Protokoll:
17034

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 34

  • date_rangeDatum: 25. März 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:00 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/34 handlungsfähige Städte, Gemeinden Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . und Landkreise (Drucksache 17/1152) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verbindliches Mitwirkungs- recht für Kommunen bei der Erar- beitung von Gesetzentwürfen und Verordnungen sowie im Gesetzge- bungsverfahren (Drucksache 17/1142) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zukunft der Kommunalfinan- zen – Transparenz gewährleisten und Öffentlichkeit herstellen 3093 D 3094 A 3098 A 3100 A 3101 C 3104 B 3106 B 3106 D 3119 B 3119 B Deutscher B Stenografisc 34. Sit Berlin, Donnerstag, I n h a Wahl des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch zum Mitglied des Kuratoriums des Wissen- schaftszentrums Berlin für Sozialfor- schung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Zusatztagesordnungspunktes 1 sowie der Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f und 28 g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages (Drucksache 17/1160) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3091 A 3091 A 3092 C 3092 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . 3107 A 3107 C undestag her Bericht zung den 25. März 2010 l t : Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Fraktion der SPD: Rettungs- schirm für Kommunen – Strategie für 3109 C 3110 D 3112 B 3115 A 3116 C 3117 A 3117 B (Drucksache 17/1143) . . . . . . . . . . . . . . d) – Zweite und dritte Beratung des von d Fraktion der SPD eingebrachten En . er t- 3119 C II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 wurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksachen 17/520, 17/869) . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/872) . . . . . . . . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Um- satzsteuerermäßigung für Hotellerie zurücknehmen (Drucksachen 17/447, 17/869) . . . . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Sabine Bätzing (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Zukunftsreport – Ubiquitäres Computing (Drucksache 17/405) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Adulte Stammzell- forschung ausweiten, Forschung in der 3119 C 3119 C 3119 D 3120 A 3122 C 3124 B 3125 C 3127 A 3129 A 3130 A 3131 C 3133 C 3135 C 3135 D 3136 B 3137 C 3139 A 3139 D 3141 B 3142 B 3143 C 3148 D 3144 A regenerativen Medizin voranbringen und Deutschlands Spitzenposition aus- bauen (Drucksache 17/908) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher- freundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen einfüh- ren (Drucksache 17/1029) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Europäische Union eröffnen (Drucksache 17/1059) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angele- genheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/1190) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (Drucksache 17/1179) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland (Drucksache 17/1162) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Für eine Kinodigitalisierung, die den Erhalt un- serer Kinolandschaft sichert (Drucksache 17/1156) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Partei-Sponsoring transpa- renter gestalten (Drucksache 17/1169) . . . . . . . . . . . . . . . 3144 A 3144 B 3144 B 3144 C 3144 D 3144 D 3144 D 3145 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 III b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln (Drucksache 17/892) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ab- kommens vom 15. Dezember 1950 über die Gründung eines Rates für die Zu- sammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens (Drucksachen 17/759, 17/1207) . . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungsurkun- den vom 24. November 2006 zur Kon- stitution und zur Konvention der Inter- nationalen Fernmeldeunion vom 22. De- zember 1992 (Drucksachen 17/760, 17/1197) . . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Drucksachen 17/800, 17/1198) . . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beschlagnahmung von Ge- nerika in Europa stoppen – Versorgung von Entwicklungsländern mit Gene- rika sichern (Drucksachen 17/448, 17/871) . . . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Achtundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschafts- verordnung (Drucksachen 17/441, 17/1136) . . . . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Neunundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschafts- verordnung (Drucksachen 17/442, 17/1136) . . . . . . . . g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- logie zu der Verordnung der Bundesre- gierung: Einhundertneunundfünfzigste 3145 A 3145 C 3145 D 3146 A 3146 D 3146 C 3146 D Verordnung zur Änderung der Einfuhr- liste – Anlage zum Außenwirtschaftsge- setz – (Drucksachen 17/443, 17/1136) . . . . . . . . h) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Um- setzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vor- schriften (Drucksachen 17/862, 17/940 Nr. 2, 17/1212) Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses: zu dem Streitverfah- ren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvG 1/10 (Drucksache 17/1192) . . . . . . . . . . . . . . . b)–k) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69 und 70 zu Petitionen (Drucksachen 17/1180, 17/1181, 17/1182, 17/1183, 17/1184, 17/1185, 17/1186, 17/1187, 17/1188, 17/1189) . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konsequen- zen aus den zahlreichen bekannt geworde- nen Fällen sexuellen Missbrauchs in kirch- lichen und weltlichen Einrichtungen . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz (SPD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3147 A 3147 A 3147 B 3147 C 3151 A 3151 A 3152 B 3153 C 3154 D 3156 B 3157 B 3158 C 3159 B 3160 B 3161 B 3162 C 3163 C 3164 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 Tagesordnungspunkt 6: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Erneuerbare-Energien-Geset- zes (Drucksache 17/1147) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Solarstromförde- rung wirksam ausgestalten (Drucksache 17/1144) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Eurozone reformieren – Staatsbankrotte verhindern (Drucksache 17/1058) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3166 A 3166 A 3166 B 3167 B 3168 D 3170 A 3171 C 3172 A 3173 D 3175 B 3176 A 3177 C 3178 D 3179 A 3179 C 3180 A 3180 D 3181 C 3182 B 3182 C 3183 C 3184 C 3185 D 3187 C 3188 D Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Holger Haibach, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Haiti eine langfristige Wiederaufbauperspektive geben (Drucksache 17/1157) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding (Heidel- berg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zukunft für Haiti – Nachhaltigen Wiederaufbau unterstüt- zen (Drucksachen 17/885, 17/1214) . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nachhal- tige Hilfe für Haiti: Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Kooperation stär- ken – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Haiti entschulden und lang- fristig beim Wiederaufbau unter- stützen (Drucksachen 17/774, 17/791, 17/1099) . Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 3189 B 3189 D 3190 A 3191 B 3192 D 3192 D 3193 A 3193 B 3194 B 3196 B 3196 D 3198 A 3199 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 V Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Hermann Ott, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Finanzmärkte öko- logisch, ethisch und sozial neu ausrichten (Drucksache 17/795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Freie und faire Wahlen im Sudan sicherstellen, den Friedensprozess über das Referendum 2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre und menschenrechtliche Situation verbes- sern (Drucksache 17/1158) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mobilität nachhaltig gestalten – Erfolgreichen Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwickeln (Drucksache 17/1060) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Frak- 3200 D 3202 B 3203 D 3204 A 3204 D 3206 B 3207 D 3208 D 3209 C 3210 C 3211 C 3212 D 3212 D 3214 A 3215 C 3216 D 3217 D 3219 A 3219 D tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit grüner Elektromobilität ins postfossile Zeitalter (Drucksache 17/1164) . . . . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktio- nen der CDU/CSU und der FDP: Men- schenrechte weltweit schützen (Drucksachen 17/257, 17/1135) . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Menschenrechtsver- teidiger brauchen den Schutz der Euro- päischen Union (Drucksache 17/1048) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Schutz für Menschen- rechtsverteidigerinnen und Menschen- rechtsverteidiger (Drucksache 17/1165) . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Ge- setzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 28 Absatz 1) (Drucksache 17/1047) . . . . . . . . . . . . . . . 3220 A 3220 A 3221 D 3223 B 3224 C 3225 D 3226 D 3227 D 3228 A 3228 A 3228 B 3229 D 3231 C 3232 C 3233 C 3234 A 3235 B 3237 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundge- setzes (Artikel 28 Absatz 1 – Kommuna- les Ausländerwahlrecht) (Drucksache 17/1150) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Katrin Kunert, Jan Korte, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige einführen (Drucksache 17/1146) . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu der Unterrichtung der Bundesregierung: Vorschlag für eine Ver- ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Biozidprodukten (Text von Bedeutung für den EWR) (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) KOM(2009) 267 endg.; Ratsdok. 11063/09 (Drucksachen 17/136 Nr. A.94, 17/1218) . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, wei- terer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE: Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: Riester-Faktor streichen – Keine nachho- lenden Rentendämpfungen vornehmen (Drucksache 17/1145) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Anbau von gentechnisch verän- derter Kartoffel Amflora verhindern (Drucksache 17/1028) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3237 A 3237 B 3237 C 3239 A 3240 B 3241 B 3242 C 3243 B 3244 B 3245 C 3246 A 3246 A Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Fraktion der SPD: Modernisie- rungspartnerschaft mit Russland – Ge- meinsame Sicherheit in Europa durch stär- kere Kooperation und Verflechtung (Drucksache 17/1153) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen streichen (Drucksache 17/1148) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Altschuldenentlastung für Wohnungsun- ternehmen in den neuen Ländern (Drucksache 17/1154) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Tier- versuchsrichtlinie muss ethischem Tier- schutz Rechnung tragen – Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Arti- kel 23 Absatz 3 Grundgesetz (Drucksachen 17/792, 17/1208) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kooperationsverbot in der Bildung unver- züglich aufheben (Drucksache 17/785) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 3246 B 3246 C 3246 C 3246 D 3247 B 3248 A 3248 D 3249 C 3250 A 3251 A 3251 C 3251 C 3252 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 VII Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtung zur Registrierung aller klini- schen Studien und zur Veröffentlichung al- ler Studienergebnisse einführen (Drucksache 17/893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entfristung der freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung (Drucksache 17/1141) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring- Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbständige entfristen und aus- bauen (Drucksache 17/1166) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für die Demokratisierung des Gewerkschafts- rechts in der Türkei (Drucksache 17/1101) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3253 B 3254 A 3254 D 3255 D 3256 B 3256 C 3257 A 3257 D 3258 D 3259 C 3260 D 3261 D 3262 A 3262 A 3263 D 3264 C 3265 C 3266 A 3266 D 3266 D Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 3) Anlage 3 Mündliche Frage 87 Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusage für eine Exportbürgschaft zum Weiterbau des Atomkraftwerks Angra 3 durch Siemens in Brasilien Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) . . . . . . Anlage 4 Mündliche Frage 91 Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Förderung des Exports deutscher Atom- technologie statt Technologien im Bereich erneuerbarer Energien nach Brasilien Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) . . . . . . Anlage 5 Mündliche Frage 92 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Polnische Pläne zum Bau von Atomkraft- werken in Polen sowie Unterstützung durch deutsche oder europäische Finanz- hilfen Antwort Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) . . . . . . 3268 B 3269 B 3269 D 3271 D 3272 C 3273 A 3273 B/D 3276 A 3276 B 3276 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 Anlage 6 Mündliche Frage 114 Caren Marks (SPD) Konsequenzen einer Verlagerung der Pflege in die Familien und Konzeption der Pflegeteilzeit Antwort Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) . . . . . . . Anlage 7 Erklärung der Abgeordneten Dr. Ursula von der Leyen (CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines … Geset- zes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 5 d) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Men- schenrechte weltweit schützen – Antrag: Menschenrechtsverteidiger brau- chen den Schutz der Europäischen Union – Antrag: Mehr Schutz für Menschenrechts- verteidigerinnen und Menschenrechtsver- teidiger (Tagesordnungspunkt 12 a bis c) Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- schen Parlaments und des Rates über das In- verkehrbringen und die Verwendung von Bio- zidprodukten (Text von Bedeutung für den EWR) (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesord- nungspunkt 14) Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zur Stabilisierung des Renten- niveaus: Riester-Faktor streichen – Keine 3276 C 3277 A 3277 A 3277 D 3279 D 3280 B 3282 A 3282 D 3283 B nachholenden Rentendämpfungen vornehmen (Tagesordnungspunkt 15) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Anbau von gentechnisch verän- derter Kartoffel Amflora verhindern (Tagesordnungspunkt 16) Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josef Rief (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Antrags: Modernisierungspartnerschaft mit Russland – Gemeinsame Sicherheit in Eu- ropa durch stärkere Kooperation und Ver- flechtung (Tagesordnungspunkt 13) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi- schem Tierschutz Rechnung tragen – Stel- lungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz (Zu- satztagesordnungspunkt 7) Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3284 A 3285 A 3285 D 3287 C 3288 B 3289 A 3289 C 3290 C 3291 B 3292 A 3293 A 3293 D 3294 D 3296 D 3298 D 3299 D 3300 C 3301 C 3303 B 3304 C 3305 C 3306 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3091 (A) (C) (D)(B) 34. Sit Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3273 (A) (C) (D)(B) Norbert Barthle Günter Baumann Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Leo Dautzenberg Alexander Dobrindt Dreibus, Werner DIE LINKE 25.03.2010 Erdel, Rainer FDP 25.03.2010 Gabriel, Sigmar SPD 25.03.2010 Götz, Peter CDU/CSU 25.03.2010 Golze, Diana DIE LINKE 25.03.2010 Gottschalck, Ulrike SPD 25.03.2010 Granold, Ute CDU/CSU 25.03.2010 Groth, Annette DIE LINKE 25.03.2010 Hempelmann, Rolf SPD 25.03.2010 Hintze, Peter CDU/CSU 25.03.2010 Keul, Katja BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.03.2010 Klöckner, Julia CDU/CSU 25.03.2010 Anlage 2 Namensve der Mitglieder des Deutschen Bundestages des Deutschen Bundestages teilgenom CDU/CSU Ilse Aigner Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) * für die Teilnahme an der 122. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union Lötzer, Ulla DIE LINKE 25.03.2010 Pflug, Johannes SPD 25.03.2010 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 25.03.2010 Pronold, Florian SPD 25.03.2010 Roth (Esslingen), Karin SPD 25.03.2010 Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 25.03.2010 Ulrich, Alexander DIE LINKE 25.03.2010* Werner, Katrin DIE LINKE 25.03.2010 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.03.2010* Zimmermann, Sabine DIE LINKE 25.03.2010 rzeichnis , die an der Wahl des Wehrbeauftragten men haben (Tagesordnungspunkt 3) Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Burchardt, Ulla SPD 25.03.2010 Burkert, Martin SPD 25.03.2010 Dr. Danckert, Peter SPD 25.03.2010 DIE GRÜNEN Kunert, Katrin DIE LINKE 25.03.2010 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 25.03.2010 Bernschneider, Florian FDP 25.03.2010 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ 25.03.2010 Anlage 1 Abgeordnete(r) Liste der entschuldi entschuldigt bis einschließlich Anlagen zum S gten Abgeordneten Abgeordnete(r) tenografischen Bericht entschuldigt bis einschließlich 3274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Nadine Müller (St. Wendel) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Lucia Puttrich Daniela Raab Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Petra Crone Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf (Rosenheim) Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Ute Kumpf Christine Lambrecht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3275 (A) (C) (D)(B) Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Aydan Özoğuz Heinz Paula Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Heiko Staffeldt Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Konstantin Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz (Herborn) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Anna Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) 3276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) auch auf Brasilien bezogen. sechs Monaten einen Anspruch, vollständig oder teil- weise von der Arbeitsleistung freigestellt zu werden, um Anlage 5 Antw des Parl. Staatssekretärs H Frage des Abgeordneten Han DIE GRÜNEN) (33. Sitzung ge 92): ort ans-Joachim Otto auf die s-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ , Drucksache 17/1107, Fra- nächsten Bericht über die En cherung evaluiert. Die Bundesregierung prüf Koalitionsvereinbarung das von Frau Bundesministerin D Ende der Prüfung wird unter September 2010 ein Eckpunk twicklung der Pflegeversi- t vor dem Hintergrund der Familien-Pflegezeitkonzept r. Kristina Schröder. Nach Einbindung der Ressorts im tepapier vorgelegt. Angehörige zu pflegen. Die Regelungen werden im Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Frage der Abgeordneten Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (33. Sitzung, Drucksache 17/1107, Frage 87): Wie begründet die Bundesregierung die Zusage der Ex- portbürgschaft in Höhe von knapp 2,5 Milliarden Euro für Zu- lieferungen des Siemens-Konzerns für den Weiterbau des Atomkraftwerkes Angra 3 in Brasilien? Das Geschäft hält internationale Standards ein und hat für den Exporteur eine hohe beschäftigungspolitische Bedeutung. Hinzu kommt die Bedeutung des Auftrages für die Auslastung der am Projekt beteiligten kleinen und mittleren Zulieferanten aus ganz Deutschland. Dies sichert auch in den jetzigen Krisenzeiten hochqualifi- zierte Arbeitsplätze. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Fra- gen des Abgeordneten Dr. Herman Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (33. Sitzung, Drucksache 17/1107, Frage 91): Warum fördert die Bundesregierung den Export deutscher Atomtechnologie nach Brasilien und nicht den Export deut- scher Technologien im Bereich der erneuerbaren Energien? Deutsche Exporte sind von außerordentlicher wirt- schafts- und arbeitsmarktpolitischer Bedeutung. Daher sichert die Bundesregierung auch Exporte im Bereich der erneuerbaren Energien mit dem Instrument der Export- kreditgarantien unter anderem für das Zielland Brasilien ab. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Indeckung- nahme müssen hierfür jeweils vorliegen. Außerdem för- dert die Bundesregierung den Export deutscher Techno- logien speziell für erneuerbare Energien im Rahmen der Exportinitiative Erneuerbare Energien insgesamt und Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Befürwortet die Bundesregierung die Pläne der polnischen Regierung, den Bau von Atomkraftwerken in Polen zuzulas- sen, und schließt die Bundesregierung generell deutsche oder europäische Finanzhilfen für polnische Atomkraftwerke aus? Nach Auffassung der Bundesregierung steht es jedem Staat frei, über die Zusammensetzung seines Energiemi- xes einschließlich des Einsatzes der Kernenergie selbst zu entscheiden. Dies gilt auch für die Pläne Polens zur Nutzung der Kernenergie. Anträge auf Finanzhilfen für den Bau von Kernkraft- werken in Polen sind der Bundesregierung nicht be- kannt. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Frage der Abgeordneten Caren Marks (SPD) (33. Sit- zung, Drucksache 17/1107, Frage 114): Inwieweit sieht die Bundesregierung durch die mit der Pflegeteilzeit angestrebte Verlagerung der Pflege in die Fami- lien und der damit einhergehenden Privatisierung und Entsoli- darisierung eine angemessene Lösung bezüglich der immer größer werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen in der Pflege, und welche Lösungsvorschläge hat die Bundesre- gierung bei der Konzeption einer Pflegeteilzeit bezüglich der bekannten psychischen und physischen Überlastung pflegen- der Angehöriger? Die Regierungsparteien haben im Koalitionsvertrag folgendes vereinbart: „Um den Familien die Chance zu geben, Erwerbstätigkeit und die Unterstützung der pfle- gebedürftigen Angehörigen besser in Einklang zu brin- gen, wollen wir mit der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst bei Pflege- und Arbeitszeit verbesserte Maßnah- men zur Förderung der Vereinbarkeit von Pflege und Be- ruf entwickeln.“ Die derzeitigen Regelungen des Pflegezeitgesetzes sind ein wichtiger und richtiger Schritt auf diesem Weg. Danach haben Beschäftigte für eine Dauer von bis zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3277 (A) (C) (D)(B) Anlage 7 Erklärung der Abgeordneten Dr. Ursula von der Leyen (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines … Gesetzes zur Ände- rung des Umsatzsteuergesetzes (Tagesord- nungspunkt 5 d) In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. Mein Votum lautet „Nein“. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Menschen- rechte weltweit schützen – Antrag: Menschenrechtsverteidiger brauchen den Schutz der Europäischen Union – Antrag: Mehr Schutz für Menschenrechts- verteidigerinnen und Menschenrechtsvertei- diger (Tagesordnungspunkt 12 a bis c) Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): „Menschenrechte weltweit schützen“. So lautet der Titel des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP. Der Antrag bringt zum Ausdruck, dass wir uns uneingeschränkt zu den Menschenrechten bekennen und dass wir sie auch ein- fordern – bei uns und überall in der Welt. Der Antrag be- nennt die zentralen Handlungsfelder der Menschen- rechtspolitik der christlich-liberalen Koalitionen. In den 17 Forderungen unseres Antrags an die Bundesregierung kommt zum Ausdruck, dass es uns ernst ist, alles zu tun, um die Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Die Forderung nach Einhaltung der Presse- und Meinungs- freiheit ist uns ebenso wichtig wie die Forderung nach Stärkung der Menschenrechtsschutzsysteme, die welt- weite Abschaffung von Todesstrafe und Folter ebenso wie die Bekämpfung von Sklaverei, Ausbeutung und Menschenhandel. Aber auch der Schutz von Frauen und Kindern ist uns ein wichtiges Anliegen. Bei Menschenrechtsverletzungen dürfen wir nicht schweigen. Wir müssen uns einmischen und in einen ständigen Dialog mit den Verantwortlichen jener Staaten treten, die Menschenrechte verletzen. Die Menschen- rechte haben deshalb in unserer Außenpolitik einen hohen Stellenwert. Im Koalitionsvertrag wird die Einhaltung der Menschenrechte ausdrücklich als eine Grundlage deut- scher Außenpolitik bezeichnet. „Interessengeleitete Au- ßenpolitik muss auch wertegeleitete Politik sein“, sagte die Bundeskanzlerin beim Tag der Konrad-Adenauer- Stiftung im Jahre 2008 anlässlich der damals 60 Jahre zuvor von den Vereinten Nationen verabschiedeten All- gemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie machte zu Recht deutlich, dass zu einer wertegeleiteten Außenpoli- tik auch die Anmahnung der Menschenrechte gehört. Wenn wir Menschenrechte einklagen, dann darf es sich nicht um Lippenbekenntnisse handeln. Eine wertegeleitete Außenpolitik darf sich nicht scheuen, auch wirtschaftlichen Druck auf ein Land aus- zuüben, wenn dieses die Menschenrechte massiv ver- letzt. Aber auch in der Entwicklungspolitik müssen wir menschenrechtliche Anforderungen stärker in den Vor- dergrund stellen. Wir dürfen in der Entwicklungszusam- menarbeit nicht nur Menschenrechtsprojekte fordern. Wir müssen die Entwicklungszusammenarbeit auch als Instrument zur Einhaltung von Menschenrechten einset- zen. Ich nenne das Beispiel Uganda. Dort konnte dank massiven Drucks seitens der Europäischen Union, aber auch auf Druck des deutschen Ministers für Entwick- lungszusammenarbeit zumindest vorläufig ein Gesetzes- verfahren gestoppt werden, das die Todesstrafe für Ho- mosexuelle vorsieht. Handfeste wirtschaftliche Interessen dürfen nicht dazu führen, menschenrechtliche Prinzipien zu vernachlässi- gen oder gar aufzugeben. Gerade in einer globalisierten Welt mit ihren wirtschaftlichen Interessen müssen wir uns energisch für die Einhaltung menschenrechtlicher Prinzipien einsetzen. Sie müssen für uns eine besondere Herausforderung sein. Wirtschaftlicher Erfolg und Werte wie Demokratie und Menschenrechte dürfen nicht gegen- einander ausgespielt werden. Deshalb stehen wir klar zu unseren Forderungen, zu denen auch die weltweite Ab- schaffung der Todesstrafe gehört. Allein im Jahre 2008 wurden mindestens 2 390 Menschen hingerichtet. Todes- strafe und Menschenrechte sind unvereinbar. Diese Hal- tung müssen wir Ländern wie China oder dem Iran, aber auch demokratischen Ländern wie den USA oder Japan deutlich machen. Unser Respekt gilt jenen, die sich oft unter Gefahr für das eigene Leben beharrlich für die elementaren Men- schenrechte anderer einsetzen: den Menschenrechtsver- teidigern und -verteidigerinnen. Wir müssen sie überall dort, wo uns dies möglich ist, unterstützen, sie schützen und ihre Arbeit fördern. Ohne ihr Wirken wäre die welt- weite Durchsetzung von Menschenrechten nicht denk- bar. Mit unserem Antrag wollen wir die Bundesregie- rung nicht nur auffordern, sondern ihr auch den Rücken stärken in ihrem Bemühen, sich weltweit für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen. Wir bitten um Zustim- mung zu unserem Antrag. Anlage 9 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Vorschlag für eine Verordnung des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Bio- zidprodukten (Text von Bedeutung für den EWR) (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungspunkt 14) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Wir beraten heute über den Entwurf einer EU-Verordnung zu Biozidpro- dukten. Biozidprodukte sind wichtig, sie dienen dem 3278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) Schutz des Menschen und seiner Umwelt. Biozide haben – bei sachgerechter Anwendung – einen positiven Nut- zen, sie sind unverzichtbar für einen hohen Gesundheits- und Hygienestandard. Aber sie provozieren auch Kritik; denn sie verfügen auch über Eigenschaften, von denen eine Gefahr für Mensch und Umwelt ausgehen kann. Deshalb muss ihrem Einsatz stets eine sorgfältige Abwä- gung des individuellen Risikos und des zu erwartenden Nutzen vorausgehen. Nun wird der vorliegende Verordnungsentwurf, den die Europäische Kommission dem Rat und dem Europäi- schen Parlament am 12. Juni 2009 präsentierte, von allen Seiten kritisiert, von Verbraucherschützern genauso wie von der chemischen Industrie. Auch wir sehen Hand- lungsbedarf, den Verordnungsentwurf noch zu verbes- sern. Die europäische Biozidrichtlinie von 1998, die 2002 mit dem Biozidgesetz in deutsches Recht umge- setzt wurde, hat sich einfach nicht bewährt. Sie ist viel zu bürokratisch. Aufwand und Kosten stehen in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ein konkretes Bei- spiel: Derzeit beträgt die Bearbeitungsdauer für die Auf- nahme eines Wirkstoffes ganze vier Jahre – mit der Folge, dass bis 2008 überhaupt nur 14 Wirkstoffe bear- beitet wurden und Biozidwirkstoffe und -produkte, die noch benötigt werden, vom Markt verschwinden. Die wesentliche Ursache dieses unbefriedigenden Zustandes ist das parallele Zulassungsverfahren auf der nationalen Ebene, das eine zu lange Bearbeitungsdauer erfordert und zu bürokratisch ist. Aus diesem Grund verfolgt die EU-Kommission mit ihrem Vorschlag folgendes Ziel: Harmonisierung der Re- gelungen und Vereinfachung der Verfahren für Biozide in der EU. Diese Zielsetzung findet unsere Unterstüt- zung – auch weil die Kommission mit ihrer Initiative eine Richtung einschlägt, die im Einklang steht mit den Bestimmungen des Koalitionsvertrages der neuen christ- lich-liberalen Bundesregierung. Dieser legt fest, dass die bürokratischen Hürden für die Zulassung von Biozidpro- dukten abgebaut werden sollen. Bürokratische Erleichte- rungen dürfen allerdings nicht mit der Absenkung von Inhalten einhergehen. Es muss sichergestellt sein, dass die bestehenden, insbesondere hohen deutschen Sicher- heits- und Umweltstandards in vollem Umfang aufrecht- erhalten und ebenfalls auf europäischer Ebene verankert werden. Kurz gefasst: Hohe Sicherheitsstandards bei Verfahrenserleichterungen. Obwohl die Zielsetzung der Europäischen Kommis- sion unsere Unterstützung findet, sind die Ausführungen des Verordnungsvorschlags nicht zufriedenstellend. In unserem Entschließungsantrag haben wir daher in zwei wesentlichen Bereichen, den Ausschlusskriterien und dem gemeinschaftlichen Zulassungsverfahren, konkrete Verbesserungsvorschläge formuliert: Erstens. Gemein- schaftliches Zulassungsverfahren. Wir unterstützen den Vorschlag der Europäischen Kommission, eine Gemein- schaftszulassung einzuführen; denn die bislang genutzten nationalen Zulassungsverfahren sind zu aufwendig – mit den zuvor beschriebenen Folgen, also der Nicht-Anmel- dung von Produkten, weil sich der Aufwand nicht lohnt. Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission soll die Gemeinschaftszulassung nur für zwei Fallgrup- pen, die der neuen Wirkstoffe und die der Niedrig-Risiko- Wirkstoffe, eingeführt werden. Das bringt uns zu der For- derung, dass die Gemeinschaftszulassung gegenüber dem vorliegenden Vorschlag ausgeweitet werden soll. Das Ziel muss darin bestehen, die Gemeinschaftszulassung grundsätzlich auf alle Produktkategorien auszudehnen. Die aktuelle Beschränkung des Verfahrens ist unsachge- mäß, löst nicht das Problem und macht das Verfahren für die Praxis de facto bedeutungslos. Darüber hinaus unter- stützen wir ausdrücklich den Vorschlag der Bundesregie- rung für die Einführung eines Verfahrens der sogenannten „Gleichzeitigen gegenseitigen Anerkennung“. Die bishe- rige aufwendige Praxis paralleler eigenstaatlicher Zulas- sungsverfahren muss in jedem Fall beendet werden. Zweitens. Ausschlusskriterien. In Art. 5 des Verord- nungsvorschlages der Europäischen Kommission werden sogenannte Ausschlusskriterien definiert, wonach karzi- nogene, mutagene oder reproduktionstoxische Stoffe bzw. Stoffe mit endokrinschädigenden Eigenschaften nur dann in die Positivliste aufgenommen werden, wenn sie eine der Voraussetzungen erfüllen. Wir begrüßen aus- drücklich die Einführung von Ausschlusskriterien, denn dieses Instrument dient der Verbesserung des Schutz- niveaus für Mensch und Umwelt. Und weil wir es ernst meinen mit der Stärkung des Gesundheits- und Umwelt- schutzes, enthält unser Entschließungsantrag die Forde- rung, die Ausschlusskriterien sogar um wichtige Um- weltaspekte zu erweitern, die im Verordnungsentwurf bisher außer Acht bleiben: bioakkumulative, persistente und toxische Stoffe sowie persistente organische Verbin- dungen. Allerdings ist in Zusammenhang mit der Einfüh- rung von Ausschlusskriterien sicherzustellen, dass zu jeder Zeit alle notwendigen Biozidprodukte in ausrei- chender Anzahl auf dem Markt zur Verfügung stehen, um auch weiterhin hohe Gesundheits- und Hygienestandards zu garantieren. Dieser Zielsetzung widerspricht jedoch Art. 5, der von vorneherein „Wirkstoffe für die Produkt- arten 4 sowie 14 bis 19“ ausnimmt. Diese Regelung hätte möglicherweise zur Folge gehabt, dass beispielsweise die für Schädlingsbekämpfungsmittel benötigten Wirkstoffe nicht mehr auf die Positivliste aufgenommen und Pro- dukte mit diesen Wirkstoffen dann nicht mehr hätten her- gestellt werden können. Eine nicht hinnehmbare Ein- schränkung des bestehenden Schutzniveaus. Aus dieser Problematik resultiert unsere Forderung an die Bundesre- gierung, sich auf europäischer Ebene für eine entspre- chende Präzisierung des unkonkreten Art. 5 einzusetzen. Die Präzisierung dient dazu, Ausnahmeentscheidungen an klare Kriterien zu binden und den generellen Aus- schluss von Produktarten überflüssig zu machen. Wenn wir die Ausnahmen so klar und stringent formulieren, dann brauchen wir nicht den generellen Ausschuss von Produktarten. Hinsichtlich der Problematik „Ausschlusskriterien“ sind wir zusammenfassend der Ansicht, dass wir durch die Erweiterung der Ausschlusskriterien um wichtige Umweltbelange auf der einen Seite und die Erleichte- rung, die sich auf der anderen Seite durch die Umformu- lierung des Art. 5 ergibt, eine Ausrichtung der Verord- nung erzielen, die in ihrer Ausgewogenheit überzeugt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3279 (A) (C) (D)(B) Neben der Einführung eines gemeinschaftlichen Zu- lassungsverfahrens und der Präsizierung der Ausnahme- möglichkeiten von Ausschlusskriterien, möchte ich zu- dem noch auf den Punkt „Transparenz für den Verbraucher“ zu sprechen kommen. Um eine Verbesse- rung der Bereitstellung von Informationen auf europäi- scher Ebene zu erzielen, welche meiner Meinung nach angestrebt werden sollte, könnte man sich auf EU-Ebene an den Regelungen der deutschen Gesetzgebung im Be- reich Biozide orientieren. Hier weise ich auf das im deut- schen Biozidrecht verankerte Produktverzeichnis hin, das als Vorbild dienen kann. Damit habe ich den aus unserer Sicht bestehenden Nachbesserungsbedarf am vorliegen- den Verordnungsentwurf umfassend beschrieben. In die- sem Zusammenhang freut es mich, dass mit dem Bericht der Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Christa Klass, EVP, eine gute Stellungnahme vorliegt, die verschiedene Aspekte ausgewogen behandelt. Unser Antrag benennt klare Ziele und Maßnahmen: Erhaltung des hohen Schutzniveaus, das wir in Deutsch- land kennen; Harmonisierung des europäischen Biozid- rechts mit dem Ziel der Erleichterung der Verfahren bei der Zulassung sowie damit verbunden die Anforderung an den positiven Nutzen einer sicheren Anwendung von Biozidprodukten. Dabei will ich auch darauf hinweisen, dass bei der Ausformulierung dieser Ziele es nicht die Aufgabe des Bundestages sein kann, ins letzte Detail zu gehen und sich so zu überheben. Das übergeordnete Ziel der Formulierung der oben genannten Ziele in Form ei- nes Entschließungsantrages, verbunden mit einem ent- sprechenden Votum des Deutschen Bundestages, besteht darin, die Bundesregierung in den Verhandlungen durch die Vorgabe klarer Ziele auf europäischer Ebene den Rü- cken zu stärken. Das ist uns mit diesem Entschließungs- antrag gelungen. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. Josef Göppel (CDU/CSU): Schon der Begriff „Bio- zide“ unterstreicht die Notwendigkeit einer strengen Zu- lassungsregelung. Der Begriff für Materialschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel ist abgeleitet vom grie- chischen Wort für Leben „bios“ und dem lateinischen Wort für töten „caedere“. Desinfektionsmittel, Holz- schutzmittel und Insektengifte bergen für Mensch und Natur erhebliche Gefahren. Viele Biozide sind langlebig, reichern sich in den natürlichen Kreisläufen an und kön- nen Erbgut verändern. Entsprechend hoch ist das Ge- sundheitsrisiko für den Menschen. Besonders die schlei- chende Wirkung einiger Biozide ist äußerst tückisch, Krebs die Langzeitfolge. Ich erinnere hier nur an die leidvollen Erfahrungen aus früheren Zeiten mit PCP, DDT und Lindan in Holzschutzmitteln. Der Staat steht hier ganz besonders in der Pflicht, Vorsorge für die Ge- sundheit der Bürger zu treffen. Deshalb steht für die Re- gierungsfraktionen an vorderster Stelle, dass eine euro- päische Harmonisierung und der Abbau bürokratischer Hürden keinesfalls zu einer Aufweichung des hohen deutschen Schutzniveaus führen dürfen. Grundsätzlich begrüße ich den Ansatz der EU-Kom- mission, die zehn Jahre alte Biozidrichtlinie nach dem Vorbild der europäischen Chemikalienpolitik zu überar- beiten. Strengere Regeln für mit Bioziden behandelte Kleidung, Teppiche und Möbel oder Materialien, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen, sind mehr als über- fällig. Durch den europaweiten Austausch von Test- ergebnissen werden weniger Tierversuche notwendig sein. Im Detail gibt es aber noch Nachbesserungsbedarf. Wenn die Bewertung eines Wirkstoffes positiv abge- schlossen worden ist, begann bisher auf der Basis von Anträgen bei den zuständigen Behörden der Mitglied- staaten das nationale Produktzulassungs- oder Registrie- rungsverfahren für Biozidprodukte, die diesen Wirkstoff enthalten. Bei dieser zweiten Verfahrensstufe werden die produktspezifischen Risiken bewertet. Die Regierungs- fraktionen unterstützen die Bundesregierung in ihrer Verhandlungsposition, dass künftig auch die Zulassung aller Produkte auf europäischer Ebene möglich sein soll. Die Kommission sieht dies in ihrem Entwurf nur für neue Produkte und Produkte mit geringem Risiko vor. Dieser Ansatz entlastet die Unternehmen von Bürokra- tie. Ich halte es aber für unabdingbar, auch künftig Zu- lassungen mit Auflagen zur Eindämmung regionaler Ri- siken verbinden zu können. Diese Unterschiede können für den Schutz der regionalen Bevölkerung oder emp- findlicher Ökosysteme erforderlich sein. Die Bundesre- gierung muss bei den Verhandlungen in Brüssel außer- dem darauf achten, dass die grundsätzlich sinnvolle Ausweitung des Verfahrens zur gegenseitigen Anerken- nung nationaler Zulassungen auf alle Produkte nicht so weit geht, dass Deutschland sein höheres Schutzniveau nicht mehr durchsetzen kann. Standardabsenkungen leh- nen wir ab. Auch die Transparenz des Verfahrens und die Infor- mation der Öffentlichkeit sind verbesserungswürdig. Die Daten zu Zulassung, Vermarktungsmengen, Anwen- dungsintensität, den Regeln der guten fachlichen Praxis, zu Vergiftungsfällen und Umwelt- und Gesundheitsbe- lastungen müssen den Bürgern zugänglich sein. Ich wünsche mir in diesem Zusammenhang auch, dass die zuständigen Behörden über alternative Methoden zur Schädlingsbekämpfung und zum Materialschutz infor- mieren. Bei der Komplexität natürlicher Kreisläufe bleibt auch beim sorgfältigsten Zulassungsverfahren ein Restrisiko. Der beste Schutz vor den Risiken von Biozi- den ist, wenn sie erst gar nicht zum Einsatz kommen. CDU/CSU und FDP wollen mehr Transparenz im Zulas- sungsverfahren. Wir fordern deshalb in unserem Antrag ein europaweites, öffentliches Produktverzeichnis nach dem Vorbild des deutschen Biozidrechts. Zum Vorsorgeprinzip gehört, dass besonders gefährli- che Stoffe, die zum Beispiel Krebs erregen können, von der Anwendung ausgeschlossen werden. Der Verord- nungsentwurf sieht hier Kriterien vor, die noch nicht ausreichen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb in unserem Antrag auf, sich für einen Ausschluss von Stof- fen einzusetzen, die sich in der Natur anreichern, beson- ders langlebig oder giftig sind. Das ist ich für mich ein ganz wesentlicher Punkt, warum ich den Antrag unter- stütze. Solche Stoffe bergen die Gefahr, die natürlichen Kreisläufe nachhaltig zu stören. Wir reden hier von Ein- griffen, die nicht einfach durch einen Stopp der Anwen- dung rückgängig zu machen sind. Als Förster weiß ich um die dramatischen Folgen für das biologische Gleich- 3280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) gewicht. Als christlicher Politiker erinnere ich hier ganz besonders an unsere Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung. Deshalb halte ich unsere Forderung für richtig, dass die Ausnahmeregelungen in Art. 5 des Ver- ordnungsentwurfs für diese besonders gefährlichen Bio- zide präziser gefasst werden müssen. Mir ist es zum Bei- spiel zu schwammig formuliert, wenn der Ausschluss von Wirkstoffen ohne bekannten Ersatz aufgehoben wer- den kann, wenn sich – ich zitiere – „verglichen mit dem Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Um- welt … nachweislich unverhältnismäßig negative Fol- gen“ ergeben. Das ist nicht nur ein Schlupfloch, sondern eine riesige Bresche, mit der letztendlich auch der krebserregendste Stoff noch zugelassen werden kann. Die Bundesregierung muss hier dringend auf einer Nachbes- serung bestehen. In diesem Zusammenhang will ich aber auch auf ei- nen Punkt hinweisen, in dem ich mir im Antrag der Re- gierungsfraktionen eine zurückhaltendere Formulierung gewünscht hätte. Die Kommission sieht im Verord- nungsentwurf vor, dass für bestimmte Produktgruppen keine Ausnahmeregelungen für besonders gefährliche Stoffe möglich sind. Für mich haben selbst bei einer eng gefassten Präzisierung der Ausnahmeregelungen krebs- erregende Stoffe als Desinfektionsmittel im Lebensmit- tel- und Futtermittelbereich nichts zu suchen. Dieses ein- deutige Verbot sollte in der Verordnung erhalten bleiben. Zum Abschluss meiner Rede möchte ich aber noch auf etwas wirklich Erfreuliches hinweisen: Die Biozid- verordnung ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass der Deutsche Bundestag nun durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den Vertrag von Lis- sabon schon zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeit hat, Entscheidungen auf europäischer Ebene zu beein- flussen. Das deutsche Parlament unterstreicht mit die- sem Antrag, dass es beim Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren von Bioziden keine Rückschritte zulässt. Das Signal ist klar: Unser Recht auf Mitsprache bei eu- ropäischen Entscheidungen werden wir selbstbewusst wahrnehmen. