürlich in erster Linie auch die Politik.
Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung
jetzt einen wichtigen Schritt in dieser Richtung unter-
nommen hat: Am 21. April wurde eine stärkere Förde-
rung für Jugendliche im SGB II vereinbart mit dem Ziel,
jedem erwerbsfähigen Jugendlichen innerhalb von sechs
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3969
(A) (C)
(D)(B)
Wochen einen Ausbildungsplatz oder eine qualifizierte
Beschäftigung anzubieten.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): In Teilen ihrer Begrün-
dung haben Linke und SPD mit ihren Anträgen recht.
Mit allen Fraktionen dieses Hauses bin auch ich der Mei-
nung: Eigeninitiative von Schülern darf nicht blockiert
werden.
Der Ferienjob ist in der Regel der erste Kontakt mit
der Arbeitswelt. Im Idealfall führt er später zum ersten
Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, eigene Fähigkeiten
realistisch einzuschätzen, und geben Selbstbewusstsein
für die Bewerbungsphase. Nicht zuletzt machen Ferien-
beschäftigungen Jugendlichen Mut, deren Eltern auf
Hartz IV angewiesen sind und die eigenes Erwerbsein-
kommen aus ihrem familiären Umfeld nicht oder zu wenig
kennen. Sie können Perspektivlosigkeit und Resignation
vorbeugen helfen.
Niemand kann wollen, dass die SGB-II-Gesetzgebung
einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt
entwickelt. Das SGB II hat sich als lernendes System
bewährt – auch mit Blick auf die gegenwärtige Wirt-
schaftskrise. Was gesetzlich geregelt ist, muss aber nicht
sakrosankt sein.
Deshalb war auch der Aspekt der Ferienjobs in die
Generalüberprüfung des SGB II miteinbezogen. Im
Sinne einer umfassenden Regelung ist die Bundesregie-
rung längst tätig geworden – gründlicher, als Linke und
SPD es hier vorschlagen. Die christlich-liberale Koalition
hat jetzt ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, in
das auch der Aspekt der Ferienjobs eingebunden ist. Die
Koalitionsfraktionen haben entschieden, Ferienjobs bei
Kindern von Hartz-IV-Empfängern bis zu 1 200 Euro
künftig nicht mehr auf die Bezüge der Eltern anzurechnen.
Das gilt für Jobs von längstens vier Wochen je Kalender-
jahr. Diesen Betrag pauschal für das ganze Jahr anzuset-
zen, war die richtige Entscheidung.
Rechtzeitig vor den Sommerferien geben wir damit
allen Jugendlichen das Signal: Es lohnt sich, aktiv zu
werden und sich selbst etwas dazuzuverdienen. Schul-
pflichtige Kinder hilfebedürftiger Eltern werden damit
weitgehend anderen Schülern gleichgestellt, deren Eltern
nicht hilfebedürftig sind. Mit ihrer Ferienarbeit können
sie sich eigene Wünsche erfüllen. Der Führerschein oder
das Moped aus eigener Tasche, das ist damit auch für Ju-
gendliche aus Hartz-IV-Haushalten möglich.
In der Ausschusssitzung vom 24. Februar 2010 hatten
die Kollegen von den Grünen eine pragmatische Lösung
in der Sache „Anrechnung von Ferienjobs“ gefordert.
Liebe Kollegen von den Grünen, das brauchen Sie nicht
von uns zu fordern. Pragmatisch im Sinne des Gemein-
wohls sind wir immer. Vernünftigen und sinnvollen An-
liegen verweigern wir uns nicht. ln der Plenardebatte am
28. Januar 2010 zum selben Thema hat mich der Kollege
Markus Kurth von den Grünen direkt angesprochen. Ich
zitiere: „Haben Sie nicht vor zwei Monaten den Ein-
druck erweckt, eine Lösung des Problems stünde unmit-
telbar bevor?“ Herr Birkwald von den Linken hatte in der-
selben Sitzung von der Bundesregierung gefordert:
„Legen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf
vor!“
Bei uns geht Gründlichkeit vor. Die Ferienjobs sind
ein Teil der großen SGB-II-Reform. Dazu hatte ich in
meiner Rede vom 26. November 2009 schon ausgeführt:
„Wir haben bis Mitte des Jahres eine Lösung bei den
Hinzuverdienstgrenzen – nicht mehr und nicht weniger“.
Nur im Kontext mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten
sind die Ferienjobs zu sehen.
Sie haben von uns Pragmatismus und Schnelligkeit
gefordert – dann seien auch Sie pragmatisch. Springen
Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie unserem Maß-
nahmenpaket zu, wenn es im Plenum behandelt wird.
Dieses Maßnahmenpaket begleitet die Ferienjobregelung
der Bundesregierung und umfasst auch das Beschäfti-
gungschancengesetz. Damit Ihnen die Zustimmung später
leichter fällt, möchte ich es den Kollegen von der Opposi-
tion kurz noch einmal vorstellen: Neben der Ferienjob-
regelung, die als Rechtsverordnung erlassen wird, sieht
es unter anderem vor: die Verlängerung der Sonderregelun-
gen zur Erstattung der Sozialbeiträge für das Kurzarbei-
tergeld um 15 Monate bis Ende März 2012, die Verlän-
gerung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten für
ältere Beschäftigte und Berufseinsteiger, die Fortführung
der Möglichkeit für arbeitslose Existenzgründer und
Auslandsbeschäftigte, sich freiwillig in der Arbeitslo-
senversicherung abzusichern, die Verbesserung der Ar-
beitsmarktchancen für junge Menschen, Alleinerzie-
hende und ältere Arbeitsuchende sowie die Verbesserung
der Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung
für Arbeitsuchende, um stärkere Anreize zur Aufnahme
einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu
geben.
Das neue Maßnahmenpaket ist damit ein weiteres In-
strument, um der Wirtschafts- und Finanzkrise ent-
schlossen entgegenzutreten. Unser Ziel ist es, aus der
Krise heraus neue Brücken zu mehr Beschäftigung zu
bauen und gezielt die zu unterstützen, die es auf dem Ar-
beitsmarkt besonders schwerhaben. Um ihnen helfen zu
können, bevorzugen wir Lösungsmechanismen, die si-
cherlich wichtige Einzelaspekte wie die Ferienjobs nicht
isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachten.
Katja Mast (SPD): Es ist schon erstaunlich, was un-
ser Antrag zu den Ferienjobs in den vergangenen Wo-
chen ins Rollen gebracht hat. Was haben Sie, Kollegin-
nen und Kollegen von Schwarz-Gelb, nicht alles für
Gründe vorgebracht, warum Sie unserem Antrag nicht
zustimmen können! Was wollten Sie nicht alles im Zuge
dieser Debatte in Kommissionen beraten!
Und währenddessen? Ist wieder Monat um Monat
verstrichen, und wieder wussten die Jugendlichen aus
Familien, die von Arbeitslosengeld II leben, nicht, ob ihr
Lohn vom Ferienjob angerechnet wird oder nicht. Auch
konnten Sie keine Antwort auf die Frage vieler Jugendli-
cher aus Arbeitslosengeld-II-Familien geben, ob ihr ers-
ter Kontakt mit der Berufswelt weniger wert ist als die
Berufserfahrung von Jugendlichen, deren Eltern nicht
auf Sozialleistungen des Staates angewiesen sind.
3970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
Und dann haben Sie die Jugendlichen immer wieder
öffentlich verunsichert. Erst wurde in der Sendung Hart
aber fair gesagt, das müsse man regeln, dann kam ein
striktes Nein zu jeglicher Regelung. Anschließend prä-
sentierten Sie einen Vorschlag, der vorsah, die Hinzuver-
dienstgrenze im Jahr auf 2 000 Euro zu erhöhen, gleich-
zeitig aber die 100 Euro Freibetrag pro Monat
abzuschaffen. Im April schließlich waren die Ferienjobs
plötzlich wieder Teil Ihrer Sozialstaatsdebatte, die Teil-
habe verhindert und keine Perspektiven schafft.
Ich sage Ihnen von Schwarz-Gelb: Das war wahrlich
keine sozialpolitische Glanzleistung. Das war Abwarten
und Aussitzen. Sie haben die berechtigten Anliegen der
Jugendlichen nicht ernst genommen. Da kann die zu-
ständige Ministerin noch so viel versprechen, was sie für
junge Erwachsene ändern will. Im Detail lösen sich
diese Versprechen schnell in Luft auf. Ohne die SPD-
Bundestagsfraktion hätten Sie, Frau von der Leyen, sich
nicht bewegt. Ohne unseren konkreten Vorschlag hätte
Schwarz-Gelb keine Idee gehabt, wie durch den Ferien-
job der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Jugendli-
chen gleich wird.
Der Entwurf für die entsprechende Verordnung zur
Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II
liegt jetzt vor. 1 200 Euro sind für Jugendliche bis
25 Jahre zukünftig zusätzlich anrechnungsfrei. Das ist
gut und längst überfällig. Die Bundesregierung nennt als
Beispiel einen vierwöchigen Ferienjob à 30 Stunden mit
einem Stundenlohn von 10 Euro. Das von der Bundesre-
gierung gewählte Beispiel zeigt: Schwarz-Gelb ist im-
mer noch weit weg von der Realität der Jugendlichen.
Wer in den Sommerferien bei einem Mittelständler, bei-
spielsweise in Baden-Württemberg, mit anpackt, der ar-
beitet in der Regel 40 Stunden. Der Jugendliche kommt
so schnell über die Freigrenze, die jetzt in die Verord-
nung geschrieben wird. Dieser bittere Beigeschmack
bleibt.
Unser Vorschlag, dem Sie heute zustimmen können,
geht weiter. Vier Wochen Ferienjob bei angemessener
Bezahlung anrechnungsfrei zu gestalten, das ist unsere
Vorstellung vom fairen Umgang mit der ersten Berufs-
orientierung. Heute können Sie dem zustimmen.
Die Debatte um die Ferienjobs zeigt auch: Die Bun-
desregierung hat keine Antwort darauf, wie sie Jugendli-
chen echte Brücken in den Arbeitsmarkt bauen will, da-
rauf, wie wir es schaffen, den jungen Menschen, die sich
derzeit in Warteschleifen befinden, ein faires Angebot zu
unterbreiten. Wir Sozialdemokraten wollen mehr als das
Gefühl, gebraucht zu werden.
Die Zahlen können einen nicht kaltlassen: Die Bun-
desagentur für Arbeit hat 2009 alleine 12 200 Neuzu-
gänge in Warteschleifen gezählt. Rund 1,5 Millionen
junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben gar
keinen Berufsabschluss. Wir nehmen diese Zahlen und
vor allem jedes einzelne Gesicht dahinter sehr ernst. Nur
so schaffen wir echte Chancen für einen Einstieg in den
beruflichen Aufstieg. Nur so ist Teilhabe am sozialen
und gesellschaftlichen Leben möglich.
Dafür brauchen wir – und das ist unser Verständnis –
Rechtsansprüche statt Lippenbekenntnisse in Form
neuer Eckpunkte. Die SPD fordert einen Rechtsanspruch
auf Ausbildung, und zwar für alle, die innerhalb der ers-
ten drei Jahre nach der Schule keinen Ausbildungsplatz
finden. Die Bundesregierung sieht hier keinen Hand-
lungsbedarf. Die Bundesregierung sagt nüchtern: Dies
ist derzeit nicht Gegenstand politischer Planungen. –
Aber wie wollen Sie denn die Ausbildungsmisere behe-
ben? Es geht um unsere Zukunft, um unsere Jugend.
Ein zweiter Punkt ist in diesem Zusammenhang wich-
tig: Wer junge Menschen in Arbeit bringen will, der
muss auch dafür sorgen, dass genügend arbeitsmarkt-
politische Instrumente zur Verfügung stehen, um Ju-
gendlichen eine Chance zu geben, gerade auch den Ju-
gendlichen, die es ein wenig schwerer als andere haben.
Immer noch sind über 40 Prozent der Ausbildungsplatz-
suchenden sogenannte Altbewerber. Sie haben sich be-
reits mindestens ein Jahr lang um einen Ausbildungs-
platz bemüht und keinen gefunden. Viele von ihnen
geben nach jahrelanger, vergeblicher Suche auf.
Um diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, haben
wir, unter Federführung unseres damaligen Bundesar-
beitsministers Olaf Scholz, den Ausbildungsbonus ein-
geführt. Dieser Bonus ist bis zum 31. Dezember dieses
Jahres befristet. Sie wollen ihn klammheimlich auslau-
fen lassen, obwohl der Bedarf nach wie vor da ist. Ich
fordere Sie, Frau von der Leyen, auf: Schaffen Sie auch
hier endlich Klarheit und lassen Sie die Jugendlichen mit
besonderen Problemen nicht im Regen stehen.
Es ist gut, dass jeder Jugendliche unabhängig von sei-
nem Elternhaus ab Sommer bessere Anreize zur Berufs-
orientierung durch einen Ferienjob hat. Aber was Sie
von Schwarz-Gelb am selben Tag mit Ihren Eckpunkten
zu sogenannten besseren Arbeitsmarktchancen für Ju-
gendliche vorgelegt haben, überzeugt nicht. Auch an
dieser Stelle werden wir von der SPD-Bundestagsfrak-
tion den Stein ins Rollen bringen müssen – wir wollen
ein Recht auf Ausbildung statt Lippenbekenntnissen.
Pascal Kober (FDP): Dass wir hier heute die An-
träge der SPD und der Linken zum Thema „Anrechnung
von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II“ beraten, ver-
wundert doch ein wenig. Warum sie sie nicht von der Ta-
gesordnung haben absetzen lassen, ist mir ein Rätsel.
Denn das Bundeskabinett hat am 21. April dieses Jahres
durch die Dritte Verordnung zur Änderung der
Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung die Unge-
rechtigkeit, die wir bisher hatten, aufgehoben. Die Unge-
rechtigkeit bestand darin, dass Kinder aus ALG-II-Be-
darfsgemeinschaften von dem, was sie in Ferienjobs
verdienen, nur einen Bruchteil behalten dürfen. Das
führte dazu, dass von zwei Kindern, die die gleiche Ar-
beit in den Ferien machen und dabei 1 000 Euro verdie-
nen, eines 1 000 Euro behalten darf und das andere, das
mit seiner Familie unverschuldet in einer Bedarfsge-
meinschaft lebt, nur 260 Euro. Diesen Zustand hat die
Bundesregierung nun verändert. Damit sind die Anträge
von SPD und Linken gegenstandslos.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3971
(A) (C)
(D)(B)
Die Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales tritt am 1. Juni 2010 in Kraft und damit
noch vor dem Beginn der ersten Sommerferien in Bre-
men, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am
24. Juni dieses Jahres. Damit hat die christlich-liberale
Koalition wieder einmal bewiesen, dass sie die Pro-
bleme, die Rot-Grün im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitsuchende hinterlassen hat, entschieden anpackt
und im Sinne der Menschen löst. Deshalb ist es gut, dass
nach der Verordnung das Einkommen aus einer Tätigkeit
von Schülerinnen und Schülern allgemein- oder berufs-
bildender Schulen, die das 25. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben und die in den Schulferien für höchstens
vier Wochen je Kalenderjahr ausgeübt wird, bis zu
1 200 Euro pro Jahr anrechnungsfrei wird.
Mit der neuen Regelung durch die Verordnung sehen
wir ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellun-
gen verwirklicht. Sie wird gerne zusammengefasst unter
dem Motto „Leistung muss sich lohnen“. Dies gilt nun
endlich auch für die Schülerinnen und Schüler aus Be-
darfsgemeinschaften, die einer Ferientätigkeit nachge-
hen.