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Die Revision der europäi- schen Biozidrichtlinie, unser heutiges Thema, ist ein weites Feld für naturwissenschaftliche Experten. Im Umweltausschuss haben wir Fachpolitiker den vorlie- genden Entwurf mehrfach und auf hohem Niveau bera- ten. In der heutigen Plenardebatte geht es darum, nicht in eine Chemievorlesung zu verfallen, sondern für die Bür- gerinnen und Bürger verständlich zu machen, worum es eigentlich geht: Um Produkte, die sich in jedem Haus- halt finden, wie antibakterielle Putzmittel, Mücken- sprays und Holzschutzmittel. Die Verbraucher haben also im Alltag direkten Kontakt mit Bioziden, das heißt mit Substanzen, die unerwünschte Organismen vernich- ten und die zum Teil dieselben Wirkstoffe wie Pestizide enthalten. Wichtig für die Verbraucher ist dabei, dass Produkte wie Holzschutzmittel, Desinfektionsmittel und Rattengift aber auch das Risiko unerwünschter Neben- wirkungen für Mensch und Umwelt haben. Sie können Wirkstoffe enthalten, die Krebs erzeugen, das Erbgut verändern, die Fruchtbarkeit herabsetzen oder das Hor- monsystem stören. Daher gibt es in Deutschland eine Zulassungspflicht für Biozidprodukte vor deren erstma- ligem Inverkehrbringen. Auf europäischer Ebene wird der Umgang mit Biozidprodukten bisher durch eine EU- Richtlinie aus dem Jahr 1998 geregelt, die jetzt überar- beitet werden soll. Das ist auch dringend notwendig; denn diese Produkte sind auf dem Vormarsch. Der Ab- satz von Insektensprays und Haushaltsdesinfektionsmit- teln steigt in Deutschland und Europa ungebrochen an. Auf dem Markt sind innerhalb der EU derzeit etwa 400 000 Tonnen Wirkstoffe in insgesamt 50 000 Produk- ten. Deutschland nimmt mit rund 20 000 verschiedenen Biozidprodukten einen Spitzenrang unter den Mitglied- staaten ein. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass wir handeln müs- sen, wenn wir unser Leitprinzip für Reformen – die Idee der nachhaltigen Entwicklung – ernst nehmen. Nachhal- tigkeit heißt, dass wir einen fairen Interessenausgleich zwischen Ökonomie, Sozialem und Ökologie suchen. Nachhaltigkeit heißt, dass wir Verantwortung für das Le- ben künftiger Generationen übernehmen. Insofern ist sie nicht vereinbar mit der heutigen Kurzfristigkeit, die be- triebswirtschaftliche Entscheidungen prägt. Das bedeutet für unser heutiges Beratungsthema: Bei der Revision der europäischen Biozidrichtlinie müssen wir sicherstellen, dass die angestrebten Vereinfachungen und ein gewünschter Bürokratieabbau nicht auf Kosten des Umwelt- und Verbraucherschutzes gehen. Der Hauptzweck der Verordnung sollte der Schutz der Um- welt und der menschlichen Gesundheit vor den mögli- chen negativen Folgen der Verwendung von Bioziden sein. Wenn man sich den vorliegenden Entwurf aber ge- nau ansieht, scheint das vorrangige Ziel der EU-Kom- mission bei der neuen Verordnung zu sein, den freien Verkehr von Biozidprodukten innerhalb der Gemein- schaft zu steigern. Im Gesetzestext finden sich zahlrei- che Änderungen, die die Zulassung und das Inverkehr- bringen von Biozidprodukten vereinfachen sollen. Auch laut Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregie- rung soll die Zulassung von Bioziden erleichtert werden. Auch wir von der SPD setzen uns für einen modernen Industriestandort Deutschland, für Forschung und Inno- vationen ein. Aber wir sagen auch deutlich: Es darf kei- nen einseitigen Blick auf die Förderung der Biozidver- marktung geben. Unser Hauptaugenmerk muss weiterhin auf einen vorsorgeorientierten Schutz von Mensch, Um- welt und Tier gerichtet sein. Das ist aus unserer Sicht auch der Hauptzweck bei der Revision der europäischen Bio- zidrichtlinie. Aber leider wird er durch den heute zu be- ratenden Vorschlag nicht erfüllt. Lassen Sie mich konkret auf die Beratungsvorlage eingehen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt grund- sätzlich die Revision der europäischen Biozidrichtlinie. Im vorliegenden Vorschlag werden etliche zutage getre- tene Schwachstellen der vorherigen Regelung beseitigt und eine Reihe von Elementen, insbesondere zum Um- gang mit Daten und Verfahrensvorschriften, verbessert und harmonisiert. Wir freuen uns, dass wichtige Prinzi- pien aus der neuen Verordnung zur europäischen Chemi- kalienpolitik, REACH, übernommen wurden. Beispiels- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3281 (A) (C) (D)(B) weise wurde der Geltungsbereich auf Gegenstände und Materialien erweitert, die mit Biozidprodukten behan- delt wurden. Das heißt konkret, dass Erzeugnisse wie Farben, Textilien, Teppiche oder Lederwaren mit Biozi- den ausgerüstet sind und durch den Import aus Drittlän- dern in die EU gelangen. Durch die Revision wird end- lich eine relevante Lücke im bisherigen Biozidrecht geschlossen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass zukünftig in der EU nur Erzeugnisse vermarktet werden dürfen, deren Biozidausrüstung auch in der EU zugelassen ist. Das ist vor allem für die europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher eine erfreuliche Verbesserung des Schutzes vor gefährlichen Stoffen. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht jedoch noch einen deutlichen Änderungsbedarf des vorliegenden EU-Ent- wurfs, da in der bisherigen Fassung dem vorsorgenden Umwelt- und Gesundheitsschutz noch nicht genügend Rechnung getragen wird. Mit dieser Forderung stehen wir nicht alleine da. Ein breites Bündnis von Umwelt-, Naturschutz- und Verbraucherschutzverbänden haben Vorschläge und Forderungen für ein besseres Biozid- recht vorgelegt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat daher einen Entschließungsantrag in die Beratungen im Um- weltausschuss eingebracht. Wir fordern die Bundesre- gierung auf, sich bei den Verhandlungen im Umweltmi- nisterrat für folgende Änderungen einzusetzen. Das Vorsorgeprinzip muss auch in dieser neuen Regelung zur Anwendung kommen, wie bei der Chemikalien- und Pestizidgesetzgebung. Dieses Prinzip bedeutet, vorsorg- lich Schutzmaßnahmen zu ergreifen, auch wenn der Um- fang der Gefahr noch nicht vollständig abzuschätzen ist. Nur so können wir das hohe Schutzniveau für die Um- welt und die Gesundheit von Mensch und Tier auch wei- terhin gewährleisten. Die geplante Biozidverordnung muss mit geltenden Umweltschutzgesetzen und Umweltschutzstandards ver- knüpft werden, zum Beispiel die Umweltqualitätsziele der Wasserrahmenrichtlinie. Auch die Definition des so- genannten Schadorganismus muss enger gefasst werden. Es muss klargestellt werden, dass Biozide nur zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden dürfen – und nicht auch gegen sogenannte unerwünschte Lebewesen, die nicht schädlich sind. Wir fordern darüber hinaus ei- nen strikten Ausschluss von besonders gesundheits- und umweltgefährlichen Stoffen. Wir unterstützen den Vor- schlag, dass künftig Biozidwirkstoffe mit krebserregen- den, fortpflanzungsschädigenden, erbgutverändernden oder hormonell wirksamen Eigenschaften ausgeschlos- sen werden sollen. Diese Regelung sollte aber erweitert werden. Es gibt noch zahlreiche Stoffe, die von der Re- gelung noch nicht erfasst sind, aber eine besonders ge- fährdende Wirkung haben, wie die sogenannten PBT- Stoffe, vPvB-Stoffe und POPs-Stoffe. Auch die Anwen- dung des Substitutionsprinzips, also der Ersatz von ge- fährlichen Chemikalien durch sichere Alternativen, sollte konsequenter durchgeführt werden. Innovationen für Alternativen sollten gefördert werden. Die Zulas- sung, Vermarktung und Verwendung von Bioziden muss transparent sein. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen aktiv über die Vorsorgemaßnahmen und unbe- denkliche neue Alternativverfahren informiert werden. Auch aus Tierschutzsicht besteht dringender Nach- besserungsbedarf. So sollten zum Beispiel tierversuchs- freie Alternativen – als Ersatz für die in den Datenanfor- derungen vorgeschriebenen Tierversuche – für die Antragsteller attraktiver werden. Für die SPD steht der Mensch im Mittelpunkt. Des- halb geht es uns bei der Revision der europäischen Bio- zidrichtlinie auch in erster Linie um den gesundheitli- chen Schutz für die Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht vorrangig um den Schutz der Unternehmen, die Biozidprodukte herstellen, wie es die Regierungs- fraktionen in ihrem Entschließungsantrag darlegen. Es ist den Regierungsfraktionen leider nicht gelungen, mit ihrem Entschließungsantrag an unser Niveau heranzu- kommen. In der heute zur Abstimmung stehenden Beschluss- empfehlung gibt es keinen Satz zur Vorsorge, keinen Satz zur Substitution, keinen Satz zum Tierschutz. Für die weiteren Beratungen auf europäischer Ebene bedeu- tet das, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung leider ihre Chance verspielt, sich für das hohe Schutzniveau für die Umwelt, die Gesundheit der Menschen und den Tier- schutz als Hauptzweck der Verordnung einzusetzen. Aus diesem guten Grund lehnt die SPD-Bundestagsfraktion auch den vorliegenden Entschließungsantrag der CDU/ CSU und FDP ab. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar grund- sätzliche Gedanken zum heutigen Thema formulieren. Wir alle können froh sein über unseren heutigen hohen Standard im Bereich der Hygiene und Gesundheit. Auch in Deutschland produzieren Unternehmen Produkte, die für unser tägliches Leben eine echte Bereicherung dar- stellen. So fortschrittlich die Innovationen im Bereich der Biozidprodukte heutzutage auch sind, stellt sich doch für die Verbraucher trotzdem häufig die einfache Frage: Muss das alles sein? Ob keimfrei sprühen, wi- schen oder waschen, ob Badewannen, Müllsäcke oder Socken mit antibakterieller Ausstattung – wer will, kann den Kampf gegen Keime an jeder Front im Haushalt auf- nehmen. Aber wie wirksam die Produkte sind und inwie- weit Infektionskrankheiten dadurch vereitelt werden, das bleibt dem Hoffen der Verbraucher überlassen. Das Um- weltbundesamt, das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin sowie das Robert Koch-Institut bewerten die chemische Entkei- mung im Haushalt als „überflüssig“ und extrem schäd- lich. Es gibt natürlich eine Existenzberechtigung für echte Desinfektionsmittel – in Krankenhäusern, Lebens- mittelbetrieben, in der Veterinärmedizin. Aber dort soll- ten Biozide nur von ausgebildeten Personen angewendet werden, die sich mit Konzentration, Wirkungsspektrum und Einwirkzeiten auskennen. Ein Wissenschaftler des Instituts für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene der Uniklinik Freiburg hat es auf den Punkt gebracht: „Das Szenario der allgemeinen Bedrohung durch Keime ist Panikmache und eine Erfindung von Marketingstrate- gen.“ Die Bundesregierung sollte bei den Beratungen auf europäischer Ebene das nicht aus dem Auge verlieren. Sie handeln im Auftrag der Konsumentinnen und Kon- 3282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) sumenten unseres Landes und nicht im Auftrag der Wirt- schaftsverbände. Dr. Lutz Knopek (FDP): Biozide sind Stoffe oder Zubereitungen, denen bestimmungsgemäß die Eigen- schaft innewohnt, Lebewesen abzutöten oder zumindest in ihrer Lebensfunktion einzuschränken. Aufgrund die- ser potenziell gefährlichen Eigenschaften von Bioziden ist die Begrenzung des mit der Verwendung von Biozid- produkten einhergehenden Risikos für den Menschen und für Organismen von besonderer Bedeutung. Der am 12. Juni 2009 vorgelegte Verordnungsentwurf der Kom- mission zur Revision der Biozid-Produkte-Richtlinie strebt dazu eine Vereinfachung und Harmonisierung der Biozidgesetzgebung in der Europäischen Union an. Ziel der Verordnung ist es, der laufenden technischen Ent- wicklung Rechnung zu tragen sowie die in der bisheri- gen Anwendung der Biozid-Produkte-Richtlinie festge- stellten Schwächen und Probleme zu beheben. Der Kommissionsentwurf wird diesen Zielen leider nicht ge- recht. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat daher einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorgelegt, mit dem die Bundesregierung beauftragt wird, sich für eine Überarbeitung auf europäischer Ebene einzusetzen. Uns geht es dabei vor allem um zwei Punkte: Erstens. Die bisherige aufwendige Praxis paralleler eigenstaatli- cher Zulassungsverfahren ist zu teuer und zu bürokra- tisch. Wir machen uns daher stark für eine Ausweitung und Stärkung der neuen Gemeinschaftszulassung. Die vorgesehene Beschränkung des Verfahrens auf zwei Fallgruppen, Produkte mit neuen Wirkstoffen und Nied- rig-Risiko-Produkte, ist unsachgemäß und macht das Verfahren für die Praxis bedeutungslos. Mit der Auswei- tung der Gemeinschaftszulassung erhalten die Unterneh- men Anreize zur Produktinnovation, da sie ihre Produkte dann europaweit vermarkten können. Kleine, national segmentierte Märkte haben ein zu geringes Umsatzpo- tential, um eine solche Wirkung zu entfalten. Neue, we- niger gefährliche Wirkstoffe werden aber nur dann ent- wickelt werden, wenn es betriebswirtschaftlich Sinn macht. Zweitens. Da wir Liberale grundsätzlich einen ganz- heitlichen Bewertungsansatz verfolgen, ist eine Erweite- rung der Ausschlusskriterien um Umweltkriterien, na- mentlich bioakkumulative, persistente und toxische Stoffe sowie um persistente organische Verbindungen, wichtig und sinnvoll. Damit wird den vielfältigen ökoto- xikologischen Risiken, die beim Einsatz von Bioziden entstehen können, Rechnung getragen. Jedoch lehnen wir das faktische Verbot bestimmter Produktgruppen, wie sie in Art. 5 des Verordnungsentwurfs vorgesehen sind, ab. Die Nichtaufnahme von Wirkstoffen in die Po- sitivliste auf Anhang 1 der Verordnung kann nur dann begründet werden, wenn eine individuelle, expositions- basierte Risikoabwägung zu dem Schluss kommt, dass Risiko und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Gerade bei den Schädlingsbekämp- fungsmitteln, die aufgrund ihrer Stoffeigenschaften pau- schal ausgeschlossen werden sollten, muss bedacht wer- den, dass ihre Verwendung immer im Rahmen eines integrierten Schädlingsbekämpfungskonzeptes erfolgt. Der Einsatz von Giften ist immer nur Ultima Ratio. Die meiste Schädlingsbekämpfung kommt heute ohne sie aus. Erst wenn der Einsatz von Köderboxen nicht zum Erfolg führt, kommen Biozide zum Einsatz. Eine Kon- trolle im Anschluss und ein Einsammeln der Kadaver und nicht gebrauchter Köder sind Teil des sachgerechten Einsatzes, der der Risikominimierung dient. Zum Abschluss meiner Rede will ich noch kurz auf einen Kritikpunkt der Opposition eingehen. SPD, Links- partei und Grüne haben – auf Zuruf des Tierschutzver- bandes – im Ausschuss und in ihren Entschließungsan- trägen suggeriert, dass der Verordnungsentwurf den Tierschutz nicht ernst genug nimmt und dass auf Tier- versuche praktisch ganz verzichtet werden könnte. Die- sem Eindruck will ich an dieser Stelle entschieden entge- gentreten. Der Einsatz von Tierversuchen ist – leider – auch weiterhin unvermeidlich. Zur Feststellung von Re- produktionstoxizität und Teratogenität reichen In-vitro- Versuche grundsätzlich nicht aus. Schädigungen, die am Ende eines Lebenszyklus oder sogar erst nach mehr als einer Generation auftreten, können nur am lebenden Or- ganismus festgestellt werden. Deshalb sind Forderungen nach einem zu weitgehenden Verbot von Tierversuchen deplatziert. Zudem sind die Bestimmungen zur Minimie- rung von Tierversuchen und zum Austausch von Ver- suchsdaten im Verordnungsentwurf bereits ausreichend. In Art. 51 heißt es dazu: „Versuche an Wirbeltieren wer- den nur als letzter Ausweg durchgeführt. Versuche dür- fen nicht mehrfach ausgeführt werden.“ Der Datenaus- tausch ist bei Tierversuchen außerdem ohnehin obligatorisch. Für uns ist die Kritik der Opposition an dieser Stelle daher nicht nachvollziehbar. Sie dient offensichtlich nur als vorgeschobener Grund, um einen ausgewogenen und differenzierten Antrag ablehnen zu können. Wir machen lieber konstruktive Politik. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Mit der Biozidrichtli- nie stellen EU und Bundesregierung Industrieinteressen über Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Biozide sind Gifte, die Lebewesen töten oder massiv beeinträchtigen. Der notwendige, auch unvermeidbare Einsatz von Biozi- den zur Bekämpfung von schädlichen Insekten und Na- gern, Pilzen, Bakterien, Viren und auf anderen Gebieten muss deshalb mit Vorsicht erfolgen und auf das notwen- dige Mindestmass begrenzt werden. Rattengifte töten auch Menschen, Insektengifte schädigen die Fortpflan- zungsfähigkeit von Frauen und Männern, und Anti-Pilz- mittel lösen Atemwegserkrankungen und Krebs aus. Eine strenge Reglementierung der Zulassung von Biozi- den, Einsatz von gut geschultem Personal bei der Nut- zung von Bioziden sowie klare Verwendungsrichtlinien wie bei der Pestizidverordnung wären erforderlich. Statt den bestmöglichen Schutz von Mensch und Na- tur sichert diese Richtlinie eine einfache EU-weite Zu- lassung dieser gefährlichen Stoffe. In Kopplung mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie wird das erwähnte Fach- kräftegebot jedoch zur Farce. Die Einhaltung von An- wendungsvorschriften und Einsatzbeschränkungen wird kaum überprüft. Hier handeln EU und Bundesregierung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3283 (A) (C) (D)(B) grob fahrlässig. So kann Maries Opa weiter nach dem Motto „Viel hilft viel“ gegen Mehltau spritzen, Oma sprüht gegen Essigfliegen, Papa pinselt gegen Schim- mel, und Mama wäscht die Haare ihres Kindes mit Lin- dan, als Pestizid wegen der Giftigkeit verboten, gegen Kopfläuse in der Bundesrepublik bis 2007 noch zugelas- sen. 20 Jahre später braucht Marie keine Verhütungsmit- tel – sie wurde durch diese Biozide unfruchtbar –, weil ihre Eltern und Großeltern der staatlichen Zulassung ver- trauten – skandalös. Gefährliche Biozide müssten schnellstmöglich ersetzt werden. Was passiert jedoch? Ausnahmeregelungen für altbekannte Wirkstoffe werden so lange verlängert, wie es keine alternativen Wirkstoffe gibt. Da die Hersteller bei fehlenden ungefährlicheren Bioziden problemlos und ohne Kosten die Zulassung ihrer vorhandenen Biozide verlängert bekommen, haben sie kein Interesse an Neu- entwicklungen zur Verminderung von unerwünschten Nebenwirkungen der Biozide. 50 000 Biozide gibt es in der EU – 20 000 in der Bun- desrepublik, die meisten mit Bestandsschutz. Die Zahl möglicher Wechselwirkungen ist höher als die mögli- chen Kombinationen beim Lotto. Der sachgerechte Ein- satz dieser Mittel würde herausragend geschultes Perso- nal benötigen. Wie das bei einem Fachvortrag bei einem Apotheker in Portugal oder bei einem zweiwöchigen Crashkurs in der Bundesrepublik vermittelt werden soll ist fraglich. Die Linke sieht die Notwendigkeit einer Biozidverordnung. Wir fordern, die Ausnahmeregelun- gen aufzuheben. Die Industrie wird, wenn unter Druck gesetzt, neue Wirkstoffe mit geringerem Gefahrenpoten- zial entwickeln. Beim FCKW-Kühlschrank konnten nach dem Durchbrechen der Blockade durch die kleine Firma Foron die Marktführer Siemens und Miele dann in nur sechs Monaten auch FCKW-frei produzieren, was vorher laut Industrie nicht möglich war. Wir fordern, den Beruf des Schädlingsbekämpfers mit den hohen bundesdeutschen Standards europaweit ver- bindlich zu machen. Nur so kann das notwendige Fach- wissen bei dem Biozideinsatz gesichert werden. Um den regionalen Besonderheiten entsprechen zu können und damit jeder EU Staat das Recht hat, über die Mindest- schutzstandards für seine Bürger hinauszugehen, fordern wir, dass jedes Land das Recht hat, Zulassungen von Bioziden zu verweigern. Diese Richtlinie erfüllt leider umfänglich den An- spruch der Industriefreundlichkeit, statt den Anspruch zu erheben, den bestmöglichen Schutz von Mensch und Na- tur zu sichern. Das ist nicht der Weg für die Linke. Für uns stehen Mensch und Natur an erster Stelle. Deshalb lehnen wir diese Vorlage ab. Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorgelegte Vorschlag zur EU-Biozidverordnung schützt Mensch, Tier und Umwelt nicht ausreichend. Vielmehr ist er ein weiterer Beweis dafür, dass die Re- gierungskoalition den Schutz der Herstellerinteressen über den Schutz der Verbraucher und Verbraucherinnen stellt. Die Regelung zum Einsatz von Biozidprodukten muss zum Ziel haben, Mensch, Tier und Umwelt wirk- sam vor giftigen Biozidprodukten zu schützen. Das Motto kann nicht sein: Alle notwendigen Biozidpro- dukte, gleich wie risikobehaftet, müssen jederzeit auf dem Markt verfügbar sein. Die Marktverfügbarkeit und die Verfahrensvereinfachung stehen im Mittelpunkt ihres Vorschlages, der vorsorgende Schutz der Verbraucher spielt jedoch eine sehr geringe Rolle. Ich muss schon sa- gen: Die Schädlingsbekämpfungslobby hat sich durchge- setzt. Wenn man den Vorschlägen vonseiten der FDP zu- hört, bekommt man den Eindruck, dass es wichtiger sei, Bürgerinnen und Bürger vor Rattenplagen zu schützen als vor besonders gesundheits- und umweltgefährdenden Stoffen. Für meine Fraktion hingehen ist unabdingbar, dass die Anwendung von besonders risikoreichen Sub- stanzen, wie beispielsweise PBT- und POP-Stoffe, aus- geschlossen wird und problematische Biozidprodukte nicht generell, sondern nur in Ausnahmen zugelassen werden können. Das wird die erfolgreiche Bekämpfung von Rattenplagen nicht verhindern, die Menschen aber wirksam vor Risikoprodukten schützen. Wir hören, dass insbesondere die FDP einen Innova- tionsschub für den deutschen Biozidmarkt fordert. Das sehen wir auch so. Allerdings heißt Innovation für uns: Entwicklung von Niedrigrisikoprodukten. Die von Ihnen geforderte gemeinschaftliche Zulassung für alle Pro- dukte in der EU schafft Anreize ab, Niedrigrisikopro- dukte auf den Markt zu bringen. Wir fordern Sie auf: Pri- vilegieren sie Niedrigrisikoprodukte und fördern Sie damit Innovationen, die zum Schutz von Umwelt und Mensch beitragen. Wir kritisieren, dass mit diesem Ent- wurf der EU-Verordnung die Bevölkerung nicht ausrei- chend vor Risikoprodukten geschützt wird. Wenn Sie der Verordnung so trotzdem unverändert zustimmen wollen, dann sollten Sie zumindest alles tun, um die Verbraucher über mögliche Risiken von und Alternativen zu Biozid- produkten zu informieren. Aber auch hier vermissen wir weitergehende Forderungen. Sorgen Sie für Transpa- renz, setzen Sie sich dafür ein, dass die Bevölkerung eu- ropaweit über die Risiken von Biozidprodukten, über Vorsorgemaßnahmen und über unbedenkliche Alterna- tivverfahren informiert wird. Als Letztes noch ein Wort zum Tierschutz. Sie sagen, grundsätzlich sei es richtig, Tierversuche weitgehend zu reduzieren. Leider findet sich davon wenig in ihrem Ver- ordnungsvorschlag. Klare Leitlinien zur Verhinderung von Tierversuchen und Anreize zur Verwendung von Al- ternativmethoden fehlen. Und wenn sie sagen, wie die Kollegen von der FDP das im Ausschuss getan haben, dass der Verzicht auf Tierversuche mit massiven Risiken für den Menschen verbunden ist, dann sage ich Ihnen: Nehmen Sie den Tierschutz endlich ernst und setzen Sie für die Anwendung bereits bestehende zuverlässige und EU-weit anerkannte Alternativmethoden ein. Der vorge- legte Verordnungsvorschlag und der Entschließungsan- trag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP schützen Mensch, Tier und Umwelt nicht wirksam vor gefährli- chen Biozidprodukten. Nicht zum ersten Mal stellt die Koalition ihre Umweltpolitik unter das Motto Entbüro- kratisierung, Marktfreiheit und Schutz der Hersteller. Der Verbraucherschutz hingegen bleibt auf der Strecke. 3284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: Riester-Faktor streichen – Keine nachholenden Rentendämpfungen vor- nehmen (Tagesordnungspunkt 15) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das Sys- tem der gesetzlichen Rentenversicherung erbringt in die- sem Jahr eine großartige Solidarleistung zugunsten der 20,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutsch- land. Da die jeweils zum 1. Juli eines Jahres vorzuneh- mende Rentenanpassung gemäß der seit der Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 geltenden Regeln der Lohnentwicklung des Vorjahres folgt, müssten ei- gentlich die Renten zum 1. Juli 2010 gesenkt werden. Denn die Auswirkungen der Finanz- und Kapitalmarkt- krise haben 2009 dazu geführt, dass wir leider eine ins- gesamt in Deutschland negative Lohnentwicklung hat- ten, nämlich um minus 0,4 Prozent. Die für die Rentenanpassung maßgebliche Lohnentwicklung beträgt für das Jahr 2009 in den alten Ländern minus 0,96 Pro- zent. In den neuen Ländern sind diese geringfügig um 0,61 Prozent gestiegen. Doch schon in der Großen Ko- alition haben wir für diese Situation vorgesorgt. Mit der neu ins Rentenrecht aufgenommenen Rentengarantie ha- ben wir eine klare und eindeutige Botschaft an die Rent- nerinnen und Rentner ausgesandt: Was auch immer an der Lohnfront geschehen mag, eine Rentenkürzung gibt es nicht. Deshalb gibt es trotz negativer Lohnentwick- lung im Jahr 2009 zum 1. Juli 2010 keine Rentenkür- zung, sondern eine Garantie, dass alle Renten auf der bisherigen Höhe bleiben. Auch für die Rentnerinnen und Rentner haben wir einen zusätzlichen Schutzschirm auf- gespannt, der vor den negativen Auswirkungen der Krise schützt. Diese großartige Solidarleistung der Rentenversiche- rung muss natürlich auch finanziert werden. Und diese Finanzierung erbringen die rund 35 Millionen aktuellen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zur gesetzlichen Rentenversicherung. Solidarität ist aber keine Einbahn- straße. Deshalb ist es mehr als recht und billig, dass in künftigen Jahren, wenn die Renten trotz positiver Lohn- entwicklung wieder steigen können, Stück für Stück diese zusätzliche Solidarleistung wieder ausgeglichen wird. Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutsch- land ist grundlegend auf die Solidarität der Generationen aufgebaut. Wer diese Solidarität zerstört, zerstört die Rentenversicherung. Was die Fraktion Die Linke beantragt, bewirkt aber genau dieses: Die Solidarität zwischen den Generationen wird einseitig aufgekündigt. Die Rentenversicherung wird ihrer Basis beraubt, und das machen wir im Inte- resse der Rentnerinnen und Rentner wie der Beitragszah- lerinnen und Beitragszahler nicht mit. Nicht Entsolidari- sierung, nein, mehr Solidarität ist notwendig, wenn das Rentensystem auch in Zukunft funktionieren soll, wenn die Zahl der Älteren im Verhältnis zur Zahl der Jüngeren deutlich zunimmt. Wer entsolidarisiert, zerstört die ge- setzliche Rentenversicherung. Wir dagegen wollen die Rentenversicherung auch für die Zukunft leistungsfähig und sicher machen. Das Soli- daritätsprinzip in der Rente war und ist auch der Grund für die Einführung sogenannter Dämpfungsfaktoren in der Rentenformel, also Altersvorsorgefaktor, Riester- Faktor, und Nachhaltigkeitsfaktor. Es ist daher höchst problematisch, auf die Nachholung der wegen der An- wendung der Rentenschutzgarantie nicht realisierten An- passungsdämpfungen auf alle Zeiten einfach zu verzich- ten. Gerade bei der Rentenanpassung müssen die Belange der Rentnerinnen und Rentner mit denen der künftig Ver- sicherten vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ausgelotet werden. Hier ist zu be- rücksichtigen, dass künftig – bedingt durch die geringe Geburtenrate und die steigende Lebenserwartung – im- mer mehr Rentner immer weniger Beitragszahlern gegen- überstehen, sodass die Beitragsbelastung ohne gegen- steuernde Maßnahmen erheblich steigen würde. Um eine generationengerechte Verteilung der mit einer älter wer- denden Gesellschaft verbundenen Ausgaben zu gewähr- leisten, hat der Gesetzgeber die Anpassungsformel in den vergangenen Jahren ergänzt: Der Faktor für die Verände- rung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung und des Altersvorsorgeanteils sowie der Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigen sowohl die steigenden Aufwendungen der Jüngeren für ihre private zusätzliche Vorsorge als auch Veränderungen beim zahlenmäßigen Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern. Eine Abschaffung der Dämpfungsfaktoren hätte dem- nach erhebliche Mehrausgaben zur Folge. Deren Finan- zierung würde die Betragszahler überfordern und die Rentnerinnen und Rentner nicht mehr angemessen an ei- ner generationengerechten Rentenpolitik beteiligen. Ohne Wirkung der Dämpfungsfaktoren würde der Bei- tragssatz zur Rentenversicherung weit über die gesetz- lich festgelegten Obergrenzen von höchstens 20 Prozent bis 2020 bzw. höchstens 22 Prozent bis 2030 hinaus an- steigen. Wegen der geltenden Fortschreibungsvorschrif- ten wäre dies nicht nur mit einer erheblichen Belastung der Versicherten und Arbeitgeber, sondern auch der Steuerzahler verbunden, weil mit einem höheren Bei- tragssatz auch höhere Bundesmittel verbunden sind. Auch der Präsident der Deutschen Rentenversiche- rung, Dr. Herbert Rische, hat in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 22. März 2010 darauf hingewie- sen: „Ich muss aber darauf hinweisen: Wenn die unter- bliebenen Rentenanpassungen nicht nachgeholt werden, dann wird es nicht möglich sein, das angestrebte Bei- tragssatzziel von 22 Prozent im Jahr 2030 – das übrigens auch im Gesetz steht – einzuhalten.“ Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass diese Faktoren nicht aus- schließlich anpassungsdämpfend wirken; der Nachhal- tigkeitsfaktor hat bei den Rentenanpassungen der Jahre 2007 und 2008 mit rund plus 0,2 Prozent und im Jahr 2009 mit rund plus 0,3 Prozent rentensteigernd gewirkt. Eine Schutzklausel verhindert jedoch, dass es zu Renten- kürzungen kommt. Schließlich existieren klare, gesetz- lich festgeschriebene Vorgaben zur Rentenniveauhöhe, die nicht unterschritten werden dürfen und – wie der Rentenversicherungsbericht vom November vergange- nen Jahres zeigt – auch nicht unterschritten werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3285 (A) (C) (D)(B) Im Übrigen ist der Antrag der Linken ein Nullantrag. Selbst wenn der Antrag der Linken angenommen würde, wäre nach der dann geltenden Rentenformel die Ren- tenanpassung 2010 bei null. Also, einen Antrag vorzule- gen, der suggeriert, es gäbe für die Rentnerinnen und Rentner mehr, der aber in Wahrheit nicht mehr bringt als null, das ist eine bewusste Rentnertäuschung, die hier die Linken inszenieren. Dass wir als Gesetzgeber die Interessen der Rentne- rinnen und Rentner dennoch stets im Blick haben, zeigt sich an den Rentenanpassungen der Jahre 2008 und 2009, bei denen die stufenweise Erhöhung der Riester- Treppe ausgesetzt wurde, um die Rentnerinnen und Rentner stärker am Wirtschaftsaufschwung teilhaben zu lassen. Dadurch fielen die Rentenanpassungen zum 1. Juli 2008 sowie zum 1. Juli 2009 um jeweils rund 0,65 Prozentpunkte höher aus. Und eben auch in Zeiten der Krise schützen wir mit der Rentengarantie die Rent- nerinnen und Rentner umgekehrt vor Rentenkürzungen. Generationengerechtigkeit und Generationensolidari- tät sind die Basis einer funktionierenden und zukunfts- festen Altersvorsorge. Generationengerechtigkeit und Generationensolidarität sind das Markenzeichen der Al- tersvorsorgepolitik der Bundesregierung. Und deshalb werden wir jeden Anschlag auf diese Prinzipien im Inte- resse der Rentnerinnen und Rentner wie der Beitragszah- lerinnen und Beitragszahler mit aller Entschiedenheit ab- wehren. Max Straubinger (CDU/CSU): Ich möchte heraus- stellen: Die gesetzliche Rentenversicherung ist die beste Grundlage dafür, dass es in Deutschland keine Altersar- mut gibt. Deutschland verfügt dank der rentenpoliti- schen Maßnahmen der vergangenen Jahre mit den drei Säulen gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Al- tersvorsorge und private Altersvorsorge über ein stabiles und zukunftsfähiges Altersvorsorgesystem. Gerade diese Bundesregierung hat die wesentlichen Grundlagen dafür geschaffen, dass die Menschen zukünftig nicht mit Al- tersarmut konfrontiert sein werden. Deutschland hat der- zeit die geringste Altersarmut aller europäischen Länder zu verzeichnen. Die Riester-Förderung gibt es gezielt für Geringver- diener: Die Förderquote für Niedrigverdiener beträgt 92 Prozent. Die staatliche Förderung kommt gerade Ge- ringverdienern zugute. Außerdem hat es die kluge Poli- tik dieser Bundesregierung ermöglicht, dass viele Men- schen in Arbeit und Brot gekommen sind. Dies bedeutet auch mehr Schutz vor Altersarmut. Grundlage für die Fi- nanzierung der Altersversorgung ist die Erwerbstätig- keit. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist das Verdienst der von Dr. Angela Merkel geführten Bundesregierung und eine Grundlage dafür, dass die Altersversorgung weiterhin sicher ist. In den letzten Jahren mussten einige notwendige Ver- änderungen im Rentensystem durchgeführt werden. Man muss sehen, dass man in der Rentenpolitik aufgrund neuer Gegebenheiten immer wieder Veränderungen her- beiführen muss. Unsere Rentenpolitik, die auf Dauer an- gelegt ist, sichert die Renten in Deutschland. Es bleibt dabei auch bei der Leistungsorientierung in der Rente. Letztlich folgt sie den Löhnen. Und – das ist eine wichtige Botschaft für die Rentne- rinnen und Rentner in Deutschland – die Rente ist auch in der Krise verlässlich. Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung bewusst und werden ihr gerecht. Obwohl die Löhne aufgrund der Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr gesunken sind, müssen die Rentnerinnen und Rent- ner keine Rentenkürzung hinnehmen. Dies verhindert die gesetzliche Schutzklausel. Entscheidend für die Ren- tenentwicklung 2010 ist die Effektivlohnentwicklung, Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer, 2009. Durch die massive internationale Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Bruttolöhne und -gehälter in Deutschland im Jahr 2009 erstmals seit über 50 Jahren gesunken. Die Wirtschaftskrise hat zu sinkenden Pro-Kopf-Löhnen ge- führt. Dies ist der Preis für den Erhalt Tausender Ar- beitsplätze gewesen. Neben den Konjunkturprogrammen war der entscheidende Stabilisator am Arbeitsmarkt die Kurzarbeit. Sie hat einerseits Arbeitsplätze gesichert bei drastischem Rückgang von Produktion und Arbeitsvolu- men. Andererseits hat die Kurzarbeit, die sich durch einen Teillohnausgleich für nicht geleistete Arbeit aus- zeichnet, in der Summe zu Lohneinbußen für Beschäf- tigte geführt. Damit die Rentengarantie nicht zulasten der jüngeren Generationen geht, werden unterbleibende Rentenmin- derungen in den Folgejahren mit künftigen Rentenerhö- hungen verrechnet. Die finanzielle Stabilität der Renten- versicherung bleibt damit auch künftig gewahrt. Das Ziel der Beitragssatzstabilität dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Das ist eine Frage der Generationenge- rechtigkeit. Die jungen Beitragszahler dürfen nicht Bei- tragssätze zahlen müssen, unter denen ihr Leistungswille zusammenbricht. Es ist eine Beitragssatzstabilität von 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und von 22 Prozent bis zum Jahr 2030 vorgesehen. Damit soll nicht nur Leis- tungsgerechtigkeit, sondern auch Beitragsgerechtigkeit gewährleistet werden, besonders für die betroffenen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Rentenkonzept, das es angeblich bei der Linken gibt, würde dazu führen, dass die Beitragszahler mit bis zu 28 Prozent belastet würden. Angesichts der derzeiti- gen Höhe der Beiträge zur Krankenversicherung, zur Ar- beitslosenversicherung, zur Pflegeversicherung und der Höhe der Steuerbelastung wäre dies eine ungeheure Be- lastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Da- her lehne ich Ihren Antrag ab. Anton Schaaf (SPD): Mit Ihrem Antrag wollen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, den Eindruck erwecken, die Dämpfungsfaktoren seien verantwortlich dafür, dass die Renten in diesem Jahr nicht steigen. Bewusst konstruieren Sie einen falschen Begründungszusammenhang, um Verwirrung zu stiften. Obwohl wir bereit sind, Ihre Sorge um die zukünftige Entwicklung der Rente nachzuvollziehen, können wir Ihre Forderungen, den Riesterfaktor zu streichen, auf nachholende Rentendämpfungen zu verzichten und die Ziele der Beitragssatzdeckelung aus dem SGB VI eben- 3286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) falls zu streichen, nicht unterstützen. Unzweifelhaft wa- ren und sind die Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner hoch. Die wenig erfreulichen Aussichten auf ge- ringe Rentenanpassungen oder Nullrunden verstärken diese noch. Ich kann mir deshalb vorstellen, in unsere Überlegungen für ein Gesamtkonzept einer nachhaltigen Alterssicherungspolitik auch die Verträglichkeit des Altersvorsorgeanteils in eine Prüfung einzubeziehen. Al- lerdings sehen wir die Hauptgefahr für das Alterssiche- rungssystem an anderer Stelle: Unsichere Arbeitsver- hältnisse und zu niedrige Löhne bedrohen die Rente. Die Medienberichte über Pläne aus dem BMAS, den Kündi- gungsschutz zu schleifen, bieten Anlass zur Sorge. Wir warnen die Koalition aus CDU/CSU und FDP eindring- lich davor, weiter Hand an den Kündigungsschutz zu le- gen – mit fatalen Folgen für die Alterssicherung: für die Rentenhöhe und das Renteneintrittsalter. Unsichere Ar- beitsverhältnisse führen unweigerlich zu einem früheren Ausstieg aus dem Arbeitsleben. Gerade ältere Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer haben es schwer, eine neue Beschäftigung zu finden. Auch der Gesundheit sind befristete Arbeitsverhältnisse nicht gerade zuträglich. Außerdem verhindern Sie weiterhin flächendeckende Mindestlöhne. Sie sind auf dem falschen Weg. Mehr Fle- xibilität bringt nicht automatisch mehr Arbeitsplätze. Und wie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, gedenken Sie denn nun mit der angekündigten Angleichung der Renten in Ost und West umzugehen? Eine kürzlich erschienene DIW-Studie prognostiziert ge- rade für die Menschen in den neuen Bundesländern ein dramatisches Absinken der Renten. Es droht massenhaft Altersarmut. Von Ihrer Vereinbarung im Koalitionsver- trag, die Renten in Ost und West anzugleichen, rücken Sie nun aber doch wieder ab. Dies haben Sie zumindest auf Ihrem Parteitag Anfang dieser Woche erklärt. Vor dem Ende der Legislaturperiode können die Rentnerin- nen und Rentner also weder mit einem schlüssigen Kon- zept noch mit einer tatsächlichen Angleichung rechnen. War also alles nur Wahlkampf? Für die Rentenfinanzen gilt: Es ist weitgehend Planungssicherheit zu gewährleis- ten. Rentnerinnen und Rentner, Beitragszahlerinnen und Beitragszahler müssen davon ausgehen können, dass sie auch in 10, 20, 30 und in 40 Jahren eine angemessene Rente bekommen und diese auch finanzierbar bleibt. Das Umlageverfahren hat viele Vorteile, verlangt aber auch Disziplin von denen, die verantwortlich sind. Wer- den nur Verbesserungen im Rentensystem verlangt, wie die Fraktion Die Linke mit dem vorliegenden Antrag, ist noch nichts gegen die grundsätzlichen Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme getan. Machen Sie Vor- schläge, wie sozialversicherungspflichtige Beschäfti- gung gestärkt werden kann, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wir sind davon überzeugt, dass der Modus der Rentenanpassung kein Dogma sein darf. Auch bisher ha- ben wir schon dementsprechend gehandelt, wenn wir es für erforderlich hielten. Die von uns durchgesetzte Ren- tengarantie oder die Aussetzung der Veränderung des Al- tersvorsorgeanteils – auch Riester-Treppe oder Riester- Faktor – für die Jahre 2008 und 2009 belegen dies. Tatsache ist: Den Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland steht in diesem Jahr nach einer deutlichen Rentenerhöhung im vergangenen Jahr um ansehnliche 2,41 Prozent in den alten Bundesländern und 3,38 Pro- zent in den neuen Bundesländern eine Nullrunde bevor. Tatsache ist aber auch: Wir haben mit der im vergange- nen Jahr noch verabschiedeten Rentengarantie verhin- dert, dass auf sinkende Löhne auch sinkende Renten fol- gen. Ich bedaure für die rund 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner, dass ihre Bezüge nicht steigen. Allerdings würde eine Rentensteigerung zum jetzigen Zeitpunkt die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler über Gebühr be- lasten. So viel nur zu Ihrer Forderung, die Beitragssatz- deckelung zu streichen. Ich will Ihnen erklären, warum die stagnierenden Renten in diesem Jahr zunächst nichts mit den Dämp- fungsfaktoren zu tun haben. Erstens. Die Rentenanpas- sung folgt – wie die meisten von uns wissen – der jewei- ligen Entwicklung der Löhne und Gehälter. Steigen diese nicht oder sinken sogar, so verharren die Renten auf dem alten Niveau. Wegen der von uns eingebauten Schutzmechanismen können die Dämpfungsfaktoren die Renten nicht vermindern. Zusätzlich bewirkt die Renten- garantie, dass auch eine negative Lohnentwicklung keine kürzende Wirkung entfalten kann. Dies ist in die- sem Jahr der Fall. Zweitens. Zugleich gilt: Die Dämpfungsfaktoren wir- ken nicht immer nur in eine Richtung. Sie sind keine Kürzungsmechanismen per se. So hat sich der Nachhal- tigkeitsfaktor schon mehrere Male 2007 wie auch 2008 positiv ausgewirkt – zuletzt noch im vergangenen Jahr mit 0,31 Prozent. Immer wenn sich die Zahl der Rentner zugunsten der Beitragszahler im Verhältnis verschiebt, hat dies einen positiven Einfluss auf die Rentenanpas- sung. Weil Ihnen das bewusst ist, geehrte Damen und Herren von der Linksfraktion, fordern Sie vermutlich nicht die Streichung des Nachhaltigkeitsfaktors, ver- schweigen aber wissentlich dessen Funktionsweise. Er passt offenbar nicht zu ihrer Argumentation. Drittens. Eine Beitragssatzdeckelung ist notwendig, weil wir Richtmarken brauchen. Neben dem Ziel, ein an- gemessenes Rentenniveau zu halten, sind auch stabile Beitragssätze wichtig. Das Alterssicherungssystem be- sonders in einem Umlageverfahren muss im Gleichge- wicht gehalten werden. Ursache der bevorstehenden Nullrunde ist die Entwicklung der Löhne und Gehälter. Diese sind zum ersten Mal seit über 50 Jahren gesunken. Dies stellt uns vor ungeahnte Probleme. Auch in der Al- terssicherung bekommen wir dies zu spüren. Löhne und Gehälter sind krisenbedingt