Maßgeblich sind für uns Liberale die Erfahrungen,
die Jugendliche bei der Aufnahme einer solchen Tätig-
keit machen können. Es geht dabei um erste Erfahrungen
des Gelingens, die Entwicklung von Selbstbewusstsein
und das Erlernen von Vertrauen in die eigenen Fähigkei-
ten. Viel zu oft hören wir von Familien im Bezug von
Arbeitslosengeld II, deren Kinder als Berufswunsch
„Hartz IV“ nennen. Dies ist für uns ein alarmierendes Si-
gnal, dem wir entgegentreten müssen. Dadurch, dass wir
die Anrechnung der Ferienjobs jetzt gerechter gestalten,
gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige
Richtung. Nicht zu vergessen ist, dass der Ferienjob
auch oft der erste Kontakt zur Arbeitswelt ist. Diese Er-
fahrung ist nicht zu vernachlässigen.
Ziel der Verordnung, die das Kabinett beschlossen
hat, ist es, für junge Menschen gezielte Anreize zur Auf-
nahme von Ferienjobs zu schaffen. Es werden Schülerin-
nen und Schüler hilfebedürftiger Eltern denjenigen
gleichgestellt, deren Eltern nicht hilfebedürftig sind: Sie
können die Einnahmen aus ihrer Arbeit weitgehend für
eigene Wünsche verwenden. Viele von uns kennen aus
eigener Erfahrung oder aus dem familiären Umfeld,
welch tolles und wichtiges Erlebnis es ist, vom ersten
selbstverdienten Geld etwas zu kaufen. Dies prägt einen
jungen Menschen. Es prägt sein Verhältnis zur Markt-
wirtschaft, und zwar nachhaltig und positiv.
Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Linke, haben in der Vergangenheit Lösungen eingefor-
dert. Wir hatten Ihnen gesagt, dass wir dies sorgfältig
prüfen und regeln würden. Dies haben wir nun getan und
das Problem gelöst. Gerade Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, hatten in den vergangenen Jahren die
Chance zur Änderung des Problems. Dies haben Sie
nicht getan, obwohl Sie den Arbeitsminister gestellt ha-
ben.
Wir haben nun gehandelt und gezeigt, dass sich die
christlich-liberale Koalition um die Belange der Men-
schen kümmert. Ihre Anträge haben sich damit durch un-
ser Handeln erübrigt. Deswegen lehnen wir sie ab.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Hinhalten,
rausschieben und feist für sich vereinnahmen – das ist
die Gangart der schwarz-gelben Bundesregierung, der
sich die SPD angeschlossen hat. Aber wir wollen nicht
nachtragend sein: Halten Sie ihr Fähnchen ruhig in den
Wind – wir sorgen für den Sturm!
Links wirkt! Allein der Beharrlichkeit seitens der Lin-
ken ist es zu verdanken, dass die Hartz-IV-Parteien nun
reagieren und endlich das Ferienjobärgernis anpacken.
Das hat viel zu lang gedauert!
Im August 2008 haben wir von der Großen Koalition
aus SPD und den Unionsparteien im Rahmen einer Klei-
nen Anfrage wissen wollen, ob sie bereit wären, Ein-
kommen aus Ferienjobs nicht auf Hartz IV anzurechnen.
Was taten SPD und CDU/CSU? Sie leugneten das Pro-
blem und taten nichts. Stattdessen heuchelten Volker
Kauder und Klaus Wowereit im August 2009 in der Sen-
dung Hart aber fair Betroffenheit. Unseren Antrag, end-
lich zu handeln und Schluss zu machen mit der Anrech-
nung der Ferienjobs auf Hartz IV, lehnte die Große
Koalition schlicht ab – und die FDP konnte sich gerade
mal dazu durchringen, sich zu enthalten. Nach der Bun-
destagswahl haben wir das Thema wieder aufgegriffen
und erneut in den Bundestag getragen. Und was ist pas-
siert? Die Unionsparteien und die FDP haben den Antrag
abgelehnt, und die SPD hat sich nur enthalten. Das ist
angesichts des Problems nichts anderes als Parteipolitik
auf dem Rücken von Jugendlichen aus armen Familien,
und das ist nicht akzeptabel.
Jetzt endlich will die Bundesregierung auf dem Wege
einer Verordnung Einkommen aus Ferienjobs teilweise
freistellen. Damit hat sich der Antrag der SPD erledigt.
Aber damit hat sich der Antrag der Linken noch nicht
erledigt.
Zwei Ziele müssen wir mit einer Ferienjobregelung
für Jugendliche erreichen, deren Familien von Hartz IV
betroffen sind: Wir wollen Schutz und Motivation. Wir
wollen die Jugendlichen nicht entmutigen, sondern er-
muntern, ihr eigenes Geld zu verdienen. Wir brauchen
einen Sozialstaat, der es den Einzelnen ermöglicht, ei-
gene Entscheidungen zu treffen. Denn nur wer tatsäch-
lich etwas zu entscheiden hat, kann Verantwortung über-
nehmen. Im System Hartz IV gibt es für die Betroffenen
nichts zu entscheiden – weder für die Eltern noch für die
Kinder. Hier setzen wir an. Denn wir Linken wissen
– und weisen immer wieder darauf hin –, dass Motiva-
tion das eine, Schutz aber gerade bei Kindern und Ju-
gendlichen das andere Ziel sein muss.
Deswegen ist uns sehr wichtig, nicht über das Ziel hi-
nauszuschießen und die Balance zu halten. Der Jugend-
schutz muss eingehalten werden; denn eine reguläre
Schulbildung ist wichtiger als der schnell und früh
verdiente Euro. Deswegen ist es richtig, die Verdienst-
möglichkeiten von Schülerinnen und Schülern strikt
nach Alter der Schülerinnen und Schüler und Dauer des
Jobs zu begrenzen. Ja, wir wollen den Arbeitsmarkt
3972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
regulieren – aber selbstverständlich nur mit Sinn und
Verstand. Vier Wochen im Jahr, wie es das Jugendar-
beitsschutzgesetz vorsieht, reichen. Wozu also zusätzlich
die Einkommenshöhe beschränken? Die Bundesregie-
rung schlägt nun vor, dass Schülerinnen und Schüler
innerhalb der vier Wochen maximal 1 200 Euro verdie-
nen dürfen und beispielsweise bei einem Stundenlohn
von 10 Euro 30 Stunden pro Woche arbeiten sollen.
Diese Verdienstbegrenzung auf 1 200 Euro lehnen wir
ab!
Meine Damen und Herren von Union und FDP, Sie
haben da etwas vollkommen falsch verstanden. Wir
müssen einen Mindestlohn festlegen – da sind Ihre
10 Euro genau richtig –, aber doch keinen Durch-
schnitts- oder Höchstlohn. Ich fordere Sie auf: Streichen
Sie die Verdienstgrenze für jobbende Schülerinnen und
Schüler, die im Hartz-IV-System stecken! Schutz und
Motivation brauchen eine Arbeitszeitbegrenzung, aber
keine Verdienstgrenze.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
glaube, ich habe hier ein Déjà-vu; denn wir haben doch
schon im November 2009 und im Januar 2010 darüber
gesprochen, dass Ferienjobs nicht mehr auf das ALG II
angerechnet werden sollen. Leider ist seit dem nichts ge-
schehen. Schon damals haben wir Grüne gesagt, dass es
nicht sein kann, dass Jugendliche die deprimierende Er-
fahrung machen, dass ihnen das erste selbstverdiente
Geld wieder genommen wird. Deshalb haben wir den
Anträgen von SPD und Linken im Ausschuss für Arbeit
und Soziales zugestimmt, die hier Änderungen gefordert
haben; denn sie sind in der Sache richtig und vernünftig.
Wir haben hier keine Differenz mit diesen beiden Frak-
tionen.
Gegen die Anträge gestimmt haben da allerdings die
Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und FDP, die
sich jetzt damit brüsten, dass sie den Jugendlichen einen
Freibetrag für Ferienjobs von 1 200 Euro einräumen
wollen. Man muss schon sagen, dass die Lernkurve die-
ser Kolleginnen und Kollegen nur sehr langsam ansteigt.
Zweimal waren die Ferienjobs Thema in der Sendung
Hart aber fair, und es hat diese beiden Sendungen ge-
braucht, in der die Vertreter der Koalition vorgeführt
worden sind, bis sie sich dazu entschieden haben, end-
lich im Kabinett zum Freibetrag von 1 200 Euro zu kom-
men. Eine stramme Leistung finde ich aber, dass sie es
bis heute nicht geschafft haben, diese Lösung der Pro-
blematik hier in den Bundestag einzubringen, sodass wir
darüber abstimmen können und endlich dafür sorgen
können, dass sich Jugendliche mit dem ersten selbstver-
dienten Geld Wünsche erfüllen können, die sie sich
sonst nicht erfüllen könnten.
Ein neues Fahrrad, einen neuen Computer oder die
viel zitierte Gitarre können sich Kinder von ALG-II-
Empfängerinnen und -empfängern nicht leisten, weil das
Geld dafür schlicht und einfach fehlt. Es reicht ja schon
für Bekleidung und Schulbedarf nicht, wie im Februar
sogar das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat. Ist es
da nicht verständlich, dass man sich gern im Ferienjob
etwas dazuverdient, um sich einen solchen Wunsch zu
erfüllen? Ich finde, das ist so. Ich selbst bin auch in Fe-
rienjobs an die Arbeitswelt herangeführt worden. Ich
habe erste Einblicke gewonnen und gleichzeitig gelernt,
dass ich mit meiner Hände Arbeit etwas erreichen kann.
Ist das nicht eine Erfahrung, die alle Jugendlichen ma-
chen sollten, auch die, die leider häufig nicht in der eige-
nen Familie erleben dürfen, welche sozialen Kontakte
die Einbindung in die Arbeitswelt schafft und welche
Chancen in Arbeit liegen, die Jugendlichen, deren Eltern
ALG II beziehen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs-
fraktionen, heute haben Sie die Gelegenheit, dafür zu
sorgen, dass Ferienjobs für Jugendliche anrechnungsfrei
bleiben. Ich kann Sie nur noch einmal auffordern, diese
Chance zu nutzen, denn Ihre Argumente dagegen ste-
chen nicht. Kollege Kober von der FDP hat sogar gesagt,
die Linke griffen ein Kernelement liberaler Gerechtig-
keitsvorstellungen auf, das die FDP gerne unter dem
Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck
brächte. Aber zustimmen wollte Kollege Lehrieder von
der CDU/CSU-Fraktion dann doch nicht, um keinen ge-
setzgeberischen Flickenteppich zu schaffen. Da frage ich
den Kollegen: Was ist denn jetzt anders an dem ins Kabi-
nett eingebrachten Vorschlag? Ist der gleiche Teppich,
wenn Sie ihn weben, kein Flickenteppich? Machen Sie
Schluss mit dieser Herumdrückerei und nutzen Sie die
Chance zur Veränderung. Streichen Sie die unsinnigen
Sanktionen und erhöhen Sie die Anreize für junge Men-
schen, sich etwas dazuzuverdienen. Zögern Sie nicht und
stärken Sie das Selbstbewusstsein des und der einzelnen
jungen Menschen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Menschenrechtsschutz im Handels-
abkommen der Europäischen Union mit
Kolumbien und Peru verankern
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Un-
abhängigkeit Lateinamerikas solidarisch
unterstützen
– Klimaschutz und gerechten Handel mit
Lateinamerika und der Karibik voran-
bringen
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Menschenrechte in Kolumbien auf
die Agenda setzen – Freihandelsabkommen
EU-Kolumbien stoppen
(Tagesordnungspunkt 18 a bis c)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3973
(A) (C)
(D)(B)
Anette Hübinger (CDU/CSU): Heute debattieren
wir zum zweiten Mal über Anträge von Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke anlässlich des in der
nächsten Woche in Madrid zum sechsten Mal stattfin-
denden EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfels. Die Staats-
und Regierungschefs werden zusammentreffen, um über
die großen globalen Herausforderungen wie Armutsbe-
kämpfung, fortschreitenden Klimawandel und den stei-
genden Energiebedarf zu diskutieren und nach gemein-
samen Handlungswegen zu suchen.
Die nunmehr seit zehn Jahren bestehende strategische
Partnerschaft zwischen diesen beiden Regionen, die ge-
meinsame Werteorientierung und unser gemeinsames
Verständnis von Demokratie bilden dafür eine gute Ba-
sis. Sie sind auch die Grundlage für eine künftig intensiv
gelebte Partnerschaft.
Die geopolitische Bedeutung Lateinamerikas und der
Karibik hat in den vergangenen Jahren stark zugenom-
men. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich spielen die
Länder Lateinamerikas eine wachsende Rolle, was auch
das Selbstbewusstsein dieser Länder gestärkt hat.
Der wachsende Wohlstand ist aber für viele latein-
amerikanische Staaten auch mit großen Herausforderun-
gen verbunden. Insbesondere die Sicherung einer ad-
äquaten Energieversorgung wird in den kommenden
Jahren für diese Länder ein Schlüsselthema sein, wenn
es darum geht, auch in Zukunft weiteres wirtschaftliches
und soziales Wachstum zu erreichen und die Armut zu
reduzieren.
Daher widmet sich der diesjährige Gipfel besonders
dem Themenbereich Innovation und Technologie für
eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion.
Denn zum einen sind Innovation und Technologie nicht
nur für Europa Wachstums- und Wohlstandsvorausset-
zungen, sondern ebenso für die Staaten Lateinamerikas
und der Karibik, und zum anderen liegen in diesen Be-
reichen die Lösungsansätze, um die Herausforderungen
des Klimawandels, der Energiesicherung und der Ar-
mutsbekämpfung in Einklang bringen zu können.
Schon im Vorfeld des Gipfels trafen sich in der ver-
gangenen Woche in Berlin führende Vertreter aus Poli-
tik, Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Ein Grund für
das Treffen war, die Weltklimakonferenz in Cancún vor-
zubereiten und zu gemeinsamen Positionen zu kommen.
Ein weiterer war, sich über den Ausbau von erneuerba-
ren Energien auszutauschen. Gerade im Bereich der er-
neuerbaren Energien ist der technologische Entwick-
lungsstand in Europa sehr weit fortgeschritten, und
deutsche Technologien gehören zur Weltspitze. Dieses
Potenzial wollen wir bei der künftigen Kooperation mit
unseren lateinamerikanischen Partnern einbringen. Der
Ausbau dieser Technologie bedeutet neue Arbeitsplätze
und auch wachsenden Wohlstand. Voraussetzung dafür
sind jedoch gewaltige finanzielle Investitionen. Deshalb
müssen wir uns ebenso für Rahmenbedingungen stark
machen, die diese – auch von privater Seite – ermögli-
chen.
Der Transfer von Technologie allein reicht aber nicht
aus. Hinzukommen muss der Austausch und die Koope-
ration im Wissenschaftsbereich und die Durchführung
von gemeinsamen Forschungsprojekten.
Die Bundesregierung unterstützt bereits diese Koope-
ration, wie am deutsch-brasilianischen Wissenschafts-
jahr 2010/2011 zu erkennen ist. – So viel in Kürze zum
Gipfel in Madrid.
Nun zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Alle
drei Oppositionsparteien beschäftigen sich in ihren An-
trägen mit den Freihandelsabkommen zwischen der EU
und den Ländern Peru und Kolumbien, die in Madrid be-
schlossen werden sollen. Die SPD und die Grünen wol-
len den Menschenrechtsschutz in den Handelsabkom-
men verankert wissen. Die Achtung der Menschenrechte
ebenso wie das Rechtsstaatsprinzip sind im Vertrag auf-
geführt. Darüber hinaus enthält das Freihandelsabkom-
men Sanktionsmöglichkeiten bei Zuwiderhandlung. Da-
mit gehen in diesem Punkt beide Anträge nach Ansicht
der CDU/CSU ins Leere.