geschrumpft bzw. im Osten nur gering gestiegen. Die für die Rentenanpassung maß- gebliche Lohnentwicklung beträgt für das Jahr 2009 in den alten Ländern minus 0,96 Prozent. In den neuen Ländern ist eine geringe Steigerung von 0,61 Prozent zu verzeichnen. Auch bei Aussetzung der Veränderung des Altersvorsorgeanteils in diesem Jahr wäre – zumindest im Westen – keine Rentensteigerung möglich. Im Ge- genteil: Die Renten müssten trotzdem um 1,46 Prozent gekürzt werden. In den neuen Bundesländern wäre eine Rentensteigerung von 0,1 Prozent möglich. Nur die von der SPD durchgesetzte Rentengarantie – erweiterte Schutzklausel – verhindert eine Kürzung. Nach Berück- sichtigung aller Elemente der Rentenformel müssten die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3287 (A) (C) (D)(B) Renten um insgesamt 2,1 Prozent im Westen und 0,55 Prozent in Osten abgesenkt werden. Die Verschie- bung des Riester-Faktors, die wir in der Großen Koali- tion 2008 beschlossen haben, hat ermöglicht, die Rent- nerinnen und Rentner in den Jahren 2008 und 2009 am Wirtschaftsaufschwung zu beteiligen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht deutlich wurde, ob und wie stark sich dieser in steigenden Löhnen und Gehältern nieder- schlagen würde. Die nächsten Stufen der Riester-Treppe, die für die Rentenanpassungen 2008 und 2009 ausge- setzt wurden, sollten dann in den Jahren 2012 und letzt- malig 2013 berücksichtigt werden. Ein guter Zeitpunkt aus damaliger Sicht, weil dann die Beitragssätze sinken sollten und damit auch Rentensteigerungen wahrscheinli- cher wurden. Damit hatten wir nach mehreren Nullrunden und einer Minierhöhung im Jahr 2007 wieder deutliche Rentenerhöhungen erreicht, ohne die Beitragssatzziele aufzugeben. Durch die Aussetzung des Riester-Faktors im Zusam- menspiel mit der überraschend hohen Lohnsteigerung für 2009 hat sich auch das Rentenniveau wieder erhöht. Ergab sich aus den Modellrechnungen im Rentenversi- cherungsbericht 2008 noch ein absinkendes Rentenni- veau auf 50,5 Prozent, lag es nach dem Bericht 2009 bei 52 Prozent. Zu bedenken aber bleibt: Sollten in den nächsten Jahren die Löhne nicht deutlich steigen, sind kaum Rentensteigerungen möglich. Dies bedeutet da- rüber hinaus, dass der Ausgleichsbedarf – die aufgelau- fenen Dämpfungen, die bisher wegen der Schutzklausel nicht mindernd wirken konnten – nicht abgebaut werden kann, sondern noch weiterer Kürzungsbedarf entsteht. Dies kann dazu führen, dass auch weiter in der Zukunft liegende Rentenanpassungen geringer ausfallen werden. Neben den für das jeweilige Jahr geltenden Dämpfungs- faktoren wird der Ausgleichsbedarf die Rentenanpassun- gen zusätzlich schmälern. Der Sozialbeirat rechnet bis 2016 mit nur geringen Rentenanpassungen als auch mit Nullrunden. Daher müssen wir uns mit der Frage ausei- nandersetzen, ob und in welchem Umfang der Altersvor- sorgeanteil bei zukünftigen Rentenanpassungen zu be- rücksichtigen ist. Mit dem Faktor für die Veränderung des Altersvorsorgeanteils soll sichergestellt werden, dass die steigenden Aufwendungen der Jüngeren für ihre ge- förderte private Altersvorsorge bei der Anpassung be- rücksichtigt werden. Die Aussetzung des sogenannten Altersvorsorgeanteils in der Rentenanpassungsformel in Höhe von jährlich 0,5 Prozentpunkten war jedoch be- rechtigt, auch weil die Inanspruchnahme der geförderten Altersvorsorge zwar gut vorangekommen ist, aber im- mer noch nicht alle Menschen hiervon Gebrauch ma- chen. Im Jahr 2009 stieg die Zahl der Riester-Policen weiter um gut 1,1 Millionen auf nun 13,2 Millionen. Dies sind aber weiterhin nur etwas über ein Drittel der tatsächlich Berechtigten; deren Zahl kann aber nur nähe- rungsweise geschätzt werden. Unklar ist auch, mit welchem Beitrag die Sparer tat- sächlich privat für das Alter vorsorgen, und eine eben- falls nicht zu vernachlässigende Frage lautet: Bleiben die Sparer über die Jahre dabei bis zur Rente? Jeder Berech- tigte kann frei entscheiden, ob er über die Riester-Rente für das Alter vorsorgen will. Rentnerinnen und Rentner hingegen müssen den jeweiligen Altersvorsorgeanteil voll mittragen, profitieren selbst aber nicht mehr vom geförderten Sparen. Rentenbezieher sind schon in ho- hem Umfang an den Lasten, die die Beitragszahler zu leisten haben, beteiligt worden. Die Frage, inwiefern sie weiterhin bei sinkendem Rentenniveau die private Al- tersvorsorge mittragen sollen, muss deshalb neu gestellt, die Fakten neu bewertet werden. Ein dogmatisches Fest- halten am Altersvorsorgeanteil wäre falsch; das Ausset- zen bzw. eine dem tatsächlichen Aufwand entsprechende Berücksichtigung dieses Dämpfungsfaktors ist der rich- tige Weg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Linke startet unter dem Vorwand einer vermeintlich sozialen Politik einen Generalangriff auf unser stabiles Gemeinwesen. Sie re- det Konflikte herbei und dramatisiert Entwicklungen, wo immer es geht, weil sie ihr parteipolitisches Süpp- chen nur dann kochen kann, wenn es ihr gelingt, jede von einzelnen Gruppen der Bevölkerung empfundene Ungerechtigkeit hochzuspielen und zu instrumentalisie- ren. Die große Linie des neuen Grundsatzprogramms der Linken beinhaltet vergesellschaftete, also „volkseigene" Betriebe, eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnaus- gleich, Räte und runde Tische, mit denen die parlamen- tarische Demokratie unterwandert werden soll und jetzt auch den Test hinsichtlich der Belastungsfähigkeit unse- res stabilen Rentensystems. Das ist ein Irrweg, der nicht zum Erfolg führen wird. „Reichtum für alle“ kann man nicht beschließen. Genauso wenig kann man die demografische Ent- wicklung per Beschluss verändern. Sie verlangen von uns in Ihrem Antrag die Aufhebung des dringend not- wendigen demografischen Faktors bei der Rentenbe- rechnung. Das ist schlicht und einfach unseriös. Sie for- dern den Verzicht auf die zur Stabilisierung des Rentenbeitrags erforderliche Nachholung unterbliebe- ner Dämpfungen der Rentenanpassung. Kein Wort zur Finanzierung! Das sind völlig unseriöse Versprechun- gen! Wir dürfen aber die Fakten nicht ignorieren: Die von den Linken vorgeschlagenen Eingriffe in die Rentenfor- mel haben eine Gesamtwirkung von mehr als 10 Milliar- den Euro; denn es besteht folgender Nachholbedarf: 6,1 Milliarden Euro durch die unterbliebenen Renten- dämpfungen 2005, 2006 und 2010 – davon übrigens 85 Prozent bei den Rentnern in den westlichen Bundes- ländern, um die ständigen Andeutungen der Linken von Benachteiligungen für Rentner in den neuen Ländern mal zu relativieren –, 1,7 Milliarden Euro aufgrund der Rentengarantie – wirksam ausschließlich im Westen – und 2,9 Milliarden Euro durch Aussetzen der Riester- Treppe – betrifft zu 79,3 Prozent den Westen. Aus Sicht der FDP wäre es besser gewesen, den Riester-Faktor nicht auszusetzen. Die Folge des Nachho- lens ist jetzt eine bedauerliche Dämpfung der Renten- steigerungen, die sich über Jahre hinziehen wird. Haben die Antragsteller der Linken eigentlich auch nur ansatz- 3288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) weise berechnet, was die Umsetzung ihres Antrags für die Beitragszahler bedeuten würde? Sie denken nie an die Arbeitgeber. Sie denken aber auch nie an die einzahlenden Arbeitnehmer. Wir hören immer nur Ihre Versprechungen zu höheren Sozialleistun- gen, höheren Renten usw. Was ein Beitrag zur Rentenver- sicherung von weit über 20 Prozent für den durchschnitt- lichen Einzahler bedeutet, interessiert Sie überhaupt nicht. Sie sägen an vielen Ästen, auf denen die Bürger sit- zen, und zerstören die Wurzeln unseres Sozialstaats. Von Generationengerechtigkeit haben Sie offensichtlich noch gar nichts gehört. Das ist schon zu viel Weitblick für Ihr einfach gestricktes Weltbild. Das Weltbild der christlich-liberalen Koalition ist dif- ferenzierter und sozialer. Eine Regierungskommission wird sich mit dem Risiko der Altersarmut befassen. Die FDP-Vorschläge dazu sind altbekannt: ein an- rechnungsfreier Grundfreibetrag von 100 Euro für die private und betriebliche Altersvorsorge, darüber hinaus gehende Beträge werden nur zu 60 Prozent angerechnet, Verträge zum Schutz gegen Erwerbsminderung werden voll Riesterförderungsfähig gemacht, Verbesserung der Altersvorsorge von Selbstständigen in Form einer Pflicht zur Versicherung bei weitgehendem Gestaltungs- und Wahlrecht. Im Übrigen liegt die Lösung des Strukturproblems bei der Alterssicherung sicher nicht allein in der gesetzli- chen Rentenversicherung. Diese muss nachhaltig stabil gehalten werden. Der vorliegende Antrag tut aber das Gegenteil. Aus unserer Sicht ist es darüber hinaus wich- tig, dafür sorgen, dass Vermögenseinkommen und be- triebliche Renten einen größeren Anteil an der Alters- vorsorge erhalten. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Rentenre- form von Walter Riester wird als Jahrhundertreform in die Geschichtsbücher eingehen, doch nicht als Erfolgs- geschichte. Wir werden leider nichts lesen können vom Wohlstand der vielen. Aber wir werden lesen müssen, dass die rot-grüne Bundesregierung Armut im Alter zum Programm erhoben hat. Zum Schulwissen wird ebenfalls gehören, dass auch die nachfolgenden Bundesregierun- gen – ob schwarz-rot oder schwarz-gelb – wider besseres Wissen und offenbar ohne schlechtes Gewissen den Le- bensabend der Meisten den Kräften des Marktes, den Banken und Versicherungen, ausgeliefert haben. Kom- mende Generationen werden uns fragen: Warum habt Ihr das alles nicht verhindert? Die Altersarmut von morgen ist die direkte Folge der falschen Rentenpolitik von heute. Wir haben zwei Mög- lichkeiten: Entweder wir verteilen morgen Trostpflaster an arme Rentnerinnen und Rentner, oder wir handeln heute und beugen der Altersarmut vor. Die Linke ist für den zweiten Weg. Wir wollen schwerwiegende Fehler in der Rentenpolitik von Rot-Grün bis heute beseitigen. Mit den Riester-Reformen wurde das Niveau der gesetz- lichen Rente bewusst massiv gesenkt. Das war ein gra- vierender Einschnitt. Das Ziel, den im Berufsleben er- reichten Lebensstandard auch im Ruhestand halten zu können, wurde aufgegeben. Als Ausweg gebar Rot-Grün Zwillinge: staatliche Fürsorge und private Vorsorge, also die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde- rung, und die sogenannte Riester-Rente. Die „Grund- sicherung“ sollte die gesetzliche Rentenversicherung von unten stützen, auf Sozialhilfeniveau; denn es war klar, dass die gesetzliche Rente für viele nicht mehr die Existenz würde sichern können. Diese „Grundsiche- rung“ von im Schnitt 664 Euro im Monat bedeutet für viele Menschen einen sozialen Abstieg. Denn Armut verhindert sie nicht, und wer durchschnittlich verdient, muss nun für eine Rente in dieser Höhe bereits heute 28 Jahre Beiträge gezahlt haben. Im Jahre 2030 werden es schon 34 Jahre sein. Und wer nur die Hälfte des Durch- schnittseinkommens hat, also heute rund 1 300 Euro brutto verdient, muss heute 56 Jahre und 2030 dann 68 Jahre Beiträge gezahlt haben, um das Grundsiche- rungsniveau überhaupt zu erreichen. Das ist doch absur- des Theater. Die Riester-Rente soll die gesetzliche Rente aufsto- cken. Das funktioniert vor allem für die Versicherungs- wirtschaft. Was als Ausgleich für den Abbau der gesetz- lichen Rente vorgesehen war, hat sich als ein riesiges Subventionsprogramm für die private Versicherungs- branche entpuppt. Seit 2009 sind so knapp 9 Milliarden Euro Steuergelder in die Kassen der Versicherer geflos- sen, 9 Milliarden, die der solidarischen Rentenversiche- rung fehlen. Für die Menschen funktioniert Riester nicht. Gerade mal 37 Prozent derjenigen, die einen Anspruch auf Förderung hätten, haben einen Vertrag abgeschlos- sen. Und von denen haben 60 Prozent nicht einmal die vollen Zulagen erhalten, weil sie die Eigenbeiträge nicht aufbringen konnten oder wollten. Von niedrigen Löhnen lassen sich eben nur schwer Beiträge zahlen. Das zeigt: Die Mehrheit der Beschäftigten wird von „Riester“ nichts haben. Ihnen droht Altersarmut, und das ist unver- antwortlich! Zur Wahrheit gehört auch: Das aktuelle Gerede von einer Nullrunde ist pure Schönfärberei. Zwar werden die Renten nicht direkt gekürzt, aber sie verlieren dennoch an Wert, Stichwort Inflation, oder denken Sie an die Zu- satzbeiträge der Krankenkassen und die drohende Kopf- pauschale. Außerdem gilt für die Kürzungen: Aufge- schoben ist nicht aufgehoben. Sobald eine Erhöhung der Renten möglich wäre, werden die Kürzungen nachge- holt. Aktuell beträgt der so angehäufte „Ausgleichsbe- darf“ im Westen 3,8 Prozent und im Osten 1,8 Prozent. Das heißt: In den nächsten fünf bis sechs Jahren gibt es für die Rentner und Rentnerinnen keinen Cent mehr. Die Schutzklausel von heute frisst also die Rentenerhöhung von morgen. Die Rentnerinnen und Rentner werden mit der Nullrunde keineswegs verschont; sie werden dreist verschaukelt. Das darf nicht so bleiben. Wir Linken fordern eine radikale Abkehr von dem Irr- weg der Riester-Privatisierung. Denn die Rentnerinnen und Rentner von heute und die von morgen sind sich ei- nig: Sie wünschen sich nach einem langen Arbeitsleben einen Ruhestand ohne Armut und ohne große finanzielle Sorgen. Mit der drastischen Kürzung der Rente für alle und Riester nur für einen Teil wird das nichts. Die soli- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3289 (A) (C) (D)(B) darische gesetzliche Rentenversicherung hat gerade in der Finanzkrise gezeigt, wie stabil sie ist. Darum fordere ich Sie auf: Stärken Sie die Rentenversicherung, strei- chen Sie den Riester-Faktor, löschen Sie das Minuskonto in der Rentenanpassung und mit ihm die Dämpfungsfak- toren! Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Ende der 80er-Jahre gab es Prognosen des Prognos-Instituts, dass der Beitragssatz zur Renten- versicherung bis 2030 ohne Veränderungen auf über 35 Prozent ansteigen würde. Seitdem gab es in relativ breitem Konsens beschlossene Reformmaßnahmen, um dies zu vermeiden: Angefangen mit der Umstellung von der Bruttolohn- auf die Nettolohnanpassung 1992, die Debatte um den demografischen Faktor Ende der 90er- Jahre und dann unter Rot-Grün die Umstellung von der Nettolohnanpassung zur modifizierten Bruttolohnanpas- sung sowie die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors. Dadurch ist es gelungen, die Beiträge auf absehbare Zeit weitgehend stabil zu halten. Und das ist auch gut so. Allerdings müssen wir auch gestehen, dass dadurch eine Rentenformel entstanden ist, die kaum noch jemand ver- steht. Hinzu kommt, dass diese Rentenformel in den letzten Jahren kaum zur Geltung gekommen ist und di- verse Male ausgesetzt wurde, weil sie zu einer Absen- kung der Rente geführt hätte. Dadurch ist eine Bugwelle von mehreren Milliarden Euro entstanden, die in den nächsten Jahren abgebaut werden müssen. Bezahlen sol- len das über die Nachholfaktoren die Rentnerinnen und Rentner, die deswegen in den nächsten Jahren – wenn überhaupt – nur mit geringen Rentensteigerungen zu rechnen haben. Vor diesem Hintergrund sollten wir uns in der Tat Ge- danken über eine Reform der Rentenformel machen. Ein Verzicht auf das Ziel der Beitragsstabilisierung und die Abschaffung aller Dämpfungsfaktoren – also die Rück- kehr zur Rentenformel aus den 80er-Jahren – wären al- lerdings falsch. Letzteres wird in dem Antrag der Linken – im Gegensatz zu sonstigen Verlautbarungen – aber gar nicht gefordert, sondern nur die Abschaffung des Riester-Faktors. Ich finde, dass dies durchaus eine Op- tion ist, über die wir nachdenken sollten; denn das, was wir erreichen wollen, nämlich eine weitgehende Bei- tragsstabilität und einen gerechten Ausgleich zwischen den Generationen, wird durch den Nachhaltigkeitsfaktor ausreichend gewährleistet, sodass der Riester-Faktor in der Tat verzichtbar erscheint. Ich finde allerdings auch, dass wir uns für diese Frage, die ja letztlich einen wesentlichen Teil der Bevöl- kerung entweder als Beitragszahlende oder als Renten- beziehende betrifft, Zeit nehmen und intensiv beraten sollten, zumal eine neue Rentenformel auf Dauer Be- stand haben und von einer breiten Mehrheit getragen werden sollte. Ohne ein Festhalten an dem Ziel der Bei- tragssatzstabilität wird dies nicht gelingen, und es wäre auch falsch, dieses Ziel aufzugeben. Aber ebenso wich- tig ist, dass sich die Menschen darauf verlassen können, eine ordentliche Rente zu erhalten, die vor Armut schützt und die nicht von der Entwicklung des allgemei- nen Lebensstandards abgekoppelt ist. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Anbau von gentech- nisch veränderter Kartoffel Amflora verhin- dern (Tagesordnungspunkt 16) Carola Stauche (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Frak- tion des Deutschen Bundestages hat sich immer dafür ausgesprochen, die Entscheidung über den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen ausschließlich auf der Basis wissenschaftlicher Bewertungen durchzufüh- ren. Wir sind uns der Risiken von genveränderten Orga- nismen bewusst. Vor allem sind wir uns jedoch darüber im Klaren, welche Chancen genveränderte Organismen für die Landwirtschaft bieten, angefangen von verbes- serten Eigenschaften wie bei Amflora, Einsparungen beim Pflanzenschutz bis hin zu höheren Erträgen. Wir reden heute über die Amflora-Kartoffel, die erste gen- technisch veränderte Pflanze, die seit 1998 in der EU für den Anbau zugelassen wurde. Tatsächlich stellt sich aber die Frage, ob wir heute über den Amflora-Anbau disku- tieren oder eine eher ideologisch geführte Grundsatzdis- kussion zum Thema Grüne Gentechnik führen. Zur grundsätzlichen Debatte möchte ich mich eigentlich nicht äußern. Vielleicht nur so viel: Als ich mich auf die heutige Debatte vorbereitet habe, bin ich auf einen Arti- kel gestoßen, welcher sich mit der Geschichte der Kar- toffel in Europa beschäftigt. Aus diesem möchte ich kurz zitieren: „Anfangs begegnete man der Kartoffel vieler- orts in Europa mit Misstrauen. Ab dem frühen 17. Jahr- hundert stand sie sogar im Verdacht, Lepra zu verursa- chen …“ Ich will Ihnen dadurch deutlich machen, dass es schon immer Ängste hinsichtlich neuer, unbekannter Pflanzen oder Organismen gab. Diese Ängste gilt es ernst zu nehmen. Wir von CDU und CSU nehmen diese Ängste ernst. Auch die Hinweise der Kollegen von den Grünen nehmen wir ernst, teilen die im Antrag geschil- derten Darstellungen allerdings nur bedingt. Wir diskutieren heute über den Antrag der Grünen, den Anbau der gentechnisch veränderten Kartoffel Am- flora in Deutschland zu verbieten. Wir als CDU/CSU werden diesem Antrag nicht zustimmen. Sie werfen uns dies als Kniefall vor BASF und der Wirtschaftslobby vor. Das ist es jedoch nicht. Vielmehr ist es eine bewusste Entscheidung, die wir im Sinne unserer Landwirte treffen. Wir machen mit dieser Entscheidung unseren Bauern Folgendes deutlich: Der deutsche Gesetzgeber lässt euch die Chancen wahrnehmen, die euren Kollegen in den eu- ropäischen Mitgliedstaaten auch zur Verfügung stehen. Der deutsche Gesetzgeber lässt es nicht zu, dass euch Wettbewerbsnachteile durch Verschärfungen europäi- scher Regelungen entstehen. – Genau dies wäre die Folge, wenn wir dem Ansinnen des Grünen-Antrages folgen würden. Landwirte in Holland, Tschechien oder Schweden dürfen die Amflora-Kartoffel anbauen, Land- wirte beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern dürf- 3290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) ten sie nicht anbauen. Wir setzen uns für eine Gleichbe- handlung aller europäischen Landwirte ein. Die Kommission hat aufgrund mehrerer Unbedenk- lichkeitsbescheinigungen der europäischen Lebensmit- telbehörde EFSA die Amflora-Kartoffel für den Anbau zugelassen. Da die Neubeantragung im Jahr 2003 er- folgte, wurden die Sicherheitsbewertung und das Zulas- sungsverfahren nach den Maßgaben der 2001 deutlich verschärften Freisetzungsrichtlinie durchgeführt. Man kam zur Erkenntnis, dass die Gefahr eines Transfers des antibiotikaresistenten Markergens von einer gentechni- schen veränderten Pflanze auf Bakterien extrem unwahr- scheinlich sei und die Wirksamkeit von Antibiotika da- durch nicht gefährdet ist. Dieses Markergen wird allerdings in der Diskussion immer wieder angeführt, um Stimmung gegen einen Anbau von Amflora-Kartof- feln zu machen. Die Antragsteller weisen auf Art. 23 der Freiset- zungsrichtlinie hin. Die hier geforderten neuen oder zu- sätzlichen Informationen, die es Mitgliedstaaten ermög- lichen, gentechnisch veränderte Organismen in ihrem Hoheitsgebiet vorübergehend einzuschränken oder gar zu verbieten, liegen nach mehrmaliger Prüfung wie eben erwähnt nicht vor. Ob ein Landwirt Amflora anbauen möchte, sollte nach unserer Überzeugung seine eigene Entscheidung sein und nicht durch die Politik oder eine Verwaltung getroffen werden. Das ist ein Punkt der uns deutlich von den Grünen abgrenzt. Wir möchten nieman- den bevormunden. Natürlich sind wir uns über eventu- elle Gefahren bewusst. Deshalb stehen wir auch hinter den in der Freisetzungsrichtlinie genannten Grenzwer- ten, die selbstverständlich nicht überschritten werden dürfen. Die größte Gefahr beim Amflora-Anbau besteht bei Durchwuchskartoffeln. Da nach dem Anbau der Am- flora-Kartoffeln ein Jahr lang keine konventionellen Kartoffeln angebaut werden dürfen, ist hier eine Vermi- schung kaum möglich. Die bei der Ernte nicht erfassten, im Boden verbliebenen Kartoffeln keimen im Folgejahr aus, sind auf dem Feld deutlich zu erkennen, und man kann sie dann mit geeigneten Mitteln bekämpfen. An- ders als im Antrag geschildert, gehen wir jedoch davon aus, dass es den anbauenden und weiterverarbeitenden Betrieben gelingt, die geforderten Maßnahmen zum Schutz gegen Verunreinigungen der Lebens- und Futter- mittelkette ordnungsgerecht auszuführen. Für mich stellt sich dennoch die Frage, ob es für einen Landwirt überhaupt infrage kommt, die Amflora-Kartof- fel anzubauen. Denn die vertraglichen Verpflichtungen, die Landwirte und weiterproduzierende Betriebe einzu- halten haben, fördern die Attraktivität des Anbaus nach meinem Erachten nicht: das bereits erwähnte Anbauver- bot konventioneller Kartoffeln für ein Jahr nach dem Amflora-Anbau, die komplette räumliche Trennung der Amflora-Produktion von der konventionellen Kartoffel- erzeugung – angefangen von der Pflanzkartoffel bis zur Verarbeitung in der Stärkeindustrie. Diese Punkte wer- den in jedem wirtschaftlich geführten Betrieb beachtet und wirken sich, so denke ich, nicht gerade förderlich auf den Anbau von Amflora aus. Abschließend noch ein Zitat des von mir sehr ge- schätzten Albert Einstein. Ich glaube, es passt ganz gut zur Gentechnik-Debatte: „Es ist schwieriger, eine vorge- fasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.“ Josef Rief (CDU/CSU): Wir lehnen den Antrag der Grünen ab. Selbstverständlich ist die europäische Zulas- sung der Amflora-Kartoffel ein sensibles Thema, über das man diskutieren kann. Mir scheint aber doch eine ideologische Sichtweise der Grund für den Antrag der Grünen zu sein. Betrachtet man die Meinung von Fach- leuten zum Thema, warnt der eine Teil der Wissenschaft- ler vor der Grünen Gentechnik. Der andere Teil sieht große Chancen in Forschung und Entwicklung. Ich bin sicher, dass in Zukunft die Wissenschaft viele neue Er- kenntnisse hervorbringen wird. Für die diesjährige Anbauperiode ist für Amflora eine Fläche von 20 Hektar angemeldet. Hier sollen in Meck- lenburg-Vorpommern lediglich Saatkartoffeln vermehrt werden. Eine weitere Verwertung der Amflora zu indus- triellen Zwecken ist in diesem Jahr in Deutschland nicht geplant. Die Debatte sollte sachlich geführt werden. Am Ende werden wir hier im Parlament nicht entscheiden, ob die Amflora angebaut wird oder nicht. In erster Linie wird dies der Verbraucher, aber auch der Landwirt tun. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen und ihnen die Freiheit lassen, zu entscheiden, ob sie gentechnisch veränderte Produkte wünschen oder nicht. Gleiches muss auch für die Land- wirte gelten. Genauso wichtig wie die Wahlfreiheit muss die Sicherheit sein, nicht irrtümlich genveränderte Lebens- mittel zu erhalten, wenn jemand dies nicht wünscht. Ge- nau das tun wir mit unserer Politik. Wir wollen wissen- schaftliche Grundlagen für die Einschätzung einer Technologie und nicht die ideologische Befeuerung oder Verteufelung. Ideologen haben Deutschland in der Ver- gangenheit hundertmal mehr geschadet als genützt. Die Menschen in meiner Heimat und auch ich selber plädie- ren dafür, neben der wissenschaftlichen Prüfung der Grünen Gentechnik auch immer nach der Sinnhaftigkeit der Einführung der Sorten zu fragen. Es nützt uns nichts, wenn wir mit genveränderten Pflanzen höhere Erträge erzielen und gleichzeitig der Produktionsaufwand höher ist und der Marktpreis sehr viel geringer als bei konven- tionellen Sorten. Ich rate, die EU- und US-Körnermais- preise zu vergleichen. Letztendlich werden wir aber erle- ben, dass die Entscheidung über den Erfolg von genveränderten Sorten wie der Amflora auf dem Markt fällt. Der Verbraucher soll entscheiden, welche Produkte er kauft. Die europäische Zulassung gibt jetzt Gegnern und Befürwortern die Gelegenheit, zu ergründen, in welcher Weise sich die Argumente bewahrheiten und in der Pra- xis sich heute formulierte Vor- und Nachteile bei Anbau, Vermarktung und Verbraucherakzeptanz zeigen. Der Er- folg der Amflora ist auch nach Expertenmeinung frag- lich. Die Kartoffel, die zur industriellen Stärkeproduk- tion angebaut werden soll, gilt als veraltet, und als Saatgut ist sie teuer. Es gibt heute schon aus konventio- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3291 (A) (C) (D)(B) neller Zucht bessere Sorten. Wir haben alles dafür getan, die Möglichkeit einer Koexistenz sicherzustellen. Auch für die Amflora gelten die gesetzlichen Bestimmungen aus Gentechnikgesetz und Koexistenzverordnung, was Anbauabstand und verschuldensabhängige Haftung an- geht. Das sollte so bleiben. Der Kommissionsbeschluss sieht eine räumliche Trennung der genveränderten Kartoffel von konventio- nellen Kartoffeln über den gesamten Weg von Anpflan- zung, Ernte, Transport und Verarbeitung vor. Ein Anbau von konventionellen Kartoffeln ist im Folgejahr auf die- sen Flächen ebenfalls verboten. Ich komme aus einem Landstrich, wo wir gentechnikfreie Anbauzonen haben, weil die Verbraucher und die überwiegende Mehrheit der Bauern daran glauben, mit gentechnikfreier Aussaat und Ernte die heimischen Märkte besser und nachhaltiger be- dient werden können. Mir ist wichtig, dass eine Ableh- nung oder Zustimmung aus sachlichen oder wissen- schaftlichen Gründen im Einzelfall geschieht und nicht aus ideologischen Gründen. In der Medizin akzeptieren wir seit vielen Jahren ganz selbstverständlich Medika- mente, die aus der Gentechnik stammen und bei vielen Therapien den Menschen helfen können. Jede Technolo- gie muss aber den Vorteil für die Menschheit nachwei- sen. Die Menschen werden richtig entscheiden, weil wir den Menschen vertrauen und letztendlich an die Ver- nunft glauben. Es stimmt die These Lenins eben nicht, dass Ver- trauen gut und Kontrolle besser ist. Umgekehrt ist’s richtig! Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Keiner will sie, kei- ner braucht sie: die Amflora. Und wenn man sonst den Eindruck gewinnt, dass diese Bundesregierung die Be- lange und den Schutz der Verbraucher den wirtschaftli- chen Interessen einzelner Industrievertreter unterordnet, so stimmt hier nicht einmal das. Denn an der extra für die Stärkeindustrie entwickelten Kartoffel hat die Stär- keindustrie kein Interesse. So sagt der Geschäftsführer der Firma Südstärke gegenüber der taz: „Für uns kommt Amflora definitiv nicht infrage“. Südstärke beliefert auch die Lebensmittelindustrie und bekennt ganz offen: „Wir könnten die konventionellen und die Genkartoffeln im Werk kaum trennen.“ Auch der größte deutsche Kar- toffelstärkeproduzent Emsland Stärke GmbH erklärt: „Wir sehen zurzeit keine Möglichkeit, Amflora anzu- pflanzen. Die Konsequenzen wären zu groß.“ Die Ems- land-Gruppe hat stattdessen gemeinsam mit der Firma Europlant, mit klassischen Zuchtmethoden eine Alterna- tive entwickelt: eine Amylopektinkartoffel ohne Gen- technik. Die Amflora biete keine attraktiven Chancen vom Ertrag und von der Anbautechnik her, sagt der sonst nicht gerade gentechnikkritische Deutsche Bauernver- band. Vom deutschen Kartoffelhandelsverband DKHV ist zu hören, dass kein Bedarf an GVO-Kartoffeln be- stehe, weil die gewünschten Stärkeeinträge und Qualitä- ten auch von anderen Sorten erbracht werden. Und der Bundesverband der obst-, gemüse- und kartoffelverar- beitenden Industrie BOGK sieht keine Notwendigkeit für GVO-Kartoffeln als Futtermittel oder gar Lebensmit- tel, weil die Verbraucher das ablehnen. Diese Liste ist nicht vollständig, soll aber zur Illustra- tion des angeblich so großen Interesses an der Amflora reichen. Sie ist unnötig und unerwünscht. Aber das Di- lemma der Bundesregierung ist offensichtlich. Denn eine der wenigen präzisen Aussagen im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP ist folgende: „Der Anbau der gentechnisch veränderten Stärkekartoffel Amflora für eine kommerzielle, industrielle Verwertung wird unter- stützt.“ Ehrlicherweise sollte man hinzufügen: Koste es, was es wolle. Eine sehr ungewöhnliche, wenn nicht gar ungeheuerliche Verpflichtung ist die Koalition da einge- gangen. Aber wie sagte Peer Steinbrück: „Niemand ist vor Erkenntniszuwachs gefeit.“ Ich hoffe, auch Sie sind dagegen nicht gefeit, Frau Ministerin Aigner, und ziehen die nötigen Konsequenzen. Statt an diesen einen Satz im Koalitionsvertrag, den Ihnen wahrscheinlich die FDP abgerungen hat, sollten Sie sich besser an die Erklärung gebunden fühlen, die die deutsche Delegation am 16. Juli 2007 bei der Abstimmung im EU-Rat über die Zulassung der Amflora zu Protokoll gegeben hat. Darin war die Zulassung an einige Bedingungen geknüpft wor- den: Erstens. Sie sollte weder die Verwendung als Futter- mittel noch als Lebensmittel beinhalten. Zweitens. Das Fernhalten des in der Amflora enthal- tene Antibiotikaresistenz-Markergens aus Lebensmittel- und Futtermittelkette sollte oberste Priorität haben. Drittens. Aus sorgfältigen Untersuchungen, an denen alle interessierten Kreise beteiligt werden sollten, sollten in Deutschland konkrete Anforderungen für Anbau, La- gerung, Transport und sonstigen Umgang sowie Weiter- verarbeitung der Amflora erarbeitet werden, die jegliche Vermischung von Amflora mit konventionellen Kartof- feln und Einträge in die Futtermittel- und Lebensmittel- kette zuverlässig vermeiden. Viertens. In einem Monitoring sollten die Auswirkun- gen auf die Bodenökologie genau beobachtet werden, damit keine Resistenzgene in nachfolgend angebaute Pflanzen und darüber in die Nahrungskette gelangen. Keine einzige dieser Bedingungen ist erfüllt. Im Ge- genteil: Die EU-Zulassung sieht ausdrücklich die Ver- wendung der Abfälle zu Futterzwecken vor und beinhal- tet sogar einen Toleranzwert von 0,9 Prozent für Lebensmittel. Hier sichert man sich im Vorfeld gegen Verunreinigungen ab; das ist eine Lizenz zum Ver- schmutzen. Wir sehen darin einen eklatanten Verstoß ge- gen das Vorsorgeprinzip. Wie Sie wissen, ist die Amflora mit einem Antibiotikaresistenz-Markergen ausgestattet: Dagegen hatten auch offizielle Organisationen wie die EU-Arzneimittelbehörde und die Weltgesundheitsorga- nisation WHO Bedenken. Solche Antibiotikaresistenz- gene dürften eigentlich gar nicht mehr eingesetzt wer- den. Wir haben hier schon mehrfach über die Amflora debattiert. Den meisten ist bekannt, dass es inzwischen gentechnikfreie Alternativen gibt und die Amflora eine veraltete Entwicklung ist. Sie ist aber nicht nur eine „olle Knolle“ ohne wirtschaftliche Erfolgsaussichten, weil sie 3292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) keiner will und keiner braucht. Sie birgt möglicherweise auch gesundheitliche Risiken. Und die konventionellen Kartoffelhersteller kann sie teuer zu stehen kommen, weil ihr Einsatz erhebliche Mehrkosten für Tests und Kontrollen verursachen könnte. Sie lässt sich aus der Nahrungskette kaum raushalten, auf die Schwierigkeiten bei Überwachung und Kontrolle hat der SPD-Agrarmi- nister Mecklenburg-Vorpommerns Backhaus bereits mehrfach hingewiesen. Frau Ministerin, das sind mehr als genug Gründe. Werden Sie tätig! Setzen Sie sich für das Vorsorgeprin- zip ein! Prüfen Sie die Möglichkeiten der „Schutzklau- sel“ und verhindern Sie den Anbau in Deutschland! Wir werden Sie gern dabei unterstützen. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Zulas- sung des Anbaus der Stärkekartoffel Amflora durch die neue EU-Kommission am 2. März diesen Jahres ist ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Umgangs der EU mit gentechnisch veränderten Pflanzen. Seit dem Moratorium in den Jahren 1998 bis 2004 ist dies die erste Zulassung des Anbaus einer gentechnisch verän- derten Pflanze. Die Zulassung folgt der Empfehlung der Europäischen Behörde für die Sicherheit der Lebensmit- tel, EFSA. Damit wird einem wichtigen Anliegen der christlich-liberalen Koalition Rechnung getragen: Ent- scheidungen über die Zulassung neuer Sorten sollen ent- sprechend den Empfehlungen der Wissenschaft erfolgen. Nur so ist ein maximaler Schutz von Mensch, Natur und Umwelt sichergestellt. Es gibt keinen Grund, den Anbau der Stärkekartoffel Amflora zu verhindern. Mir ist bewusst, dass Menschen Vorbehalte gegen die Gentechnik haben. Diese Skepsis beruht nicht auf nega- tiven Erfahrungen weder bei uns noch in anderen Län- dern. Sie beruht auf gezielt verbreiteten Fehlinformatio- nen. Die mit dieser Methode gezüchteten Sorten sind sicherer als mit anderen Methoden gezüchtete Sorten. Außerhalb Europas steigt die Zahl der Landwirte, insbe- sondere der Kleinbauern, die diese Sorten anbauen. Zu- nehmend engagieren sich Schwellenländer in der Ent- wicklung eigener Sorten wie China, Indien, Brasilien und auch Kuba. Die von der Deutschen Forschungsge- meinschaft am Ende des letzten Jahres herausgegebene Broschüre „Grüne Gentechnik“ informiert sachlich und gut verständlich über die Methode und ihre Anwendung weltweit. Die Nachfrage ist hoch und zeigt das Interesse der Menschen nach verlässlicher Information. Die Stärkekartoffel gehört zu den Sorten, die noch vor dem von der EU erlassenen Moratorium entwickelt wur- den. Der erste Zulassungsantrag wurde bereits 1996 gestellt. Sie enthält einen sogenannten Antibiotikaresis- tenzmarker. Dieses Antibiotikaresistenzgen nptll vermit- telt eine Resistenz gegen die beiden Antibiotika Kana- mycin und Neomycin. Beide haben wegen ihrer toxischen Wirkung für Mensch und Tier nur eine sehr geringe Bedeutung als Antibiotikum. Das Gen kommt natürlicherweise in verschiedenen Bakterienarten so- wohl in der Darmflora als auch im Boden vor. Der Transfer eines Gens von einem Bakterium in eine ande- res Bakterium ist extrem unwahrscheinlich, der Transfer von einer Pflanze in ein Bakterium ist noch unwahr- scheinlicher. Der Anbau von Pflanzen mit diesem Gen trägt somit nicht zur Verbreitung der Resistenz bei Bak- terien bei. Nicht nur die EFSA, auch die Zentrale Kom- mission für die Biologische Sicherheit, ZKBS, hat diese Bewertung abgegeben. In der vergangenen Legislaturperiode ist insbesondere von den Grünen die Anwendung der Gentechnik in ver- schiedenen Anträgen thematisiert worden. Die Tendenz war immer gleich und setzte darauf, die vorhandene Skepsis zu verstärken, statt über Information und Auf- klärung die eigene Entscheidungskraft der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Die schwarz-rote Koalition hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, Anbau und For- schung fördern zu wollen. Diese Vereinbarung ist völlig wirkungslos geblieben. Deshalb haben wir in unserem Koalitionsvertrag für die christlich-liberale Koalition sehr viel genauer festgeschrieben, was wir in unserer Re- gierungsarbeit erreichen wollen. Wir haben bereits erreicht, dass die Stimme Deutsch- lands in der EU in den verschiedenen Abstimmungen dem Grundsatz folgt, die Entscheidung über die Zulas- sung neuer Produkte an deren wissenschaftlicher Bewer- tung ausrichten zu wollen. Dies ist ein entscheidender Fortschritt, der Deutschlands Anspruch als Wissen- schaftsstandort endlich gerecht wird. Die Vorteile bio- technologischer Züchtungsverfahren sind überzeugend. Professor Dr. Josef Glößl, Vizerektor der Universität für Bodenkultur in Wien hat kürzlich in der überregionalen österreichischen Tageszeitung Die Presse in seinem Bei- trag „Gentechnik hat großen Nutzen“ einen Überblick über den Kenntnisstand der biotechnologischen For- schung gegeben. Die künftigen globalen Herausforde- rungen wie die Ernährung von bald 9 Milliarden Men- schen, die Anpassung unserer Kulturpflanzen an die durch den Klimawandel hervorgerufenen Veränderun- gen, die verstärkte Nutzung von Pflanzen als nachwach- sende Rohstoffe erfordern den Einsatz dieser inzwischen bewährten Züchtungsmethode. Sigmar Gabriel hat in seiner Zeit als Umweltminister in einer Plenarrede auf die positiven Umweltwirkungen der Stärkekartoffel hingewiesen. Sie produziert reine Amylopektin-Stärke. Dadurch ist es nicht erforderlich, in einem aufwendigen Prozess, die in sonstigen Kartof- feln vorhandene Amylose zu entfernen. Dadurch wird Wasser und Energie gespart. Dies ist ein echter Beitrag zur Nachhaltigkeit. Es gibt seit langem Züchtungsan- strengungen zur Züchtung einer solchen Kartoffel. Es gibt auch mit herkömmlichen Methoden gezüchtete Stär- kekartoffeln. Sie liefern jedoch einen geringeren Hektar- ertrag und haben sich bis jetzt nicht am Markt durchge- setzt. Der Antrag der Grünen reiht sich nahtlos ein in die zwölf Anträge zum Thema Grüne Gentechnik, die wir in der vergangenen Legislaturperiode diskutiert haben. Alle zielen in dieselbe Richtung, alle liefern Fehlinformatio- nen und versuchen, unbegründete Ängste zu schüren. Die christlich-liberale Koalition steht für Aufklärung und Wissenschaftlichkeit, für eine Versachlichung der emotional geführten Debatte über die Grüne Gentechnik. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3293 (A) (C) (D)(B) Mit der fundamentalen Ablehnung einer weltweit etab- lierten Züchtungsmethode werden wir den zukünftigen Aufgaben nicht gerecht werden können. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich wohne in einer traditionellen Kartoffelregion, der Prignitz im Nordwesten des Bundeslandes Brandenburg. Aber unter- dessen macht sich auch dort die Kartoffel immer mehr vom Acker, weil sich die Rahmenbedingungen ver- schlechtert haben. Unterdessen freut man sich selbst in meiner Heimat über jedes Feld, auf dem mal nicht Mais, Raps oder Roggen, sondern Kartoffeln angebaut werden. Und wir freuen uns in dieser schon immer armen Region über die Arbeitsplätze mit existenzsichernden Einkom- men, die es immer noch in der Verarbeitung, zum Bei- spiel in zwei Stärkefabriken, gibt. Es sind jedoch deut- lich weniger als früher. Es gibt also gute Gründe, für die Kartoffel zu kämpfen. Ein Weg ist die erfolgreiche Ent- wicklung neuer Nutzungsmöglichkeiten für die Kartoffel selbst und die Nebenprodukte ihrer Verarbeitung. Bei meinem letzten Besuch in der Kyritzer Stärkefabrik ver- gangenen Sommer habe ich sehr interessante Ansätze kennengelernt. Ein zweiter Weg ist die Vereinfachung der Verarbeitung. Denn die Kartoffel enthält natürlicher- weise zwei verschiedene Stärkeformen mit unterschied- lichen physikalischen Eigenschaften. Die eine Stärke heißt Amylopektin. Sie bindet und klebt, wird also zum Beispiel zu Papier, Textilien oder Klebstoff verarbeitet. Die andere Stärke namens Amy- lose geliert. Beide müssen zur Verarbeitung mit großem Wasserverbrauch und Energieaufwand getrennt werden. Eine Kartoffel, die fast nur Amylopektin enthält, ließe sich also effektiver und kostengünstiger verarbeiten. Au- ßerdem würde Wasser und Energie gespart. Die Idee, eine solche amylopektinreiche Kartoffel zu entwickeln, ist also schlau, aber längst keine Utopie mehr. Unterdes- sen gibt es zwei solche Kartoffelsorten, die auf konven- tionellem Weg gezüchtet wurden. Die ersten 100 000 Tonnen einer dieser beiden Kartoffeln wurden im ver- gangenen Herbst in Kyritz verarbeitet. Das Problem ist also auf einem unproblematischen Weg bereits gelöst. Dabei wird der Evolution eben nicht ins Handwerk ge- pfuscht wie mit der Agrogentechnik. Der Evolution wurde nur quasi ein Zeitraffer eingebaut. Die BASF ist einen anderen Weg gegangen. Sie hat die Kartoffel agrogentechnisch verändert, um die amylo- pektinreiche Kartoffelsorte Amflora zu erzeugen, deren Verbot die Grünen heute beantragen. Bei der Amflora wurde zum einen das kartoffeleigene Gen ausgeschaltet, das für die Amyloseproduktion verantwortlich ist. Zum anderen wurde ein Bakteriengen als Marker ein- gebaut, das die Kartoffel unempfindlich gegen mehrere Antibiotika macht. Dazu gehören Kanamycin und Neo- mycin, zwei Antibiotika, welche von der Weltgesund- heitsorganisation als höchst bedeutsam eingestuft werden. Kanamycin ist beispielsweise ein Reserveantibiotikum gegen multirestistente Tuberkulose. Resistenzen gegen diese Antibiotika wären in der Humanmedizin eine Ka- tastrophe. Einigen Menschen könnte bei einer Krankheit unter Umständen nicht mehr wie gewohnt geholfen wer- den. Deshalb hatte die EU ja 2004 beschlossen, keine gentechnisch veränderten Pflanzen mehr zuzulassen, die resistent sind gegen Antibiotika, die bei Menschen oder Tieren angewandt werden. Über diesen Beschluss hat sich die EU-Kommission jetzt mit der Zulassung der Amflora, also einer Lex BASF, hinweggesetzt. Für die Linke stellt sich sehr ernsthaft die Frage: Ist das damit verbundene Risiko wirklich verantwortbar, selbst wenn die EFSA mehrheitlich Entwarnung gegeben hat? Was ist, wenn die zwei Wissenschaftler in diesem Gre- mium mit ihrer Minderheitenmeinung dennoch Recht ha- ben? Die Zweifel an der Unabhängigkeit des Gremiums von der Agrogentechniklobby existieren ja, und es war immerhin das erste Mal, dass es überhaupt kritische Positionen dokumentiert wurden. Risikoverstärkend kommt hinzu, dass die Amflora nicht nur für den Anbau und die industrielle Verarbeitung zugelassen wurde, sondern auch als Futtermittel. Und das ist keine theoretische Ver- wendung; denn der Reststoff der Stärkeverarbeitung – die sogenannte Pulpe – wird oft als Futtermittel verwendet. Damit aber gelangt die gentechnisch veränderte Kartoffel indirekt auch in die Nahrungsmittelkette. Und die Kartof- fel ist ohnehin nicht kontrollierbar. Zum Beispiel können nach Schätzungen je nach Witterungsbedingungen 10 000 bis 35 000 Kartoffeln auf dem Acker zurückbleiben. Und was passiert eigentlich, wenn Wildscheine diese Kartof- feln fressen? Es gibt ein weiteres untrügliches Zeichen, dass selbst die EU-Kommission unterdessen weiß, dass eine Tren- nung zwischen konventionellen und gentechnisch verän- derten Kartoffeln auf Dauer entweder nicht sicher ist oder zu teuer wird. Sie hat gleich noch die Verunreini- gung von Lebensmittelkartoffeln mit der Amflora bis zu 0,9 Prozent erlaubt. Also 9 von 1 000 Kartoffeln dürfen gentechnisch verändert sein, und trotzdem kann die Ware als gentechnikfrei verkauft werden. Ob das im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ist? Ich wage es zu bezweifeln. Noch kritischer ist, dass die Bundesregierung nicht einmal bereit ist, die nötigen – und gesetzlich vorge- schriebenen – Regeln für den Anbau zu erlassen, die we- nigstens ein Minimum an Schutz für die gentechnikfrei wirtschaftende Landwirtschaft herstellen könnten. Das zumindest hat mir die Bundesregierung gestern in der Fragestunde geantwortet. Fazit: Die Koalition und die EU-Kommission gehen ein hohes Risiko ein für eine gentechnich veränderte Kartoffel, die niemand braucht und niemand will. Das ist vermutlich sehr gut für die BASF, aber schlecht für die gentechnikfrei wirtschaftende Landwirtschaft. Damit ist aber auch klar: Der Wille der Verbraucherinnen und Ver- braucher ist für diese Koalition in dieser Frage ohnehin irrelevant. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung muss den Anbau der Genkartoffel Am- flora stoppen, weil die Verschmutzung von Lebens- und Futtermitteln nicht wirksam ausgeschlossen werden kann. Auch der Landwirtschaftsminister von Mecklen- burg-Vorpommern, Till Backhaus, fordert ein Anbauver- 3294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) bot. Obwohl Amflora Anfang März zugelassen und ihr Anbau auf 20 Hektar in Mecklenburg-Vorpommern vor Monaten angemeldet wurde, hat die Bundesregierung keine gesetzlichen Regeln zum Schutz der gentechnik- freien Produktion erlassen. Damit wird die Zusage ge- brochen, welche die Bundesregierung 2007 in einer Pro- tokollnotiz bei der Zustimmung zur Amflora im Ministerrat abgeben hat. In der Protokollerklärung der deutschen Delegation vom 16. Juli 2007 anlässlich der Abstimmung im Rat der EU – Landwirtschaft und Fi- scherei – über die Zulassung von Amflora heißt es unter anderem: Deutschland wird unter Beteiligung aller interes- sierter Kreise sehr sorgfältig analysieren, welche konkreten Anforderungen für den Anbau, die Lage- rung, den Transport und den sonstigen Umgang so- wie die Weiterverarbeitung dieser gentechnisch veränderten Kartoffel aufgestellt werden müssen … Dazu werden wir in Deutschland Regeln der Guten fachlichen Praxis entwickeln, um in jedem denkba- ren Fall beim Anbau die Koexistenz mit nicht gen- technisch veränderten Kartoffeln zu sichern … so- wie Kontaminationen von Futtermitteln und Lebensmitteln in der weiteren Vermarktungskette zuverlässig zu vermeiden. Wir verlangen von der Bundesregierung und Ministe- rin Aigner, dass sie diese Zusage einhalten und umgehend entsprechende Regeln zur guten fachlichen Praxis vorle- gen. Statt ihren Schutz- und Vorsorgepflichten nachzu- kommen, hat die schwarz-gelbe Regierung die Zulassung von Amflora begrüßt. Schon im Koalitionsvertrag hat Schwarz-Gelb kostenloses Product Placement für das BASF-Produkt gemacht. Während Ministerin Aigner in Sonntagsreden die gentechnikfreien Regionen unter- stützt, tut sie nichts, um deren rechtliche Position zu stär- ken. Wie ein Gutachten der Grünen-Bundestagsfraktion aus dem Sommer 2009 zeigt, wäre dies mit einer einfa- chen Änderung des deutschen Gentechnikgesetzes mög- lich. Über die nationalen Verbote hinaus fordern wir Grüne die Bundesregierung auf, gegen die Zulassung von Am- flora vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen; denn ihre Zulassung widerspricht dem EU-Recht. Amflora enthält Resistenzgene gegen die Antibiotika Kanamycin und Neomycin, die laut der Weltgesundheitsorganisation WHO und der EU-Arzneimittelbehörde EMEA von the- rapeutischer Bedeutung für Menschen sind. Nach der EU-Freisetzungsrichtlinie dürfen aber seit 2009 keine Gentechniksorten mit Antiobiotika-Markern mehr zuge- lassen werden. Und selbst nach Meinung einiger Exper- ten der – sonst nicht gerade gentechnikkritischen – euro- päischen Lebensmittelzulassungsbehörde EFSA sind Verbreitungen dieser Antibiotikaresistenzen in der Um- welt und damit schädliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt nicht auszuschließen. Das Bundesamt für Naturschutz hat sich in den letzten Jahren mehrmals ge- gen Amflora-Freisetzungen ausgesprochen. Auch Ita- lien, Frankreich, Österreich und Griechenland haben die Zulassung kritisiert und prüfen Möglichkeiten, den An- bau zu unterbinden. Zudem ist es unverantwortlich, dass Amflora eine Verschmutzungslizenz von 0,9 Prozent für Lebensmittel erhalten hat, obwohl für diese Verwendung keine Sicherheitsbewertung existiert – ein fragwürdiges Novum im EU-Gentechnikrecht. Eine Vermischung mit gentechnikfreien Kartoffeln bei Anbau, Transport und Verarbeitung ist in der Praxis kaum zu vermeiden. Bundesregierung und EU-Kommission bleiben dazu Antworten auf wichtige Fragen schuldig: Wer stellt si- cher, dass auf Amflora-Äckern nicht aus Unwissenheit „gestoppelt“ wird und damit Amflora direkt verzehrt wird? Wie sollen die bereits jetzt überlasteten Kontroll- behörden in der Praxis denn lückenlos überprüfen, ob in den Produktionsprozessen Verschmutzungen auftreten? Und wer haftet, wenn der Schwellenwert von 0,9 Pro- zent überschritten wird? Wie groß sind die Abstände und welche Sorgfaltspflichten bestehen? Die Zulassung der Genkartoffel schadet der heimi- schen Wirtschaft und verteuert für Produzenten und Ver- braucher die Speisekartoffeln als wichtiges Grundnah- rungsmittel. Aktuell werden Kosten in Milliardenhöhe durch Maßnahmen zur Vermeidung von gentechnischen Kontaminationen und durch weltweite Schäden auf- grund von Verunreinigungen mit illegalen Gentechnik- pflanzen verursacht, wie beispielsweise gerade bei Reis sowie Leinsamen in Müslimischungen. Wir fordern, dass diese Kosten von den Verursachern getragen und nicht den Landwirten, Verarbeitern, Steuerzahlern und Verbrauchern aufgebürdet werden. Auch die Stärkeindustrie hat nach eigenen Angaben kein Interesse an Amflora, weil es zwei konventionelle Alternativen von den Firmen AVEBE und Bioplant/Ems- land Group gibt. Anders als bei der Amflora drohen hier der Stärkeindustrie keine Mehrkosten durch Überwa- chungsanforderungen, getrennte Lagerung und erhöhte Transportkosten. Sogar der Bauernverband bezeichnet Amflora als „sehr alte Sorte“. Die Zulassung von Am- flora ist nichts als ein Kniefall der EU-Kommision und der Bundesregierung vor der BASF. Amflora ist keine dolle, sondern eine olle Knolle aus der Gentechnikmot- tenkiste, die niemand braucht. Anlage 12 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Antrags: Modernisierungs- partnerschaft mit Russland – Gemeinsame Si- cherheit in Europa durch stärkere Kooperation und Verflechtung (Tagesordnungspunkt 13) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Deutschland und Russland stehen heute vor Herausforderungen, die neue Wege zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft er- fordern. Es gibt inzwischen eine gute Basis für eine er- folgreiche Intensivierung der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland bzw. zwischen Russland und der Europäischen Union. Der amerikanische Präsident verfolgt die Lösung globaler Probleme mit einem neuen, kooperativen Ansatz; dazu gehört auch die Wiederbele- bung der strategischen Partnerschaft mit Russland. Der Vertrag von Lissabon macht die EU handlungsfähiger Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3295 (A) (C) (D)(B) und lässt uns eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland anstreben. Die NATO sieht neue Kooperations- felder mit Russland, die das Verhältnis zu Russland grundlegend erneuern können. Mit Interesse nehmen wir die Initiativen von Präsi- dent Medwedjew wahr, der die Modernisierung Russ- lands in den Mittelpunkt seiner Politik gerückt hat. Mit viel Mut zur Offenheit hat er gezielt Schwachstellen auf- gezeigt, die die Stabilität und den Erfolg der russischen Gesellschaft bedrohen. Zugleich hat er an die Verant- wortung der Bürgerinnen und Bürger appelliert, sich nicht ins Private zurückzuziehen. Eine Änderung zum Besseren kann aber nur eintreten, wenn die Möglichkeit besteht, Probleme offen zu diskutieren. Dies setzt Mei- nungs- und Pressefreiheit voraus. Wir werden ihn dafür beim Wort nehmen. Wir bieten Russland eine Partnerschaft an. Russland hat in seiner Geschichte einen langen und schwierigen Weg hinter sich gebracht. Wenn es heute unseren euro- päischen Wertekanon teilt, können wir ein neues Niveau in der Zusammenarbeit erreichen. Dabei können wir auf guten Grundlagen aufbauen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind eng und vertrauensvoll. Deutschland und Russland sind heute gegenseitig die wichtigsten Handelspartner. Deutschland ist der wich- tigste ausländische Investor in Russland. Über 4 000 deutsche Unternehmen sind in Russland aktiv. Der russi- sche Präsident hat sich zu einer WTO-Mitgliedschaft Russlands bekannt und damit gezeigt, dass ihm die Inte- gration in die internationalen wirtschaftlichen Strukturen wichtig ist. Dies ist ein richtiger Schritt in Richtung Di- versifizierung der russischen Wirtschaft. Die Annähe- rung zwischen Russland und Deutschland und zwischen Russland und der Europäischen Union muss fortgeführt werden. Von seiner Geschichte, seiner Geografie und seiner Kultur her ist Russland ein Teil Europas. Auch Russland betont seinen Anspruch, Teil der europäischen Familie zu sein. Fakt ist: Russland und Europa gehören zusammen. In der Zwischenzeit müssen wir die Möglichkeiten nutzen, die uns durch unsere enge Nachbarschaft gege- ben sind. Deutschland hat mit Russland bereits 2008 eine Modernisierungspartnerschaft vereinbart. Der Prä- sident der Europäischen Kommission, Barroso, hat das jetzt aufgegriffen. Spanien will dies zu einem Schwer- punkt seiner EU-Präsidentschaft machen. Wir unterstüt- zen dieses Ansinnen nachdrücklich. Es geht aber nicht nur um eine engere Integration unserer Wirtschafts- räume, sondern auch um einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. In diesem Kontext spielt die Politik der östlichen Partnerschaft der EU eine wichtige Rolle. Sie birgt Po- tenzial für die künftige Zusammenarbeit mit den Ländern unserer gemeinsamen Nachbarschaft, an deren Stabilität Russland und die EU-Mitgliedstaaten ein dringendes In- teresse haben. Zugleich hoffen wir, dass die russischen Eliten den notwendigen Willen zur Veränderung aufbrin- gen werden. Dabei setzen wir auf drei Faktoren: den Pragmatismus der Eliten, das Potenzial der russischen Gesellschaft und die Einsicht, dass alles andere Russland keine Zukunftsperspektive bietet. Die zunehmend diffe- renzierte und offen geführte Debatte über die Ausrich- tung der russischen Politik zeugt von einer wachsenden Bereitschaft, den Realitäten ins Gesicht zu sehen: den Grenzen der „Rohstoffmacht“ Russland, den Defiziten und Strukturmängeln der russischen Wirtschaft und der Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Reformen. Nüchternheit und Realismus sprechen auch aus der neuen Sicherheitsstrategie; sie sind die beste Basis für neues und pragmatisches Denken. Immer mehr Men- schen scheinen zu verstehen, dass Russland als „einsame Macht“ seine Stellung in der Welt nicht behaupten kann. Es ist an dieser Stelle wichtig hervorzuheben, dass sich die bisherige Erweiterung der Europäischen Union und der NATO nicht gegen Russland richtet. Im Gegenteil: Die neuen Mitgliedstaaten erfahren einen Zuwachs an Stabilität, der sich auch für Russland positiv auswirkt: als Nachbar, als Investor und als Handelspartner. Zudem haben wir nützliche Instrumente für den strategischen Dialog mit Russland entwickelt: den NATO-Russland- Rat und das neu zu verhandelnde Partnerschaftsabkom- men mit der EU. Dabei müssen wir uns dringend von der Denkweise der vergangenen Jahrhunderte lösen. Das gilt nicht nur für Russland, sondern auch für die EU. Ein sol- ches Schubladendenken ist falsch und gefährlich. Der Vorschlag Präsident Medwedjews für einen europäi- schen Sicherheitsvertrag ist ein wichtiges Signal und zeigt uns: Russland möchte bei Fragen, die seine Sicher- heitsinteressen berührt, von uns gehört werden. Deutsch- land hat Interesse an einer kooperativen europäischen Si- cherheitsarchitektur, in der Russland ein Partner ist. Deshalb sollten wir die Vorschläge von Präsident Med- wedjew konstruktiv aufgreifen. Es geht darum, die euro- päische Sicherheit und das gegenseitige Vertrauen um- fassend zu stärken. Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit im NATO- Russland-Rat im vergangenen Dezember war ein wichti- ger Schritt zur Vertrauensbildung. Weitere vertrauensbil- dende Maßnahmen für die Zukunft sollten folgen, so zum Beispiel die Aufwertung des NATO-Russland-Ra- tes oder gemeinsame Übungen der NATO-Partner mit Russland. Wir wollen den Dialog mit Russland intensi- vieren und unsere Zusammenarbeit ausweiten, wo ge- meinsame Interessen berührt sind. Ganz konkret zeigt sich das bereits beim gemeinsamen Kampf gegen die Pi- raterie an der afrikanischen Ostküste und im NATO-Ein- satz zur Stabilisierung Afghanistans. Aber auch hier gibt es noch Raum für eine weitere Verstärkung unserer Zu- sammenarbeit. Ein weiteres wichtiges Thema bei der Zusammenar- beit zwischen der NATO und Russland ist der Bereich der Raketenabwehr. Die Bedrohungen, die von der Pro- liferation von Massenvernichtungswaffen und deren Trä- gersystemen in manchen Regionen des Nahen Ostens ausgeht, betreffen Russland und Europa gleichermaßen. Um dieser Bedrohung effektiv zu begegnen und unsere gemeinsame Sicherheit zu stärken, bedarf es einer engen Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO. Ins- besondere im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüs- tung sind drängende Probleme zu lösen. Die Bemühun- gen der USA und Russland, zu einem neuen – deutlich niedrigeren – strategischen atomaren Gleichgewicht zu finden, sind begrüßenswert. Die Präsidenten der USA 3296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) und Russlands haben bereits zu erkennen gegeben, dass sie das Nachfolgeabkommen für den im Dezember aus- gelaufenen START-I-Vertrag sogar noch im April 2010 in Prag besiegeln werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Wir unterstützen diese Bemühungen nachdrücklich. Es bleibt zu wünschen, dass der Abschluss der Ver- handlungen zwischen Russland und den USA über die weitere Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen den Auftakt für weitere Abrüstungsschritte im substrate- gischen Bereich bildet. Es wäre ein wichtiger Impuls für ein Jahrzehnt der Abrüstung und könnte langfristig eine tragende Stütze für eine globale Sicherheitsarchitektur sein. Dazu gehört auch, dass wir das substrategische Nu- klearpotenzial in Deutschland abbauen. 20 Jahre nach dem Mauerfall muss es erlaubt sein, ein Relikt des Kal- ten Krieges abzuschaffen. Dies darf selbstverständlich nicht einseitig, sondern nur in enger Konsultation mit unseren Partnern in der NATO und mit Russland erfol- gen. Genauso bedeutend ist es, im Bereich der konventio- nellen Abrüstung weiter voranzukommen. Der KSE- Vertrag ist ein wesentlicher, völkerrechtlich verbindli- cher Eckpfeiler der europäischen Sicherheit. Er ist eine wichtige Vertrauensbasis für eine langfristige Vertiefung der sicherheitspolitischen Partnerschaft mit Russland. Ein umfassende Rüstungskontrolle funktioniert aber nur, wenn alle betroffenen Staaten ihren vertraglichen Ver- pflichtungen nachkommen. Mehr Transparenz kann hier das nötige Vertrauen schaffen. Es ist unsere Aufgabe, neue Lösungsansätze zu finden, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise des KSE-Vertrages zu finden. Die Weiterentwicklung des KSE-Vertrages auf der Grundlage des noch zu ratifizierenden Anpassungsab- kommens ist alternativlos. Hier bildet die OSZE das wichtigste Forum für die Entwicklung neuer Lösungsansätze. Es ist zu begrüßen, dass sich Minister Lawrow klar zum Korfu-Prozess be- kannt hat. Die substanzielle Stärkung der Konfliktlö- sungsmechanismen in der OSZE muss offen diskutiert werden. Der Korfu-Prozess schafft zwar mehr Zusam- menarbeit, bringt aber noch keinen echten Sicherheitsge- winn für Europa. Diese Defizite der europäischen Sicherheitsordnung gilt es nun zu benennen und auszu- räumen. Es muss uns gelingen, den Korfu-Prozess auf eine konkrete Agenda zu fokussieren, ohne den OSZE- Acquis zu unterhöhlen. Die Wiederbelebung der kon- ventionellen Rüstungskontrolle ist hier ein längst fälliges Thema, das im Zuge der amerikanischen Reset-Politik gegenüber Russland dringend weiter verfolgt werden muss. In diesen Kontext gehört auch die Debatte über eine strategische Neuausrichtung der NATO. Wir sollten uns die Frage stellen, welche Rolle Russland in Europa spielt. Auf absehbare Zeit ist nicht mit einem Aufnahme- antrag zu rechnen. Die Zukunft der NATO hängt maß- geblich von der Frage ab, wie Russland eingebunden werden kann. Die NATO ist dieser Herausforderung in ihren jetzigen Strukturen nicht gewachsen. Das Bündnis könnte hier die Chance ergreifen, das Primärforum für die Behandlung aller krisenhaften Entwicklungen zu sein, weil nur dort Amerika, Europa und Russland an ei- nem Tisch sitzen. Voraussetzung dafür ist, dass die NATO die Tür zum Beitritt Russlands nicht dauerhaft verschließt. Russland wiederum müsste bereit sein, die Pflichten und Rechte eines NATO-Mitglieds als Gleicher unter Gleichen wahrzunehmen. In den vergangenen Jahren hat die NATO ihre Tore für den Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten geöff- net. Russland wiederum hat das „Feindbild“ NATO gern gepflegt und Chancen vertan. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bereitschaft der NATO-Staaten, mit Russland kooperative Ansätze in der Sicherheitspolitik zu entwickeln, immer mehr verlorengegangen ist. Nach wie vor gibt es im Bündnis keinen Konsens in der Frage, wie mit Russland umzugehen ist. Für uns gilt: Sicherheit in und für Europa gibt es nur mit und nicht gegen Russ- land. Die transatlantische Gemeinschaft braucht Russ- land. Die Gründe dafür sind vielseitig: für Energiesi- cherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle, für die Verhinderung von Proliferation, für Lösungen der Pro- bleme in Iran, Afghanistan und im Nahost-Konflikt, aber auch für die Meinungsbildung und Entschlussfassung im UN-Sicherheitsrat. Die NATO wird sich darüber klar werden müssen, wie und welchen Platz Russland in der euroatlantischen Gemeinschaft einnehmen soll. Die Bündnispartner müssen sich darüber auseinandersetzen und konkrete Zwischenschritte definieren. Der Abzug amerikanischer Nuklearwaffen aus Europa und die Rücküberführung aller russischen Nuklearwaffen in zen- trale Lagerstätten könnten ein erster gemeinsamer Schritt sein. Der Aufbau eines gemeinsamen Raketenab- wehrsystems zum Schutz des NATO-Vertragsgebietes und Russlands könnte ebenfalls eine Option sein. Der Weg zur Beitrittsperspektive für Russland ist lang, aber logisch. Am Anfang stehen das Ziel der Außenpolitik, der gemeinsame Blick auf Bedrohungen und die geteil- ten Werte. Unsere Offenheit gegenüber Russland ist ebenso notwendig wie Russlands eigenes Engagement. Die transatlantische Bindung zwischen Europa und Amerika ist unersetzlich und wertvoll. Die NATO steht als Garant für Sicherheit und Werte gegen Herausforde- rungen, die nicht an Grenzen gebunden sind. Es bleibt zu wünschen, dass der bevorstehende Abschluss der Ver- handlungen zwischen Russland und den USA über die weitere Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen den Auftakt für weitere Abrüstungsschritte im substrate- gischen Bereich bildet. Es wäre ein wichtiger Impuls für ein Jahrzehnt der Abrüstung und könnte langfristig eine tragende Stütze für eine globale Sicherheitsarchitektur sein. Bilateral und als Mitglied der EU wird Deutschland seinen Beitrag dazu leisten. Franz Thönnes (SPD): Im vergangenen Jahr haben wir 20 Jahre deutsche Einheit gefeiert. Dieses Jubiläum hat uns an die „friedliche Revolution“ des Jahres 1989 und an die Wiedervereinigung Deutschlands in vielen würdevollen Veranstaltungen erinnert. Dieses Resultat der Wiedervereinigung ist natürlich zuallererst den Men- schen zu verdanken, die sich mit ihrer ganzen Kraft friedlich für Freiheit und Demokratie mit einer Vielzahl Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3297 (A) (C) (D)(B) von Aktivitäten damals in den verschiedensten Bürger- bewegungen eingesetzt haben. Aber sie ist auch das Er- gebnis eines historischen Prozesses, den die Bundesre- gierungen unter Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl maßgeblich mit gestaltet und beeinflusst haben. Unstrittig ist es, so glaube ich unter uns, dass ohne die Westalliierten, aber eben doch noch stärker ohne die Zu- stimmung Russlands, diese Einheit nicht zustande ge- kommen wäre. Und ebenso unstrittig ist es, glaube ich, dass die Weiterentwicklung der europäischen Einigung ohne die positive Haltung Russlands nicht vorstellbar ist. Und auch die Bewältigung unserer gemeinsamen He- rausforderungen in Europa ist ohne Russland nicht vor- stellbar. Es geht um die Nichtverbreitung von Massenvernich- tungswaffen, es geht um den Kampf gegen den interna- tionalen Terrorismus, die Bekämpfung von Drogen- und Menschenhandel. Es geht um eine sichere und nachhal- tige Energieversorgung, es geht um den Schutz unserer Umwelt und um wirksame politische Entscheidungen und Maßnahmen zum Klimawandel. Kurzum, es geht um Sicherheit, Frieden und eine nachhaltige Entwick- lung in unserem gemeinsamen Arbeits- und Lebensbe- reich auf der Erdkugel. Russland und Deutschland sind durch zahlreiche ge- meinsame Erfahrungen und Traditionen eng miteinander verbunden. Da sind die schrecklichen Kriege auf unse- rem Kontinent. Da sind aber auch die bedeutenden Ab- schnitte und gemeinsam eingeschlagenen Wege zu ei- nem geeinten und friedlichen Europa. Und darauf aufbauend wächst mehr und mehr die Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Verflechtungen und die vorherr- schenden Konflikte in unseren Nachbarregionen nur ge- meinsam beantwortet werden können. Wer Sicherheit und Stabilität in Europa will, der muss dafür arbeiten, dass es konstruktive und kooperative Be- ziehungen zu Russland gibt. Im Rahmen der „strategi- schen Partnerschaft“, die von Deutschland und der EU angestrebt wird, steht daher die gemeinsame Lösung globaler Fragen und die Zusammenarbeit auf allen Fel- dern von Politik, Recht, Wirtschaft, Kultur und Wissen- schaft ebenso wie die friedliche Bewältigung regionaler Krisen und Konflikte im Zentrum. Auch Russland selbst steht vor großen Herausforde- rungen. Präsident Dmitrij Medwedjew hat dies erkannt. Seit Beginn seiner nun knapp zwei Jahre bestehenden Amts- zeit hat er neue Markierungen in der Innen- und Außen- politik dargestellt. Bereits im November 2008 hat er ein umfassendes und ambitioniertes Programm innerer Reformen präsen- tiert. Die Bürokratie stand dabei im Mittelpunkt seiner Kritik. Wie ein Hemmschuh wirke sie, wenn es auf ef- fektiven Wandel in Staat und Gesellschaft ankäme. Frei- heiten des Einzelnen und autonomes Handeln würden massiv eingeschränkt werden und behinderten damit die künftige Innovations- und Entwicklungsfähigkeit Russ- lands. Er kündigte eine Kampagne zur Korruptionsbe- kämpfung und gegen „Rechtsnihilismus“ an. Als seine politischen Schwerpunkte nannte er die Reform der rus- sischen Justiz sowie der Verwaltung und die Durchset- zung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Schon davor im Juni 2008 suchte der russische Präsi- dent die Unterstützung Westeuropas und der USA für seine Reformen. Hier, in unserer Hauptstadt, machte er den Vorschlag für Gespräche über eine neue „Europäi- sche Sicherheitsordnung“. Diese mündeten schließlich in eine Debatte über die Reform der OSZE. Im weiteren Verlauf der politischen Entwicklungen legte der russi- sche Präsident schließlich im November 2009 einen Textvorschlag für einen „Europäischen Sicherheitsver- trag“ vor. Neben der Bekräftigung völkerrechtlicher Grundprinzipien der UN-Charta und der KSZE-Charta von Paris enthält der Vorschlag einige Ideen für Konsul- tationsverfahren in Krisensituationen. Wir sollten ihn als Einladung für zielgerichtete Verhandlungen über effekti- vere Formen kooperativer Sicherheit in Europa verste- hen und dies auch so zu praktischem Handeln bringen. Beim ersten Gipfeltreffen von US-Präsident Obama und dem russsichen Präsidenten Medwedjew wurde deutlich, dass die amerikanische Regierung nach einem konstruktiven Neuanfang in den bilateralen Beziehungen sucht. In London wurde im April 2009 neben den gemeinsa- men Aktivitäten zur Bewältigung der internationalen Fi- nanzkrise im Rahmen der G 20 eine anspruchsvolle Agenda für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle vereinbart. Und im Sommer 2009 folgte in Moskau die Festlegung von Parametern eines START-I-Nachfolge- abkommens. Leider war es trotz engagierter Bemühun- gen nicht möglich, ein Folgeabkommen vor dem Aus- laufen des Vertrages Ende 2009 zu vereinbaren. Aktuelle Auseinandersetzungen über die Raketenabwehr stellen sogar eine Unterzeichnung vor Beginn der Überprü- fungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages, NVV, im Mai 2010 infrage. Und dennoch bildet die beschrie- bene Entwicklung eine gute Basis für die Zusammenar- beit zwischen Russland und Deutschland, der Europäi- schen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika. Seit langem drängt die EU auf einen qualitativen Ausbau der Zusammenarbeit mit Russland. Vier „Gemeinsame Räume“ sollen geschaffen werden: Wirtschaft; äußere Sicherheit; Recht und innere Sicherheit sowie For- schung, Bildung, Kultur. Seit Herbst 2008 wird wieder über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkom- men verhandelt. Bereits kurz nachdem Medwedjew Anfang 2008 deutlich gemacht hatte, wie wichtig ihm die Stärkung des Rechtsstaates, die Verwaltungsreform, die Unterstüt- zung wirtschaftlicher Entwicklung und umfassende Bil- dungsinitiativen sind, hat der ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit dem Angebot einer umfas- senden „Modernisierungspartnerschaft“ geantwortet. Wenn Russland die bestehenden und künftigen He- rausforderungen bewältigen will, muss der Staat seine wirtschaftliche, soziale und politische Leistungsfähig- keit steigern. 3298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) Da werden in verschiedenen Themenfeldern weitere ermutigende Fortschritte gemacht. So legte Medwedjew im April 2009 einen Vorschlag für eine potentiell welt- weit anwendbare Energiecharta vor. Bezüge zu der von der EU und den USA favorisierten Europäischen Ener- giecharta, die die russische Vorgängerregierung noch ab- lehnte, sind klar erkennbar. Nach der Wahl von Wiktor Janukowitsch zum Präsi- denten der Ukraine steht nun ein Plan zur Bildung eines trilateralen Konsortiums zur Leitung und Modernisie- rung des ukrainischen Gastransportwesens auf der Ta- gesordnung. Wenn es gelingt, eine dauerhafte Zusam- menarbeit zwischen Russland, der Ukraine und der EU in diesem zentralen Sektor zu etablieren, wäre dies ein wichtiger Pfeiler der europäischen Sicherheit. In der russischen Innenpolitik ist ebenfalls einiges in Gang gekommen, das bereits in verschiedenen Berei- chen zu ersten positiven Veränderungen geführt hat. Dazu gehören die von Medwedjew veranlasste Überprü- fung der Strafgesetze gegen Spionage sowie der Medien- gesetze. Und ebenso die Ratifizierung des Zusatzproto- kolls 14 zur Europäischen Menschenrechtskonvention durch Duma und Präsident am 15. Januar 2010. Im letzten Monat haben Wissenschaftler aus dem dem Präsidenten nahestehenden „Institut für moderne Ent- wicklung“, INSOR, eine Studie mit dem Titel „Russland im 21. Jahrhundert – eine Vision für die Zukunft“ vorge- stellt. In Berlin erfolgte dies bei der Friedrich-Ebert-Stif- tung. In Russland ist über diese Studie bereits eine kon- troverse innenpolitische Debatte entstanden, denn die Autoren unter Leitung des Direktors Igor Jürgens wer- ben darin für grundlegende Reformen in Politik, Wirt- schaft und Gesellschaft: unter anderem für die Zulassung echter politischer Konkurrenz, Wahlrechtsreformen, Di- rektwahl der Gouverneure, Entbürokratisierung der Wirtschaft und eine Umstrukturierung und Dezentrali- sierung der Sicherheitsorgane einschließlich der Auflö- sung des Innenministeriums und des Geheimdienstes FSB in seiner heutigen Form. Außenpolitisch wird gar die russische Mitgliedschaft in NATO sowie EU ins Auge gefasst. Deutschland hat ein großes Interesse am Gelingen der inneren Reformen in Russland und an einer vertrauens- vollen Kooperation. Wir sind in vielen außenpolitischen Fragen sowie vor allem bei der Bewältigung der interna- tionalen Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Zusam- menarbeit mit Russland angewiesen. Die Regulierung der internationalen Finanzmärkte, wie sie im Rahmen der G-20-Verhandlungen betrieben wird, spielt dabei ebenso eine Rolle wie die innere Stabilisierung in Russ- land. Deshalb fordert die SPD eine umfassende Moder- nisierungspartnerschaft mit Russland. Sie wird gleich- zeitig ein Prüfstein für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, der Europäischen Union sein. Darum ist auch eine EU-Ostpolitik „aus einem Guss“ nowendig, in der die Initiativen „östliche Partnerschaft“ und die Schwarzmeer-Synergie sowie die Ostsee- und Zentralasienstrategie abgestimmt sind. Vor diesem Hintergrund hat die SPD-Bundestagsfrak- tion in ihrem Antrag zur Modernisierungspartnerschaft mit Russland 15 Forderungen an die Bundesregierung zusammengefasst. Sie erstrecken sich von der Aufforde- rung, im Rahmen von EU, NATO und OSZE Initiativen für eine ernsthafte Debatte und eine gemeinsame Stel- lungnahme zum Vorschlag des russischen Präsidenten für einen „Europäischen Sicherheitsvertrag“ vom No- vember 2009 zu ergreifen, über die Auseinandersetzung mit dem russischen Vorschlag für eine weltweite Ener- giecharta vom April 2009, der Reform der OSZE, der In- tensivierung der Arbeiten im NATO-Russland-Rat, dem Drängen nach Unterzeichnung des START-I-Nachfolge- abkommens sowie der Aufforderung zur Werbung für eine kooperative und vertragsgestützte Lösung bei der Errichtung eines Raketenabwehrsystems in Europa und die Begrenzung solcher Systeme auf globaler Ebene, verschiedener vertrauensbildender politischer Verträge im militärischen Bereich bis hin zu Forderungen, die den wirtschaftlichen Bereich und die Ratifizierung des 6. Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonven- tion zum Verbot der Todesstrafe durch Russland betref- fen. Alles berechtigte Forderungen für den Aufbau einer umfassenden Modernisierungspartnerschaft mit Russ- land, die gerade für uns Deutsche von einem zentralen Interesse sein muss. Ein stabiles Russland wird letztend- lich auch ein Partner für unser Land und die EU sein, der sich durch Zuverlässigkeit und Verantwortung für Si- cherheit und Stabilität in Europa auszeichnet. Deshalb bitte ich um Unterstützung für unseren Antrag. Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Wir sind uns als FDP der wachsenden Notwendigkeit einer weiteren zukunfts- orientierten Entwicklung der bilateralen Beziehungen sowohl zwischen Russland und der Bundesrepublik Deutschland als auch zwischen Russland und der Euro- päischen Union bewusst. Die Ausweitung und Vertie- fung der Partnerschaft im Bereich der Modernisierung ist von zunehmender politischer und praktischer Bedeu- tung. Wir freuen uns, dass die SPD hier das Thema mit der Absicht aufgreift, zusätzliche Impulse zu einer ver- stärkten Zusammenarbeit zu vermitteln. Wir sind uns, denke ich, auch einig, dass der Dialog und das gegensei- tige Verständnis gefördert werden sollen. Daher müssen wir die Fortschritte und Hindernisse in den Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union im Deutschen Bundestag offen diskutieren. Der Antrag der SPD enthält zahlreiche sinnvolle For- derungen, um die Zusammenarbeit mit Russland auf dem Weg zur Modernisierung weiterzubringen. Jedoch sehe ich folgende klare Defizite: Zum einen enthält der Antrag leider keine klare Beschreibung der derzeitigen Zustände in Russland. Schon in seiner letzten Jahresbot- schaft im November 2009 ging der russische Präsident mit den Zuständen in seinem eigenen Land und mit den verantwortlichen Akteuren hart ins Gericht. Er selbst hat schon die russische Bevölkerung in klaren, in unmiss- verständlichen Worten mit den beklagenswerten Defizi- ten in vielen Bereichen konfrontiert. Davon möchte ich beispielhaft nur einige nennen: So kritisierte er den un- genügenden politischen Pluralismus im Parteiensystem und warf den Behörden die Schikane der Opposition vor. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3299 (A) (C) (D)(B) Die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Ver- sammlungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit werden in Russland unterdrückt. Es herrschen Korruption und feh- lende Rechtssicherheit. Die Polizei fällt durch Gewalt und Willkür auf. Und diese erschreckende Bestandsauf- nahme nehme nicht ich persönlich vor. Sie wurde vom obersten russischen Repräsentanten verfasst. Und er fährt exakt so fort: Die Wehrpflichtigen in den Streit- kräften werden missbraucht; die Infrastruktur ist veral- tet. Wir sehen große Defizite in den militärischen Fähig- keiten der Armee. Zudem gibt es rassistisch motivierte, offiziell als „Hooliganismus“ abgetane Übergriffe, ins- besondere gegen aus dem Kaukasus stammende Bevöl- kerungsteile. Diese Entwicklung macht vor keinem Be- reich halt. Wirtschaftlich ist Russland übermäßig abhängig von Rohstoffexporten. Der Dienstleistungs- und Industriesektor sind schlecht entwickelt. Der Mittelstand ist äußerst schwach ausgeprägt. Sie finden in Russland wenig Unternehmergeist. So können sich nicht ausreichend international wettbewerbsfähige Produkte entwickeln. Die Umweltverschmutzung ufert aus. Das Gesundheitssystem ist mangelhaft, und Alko- holismus ist immer noch weit verbreitet. Diese Faktoren führen zu sinkender Lebenserwartung der Menschen. Genau eine solche Zustandsbeschreibung müssen wir in einem Antrag zu einer Modernisierungspartnerschaft mit Russland doch aufgreifen. Zum anderen fehlen in dem Teil des Antrages, der die Forderungen des Antragstel- lers enthält, klare Vorschläge zur Verbesserung. Insbe- sondere erwarte ich Forderungen zur Verbesserung der politischen Defizite. Wir müssen klar artikulieren, wie wir uns eine Partnerschaft vorstellen, damit diese nicht einseitig wird. Es ist wichtig für die Partner, dass interne Missstände der Partnerländer beseitigt werden. Zumin- dest muss als solide Grundlage einer Zusammenarbeit der Wille vorhanden sein, die aufgezeigten Probleme auch anzupacken. Sie fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lediglich die Unterstützung des russischen Präsidenten bei seinem Bemühen. Das ist zu wenig für solch einen Antrag. Denn so werden die inter- nen Zustände in Russland nicht verbessert. Nicht nach- vollziehen können wir Ihre Forderung nach Ergreifung von Initiativen im Rahmen von EU, NATO und OSZE und die Forderung nach einer gemeinsamen Stellung- nahme zum Vorschlag für einen „Europäischen Sicher- heitsvertrag“. Dieses Vorgehen erinnert mich ein wenig an die Arbeitsvorgänge in meiner eigenen Küche. Sie kennen das inzwischen geflügelte Wort von den „vielen Köchen“ doch. Ergebnis: Sie verderben den Brei. So wird es zu äußerst unnötigen Reibungen und zur Läh- mung des gutgemeinten Vorschlages kommen, wenn sich diese Organisationen alle mit dem Thema befassen. Der Vorstoß von Medwedjew sollte im Rahmen des Korfu-Prozesses innerhalb der OSZE beraten werden. Dort gehört er hin. Alles andere ist nicht sinnvoll. In die- sem Antrag wird gefordert, dass sich der Westen mit ei- ner weltweiten Energiecharta befasst. Das ist der zweite Schritt, den Sie hier vor dem ersten setzen. Zunächst sollte Russland die mit der EU ausgehandelte Ener- giecharta ratifizieren. Dazu müssen wir erst einmal auf- fordern. In Ihrem Einleitungstext suggerieren Sie, dass nur die russische Vorgängerregierung diese Ratifikation ablehne. Lieber Herr Steinmeier, Sie sollten es doch bes- ser wissen. Das ist nicht der Fall. Die amtierende Regie- rung lehnt dies genauso ab. Zum KSE-Vertrag: Russland hat diesen einseitig aus- gesetzt. Das ist nicht in Ordnung. Der Vertrag muss ganz im Gegenteil gestärkt werden. Daher muss an dieser Stelle Russland besser aufgefordert werden, sich wieder zu den Verpflichtungen des geltenden KSE-Vertrags zu bekennen. Erstens ist eine Revision zum jetzigen Zeit- punkt nicht notwendig. Zweitens sollten wir als Deut- scher Bundestag nicht Russland auffordern, eigeninitia- tiv und einseitig ein neues Vertragswerk vorzuschlagen. Wir fordern Russland nicht auf, hier noch ein weiteres neues Fass aufzumachen. Ich komme nun zu meinem letzten Punkt, an dem die FDP von der im Antrag aufgezeigten Meinung stark ab- weicht. Hier wird gefordert, für eine Lösung bei der Errich- tung eines Raketenabwehrsystems zu werben. Solange die USA und Russland selbst kein Interesse an einem Nach- folgeabkommen zum gekündigten ABM-Vertrag zeigen, müssen wir uns in diesem Hause und seitens der Regie- rung auch nicht äußern. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich – das ist meine feste Meinung – bei dem Thema eines globalen Raketenabwehrsystems zurückhalten. Sie sehen, trotz seiner zahlreichen Stärken hat dieser Antrag deutliche Defizite. Einige davon habe ich hier dargelegt. Darüber wird nun in den Ausschüssen zu beraten sein. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Der vorliegende Antrag der SPD ist weder Fisch noch Fleisch. Er benennt ein richtiges und wichtiges Thema, aber seine Vor- schläge und Konsequenzen sind ideenlos. Insofern steht dieser Antrag in der Tradition der Regierungspolitik von Schwarz-Rot – auch diese war in der Russlandpolitik nicht besonders ideenvoll. Das ist nicht nur eine Feststel- lung von mir. Damit könnten Sie gut leben; das weiß ich. Aber blicken Sie einmal in die Spiegel-Ausgabe 10/ 2010: Volker Rühe, Ex-Verteidigungsminister, der ehe- malige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, und weitere konservative Außen- und Sicher- heitspolitiker engagieren sich dort für einen Beitritt Russlands zur NATO. Ich teile auch diese Konsequenz nicht, aber der Artikel ist schon aufsehenerregend. Die Autoren greifen auf Altbundeskanzler Helmut Schmidt zurück und referieren seine Feststellung, „dass viele der heute handelnden Politiker nur geringe Geschichtskennt- nisse haben“, und fügen selbst hinzu, „dass es einen er- schreckenden Kompetenzverlust für sicherheitspoliti- sche und strategische Fragen gibt“. Ihre Auffassung ist es, dass von Berlin „weder Meinungsführerschaft noch Impulse für die internationale Debatte“ ausgehen. Und sie fragen sich und die Öffentlichkeit, ob „die Deut- schen“ – wer immer das auch sein mag – „nicht mehr fä- hig sind, zukunftsweisende Beiträge einzubringen“. Wenn nicht Rühe, Naumann und die anderen Autoren ih- ren Artikel weit vor dem SPD-Antrag veröffentlicht hät- ten, so würde ich jetzt spotten, Sie müssten den SPD- Antrag gelesen haben. Spott allein reicht nicht aus. Ich will Ihnen meine Kritik an einem Punkt durchbuchsta- bieren. 3300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) Der Antrag spricht zu Recht von einer strategischen Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland. Das ist auch meine Position. Er erklärt aber an keiner Stelle die Inhalte dieser strategischen Partnerschaft. Wenn die Vorstellung über diese vertiefte Zusammenarbeit eine Blackbox bleibt, wird sie politisch nicht greifen. Strate- gische Partnerschaft ist mehr und vor allem etwas ande- res als die Strickjackenfreundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow oder die hemdsärmelige Kooperation zwi- schen Schröder und Putin. Keine Frage, das persönliche Verhältnis zwischen Regierungspolitikern Russlands und Deutschlands ist wichtig. Es ersetzt aber keine Politik. Der heutige Außenminister Westerwelle benutzt zwar ebenfalls gern den Begriff „strategische Partnerschaft“ – im Übrigen nicht nur für Russland –, aber er hat offen- sichtlich weder ein politisches noch emotionales Verhält- nis zu diesem europäischen Land. Strategische Partner- schaft muss sich in dem empirischen Verständnis gründen, dass Deutschland im vergangenen Jahrhundert zweimal gegenüber Russland bzw. der Sowjetunion Kriege vom Zaune gebrochen hat, die in einer Mensch- heitskatastrophe endeten. Wer Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa will, wird das nur mit Russland und nicht gegen Russland erreichen können. Von daher hätte ich mir gewünscht, dass die Vorschläge des russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew für ein neues System der Sicherheit in Europa positiver und diskussionsoffe- ner aufgenommen worden wären. Der Vorschlag von Volker Rühe und Kollegen, dass sich die NATO für eine Mitgliedschaft Russlands öffnen solle, ist gleichbedeutend damit, dass die NATO sich grundlegend umwandelt. Das halte ich für wenig wahr- scheinlich, aber ein Geflecht verschiedenster Verträge zwischen Russland und den NATO-Staaten in Europa könnte eine neue Art von Sicherheit mit sich bringen. Eine solche Sicherheitsarchitektur müsste auch im Inte- resse von Ländern wie der Ukraine, Belarus, Moldawien und den baltischen Staaten wie auch anderer liegen. Russland muss ein Interesse haben, gerade gegenüber kleineren Ländern in Osteuropa Furcht und Sorgen, die historisch begründet sind, abzubauen, und solche Länder wie die Ukraine oder auch Polen gewinnen mehr Sicher- heit, wenn sie sich als Brücke, nicht als Grenze zu Russ- land verstehen könnten. Noch immer gilt: Es soll nicht zu einer neuen Blockbildung in Europa kommen, bzw. die Grenzen zwischen Russland und den EU-Staaten müssen durchlässig gemacht werden. Das EU-Europa oder meinethalben die euro- atlantische Gemeinschaft braucht Russland aus vielen Gründen: Energiesicherheit, Abrüstung und Rüstungs- kontrolle, Lösung solcher Konflikte wie der Nahostaus- einandersetzung, die Beendigung des Krieges in Afgha- nistan, Verbesserung der Beziehungen zum Iran und vieles mehr. Solche Punkte inklusive des gegenseitigen wirtschaftlichen Interesses begründen eine strategische Partnerschaft und schaffen dafür einen denkbaren bzw. möglichen Rahmen. Wir begehen 2010 mehrere wichtige Jahrestage, die das deutsch-russische Verhältnis berühren, und zwar – und das zu allervorderst – den 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition über den deutschen Faschismus und der Beitrag der Sowjetunion dafür bleiben ein historisches Verdienst. Wir begehen den 35. Jahrestag der Konferenz von Hel- sinki. Die dort gefundene Sicherheitsarchitektur gäbe auch für das Heute viele Denk- und Handlungsanstöße. Weiterhin haben wir es mit dem 20. Jahrestag der deut- schen Einheit zu tun, und es wird niemand bestreiten können, dass auch die deutsche Einheit ohne Russland nicht zustande gekommen wäre. Diese Jahrestage sollten Denkanstoß für die Ausgestaltung des deutsch-russi- schen Verhältnisses sein. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Russland steht vor der Notwendigkeit einer ebenso tiefgreifenden wie dringenden Modernisierung. Diese kann nicht nur die Wirtschaft, ihre Struktur und ihre Mechanismen betreffen. Sie muss die ganze Gesell- schaft, darunter Justiz, Armee, Sicherheitsapparate, Par- teien- und Medienlandschaft, erfassen. Scheitert sie, dro- hen dramatische Folgen von wirtschaftlicher Lethargie über politischen Extremismus bis hin zum staatlichen Zerfall. Das Problem ist nicht neu. Schon vor 100 Jahren stand das Zarenreich vor einer ähnlichen Situation, als das Land, zusätzlich geschwächt vom Wüten des Ersten Weltkriegs, weder wirtschaftlich noch politisch den Weg aus dem Feudalstaat hin zu einer modernen Industriege- sellschaft fand. Schließlich kam es zum Stalinismus als einer Methode der nachholenden Modernisierung, die ausschließlich durch den Staat und mit brutalen Mitteln betrieben wurde. Der Preis, den das russische und alle anderen Völker der Sowjetunion für die Herrschaft einer terroristischen Modernisierungsdiktatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlen mussten, war extrem. Zwar wurde die Sowjetunion mit dem Sieg über den Na- tionalsozialismus zur Weltmacht. Aber diese Macht stand auf tönernen Füßen und brach schließlich wirt- schaftlich zusammen. Das politische System war nicht nur dem Industrialismus, es war dem Leben nicht ge- wachsen. Die offensichtlichen Defizite der heutigen, schon nicht mehr sozialistischen russischen Wirtschaft sind allgemein bekannt und auch in der russischen Füh- rung anerkannt. Doch wieder stellt sich die Frage nach dem Weg der Modernisierung und ihrem Ziel. Nach den Jahren der Jelzin’schen Reformexperimente, die zu mas- siven sozialen Verwerfungen und einer breiten Verunsi- cherung in Russland geführt hatten, wurde Putins Kon- zept der starken Hand fast einhellig begrüßt. Sein Ziel, der Aufbau eines in den Worten der Welt vom 24. März „autoritären Machtsystems slawophiler Prägung mit marktwirtschaftlichen Elementen“ war durchaus popu- lär. Was dabei ins Hintertreffen geriet, waren die enor- men gesellschaftlichen und politischen Herausforderun- gen, die eine gelingende Wandlung zu einem global wettbewerbsfähigen Gemeinwesen begleiten müssen, soll es diese Wandlung erfolgreich vollziehen. Inzwischen sind die Mängel im politischen System Russlands nicht nur erkennbar zu einem Hindernis der wirtschaftlichen Modernisierung geworden. Sie sind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3301 (A) (C) (D)(B) auch im Alltag derart spürbar, dass immer weniger Be- troffene sie klaglos hinnehmen und niemand sie mehr übersehen kann. Wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – der Innenminister der Bevölkerung öffentlich ein Selbst- verteidigungsrecht gegen die brutalen und kriminellen Übergriffe der Polizei einräumt, ist dies kaum anders denn als Kapitulation des Rechts vor der Willkür zu be- zeichnen. Aber nicht nur im Bereich der Polizei ist das staatliche Gewaltmonopol moderner Staaten pervertiert. Ähnliches gilt für den Strafvollzug, für die Armee, abge- wandelt, nämlich in Form flächendeckender Korruption, für die Verwaltungsbürokratie. Und natürlich gilt es auch für die Justiz und den größten Teil der Medien. In kei- nem dieser Bereiche herrschen transparente Regeln, herrscht Rechtssicherheit. Einzige, wenn auch nicht im- mer gleichermaßen anwendbare Regel ist die Herrschaft des Staates und seiner Vertreter. Ein moderner Staat, der qua Mitgliedschaft im Euro- parat den Anspruch erhebt, europäischen Werten zu ent- sprechen, und der weltweit respektiert werden will, kann so nicht funktionieren. Russlands Anspruch an sich selbst droht durch seine innere Verfasstheit erstickt zu werden. Präsident Medwedjew scheint dies erkannt zu haben, und mit ihm immer mehr Menschen in Russland. Das Unbehagen an der autoritären Herrschaft Putins und seiner Umgebung nimmt erkennbar zu, die Opposition, fast schon verstummt, wird wieder lauter. Einer der Ers- ten außerhalb der demokratischen Opposition, die dem Widerstand gegen das erstarrte und anachronistische System des autoritären Staates eine Stimme gaben, war Michail Chodorkowskij. Mit seiner wirtschaftlichen Macht unterschied er sich von den mutigen Menschen- rechtlern und Journalistinnen, die immer für demokrati- sche Werte eingetreten waren. Er drohte zur ernsthaften Gefahr für Putins System zu werden. Deshalb wurde sein Konzern zerschlagen, und deshalb wird ihm jetzt schon der zweite Prozess gemacht. Diese Jusitizfarce, nach allem Anschein gespeist von irrationalem Rache- drang seiner Gegner in der russischen Führung, ist zum Symbol für die Willkür und Repression in Russland ge- worden. Chodorkowskij vertritt zugleich eine umfas- sende Modernisierung, deren Behinderung in Russland eine jahrhundertealte Geschichte hat. Paradoxerweise hat gerade der Umgang des Staates mit ihm Chodorkowskijs Bedeutung gestärkt. Sollte er ein weiteres Mal verur- teilt werden, wäre das ein Zeichen andauernden Rück- schritts in Russland. Ihn freizusprechen, würde einen Sieg der Modernisierer bedeuten. Der Ausgang des Falls Chodorkowskij kann nach Einschätzung der inter- national bekannten und anerkannten Veteranin der russi- schen Opposition Ludmilla Alexejewa die russische Ge- schichte verändern. Deutschland und die EU brauchen ein modernes Russland als Partner, ein modernes Russ- land braucht uns. Das ist der Sinn der angestrebten Mo- dernisierungspartnerschaft. Deshalb sind wir für jede Form der Zusammenarbeit, die uns gemeinsam diesem Ziel näherbringt. Dazu aber gehört eine klare Analyse der Hindernisse auf diesem Weg. Und dazu gehören klare Worte unter Partnern, die diese Hindernisse benen- nen. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen – Stel- lungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz (Zusatztages- ordnungspunkt 7) Dieter Stier (CDU/CSU): In den vergangenen Tagen sind Tausende von Mails mit der Forderung einer Nach- besserung des derzeit vorliegenden Entwurfs einer EU- Tierversuchsrichtlinie in meinem Abgeordnetenbüro eingegangen. Da alle diese Schreiben den gleichen Wort- laut haben und zeitweise exakt im Minutentakt eingin- gen, drängt sich mir der Eindruck auf, hier werde ganz gezielt und zentral gesteuert Panikmache betrieben. Der- artige Massenmails sind nicht hilfreich, weder bei der parlamentarischen Willensbildung, noch dienen sie dem Wohl von Tieren, geschweige denn dem Verbraucher und schon gar nicht dem Forschungsstandort Deutsch- land. Ich denke, wir sollten uns rational mit diesem Thema auseinandersetzen und nicht die Menschen in Deutschland und Europa auf eine derart polemische Art und Weise aufwiegeln. Meine sehr verehrten Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, Ihre Kritik richtet sich gegen den jetzt vorliegenden Entwurf der Richtlinie des Euro- päischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. Bevor ich im Einzelnen auf die Kritikpunkte Ihres heute vorliegen- den Antrages an der EU-Tierschutzrichtlinie eingehe, möchte ich einen ganz zentralen Punkt hervorheben, der mir sehr am Herzen liegt. Deutschland war bisher eines der EU-Länder mit den höchsten Tierschutzstandards in- nerhalb der Europäischen Gemeinschaft und wird es auch in Zukunft bleiben. Unbestritten ist die dringende Notwendigkeit einer Harmonisierung der EU-Tier- schutzstandards. Die derzeit geltende Richtlinie aus dem Jahre 1986 muss dringend novelliert werden, weil sich im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte sehr unter- schiedliche Tierschutzniveaus in den einzelnen EU-Mit- gliedsländern herauskristallisiert haben. Verschiedene Kulturkreise und Traditionen definieren darüber hinaus auch den Tierschutz unterschiedlich. Erfreulicherweise kommen wir insbesondere im Tierschutz zu immer mehr Gemeinsamkeiten unter den Ländern. Somit ist es uns nun möglich, europaweit ein vergleichsweise höheres Schutzniveau für Versuchstiere herbeizuführen. Das ist eine positive Entwicklung, und die sich daraus erge- bende Chance gilt es zu nutzen. Kurz gesagt: Wir haben jetzt die Gelegenheit in Eu- ropa ein insgesamt höheres Schutzniveau zu erreichen, welches auf der Grundlage von freiwilligen einzelstaatli- chen Regelungen und auf der Grundlage der derzeit noch bestehenden Richtlinie nicht zu erzielen ist. Der kleinste gemeinsame Nenner in Sachen Tierschutz könnte auf ein höheres Niveau gehoben werden. Das wäre ein wichti- ges Etappenziel hin zu einem verbesserten Tierschutz in der EU. Der Weg dorthin war schwierig. Nach zähen, 3302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) langwierigen und höchst kontrovers geführten Diskus- sionen zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rat konnte man sich im Dezember 2009 endlich auf einen Kompromissvorschlag einigen. Dieser derzeit feststehende Kompromiss hat mühsam eine qualifizierte Mehrheit sowohl im Rat als auch im Parlament gefunden. Diese Kompromisslösung ist je- doch derart fragil, dass eine minimale Änderung sehr schnell zu einer Auflösung der Mehrheitsverhältnisse führen und eine Gesamteinigung auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschoben würde. Der jetzt vorliegende neue Richtlinienentwurf geht insgesamt gesehen über die Mindestanforderungen der derzeit gültigen Rechtslage hinaus. Im heute zur Bera- tung vorliegenden Antrag fordern Bündnis 90/Die Grü- nen die Einsetzung einer Ethik-Kommission, die Geneh- migungsprozesse von Projekten begleiten und dahin gehend prüfen soll, ob Forschungsprojekte unerlässlich und ethisch vertretbar sind. Die Mehrheit der EU-Mit- gliedstaaten hat sich gegen eine solche Ethik-Kommis- sion ausgesprochen. In Art. 26 der Richtlinie wird statt- dessen die Einrichtung eines Tierschutzgremiums festgeschrieben, welches das Personal zu allen Fragen des Tierschutzes berät. Positiv zu bewerten ist, dass der Kompromisstext in einigen Regelungen über das derzeit im Tierschutzgesetz festgelegte Schutzniveau von Ver- suchstieren hinausgeht. Strengere Einschränkungen gel- ten bei der Verwendung gefährdeter Arten und von Pri- maten sowie beim grundsätzlichen Verbot von Versuchen mit länger andauernden schweren Schmerzen. Leider konnte sich Deutschland in den Verhandlun- gen nicht mit dem Vorschlag durchsetzen, dass Mitglied- staaten in Zukunft auch freiwillig national strengere Vor- schriften durchsetzen können. Dies kollidiert mit der Zielvorgabe einer EU-weiten Harmonisierung. Politik bedeutet eben auch das Akzeptieren von Kompromissen, wenn sie einem gemeinsamen europäischen Ziel dienen. Ich gebe zu bedenken: Wenn man die Messlatte in Eu- ropa zu hoch hängt, das heißt, die Anforderungen an ei- nige EU-Länder praktisch unerreichbar hoch sind, dann wird die Forschung an Tieren in Drittländer, beispiels- weise nach China, abwandern. Damit ist weder den Tie- ren noch den in der Forschung beschäftigten Menschen gedient. Insbesondere in Sachen Tierschutz müssen wir über die Parteigrenzen hinweg an einem Strang ziehen. Es bringt uns in der Sache nicht weiter, wenn wir uns in ideologische Grabenkämpfe verstricken. Auch wenn Bündnis 90/Die Grünen sich gerne als die alleinigen Fürsprecher der Tiere sehen, möchte ich darauf verwei- sen, dass gerade die CDU/CSU-geführte Bundesregie- rung den Tierschutz an oberster Stelle sieht. Die folgen- den Beispiele zeugen von einer erfolgreichen und nachhaltigen Tierschutzpolitik. Mit der klaren Entschei- dung, den Tierschutz als Staatsziel ins Grundgesetz auf- zunehmen, haben wir Parlamentarier eine ganz klare Position für den Schutz der Tiere bezogen. Tierschutz in Deutschland ist zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema geworden. Ich denke, es ist uns allen ein Anlie- gen, den Tierschutz voranzubringen. Auch wenn auf EU-Ebene nicht immer deutsche Maximalforderungen durchzusetzen sind und Kompromisse in Kauf genom- men werden müssen, so kommen wir doch Schritt für Schritt weiter. Deutschland hat wichtige Positionen im Tierschutz, zum Teil auch gegen den Widerstand anderer Mitgliedstaaten, einbringen können. Diesen Erfolg ver- danken wir dem Verhandlungsgeschick der Parlamenta- rier in Brüssel. Sollte Deutschland dem jetzt vorliegen- den Kompromissvorschlag nicht zustimmen, würde dies bei den anderen EU-Staaten auf völliges Unverständnis stoßen und Deutschland in der Frage des Tierschutzes isolieren. Deutschland hat in der Vergangenheit bereits erheb- lich dazu beigetragen, dass auch auf europäischer Ebene der Schutz von Tieren und die Forschung in einem aus- gewogenen Verhältnis stehen. Es müssen tierethische und wirtschaftliche Belange in Einklang gebracht wer- den. Deutschland hat sich im Bereich Tierschutz auf EU- Ebene für international gültige Mindeststandards einge- setzt, wie zum Beispiel bei der Richtlinie zur Haltung von Masthühnern. Wir haben uns für eine einheitliche europäische Tierschutzkennzeichnung stark gemacht. Ein weiteres positives Beispiel für eine europäische Lö- sung ist das Einfuhrverbot von Hunde- und Katzenfel- len. Die Bekämpfung illegaler Fischerei ist ebenfalls ein zentrales Anliegen Deutschlands. Warum sollte man Schutzquoten aushandeln, wenn diese dann letztlich doch nicht bindend sind und unterlaufen werden? Hier bedarf es einer weiteren Kraftanstrengung aller EU-Staa- ten, dass diese Praktiken endlich beendet werden. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig die enge Zusammenarbeit der einzelnen EU-Mitgliedstaaten ist. Tierschutz ist aber auch eine globale Aufgabe geworden, und Deutschland nimmt seine Verantwortung für Tiere weltweit sehr ernst. Die unionsgeführte Bundesregierung hat beispiels- weise in der vergangenen Wahlperiode den globalen Schutz der Walbestände durch das Verbot des kommer- ziellen Walfangs durchgesetzt. Wir stehen hier vor der schwierigen Aufgabe, For- schung und Tierschutz miteinander in Einklang zu brin- gen. Derzeit sind wir leider noch auf tierexperimentelle Forschung angewiesen, um Fortschritte in der Medizin erzielen zu können. Millionen Menschen verdanken ihr Leben und ihre Gesundheit den wissenschaftlichen Er- kenntnissen, die durch Tierversuche gewonnen wurden. Dies müssen wir uns auch vor Augen halten, wenn wir über Tierversuche debattieren. Krankheiten treten übri- gens auch parteiübergreifend auf und verschonen nicht die eine oder andere Couleur. Eines möchte ich deutlich herausstellen: Als Fernziel in der Zukunft streben wir die weitestgehende Abschaffung von Tierversuchen an. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir verstärkt die Förde- rung und Weiterentwicklung von alternativen Versuchs- methoden voranbringen. Dazu ist beispielsweise biologi- sche Forschung an Modellorganismen denkbar, um Grundlagenerkenntnisse zu gewinnen. Denkbar ist auch die Entwicklung von Impfstoffen aus pflanzlicher Pro- duktion. Die Zahl der Tierversuche muss so gering wie möglich gehalten werden. Die Union setzt auf möglichst artgerechte Haltung in Bezug auf Zucht, Unterbringung und Pflege sowie auf einen sensiblen Umgang mit Versuchstieren. Damit sol- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3303 (A) (C) (D)(B) len Leiden und Ängste der Tiere vermieden werden bzw. auf ein Minimum reduziert werden. Das ist nicht nur un- ter ethischen Gesichtspunkten zwingend notwendig, sondern auch eine wichtige Grundvoraussetzung für die Qualität tierexperimenteller Forschung. Hervorragende Forschungsergebnisse insbesondere in der Humanmedi- zin zeigen uns Menschen Wege auf, um mit neuen wirk- samen Medikamenten zur Bekämpfung von Krankheiten wie Tumorerkrankungen oder Parkinson menschliches Leid zu verhindern. Ebenso dienen beispielsweise For- schungen im Bereich Gewebezucht einer verbesserten medizinischen Versorgung. Fazit: Ich plädiere für eine Ablehnung des Antrages von Bündnis 90/Die Grünen, damit die Verabschiedung der neuen EU-Tierschutzrichtlinie in ihrer Gesamtheit nicht gefährdet wird. Wir brauchen dringend die neue EU-Tierversuchsrichtlinie, weil damit deutliche Verbes- serungen für den Schutz von Versuchstieren in der EU erzielt werden. Wir erreichen so ein höheres Schutzni- veau, als wenn wir uns auf einzelstaatliche Lösungen verlassen. Lassen Sie mich noch einen Blick in die Zukunft wer- fen. Tierschutz ist ein Bereich mit großer Dynamik. So- lange wir noch nicht am Ziel sind, bleibt Tierschutz für uns alle eine Daueraufgabe. Die christlich-liberale Ko- alition wird sich auch in Zukunft der Herausforderung stellen, eine ethisch vertretbare Balance von Forschung und Tierschutz zu finden. Dazu wünsche ich mir Ihre Unterstützung. Heinz Paula (SPD): Wir beraten heute über den Kompromissvorschlag zur Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zum Schutz der für Versuchs- zwecke verwendeten Tiere. Er beruht auf einem Vor- schlag der EU-Kommission vom Dezember letzten Jah- res. Ungeachtet dessen, dass dieser Kompromisstext von EU-Kommission und EU-Parlament bereits abgenickt wurde, verdient er aus Sicht eines Tierschützers – und ich spreche heute in meiner Funktion als Tierschutzbe- auftragter meiner Fraktion – herbe Kritik. Legt man beide Vorschläge nebeneinander, merkt man deutlich, dass die in Brüssel und Straßburg so zahlreich vertrete- nen Lobbyisten ihre Hände im Spiel hatten. Zu viele Stellen des ursprünglichen Vorschlages wurden sehr deutlich zuungunsten des Tierschutzes verändert. Nicht hinnehmbare Punkte sind für mich unter anderem: Die Regelung in Art. 2 a des Kompromissvorschlages, wo- nach die Mitgliedstaaten nach Inkrafttreten der Richtli- nie keine strengeren Maßnahmen mehr erlassen können als die in der Richtlinie vorgesehenen, kann ich nicht bil- ligen. Das ist anachronistisch. Es darf den Mitgliedstaa- ten nicht untersagt werden, den Tierschutz im eigenen Lande weiterzuentwickeln. Diese Regelung blockiert jeglichen tierschutzrechtlichen und -politischen Fort- schritt. So wird Deutschland seiner Vorreiterrolle inner- halb der EU nicht gerecht. Diese Richtlinie soll Mindeststandards setzen und nicht, wie hier offenbar beabsichtigt, Höchststandards auf niedrigem Niveau. Daher plädiere ich eindringlich, Art. 7 der Entschließung des Europäischen Parlamentes noch in die Richtlinie aufzunehmen. Dieser lautet: „Durch diese Richtlinie werden die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert, strengere Maßnahmen anzuwenden oder zu beschließen, die auf die Verbesserung des Wohl- ergehens und des Schutzes der zu Forschungszwecken verwendeten Tiere abzielen.“ Art. 2 a ist damit hinfällig und zu streichen. Eine ethische Bewertung von Tierversuchen ist im Rahmen der vorgeschriebenen Genehmigungsverfahren kaum mehr vorgesehen. An zahlreichen Stellen wurde das Wörtchen „ethisch“ aus dem Text gestrichen. Mit großer Wirkung! Aus der Voraussetzung einer „positiven ethi- schen Bewertung“ für die Erteilung einer Genehmigung in Art. 35 des ersten KOM-Entwurfs wird ein „positives Ergebnis der Projektbeurteilung“ im Kompromissvor- schlag. Nach welchen Kriterien diese Projektbeurteilung stattfinden soll, bleibt mit dieser Formulierung fraglich. Dabei ist eine Betrachtung der moralischen und ethischen Aspekte beim Tierschutz dringend geboten. Die Men- schen sind sensibilisiert für tierschutzrelevante Themen. In der Öffentlichkeit erlangt das Wohlergehen der Tiere einen immer höheren Stellenwert. Dies beweisen auch die weit über 5 000 E-Mails, die uns in der vergangenen Wo- che erreichten. Die Verfasser der E-Mails bitten uns, die Verschlechterungen in dem Kompromisstext nicht hinzu- nehmen. Erst gestern nahm ich ebenso viele Unterschrif- ten entgegen. Eine Aktion besorgter Bürgerinnen und Bürger, die sich über die Zukunft des Tierschutzes in Deutschland und Europa Gedanken machen. Ich danke ihnen für ihr Engagement. Ich verweise hier auch auf § 7 unseres Tierschutzge- setzes, der da lautet: „Tierversuche dürfen nur durchge- führt werden, soweit sie zu einem der folgenden Zwecke unerlässlich sind …“ und – so Abs. 3 – „ … wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Ver- suchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind“. Dies sollte unserer Bundesregierung Maßstab und Maxime sein, auch bei den Verhandlungen auf EU-Ebene. Hier frage ich mich, warum die Bundes- regierung nicht längst die Initiative ergriffen und ent- sprechende Veränderungen zum besseren Schutz der Tiere angestrebt hat. Wo war bei den Verhandlungen zur Tierversuchsrichtlinie unsere Bundesministerin Frau Aigner? Kleine Textkorrekturen bei dem ursprünglichen Ge- setzestext führen auch zu weiteren erstaunlichen Ergeb- nissen. Ursprünglich war eine Verpflichtung zur Ver- wendung von Alternativmethoden vorgesehen, sofern diese vorhanden und validiert sind. Diese Verpflichtung wird in dem Kompromissvorschlag alleine durch den Zusatz „wo immer dies möglich ist“ ausgehebelt. Ich frage mich, wer entscheidet, ob die Verwendung von Al- ternativmethoden möglich ist. Die Unterbringung und Pflege von Tieren ist ein weiterer Punkt, der korrigiert werden muss. Seit 2006 existieren Maßstäbe und Be- stimmungen für die Unterbringung und die Pflege von Versuchstieren. Diese hat das EU-Versuchstierabkom- men damals so festgelegt. Warum sollen wir nun bis 2017 warten, bis diese auch umgesetzt werden dürfen? Der erste Kommissionsentwurf sah hier noch überwie- gend eine Frist bis Januar 2012 vor. Es gibt für mich kei- 3304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) nen ersichtlichen Grund, warum von diesem Datum ab- gewichen werden sollte. Und schließlich der wohl strittigste Punkt, der Einsatz von nichtmenschlichen Primaten bei Tierversuchen. Ein heikles Thema, das weiß ich. Manche Versuche können nur an nichtmenschlichen Primaten durchgeführt wer- den, da sie uns Menschen in ihrer Lebensfunktion am ähnlichsten sind. So können lebensbedrohliche Krank- heiten beim Menschen verhindert oder gelindert werden. Auf der anderen Seite sind es auch die Tiere, die nach- weislich unserem Empfinden am nächsten kommen. Es ist davon auszugehen, dass sie ähnlich wie wir Schmerz und Leiden empfinden. Daher müssen die Versuche mit diesen Tieren auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt werden. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah genau eine solche Beschränkung vor. Der Kompro- missvorschlag findet eine Regelung, die einen sehr gro- ßen Interpretationsspielraum für eine Genehmigung von Ausnahmefällen für Versuche an nichtmenschlichen Pri- maten zulässt. So heißt es dort in Art. 8 Abs. 1 b: „Als zur Invalidität führender klinischer Zustand für den Zweck dieses Artikels gilt die Beeinträchtigung der nor- malen physischen oder psychologischen Funktionsfähig- keit des Menschen.“ Dies lässt zu viele Spielräume zu. Nahezu jeder von uns ist in irgendeiner Weise – zumin- dest zeitweise – in seiner physischen Funktionsfähigkeit eingeschränkt. In vielen Ländern innerhalb der europäischen Union existieren nach wie vor Tierschutzstandards, die auf der alten EU-Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftli- che Zwecke verwendeten Tiere von 1986 basieren. Diese liegen weit unter den deutschen Standards und auch weit unter den in dem uns nun vorliegenden Kompromissvor- schlag festgeschriebenen Standards. Das heißt, der Tier- schutzstandard würde durch den vorliegenden Entwurf in diesen Ländern verbessert. Sie, sehr verehrte Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, fordern die Bundesregierung nun auf, dem vorliegenden Richtli- nienentwurf nur zuzustimmen, wenn sie Ihre Forderun- gen für einen verbesserten und umfassenden Tierschutz auf EU-Ebene durchsetzen können. Sie stellen mit dieser Forderung das gesamte Projekt, eine – wenn auch nicht ausreichende – Verbesserung einer einheitlichen Rege- lung zum Schutze der für wissenschaftliche Zwecke ver- wendeten Tiere infrage. Der vorliegende Richtlinienent- wurf geht immerhin weiter und hebt die derzeit geltenden und damit EU-weit gültigen Tierschutzstan- dards für einige Mitgliedstaaten erheblich an. Deshalb hat sich die SPD-Fraktion in der gestrigen Ausschusssit- zung mehrheitlich enthalten. Verehrte Bundesministerin Aigner, ich habe noch nie so viele Zuschriften erhalten wie zu dem Thema, das wir heute hier behandeln. Ich verlange von der Bundesregie- rung, dass sie sich für eine Überarbeitung der EU-Richt- linie im Sinne eines umfassenden Tierschutzes stark- macht. Die Bundesregierung will laut eigener Aussage den europäischen Tierschutz an die deutschen Tier- schutzstandards angleichen. In Deutschland ist Tier- schutz Staatsziel. Ich bitte Sie, Frau Bundesministerin Aigner, lösen Sie Ihr Versprechen ein und setzen Sie al- les daran, diesen Kompromissvorschlag in Brüssel noch einmal inhaltlich zu überarbeiten. Machen Sie ihren Ein- fluss geltend! Ich werde Ihr weiteres Vorgehen in dieser Angelegenheit und auch in anderen Angelegenheiten des Tierschutzes genau beobachten, und ich werde nicht auf- hören, auf einen umfassenden Tierschutz in Deutschland und auf EU-Ebene zu pochen. Sie werden weiter von mir hören! Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Antrag der Grünen trägt die Überschrift: „Europäische Tierver- suchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen“. Genau das ist das Ziel der Überarbeitung der ge- genwärtig geltenden Tierversuchsrichtlinie. Sie stammt aus dem Jahr 1986. Der wissenschaftliche Fortschritt in den vergangenen mehr als 20 Jahren macht eine neue Bewertung der Notwendigkeit und des Ablaufs von Tier- versuchen dringend erforderlich. Der gegenwärtig disku- tierte Vorschlag für eine „Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere“ erfüllt die in der Überschrift des Antrags der Grünen formulierte Anforderung. Die Wahrung und der Schutz des Lebens ist der Grundgedanke unserer Zivilisation. Zum Schutz von Mensch und Umwelt wurde im Jahr 2002 auf Initiative der FDP-Bundestagsfraktion der Schutz der Tiere als Staatsziel in Art. 20 a in das Grundgesetz aufgenommen. Diesem Anliegen fühlen wir Liberale uns verpflichtet. Die derzeitige Richtlinie entspricht nicht heutigen wis- senschaftlichen Standards und genügt nicht unseren ethi- schen Vorstellungen. Sie muss deshalb novelliert wer- den. Einige Länder haben im nationalen Recht wesentlich strengere Standards zur Haltung von Ver- suchstieren und zur Genehmigung und Durchführung von Tierexperimenten eingeführt. Das deutsche Tierschutzrecht beispielsweise zählt zu den strengsten in Europa. In einigen Bereichen geht die neue Richtlinie gleichwohl über die in Deutschland im Tierschutzrecht formulierten Standards hinaus. Bei- spielsweise schließt sie die Föten von Säugetieren in ih- ren Geltungsbereich ein. Es ist das erklärte Ziel der neuen Richtlinie, ein vergleichbares Niveau für die ge- samte Europäische Union festzuschreiben. Die neue Richtlinie etabliert Standards, die an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen bezüglich Schmerz- empfinden, Stressfaktoren und artgerechten Haltungsbe- dingungen orientiert sind. Es wird die in Deutschland be- reits angewendete, unabhängige ethische Bewertung europaweit eingeführt. Dies stellt grundsätzlich eine Ver- besserung des Tierschutzes in Europa dar. Es steht außer Frage, dass die Genehmigung und Durchführung von Tierversuchen nur nach strengen wissenschaftlichen und ethischen Regeln erfolgen darf. Insgesamt ist die neue Richtlinie geeignet, um deutlich höhere Tierschutzstan- dards als bisher in der gesamten EU umzusetzen. Im Sinne einer modernen Tierschutzpolitik ist insbe- sondere die Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungs- methoden für Tierversuche geeignet, Tierversuche über- flüssig zu machen. Im Bereich des Testens von Kosmetikprodukten ist dies weitgehend gelungen. Wir wollen, dass kein Tier unnötig Tests oder Untersuchun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3305 (A) (C) (D)(B) gen ausgesetzt wird. Gleichwohl müssen wir feststellen, dass die Zahl der Tierversuche noch immer steigt, ob- wohl Alternativmethoden in bestimmten Bereichen Tier- versuche ersetzt haben. Im Jahr 2008 ist die Anzahl der für Tierversuche und weitere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere um 3,2 Prozent gestiegen. Der Haupt- teil der Tiere wurde zur Erforschung von Erkrankungen des Menschen und der Tiere eingesetzt. Ein steigender Anteil wurde für gesetzlich vorgeschriebene Versuche bei der Herstellung oder Qualitätskontrolle von human- oder veterinärmedizinischen Produkten benötigt. Die FDP sieht in der Entwicklung von Alternativme- thoden eine wichtige Möglichkeit, Tierversuche zu ver- meiden, und begrüßt daher ausdrücklich die in der Richt- linie verankerte verstärkte Förderung der Entwicklung von Alternativ- und Ergänzungsmethoden. Deutschland nimmt bei der Erforschung von Alternativmethoden zum Tierversuch eine führende Rolle ein. Die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergän- zungsmethoden zum Tierversuch, ZEBET, leistet her- vorragende Arbeit. Diese positive Arbeit der ZEBET muss weiter genutzt werden und sollte europaweit als Vorbild dienen. Eine vielversprechende Möglichkeit, die Anzahl von Versuchstieren stark zu reduzieren, bietet die Produktion von Impfstoffen mithilfe von gentechnisch veränderten Pflanzen. Viele Impfstoffe können bisher nur in lebenden Tieren oder durch das Bebrüten von Hühnereiern hergestellt werden. Die gegenwärtigen For- schungsarbeiten zur Produktion von Impfstoffen in transgenen Pflanzen sind sehr ermutigend. Beispielhaft sei die Entwicklung von transgenen Erbsen zur Herstel- lung eines Impfstoffes gegen eine hochansteckende und tödliche Kaninchenkrankheit genannt. Derzeit kann der Impfstoff nur in lebenden Kaninchen produziert werden. Die neue Methode ermöglicht es, dass kein Kaninchen mehr für die Produktion von Impfstoffen gegen diese Krankheit leiden muss. Es gibt Gebiete der medizinischen Forschung, in de- nen auf absehbare Zeit der Verzicht auf Tierversuche nicht möglich ist. Immer wenn Funktionen des gesamten Organismus erforscht werden sollen, ist das Ausweichen auf Ersatzmethoden zumeist nicht möglich. Vor der Durchführung klinischer Studien am Menschen im Rah- men der biomedizinischen Grundlagenforschung und der experimentellen Pharmakologie sind Tierversuche eben- falls erforderlich, für die es zurzeit noch keine alternati- ven Testverfahren gibt. Zur Erforschung von schwerwie- genden menschlichen Leiden wie Multiple Sklerose, Alzheimer, Parkinson oder von Tumorerkrankungen und zur Entwicklung von Arzneimitteln zur Bekämpfung dieser Krankheiten sind Experimente mit Versuchstieren häufig die einzige Möglichkeit, um das erforderliche Wissen zu gewinnen. Auch die Erforschung von chroni- schen Erkrankungen macht Tierversuche sowie die Eta- blierung geeigneter Tiermodelle erforderlich. Es ist im Interesse des Tierschutzes geboten, die Zahl der Tierversuche so gering wie möglich zu halten. Dies hat gleichzeitig auch wirtschaftliche Vorteile. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Vorgaben der Richtlinie hinreichend bestimmt sind, sodass in der gesamten Euro- päischen Union einheitlich hohe Schutzstandards bei Tierversuchen gelten. In diesem Sinne unterstützt die FDP auch ausdrücklich die konsequente Anwendung des vorgeschlagenen sogenannten 3R-Prinzip, Replace- ment, Reduction and Refinement, das heißt die Vermei- dung, Verbesserung und Verminderung der Verwendung von Versuchstieren. Aus Sicht der FDP definiert die neue Tierversuchs- richtlinie die Rahmenbedingungen einer ethisch begrün- deten und wissenschaftlich orientierten Zulassung von Tierversuchen. Das neue Gesetz wird auf europäischer Ebene zu einer deutlichen Verbesserung des Tierschut- zes führen und dabei bereits bestehende höhere Einzel- standards nicht verwässern. Zudem soll die neue Rege- lung im Gegensatz zur alten Richtlinie einer regelmäßigen wissenschaftlichen Evaluierung unterlie- gen. Dadurch ist gewährleistet, dass neue wissenschaftli- che Erkenntnisse zeitnah für den Schutz der Tiere ge- nutzt werden. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Die erste euro- päische Tierschutzrichtlinie sollte überarbeitet werden, und dies ist auch nötig; denn sie stammt aus dem Jahr 1986. Ein Entwurf dazu lag im November 2008 vor. Kommission, Rat und Europäisches Parlament haben diesen Entwurf allerdings in den letzten Monaten massiv verschlechtert. Es ist daher völlig richtig, zu fordern, den jetzt vorliegenden Entwurf erneut zu überarbeiten und all das wieder aufzunehmen, was den ursprünglichen Entwurf auszeichnete. Was nun vorliegt, das brauchen wir nicht, eine Richtlinie, die dem Tierschutz aus heuti- ger Sicht nicht genügt, die haben wir bereits. Sie ist fast 25 Jahre alt. Unverzichtbar im Sinne eines europäischen Tierschutzes, der diesen Namen verdient hat, und so stand es ursprünglich auch drin, ist die Beteiligung einer Ethik-Kommission an Projektbewilligungen von Tier- versuchen. Für die Linke muss der Verbrauch von Tieren für Tierversuche – und es handelt sich hier um das Ver- brauchen im wahrsten Sinne des Wortes – sowohl wis- senschaftlich gut begründet als auch auf das unbedingt nötige Maß reduziert werden. Generell sind Tierversuche nach ihrer ethischen Ver- tretbarkeit zu beurteilen. Dabei geht es nicht nur immer um die Beurteilung des Versuchs an sich. Auch die Hal- tung und notwendige Konditionierung von Versuchstie- ren muss in die Beurteilung nach ethischen Gesichts- punkten einbezogen werden. Unverzichtbar sind einheitliche Standards zu Qualifizierung des Personals, welches Tierversuche durchführen darf, und die Be- schleunigung von Verfahren zur Anerkennung von Al- ternativen zu Tierversuchen. Die Entwicklung von Alter- nativmethoden darf nicht behindert werden. Das und weitere Forderungen, die ich in der Kürze der Zeit leider nicht alle benennen kann, wären für uns effektive Maß- nahmen, um Tierschutz zu gewährleisten. Doch es geht ja um noch viel Grundsätzlicheres bei dem, was alles nicht geht an diesem Richtlinienentwurf: Die eklatante Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, das in Art. 5 des EU-Vertrages festgelegt ist, kann von uns in keiner Weise mitgetragen werden. Auf diese Weise soll ein dauerhaft niedriges Tierschutzniveau zementiert 3306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 (A) (C) (D)(B) werden, das in den einzelnen Mitgliedstaaten dann auch in Zukunft nicht mehr angehoben werden kann. Das ist undemokratischer Zentralismus zum Nachteil der Tiere. Ich wundere mich doch sehr, meine Damen und Her- ren von der CDU/CSU, dass die Initiative, das Subsidia- ritätsprinzip auszuhöhlen, ausgerechnet von Ihnen kommt. Die Gralshüter des Föderalismus und der christ- lichen Soziallehre sind offensichtlich auf den Hund ge- kommen. Aber vom Hund wollen Sie ja auch nichts wis- sen; denn Sie tragen damit die besseren Standards beim Tierschutz in Deutschland zu Grabe. Nach Art. 20 a des Grundgesetzes aber hat Tierschutz, hat die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen nichts Geringeres als Verfassungsrang. Das erfordert in Deutschland gege- benenfalls ein deutlich höheres Engagement als in ande- ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die dem Tierschutz diese hervorgehobene Stellung nicht einge- räumt haben. Doch nicht nur unser Grundgesetz, auch der Lissabon-Vertrag unterstreicht die Bedeutung des Tierschutzes in Europa. Vor diesem Hintergrund wirkt der jetzt vorliegende Entwurf umso unverständlicher. Haben Sie dem Lissabon-Vertrag zugestimmt? Hat dieses Hohe Haus den Tierschutz vor nunmehr kapp acht Jahren zum Staatsziel erhoben, um diesen Schritt nun per Gesetz auf EU-Ebene rückgängig zu machen? Einem solchen Verfassungsbruch werden wir nicht zustimmen. Daher wird meine Fraktion den Antrag der Grünen un- terstützen. Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der EU leiden jährlich rund zwölf Millio- nen Tiere in Tierversuchen, Tendenz steigend. Alleine in Deutschland wurden im Jahr 2008 2 692 890 Wirbeltiere zu Versuchszwecken verwendet. Um das Leiden der Tiere so weit wie möglich zu begrenzen, brauchen wir gute Regelungen, die dem ethischen Tierschutz Rech- nung tragen. Aber genau das leistet die nun vorliegende EU-Tierversuchsrichtlinie nicht. Der jetzt vorliegende Entwurf der EU-Tierversuchsrichtlinie, der im Dezem- ber 2009 von EU-Kommission, EU-Parlament und Mi- nisterrat abschließend verhandelt wurde, hat erhebliche Mängel. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden wesentliche Punkte des ursprünglichen Richtlinienent- wurfs gestrichen. Wir hatten es begrüßt, dass die EU- Kommission im November 2008 einen Entwurf zu einer neuen Tierversuchsrichtlinie vorlegte, um endlich bes- sere Tierschutzstandards bei Tierversuchen zu schaffen und die stark veraltete Richtlinie von 1986 zu ersetzen. Doch was jetzt vom Kommissionsentwurf übrig geblie- ben ist, kann und sollte unsere Zustimmung nicht finden. Besonders gravierend ist, dass es den EU-Mitglied- staaten nach Inkrafttreten der Richtlinie verwehrt wer- den soll, über die Vorschriften der Richtlinie hinauszu- gehen und zukünftig höhere nationale Tierschutz- standards einzuführen. Dies besagt der neu in die Richt- linie eingefügte Art. 2 A. Diese Vorkehrung würde über bislang übliche und zur Sicherstellung der ordnungsge- mäßen Funktionsweise des Binnenmarktes nötige Min- destharmonisierungen deutlich hinausgehen. Weitere Vorkehrungen und Beschränkungen, die einen umfassen- den Schutz von Versuchstieren zum Ziel haben, könnten in Zukunft auf nationaler Ebene nicht mehr getroffen werden. Damit wären dem deutschen Parlament auf lange Zeit die Hände gebunden. Das ist inakzeptabel. Die Festlegung auf niedrigstem Niveau widerspricht nicht nur dem im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgelegten Staatsziel „Tierschutz“, son- dern auch in eklatanter Weise dem Subsidiaritätsprinzip. Leider wurde erst auf Druck von Bündnis 90/Die Grünen die EU-Tierversuchsrichtlinie im Bundestag diskutiert. Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag „Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen“ auf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass der Richtlinienentwurf überarbeitet wird – im Sinne eines umfassenderen Schut- zes der zu Versuchszwecken verwendeten Tiere als auch in Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip. Zumindest ei- nige wesentliche Punkte müssen wieder in die Richtlinie aufgenommen werden. Dazu zählt die Wiederaufnahme einer ethischen Bewertung von Tierversuchen im Ge- nehmigungsverfahren. Dies war eines der zentralen Ziele des Richtlinienentwurfs der EU-Kommission, wurde nun aber nahezu vollständig gestrichen. Doch die ethische Bewertung ist unverzichtbar, wenn man Tier- schutz wirklich ernst nimmt und grausame, unnötige Tierversuche vermeiden will. Wir fordern, dass Versuche unter Beteiligung einer Ethik-Kommission darauf zu prüfen sind, ob sie unerlässlich und angesichts der zu er- wartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Ver- suchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind; der verpflichtende Einsatz von Alterna- tivmethoden zu Tierversuchen, sobald diese zuverlässig zur Verfügung stehen; eine Beschleunigung des Verfah- rens zur Anerkennung von Alternativmethoden unter Beibehaltung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei vorgeschriebenen Versuchen, um den Verzicht auf Versuche an Tieren nicht unnötig zu behindern; ein aus- nahmsloses Verbot von Verfahren, die mit schweren, vo- raussichtlich länger anhaltenden Schmerzen, Leiden oder Ängsten der Tiere einhergehen; die Qualifizierung der Versuchsdurchführenden nach einheitlichen Maßstä- ben und dass von den Pflege- und Unterbringungsstan- dards in keinem Fall zulasten der Versuchstiere abgewi- chen werden darf. Außerdem darf es Deutschland auch nach Inkrafttre- ten der Richtlinie nicht verwehrt werden, bessere, über die Richtlinie hinausgehende höhere Tierschutzstan- dards einzuführen. Es ist absolut inakzeptabel, dass keine Verbesserungen des Tierschutzes auf nationalstaat- licher Ebene mehr möglich sein sollen. Eine Harmoni- sierung befürworten wir zwar, auch um den Tierschutz- standard in anderen EU-Ländern anzuheben. Ein Abweichungsrecht zum Besseren muss aber immer mög- lich sein. Der Bundestag darf einer solchen Selbstent- machtung nicht zustimmen. Durch die Richtlinie wird für lange Zeit festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Tierversuche in Europa durchgeführt werden dürfen. Das Wohlergehen bzw. das Leid von Millionen von Tie- ren ist also von dieser Richtlinie abhängig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3307 (A) (C) (D)(B) Doch die Bundesregierung und die sie tragenden Frak- tionen von CDU/CSU und FDP lässt das kalt. Sie zeigen keinerlei Engagement für den Tierschutz. Vielmehr hat sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen sogar für Verschlechterungen eingesetzt und sich zum Beispiel für erleichterte Genehmigungen für Versuche an Men- schenaffen und gegen ein Verbot von Versuchen mit schweren, lang anhaltenden Schmerzen ausgesprochen. Es ist enttäuschend, dass die SPD selbst in der Oppo- sition nicht die Kraft findet, ihre Stimme für den Tier- schutz zu erheben. Wir Grünen werden uns trotz der heutigen Ablehnung unseres Antrages weiterhin dafür einsetzen, dass die Rechte und der Schutz der Tiere nicht auf der Strecke bleiben. 34. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703400000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf

Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der Kollege
Klaus-Peter Willsch für eine weitere Amtszeit zum
Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszen-
trums Berlin für Sozialforschung gewählt werden.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das ist
offenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Willsch er-
neut zum Mitglied dieses Kuratoriums gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der

SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Ablehnung
des bayerischen Gesundheitsministers Markus
Söder, eine Kopfpauschale anstelle der bisheri-
gen solidarischen Finanzierung der gesetzli-
chen Krankenversicherung einzuführen

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
zur Antwort der Bundesregierung auf die
Frage 1 auf Drucksache 17/1107

Rede

(siehe 33. Sitzung)

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-

fahren
Ergänzung zu TOP 28

a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Partei-Sponsoring transparenter gestalten
– Drucksache 17/1169 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Ko
Abgeordneter und der Fraktion DIE L
Parteien-Sponsoring im Parteienge
– Drucksache 17/892 –
zung

den 25. März 2010

.00 Uhr

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 29

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)


zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht 2 BvG 1/10

– Drucksache 17/1192 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder

(Villingen-Schwenningen)


b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 61 zu Petitionen

– Drucksache 17/1180 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 62 zu Petitionen

text
– Drucksache 17/1181 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 63 zu Petitionen

– Drucksache 17/1182 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 64 zu Petitionen

– Drucksache 17/1183 –

ng der Beschlussempfehlung des Petitions-
usses (2. Ausschuss)


elübersicht 65 zu Petitionen
rte, weiterer
INKE
setz regeln

f) Beratu
aussch

Samm
– Drucksache 17/1184 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 66 zu Petitionen
– Drucksache 17/1185 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 67 zu Petitionen
– Drucksache 17/1186 –

i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 68 zu Petitionen
– Drucksache 17/1187 –

j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 69 zu Petitionen
– Drucksache 17/1188 –

k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 70 zu Petitionen
– Drucksache 17/1189 –

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt
gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in
kirchlichen und weltlichen Einrichtungen

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Altschuldenentlastung für Wohnungsunter-
nehmen in den neuen Ländern
– Drucksache 17/1154 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technolgie
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth

(Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander

Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-
schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-
nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-
tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
– Drucksachen 17/792, 17/1208 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth (Quedlinburg)

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 13 und 17 sollen getauscht
sowie die Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f und 28 g ab-
gesetzt werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einvernehmen
feststellen? – Das ist offenkundig der Fall.

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:

Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP

Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages

– Drucksache 17/1160 –

Bevor ich etwas zum Ablauf der Wahl sage, möchte
ich mich zunächst an unseren amtierenden Wehrbeauf-
tragten, Reinhold Robbe, wenden.

Lieber Kollege Robbe, Sie blicken auf eine bald fünf-
jährige Amtszeit als Wehrbeauftragter des Bundestages
zurück, so wie es das Grundgesetz vorsieht. In Ihrer
Amtszeit haben Sie als Wehrbeauftragter im Auftrag des
Bundestages einen wesentlichen Beitrag zur parlamenta-
rischen Kontrolle der Bundeswehr als Parlamentsheer
geleistet. Sie haben sich mit vielfältigen Aspekten der
Bundeswehr befasst, den besonderen Bedingungen der
Auslandseinsätze die angemessene Bedeutung bei-
gemessen und in Ihren Berichten erforderlichen Korrek-
turbedarf bei von Ihnen festgestellten und monierten
Fehlentwicklungen verdeutlicht.

Sie waren ein wichtiger Ansprechpartner für die Mit-
glieder des Deutschen Bundestages, insbesondere des
Verteidigungsausschusses. Ansprechpartner waren Sie
aber auch und ganz besonders für die Soldatinnen und
Soldaten. Diese konnten sich in den vergangenen fünf
Jahren darauf verlassen, dass ihre Sorgen und Nöte ernst
genommen werden und der Wehrbeauftragte sich nicht
scheut, berechtigte Anliegen vorzubringen und auf Ver-
besserungen zu drängen. Bei einem gemeinsamen Trup-
penbesuch konnte ich selber einen Eindruck von dem
hohen Ansehen gewinnen, das Sie sich bei den Soldatin-
nen und Soldaten erworben haben.

Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Robbe, im Namen
der Soldatinnen und Soldaten für Ihre Arbeit als Wehr-
beauftragter danken, ganz besonders aber auch im Na-
men des ganzen Hauses, aller Mitglieder des Deutschen
Bundestages.


(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)


Wir danken Ihnen für Ihre verdienstvolle Tätigkeit und
wünschen Ihnen für den weiteren Lebensweg alles Gute!


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zur Wahl. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
haben den Abgeordneten Hellmut Königshaus als Wehr-
beauftragten des Bundestages vorgeschlagen.

Ich darf Sie um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hin-
weise zum Wahlverfahren bitten:





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages sind zur Wahl die Stimmen
der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt
mindestens 312 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauf-
tragte wird mit verdeckten Stimmkarten, also geheim,
gewählt. Sie benötigen für die Wahl Ihren Wahlausweis,
den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkar-
tenfach entnehmen können. Bitte kontrollieren Sie, ob
der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahl
gültige Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlag
erhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern an den Ausgabetischen neben den Wahlkabinen.

Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewähr-
leisten, bitte ich Sie, von Ihren Plätzen aus über die seit-
lichen Zugänge und nicht durch den Mittelgang zu den
Ausgabetischen zu gehen. Nachdem Sie Ihre Stimmkarte
in der Wahlkabine gekennzeichnet und in den Wahlum-
schlag gelegt haben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnen
vor dem Rednerpult.

Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass Sie
Ihre Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen dür-
fen und die Stimmkarte ebenfalls noch in der Wahlka-
bine in den Umschlag legen müssen. Die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden, der
seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine kennzeich-
net oder in den Umschlag legt, zurückzuweisen. Gegebe-
nenfalls kann die Stimmabgabe vorschriftsmäßig wie-
derholt werden.

Dass die Stimmkarten nur mit einem Kreuz bei „Ja“,
„Nein“ oder „enthalte mich“ gültig sind, setze ich als all-
gemein bekannt voraus, weise aber ausdrücklich noch
einmal darauf hin. Ungültig sind Stimmen auf nicht amt-
lichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein
Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.

Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer-
fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der
Schriftführer an der Wahlurne. Der Nachweis der Teil-
nahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des
Wahlausweises erbracht werden.

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist offenbar
der Fall.

Ich bitte, zum Empfang der Stimmkarte zu den Aus-
gabetischen zu gehen. Der Wahlgang ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-
glied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht
abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.

Für die Auszählung unterbreche ich die Sitzung für
etwa 15 Minuten.


(Unterbrechung von 9.31 bis 9.55 Uhr)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703400100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz

zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff-
net.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das
Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten bekannt: ab-
gegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen keine. Mit
Ja haben gestimmt 375 Mitglieder des Bundestages,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


mit Nein gestimmt haben 163 Kolleginnen und Kolle-
gen, Enthaltungen gab es 41.1)

Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stim-
men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also
312 Stimmen, auf sich vereinigt. Ich stelle fest, dass der
Abgeordnete Hellmut Königshaus mit der erforderlichen
Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Deutschen
Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich frage Sie, Herr Kollege Königshaus: Nehmen Sie
die Wahl an?


Hellmut Königshaus (FDP):
Rede ID: ID1703400200

Herr Präsident, ich nehme die Wahl gerne an und be-

danke mich.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703400300

Herr Abgeordneter Königshaus, ich gratuliere Ihnen

persönlich und im Namen des ganzen Hauses zu dieser
Wahl und wünsche Ihnen Kraft, Erfolg und eine gute
Hand bei der Führung Ihres Amtes.


(Beifall im ganzen Hause – Abg. Hellmut Königshaus [FDP] nimmt Glückwünsche entgegen)


Darf ich vorschlagen, dass wir im Interesse der zügi-
gen weiteren Behandlung unserer Tagesordnung zum
nächsten wichtigen Punkt kommen? Herr Kollege
Königshaus, könnten Sie freundlicherweise die bemer-
kenswerte Reihe der Gratulanten entweder vertrösten
oder an den Rand des Plenums geleiten?

Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 4 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010
in Brüssel

Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion Die
Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Diese Debatte wird im Übrigen außer im Parlaments-
fernsehen und in Phoenix auch im Hauptprogramm der
öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten
übertragen,


(Beifall)


1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

was ich aus vielerlei Gründen ausdrücklich begrüße und
mit Respekt registriere.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann können wir so verfahren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1703400400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die

schlimmste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahren
des letzten Jahrhunderts stellt die Europäische Union
und ihre Mitgliedstaaten weiter vor außerordentliche He-
rausforderungen. Hinzu kommen für uns alle die Aufga-
ben, die durch die zunehmende Alterung unserer Bevöl-
kerung, den drohenden Klimawandel und einen sich
zulasten Europas verschärfenden internationalen Wett-
bewerb entstehen. Es kann kein Zweifel bestehen: Eu-
ropa und die 27 Mitgliedstaaten müssen ihre Anstren-
gungen weiter verstärken, um diese außerordentlich
großen Herausforderungen meistern zu können. Es be-
steht aber auch kein Zweifel: Deutschland ist bereit
dazu. Ich bin überzeugt: Deutschland ist in der Lage, sei-
nen Beitrag für ein erfolgreiches Europa zu leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat der Europäischen
Union kann diese Aufgaben unserer Zeit im Alleingang
bewältigen. Wir brauchen einander. Wer das nicht er-
kennt, der hat die einzigartige Erfolgsgeschichte der eu-
ropäischen Einigungsidee nicht verstanden. Gemeinsam
sind wir stärker.

Deshalb begrüße ich die Bemühungen der Europäi-
schen Präsidentschaft und der Europäischen Kommis-
sion für eine neue europäische Wachstumsstrategie, die
sogenannte Strategie EU 2020. Auf Eckpunkte dieser
EU-2020-Strategie wollen wir uns heute und morgen in
Brüssel einigen. Eine solche Strategie ist von großer Be-
deutung, weil im Binnenmarkt die europäischen Volks-
wirtschaften in einer unauflöslichen gegenseitigen Ab-
hängigkeitsbeziehung stehen. Wir erleben gerade in
diesen Tagen schmerzlich, dass Fehler in der Wirt-
schaftspolitik einzelner Staaten zu beträchtlichen ökono-
mischen Verwerfungen insgesamt führen können. Um-
gekehrt haben wir in der Geschichte der Europäischen
Union auch immer wieder erlebt, dass Strukturreformen
in einzelnen Mitgliedstaaten sich gegenseitig bereichern
können. Damit wirkt die Zusammenarbeit der Mitglied-
staaten zum Wohle aller in der ganzen Europäischen
Union.

Ich kenne die Einwände, die gegen die neue EU-
2020-Strategie vorgebracht werden. Ich sage ausdrück-
lich: Ich nehme diese Einwände ernst, und ich weiß auch
um die Defizite, die schon die sogenannte Lissabon-
Strategie hatte. Vorneweg war eines dieser Defizite die
fehlende Prioritätensetzung und damit verbunden eine
mangelnde politische Verbindlichkeit. Wir haben in der
Lissabon-Strategie zum Schluss sage und schreibe
25 quantitative Ziele gezählt. Hinzu kommt eine noch
wesentlich größere Zahl an qualitativen Zielen. Am
Ende sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.
Genau das wollen wir ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deutschland hat deshalb gefordert, für die neue EU-
2020-Strategie den Zielkatalog deutlich zu reduzieren.
Ich freue mich, dass Präsident Van Rompuy jetzt ein
Konzept zur Reform der Lissabon-Strategie auf den
Tisch gelegt hat, das genau diesen Gedanken aufgreift.

Dennoch: Wir dürfen trotz aller Unzulänglichkeiten
eines nicht vergessen: Viele der Reformen, die die Mit-
gliedstaaten in den Jahren vor der weltweiten Finanz-
und Wirtschaftskrise zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfä-
higkeit durchgeführt haben, waren auch das Ergebnis ei-
nes Voneinander-Lernens, das Ergebnis genau dieser
Lissabon-Strategie, die das Benchmarking eingeführt
hatte und die uns immer wieder hat schauen lassen: Wie
machen es andere?

Mit der neuen EU-2020-Strategie gehen wir zweierlei
an: Einerseits übernehmen wir die Stärken der Lissabon-
Strategie, und wir versuchen gleichzeitig, ihre Defizite
zu beseitigen:

Erstens. Es werden nur noch einige wenige prioritäre
Ziele gesetzt.

Zweitens – das ist vielleicht noch wichtiger –: Diese
wenigen EU-Ziele sollen mit der Verbesserung der inter-
nationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der För-
derung eines nachhaltigen Wachstums in direktem Zu-
sammenhang stehen. Die Ziele sind also ausgerichtet auf
die Zielstellung der Strategie.

Drittens. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen die
Staats- und Regierungschefs konkret die Verantwortung
übernehmen.

Meine Damen und Herren, mit der EU-2020-Strategie
wollen und werden wir die Innovationsfähigkeit Euro-
pas stärken. Man muss ganz nüchtern sagen: Der An-
spruch der Lissabon-Strategie, dass wir der wettbe-
werbsfähigste und innovativste Kontinent schon bis
2010 sind, hat sich nicht erfüllt. Trotzdem bleibt das
Thema Innovationsfähigkeit natürlich auf der Tagesord-
nung.

Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag
von Präsident Barroso, 3 Prozent des europäischen Brut-
toinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus-
zugeben. In aller Bescheidenheit können wir hinzufü-
gen: Deutschland ist wie schon in anderen Bereichen
auch hier einer der Vorreiter in Europa. Wir werden auf
der Bundesseite das 3-Prozent-Ziel sehr schnell erfüllen.
Wir werden auch gesamtstaatlich daran arbeiten und ha-
ben uns vorgenommen, bis 2015 die Ausgaben für Bil-
dung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlands-
produkts zu steigern.

Es reicht nicht aus, wenn sich die Europäische Union
das Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozent
setzt, wie das jetzt geplant ist. Es müssen dazu natürlich





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

auch die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Das
heißt, das 75-Prozent-Ziel können wir teilen. Aber wir
müssen das Erreichte – Deutschland hat dieses Ziel im
Wesentlichen erreicht – auch festigen und zukunftsfest
machen. Deshalb geht es neben Forschung und Entwick-
lung auch darum, bestehende Beschäftigungshemm-
nisse zu beseitigen, indem wir zum Beispiel die Auf-
nahme einer regulären Arbeit für die Bezieher von
Arbeitslosengeld II attraktiver ausgestalten wollen. Wir
werden das innenpolitisch anpacken und auch damit ei-
nen Beitrag zur Stärkung Europas leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit verbunden ist aber natürlich auch, dass diese
Zielsetzungen – das zeigt sich an einem weiteren Ziel –
auf die innere und spezifische Situation der Mitglied-
staaten ausgerichtet sein müssen. Jeder weiß: Gute Bil-
dung für alle, das ist die Voraussetzung für eine hohe
Rate qualifizierter Beschäftigung. Aber die Gegebenhei-
ten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschied-
lich. Ich kann und werde heute in Brüssel nicht einfach
ein pauschales EU-Ziel zur Quote der Hochschulabsol-
venten unterstützen; denn wir müssen zum Beispiel da-
rauf achten, dass die deutschen Berufsbildungsab-
schlüsse bestimmten Hochschulabschlüssen in anderen
Mitgliedstaaten durchaus ebenbürtig sind. Das müssen
wir miteinander vergleichen und dafür auch werben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb teile ich an dieser Stelle ausdrücklich die Auf-
fassung der Ministerpräsidenten der Länder: Hier gibt es
noch Beratungsbedarf, und die Zeit dafür werden wir
uns nehmen.

Dennoch bin ich optimistisch, dass wir uns auf euro-
päischer Ebene auf ein vernünftiges Verfahren für ein
Bildungsziel verständigen können, und zwar unter einer
Voraussetzung: Es muss die spezifischen Gegebenheiten
der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen.

Meine Damen und Herren, ich habe es schon oft ge-
sagt und wiederhole es heute, weil man es nicht oft ge-
nug wiederholen kann: Niemals darf die große Heraus-
forderung der Bewältigung der weltweiten Finanz- und
Wirtschaftskrise gleichsam als Ausrede dafür herhalten,
andere große Herausforderungen in den Hintergrund tre-
ten zu lassen. Das muss auch für den heutigen EU-Rat
vermieden werden, weil etwa die Erfüllung der Klima-
und Energieziele der Europäischen Union keinen Auf-
schub duldet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Strukturwandel in Richtung einer kohlenstoffar-
men Wirtschaft muss konsequent vorangetrieben wer-
den. Das hat dann natürlich auch einen ökonomischen
Mehrwert; denn wenn wir in Europa diesen Struktur-
wandel frühzeitig einleiten und umsetzen, wird dies zu
erheblichen Wettbewerbsvorteilen für unsere Industrie
im globalen Wettbewerb führen. Wir müssen also – das
muss uns leiten – unsere Chancen erkennen, und darüber
hinaus gilt: Wir müssen diese Chancen dann auch konse-
quent gemeinsam nutzen. Deshalb unterstütze ich aus-
drücklich den Vorschlag der EU-Kommission, die Erfül-
lung der vom Europäischen Rat unter deutscher
Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele
auch im Rahmen der EU-2020-Strategie zu verankern
und voranzubringen.

Ich füge allerdings hinzu: Da die Wahrheit oft im
Kleingedruckten steckt, wird Deutschland ein waches
Auge auf die Diskussion haben, die in diesem Zusam-
menhang in der Europäischen Kommission im An-
schluss an den Europäischen Rat zum Thema Energie-
effizienz geführt wird. Deutschland nimmt die
Verantwortung, die sich durch eine Vorreiterrolle für den
Klimaschutz in Europa ergibt, weiterhin konsequent
wahr. Einen wichtigen Impuls für Fortschritte in den in-
ternationalen Verhandlungen werden wir auch noch ein-
mal mit der Ministerkonferenz des Bundesumweltminis-
ters für den Klimaschutz vom 2. bis 4. Mai in Bonn
setzen.

Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass sich
die vereinbarten Maßnahmen in der Europäischen Union
nicht gegenseitig widersprechen, sondern dass sie in sich
konsistent sind. So kann man nach meiner Auffassung,
wenn man sich zum Beispiel für den Zertifikatehandel
entscheidet, nicht gleichzeitig Steuern und Ähnliches
einführen. Das bringt kein konsistentes Bild in die ge-
samte Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nicht
verschweigen, dass es bei der Beratung der EU-2020-
Strategie heute ein Thema geben wird, zu dem es von
mir für ein quantitatives Ziel keine Unterstützung geben
wird. Ich meine die Bekämpfung der Armut in
Europa. Natürlich: Alle wollen Armut bekämpfen, nie-
mand von uns findet sich mit ihr ab. Wir als Bundesre-
gierung verfolgen das gemeinsam mit den die Regierung
tragenden Fraktionen ganz konsequent. Außerdem gilt:
Soweit die Armutsbekämpfung über mehr Wachstum er-
reicht werden kann, gehört sie in die neue europäische
Strategie 2020. Aber – darum geht es mir – Armutsbe-
kämpfung ist viel mehr als wirtschaftliches Wachstum.
Sie ist eine sozialpolitische Aufgabe. Diese ist – ich erin-
nere an den Grundsatz der Subsidiarität – mit gutem
Grund Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Da sollten wir
sie auch belassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir nicht
mehr alle Ziele aufnehmen können, die man für gut und
richtig hält, sondern dass man genau schauen muss: Wo
sind die Prioritäten? Wo muss man bestimmte Aufgaben
an die Mitgliedstaaten verweisen?

Die Ziele der neuen EU-2020-Strategie werden heute
und morgen im Rat beraten. Nach den Vorschriften des
Vertrages von Lissabon sind sie für die Mitgliedstaaten
zwar rechtlich nicht bindend, dennoch – davon bin ich
überzeugt – werden sie eine nicht zu unterschätzende
politische Bindungswirkung entfalten. Denn in Zukunft
kommt gerade dem Rat bei dem Beschluss solcher Ziele
eine ungleich größere Verantwortung als früher zu, weil
wir auch für die Einhaltung dieser Ziele geradestehen
müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn die Kom-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

mission regelmäßig überprüfen will, ob wir diese Ziele
einhalten, auch zu Hause miteinander – das bedeutet die
Diskussion im Deutschen Bundestag, das bedeutet auch
die Diskussion mit dem Bundesrat – intensiver als früher
diskutieren; denn nur wenn ein solches Ziel breit getra-
gen wird von denen, die die parlamentarischen Entschei-
dungen in Deutschland fällen, kann ich das Ziel für
Deutschland umsetzen. Nur dann können wir auch ak-
zeptieren, dass die Kommission auf diese Einhaltung
pocht. Das heißt also, wir vereinbaren Ziele nur dann,
wenn wir gemeinsam, mehrheitlich in diesem Hause zu
der Überzeugung kommen, dass es die richtigen und
wichtige Ziele sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der Debatte um die Strategie EU 2020 wurde in
den vergangenen Wochen immer wieder die Verknüp-
fung des Stabilitätspaktes mit der neuen Wachstums-
strategie gefordert. Ich habe mich immer wieder konse-
quent, wie auch die ganze Bundesregierung dies getan
hat, dagegen gewendet. Ich hielte es für falsch, wenn wir
Wachstum gegen Stabilität ausspielen würden, wenn wir
den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen würden.
Ich hielte es sogar für verhängnisvoll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb bin ich froh, dass das verhindert werden
konnte. Wir können uns eine Verwässerung des Stabili-
tätspaktes nicht leisten. Mit der Bundesregierung – ich
glaube, dafür auch die Unterstützung des Parlaments zu
haben – wird es sie nicht geben. Zur Rückkehr zu soli-
den Staatsfinanzen gibt es nämlich keine vernünftige
Alternative.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Fangen Sie in Deutschland schon mal an!)


Hier darf nicht getrickst werden. Sie brauchen sich auch
gar keine Sorgen machen, dass wir nicht anfangen. Al-
lein das Grundgesetz zwingt uns dazu.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Weiß Herr Westerwelle das auch?)


Das ist der richtige Ort, an dem die Schuldenbremse ver-
ankert ist.

Alle Mitgliedstaaten müssen diesen Weg gehen. Nur
mit der Rückführung der Defizite in jedem einzelnen
Mitgliedstaat kann Europa das Vertrauen in seine wirt-
schaftliche Stärke, seine gemeinsame Währung und
seine politische Handlungsfähigkeit sichern. Das ist un-
verzichtbar für die Zukunft Europas.