Die Fraktion Die Linke lehnt die Abkommen auf-
grund von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien
und Peru gänzlich ab. Aus ideologischer Sicht geben sie
einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, die mit freiem
Handel nichts anzufangen weiß, den Vorzug. Auch bele-
gen sie in ihrem Antrag zum wiederholten Mal ihre se-
lektive Sichtweise in Bezug auf Menschenrechtsverlet-
zungen, die sie zum Beispiel in Kolumbien und
Honduras beklagen, aber in Kuba und Venezuela nicht
anprangern. Weiter werden die altbekannten Ressenti-
ments der Linken gegenüber den Vereinigten Staaten im
Antrag bedient. Die Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion Die Linke begeben sich damit in eine politische
Einbahnstraße, die nicht den Bedürfnissen der Men-
schen, sondern einem ideologischen Konzept folgt, das
den Menschen das Paradies verspricht, aber sie der Hölle
ein Stück näher bringt, wie es die Geschichte lehrt.
Der Antrag der Grünen enthält neben den Forderun-
gen zu den Freihandelsabkommen weitere, die sich auf
Klima, Umweltschutz und multilaterale Kooperation be-
ziehen, die die CDU/CSU-Fraktion in weiten Bereichen
ähnlich sieht. Jedoch enthält der Antrag im Bereich
Energie Forderungen im Hinblick auf Atomenergie, die
wir aus zwei Gründen so nicht mittragen können. Ers-
tens achten wir die Souveränität der lateinamerikani-
schen Staaten, auch in ihrer Energiepolitik, und zweitens
sind bereits Entscheidungen auf deutscher Seite gefallen,
die über die europäische Schiene nicht korrigiert werden
sollen.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Anträge der Oppo-
sitionsparteien aus den genannten Gründen ab.
Ich wünsche dem Gipfel in Madrid viel Erfolg. Ich er-
hoffe mir, dass der vertiefte politische Dialog in eine
konkrete, breit angelegte Kooperation mündet.
Michael Frieser (CDU/CSU): Die Oppositionsfrak-
tionen haben zum VI. Gipfeltreffen zwischen der Euro-
päischen Union und den Ländern Lateinamerikas in
Madrid zwei qualitativ höchst unterschiedliche Anträge
zur Beratung vorgelegt. Einige Forderungen scheinen
auf den ersten Blick schlüssig, doch der zweite Blick
3974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
fördert – wie so oft – auch hier die Probleme ans Tages-
licht.
Der Antrag der SPD zur Verankerung des Menschen-
rechtsschutzes im Handelsabkommen der Europäischen
Union mit Kolumbien und Peru ist ausgesprochen
zurückhaltend und diplomatisch formuliert.
Im Gegensatz dazu ist der Antrag der Fraktion der
Linken von einem globalisierungskritischen, revolutio-
nären Pathos getragen. Der Antrag zielt nicht auf eine
Beförderung der Menschenrechte, sondern trägt abstruse
Thesen und Behauptungen über Wirtschaftsprozesse,
den Weltmarkt und die Armut vor. Die Aussagen stecken
voller Widersprüche und instrumentalisieren die Angst
vor einem wirtschaftlichen Strukturwandel. Den Verfas-
sern geht es eindeutig um Globalisierungskritik und
nicht um Menschenrechte. Der Titel ist irreführend.
Seine Forderungen lehnen wir ab.
Dass der Antrag der SPD-Fraktion ausgewogener
scheint, ist der Tatsache geschuldet, dass die Sozialde-
mokraten in ihrem Antrag weder die kolumbianische
Regierung noch die peruanische Regierung für Men-
schenrechtsverletzungen verantwortlich machen. Wohl-
weislich geschieht dies, weil es in Kolumbien nicht die
Regierung ist, die die schweren Menschenrechtsverlet-
zungen zu verantworten hat. Es sind die Paramilitärs und
Guerillas, wie die marxistischen Organisationen FARC
und Ejército de Liberación Nacional, ELN, und Nachfol-
georganisationen, wie die Autodefensas Unidas de Co-
lombia, AUC, die Verbrechen wie Massaker, Vertreibun-
gen, Tötungen, Vergewaltigungen und Erpressung
verüben. Es sind nichtstaatliche Gruppen, die für das
Klima der Angst in dem Land verantwortlich sind.
Dies kann man in den Länderberichten von Human
Rights Watch nachlesen. Ich lege diese Berichte den
Kollegen der Opposition als Lektüre ans Herz. Unter
Präsident Uribe hat Kolumbien eine insgesamt positive
Entwicklung im Feld der Menschenrechte gemacht. Prä-
sident Uribe steht in dem von einem jahrzehntelangen
bürgerkriegsähnlichen Konflikt zerrissenen Land für ein
hartes Durchgreifen gegen die kolumbianischen Guerilla-
organisationen. In den Berichten über die Menschen-
rechtssituation in Peru kritisiert Human Rights Watch
den „überzogenen“ Umgang der Polizei mit der opposi-
tionellen Vertretern der indigenen Bevölkerung sowie
mit Straftatverdächtigen. In einigen Provinzen stellt Hu-
man Rights Watch die Einschüchterung von Journalisten
fest.
So müssen die Feststellungen der Antragsteller zu-
mindest gegenüber Peru als alarmistisch bezeichnet wer-
den. In umfangreichen Ausführungen möchte die SPD-
Fraktion, dass der Bundestag die Bundesregierung zu bi-
lateralen Gesprächen mit den Regierungen in Bogotá
und Lima auffordert. Auf bilateraler Ebene soll die Bun-
desregierung erreichen, dass in beiden Ländern der Dia-
log zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren
intensiviert wird mit dem Ziel, Menschenrechte zu för-
dern. Dies alles ist jedoch bereits Teil des täglichen Ge-
schäfts der deutschen Botschaft in Kolumbien und somit
der Bundesregierung. Der Bundestag muss die christ-
lich-liberale Bundesregierung nicht vordergründig kri-
tisch zu einem Handeln aufrufen, welchem die deutsche
Botschaft in Bogotá regelmäßig nachgeht und welches
die kolumbianische Seite zu schätzen weiß.
Es lässt sich beim besten Willen aus meiner Sicht
nichts wesentlich Neues im Antrag der SPD entdecken,
was eine Zustimmung rechtfertigen würde. Das ist der
erste Grund, weshalb wir den Antrag nicht befürworten
werden.
Doch diese Forderungen sind aus meiner Sicht nicht
der Knackpunkt dieses Antrags. Der Knackpunkt ist die
Verknüpfung von Handelspolitik und Menschenrechts-
politik, welche im Übrigen in beiden Anträgen auf-
taucht. Das ist eine Vorstellung von Außenpolitik, die
nicht funktioniert. Es ist ein Kardinalfehler, zu denken,
dass mit einer Sanktionierung von Handelskooperatio-
nen eine Verbesserung der menschenrechtlichen Situa-
tion innerhalb eines Landes erreicht werden könne. Wir
mussten in den 1990er-Jahren schmerzlich erfahren, dass
die Verkettung von Wirtschafts- und Menschenrechts-
politik nicht die erwünschte politische Wirkung entfaltet.
Dies zeigte ganz besonders eindrucksvoll die Praxis der
gemeinsamen Politik der EU-Staaten gegenüber Staaten
wie China, Russland, Iran und Irak. Bekenntnisse zur
Demokratie und zur Einhaltung politischer und bürgerli-
cher Rechte wurden zu reinen Lippenbekenntnissen. Die
rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und
Joschka Fischer hat in Bezug auf China und Russland
dies schmerzlich lernen müssen und dann von einer Ver-
knüpfung von Handelspolitik und Menschenrechtspoli-
tik abgesehen.
Auch die US-Administrationen haben diese Tatsache
nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erst lernen
müssen und verzichten heute darauf. Populistische Reso-
lutionen aus dem Repräsentantenhaus ändern an dieser
Haltung der US-Administrationen nichts; das sollte auch
die Opposition im Deutschen Bundestag zur Kenntnis
nehmen. Eine Aussetzung oder ein Zur-Disposition-Stel-
len von Handelsabkommen bewirkt das Gegenteil des
Erwünschten. Der Einfluss auf die innenpolitische Situa-
tion in den Staaten nimmt ab. Die Verfasser des SPD-
Antrages erkennen dieses Problem, wenn sie schreiben:
„Die Regierungen von Kolumbien und Peru wehren sich
grundsätzlich gegen die Verknüpfung von Handels- und
Menschenrechtsfragen.“ Doch sie ziehen nicht die richti-
gen Konsequenzen aus ihrer Erkenntnis.
In der Frage, wie Freihandelsabkommen gerade in
den schwierigsten Situationen helfen können, unter-
scheidet sich die Fraktion der CDU/CSU von den Vor-
stellungen der Antragsteller ganz grundsätzlich. Aus
unserer Sicht haben Freihandelsabkommen eine ent-
wicklungspolitische Bedeutung, da sie Entwicklungslän-
dern den Zugang zu den Märkten von Industrieländern
öffnen, indem Zölle, nicht-tarifäre Handelshemmnisse
wie Ein- und Ausfuhrverbote sowie Kontingente abge-
schafft werden. Aus diesem Grund fördert die WTO die
Abschlüsse von Freihandelsabkommen und Freihandels-
zonen. Aus diesem Grunde verhandelt die EU mit Staa-
ten in Afrika, in der Karibik und im Pazifik über den Ab-
schluss von Freihandelsabkommen. Wenn ein Land für
die Schaffung von Märkten „bestraft“ oder zumindest
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3975
(A) (C)
(D)(B)
vom Warenaustausch abgehalten wird, dann bedeutet
dies, dass sich die Situation der einfachen Arbeitnehmer
und damit der Ärmsten verschärft. Ich glaube nicht, dass
dies Ziel der deutschen Außen- und Menschenrechts-
politik sein kann.
Kurzum: Die Forderung der Fraktionen SPD und
Linke, die Bundesregierung solle innerhalb der Europäi-
schen Union für ein Ende der laufenden Verhandlungen
zu einem Freihandelsabkommen zwischen Europa und
Kolumbien sowie Peru eintreten, unterstützen wir nicht.
Wolfgang Gunkel (SPD): Wir dürfen uns nichts
vormachen: In Peru und in Kolumbien, in den beiden
Ländern, mit denen die Europäische Union jetzt ein
Freihandelsabkommen unterzeichnen will, werden Men-
schenrechte auf eklatante Weise verletzt. Menschen wer-
den von ihrem Land vertrieben, weil sie den wachsenden
Großplantagen oder dem Bergbau im Weg sind. Gewerk-
schaftsaktivisten verschwinden für immer, und jeder
weiß, sie sind nicht mehr am Leben.
In Peru wird die politische Opposition unterdrückt.
Wer unter Strafverdacht steht, muss Folter und Miss-
handlungen befürchten. Journalistinnen und Journalisten
werden bedroht und mundtot gemacht. Bei den Protesten
indigener Bevölkerungsgruppen gegen die Landpolitik
und Vertreibung im Juni 2009 haben mehr als 50 Men-
schen ihr Leben verloren.
In Kolumbien werden Verteidiger von Menschenrechten
vehement eingeschüchtert, ihre Familien werden bedroht,
oder sie werden kurzerhand von Paramilitärs erschossen.
Dafür gibt es den perfiden Begriff „Extralegale Hinrich-
tungen“. Ebenfalls in Kolumbien wurden junge Männer
von Soldaten erschossen, dann in Guerillero-Uniform ge-
kleidet und als gefallene Terroristen deklariert. 2 000 Fälle
dieser „Falsos Positivos“ – falsche Gefallene – sind bis-
lang bekannt. Mütter und Anwälte der Ermordeten sind
ihres Lebens nicht sicher, wenn sie um Aufklärung der
Morde kämpfen. Eine ordentliche Ermittlung und Straf-
verfolgung findet nicht statt.
Ich war mehrmals in Kolumbien, ich habe mir jenseits
der offiziellen Besucherrouten – unterstützt von Menschen-
rechtsaktivisten, dem katholischen Hilfswerk Misereor
und anderen Hilfsorganisationen – die Situation vor Ort
angesehen. Ich kann bestätigen, was die UN-Hochkom-
missarin für Menschenrechte in ihrem Bericht zu Kolum-
bien festgestellt hat. Sie kritisiert die fehlende unabhän-
gige Kontrolle der dortigen Geheimdienste in deren
Zusammenarbeit mit dem Militär. Sie beklagt die Gefahren
für Menschenrechtsverteidiger und die außergerichtli-
chen Hinrichtungen. Es gibt kein Opfergesetz für Opfer
von sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Gewalt, das
internationalen Grundstandards standhält.
Angesichts dieser katastrophalen Menschenrechtslage
muss es für die Opfer wie Hohn klingen, wenn die FDP
behauptet, dass seitens der kolumbianischen Regierung
glaubhaft erklärt worden sei, dass es zwar noch immer
Menschenrechtsverletzungen gebe, aber das Land in den
letzten Jahren erhebliche Fortschritte in der Aufarbeitung
dieser Vorgänge gemacht habe. Das ist eher nicht der Fall.
Genau deshalb bietet sich mit dem Handelsabkom-
men im Interesse der Menschenrechte, im Interesse der
Verfolgten und Opfer die Möglichkeit, auf die Regierun-
gen Druck auszuüben, mit ihren Aussagen auch wirklich
ernst zu machen; ernst zu machen mit der Einhaltung
fundamentaler Menschenrechte und ernst zu machen mit
der Aufarbeitung der Verbrechen. Denn Kolumbien hat
nicht nur ein hohes wirtschaftliches Interesse an diesem
Abkommen. Ein solches Abkommen mit der Europäi-
schen Union würde die kolumbianische Regierung inter-
national erheblich aufwerten, ihre Politik legitimieren.
Das war auch einer der wesentlichen Gründe, warum die
Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens ähnliche
Handelsabkommen mit Kolumbien nicht ratifiziert haben.
Das sind Parlamente, die nicht unter Verdacht stehen,
Handelsinteressen leichtfertig zurückzustellen. Aber mit
Hinweis auf die katastrophale Menschenrechtslage in
Kolumbien sind diese Parlamente bislang nicht bereit,
einem solchen Abkommen zuzustimmen.
Nicht zuletzt die Gewerkschaftsbewegung – allen voran
die deutschen Gewerkschaften – hat eindeutig Position
gegen ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien bezogen.
Die Gewerkschaften fordern vor allem Sicherheit und
Garantie der fundamentalen Menschenrechte ihrer Gewerk-
schaftskolleginnen und -kollegen. In den letzten 15 Jah-
ren sind in Kolumbien weit mehr als 2 000 Gewerk-
schafter ermordet worden.
Kommt das Handelsabkommen jetzt ohne klare und
eindeutige Bedingungen zur Einhaltung der Menschen-
rechte, ohne Ausstiegsklausel bei Nichteinhalten von Zu-
sagen zustande, so ist das ein Zeichen an die Regierung in
Kolumbien, dass ein „Weiter-so“ möglich ist, dass die
Staaten der Europäischen Union ihr nicht ernsthaft Einhalt
gebieten wollen. Und das ist ein Zeichen an die USA, an
Kanada und an Norwegen, dass man für Wettbewerbs-
vorteile im Welthandel anderen Prinzipien folgt. Der Ab-
schluss des Freihandelsabkommens könnte Anlass für
die Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens sein,
ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Auch die Art und Weise, wie das Handelsabkommen
zustande gekommen ist, wird dem Anspruch einer trans-
parenten Politik unter Beteiligung aller Akteure aus der
Zivilgesellschaft nicht gerecht. Die Verhandlungen fanden
mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen statt.
Eine politische Debatte über Inhalte und Ziele hat es zu
keinem Zeitpunkt gegeben, Verbände, Gewerkschaften
und Nichtregierungs-Organisationen wurden auf beiden
Seiten nicht einbezogen. Der fertige Vertragstext wurde
dem Europäischen Parlament – sozusagen zum Abni-
cken – am 31. März dieses Jahres auf den Tisch gelegt.
Das ist nicht unser Anspruch an Politik, an eine parla-
mentarische Demokratie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
glaube Sie geben uns weitgehend recht, stimmen unse-
rem Antrag aber aus vorgeschobenen Gründen nicht zu.
Wenn ich Ihre Argumente in der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Menschenrechte lese, so lese ich im
Grundtenor vorsichtige Zustimmung. Sie attestieren uns
„Zurückhaltung“ und „Diplomatie“. Ihre Einwände sind
rein formaler Natur, wenn Sie bemängeln, dass „Men-
3976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
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schenrechte als Texte in Handelsabkommen nichts zu su-
chen hätten“ und man die Situation in Kolumbien und
Peru „nicht in einen Topf werfen“ dürfe. Ich denke, diese
Einwände sind nicht schwerwiegend genug, um die
große Chance verstreichen zu lassen, im Zuge der Ver-
handlungen mit Peru und Kolumbien dort die Garantie
grundlegender Menschenrechte voranzubringen. Wir ha-
ben dabei die Unterstützung der Parlamente der USA,
Kanadas und Norwegens. Mit unserem Antrag kann der
Deutsche Bundestag in diesem Sinne ein deutliches Zei-
chen setzen und gleichzeitig die Parlamentarier im Euro-
päischen Parlament ermutigen, dem Freihandelsvertrag
nicht zuzustimmen.
Denn wir sind nicht der Meinung der FDP, die in un-
ternehmerischen Tätigkeiten eine Chance sieht, um auf
eine Verbesserung der Menschenrechtsstandards hinzu-
wirken. So jedenfalls begründen die Liberalen die Ableh-
nung unseres Antrags. Der Markt kann nicht alles regeln,
und die Durchsetzung von Menschenrechten kann ganz
bestimmt nicht auf dem freien Markt verhandelt werden.
Ohnehin laufen wir Gefahr, unsere Glaubwürdigkeit im
grundlegenden Bekenntnis für die Einhaltung universeller
Menschenrechte zu verlieren, wenn wir unsere Außenbe-
ziehung in erster Linie von Wirtschaftsinteressen leiten
lassen. Wir können nicht bei Menschenrechtsverletzungen
in dem einen Land wegsehen und uns einreden, durch
Handel dort Wandel herbeizuführen, und gleichzeitig
Menschenrechtsverletzungen in dem anderen Land an-
klagen, das uns politisch missliebig ist. Menschenrechte
sind unteilbar und universell gültig. Sie sind nicht verhan-
delbar. An diesem Leitmotiv müssen wir unsere Politik
messen lassen.
Harald Leibrecht (FDP): Es liegen heute Abend
vier Anträge vor. Zwei davon haben wir bereits vergan-
gene Sitzungswoche debattiert. Meine Kollegin Marina
Schuster hat zu dem Antrag der Linken zum Thema EU-
Lateinamerika-Gipfel und dem Antrag der Grünen zum
Klimaschutz und Handel mit Lateinamerika die wich-
tigsten Aspekte aus liberaler Sicht bereits genannt hat.
Daher möchte ich hier nur noch auf die zwei anderen
Anträge eingehen.
Einen Satz kann ich mir zum Antrag der Linken nicht
verkneifen: Obwohl ich einiges von Ihren Initiativen
mittlerweile gewohnt bin, habe ich mich bei Ihrem An-
trag zum EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel wirklich er-
schrocken; darüber, wie undifferenziert Sie über die
Lage der Menschen in Venezuela und Kuba sprechen
und sie als Musterstaaten darstellen. Ich frage mich, wie
Sie die Probleme der Misswirtschaft von Hugo Chávez,
die politischen Gefangenen und vielfachen Menschen-
rechtsverletzungen einfach beiseiteschieben können. Sie
sprechen immer von Solidarität und Gerechtigkeit –
doch diese Werte scheinen Sie nicht allen Menschen
gleichermaßen zugestehen zu wollen. Wenn es Staaten
wie Kuba, Venezuela oder China sind, die Menschen-
rechtsverbrechen begehen, dann legen Sie zweierlei Maß
an. Dieser politische Doppelstandard diese Doppelmoral
ist unerträglich und widerspricht der Universalität der
Menschenrechte.
Nun zum Antrag der SPD zum Thema Menschen-
rechtsschutz in Handelsabkommen der EU mit Kolum-
bien und Peru. Es ist natürlich wichtig, kritische Men-
schenrechtsfragen zu thematisieren. Dies geschieht
sowohl für Kolumbien als auch für Peru vonseiten der
Bundesregierung und der EU. Bereits in den Verhand-
lungen für das Abkommen zwischen der EU und Kolum-
bien bzw. Peru hat sich die Bundesregierung dafür ein-
gesetzt, dass es Menschenrechtsverpflichtungen enthält.
Auch im Abkommen selbst wurde Wert darauf gelegt,
dass der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
und den geltenden Rechtsstaatsprinzipien Rechnung ge-
tragen wird: In der Präambel und in Art. I ist jeweils ein
ausdrücklicher Hinweis auf die Bedeutung der Men-
schenrechte enthalten. Nur muss auf der anderen Seite
ebenso bedacht werden, dass es in einem Handelsab-
kommen vorwiegend um die Regelung der gegenseitigen
wirtschaftlichen Beziehungen geht und dass diese Bezie-
hungen von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt
werden. Sie sprechen in Ihren Anträgen unisono von
dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Staaten Latein-
amerikas und der Karibik. Ich stimme mit Ihnen darin
überein, dass es für die jeweiligen Länder wichtig ist,
selbstbestimmt über ihre Außenhandelspolitik zu ent-
scheiden. Deshalb ist es aber an uns Europäern, zu ak-
zeptieren, dass es auf der anderen Seite auch diesen
Staaten obliegt, ihre Verträge und Abkommen selbst-
ständig abzuschließen.
Für uns Europäer bietet das Freihandelsabkommen
auf der einen Seite die Gelegenheit, wichtige Gesprächs-
kanäle offenzuhalten, über die wir gegenüber Regierun-
gen auch Menschenrechtsanliegen kommunizieren kön-
nen. Dies muss selbstverständlich entsprechend genutzt
werden, um die zu Recht kritisierte Menschenrechtslage
in Kolumbien und Peru zu verbessern. Eine Nichtunter-
zeichnung des Freihandelsabkommens wäre auf der an-
deren Seite nicht in unserem Sinne; denn dies würde in
erster Linie den Wirtschaftssektor treffen und nicht die
politische Führung des Landes.
Bezüglich der Menschenrechtslage in Kolumbien, die
im Antrag der Linken thematisiert wird, muss ich Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, korri-
gieren. Die Bundesregierung hat sich mit Nachdruck in
den Verhandlungen für das Abkommen zwischen der EU
und Kolumbien dafür eingesetzt, dass es Menschen-
rechtsverpflichtungen enthält. Die EU bringt im politi-
schen Dialog sowie im kürzlich eingerichteten bilatera-
len Menschenrechtsdialog mit den kolumbianischen
Behörden regelmäßig ihre Menschenrechtsanliegen zum
Ausdruck, und auch die EU-Kommission hat in diesem
Zusammenhang die kolumbianische Regierung auf ver-
mehrte Anstrengungen gedrängt, um beispielsweise Ge-
werkschafter und Angehörige von Opferverbänden zu
schützen.
Betrüblich finde ich auch, dass in jedem außenpoliti-
schen Antrag Antiamerikanismus mitschwingt. Da frage
ich mich tatsächlich, ob Sie überhaupt in der Lage sind,
ausgewogene Entscheidungen zu treffen, oder ob Sie
nicht vielmehr Informationen und Erkenntnisse ignorie-
ren, um Ihrem ideologischen Kompass zu folgen. Das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3977
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bringt uns in Deutschland als Teil der internationalen
Gemeinschaft nicht weiter.
Lassen Sie mich noch einige Worte zur Lateiname-
rika-Politik sagen. Zu lange ist das Potenzial einer Zu-
sammenarbeit der EU mit Lateinamerika vernachlässigt
worden. Ich freue mich, dass unter dieser Bundesregie-
rung das stiefmütterliche Dasein Lateinamerikas in der
deutschen Außen- und Entwicklungspolitik beendet
wird. Mit dem neuen Lateinamerika-Konzept, das der-
zeit ressortübergreifend ausgearbeitet wird, unterstreicht
die Bundesregierung zudem die neue Kohärenz der deut-
schen Außen- und Entwicklungspolitik. Der Abschluss
der Handelsabkommen ist gerade auch für unsere latein-
amerikanischen Partner wichtig. Natürlich müssen
Deutschland und die EU dabei ihren Beitrag leisten und
Handelspolitik auch im entwicklungspolitischen Sinne
sinnvoll gestalten. Dazu gehören selbstverständlich auch
die Reduktion von Zollhemmnissen und der Abbau von
Agrarsubventionen.
Natürlich ist dies kein einfaches Unterfangen. Die la-
teinamerikanischen Staaten sind, politisch und wirt-
schaftlich gesehen, sehr divers und stehen vor den unter-
schiedlichsten Herausforderungen: Armutsbekämpfung,
soziale Ungleichheit, der Kampf gegen Kriminalität und
Drogen, Klimaschutz und, und, und. Hier müssen wir
mit dem Instrument der Entwicklungszusammenarbeit
mehr Möglichkeiten für nachhaltige Entwicklung schaf-
fen. Jedes der lateinamerikanischen Länder muss eigen-
ständige Managementprozesse entwickeln, um diese He-
rausforderungen zu bewältigen – und Deutschland und
die EU können und müssen dabei wichtige Partner sein.
Auch gerade weil die lateinamerikanischen Staaten zwar
den Willen, aber noch nicht den Weg zu einer funktio-
nierenden regionalen Integration gefunden haben, kann
die EU hier einen wichtigen Beitrag leisten.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Der EU-Lateiname-
rika-Gipfel, der übernächste Woche in Madrid stattfin-
den wird, steht unter keinem guten Stern. Die Europäi-
sche Union hat es mit ihrer Arroganz der Macht
geschafft, fast die gesamte lateinamerikanische Staaten-
gemeinschaft gegen sich aufzubringen. Jetzt droht der
Gipfel zu platzen, weil die spanische EU-Ratspräsident-
schaft trotz Protest der lateinamerikanischen Regierun-
gen den illegitimen honduranischen Präsidenten Porfirio
Lobo nach Madrid eingeladen hat.
Als in Honduras der demokratisch gewählte Präsident
Manuel Zelaya aus dem Amt geputscht wurde, haben
sich die lateinamerikanischen Regierungen hinter ihn
und gegen den Putsch gestellt. Bis heute weigern sie sich
zu Recht, den unter den Bedingungen des Putschregimes
aus höchst umstrittenen Wahlen hervorgegangenen Prä-
sidenten Lobo anzuerkennen.
Vor diesem Hintergrund stellt die Zusammenarbeit
der EU mit Honduras einen skandalösen Vorgang dar
und zeigt: Die EU stellt ganz offen ihre Wirtschaftsinte-
ressen über die Achtung von Demokratie und Menschen-
rechten. Deshalb frage ich die Bundesregierung, wie sie
sich dazu verhält. Unterstützt sie die Einladung an Lobo
nach Madrid? Trägt sie die Assoziierungsverhandlungen
unter Einschluss von Honduras mit? Angesichts des Um-
standes, dass die zuständigen Bundesministerien mittler-
weile von der FDP geleitet werden, die damals den
Putsch in Honduras offen unterstützt hat, ist anzuneh-
men, dass die Bundesregierung diesen Kurs der EU nicht
nur mit trägt, sondern aktiv befördert hat.
Die Fraktion Die Linke fordert: Keine Einladung für
Lobo! Der für Madrid geplante Abschluss des Assoziie-
rungsabkommens der EU mit Zentralamerika muss
gestoppt werden.
Dasselbe gilt für das Freihandelsabkommen, das die
EU in Madrid mit Kolumbien und Peru abschließen will.
Der jüngste Skandal um die Aktivitäten des kolumbiani-
schen Geheimdienstes DAS, der in Brüssel Menschen-
rechtsorganisationen und kritische Europaabgeordnete
ausspioniert hat, wirft ein grelles Schlaglicht auf die
Situation in Kolumbien. Menschenrechtsverteidiger,
Friedensaktivisten und Gewerkschafter sind dort ständi-
gen Bedrohungen ausgesetzt, politische Morde und Ver-
treibungen immer noch an der Tagesordnung. Von der
Bundesregierung, die sich die Wertorientierung auf die
Fahnen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik geschrie-
ben hat, ist hierzu keine kritische Stellungnahme zu
vernehmen. Auch hier zeigt sich: Die wirtschaftlichen
Interessen gehen vor.
Die Linke solidarisiert sich mit den sozialen Bewe-
gungen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen in
Honduras, Kolumbien und Peru, die für ihre Rechte
kämpfen und die von der EU fordern: Keine Freihan-
delsabkommen mit Kolumbien und Peru! Keine politi-
sche Unterstützung für den kolumbianischen Präsidenten
Uribe! Für ein Ende der US-militärischen Präsenz auf
den Niederländischen Antillen, die eine direkte Bedro-
hung für Venezuela darstellen! Wir fordern das EU-Mit-
gliedsland Niederlande auf, diese Unterstützung einzu-
stellen.
Der UNASUR-Gipfel gestern, auf dem mehrere süda-
merikanische Staaten gedroht hatten, den EU-Latein-
amerika-Gipfel in Madrid zu boykottieren, zeigt: Die
lateinamerikanischen Staaten sind nicht mehr bereit, die
Politik der Europäischen Union einfach so hinzuneh-
men. Sie haben mittlerweile starke Strukturen für eine
eigenständige regionale Integration gebildet. Teile und
herrsche – diese Zeiten sind für die Europäische Union
in Lateinamerika vorbei.
Die regionale Integration, die sich auf der Grundlage
dieser neuen Solidarität in Lateinamerika vollzieht, hat
den Menschen viel gebracht: den komplementären Aus-
tausch von Gütern und Dienstleistungen statt Freihandel
und Verdrängungswettbewerb, die solidarische Bereit-
stellung von gegenseitiger Hilfe statt neoliberale Ent-
wicklungskonzepte aus dem Norden, eine eigenständige
Stimme auf dem internationalen Parkett statt Gängelung.
Das betrifft auch die Klimapolitik. So kamen Ende April
mehr als 30 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum
Klimagipfel der Völker nach Bolivien. In der Abschluss-
erklärung wurde das kapitalistische System für den Kli-
mawandel verantwortlich gemacht, das die Menschen zu
reinen Konsumenten und Arbeitskräften mache und die
Natur zerstöre. Gefordert wird deshalb ein weltweites
3978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
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Referendum über das derzeit herrschende Weltwirt-
schaftssystem und ein Klimagerichtshof für klimaschäd-
liches Verhalten von Staaten. Dies sind zukunftswei-
sende Projekte.
Ein Wort zum Antrag der Grünen. Wem zu Kuba
nichts anderes einfällt, als die arrogante unilaterale Poli-
tik des sogenannten gemeinsamen Standpunkts der EU
zu wiederholen, die ja sogar innerhalb der EU nur noch
von Hardlinern wie der Bundesregierung verteidigt wird,
hat nicht allzu viel vom sozialen Aufbruch in Lateiname-
rika verstanden. Da kann ich nur sagen: In Lateiname-
rika wird diese Haltung auf wenig Verständnis stoßen,
dort tritt Kuba als einer der wichtigsten Akteure der
regionalen Integration und als bedeutender Geber im Ge-
sundheits- und Bildungssektor auf. Die Linke fordert
Anerkennung für diese solidarische Leistung der Kuba-
nerinnen und Kubaner. In einer gleichberechtigten
Zusammenarbeit mit Kuba steckt viel Potenzial für die
Entwicklung in ganz Lateinamerika – das hat sich nach
dem Erdbeben in Haiti gezeigt, wo viele internationale
Helfer auf die langjährigen kubanischen Strukturen vor
Ort zurückgreifen konnten.