Aber wir spüren in diesen Wochen durchaus auch die
Grenzen des Stabilitätspaktes. Er war und ist nicht da-
rauf ausgerichtet, strukturelle Fehlentwicklungen und
den damit verbundenen Aufbau von erheblichen Un-
gleichgewichten in der EU zu erkennen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Um es klipp und klar zu sagen: Auf ein bewusstes Unter-
laufen seiner Kriterien, wie wir das im Falle Griechen-
lands erleben mussten, war und ist dieser Pakt nicht ein-
gestellt. Deshalb sage ich: Ein solches Unterlaufen muss
für die Zukunft unterbunden werden. Wir dürfen nicht
mit Europas Zukunft spielen.

Ich werde das heute und morgen in Brüssel unmiss-
verständlich deutlich machen. Deutschland ist sich hier
seiner historischen Verantwortung bewusst. Die Wirt-
schafts- und Währungsunion wurde seinerzeit maßgeb-
lich von der deutschen Bundesregierung geprägt.
Helmut Kohl und Theo Waigel haben für ein Regelwerk
gekämpft, das die Stabilität des Euro dauerhaft garan-
tiert. Das hat sich ausgezahlt: Der Euro ist heute stabiler,
als die D-Mark es je war. Der Euro hat uns gerade bei
der Bewältigung der internationalen Finanzkrise sehr ge-
holfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Als man die vertraglichen Grundlagen für die Einfüh-
rung des Euro geschaffen hat, hat man sich eine außerge-
wöhnliche Situation wie die schwerste Wirtschafts- und
Finanzkrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts
allerdings nicht vorgestellt. Ich füge hinzu: vielleicht hat
man es sich auch nicht vorstellen können; denn wir alle
sind mit Dingen konfrontiert worden, die außerhalb des-
sen waren, was wir erwartet haben. Deshalb wurden in
den europäischen Verträgen keine Vorkehrungen getrof-
fen, um eine solche Situation beherrschen zu können.

Würde ein Mitglied der Währungsunion in der gegen-
wärtigen Situation zahlungsunfähig, bedeutete dies für
uns alle in Europa gravierende Risiken, auch für
Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas. Wie
unkontrollierbare Kettenreaktionen entstehen und die
ganze Weltwirtschaft erschüttern können, haben wir im
Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman
Brothers, erlebt. Es ist also sowohl im europäischen als
auch im wohlverstandenen deutschen Interesse, schwer-
wiegende Störungen der Finanzstabilität in der Eurozone
oder der globalen Finanzmärkte zu vermeiden.

So weit wollen und dürfen wir es nicht kommen las-
sen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs
beim letzten EU-Gipfel, am 11. Februar, klar vereinbart:
Wenn es notwendig sein sollte, sind die Euromitglieds-
länder bereit, entschlossen und koordiniert zu handeln,
um die Finanzstabilität in der Eurozone insgesamt zu si-
chern.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur über das Wie können sie sich nicht einigen!)


Diese Vereinbarung – Sie erinnern sich – wurde ganz
wesentlich in einer Kooperation zwischen Deutschland
und Frankreich erreicht. Sie hat sich schon jetzt bewährt.
Heute, sechs Wochen später, können wir eine erste Zwi-
schenbilanz dieser Entscheidung ziehen. Wir stellen fest:
Es ist noch kein Euro und kein Cent für die Unterstüt-
zung Griechenlands ausgegeben worden. Bislang ist
Griechenland nicht zahlungsunfähig geworden. Auch
sind düstere Vorhersagen über die Entwicklung in ande-
ren Mitgliedstaaten nicht Realität geworden. Stattdessen
hat Griechenland ein ambitioniertes Sparprogramm be-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

schlossen und erfolgreich eine Anleihe an den Märkten
platziert.

Ich glaube, sagen zu können, dass sich Europa am
11. Februar in einer Stunde der größten ökonomischen
und politischen Herausforderung als gleichermaßen ent-
schieden, aber auch besonnen gezeigt hat; das hat seine
Effekte gezeitigt. Ich wiederhole: Deutschland und
Frankreich haben dabei sehr eng zusammengearbeitet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wissen: Jede weitere Entscheidung über die kurz-
fristige Stabilisierung eines Mitgliedstaats der Europäi-
schen Union muss im Einklang mit der langfristigen Sta-
bilität der Wirtschafts- und Währungsunion getroffen
werden. Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin der
außerordentlich großen Verantwortung in dieser Stunde
bewusst. Denn das deutsche Volk hat im Vertrauen auf
einen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben.
Dieses Vertrauen – das eint die ganze Bundesregierung –
darf unter keinen Umständen enttäuscht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb sage ich: Ein guter Europäer ist nicht unbe-
dingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der
die europäischen Verträge und das jeweilige nationale
Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Euro-
zone keinen Schaden nimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das war die Richtschnur des bisherigen Handelns des
Bundesfinanzministers, von mir und der gesamten Bun-
desregierung. Das ist die Richtschnur aller Entscheidun-
gen heute und morgen auf dem Rat und auch in Zukunft.

Heute und morgen geht es darum, die Entscheidungen
des Rats vom 11. Februar zu spezifizieren, also darum,
fortzuschreiben, wie wir im äußersten Notfall als Ultima
Ratio – so haben wir es gesagt – agieren können, wenn
die Stabilität gefährdet ist, wenn ein Eurostaat keinen
Zugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat,
wenn dieser Zugang also erschöpft ist.

Für einen solchen Notfall haben die Finanzminister
Gemeinschaftshilfen ausgeschlossen und sich für bilate-
rale Hilfen ausgesprochen.

Die Bundesregierung wird sich beim Rat heute und
morgen dafür einsetzen, dass im Notfall eine Kombina-
tion von Hilfen des IWF und gemeinsamen bilateralen
Hilfen in der Eurozone gewährt werden müsste. Aber
dies ist – ich sage es noch einmal – die Ultima Ratio. Ich
werde entschieden dafür eintreten, dass eine solche Ent-
scheidung – IWF plus bilaterale Hilfen – gelingt. Dabei
werden wir wieder sehr eng mit Frankreich zusammen-
arbeiten. Ich wiederhole: Es geht nicht um konkrete Hil-
fen, sondern um eine Spezifizierung und Fortschreibung
der Entscheidung vom 11. Februar.

Meine Damen und Herren, mit alldem dürfen wir un-
sere Arbeiten keinesfalls beenden; das würde nicht aus-
reichen. Denn eine Situation, wie wir sie nie vorausgese-
hen haben, kann nicht einfach übergangen werden,
sondern Europa muss daraus die richtigen Lehren für die
Zukunft ziehen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, da-
mit sich eine solche Situation nicht wiederholen kann.
Wir haben gesehen, dass das aktuelle Instrumentarium
der Währungsunion unzureichend ist. Wolfgang
Schäuble hat darauf hingewiesen und weiterführende
Maßnahmen vorgeschlagen, die ich ausdrücklich unter-
stütze. Wir beraten schon heute eine Verordnung, die
Eurostat das Recht gibt, kritische Fragen direkt vor Ort
zu prüfen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Donnerwetter!)


– Auch Sie waren daran beteiligt, als wir Eurostat das
verboten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]. Herr Steinbrück hat Ihnen doch gesagt, was Sie machen müssen!)


Tricksereien muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Aber mehr Eingriffsbefugnisse für Eurostat allein wer-
den nicht ausreichen. Wir müssen mit Blick auf die Zu-
kunft folgende Fragen beantworten: Was passiert, wenn
trotz aller Vorkehrungen ein Eurostaat zahlungsunfähig
wird? Welche Möglichkeiten gibt es, dies in ein geordne-
tes Verfahren zu bringen, ohne dass die Stabilität der
Währungsunion erschüttert wird, sondern dass sie ge-
schützt wird?

Deshalb werde ich mich auch für erforderliche Ver-
tragsänderungen einsetzen, damit Fehlentwicklungen
durch geeignete Sanktionen früher und effektiver be-
kämpft werden können. Hier steht insbesondere die
Stärkung des Defizitverfahrens auf der Agenda. Das
ist eine Aufgabe, die weit über den heute beginnenden
EU-Rat hinausreicht. Sie will wohl überlegt sein. Aber
auf Dauer werden wir einer solchen Antwort nicht aus-
weichen können.

Eines möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen,
wenn auch nur am Rande: Es ist geradezu absurd,
Deutschland mit seiner wettbewerbsstarken Wirtschaft
gleichsam zum Sündenbock für die Entwicklung zu ma-
chen, die wir jetzt zu bewältigen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Kritiker in Europa verkennen, dass unsere Ex-
portgewinne zum Teil in die Defizitländer zurückflie-
ßen und dass Deutschland auch das größte Importland
Europas ist. Deutsche Unternehmen haben 500 Milliar-
den Euro in der EU investiert und beschäftigen dort
mehr als 2,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch auf
den Weltmärkten. Darauf können wir zu Recht stolz
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, die Staats- und Regie-
rungschefs werden auf ihrem heute beginnenden Gipfel
ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftli-
chen Zusammenarbeit Europas aufschlagen. Wir werden
in Europa noch stärker zusammenrücken. Wir werden
damit unsere Interessen in der Welt noch besser vertreten





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

können. Unsere politische Generation wird auch in unse-
rer Zeit der großen Verantwortung gerecht, die uns die
Gründer der wunderbaren Idee der Einigung Europas vor
über 50 Jahren mit auf den Weg gegeben haben.

Europa ist Friedensgemeinschaft, Europa ist Rechts-
gemeinschaft, Europa ist Stabilitäts- und Wachstumsge-
meinschaft, Europa ist unsere Zukunft. Diese Idee zu
schützen und zu wahren, das war und das ist jede Mühe
und Anstrengung wert. Dafür setzt sich die Bundesregie-
rung und dafür setze ich mich in den nächsten beiden Ta-
gen ganz persönlich ein.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703400500

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-

nächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1703400600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr enttäuscht über
Ihre Erklärung, Frau Bundeskanzlerin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Das ist aber schade! – Das war klar!)


Sie haben angekündigt, dass beim heute beginnenden
Europäischen Rat ein neues und anspruchsvolles Kapitel
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa aufge-
schlagen werden soll. Frau Kanzlerin, ich vermisse den
anspruchsvollen und leidenschaftlichen Beitrag der Bun-
desregierung zu dieser Strategie, die uns in den nächsten
zehn Jahren zu wirtschaftlichem, sozialem und ökologi-
schem Erfolg führen soll.


(Beifall bei der SPD)


Stattdessen, Frau Bundeskanzlerin, erklären Sie uns,
welche von der Kommission vorgeschlagenen Ziele Sie
zwar gut finden, aber doch bitte nicht so genau festge-
schrieben haben wollen. Man könnte die schwarz-gelbe
Koalition sonst ja gegebenenfalls daran messen, ob sie
tatsächlich Entscheidendes getan hat, um die Chancen-
gleichheit in der Bildung herzustellen oder die Armut
abzubauen. Wo, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ist
denn der kräftige Pinselstrich dieser Regierung im Hin-
blick auf die Strategie EU 2020, der unsere europäischen
Gesellschaften wirklich mit Innovationen voranbringt?


(Thomas Oppermann [SPD]: Davon haben wir nichts gespürt!)


Sie sagen, Sie unterstützten die unter deutscher Präsi-
dentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele der
Union. Aber Misstrauen ist angesagt. Denn gleichzeitig
haben Sie dem Rats- und dem Kommissionspräsidenten
brieflich übermittelt, dass Sie auf dem März-Gipfel kei-
nen quantifizierten Zielen zustimmen können, deren Er-
füllung von der Kommission nicht belegt werden könne.


(Joachim Poß [SPD]: Hört! Hört!)


Hier schleicht sich die Klimakanzlerin davon.


(Beifall bei der SPD)


Genauso haben Sie im Haushalt nicht die Mittel zur Ver-
fügung gestellt, die zur Erreichung des Klimaschutzes in
den Entwicklungsländern notwendig sind.

Frau Kanzlerin, das passt zu den verheerenden Signa-
len, die Ihre Regierung in Deutschland selbst setzt: Die
Förderung der erneuerbaren Energien wird von heute auf
morgen reduziert, und die Investoren werden damit ver-
unsichert. Die Markteinführungsprogramme für Effi-
zienztechnologien und Wärmeerzeugung werden ge-
kürzt und gesperrt. Die Wärmedämmung wird nur noch
halbherzig unterstützt. Wegen der anstehenden Entschei-
dung über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwer-
ken sind die Kraftwerkserneuerungsprogramme auf Eis
gelegt. So kann schon Deutschland seine Klimaziele
nicht erreichen.


(Beifall bei der SPD)


Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen uns,
Europa müsse noch stärker zusammenrücken. Wie soll
das denn geschehen? Die Staats- und Regierungschefs
– so darf ich Sie zitieren – müssten dafür geradestehen,
die gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen zu Hause
umzusetzen. – Wenn Sie sich nicht für eine stärkere
wirtschaftspolitische Koordinierung einsetzen, dann
bleibt Ihr Verweis auf eine Wirtschaftsregierung nur ein
leeres Zugeständnis an Staatspräsident Sarkozy und eine
Mogelpackung.


(Beifall bei der SPD)


Der Europäische Rat bereitet auch den G-20-Gipfel in
Toronto vor. Das wichtigste Thema wird die Reform des
Finanzsektors sein. Eine international vereinbarte
Steuer auf den Handel von Finanzprodukten würde zu
einer Entschleunigung des Finanzroulettes beitragen.
Leider ist nicht klar, ob die Bundesregierung eine solche
Steuer weiterhin unterstützt.


(Beifall bei der SPD)


Heute wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, den Deut-
schen Bundestag darüber zu informieren.


(Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr! Nirgendwo aufgestellt, diese Regierung!)


Wenn wir von Verantwortung sprechen, dann, Frau
Bundeskanzlerin, muss ich Ihnen sagen: Sie sind Ihrer
Verantwortung in den letzten Wochen nicht gerecht ge-
worden.


(Beifall bei der SPD)


In diesen Wochen, in denen sich viele Menschen Sorgen
um die Stabilität des Euro und um den Zusammenhalt
der Währungsunion machen, betreiben Sie und Ihre Re-
gierung eine unstete und unentschlossene Politik, eine
Politik der Unentschiedenheit und des Attentismus. Sie
sagen heute: Griechenland wird nicht geholfen. – Mor-





Dr. Angelica Schwall-Düren


(A) (C)



(D)(B)

gen verkündet der Finanzminister, er setze sich für einen
EWF ein. Und vom Außenminister ist dröhnendes
Schweigen zu vernehmen. Das ist eine unehrliche und
opportunistische Verhaltensweise.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Außenminister?)


Ja, Griechenland hat seine schwierige Lage überwie-
gend selbst verursacht. Während der frühere griechische
Ministerpräsident Karamanlis mit Goldman Sachs ge-
zockt hat, erweist sich der heutige Ministerpräsident
Papandreou aber als wahrer Patriot. Er – das sollten Sie
zur Kenntnis nehmen – und die aktuelle Regierung ha-
ben mit der Politik der Vorgängerregierung gebrochen.
Die jetzige Regierung bettelt nicht um Hilfe. Papandreou
hat seiner Bevölkerung ein strenges Spar- und Reform-
paket verordnet, das seinesgleichen sucht. Er nimmt ein
hohes persönliches, aber auch ökonomisches und sozia-
les Risiko für sein Land auf sich.

Heute ist übrigens griechischer Nationalfeiertag. Wir
wünschen der griechischen Bevölkerung von hier aus
Mut, Kraft und Erfolg bei den Reformbemühungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Ministerpräsident will, dass Griechenland die
Krise aus eigener Kraft bewältigt. Aber Sie, Frau
Merkel, fallen ihm in den Rücken.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)

Jedes Mal, wenn Sie sich äußern und verkünden, nein,
über Hilfsprogramme spreche man nicht, ja, Griechen-
land müsse seine Probleme allein lösen, nein, es gebe
keinen Anlass, über Hilfen zu spekulieren, heizen Sie die
Spekulationen an.


(Beifall bei der SPD)

Jedes Mal, wenn Sie sprechen, fallen die Kurse für Grie-
chenland, und der Spread steigt; das heißt, die Griechen
müssen mehr als doppelt so hohe Zinsen wie Deutsch-
land für Anleihen bezahlen.


(Die Rednerin hält ein Schriftstück hoch)

Ich darf Ihnen hier ein unverdächtiges Blatt zeigen.

Diese Grafik bildet die Kursschwankungen ab. Die
Financial Times Deutschland schreibt: Merkels riskantes
Spiel mit den Märkten. Offensichtlich, Frau Bundes-
kanzlerin, wollen Sie nach der Methode der Zeitung mit
den vier großen Buchstaben das vermeintliche Bauchge-
fühl potenzieller Wähler in NRW ansprechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr! – Thomas Oppermann [SPD]: Durchsichtig!)


In Wahrheit verunsichern Sie die Bevölkerung. Sie be-
schädigen Ihren Finanzminister. Sie verprellen die euro-
päischen Partner, indem Sie ihnen die kalte Schulter zei-
gen. Mit Ihrem Verhalten kündigen Sie die europäische
Solidarität auf.


(Zuruf von der CDU/CSU: Absurd!)

Sie brechen mit der Tradition der deutschen Europa-
politik all Ihrer Vorgänger. Sie isolieren Deutschland in
Europa.

Dies alles, Frau Bundeskanzlerin, sind keineswegs
moralisierende Vorhaltungen. Ökonomischer Sachver-
stand müsste Ihnen klarmachen, dass Sie mit Ihrem Hin
und Her die Spekulationsjongleure stärken. Der Devi-
senmarkt interpretiert die von Ihnen genährten Spekula-
tionen bereits als Schwäche des Euro. Wenn es so wei-
tergeht, wird bald nicht nur Griechenland Hilfe
benötigen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Auch die SPD!)


Auch Portugal ist bereits im Visier der Spekulanten.

Die Stabilität der Eurozone liegt im ureigenen deut-
schen Interesse.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten beide, dass
das Wohlergehen der Europäischen Union auch Wohl-
stand für Deutschland bedeutet. Deutschlands Interessen
können nicht gegen die Interessen der EU gestellt wer-
den. Die wiederholt vorgetragene Forderung der Bun-
desregierung, ein Mitgliedsland gegebenenfalls aus der
Eurozone auszuschließen, widerspricht dem EU-Vertrag.
Die Diskussion über einen möglichen Rausschmiss muss
so schnell wie möglich beendet werden, um Schlimme-
res zu verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Statt zu spalten, sollte die Bundesregierung konstruktive
Vorschläge machen, wie weiteren Wirtschafts- und Fi-
nanzkrisen in der EU vorgebeugt werden kann und wie
solche Krisen gegebenenfalls gemanagt werden sollen.
Das Ziel muss sein, Heterogenität zu verringern, Innova-
tionen voranzubringen, die Produktivität nachhaltig zu
steigern und die Kaufkraft zu stärken. Nur so können wir
wirtschaftliche Ungleichgewichte verringern und ge-
meinsam stark sein.

Frau Bundeskanzlerin, wir sollten uns nicht vom Au-
ßenminister von Luxemburg sagen lassen müssen, dass
die EU eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wer sollte dies
besser wissen als wir Deutschen? Frau Merkel, greifen
Sie die Initiative des Präsidenten des Europäischen Ra-
tes, Van Rompuy, des spanischen Ministerpräsidenten
Zapatero und des Vorsitzenden der Eurogruppe, Juncker,
auf und werden Sie Ihrer Verantwortung in und für Eu-
ropa und Deutschland gerecht.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703400700

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1703400800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit

der Diskussion über die Strategie Europa 2020 für
Wachstum und Beschäftigung werden die Lehren aus der
gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen. Das ist gut so.
Bei der Lissabon-Strategie hatte man sich zu viel auf zu
vielen Gebieten vorgenommen, vor allen Dingen auf Ge-
bieten, auf denen die EU keine eigene Kompetenz hat.
Damit hat man der europäischen Integration keinen Ge-
fallen getan.

Deshalb ist es gut, dass der Schwerpunkt jetzt auf
Schlüsselbereiche gelegt wird, dass weniger Ziele, dafür
aber erreichbare Ziele definiert werden. Es ist auch gut,
dass eine Koordinierung erfolgt. Genauso wichtig ist es
aber, dass dort, wo die Mitgliedstaaten die Kompetenz
und die Verantwortung haben, weiter die Mitgliedstaaten
handeln.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit Blick auf die Diskussion in den letzten Tagen ist
festzustellen, dass das Ziel nicht die Konvergenz der
Mitgliedstaaten in Richtung des kleinsten gemeinsamen
Nenners sein kann. Die europäischen Volkswirtschaften
bilden kein nach außen abgeschlossenes Nullsummen-
spiel, wo sich die Besten nur zurücklehnen müssten, da-
mit es allen anderen besser geht. Wir befinden uns in ei-
nem internationalen Wettbewerb. Deshalb ist es wichtig,
dass wir deutlich machen: Niemandem in Europa ist ge-
holfen, wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-
lands verschlechtert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb werden wir weiter daran arbeiten, die Wettbe-
werbsfähigkeit dieses Landes zu stärken.

Die Grundlage unseres Wohlstands sind gut ausgebil-
dete und motivierte Menschen, die Produkte und Dienst-
leistungen in hoher Qualität erfinden und erzeugen bzw.
bereitstellen.

Unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern au-
ßerhalb der EU hängt wesentlich von Bildung, For-
schung und Innovation ab. Deshalb ist es gut, dass hier
Ziele definiert werden, zum Beispiel, 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung
aufzuwenden. Wir haben uns in Deutschland vorgenom-
men, bis zum Jahr 2015 10 Prozent für Bildung und For-
schung auszugeben.

Wir sind der Überzeugung, dass es mehr Investitionen
in die Köpfe von Menschen bedarf. Das haben wir schon
jetzt im Haushalt 2010 umgesetzt, indem wir 750 Millio-
nen Euro zusätzlich für Bildung und Forschung einge-
stellt haben, und wir werden im Laufe dieser Legislatur-
periode 12 Milliarden Euro zusätzlich in diesen Bereich
investieren, weil wir überzeugt sind, dass das ein Schlüs-
selbereich ist, und weil wir der Auffassung sind, dass wir
auf dem Weg zu Innovationen in der Bildung einen
Schwerpunkt setzen müssen.


(Joachim Poß [SPD]: Trotzdem wollt ihr Steuerkürzungen vornehmen!)

Wir können es uns nicht erlauben, kreative Köpfe auf
dem Bildungsweg zu verlieren. Deshalb setzen wir als
Koalition diese Schwerpunkte, und sie sind richtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Frau
Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung,
wenn Sie nicht dafür eintreten, dass ein pauschales EU-
Ziel zur Quote von Hochschulabsolventen eingeführt
wird. Ich sage das ganz ausdrücklich mit Blick beispiels-
weise auf den sehr speziellen Studiengang der Berufs-
akademien, der sehr praxisorientiert ist und eine exzel-
lente Ausbildung darstellt. Das muss auch entsprechend
gewertet werden.

In der bildungspolitischen Werteskala ist das deutsche
System der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Eu-
ropa zu niedrig eingeordnet. Wir sind der Meinung, dass
es eine Gleichwertigkeit der betrieblichen und der aka-
demischen Ausbildung gibt. Wenn ich mir die hochwer-
tige Meisterausbildung in Deutschland anschaue, dann
wird klar, dass wir erwarten müssen, dass das auch in
Europa den entsprechenden Respekt und die entspre-
chende Beachtung findet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zur Energie- und Klimapolitik will ich hier nur eine
kurze Bemerkung machen. Es ist gut, dass das in der
Strategie EU 2020 erstmals aufgenommen worden ist
und vorangetrieben werden soll. Wir haben uns hier in
Deutschland als Koalition sogar ehrgeizigere Ziele ge-
setzt, Frau Schwall-Düren,


(Dr. Eva Högl [SPD]: Oh ja!)


und wir werden die Erreichung dieser Ziele durch das
Energiekonzept und die Überprüfung des integrierten
Energie- und Klimaprogramms in Deutschland entschie-
den voranbringen.

Wir haben in den letzten Tagen eine zentrale Diskus-
sion über den Stabilitätspakt geführt; das ist jetzt auch
in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu
Recht angesprochen worden. Es ist ja gefordert worden,
den Stabilitätspakt mit der EU-Strategie 2020 zu ver-
knüpfen. Wir sind froh, dass es gelungen ist, das zu ver-
hindern. Der Stabilitätspakt darf nicht aufgeweicht wer-
den.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben bei der Einführung des Euro für diesen
Stabilitätspakt gekämpft, und wir werden ihn weiter mit
aller Macht verteidigen. Ich denke, dass es richtig ist,
dass alle Mitgliedstaaten zunächst einmal ihre Hausauf-
gaben machen müssen. Der Kern dabei sind solide
Staatsfinanzen. Diese Koalition hat sich genau das auch
für Deutschland vorgenommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Präsident der Europäischen Kommission,
Barroso, hat geäußert: Ohne Solidarität gäbe es keine
Stabilität. – In dieser Woche fand der Besuch des Präsi-
denten des Europäischen Parlaments, Herrn Buzek, statt,





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)

der in unserer Fraktion mit uns diskutiert und deutlich
gemacht hat, dass Solidarität Verantwortung erfordert.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Wir
begrüßen die Schritte, die Griechenland jetzt eingeleitet
hat.

Ich sage aber auch sehr deutlich, dass es wichtig ist,
dass Hilfen eben nicht „ins Schaufenster gestellt“ wor-
den sind, sondern dass die Bundeskanzlerin und die
Bundesregierung in den Verhandlungen auf europäischer
Ebene deutlich gemacht haben, dass wir erwarten, dass
Griechenland eigene Anstrengungen unternimmt. Diese
Anstrengungen wollen wir unterstützen, und wir begrü-
ßen sie auch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Schwall-Düren, entgegen Ihrer Analyse ist es
nämlich so, dass es durch die Art und Weise, in der die
Bundesregierung agiert hat, wieder zu mehr Stabilität
gekommen ist. Die Bundesrepublik Deutschland spielt
eine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung der Krise.
Das ist wichtig. Deshalb hat die Bundeskanzlerin bei
dieser Verhandlungsstrategie ganz ausdrücklich unsere

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1703400900

Sollte am Ende ein Ergebnis stehen, bei dem der IWF
und damit auch die spezifischen Kompetenzen und Fä-
higkeiten des IWF mit ins Boot geholt werden, dann fin-
det das ausdrücklich die Unterstützung unserer Fraktion
und – ich glaube – auch der gesamten Koalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, möchte ich noch eine Bemerkung machen: Ich bin
davon überzeugt, dass über das hinaus, was jetzt bespro-
chen worden ist, bei der Bewältigung der Finanz- und
Wirtschaftskrise auch europäisch gehandelt werden
muss. Wir als Koalition haben in dieser Woche eine be-
merkenswerte Initiative auf den Weg gebracht und deut-
lich gemacht, dass diejenigen, die die Krise verursacht
haben, auch dafür geradestehen und an den Kosten betei-
ligt werden müssen.

Wir sind der Auffassung, dass es weiterer Initiativen
bedarf. Es muss auf europäischer Ebene auch über die
Frage der Produktaufsicht und Produktregulierung ge-
sprochen werden. Da, wo wir europäisch handeln kön-
nen, sollten wir das auch tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist eine
neue Verantwortungsethik in der Wirtschaft. Das wollen
wir. Denjenigen, die die Verantwortung tragen und die
Entscheidungsmöglichkeiten haben, muss klar sein, dass
sie auch das Risiko tragen und die Verantwortung über-
nehmen müssen. Das durchzusetzen, ist eine ganz we-
sentliche Aufgabe, die sich diese Koalition vorgenom-
men hat.


(Widerspruch von der SPD)


Wir werden uns dabei nicht auf Deutschland beschrän-
ken, sondern auch auf europäischer Ebene Initiativen er-
greifen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703401000

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703401100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau

Homburger, an Ihnen schätze ich am meisten, dass die-
ses Pult hochgefahren werden muss, wenn Sie vor mir
gesprochen haben. Das ist bei mir so selten der Fall.


(Heiterkeit)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703401200

Herr Gysi, wenn wir Ihnen damit eine besondere

Freude machen können, würde ich mich darum bemü-
hen, dass wir das vor Beginn einer Rede von Ihnen prin-
zipiell so einführen.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703401300

Dann machen Sie das öfter.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber bitte ziehen Sie mir das nicht von der Redezeit ab.

Ich habe gehört, Frau Bundeskanzlerin, dass beim
EU-Gipfel die Verabschiedung eines Programms mit
dem Titel „Europa 2020 – eine Strategie für intelligen-
tes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ vorgese-
hen ist. Dann ist mir eingefallen, dass es seit dem
Jahre 2000 schon eine Lissabon-Strategie gab. Laut Lis-
sabon-Strategie sollte die Europäische Union bis 2010 –
daran möchte ich erinnern – zum wettbewerbsfähigsten,
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt werden. Nun hat auch die EU-Kommission festge-
stellt, dass von diesen Zielen keines erreicht ist. Es wa-
ren mehr Arbeitsplätze und ein größerer sozialer Zusam-
menhalt versprochen. Davon kann keine Rede sein.
Dieser Zehnjahresplan ist gescheitert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es klappt aber nicht mit der Planwirtschaft!)


Nun kennen wir beide ja auch die Fünfjahrespläne aus
staatssozialistischen Ländern, die alle gescheitert sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb sage ich: Ihr Vorhaben, einen zweiten Zehnjah-
resplan zu starten, wird ebenso scheitern.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun sind in dem Programm einige konkrete Ziele
festgelegt – Sie haben sie genannt –: die Steigerung der
Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehr Ausga-
ben für Bildung, eine wirksamere Armutsbekämpfung,
eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent – diese Quote
liegt in Deutschland jetzt bei 69,4 Prozent, allerdings
einschließlich der gesamten prekären Beschäftigung –,
außerdem sind Energie- und Klimaprogramme vorgese-
hen.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1703401400
Deutsch-
land wird weder bei der Höhe der Bildungsausgaben
noch bei der Armutsbekämpfung konkrete Ziele verfol-
gen. – Das lehnen Sie einfach ab. Gleichzeitig sagen Sie,
dass man sich auf Schwerpunkte konzentrieren muss.
Darf ich das so verstehen, dass Armutsbekämpfung
nicht Ihr Schwerpunkt ist? Es wird aber höchste Zeit,
dass wir in Deutschland Armut sehr wirksam bekämp-
fen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich nenne Ihnen dazu einige Zahlen: In Deutschland
gibt es den größten Niedriglohnsektor aller Industrie-
staaten: Er umfasst ein Viertel der Beschäftigten. Hinzu
kommen die prekären Jobs: die 400-Euro-Jobs und an-
dere Minijobs, befristete Arbeitsverhältnisse und die
Aufstockerinnen und Aufstocker, die eine Vollzeitbe-
schäftigung haben, aber so wenig verdienen, dass sie
zum Sozialamt geschickt werden müssen. Es ist indisku-
tabel, was wir diesbezüglich in Deutschland haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Niedriglohnsektor umfasst, wie gesagt, ein Vier-
tel der Beschäftigten. Das betrifft 9 Millionen Menschen
in Deutschland. Als prekär Beschäftigte haben wir
5 Millionen in Teilzeit, 2,6 Millionen in Minijobs und
500 000 in Leiharbeit. Das sind insgesamt fast 7,7 Mil-
lionen Beschäftigte. 2,7 Millionen haben eine befristete
Beschäftigung. 2 Millionen unserer Kinder leben in Ar-
mut. Und dann sagen Sie, Armutsbekämpfung sei nicht
Ihr Schwerpunkt. Ich finde, das muss der Schwerpunkt
der Politik einer Bundesregierung werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen hat die Armut von heute später Folgen – Sie
kennen doch die Studie –: Es ist festgestellt worden, dass
die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundeslän-
dern in wenigen Jahren im Durchschnitt unter dem
Grundsicherungsniveau liegen werden, weil es jetzt so
viel prekäre Beschäftigung gibt.

Es ist festgestellt worden, dass wir in Deutschland im
Vergleich zu allen anderen Euro-Staaten die niedrigsten
Lohnstückkosten haben. Das wird durch Lohndumping
erreicht, was übrigens auch den Handel der anderen Län-
der deutlich erschwert.

Kommen wir zur Bildung. Im Vergleich zu den ande-
ren EU-Ländern geben wir in diesem Bereich jährlich
40 Milliarden Euro zu wenig aus, Frau Bundeskanzlerin.
Wieso wollen Sie sich hier nicht auf Zahlen festlegen?
Wenn wir etwas brauchen, dann sind es höhere Ausga-
ben für Bildung, eine bessere Ausbildung und vor allen
Dingen endlich Chancengleichheit in der Bildung. Da-
von sind wir meilenweit entfernt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Losverfahren in Berlin! Das ist Chancengleichheit, Herr Gysi!)


Ich sage ganz deutlich, auch Ihnen von der FDP: Wir
sind mit unserem Schulsystem im 19. Jahrhundert ste-
cken geblieben.

(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben 16 Bundesländer und 16 verschiedene Schul-
systeme. Das finden Sie toll und nennen es Wettbewerb.
Ich sage Ihnen: Das ist eine Benachteiligung von Kin-
dern je nach dem zufälligen Geburtsort. Das ist nicht
hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der FDP)


– Sie können noch so viel herumbrüllen. – Ich möchte
im Unterschied zu Ihnen, dass wir endlich ein Top-Bil-
dungssystem bekommen, und zwar von Mecklenburg-
Vorpommern bis Bayern. Ich möchte, dass alle Kinder
die gleiche Chance auf eine sehr gute Ausbildung haben,
auch das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IV-
Empfängerin, das Sie ausgrenzen.


(Beifall bei der LINKEN – Zustimmung der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])


Das ist der Punkt: Sie machen reine Elitebildung.

Wir müssen die soziale Ausgrenzung in der Bildung
überwinden. Insofern hätten Sie sich durchaus auf ein
konkretes Ziel einlassen sollen.

Was ist wirtschaftspolitisch vorgesehen? Wirtschafts-
politisch ist vorgesehen, mit der Lissabon-Strategie wei-
terzukommen: Flexibilisierung, Deregulierung, Privati-
sierung und Liberalisierung. Das alles hat uns in die
Krise geführt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja!)


Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerung, sondern ma-
chen einfach so weiter.

Spannend finde ich auch, wie Sie Wachstum errei-
chen wollen. Sie schlagen zwei Wege vor: erstens Aus-
stieg aus dem Konjunktur- und Wachstumsprogramm
und zweitens Schuldenabbau über strenges Sparen. Das
ist aufregend. Was passiert denn da? Wenn wir aus den
Konjunktur- und Wachstumsprogrammen aussteigen,
gibt es keine staatlichen Investitionen. Wenn es keine
staatlichen Investitionen gibt, gibt es weniger Konjunk-
tur und weniger Wachstum. Wie Sie damit Wachstum
beschleunigen wollen, ist ein Geheimnis, das Sie unserer
Bevölkerung noch verraten müssen.


(Zuruf von der FDP: Was haben Sie denn vor?)


Wenn Sie bei den Renten, bei Hartz IV und den ande-
ren Sozialleistungen sparen wollen, dann reduzieren Sie
die Kaufkraft. Wenn Sie die Kaufkraft reduzieren, wird
weniger eingekauft, und es werden weniger Dienstleis-
tungen in Anspruch genommen. Dann gehen kleine und
mittlere Unternehmen pleite, und die Zahl der Arbeitslo-
sen steigt. Dann haben Sie wieder höhere Ausgaben und
außerdem viel weniger Steuereinnahmen.

Die Unlogik ist nicht mehr zu bremsen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: So stellt sich Klein-Gysi die Welt vor!)


Wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann brauchen
Sie Investitionen und mehr soziale Gerechtigkeit, also





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

genau das Gegenteil davon. Die gegenteiligen Pro-
gramme sind schon alle gescheitert.


(Lachen bei der FDP)


– Ja. – Ich sage Ihnen noch etwas: Die Reallöhne sind in
Deutschland – und zwar nur in Deutschland – im Ver-
gleich zu allen anderen Industrieländern um 8 Prozent
gesunken. Glauben Sie, dass das unsere Wirtschaft vo-
rangebracht hat? Überhaupt nicht. Im Gegenteil, es hat
viele kleine und mittlere Unternehmen ruiniert. Sie ge-
hen einen völlig falschen Weg.

Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, fordern wir eine
grundlegende Überarbeitung der Strategie Europa 2020.
Es muss um die Schwerpunkte Armutsbekämpfung, Bil-
dung, Beschäftigung und sozialer Ausgleich gehen. An
diesen Zielen sollte Europa unbedingt festhalten und
endlich etwas in diese Richtung tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt komme ich zu Griechenland und damit auch zur
Euro-Zone. Ich kann mich ja noch daran erinnern – Herr
Bundestagspräsident, das wollte ich Ihnen auch gerne
einmal erzählen –, dass wir hier saßen und Schilder hat-
ten – damals flogen wir aber noch nicht raus –, auf denen
„Euro – so nicht“ stand. „Euro – so nicht“ war eine kluge
Formulierung; wir haben nämlich nicht „Euro – nein“
gesagt, sondern wir haben gesagt: erst die politischen
und ökonomischen Voraussetzungen schaffen und dann
den Euro einführen. – Aber alle anderen waren ja
schlauer, und jetzt haben wir mit Griechenland genau
das Beispiel, dass es so nicht geht und dass es nicht or-
dentlich vereinbart war.

Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie zu Recht darauf
hinweisen, dass die griechische Regierung eine Mitver-
antwortung trägt und dass sie in diesem Umfange selbst-
verständlich auch verantwortlich gemacht werden muss.
Aber jetzt sage ich Ihnen: Die wirklichen Gewinner der
Krise um Griechenland sind wieder die Spekulanten.


(Beifall bei der LINKEN)


Hierzu würde ich gern erklären – das muss man auch
einmal den Leuten erklären –, was es mit einer Kredit-
ausfallversicherung auf sich hat. Es gibt Leute, die einen
Kredit gewähren und sich dann für den Fall versichern,
dass sie den Kredit nicht zurückgezahlt bekommen; dann
bekommen sie etwas von der Versicherung. Dies finde
ich ja noch nachvollziehbar. Dann gibt es aber noch eine
zweite Gruppe – das muss man auch erklären –, die Fol-
gendes macht: Die geben gar keinen Kredit, sondern
schließen mit der Versicherung eine Wette dergestalt ab,
dass sie sagen: Ich glaube, der Kredit wird nicht zurück-
gezahlt. – Wenn sie mit ihrem Wettangebot recht haben,
bekommen sie dafür Geld. Das ist die absurdeste Speku-
lation, die man sich vorstellen kann: ohne jede Wirt-
schaftsleistung, nichts steckt dahinter.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dies wird jetzt forciert. Das wäre so, als könnte ein
Brandstifter bei einer Versicherung eine Wette abschlie-
ßen, die besagt: Das Haus wird in Kürze brennen. Dann
zündet er es selber an und kriegt dafür 1 Million. Sagen
Sie mal, wo leben wir denn hier eigentlich?


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber der geht in den Knast, Gysi! Der geht in den Knast dafür!)


– Wenn wir Glück haben, kriegt er neben dem Geld auch
noch Knast; aber da müssen wir schon sehr viel Glück
haben. Herr Kauder, nehmen Sie dazu doch einmal Stel-
lung.

Leerverkäufe sind nichts anderes als eine Wette. Ich
sage: „Die Kurse fallen“, oder: „Die Kurse steigen“, und
dann bekomme ich Geld, wenn ich recht hatte. Sie hatten
die Leerverkäufe verboten. Warum, Herr Schäuble, ha-
ben Sie sie denn wieder erlaubt? Das war doch vernünf-
tig. Jetzt haben Sie angekündigt, sie wieder zu verbieten.
Ja, wann denn? Machen Sie es doch endlich mal! Wir
müssen raus aus der Spekulation, wenn wir aus den Kri-
sen raus wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie könnte man Griechenland helfen? Sie verweigern
sich ja der Hilfe für Griechenland, was ich für völlig
falsch halte, weil es auch Europa und uns mit nach unten
zieht. Es gibt folgenden Weg: Wir müssen Griechenland
zinsgünstige Darlehen der EU anbieten. Machten wir
dies, wäre der Weg für die Spekulanten schon versperrt,
weil dann deren hohe Zinsen nicht mehr aufgehen wür-
den. Dann müsste man einen Teil dieser Kredite auch gar
nicht mehr geben, weil die Spekulation beendet ist. So-
weit man Kredite gibt, bekommt man das Geld mit Zin-
sen wieder zurück. Was soll denn daran eine Katastrophe
sein? Warum fällt es Ihnen so schwer, diesen Weg zu ge-
hen, um so schnell wie möglich aus dieser spezifischen
Krise herauszukommen?