Nach mehr als 500 Jahren kapitalistischer Ausbeu-
tung und 200 Jahre nach dem Beginn der politischen
Unabhängigkeit brechen die Menschen in Lateinamerika
auf zu einer „zweiten Unabhängigkeit“, die ihnen end-
lich auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Eigenständigkeit bringen soll. Die Linke formuliert in
ihrem Antrag eine solidarische Haltung zu diesem Auf-
bruch. Für den 11. Mai haben wir Vertreterinnen und
Vertreter linker Regierungen und sozialer Bewegungen
zu einer öffentlichen Anhörung in den Bundestag einge-
laden, und wir starten ein Solidaritätsschiff auf der
Spree. Ich lade Sie alle sehr herzlich dazu ein. Sie kön-
nen viel von Lateinamerika lernen.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Lateinamerika-Gipfel übernächste Woche in
Madrid bietet die Chance für einen Neuanfang der Be-
ziehungen zu den Ländern Südamerikas, einem Konti-
nent im Wandel, eine gute Gelegenheit, den Dialog über
Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Menschenrechte und
Demokratie zu intensivieren und die Ergebnisse der Dis-
kussion in die Verhandlungen einfließen zu lassen.
Wichtig ist, dass der Dialog nicht hochnäsig und be-
lehrend geführt wird, sondern mit Respekt gegenüber
den Gesprächspartnern und auf gleicher Augenhöhe. Zu
Recht fordern dies Botschafter oder andere Gesprächs-
partner aus Lateinamerika immer wieder ein, wie zuletzt
in der Fachkonferenz der Grünen gestern Nachmittag
hier im Bundestag oder bei meinem Treffen mit Abge-
ordneten in Nicaragua Mitte April oder in Kolumbien im
vergangenen Jahr. Zutreffend sind ihre Hinweise auf ei-
gene Leistungen, die sich sehen lassen können.
Nicht wenige Völker des Kontinents haben sich von
Militärmachthabern und Diktaturen befreit. Einige ha-
ben in einem mühsamen Diskussionsprozess Verfassun-
gen erarbeitet, die in vielen Punkten vorbildlich sind wie
etwa die Sicherung der Rechte der indigenen Völker und
der kulturellen Diversität der Gesellschaft in Ecuador
oder Bolivien. Jetzt geht es um die Fortentwicklung und
den Ausbau demokratischer Strukturen und die Intensi-
vierung der wirtschaftlichen und politischen Zusammen-
arbeit der Länder hin zu Gemeinschaften in Mittelame-
rika, dem Andenraum oder ganz Südamerika. In diesem
Dialog sind häufig unsere europäischen Erfahrungen bei
der Entwicklung von der Europäischen Wirtschafts-
gemeinschaft zur Europäischen Union gefragt. Armuts-
bekämpfung geschieht nicht nur durch Notprogramme.
Das kann wichtig sein nach Naturkatastrophen wie Erd-
beben in Haiti oder Verwüstungen durch Wirbelstürme
wie „Mitch“. Gerade habe ich in Posoltega in Nicaragua
ein erfolgreiches Projekt besucht, bei dem 1 000 Men-
schen ein Dach über dem Kopf und Staatsland zur Ei-
genversorgung mit deutscher Hilfe verschafft wurden.
Viel wichtiger sind faire und gerechte Handelsbezie-
hungen. Mit absolutem Freihandel, wie dies der große
Bruder USA und europäische Länder immer wieder ver-
langen und zum Teil auch durchgesetzt hatten, haben die
Völker schlechte Erfahrungen gemacht. Vor allem in der
Landwirtschaft wurden eigene Ökonomien zur Selbst-
versorgung und bescheidenen Export zu Tode konkur-
riert. So lohnte sich der Anbau von Mais im Urland des
Mais Mexiko bald nicht mehr. Subventionierte Agrar-
produkte machen noch heute die lokalen Märkte kaputt,
wie jetzt noch 5 000 Tonnen Milchpulver aus Europa.
Den Bauern bei uns mag es gefallen, aber die Bauern in
Lateinamerika müssen eigene Produktion mangels Ren-
tabilität aufgeben. Anbau von Genprodukten, Palmöl
und Biosprit ruinieren die Landwirtschaft zur Selbstver-
sorgung und die biologische Vielfalt.
Freihandelsabkommen mit einzelnen Ländern wie
jetzt mit Kolumbien und Peru sind nicht der richtige
Weg. Regionale Abkommen sind die sinnvolle Alterna-
tive zur umfassenden WTO-Liberalisierungsagenda. Da-
mit ist eine sanfte Heranführung an den Weltmarkt mög-
lich. Nicht nur ökologische Landwirtschaft braucht vor
allem in der Anfangszeit häufig gezielte Förderung und
Schutz. Dies gilt für die Landwirtschaft insgesamt. Am
ökologischen Anbau und fairen Handel haben wir als
Verbraucher und die Produzenten in den Ländern Latein-
amerikas ein gemeinsames Interesse. Dies muss in den
Handelsabkommen zu finden sein.
Die EU verlangt dagegen eine weitgehende Öffnung
des Dienstleistungsmarktes, aber auch Regelungen zum
staatlichen Schutz von Investitionen, die rechtliche Gleich-
behandlung ausländischer Investoren und die Durchset-
zung von Patenten. In diesen Forderungen spiegeln sich
weitgehend die Wünsche der europäischen multinationa-
len Konzerne wider.
Die Landwirtschaft spielt bei den EU-Forderungen nur
eine untergeordnete Rolle. Die EU-Kommission sieht
hier bei Milchprodukten gute Chancen für europäische
Exporteure. Dabei ist keine Rede vom Abbau oder der
Streichung der Agrarsubventionen. Das ist kein fairer
Handel.
Stattdessen fordern wir mit vielen lateinamerikani-
schen NGOs und Verbänden unter anderem einen deutli-
chen Schuldenerlass sowie eine echte Garantie für die
Rechte und Förderung von kleinbäuerlichen Betrieben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3979
(A) (C)
(D)(B)
Die Menschenrechte sind kein Luxusgut nur für reiche
Länder. Gerade in meinen Gesprächen mit Vertretern
von Menschenrechtsorganisationen in Nicaragua und
Kolumbien wurde dies immer wieder betont. Ohne Men-
schenrechte gibt es keine nachhaltige Entwicklung der
Gesellschaft. Meinungs- und Pressefreiheit, die Mög-
lichkeit, sich frei und ungehindert in Gewerkschaften
und politischen Parteien zu organisieren, sind genauso
wichtig wie die persönliche Sicherheit für Leib und Le-
ben, persönliches Hab und Gut. In El Salvador und
Guatemala sind tägliche Überfälle, Morde, Straflosigkeit
der Täter und das Fehlen öffentlicher Sicherheit das
Haupthindernis für die wirtschaftliche und gesellschaft-
liche Entwicklung der Länder.
Deshalb verlangen wir in unserem heutigen Antrag
eine verbindliche Menschenrechtsklausel in Abkommen
für die Verhandlungen auf dem EU-Lateinamerika-Kari-
bik-Gipfel. Völlig unverständlich ist, wieso dieser An-
trag gestern im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung abgelehnt wurde. Ohne eine
solche Klausel sind die Beteuerungen der Bedeutung der
Menschenrechte nicht glaubwürdig. Zu einem partner-
schaftlichen Verhältnis gehört der Einsatz für die Einhal-
tung der Menschenrechte. Bedrohte Menschenrechtsak-
tivisten wie in Kolumbien, die vom Geheimdienst des
Präsidenten überwacht und beobachtet wurden, müssen
auf unsere Unterstützung bauen können. Thema auf dem
Gipfel sollten durchaus auch Meldungen sein, dass die-
ser Geheimdienst, DAS, das UN-Hochkommissariat für
Menschenrechte in Genf sowie Abgeordnete des Men-
schenrechtsauschusses des EU-Parlaments ausspioniert
haben soll und gegen sie gearbeitet hat. Der kolumbiani-
schen Wochenzeitung La Semana zufolge unterhielt oder
unterhält der kolumbianische Geheimdienst in Brüssel
eine Dependance, um Informationen über Abgeordnete
zu sammeln, die sich kritisch zur Politik in Kolumbien
äußern, um sie gezielt zu denunzieren. Wenn das stimmt,
ist das ein Skandal und widerspricht der kolumbiani-
schen Selbsteinschätzung, wonach sich die Verhältnisse
im Lande rechtsstaatlich entwickelt haben sollen.
Klimaschutz kann nur erfolgreich sein, wenn er welt-
weit unterstützt wird. Dazu ist ein völkerrechtlich ver-
bindliches Kioto-Nachfolgeabkommen erforderlich. Wenn
Wälder in Lateinamerika zur Lunge der Welt gehören,
müssen wir auch gemeinsam dafür sorgen, dass sie wei-
terlebt und atmet. Die Kosten müssen wir gemeinsam tra-
gen, etwa durch Einrichtung eines Green Fund.
Der Lateinamerika-Gipfel ist der richtige Ort, um
diese und weitere Klimaschutzanstrengungen, wie etwa
die Emissionen um 15 bis 30 Prozent zu vermindern, auf
die Tagesordnung zu setzen, ebenso wie die Forderun-
gen des alternativen Umweltgipfels vom 20. April 2010
in Cochabamba aufzunehmen. Die Bundesregierung hat
die Möglichkeit, wenigstens einen Teil des in Kopenha-
gen Versäumten nachzuholen.
Der Gipfel in Madrid kann erfolgreich sein, wenn er
zusammen mit Wirtschafts- und Handelsfragen Armuts-
bekämpfung, Klima, Menschenrechte und Demokratie
zum Thema macht und in allen Bereichen zu substanziel-
len und nachhaltigen Vereinbarungen kommt.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Alle BND-Akten
zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen (Zu-
satztagesordnungspunkt 5)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Die aktive Be-
schäftigung mit unserer Geschichte und der Verantwor-
tung, die uns daraus erwächst, ist eine wichtige Aufgabe,
der wir uns stellen müssen und der wir uns auch stellen.
Die Bundesregierung unterstützt diese wichtige Aufgabe
auf vielfältige Weise. Bekannte Einrichtungen, die der
Bund fördert, sind das Deutsche Historische Museum in
Berlin, das Haus der Geschichte in Bonn, das Zeitge-
schichtliche Forum in Leipzig, die Topographie des Ter-
rors und das jüngst ins Leben gerufene Zentrum gegen
Vertreibungen. Die wichtigste Einrichtung ist jedoch das
Bundesarchiv in Koblenz, das auch die historischen Ak-
ten des Bundesnachrichtendienstes verwaltet.
Arbeitsgrundlage des Bundesarchivs ist das Bundes-
archivgesetz. Darin ist ganz klar und völlig eindeutig ge-
regelt, dass die Verfassungsorgane und Behörden des
Bundes alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öf-
fentlichen Aufgaben einschließlich der Wahrung der Si-
cherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ih-
rer Länder nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv
oder dem jeweils zuständigen Landesarchiv zu überge-
ben haben. Als Bundesoberbehörde unterliegt selbstver-
ständlich auch der Bundesnachrichtendienst den Bestim-
mungen des Bundesarchivgesetzes. Das heißt ganz
konkret, dass diejenigen Unterlagen, die der Bundes-
nachrichtendienst zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht
mehr benötigt, dem Bundesarchiv in Koblenz als Ar-
chivgut übergeben werden. Dieser Verpflichtung kommt
der Bundesnachrichtendienst nach. Er hat bisher rund
2 000 Akten, 300 Mikrofilme, 74 000 Fotos und
129 000 Negative abgegeben.
Diese beeindruckenden Zahlen, meine Damen und
Herren von der Linken, machen deutlich, dass das Bun-
desarchiv in Koblenz die selbstverständliche Endstation
aller regierungsbehördlichen Akten ist, selbstverständ-
lich auch der Akten des Bundesnachrichtendienstes. Die
Zahlen belegen außerdem – und um diese Frage geht es
heute –, dass der Bundesnachrichtendienst sich keines-
wegs der Aufarbeitung seiner Geschichte widersetzt,
sondern sich aktiv darum bemüht. Archivgut aus dem
Bundesnachrichtendienst erfährt im Bundesarchiv keine
Sonderbehandlung, sondern wird wie alle anderen regie-
rungsbehördlichen Akten archiviert. Das bedeutet, die
Unterlagen sind Journalistinnen und Journalisten ge-
nauso wie Historikerinnen und Historikern in der Regel
nach Ablauf der allgemeinen gesetzlichen Schutzfristen
zugänglich.
Naturgemäß unterliegen bestimmte Unterlagen staat-
licher Behörden strengen Geheimschutzbestimmungen.
Einzelne Akten des Bundesnachrichtendienstes können
beispielsweise nicht veröffentlicht werden, weil sie von
befreundeten Nachrichtendiensten stammen, die eine
Veröffentlichung ablehnen. In anderen Fällen ist eine
3980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
Veröffentlichung nicht möglich, weil sie den Schutz von
Informanten oder anderen Personen gefährden würde.
Solche Akten durch Sperrerklärungen zu schützen ist
sinnvoll, und ich sehe keinen vernünftigen Grund, an
dieser Praxis irgendetwas zu ändern. Ich sehe dagegen
die reale Gefahr, dass Informanten und befreundete
Dienste uns zukünftig weit weniger Informationen zur
Verfügung stellen würden, wenn wir diese Praxis ändern
sollten.
In Ihrem Antrag nehmen Sie konkret auf die Akten
des Bundesnachrichtendienstes zum Fall Adolf
Eichmann Bezug. Nachdem eine Journalistin Informa-
tionen zu Adolf Eichmann im weitesten Sinne angefragt
hatte, verweigerte das Bundeskanzleramt dem Bundes-
nachrichtendienst die Freigabe der betreffenden Akten.
Wesentliche Gründe für die Sperrerklärung waren Nach-
teile für das Wohl des Bundes durch die Beeinträchti-
gung auswärtiger Beziehungen, die durch die Offen-
legung entstehen würden, sowie der Schutz von Infor-
manten. Dagegen hatte die Journalistin geklagt. Das
Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss, der
am 30. April 2010 bekannt gegeben wurde, die vorgetra-
genen Geheimhaltungsgründe nicht als solche infrage
gestellt, aber eine stärkere konkrete Zuordnung zu den
jeweiligen Aktenbeständen gefordert. Grundsätzlich hat
das Gericht den Aspekt der fortdauernden Schutzwür-
digkeit bestimmter personenbezogener Daten, etwa in
Bezug auf Informanten, aber anerkannt.
Die öffentliche Darstellung nachrichtendienstlichen
Handelns findet naturgemäß im Spannungsfeld zwischen
notwendigem Geheimschutz und wünschenswerter
Transparenz statt. Diese Feststellung gilt selbstverständ-
lich auch für die historische Darstellung. Dass der Bun-
desnachrichtendienst hier nicht mauert, sondern dort, wo
es möglich ist, die Öffentlichkeit über sein Handeln in-
formiert, hat er in der jüngsten Vergangenheit immer
wieder unter Beweis gestellt. Zum 20-jährigen Jubiläum
des Mauerfalls im vergangenen Jahr hat der Bundes-
nachrichtendienst dem Bundesarchiv beispielsweise
durch eine Schutzfristverkürzung ermöglicht, Erkennt-
nisse aus den Wendejahren schon heute der Öffentlich-
keit zugänglich zu machen. Konsequent wurden auch
Akten zur Tätigkeit ehemaliger Angehöriger des Reichs-
sicherheitshauptamts, der Gestapo, des Sicherheitsdiens-
tes und der Geheimen Feldpolizei für den Bundesnach-
richtendienst zugänglich gemacht. Sie liegen der
Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Auf-
klärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigs-
burg vor, die eng mit dem Bundesarchiv zusammenar-
beitet. Dies zeigt, dass keine Rede davon sein kann, der
Bundesnachrichtendienst oder das Bundeskanzleramt
behinderten die historische Forschung oder die Aufar-
beitung der Vergangenheit. Genau das Gegenteil ist der
Fall: Zur Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt der
Bundesnachrichtendienst alleine in diesem Jahr über fi-
nanzielle Mittel in Höhe von rund 500 000 Euro.
Spekulationen, wie sie die Linke jetzt mit ihrem An-
trag betreibt, der Bundesnachrichtendienst habe die Er-
greifung nationalsozialistischer Verbrecher vereitelt,
schaden dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland
und entbehren überdies jeglicher Grundlage. Der Deut-
sche Bundestag hat mit dem Parlamentarischen Kon-
trollgremium eine Einrichtung, in der Vertreter aller
Fraktionen, auch der Linken, über die Arbeit der Nach-
richtendienste informiert werden. Sollte es vonseiten der
Linken Informationsbedarf geben, schlage ich vor, dies
im Parlamentarischen Kontrollgremium auf die Tages-
ordnung zu setzen, anstatt in wilde Spekulationen zu
verfallen.
Der Antrag der Linken ist daher abzulehnen.
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Licht ins
Dunkel der Vergangenheit unseres Auslandsnachrichten-
dienstes zu bringen, muss ein gemeinsames Bemühen
der Regierung wie des gesamten Parlaments sein. Denn
nur dann, wenn auch endlich bei den Sicherheitsbehör-
den offen darüber berichtet und geredet werden kann,
wie insbesondere in der Gründungszeit während der
Adenauer-Ära Altnazis wieder Platz gefunden haben,
werden wir Lehren für die Zukunft ziehen können. Wer
die unschöne Anfangsgeschichte vertuschen will, der
verhindert Vertrauen, schürt Misstrauen und Zweifel,
gibt Raum für Spekulationen und Unterstellungen. Wer
sie aber aufarbeitet, der schafft Vertrauen und ist sicher-
lich alles andere als ein Nestbeschmutzer.
Vorbildlich und mutig hat BKA-Präsident Ziercke be-
reits die hässlichen Seiten der Geschichte seiner Behörde
wissenschaftlich analysieren lassen. Der Präsident des
Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, treibt seiner-
seits die Aufarbeitung der Geschichte des BND voran.
So ist es auch sein Verdienst, dass das Bundeskanzleramt
500 000 Euro in 2010 dafür bereitgestellt hat. Im März
dieses Jahres wurden erstmals geheime Akten zum
Thema freigegeben. Wer also seriös nach Transparenz
fragt, muss auch dies in Rechnung stellen und darf nicht
in boshafter Weise Verweigerung unterstellen.
Übrigens: Zur ganzen Wahrheit gehört die Erinnerung
daran, dass nicht nur westliche Dienste – vielleicht da
und dort unvermeidlicherweise – auf ehemalige Nach-
richtenoffiziere des Hitlerreiches zurückgriffen, sondern
auch der KGB war munter unterwegs, um sie anzuwerben.
Nun ist das mit geheimen Nachrichtendiensten aber
so eine Sache. Sie agieren nämlich naturgemäß geheim,
wie vielleicht manchen entgeht, die gerne – stets verbun-
den mit dunklen Andeutungen und üblen Unterstellun-
gen – völlige Offenheit und Transparenz dort fordern.
Sie werden kaum ein Land auf der Erde finden, das
seine Nachrichtendienste so umfassend und tiefgehend
parlamentarisch kontrollieren lässt. Damit fahren wir
gut. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind wir ja
auch gebrannte Kinder, die verhindern wollen, dass
„Schlapphüte“ ein Eigendasein führen. Mit dem Parla-
mentarischen Kontrollgremium, dessen Rechte wir in der
vergangenen Wahlperiode auf Initiative der damaligen
Regierungsfraktionen erheblich ausgebaut haben, verfügen
wir zum Beispiel über ein gutes, wenn auch nicht perfek-
tes Instrument, um dies zu verhindern.
Das Verfassungsgericht hat außerdem die Rechte des
Deutschen Bundestages im vergangenen Jahr weiter ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3981
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stärkt. Das gehört genauso zur Wahrheit wie die ständig
nötige Mahnung, doch mehr Transparenz walten zu lassen.
Wahr ist und bleibt aber auch: Nicht alles kann einfach
so in die Öffentlichkeit gezerrt werden, wenn wir unsere
Sicherheitsinteressen, die Funktionsfähigkeit unserer
Dienste, die im Auftrag unseres freiheitlichen Rechts-
staates ihre Pflicht tun, sowie den Austausch mit ihren
Partnern nicht gefährden wollen. In diesem Spannungs-
feld bewegt sich in Wahrheit die Auseinandersetzung
mit der Geschichte wie der Gegenwart des BND.
Anstatt also billig ideologische Feindbilder zu pflegen,
dürfen wir unserem Auslands- wie unserem Inlandsge-
heimdienst gelegentlich auch einmal Danke sagen für
ihre Pflichterfüllung für unser Land, zum Beispiel beim
Schutz unserer Soldaten im Ausland und bei der Abwehr
von Angriffen islamistischer oder anderer Terroristen.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Linken grei-
fen nach dem jüngst erfolgten Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichtes über die BND-Akten zum Eichmann-Pro-
zess ein Thema auf, das die FDP-Fraktion bereits in der
letzten Wahlperiode des Bundestages aufgegriffen hat:
die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Nach-
richtendiensten. Wir haben dazu eine Kleine Anfrage ge-
stellt, die die damalige Bundesregierung im Dezember
2007 beantwortet hat. Die FDP steht nach wie vor dazu:
Die Aufarbeitung der Vergangenheit insbesondere per-
soneller Kontinuität von Geheimdiensten unter dem natio-
nalsozialistischen Regime und dem frühen BND bleibt
ein wichtiges Anliegen.
Diese Aufarbeitung ist grundsätzlich wichtig und
richtig. Allerdings gehen die Vorstellungen der Linken
doch zu weit. Schon die Begrifflichkeit der Linken
stimmt bedenklich, denn die Formulierung „deutscher
Faschismus“, mit der die Linke den DDR-Brauch fort-
setzt, die historisch richtige Bezeichnung „Nationalso-
zialismus“ zu vermeiden, schafft eine irreführende Nähe
zum italienischen Faschismus, der zu einem verharmlo-
send-relativierenden Verständnis der NS-Zeit führen
könnte. Zugleich leugnet er den sozialistisch-revolutio-
nären Anspruch des NS-Regimes, der konstituierend für
sein Profil und seinen Erfolg bei den breiten Massen in
Deutschland war und den die jüngere Forschung heraus-
gearbeitet hat.
Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass
die Akten des Falles Eichmann durch den BND nicht
komplett gesperrt werden dürfen. „Nicht komplett sper-
ren“ heißt aber auch: nicht komplett freigeben. Hier
muss aus Gründen des Staatswohls und im Interesse der
Funktionsfähigkeit des Dienstes sicherlich genau im
Einzelfall geprüft werden, was für die Öffentlichkeit
freigegeben werden kann.
Allerdings haben auch wir Liberalen uns gegen die re-
striktive Aktenvorlagepraxis auch des BND positioniert.
Keine komplette Freigabe heißt jedoch nicht, dass wir et-
was verschleiern oder vertuschen wollen. Aufarbeitung
ist wichtig und mit dem gegebenen historischen Abstand
auch in vielen Fällen im Hinblick auf den Persönlich-
keitsschutz Betroffener problemlos geworden. Aber man-
che Frage dieser historischen Aufdeckung kann und sollte
auch, wenn Akten im Einzelfall aus nachvollziehbaren
Gründen nicht freigegeben werden können, über das für
die Dienste zuständige Gremium des Bundestages, das
PKGr, erfolgen. Zusätzliche finanzielle Mittel sind hierzu
nicht erforderlich. Die historischen Lehrstühle der Uni-
versitäten und andere Forschungseinrichtungen werden,
wenn mehr Aktenmaterial zugänglich wird, diese Mög-
lichkeit auch ohne die von den Linken beantragten Sub-
sidien zu nutzen wissen.
Jan Korte (DIE LINKE): Am kommenden Samstag
jährt sich zum 65. Mal der Jahrestag der Befreiung vom
NS-Faschismus. Damit endete auch die industrielle Ver-
nichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden. Der Ho-
locaust war ein Zivilisationsbruch, und er wurde arbeits-
teilig, bürokratisch und mit bis ins Detail ausgefeilten
Fahrplänen in die Todesfabriken durchgeführt. Und klar
war auch: In diesen größten Massenmord aller Zeiten
waren viele, sehr viele verwickelt, und noch mehr wuss-
ten, was geschieht – spätestens seit Ende 1941. Voran-
gegangen war eine beispiellose, systematische Entrech-
tung von Jüdinnen und Juden, nach biologischen
Kriterien, die schließlich in den Massenmord führte.
Mittlerweile gibt es eine hervorragend erschlossene
Quellenlage über den Nationalsozialismus, den Zweiten
Weltkrieg und den Holocaust. Besonders das Standard-
werk Raul Hilbergs hat die Einzigartigkeit des Holocaust
dokumentiert. In den letzten Jahrzehnten rückte dement-
sprechend der Umgang mit dem NS-Regime in der Bun-
desrepublik in den Fokus der Wissenschaft und eben
auch der Politik.
Der heute vorliegende Antrag „Alle BND-Akten zum
Thema NS-Vergangenheit offenlegen“ macht deutlich,
dass die Politik der Wissenschaft hinterherhinkt. Die
massenhafte Verstrickung von Behörden und Personen
in die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre
spätere Rolle in Politik und Verwaltung der Bundesrepu-
blik sind in sehr vielen Teilen erforscht und belegt. Dies
geschah allerdings nicht freiwillig: Jede kritische
Erschließung, jede juristische Verfolgung von NS-Ver-
brechen und jede öffentliche Auseinandersetzung muss-
ten stets erstritten werden. Und das hatte Gründe: Der
Politikwissenschaftler Professor Joachim Perels hat die
50er-Jahre beschrieben: „Die Signatur der frühen 50er-
Jahre wurde aber überwiegend, wie gerade neuere For-
schungen gezeigt haben, von einer Politik des Verges-
sens, vor allem der Staatsverbrechen und der Abwehr
ihrer Ahndung, bestimmt, die von der evangelischen und
katholischen Kirche, von der Mehrheit der Bevölkerung
und der öffentlichen Meinung getragen wurde.“
Dementsprechend wurde fast kein NS-Richter verur-
teilt, die meisten schwer NS-belasteten Beamten kehrten
in die Verwaltungen zurück, und viele Gestapo-Beamte
bildeten das Personal von Polizei und Ermittlungsbehör-
den. Die Zahl der inhaftierten Kriegsverbrecher sank
von 1950 bis 1952 von 3 400 auf 1 258 Personen, wie
der Historiker Norbert Frei belegt. Schon zwei Jahre
nach Gründung der BRD waren zum Beispiel 66 Prozent
der führenden Beamten des Auswärtigen Amtes ehema-
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lige NSDAP-Mitglieder, mehr als 25 Prozent der Abtei-
lungsleiter der Ministerien ebenso. Globke und Oberlän-
der waren nur die Spitze des Eisberges. Ein wesentlicher
Teil der Funktionseliten des NS-Regimes, der Wehr-
macht, der Justiz und der Wirtschaft nahm wichtige
Schlüsselstellungen im neuen Staat ein. Die Hauptflos-
kel fast aller in den Terror Verstrickten lautete: Hitler
war es! Ein Schuldeingeständnis, Reue oder gar der
Wille, die Verbrechen und die individuelle Verstrickung
politisch und juristisch aufzudecken – leider Fehlan-
zeige.
Diese ausgewählten Punkte machen deutlich, wie
schwer die kritische Aufarbeitung des NS-Regimes, ins-
besondere was ihre Funktionseliten und deren Rolle in
der Bundesrepublik angeht, gewesen ist und welche Hin-
dernisse hiergegen aufgebaut wurden. Es zeigt, dass eine
Auseinandersetzung, Forschung und politischer Ent-
scheidungswillen notwendig sind.
Nachdem beispielsweise das BKA mit der wissen-
schaftlichen Aufarbeitung der Verstrickung von Mitar-
beitern in das NS-System eine große Resonanz erfahren
konnte, geht es im vorliegenden Antrag um die Rolle des
BND und die heutige Frage: Warum mauern die Bundes-
regierung und der BND bei der vollständigen Offenle-
gung der Akten, in denen es um die Verstrickung von
NS-Tätern bei der Gründung der Organisation Gehlen,
der Vorläuferorganisation des BND geht?
Heute, fast genau auf den Tag 65 Jahre nach Ende des
Krieges, muss mit solch einer Behinderungspraxis end-
lich Schluss sein. Es sollte in diesem Haus Einigkeit
darüber herrschen, dass die rückhaltlose Aufarbeitung
der NS-Vergangenheit zentral für unsere Demokratie ist
und dass sie in den letzten 60 Jahren viel zu zögerlich
und langsam voranging. Wir sollten heute dafür plädie-
ren, alle Beschränkungen der wissenschaftlichen Aufar-
beitung der Geschichte des BND im Zusammenhang mit
personellen Kontinuitäten zum NS-Regime und seiner
Rolle in der Bundesrepublik bei der Verfolgung von NS-
Tätern aufzuheben.
In diesem Zusammenhang ist von besonderem Inte-
resse, ob und welche Rolle der BND im Fall Eichmann
spielte. Es kann ja kein Zufall sein, dass der bewun-
dernswerte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
seine Ermittlungsergebnisse eben nicht mit deutschen
Stellen und Geheimdiensten austauschte. Bauer reiste
nach Israel, um sich dort mit dem Generalstaatsanwalt
Haim Cohn auszutauschen, was schließlich zu konkreten
Schritten führte. Diese Umstände und die Frage, ob deut-
sche Stellen und Dienste gegen eine Verfolgung Eich-
manns agierten, muss endlich aufgeklärt werden. Der
Bundestag ist es auch mutigen Menschen wie Fritz
Bauer schuldig, alles offenzulegen, was diese Frage auf-
klären kann. Offenbar hatte der BND damals Informatio-
nen über Eichmann und verschwieg sie gegenüber den
Justizbehörden.
Die Autorin Irmtrud Wojak schreibt über Bauers Er-
mittlungen gegen Eichmann: „Fritz Bauer informierte
den israelischen Geheimdienst und seinen Regierungs-
chef Georg August Zinn über den Aufenthaltsort Eich-
manns – niemanden sonst. Fürchtete er, dass durch offi-
zielle Maßnahmen Eichmann beizeiten gewarnt worden
und wiederum entflohen wäre?“ – Und sie stellt fest:
„Nicht zuletzt vertrat mit Werner Junkers ein ehemaliger
Nationalsozialist, der schon im Auswärtigen Amt der
NS-Zeit tätig gewesen war, die Deutsche Botschaft in
Buenos Aires.“ Diese Fragen und Zusammenhänge müs-
sen endlich offengelegt werden.
All diese Fragen müssen beantwortet werden. Wir
sollten gerade auch den vielen jungen Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, die
Geschichte weiter aufzuarbeiten. Daher wird die Bun-
desregierung in dem heute eingebrachten Antrag aufge-
fordert – dies sind die Kernforderungen –, erstens den
freien Zugang zu BND-Akten, die im Zusammenhang
mit personellen Kontinuitäten zum NS-Regime stehen,
zu gewährleisten und zweitens alle Akten im Zusam-
menhang mit der juristischen Verfolgung von NS-Ver-
brechen und besonders mit dem Fall Eichmann der Wis-
senschaft und Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die Bundesregierung sollte ein Interesse an einer wei-
teren kritischen Aufarbeitung dieses Kapitels der Ge-
schichte haben. Der vorliegende Antrag ist ein weiterer
Schritt für eine kritische Auseinandersetzung beim Um-
gang mit der NS-Vergangenheit in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland. Zugleich kann er die Mög-
lichkeit bieten, zu diskutieren, wie mit der NS-Zeit in der
Bundesrepublik umgegangen wurde und wird. Und er ist
als Aufforderung zu verstehen, alle noch nicht unter-
suchten Verstrickungen und verdrängten Zusammen-
hänge in staatlichen Stellen und der Wirtschaft aufzude-
cken.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es wird Sie nicht überraschen: Der Antrag, die BND-
Akten zur NS-Vergangenheit zu öffnen, findet unsere
volle Unterstützung. Wir haben dafür mindestens zwei
gute Gründe. Grund Nummer eins: Die zeitgeschichtliche
Forschung braucht die Eichmann-Akten. Dazu ist schon
viel Richtiges gesagt worden. Eichmann wurde in Argen-
tinien sehr wahrscheinlich gedeckt, und wie wir alle wis-
sen, gab es viele Eichmänner in Deutschland und etliche,
die ihnen nach dem Krieg geholfen haben, möglicher-
weise auch im BND. Das muss breit erforscht werden.
Es geht also um die Rolle des BND, es geht um seine
NS-vorbelasteten Mitarbeiter aus der Organisation Gehlen.
Aber es geht gerade nicht um den Quellenschutz oder die
Zusammenarbeit mit anderen Diensten. Wir sprechen
hier über zeitgeschichtliche Vorgänge, über die wir drin-
gend mehr wissen müssen.
Jetzt könnten sie als Bundesregierung und vor allem
könnte das Kanzleramt ein Zeichen setzen. Sie könnten
die historische Aufarbeitung selbst in die Hand nehmen, die
dazu notwendigen Mittel bereitstellen und unabhängige
Historiker mit der Auswertung beauftragen – Joschka
Fischer hat das im Auswärtigen Amt getan. Aber sie ver-
weigern sich dem, und sie sperren sogar die Akten für die
wissenschaftliche Forschung. Es ist ein Unding, dass eine
Bürgerin erst zum obersten deutschen Verwaltungsgericht
gehen muss, damit Informationen von öffentlichem In-
teresse über Vorgänge im BND aus den 50er- und 60er-
Jahren auch wirklich an die Öffentlichkeit gelangen.
Mein Kollege Christian Ströbele fragte die Bundesregie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3983
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rung, warum sie das tut. Sie hat geantwortet, dass sie das
Interesse der Öffentlichkeit mit sicherheitspolitischen
Belangen – ich zitiere wörtlich – „sorgfältig abwägen
würde“. Was ist denn das für eine Abwägung, wenn sie
am Ende immer Nein sagen? Das ist allenfalls ein sorg-
fältiges Mauern.
Das Schlimmste ist aber, dass das Boykottieren und der
falsch verstandene Schutz der Geheimdienste bei Ihnen
schon System hat. Und das ist der zweite Grund, warum
wir dem Antrag zustimmen werden. Sie haben bei den
Eichmann-Akten vor dem Bundesverwaltungsgericht
verloren, weil sie Geheimdienstbelange pauschal höher
als Auskunftsrechte bewerten. Die Begründung, die das
Gericht gegeben hat, sollte ihnen verdächtig bekannt
vorkommen. So wichtig sind die Informationen nicht, sagt
das Bundesverwaltungsgericht, und wenn es schützens-
werte Belange in Einzelfällen gibt, kann man deswegen
noch nicht den gesamten Aktenbestand sperren. Das ist
es aber, was Sie immer wieder tun. Schon in der vergange-
nen Wahlperiode haben Sie eine Klage unserer Fraktion
vor dem Bundesverfassungsgericht verloren. Auch da
hatten Sie, wie jetzt wieder, pauschal die Wünsche der
Dienste erfüllt. Damit haben Sie das Fragerecht des Par-
laments verletzt. Wenn es tatsächlich echte und nicht nur
behauptete Geheimhaltungsbedürfnisse geben sollte,
dann gibt es immer noch die Möglichkeit, diese geforder-
ten Auskünfte im Parlamentarischen Kontrollgremium
abzugeben. Aber bei dieser Missachtung sind wir Parla-
mentarierinnen und Parlamentarier in guter Gesellschaft.
Denn Sie handhaben es bei den Bürgerinnen und Bürgern
genauso. Am Dienstag hat Ihnen der Bundesbeauftragte
für den Datenschutz und die Informationsfreiheit vorge-
rechnet, dass die Ministerien sich allzu oft auf schützens-
werte „Regierungstätigkeit“ berufen und Informationen
verweigern, diese Verweigerung aber in zwei Dritteln
der geprüften Fälle mindestens rechtlich zweifelhaft ist.
Ich fasse zusammen: Wir müssen uns dringend mit
den braunen Wurzeln des BND auseinandersetzen; das ist
längst überfällig. Und die Auskunftsverweigerung ist bei
Ihnen leider kein Einzelfall. Das ist bei Ihnen Methode.
Welches Rechtsstaatsverständnis haben Sie eigentlich,
wenn Sie Ihre eigenen Gesetze nicht anwenden? Diese
Bundesregierung tut so, als stünde das Recht auf Informa-
tionsfreiheit nicht im Grundgesetz. Das muss aufhören.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsregelung/
Vermeidung von Kettenduldungen)
– Antrag: Für eine wirksame und stichtagsun-
abhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung
im Aufenthaltsgesetz
(Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7)
Helmut Brandt (CDU/CSU): Das Thema Bleibe-
recht für langjährig in Deutschland lebende ausreise-
pflichtige Ausländer war in den letzten Jahren sowohl
auf Bundes- als auch auf Landesebene immer wieder
Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen
und kontrovers geführten Diskussionen, insbesondere
vor dem Ablauf der ursprünglichen Regelungsfrist zum
31. Dezember 2009.
Auch heute ist das Thema Bleiberecht wieder Gegen-
stand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Zugrunde
liegt dieser Debatte zum einen ein Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke, mit dem das Aufenthaltsgesetz in ei-
nigen Punkten geändert werden soll, und zum anderen
ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit
diesem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert,
einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsge-
setzes vorzulegen.
Die Linke fordert eine Änderung des § 25 Aufent-
haltsgesetz dahin gehend, Ausländern statt einer Dul-
dung eine sofortige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen,
wenn die Abschiebung rechtlich oder tatsächlich unmög-
lich ist. Allein die zu weite Formulierung würde Miss-
brauch Tür und Tor öffnen.
Außerdem fordert sie die Einfügung eines neuen
§ 25 a Aufenthaltsgesetz – Aufenthaltserlaubnis bei län-
gerfristigem Aufenthalt –, der die Gewährung eines dau-
erhaften Bleiberechts für diejenigen Personen vorsehen
soll, die seit fünf Jahren in Deutschland leben – für be-
sonders schutzbedürftige Personen bereits früher. Eine
besondere nachvollziehbare Begründung für die Fünf-
jahresfrist bietet der Entwurf und seine Begründung al-
lerdings nicht.
Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a, 104 b
Aufenthaltsgesetz soll aufgehoben werden. Stattdessen
sollen gemäß einem neu einzufügenden § 25 a Aufent-
haltsgesetz bereits erteilte Aufenthaltserlaubnisse ohne
die Bedingungen einer eigenständigen Lebensunterhalts-
sicherung als Aufenthaltserlaubnis fortgelten.
Nicht zuletzt soll § 2 Abs. 3, der die Sicherung des
Lebensunterhalts regelt, dahin gehend ergänzt werden,
dass der Erwerbstätigenfreibetrag bei der Ermittlung des
Einkommens keine Berücksichtigung finden soll. Dies
würde dazu führen, dass Transferleistungen als Einkom-
men gewertet werden müssten.
Begründet wird der Gesetzentwurf im Wesentlichen
damit, Kettenduldungen zu vermeiden. Die Ergänzung
in § 2 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz wird darauf gestützt,
dass nach derzeitiger Rechtslage in vielen Fällen selbst
bei voller Erwerbstätigkeit die eigenständige Lebensun-
terhaltssicherung nicht möglich sei.
Mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die
Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorzulegen. Inhalt-
lich entspricht dieser Antrag in dem Punkt Bleiberecht
dem Gesetzentwurf der Linken. Weiterhin wird unter an-
derem gefordert, die Kriterien für die eigenständige Si-
cherung des Lebensunterhalts sowie bei den Deutsch-
kenntnissen abzusenken. Zudem soll die Regelung in
§ 104 a Abs. 3 Aufenthaltsgesetz gestrichen werden, wo-
nach begangene Straftaten eines in häuslicher Gemein-
schaft lebenden Familienmitglieds die Versagung der
Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder zur
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Folge hat, zusammenfassend also eine deutliche Herab-
senkung der Kriterien für ein dauerndes Bleiberecht, mit
der Folge, dass dieses von der Bevölkerung als unakzep-
tabel empfunden werden muss.
Wir stimmen mit Sicherheit darin überein, dass die
aus der Bleiberechtsregelung in bestimmten Fällen resul-
tierenden Kettenduldungen für die Betroffenen und auch
für die Allgemeinheit einen sehr unbefriedigenden Zu-
stand darstellen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass in
sehr vielen Fällen die Ursache für die Kettenduldungen
von den Betroffenen selbst herbeigeführt wird. Insofern
sehe ich es als sehr problematisch an, dass der hier vor-
liegende Gesetzentwurf sowie der Antrag die Vorausset-
zungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an Ge-
duldete im Vergleich zur Altfallregelung des § 104 a
AufenthG in einem nicht vertretbaren Umfang herabset-
zen will.
In der Konsequenz führen die Forderungen zu einem
bedingungslosen Daueraufenthaltsrecht. Die in diesen
Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts beste-
hende Ausreisepflicht der Betroffenen liefe damit ins
Leere. Und die Frage, die sich mir dann aufdrängt, ist:
Können wir eine solche Konsequenz als Gesetzgeber ak-
zeptieren und widerspricht dies nicht auch dem Gerech-
tigkeitsgefühl der Allgemeinheit?
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Wenn man auch
eine Lösung des Problems weiter anstreben sollte, so
stellen die hier vorgelegten Forderungen keine sachge-
rechte Lösung dar. Insbesondere der Verzicht auf die Vo-
raussetzung der eigenständigen Lebensunterhaltssiche-
rung würde eine Sogwirkung mit nicht vorhersehbaren
Konsequenzen für die Stabilität der sozialen Sicherungs-
systeme entfalten und die kommunale Ebene mit weite-
ren zusätzlichen Kosten belasten.
Den aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise er-
schwerten Bedingungen für die Aufnahme und Fortset-
zung einer Erwerbstätigkeit trägt der jüngste IMK-Be-
schluss Rechnung. Die Lebensunterhaltssicherung der
Betroffenen war und ist Kern jeder Bleiberechtsregelung
und muss es meiner Meinung nach auch künftig bleiben.
Der Erfolg am Arbeitsmarkt als wesentliche Vorausset-
zung für die wirtschaftliche Integration muss auch wei-
terhin entscheidender Maßstab für die Beantwortung der
Frage sein, wer dauerhaft in Deutschland bleiben darf,
obwohl ein legaler Anspruch nach den einschlägigen ge-
setzlichen Bestimmungen nicht besteht (kein Bleiberecht
durch Aussitzen).
Das bedeutet in der Konsequenz auch, den Aufenthalt
derjenigen beenden zu können und zu müssen, die kei-
nerlei Bemühungen um ihre Integration nachgewiesen
haben. Diese Maxime ist im wohlverstandenen Interesse
gerade auch jener, die sich in Deutschland legal aufhal-
ten beziehungsweise sich ernsthaft um ihre Integration in
Deutschland bemüht haben. Ansonsten ist nämlich der
Ehrliche der Dumme. Und solch eine Ungerechtigkeit
birgt meiner Meinung nach einen gesellschaftlich nicht
vertretbaren Zündstoff.
Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die An-
forderungen an die Sprachkenntnisse herabzusetzen,
lehne ich ebenfalls vehement ab. Wir alle haben in den
letzten Jahre die Erfahrung gemacht, dass Sprache der
Schlüssel zur Integration schlechthin ist. Es ist deshalb
auch nicht im Interesse der Betroffenen selbst, die An-
forderungen an deren Sprachkenntnisse noch weiter he-
rabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen
als Mindeststandard anzusehen.
Mit der Verlängerung der Altfallregelung haben die
Betroffenen eine faire Chance erhalten. Sie müssen diese
aber auch nutzen und sich aktiv um die Sicherung des ei-
genen Lebensunterhalts sowie den Erwerb befriedigen-
der Sprachkenntnisse kümmern. Aus meiner Sicht
spricht deshalb einiges dafür, zunächst den Erfolg der
durch den IMK-Beschluss erfolgten Verlängerung der
Altfallregelung bis Ende 2011 abzuwarten, als unmittel-
bar nach der Verabschiedung dieses Beschlusses die ge-
setzlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Auf-
enthaltstitels an Geduldete zu erweitern.
Rüdiger Veit (SPD): Wir sprechen heute erneut über
ein Thema, das wir nun schon wahrlich oft behandelt ha-
ben. Doch ist dies eine notwendige Wiederholung; denn
nach wie vor leben in Deutschland rund 89 000 Men-
schen mit einer Duldung, viele von ihnen seit vielen Jah-
ren. Zwar haben wir mit den vorangegangenen Altfallre-
gelungen bereits einiges erreicht. Die eben genannten
Zahlen liegen weit unter den Zahlen, mit denen wir noch
2007 konfrontiert waren, als wir in der Großen Koalition
die gesetzliche Altfallregelung beschlossen haben. Und
dennoch, das Problem der Kettenduldungen ist längst
nicht gelöst.
Deshalb hat meine Fraktion bereits im vergangenen
Dezember einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir
langjährig hier lebenden geduldeten Menschen eine Per-
spektive bieten möchten. In diesen Tagen haben nun auch
die beiden anderen Oppositionsfraktionen ihre eigenen
Vorschläge vorgelegt. Im Interesse der Sache und dieses
wichtigen Themas kann ich dies nur begrüßen. Ich
möchte deshalb hier nicht im Detail auf die Unterschiede
zwischen den vorliegenden Vorschlägen eingehen. Dass
wir Sozialdemokraten unseren Gesetzentwurf für den
durchdachteren und weiterführenderen, für den besser zu
realisierenden halten, brauche ich an dieser Stelle nicht
ernsthaft zu betonen, zumal die „Reden“ heute wiederum
und bedauerlicherweise lediglich zu Protokoll gegeben
werden. Ich verweise daher auf meine Einbringungsrede
vom 17. Dezember 2009. Der Interessierte kann also im
entsprechenden Plenarprotokoll nachlesen und im Übri-
gen auch unseren Entwurf eines Gesetzes zur Altfallrege-
lung (Drucksache 17/207 vom 15. Dezember 2009) mit
dem heute eingereichten vergleichen.
Ich möchte vielmehr eine Gemeinsamkeit herausstel-
len: Die Regierungskoalition irrt, wenn sie meint, dass
die von den Innenministern der Länder beschlossene
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe aus
dem vergangenen Dezember das Problem insoweit löst,
als wir es bis Ende Dezember 2011 liegen lassen können.
Das können wir aus mehreren Gründen nicht. Zum einen
ist auch diese Verlängerung eine Stichtagsregelung. Wir
sind aber davon überzeugt, dass es einer nicht stichtags-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3985
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bezogenen, einer sogenannten rollierenden Regelung be-
darf: Unabhängig von einem fixierten Datum müssen
Menschen nach mehreren Jahren, in denen sie hier Wur-
zeln geschlagen, Kinder bekommen und sich in die hie-
sige Gesellschaft integriert haben, die Chance auf eine
Perspektive in Deutschland bekommen. Zum anderen
haben wir im vergangenen Herbst mit ansehen müssen,
dass die Koalition sich aus ihrer Verantwortung als Ge-
setzgeber gestohlen hat. Sie hat die Betroffenen bis zum
letzten Moment zittern lassen, bis die Innenministerkon-
ferenz – vor allem auf Betreiben der SPD-regierten Län-
der, deren Verantwortlichen ich an dieser Stelle noch
einmal ausdrücklich dafür danken möchte – einer Ver-
längerung der Fristen zugestimmt hat. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion hatte sich zuvor vergeblich bemüht, die
Union zu Zeiten der Großen Koalition davon zu über-
zeugen, diese notwendige Verlängerung im Deutschen
Bundestag zu verabschieden.
Vielleicht gelingt es ja diesmal – ich gebe die Hoff-
nung jedenfalls nicht auf –, mithilfe von externem Sach-
verstand in einer öffentlichen Anhörung die augenblick-
lich regierende Koalition endlich von der tatsächlichen
Notwendigkeit schnellen gesetzgeberischen Handelns in
Fragen des Bleiberechts zu überzeugen.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Innenminis-
terkonferenz hat Ende letzten Jahres die Bleiberechtsre-
gelung um zwei Jahre verlängert. Die FDP hat das nach-
drücklich begrüßt. Die Vereinbarung der Innenminis-
terkonferenz und auch die progressiven Äußerungen vor
und während der Innenministerkonferenz sind eine gute
Basis. Das gibt uns Zeit, eine dauerhafte Regelung zu
finden, die das Problem der Kettenduldungen nachhaltig
löst. Darüber hinausgehende Vorschläge sind derzeit Ak-
tivismus.
Die Sachlage bleibt unverändert: Wenn bei lange ge-
duldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung
nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch
eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rech-
nung getragen werden. Die Kettenduldungen müssen
einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden; wir brau-
chen für alle, insbesondere auch für die bisher „Gedulde-
ten“, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleibe-
rechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits
aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern,
dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerin-
nen und Bürgern findet.
In den Vorlagen wird zwar tapfer das erstgenannte
Problem thematisiert, aber keine Lösung für das zweite
aufgezeigt. Tatsächliche Integration in Deutschland
muss das zentrale Kriterium sein. Der eigenständige
Lebensunterhalt ist dabei von entscheidender Bedeu-
tung.
Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen
verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland
suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion
Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche
Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr er-
weist Die Linke damit den Bemühungen um Ausländer-
integration einen Bärendienst. Wer einem schrankenlo-
sen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer
Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ableh-
nung von Zuwanderern in der Bevölkerung.
Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigen-
ständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sehr wohl
ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das
dient der Integration. Zuwanderer sind zu fördern, aber
selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demo-
kratie und der Rechtsstaat, die Grund- und Menschen-
rechte sind das für alle geltende Fundament unserer Ge-
sellschaft.
Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial-
systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie
falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur
Anspruchsdenken fördert.
Wir Liberalen wollen dagegen eine neue Kultur des
Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf
Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per-
spektiven eröffnet.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Bundesinnenminister
und die Regierungsfraktionen haben erklärt, dass sie
keine Korrekturen beim Bleiberecht beabsichtigen, so-
lange die IMK-Regelung von Ende 2009 gilt. In anderen
Worten: Sie wollen bis zum Jahr 2012 untätig bleiben!
Diese Seelenruhe können Sie von uns nicht verlan-
gen. Denn weit über 100 000 Menschen müssen weiter-
hin in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit leben, obwohl
sie bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland
sind. Immer noch werden Familien mit Kindern, aber
auch alte und kranke Menschen, die faktisch längst zu
Inländern geworden sind, morgens von der Polizei aus
ihren Betten geholt und gewaltsam in absolutes Elend
abgeschoben. Das Schicksal dieser Menschen zwingt
uns als Parlament dazu, schnell eine wirksame, humani-
täre Lösung zu finden – die Innenminister der Länder
sind zu einer solchen Tat nicht fähig oder willens! Eine
gesetzgeberische Untätigkeit bis 2012 kann schon des-
halb nicht mit der aktuellen IMK-Regelung begründet
werden, weil diese – wie auch die sogenannte Altfallre-
gelung von 2007 – einen Stichtag enthält, der Personen
vom Bleiberecht ausschließt, obwohl sich ihre Situation
in nichts von der unterscheidet, für die ein Handlungsbe-
darf erkannt wurde. Infolge des Stichtags 1. Juli 2007
entstehen also täglich neue Härtefälle.
Trotz dreier Bleiberechtsregelungen seit 2006 hat sich
an der Gesamtproblematik nichts Grundlegendes geän-
dert: Die Zahl der langjährig Geduldeten liegt immer
noch bei fast 60 000, und ihr Anteil an allen Geduldeten
ist mit 64 Prozent so hoch wie nie. Die SPD hat im Ge-
genzug für ihre Zustimmung zu erheblichen Verschär-
fungen im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht in
Aussicht gestellt, dass bis zu 60 000 Menschen von der
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sogenannten Altfallregelung würden profitieren können.
Doch wie ist die tatsächliche Bilanz? Gerade einmal
6 500 Personen konnten bis heute eine relativ sichere
Aufenthaltserlaubnis aufgrund eigenen Einkommens er-
langen. Weitere 5 000 erhielten einen Aufenthalt, weil ihr
Lebensunterhalt zumindest überwiegend ohne staatliche
Unterstützung gesichert war. Vielleicht 12 000 – statt der
versprochenen 60 000 – Menschen haben also ein Blei-
berecht erhalten. Das ist eine mehr als dürftige Bilanz,
auch wenn dieses Ergebnis angesichts der viel zu hohen
gesetzlichen Hürden absehbar war und von uns vorher-
gesagt wurde. Es bedurfte deshalb auch eines erneuten
IMK-Beschlusses, um zahlreichen Betroffenen eine
„zweite Chance“ zu geben – nur „auf Probe“, versteht
sich.
Ich möchte an dieser Stelle auf eine Personengruppe
aufmerksam machen, die in der bisherigen Bleiberechts-
debatte noch gar keine Rolle spielte. Es geht um knapp
70 000 zur Ausreise verpflichtete Personen, die aktuell
nicht einmal über eine Duldung verfügen. Drei Viertel
von ihnen, knapp 53 000 Menschen, leben bereits seit
mehr als sechs Jahren in Deutschland. Auch sie sind in
ihrer großen Mehrheit aufgrund des langen Aufenthalts
längst „heimisch“ geworden in Deutschland. Auch ihnen
wird ein Aufenthaltsrecht jedoch versagt, genauso wie
den gut 56 000 Langzeit-Geduldeten. Dass sie nicht ein-
mal förmlich geduldet werden, dürfte in den meisten
Fällen rechtswidrig sein. Denn wenn eine Ausreisever-
pflichtung nicht in absehbarer Zeit konkret durchsetzbar
ist, so entschied das Bundesverwaltungsgericht bereits
im Jahr 1997, muss eine schriftliche Duldung erteilt wer-
den. Es ist unzulässig, diese Menschen lediglich faktisch
zu dulden und sie mit dem Entzug ihrer Duldungsbe-
scheinigung unter Druck zu setzen und zur „freiwilli-
gen“ Ausreise zwingen zu wollen. Die Rechtswidrigkeit
dieser Praxis wird offenkundig, wenn die Zahl der
70 000 zur Ausreise verpflichteten Personen ohne Dul-
dung der Zahl von knapp 8 000 Abschiebungen im letz-
ten Jahr gegenüber gestellt wird. Unsere Vorschläge
beziehen deshalb diese zur Ausreise verpflichteten Men-
schen mit ein.
Die Linke legt einen Gesetzentwurf vor, mit dem die
Probleme der Kettenduldung und des verweigerten Auf-
enthaltsrechts – und noch ein paar weitere mehr – ein für
alle Mal gelöst werden sollen, und zwar im Sinne der
Betroffenen und nach humanitären Kriterien! Geändert
werden muss vor allem die misslungene Regelung nach
§ 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, um das Entstehen
immer neuer Kettenduldungen schon im Ansatz verhin-
dern zu können. Zudem bedarf es eines Rechtsanspruchs
auf einen sicheren Aufenthaltstitel, wenn die Betroffe-
nen nach längerem Aufenthalt faktisch längst integriert
sind. Unser Gesetzentwurf enthält, darauf möchte ich
hinweisen, bei Weitem noch nicht alles Notwendige, um
zu einer grundlegend anderen Politik kommen zu kön-
nen. Die Stichworte Residenzpflicht, Arbeitsverbote und
Diskriminierungen infolge des Asylbewerberleistungs-
gesetzes mögen an dieser Stelle zur Erläuterung des
enormen Handlungsbedarfs genügen. Wir freuen uns,
dass sich die Grünen mit ihrem aktuellen Antrag mittler-
weile den Forderungen der Linken und der außerparla-
mentarischen Bleiberechtsbewegung im Wesentlichen
angeschlossen haben. Noch zu Beginn der letzten Wahl-
periode hatten die Grünen eine Gesetzesänderung vorge-
schlagen, die lediglich eine „Kann-Regelung“ darstellte
und die einen Ausschlussstichtag ebenso vorsah wie die
grundsätzliche Forderung nach eigenständiger Lebens-
unterhaltssicherung. Auch die SPD bewegt sich inzwi-
schen in eine richtige Richtung, allerdings hat ihr später
Wandel in Oppositionszeiten angesichts der von mir ge-
schilderten Vorgeschichte einen etwas schalen Beige-
schmack.
Ich hoffe, dass wir durch eine Anhörung des Innen-
ausschusses zu den von der Opposition vorgelegten Vor-
schlägen auch die Regierungsfraktionen aus ihrer
Lethargie reißen und von der Notwendigkeit baldiger
Gesetzesänderung überzeugen können. Wir brauchen
eine wirksame Bleiberechtsregelung, die diesen Namen
auch verdient!
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a und
104 b des Aufenthaltsgesetzes und die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1
Aufenthaltsgesetz durch Beschluss der Innenminister-
konferenz vom Dezember 2009 sind wegen ihrer restrik-
tiven Ausgestaltung nicht dazu geeignet, die weithin kri-
tisierte Praxis der „Kettenduldungen“ wirksam zu
beenden. Dies belegt die weiterhin anhaltend hohe Zahl
langjährig in Deutschland geduldeter Personen.
Beide Regelungen berücksichtigen aufgrund des zen-
tralen Kriteriums der eigenständigen Lebensunterhalts-
sicherung humanitäre Härtefälle nicht ausreichend; denn
gerade alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeits-
markt keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien
werden von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen.
Stichtagsregelungen führen überdies immer wieder zu
neuen humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauer-
hafte gleitende Bleiberechtsregelung notwendig, die
auch auf zukünftige Fälle Anwendung finden kann.
Deshalb fordern wir im vorliegenden Antrag die Bun-
desregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
vorsieht, dass einem geduldeten Ausländer oder einer ge-
duldeten Ausländerin eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
wird, wenn er oder sie sich seit mindestens fünf Jahren
geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis
aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten
hat. Wenn der Ausländer oder die Ausländerin zusammen
mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kin-
dern in häuslicher Gemeinschaft lebt, soll die Aufent-
haltserlaubnis nach drei Jahren erteilt werden. Besonders
schutzbedürftigen Personen, insbesondere unbegleiteten
Minderjährigen, durch kriegerische Auseinandersetzun-
gen in ihrer Heimat traumatisierten Personen oder Opfern
von rassistischen Gewalttaten oder Menschenhandel, soll
die Aufenthaltserlaubnis nach zwei Jahren erteilt werden.
Weiterhin darf das Kriterium der eigenständigen Si-
cherung des Lebensunterhalts keine unüberwindbare
Hürde darstellen. Ernsthafte Bemühungen, den Lebens-
unterhalt überwiegend zu sichern, müssen ausreichend
sein. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von der
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Linksfraktion, die vollständig auf das Kriterium der Le-
bensunterhaltssicherung verzichten will. Wir wollen
Ausnahmen von diesem Erteilungskriterium für Perso-
nen, die wegen ihres Alters, einer körperlichen, geistigen
oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder, weil
sie mit minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher
Gemeinschaft leben, wegen der Kinderbetreuung von
ernsthaften Bemühungen zur überwiegenden Sicherung
des Lebensunterhalts abgehalten waren.
Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen
an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt wer-
den. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwie-
gende Verletzungen von Mitwirkungspflichten sollten
zum Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltser-
laubnis führen können. Insbesondere die Frage, ob eine
Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht ein-
deutig zu beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen
Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen im Her-
kunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung
sinnvoll und gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des
Rechtsweges darf im Rechtsstaat nicht negativ sanktio-
niert werden.
Keinesfalls darf die in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsge-
setz festgeschriebene Regelung, nach der die ganze Fa-
milie von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus-
Ende Dezember 2009 lebten trotz mehrerer Bleibe-
rechtsregelungen erneut circa 89 500 Menschen in
Deutschland in einer rechtlichen Grauzone: rechtlich ge-
duldet, aber ohne legales Aufenthaltsrecht. Fast 57 000
von ihnen leben bereits länger als sechs Jahre hier. Viele
dieser Personen sind Kriegsflüchtlinge, die kein Asyl er-
hielten, aber nicht abgeschoben werden können. Inzwi-
schen haben sich diese Menschen in der Regel in
Deutschland integriert. Dies gilt erst recht für die hier
geborenen und aufgewachsenen Kinder und Jugendli-
chen – für sie ist Deutschland das Zuhause. Doch selbst
nach jahrelangem Aufenthalt droht ihnen die Abschie-
bung, häufig in ein Land, das ihnen völlig fremd ist.
Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist
nicht nur eine unzumutbare Härte – mit tragischen Fol-
gen für den Einzelnen und seine Familie. Ein solches
Vorgehen steht auch in Widerspruch zu den humanitären
Grundsätzen, denen deutsche Politik verpflichtet ist, und
widerspricht allen integrationspolitischen Überlegungen.
Auch die circa 37 000 Personen, denen bis Ende 2009
eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe erteilt wurde, leben
weiter in einem Schwebezustand. Zwar kann ihre Aufent-
haltserlaubnis unter gewissen Voraussetzungen nach dem
Beschluss der IMK bis Ende 2011 verlängert werden. An-
gesichts der für das Jahr 2010 erwarteten weiteren nega-
geschlossen ist, sobald ein mit dieser in häuslicher
Gemeinschaft lebendes Familienmitglied bestimmte
Straftaten begangen hat, übernommen werden. Im Übri-
gen müssen bei der Festlegung von Ausschlusstatbestän-
den wegen der Verurteilung nach einer im Bundesgebiet
begangenen vorsätzlichen Straftat Taten, die nach dem
Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur
von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden
können, außer Betracht bleiben.
tiven Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf
den Arbeitsmarkt bleibt ihre aufenthaltsrechtliche Situa-
tion jedoch höchst ungewiss.
Das weitere Schicksal dieser Menschen, die seit Jah-
ren hier in Deutschland leben, darf uns nicht kaltlassen.
Ich hoffe daher, dass es in den weiteren parlamentari-
schen Beratungen einen breiten Konsens für eine wirk-
same, stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsre-
gelung geben wird.
40. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9