Dann haben Sie gesagt: Jetzt sollen endlich einmal
die Verantwortlichen der Banken, die ja das Ganze ange-
leiert haben, mit einer Bankenabgabe tatsächlich zur
Verantwortung gezogen werden. – Wir haben Ihnen hier
vorgeschlagen, den Weg von Obama zu gehen. Wenn Sie
den Weg von Obama gehen würden, hätten wir eine
Mehreinnahme von 9 Milliarden Euro. Aber das trauen
Sie sich ja hinten und vorne nicht. Sie machen so ein
kleines „Abgäbelchen“ und wollen gerade einmal
1 Milliarde einnehmen. Hinzu kommt, dass Sie diese
Abgabe auch noch von den Sparkassen und der genos-
senschaftlichen Raiffeisenbank verlangen, was eine Un-
verschämtheit ist; sie haben weder direkt noch indirekt
irgendetwas vom Staat erhalten, sie sind auch gar nicht
daran beteiligt. Nein, das müssen schon die Deutsche
Bank und die Commerzbank und die anderen Banken
bezahlen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber ich sage Ihnen noch einmal: Ihr Weg ist nicht ein-
mal ein Neuntel dessen wert, was Obama diesbezüglich
vorgeschlagen hat.

Die Obama-Regierung macht übrigens noch etwas
– das haut mich ja schon fast um –: Sie hat jetzt bei
119 Managern





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


(Zurufe von der FDP)


– ja, hören Sie mal genau zu – vom Versicherungskon-
zern AIG, von den Autobauern Chrysler und General
Motors die Vergütungen, also die normalen Einkünfte,
um 15 Prozent und die Sondervergütungen um ein Drit-
tel gesenkt. Sie hätten ja nicht einmal den Mumm, daran
zu denken, Ackermanns Vergütung zu kürzen; lieber la-
den Sie ihn viermal zum Essen ein. Aber ich sage Ihnen:
Das andere ist der richtige Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun weiß ich ja, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie
keine linke Regierung führen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703401500

Herr Kollege.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703401600

Ich muss zum Ende kommen. Das ist sehr bedauer-

lich; ich mache es aber.

Insofern sind Sie nur sehr begrenzt zu vernünftiger
Politik fähig. Wenn wir Ihnen Obama-Politik vorschla-
gen, dann gehen wir doch schon sehr weit; wir nehmen
schon Rücksicht auf Ihre Situation. Obama ist nämlich
vieles, aber kein Linker.

Machen Sie es endlich: Helfen Sie in dieser Krise
ganz anders! Denken Sie an die Bekämpfung von Ar-
mut! Denken Sie endlich einmal an die Chancengleich-
heit im Bildungsbereich! Schaffen Sie mehr Beschäfti-
gung! Organisieren Sie nicht die Wiederholung der
Krise! Leider sind Sie dabei.

Danke.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703401700

Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1703401800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Agenda 2020, die heute im Rat besprochen
wird, ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die euro-
päischen Staaten im Wettbewerb mit anderen Ländern
vorankommen. Dabei ist Bildung ein zentrales Thema.
Länder, die rohstoffarm sind – davon gibt es viele in Eu-
ropa –, die keine Bodenschätze haben, müssen dafür sor-
gen, dass vor allem junge Menschen etwas in den Köp-
fen haben. Deshalb ist diese Strategie genau richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Gysi, ich weiß, dass Sie meinen, zu allem und zu
jedem einen Beitrag abliefern zu müssen. Das ist Ihr gu-
tes Recht. Sie sagen aber auch Dinge, die Sie entlarven,
die nicht in Ordnung sind. Sie stellen sich hier an das
Rednerpult und sagen, dass Sie für Chancengleichheit
im Bildungswesen sind; aber die Linke trägt in Berlin
die Mitverantwortung für eine der größten Unsinnigkei-
ten, für die Verlosung von Plätzen an den Gymnasien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich kann nur sagen: Wer das Schicksal von jungen Men-
schen dem Los unterwirft, der hat jedes Recht verloren,
von Chancengleichheit im Bildungswesen zu sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Blödsinn!)


Ich bin der Bundeskanzlerin außerordentlich dankbar,
dass sie darauf hingewiesen hat, dass Europa nur dann
mit seinen Strategien vorankommt, wenn sich Europa
– die Europäische Kommission und der Rat – auf zen-
trale, wichtige Punkte konzentriert. Wir haben manch-
mal den Eindruck, dass sich Europa darin verliert, mi-
krokosmisch kleine Detailfragen regeln zu wollen. Diese
Fragen können wir schon selber regeln. Stattdessen
brauchen wir die große Linie, die große Ansage. Frau
Bundeskanzlerin, deswegen ist es richtig, wenn Sie
heute im Rat dem Subsidiaritätsprinzip, auf das wir hier
im Deutschen Bundestag großen Wert legen, zur Geltung
verhelfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich unterstütze besonders, dass die Europäische
Union neben der Bildung bei einem anderen Thema Füh-
rung zeigen will – es steht in den Papieren zur
Agenda 2020 –: Wir müssen den Wettbewerb mit China
und Japan vor allem um die Vorreiterrolle bei der Elek-
tromobilität aufnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Automobilbereich wird auch in Zukunft eine
Schlüsseltechnologie sein. Wir müssen doch wollen,
dass das Auto der Zukunft, das modernste Auto der
Welt, dass die Elektromobilität aus Europa kommt, nicht
aus Japan oder China. Deswegen ist es notwendig, dass
wir alle Anstrengungen unternehmen, hier voranzukom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein Blick in die Strategie Europa 2020 zeigt, dass
dort der richtige Weg beschrieben wird. Der Rat wird
heute Abend den Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion verabschieden: Um voranzukommen – genau das ist
das Thema –, muss die Europäische Union nicht be-
stimmte Antriebe und Technologien vorschreiben. Mir
hat sehr gefallen, was im Text steht. Wir werden in Eu-
ropa die gemeinsamen Standards für Elektromobilität
entwickeln und damit den Marktzugang in ganz Europa
öffnen. Das ist der richtige Weg, den Europa beschreiten
muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerade das Festsetzen der Standards wird für die Zu-
kunft der Elektromobilität entscheidend sein. Wir müs-
sen den Standard setzen; wir dürfen nicht zulassen, dass
er von anderen gesetzt wird. Wenn sich Europa auf Stan-
dards verständigt hat, muss es relativ schnell mit anderen
Ländern in der Welt, mit Japan und mit China, darüber





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

reden, wie einheitliche Standards erreicht werden kön-
nen. Dafür hat Europa die Kompetenz. Ein einzelnes
Land kann das nicht erreichen.

Ein weiteres Thema, das in der EU-Strategie 2020
sehr deutlich angesprochen wird, ist das Thema Energie.
Energiesicherheit und Energieversorgung zu akzepta-
blem Preis werden ganz entscheidend für das Wirt-
schaftswachstum sein, das dieses Papier als Ziel enthält.
Zum einen geht es um die Sicherheit, über die notwen-
dige Energie verfügen zu können; zum anderen muss das
zu einem wettbewerbsfähigen Preis möglich sein. Was
wir uns in der Koalition vorgenommen haben, nämlich
dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der erneuerbaren Ener-
gien zu machen, wird auch in diesem Bericht zugrunde
gelegt.

Aber es geht beim Thema Energie immer auch darum,
klimapolitische Ziele zu erreichen. Deswegen kann ich
nur sagen: Wir wollen den Bereich der erneuerbaren
Energien ausbauen – das ist in dem Konzept richtig dar-
gestellt –; wir wollen unsere Klimaziele erreichen – auch
das ist richtig –, und deswegen wird die Kernenergie
noch eine Zeit lang als Brückentechnologie eingesetzt
werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje!)


Wer den Menschen etwas anderes erzählt, sagt ihnen et-
was Falsches.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Kauderwelsch!)


Deswegen werden wir über dieses Thema in der Koali-
tion sprechen.

Selbstverständlich ist es ein Thema, dass wir in Eu-
ropa Armut bekämpfen wollen.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ja!)


Ich bin der Meinung, dass das Aufgabe der Nationalstaa-
ten ist. Was ich überhaupt nicht verstehe, Herr Kollege
Gysi, ist Folgendes: Wenn wir, Bund und Kommunen, in
diesem Land Jahr für Jahr für die Grundsicherung, für
Hartz IV über 50 Milliarden Euro einsetzen, dann ist
dies Teil der Armutsbekämpfung. Deshalb kann es
doch nicht sein, dass wir, wenn wir Menschen finanziell
unterstützen und sie dadurch aus der Armut herausholen,
mit dem Satz konfrontiert werden: Je mehr Geld in So-
zialpolitik investiert wird, desto stärker steigt die
Armut. – Einen größeren Unsinn habe ich noch nie ge-
hört, Herr Gysi, um das einmal klar und deutlich zu sa-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Bundeskanzlerin, wir unterstützen Sie auch – die
Kollegin Homburger hat es gesagt – in Ihrem Bemühen,
die Stabilität in Europa zu bewahren. Von zentraler Be-
deutung ist, dass die Menschen in unserem Land sich da-
rauf verlassen können, dass das, was wir bei Einführung
des Euro gesagt haben, auch heute noch gilt. Der Euro,
war damals die Aussage, wird so stark und stabil sein
wie die D-Mark. Ich kann nur sagen: Wir haben in jüngs-
ter Zeit Entwicklungen erlebt, die sich so nicht wieder-
holen dürfen. Deshalb bin ich dankbar für die Aussagen
dieser Regierung. Es war nicht in Ordnung – und hat den
einen oder anderen in der Europäischen Union vielleicht
dazu bewegt, Dinge zu machen, die nicht hätten gemacht
werden dürfen –, dass ausschließlich aufgrund einer
politischen Entscheidung der rot-grünen Regierung im
Jahr 2004 die instabilen Verhältnisse im deutschen Bun-
deshaushalt nicht zu einer Rüge durch Europa geführt
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man hat mit einer politischen Entscheidung gesagt: Wir
lassen uns von Europa in Sachen Stabilität nichts vor-
schreiben. – So etwas darf es nicht noch einmal geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Viel Erfolg!)


Ich kann mich noch sehr genau an die Aussagen von
Herrn Eichel und dem damaligen Bundeskanzler
Gerhard Schröder erinnern. Deswegen ist es richtig, dass
wir in Europa formulieren: Wir wollen eine unabhängige
Zentralbank. Wir wollen die Stabilität des Euros. Wer in
die Europäische Gemeinschaft und in die Euro-Zone
aufgenommen werden will, muss die Voraussetzungen
dafür zu 100 Prozent erfüllen.

Jetzt zum Fall Griechenland. Allein die Tatsache,
dass die Bundesregierung klar und deutlich gesagt hat,
Griechenland müsse die Voraussetzungen dafür schaf-
fen, dass es wieder zu einer wirtschaftlichen Gesundung
kommt, hat dazu geführt, dass in Griechenland enorme
Sparanstrengungen unternommen wurden. Dies erken-
nen wir ausdrücklich an.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Weg muss weitergegangen werden. Wir unterstüt-
zen es, dass, solange Griechenland nicht konkret nach fi-
nanzieller Unterstützung gefragt hat, auch keine Antwort
darauf gegeben werden muss. Wir sollten die Fragen be-
antworten, die gestellt werden, nicht die, die möglicher-
weise nie gestellt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wenn Griechenland in eine besonders schwierige Lage
kommt, dann kann als Ultima Ratio mit dem Internatio-
nalen Währungsfonds und mit bilateralen Hilfen Unter-
stützung angeboten werden. So weit sind wir aber noch
gar nicht. Deswegen rate ich uns allen dringend, das
Thema nicht jeden Tag in Interviews zu befeuern, so-
lange es nicht ansteht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber jetzt Kritik an der Kanzlerin!)


Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstüt-
zung.

Die Frage ist: Was soll in Zukunft für den Fall ge-
schehen, dass Probleme auftauchen? Ich glaube, dass wir
hierüber sehr gewissenhaft nachdenken müssen. Es ist
sicher richtig, ein Instrument für die Probleme zu schaf-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

fen, die man beim Start der Euro-Gemeinschaft noch
nicht gesehen hat, um in besonderen Fällen zu helfen.
Mit der Schaffung eines solchen Instruments sind wir
einverstanden. Aber eines möchte ich ausdrücklich sa-
gen, damit dies bedacht wird, wenn darüber diskutiert
wird: Wir möchten nicht, dass als Lösung solcher Pro-
bleme das Instrument eines Finanzausgleichs auf euro-
päischer Ebene geschaffen wird. Das wollen wir auf kei-
nen Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dies würde nicht zu einer Stärkung der Stabilität führen.
Vielmehr würden alle nach dem Motto handeln: Wir
können machen, was wir wollen. Einer wird uns schon
helfen. – Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen wir
uns heute.

Ich komme zum Schluss. Frau Schwall-Düren, Sie
haben gesagt – das unterstütze ich ausdrücklich –: Wir
sehen in Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sehen
in Europa unsere Zukunft. Wir wissen, dass Europa
schon Großes geleistet hat. Allein die Tatsache, dass es
auf europäischem Boden keinen Krieg mehr gibt, ist
schon einen Dank an dieses gemeinsame Europa wert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt geht es darum, diesem Europa die Kraft zu geben,
in wirtschaftlicher, kultureller und auch sozialer Hinsicht
die notwendigen Veränderungen zu gestalten. Dabei
kommt es darauf an, dass zunächst einmal die National-
staaten ihre Hausaufgaben machen und dass Europa die
Dinge regelt, die ein Einzelner nicht leisten kann.

Wenn dieser Grundsatz – Europa ist für die großen
Dinge zuständig, alle anderen Dinge bleiben in der Ver-
antwortung der Nationalstaaten – weiter Maßstab sein
wird, dann hat dieses Europa eine gute Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703401900

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem

Kollegen Gregor Gysi.


(Zurufe von der CDU/CSU)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703402000

– Was stöhnen Sie denn gleich? Sie wissen doch noch

gar nicht, was ich sagen werde.

Herr Kauder, zunächst einmal möchte ich Ihnen wi-
dersprechen. Sie haben behauptet, den größten Unsinn in
Ihrem Leben hätten Sie von mir gehört. Das glaube ich
Ihnen nicht. Sie müssen in Ihrer Partei schon größeren
Unsinn gehört haben. Darauf würde ich sogar eine Wette
abschließen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie toppen das immer noch!)


Jetzt zum Ernst. Sie haben etwas Falsches über die so-
genannte Losentscheidung bei der Vergabe von Gym-
nasialplätzen in Berlin gesagt, das ich richtig stellen
möchte. Die Situation ist eine völlig andere. Alle Schü-
ler, die für das Gymnasium geeignet sind, bekommen in
Berlin auch einen Platz an einem Gymnasium. Wir ha-
ben jedoch das Problem, dass bestimmte Schulen im Ge-
gensatz zu anderen Schulen überlaufen sind. Deshalb
können nicht alle Schülerinnen und Schüler das Gymna-
sium besuchen, das sie gern besuchen wollen. Der Senat
hat sich für ein Losverfahren entschieden und gesagt:
Wir mischen uns nicht ein. Dann gibt es keine Beste-
chung. Dann gibt es keine Beziehungsfragen. –


(Zurufe von der CDU/CSU – Birgit Homburger [FDP]: Was sind denn das für Zustände! Bestechung?)


– Vielleicht werden wir es korrigieren. Dann wird es
aber schwieriger.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Da gibt es gar keinen Grund, zu lachen. Hören Sie
doch erst einmal zu!

Wenn ein Schüler Pech beim Losverfahren hat, dann
geht er selbstverständlich an ein anderes Gymnasium
und bekommt dort seine gymnasiale Ausbildung und
kann das Abitur machen. Das müssen Sie bitte immer
dazusagen. Das machen Sie aber nicht.

Jetzt werden wir vielleicht wegen Ihrer Kritik einen
anderen Weg gehen und Kommissionen bilden. Ich sage
Ihnen aber, dass dann die Leute kommen und sagen wer-
den: Wieso ist gerade meine Tochter nicht dabei? Warum
die anderen? Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegan-
gen? – Ich weiß gar nicht, ob das wirklich gerechter ist.
Bitte sagen Sie das aber beim nächsten Mal dazu und er-
wecken Sie nicht den Eindruck, als ob Schülerinnen und
Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, in Berlin
keinen Platz an einem Gymnasium bekommen; denn das
ist nicht der Fall. Das Los entscheidet nur, ob sie zu die-
ser Schule gehen oder eventuell zu einer anderen Schule
gehen müssen. Das ist in Berlin durchaus machbar.

Ich wäre auch froh, wenn alle Schüler die Schule be-
suchen könnten, die sie besuchen wollen. Sie wissen
aber, dass wir noch nicht so weit sind, weil Sie zu wenig
Geld für Bildung zur Verfügung stellen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ CSU: Das war ein Schuss in den Ofen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703402100

Herr Kollege Kauder, bitte.


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1703402200

Herr Kollege Gysi, es ist bezeichnend für Ihre Einlas-

sung zu diesem Thema, dass Sie nicht darüber sprechen,
was die Ursache für dieses nicht akzeptable Losverfah-
ren ist. Das ist nämlich eine Qualitätsfrage. Wenn die
Schulen in Berlin die Qualität hätten, die sie eigentlich
haben müssten, dann käme es überhaupt nicht zu diesem
Ausleseverfahren. Darüber sollten Sie einmal reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie liefern die Qualität nicht ab.


(Thomas Nord [DIE LINKE]: Sie erzählen den größten Unsinn, den ich je gehört habe!)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Herr Kollege Gysi, im Rahmen der Föderalismusre-
form I haben wir klare Verabredungen getroffen. Dabei
ist gesagt worden: Der Bund soll sich nicht um die Bil-
dung kümmern. Das machen die Länder. – Deswegen
haben die Länder diese Aufgabe zu erfüllen, Herr Kol-
lege Gysi.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das genau ist das Schlimme!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703402300

Das Wort hat nun Kollege Jürgen Trittin für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703402400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

jetzt gelernt, dass in Baden-Württemberg alle Schülerin-
nen und Schüler genau die Schule besuchen, die sie be-
suchen wollen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)


Ich habe ein Weiteres gelernt, lieber Herr Kauder.
Wenn Sie über die Föderalismusreform I reden, dann
sollten Sie den Mut haben, zu sagen: Als wir damals das
Kooperationsverbot bei der Bildung in das Grundgesetz
geschrieben haben, haben wir einen großen Fehler ge-
macht. Das würden wir heute in dieser Form nicht wie-
der machen. – Das wäre ehrlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die klatschen mit, Jürgen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Die waren doch dabei, die Sozis, an vorderster Front!)


Frau Bundeskanzlerin, die Bild-Zeitung hat Sie in ih-
rer heutigen Ausgabe als Bismarck abgebildet. Nun kann
ich Sie nicht dafür in Haftung nehmen, wie andere Sie
porträtieren. Sie haben aber mit Ihrer Regierungserklä-
rung den ernsthaften Versuch unternommen, dieses Por-
trät argumentativ zu unterfüttern. Da sage ich Ihnen:
Bismarck steht für den organisierten Nationalstaat. Das
gemeinsame Europa war die Überwindung genau dieses
Gedankens des Nationalstaats Bismarck’scher Prägung.
Deswegen sollten Sie als Vorsitzende der Partei von
Konrad Adenauer und Helmut Kohl die Skizzierung als
Bismarck als Kritik und nicht als Ansporn für Ihre Poli-
tik nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703402500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Gysi?


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703402600

Bitte.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703402700

Ich möchte Ihnen, Herr Trittin, bevor ich meine Frage

stelle, wirklich allerbeste Genesung wünschen. Wir alle
haben Ihre Erkrankung mitbekommen, und ich glaube,
das wünschen Ihnen alle hier.


(Beifall im ganzen Hause – Volker Kauder [CDU/CSU]: Der ist doch gesund!)


Sie sind jetzt zwar beim Thema Europa; aber ich habe
mich schon zur Zwischenfrage gemeldet, als Sie beim
Thema Bildung waren. Ich habe dazu eine Frage: Kön-
nen Sie Herrn Kauder vielleicht einmal erklären, wie
groß der Anteil von Kindern, die ein Abitur machen, in
Berlin ist und wie groß der Anteil zum Beispiel in Bay-
ern und Baden-Württemberg ist? Vielleicht können Sie
ihm noch erklären, warum der Anteil in Bayern und Ba-
den-Württemberg so viel kleiner als in Berlin ist.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703402800

Lieber Herr Kollege Gysi, wir sind hier – das verstehe

ich durchaus als Antwort auf Ihre Frage – an einem der
Punkte der Regierungserklärung von Frau Merkel. Was
ist der Grund, warum Sie, Frau Merkel, es verweigern,
sich zusammen mit den Ministerpräsidenten in Europa
auf quantifizierte und überprüfbare Bildungsziele zu ei-
nigen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie weigert sich gar nicht!)


Der Grund ist relativ einfach: weil Sie sich mit Ihrer auf
Selektion, das heißt auf Ausschluss von Bildungschan-
cen beruhenden Bildungspolitik nicht dem europäischen
Vergleich, zum Beispiel mit Finnland – da muss man gar
nicht nach Berlin schauen – und anderen Ländern, stel-
len wollen. Das ist der Grund, warum Sie an dieser Stelle
die EU-Strategie 2020 blockieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das ist auch der Grund, warum die Bild-Zeitung zu
Recht dieses Bismarck-Bild von Ihnen gezeichnet hat.
Es war jahrelang gute Tradition, dass die Bundesrepu-
blik Deutschland in Europa eine antreibende, eine ge-
staltende, eine vorwärtstreibende, Europa stärkende
Rolle spielte. Was tun Sie im Zusammenhang mit dieser
Ratssitzung? Sie sind es, die dafür gesorgt hat, dass bei-
spielsweise die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit Island auf Eis gelegt wird. Warum eigentlich? Weil
Island bilaterale Probleme mit den Niederlanden und
Großbritannien hat?


(Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)


Das kann wohl für Europa und für Deutschland kein Ar-
gument sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind es, die quantifizierte Bildungsziele in dieser
Strategie verweigert.





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

Sie haben hier explizit erklärt: Die Bundesrepublik
Deutschland ist dagegen, das Ziel der Armutsbekämp-
fung zum Bestandteil einer gemeinsamen europäischen
Strategie zu machen. Ich sage Ihnen: Da kommen wir
genau an den Punkt, warum dieses Europa zurzeit in ei-
ner existenziellen Krise ist, einer Krise, die weit über das
hinausgeht, was wir im Zusammenhang mit der Aus-
einandersetzung um den Verfassungsvertrag erlebt ha-
ben. Was passiert denn in Griechenland? Da verbrennen
Leute, die sich gegen diese Sparpolitik wehren, inzwi-
schen die europäische Fahne. Das ist ungerecht gegen-
über Europa; da sind wir wahrscheinlich einer Meinung.
Besser wäre es, wenn diejenigen die Fahne der griechi-
schen Konservativen verbrennen würden, weil die der
griechischen Bevölkerung die Suppe eingebrockt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Geschichtsklitterer!)


– Der Ministerpräsident hieß Karamanlis. Er war Mit-
glied Ihrer Schwesterpartei, Herr Kauder. Das müssen
Sie schon aushalten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Damit hat es nicht begonnen!)


Aber dahinter steckt doch ein viel ernsteres Problem. Ein
Europa, das nach außen und gegenüber den Menschen in
Europa den Eindruck erweckt, man kümmere sich um al-
les Mögliche, zum Beispiel um Stabilitätskriterien, aber
nicht begreift, dass die Überwindung von Armut ein ge-
meinsames Ziel ist, muss sich doch nicht wundern, wenn
die Akzeptanz für dieses Europa mehr und mehr in den
Keller geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei dem, was in den letzten Wochen und Monaten aus
Ihren Reihen zur griechischen Krise zum Besten gege-
ben worden ist, frage ich mich natürlich: Sind wir denn
eigentlich selber so weit von griechischen Verhältnis-
sen entfernt? Ist es nicht so, dass die Bundesrepublik
Deutschland zur Erreichung des Maastricht-Stabilitäts-
kriteriums ein Jahr länger Frist von der EU-Kommission
bekommen hat als Griechenland?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na, Herr Trittin! Also jetzt! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Zahlen stimmen, stimmen sie!)


Ist es nicht so – ich schaue zu den Kolleginnen und Kol-
legen von den Liberalen –, dass zum Beispiel in Grie-
chenland gut verdienende Ärzte gerade einmal
10 000 Euro versteuern, und das zu einem maximalen
Steuersatz von 40 Prozent. Da muss Ihnen von der FDP
doch das Herz aufgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie fordern doch für Deutschland genau die Verhältnisse,
die Sie in Griechenland kritisieren. Ich warte jetzt nur
noch auf den Vorschlag aus Ihren Reihen, wir könnten
doch Sylt und Helgoland verkaufen, um Ihre Steuerre-
form zu finanzieren. Auf diesem Niveau lagen Ihre Vor-
schläge zur Behebung der Krise in Griechenland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun will ich gerne konzedieren, Frau Bundeskanzle-
rin, dass Sie sich das nicht zu eigen gemacht haben.
Aber auch Ihnen, Frau Merkel, kann ich den Vorwurf
nicht ersparen, dass Sie die Stammtischmentalität, die
sich da ausgetobt hat, mit Ihren Äußerungen verstärkt
und gestützt haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja Quatsch!)


Schlimmer noch: Sie haben damit die Krise in Griechen-
land verschärft.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Frechheit!)


– Nein, das ist eine Tatsache. Es war die deutsche Bun-
deskanzlerin, die vorgeschlagen hat, die EU-Verträge so
zu ändern, dass man ein Land wie Griechenland auch hi-
nausschmeißen könnte. – Sie haben die Reaktion auf den
internationalen Finanzmärkten sehen können: Während
Deutschland für Anleihen heute nur eine Rendite von
3 Prozent bieten muss, muss Griechenland 6,5 Prozent,
also mehr als das Doppelte, zahlen. Ihre Äußerungen ha-
ben den Kurs nach oben getrieben.


(Widerspruch von der CDU/CSU)


Jerzy Buzek hat in den Fraktionen gesagt, in Europa ge-
hörten Verantwortung und Solidarität zusammen. Dazu
sage ich Ihnen: Mit vorsätzlichen, leichtfertigen Äuße-
rungen die Kreditbedingungen für Griechenland zu ver-
schlechtern, das ist weder verantwortlich noch soli-
darisch. Es ist das Gegenteil einer vernünftigen
europäischen Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Übrigens, niemand aus dem Oppositionslager hat ge-
fordert, Griechenland mit Steuergeldern zu unterstützen.


(Zurufe von der SPD: Richtig!)

Wir haben ausschließlich gesagt, man müsse Griechen-
land über Euro-Bonds die Möglichkeit geben, sich auf
dem Kreditmarkt mit dem notwendigen Geld zu versor-
gen.


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Das ist ja unsäglich! Das ist ja schmerzhaft, was Sie da erzählen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Das tun wir übrigens gegenüber Osteuropa, gegenüber
Lettland und Ungarn, genauso. Das ist nichts Neues.
Was Sie getan haben, ist schlicht und ergreifend, sich der
selbstverständlichen Solidarität gegenüber Griechen-
land zu entziehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Das ist kurzsichtig.





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben übrigens lange von den überschießenden
Binnenmarktentwicklungen in Spanien, Portugal und
Griechenland profitiert. Auch das ist ein Teil der Wahr-
heit. Wenn wir weiterhin in dieser Form exportieren wol-
len, dann hat die Volkswirtschaft der Bundesrepublik
Deutschland ein massives Interesse daran, dass die Bin-
nennachfrage im Süden der EU nicht völlig zusammen-
bricht. Es ist zwar falsch, uns unsere Exportstärke vorzu-
werfen; da stimme ich der Kanzlerin zu. Aber es ist
genauso falsch, dazu beizutragen, die Märkte, auf die
wir exportieren können, mit dieser Form unsolidarischen
Verhaltens zu ruinieren. Auch das ist ökonomisch kurz-
sichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist schon bezeichnend, dass der Einzige, der in die-
sem Kabinett noch den Mut hat, zu Europa zu stehen,
der Bundesfinanzminister ist. Man kann über Wolfgang
Schäubles Vorschlag eines EWF lange streiten; aber ei-
nes bleibt wahr und Herr Schäubles richtiger Gedanke,
Frau Bundeskanzlerin, ist doch: Europa muss seine Pro-
bleme selber lösen. Europa kann sie nicht an Washington
oder an den IWF delegieren. Deswegen ist Ihr Vorschlag
falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dieser Tage wird Helmut Kohl 80. Wir alle wün-
schen ihm alles Gute. Die meiste Zeit meines Lebens
habe ich politisch in Opposition zu ihm gestanden,


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist berechtigt!)


aber eines, meine Damen und Herren, würde ich Helmut
Kohl immer bescheinigen: Helmut Kohl war ein großer
Europäer. Er hat selbst im Jubel der deutschen Einheit
daran festgehalten, dass es Deutschland nur in einem
starken, gemeinsamen Europa geben kann. Das war der
Grund, warum er gesagt hat: Wir müssen Deutschland in
das gemeinsame Europa einbinden. Das Instrument da-
für war die Einführung des Euro. Das war für ihn – ich
zitiere – „eine Frage von Krieg und Frieden“. Er hatte
recht. Ich sage Ihnen: Zentrale Probleme dieses gemein-
samen Europas müssen künftig europäisch gelöst wer-
den. Das können Sie nicht an internationale Finanzinsti-
tutionen delegieren. Wenn Sie das tun, liebe Frau
Merkel, dann tun Sie nur eins: sich aus Wahlkampfgrün-
den einer richtigen, europäischen Lösung verschließen.
Damit treten Sie das Erbe Helmut Kohls mit Füßen und
schaden deutschen Interessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703402900

Das Wort hat nun Kollege Michael Link für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1703403000

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Man star-

tet mit der Regierungserklärung bei Europa und landet in
der Berliner Landespolitik.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das eine hat mit dem anderen etwas zu tun!)


Daran wird zumindest eines deutlich: Die von der christ-
lich-liberalen Koalition getragene Bundesregierung be-
treibt europäische Politik, insbesondere Währungspoli-
tik, nicht als Roulette, Lotto oder andere Dinge. Wir
stellen fest: Sie brauchen, um Ihre Berliner Schulpro-
bleme zu lösen – in Ihrer Kurzintervention haben Sie
selbst entlarvend gesagt: um zum Beispiel Bestechung
zu verhindern –, Instrumente wie Lotto und Roulette.
Wir wollen bei der Währung ganz bewusst keine Risiken
eingehen, um nicht mit das Wichtigste, was wir durch
die europäische Einigung erreicht haben, nämlich einen
stabilen und harten Euro, zu gefährden. Deshalb unter-
stützt die FDP-Fraktion den Kurs der Bundesregierung
auf das Entschiedenste.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In unserer Generation wird entschieden, ob die Wirt-
schafts- und Währungsunion ein Erfolg bleibt oder ob
sie daran zugrunde geht, dass einige Staaten über einen
längeren Zeitraum weit über ihre Verhältnisse leben, in
Bezug auf ihre Wirtschaftsleistung immer gewaltigere
Defizite aufbauen und sich dann, wenn es nicht mehr
weitergeht, hilfesuchend an Dritte wenden. Das kann so
nicht funktionieren. Solidarität braucht und setzt Verant-
wortung voraus.

Es geht nicht darum: Wer ist der beste Europäer,
sprich: wer ist am solidarischsten, wer hilft am schnells-
ten? Das ist genau der falsche Reflex. Deshalb begrüßen
wir auch in diesem Punkt das, was wir heute Morgen
von der Bundeskanzlerin gehört haben. Aus unserer
Sicht waren das Worte, die genau in die richtige Rich-
tung gehen, weil sie zeigen, dass wir sehr wohl im Ex-
tremfall als Ultima Ratio über die erwähnten Instru-
mente – IWF und notfalls auch bilaterale Hilfen – helfen
werden. Frau Kollegin Schwall-Düren, damit wollen wir
Stabilität, Ruhe und Sicherheit in die Märkte hineinbrin-
gen. Sie haben die Financial Times Deutschland hochge-
halten. Wir haben Respekt vor der Pressefreiheit. Ich
kann nur sagen: Meines Erachtens ist der Kurs, den Sie
vorschlagen, sowohl für den Euro als auch für die
Märkte riskant.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben in der Regierungserklärung der Frau Bun-
deskanzlerin gehört, dass wir darauf reagieren müssen,
wenn die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstums-
paktes unterlaufen werden. An unsere gemeinsamen
Kriterien müssen wir in der Tat noch einmal heran.
Wahrscheinlich wird es ohne eine Überarbeitung und
Präzisierung unserer Kriterien nicht gehen. Bei diesem
Prozess müssen wir aber aufpassen – Rainer Brüderle
hat es gesagt –, dass wir nicht in einen europäischen Fi-
nanzausgleich hineinkommen. Ein europäischer Finanz-
ausgleich wäre genau der falsche Weg. Wir brauchen





Michael Link (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

stattdessen Wege, die den Ländern, die sich in einer pro-
blematischen Situation befinden, helfen, ohne die Stabi-
lität der Währung aufzuweichen. Ich glaube, mit den
Vorschlägen, die jetzt gemacht worden sind, sind wir auf
einem guten Weg.

Wenn wir allen Vorschlägen folgen würden, die Sie,
Kollege Gysi, hier gemacht haben, die durch einige Aus-
führungen des Kollegen Trittin ergänzt wurden, bei de-
nen ich mich gefragt habe, ob er auch die Historie der
griechischen Kreditwürdigkeit studiert hat, dann kämen
wir schnell in eine Situation, in der der Euro die Stabili-
tät hätte wie am Schluss die Ostmark.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vom Kollegen Trittin ist Island angesprochen wor-
den. Ich vermute, dieses Thema wird auch später noch
eine Rolle spielen; denn wir haben mehrere Anträge
dazu vorliegen. Kollege Trittin, Sie haben gesagt, die
Kanzlerin würde sich wie Bismarck verhalten. Ich will
Ihre Aufmerksamkeit jetzt einmal ganz bewusst auf ei-
nen anderen Aspekt lenken, weil Island ein sehr schönes
Beispiel ist. Im Fall Island handeln wir, wie ich finde,
eben nicht genau wie Bismarck – nach dem Motto: Wir
entscheiden und alle anderen müssen folgen –, sondern
wir haben uns als Bundestag entschieden – auch im
Lichte der neuen Begleitgesetze und der Entscheidung
Karlsruhes –, diesen Prozess in aller Ruhe durchzufüh-
ren.


(Dietmar Nietan [SPD]: Damit sind Sie Ihrer Regierung in den Rücken gefallen! Die wollten das jetzt schon machen!)


Erweiterungen funktionieren für uns nicht auf Knopf-
druck. Erweiterung ist ein Prozess – die FDP-Fraktion
steht zur Fortsetzung des Erweiterungsprozesses –, der
im Einzelfall kontrolliert, mit genauer Begleitung und
vor allem unter parlamentarischer Kontrolle erfolgen
muss. Dies verbietet es, diesen Prozess übers Knie zu
brechen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun das im Auftrag der Niederlande und der Briten! Das ist ganz einfach!)


Deshalb werden wir Ihren Anträgen, die Sie heute
dazu vorgelegt haben, nicht zustimmen. Wir sind für das
ganz normale parlamentarische Verfahren. Wir werden
das noch einmal ausführlich im Bundestag behandeln. In
der nächsten Sitzungswoche – wahrscheinlich sogar mit
einer großen Debatte während der Kernzeit – werden wir
uns des Themas Island noch einmal ganz besonders an-
nehmen. Im Übrigen steht dieses Thema nicht auf der
Tagesordnung des Europäischen Rates. Auch deshalb
wäre es falsch, schon heute darüber abzustimmen. Bei
Erweiterungsfragen ist genauso wie bei Währungsfragen
nicht die Schnelligkeit entscheidend. Nicht derjenige,
der schnell hilft, ist der beste Europäer. Gründlichkeit ist
aus unserer Sicht ganz wichtig, um den Prozess der Er-
weiterung auch weiterhin rechtfertigen zu können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist aber ein schwaches Argument!)


Für die FDP-Fraktion sind Verträge und Ver-
tragstreue ein hohes Gut.


(Dietmar Nietan [SPD]: Meinen Sie jetzt den Koalitionsvertrag?)


Das gilt aus unserer Sicht für alle Bereiche der europäi-
schen Politik. Das gilt für Beitrittsverhandlungen. Ich
habe es erwähnt: Das gilt für Island, aber auch für alle
anderen Fälle. Für uns gilt: Pacta sunt servanda. Das gilt
für den Verfassungsvertrag und die strikten Regeln des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die wir, wo nötig, er-
gänzen und überarbeiten müssen. Das gilt für uns vor al-
lem für den harten Euro. Deshalb gilt das auch für die
Unterstützung des hier vorgestellten Kurses der Bundes-
regierung beim Europäischen Rat.

Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort an uns
selbst: Das gilt auch für die neue Begleitgesetzgebung.
Das, was wir in der nächsten Sitzungswoche, aber auch
schon heute aufgrund der Anträge der Kollegen von der
Opposition bezogen auf Island machen, ist der erste Fall
– das hört sich jetzt technisch an – einer Stellungnahme
nach § 10 EUZBBG, dem Begleitgesetz, das die Zusam-
menarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung re-
gelt. Das ist der erste Fall, und wir müssen uns sehr viel
Zeit nehmen, um das genau durchzusprechen. Wir erin-
nern uns selbst, aber auch die Bundesregierung daran,
dass die Zeiten, in denen Europapolitik quasi an die
Bundesregierung delegiert wurde, vorbei sind. Das
nimmt uns in die Pflicht und die Bundesregierung ge-
nauso.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wissen aber auch – deshalb waren wir über die
klaren Worte in der heutigen Regierungserklärung froh –,
dass die deutschen und die europäischen Interessen bei
der Bundesregierung auf der Tagung des Europäischen
Rates heute und morgen in guter Hand sind. Wir wün-
schen erfolgreiche Verhandlungen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703403100

Das Wort hat nun Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1703403200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und die
Positionierung der Koalitionsfraktionen zu dieser so
wichtigen europapolitischen Frage in dieser Stunde kann
man mit zwei Worten überschreiben: unberechenbar und
unglaubwürdig.

„Unberechenbar“ ist in diesem Zusammenhang keine
Erfindung der SPD, sondern das können Sie jeden Tag in
Ihnen nahestehenden Zeitungen lesen, von FAZ bis Fi-
nancial Times, weil sich täglich die Position der Bundes-





Axel Schäfer (Bochum)



(A) (C)



(D)(B)

regierung, der Kanzlerin zu zentralen europäischen Fra-
gen, wie jetzt zur Hilfe für Griechenland, ändert.
Tagtäglich ändert sich das.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das ist alles andere als eine verlässliche Europapoli-
tik.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben eine Wahrnehmungslücke! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, er liest Zeitung!)


Mal gibt man Unterstützung, mal ist man dagegen. Man
ist für einen europäischen Währungsfonds, aber eigent-
lich doch nicht. Jetzt geht es um Maßnahmen über den
IWF. Wenn sich die Fraktionsvorsitzenden einmal an-
schauen, was gestern in dem Entwurf zur Regierungser-
klärung stand und was heute erklärt worden ist, dann se-
hen sie, dass es selbst da Unterschiede gibt. So schnell
ändern sich Positionen.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ja schon ge-
nug, Sie für diese Europapolitik zu kritisieren. Es geht
hier aber auch um die deutsche Rolle.


(Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Durch dieses Wackeln, Schweigen oder auch zum Teil
Hinterherlaufen gibt es keine deutsche Führungsposition
in Europa. Es gibt keine deutschen Vorstellungen, für die
man wirbt, sondern man wartet, wechselt oder läuft Posi-
tionen hinterher. Genau das darf Deutschland als verant-
wortungsvolles Land in Europa nicht machen.


(Beifall bei der SPD)


Warum ist das alles unglaubwürdig? Die Kanzlerin
hat heute ermahnt – ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber
fast wörtlich –, dass wir über die Themen, die auch beim
Europäischen Rat anstehen, mehr diskutieren müssen.
Was ist die Praxis?


(Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, das sag einmal!)


Wir haben gestern im Europaausschuss erlebt, dass ein
zentrales Thema, nämlich die Strategie EU 2020, für das
die SPD Vorarbeiten geleistet hat und sich für die Dis-
kussion positioniert hat, abgesetzt worden ist. Das heißt,
die Kanzlerin fährt jetzt zum Gipfel, ohne dass es eine
abgestimmte Position gibt, ohne dass der Bundestag
grundlegend darüber diskutiert hat. Das fehlt, und das
haben Sie verhindert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht noch weiter. Kollege Link hat natürlich völlig
recht,


(Zuruf von der FDP: Er hat immer recht!)


wenn er sagt, dass wir die Konsequenzen aus dem Lis-
sabon-Vertrag und dem Lissabon-Urteil ernst nehmen
müssen. Ich zeige Ihnen konkret, wie ernst sie genom-
men werden.
Erstes Beispiel: europäische Bürgerinitiative. Es ist
ein zentrales Anliegen Deutschlands und dieses Hauses
insgesamt, es Bürgerinnen und Bürgern möglich zu ma-
chen, sich durch Unterschriften für ein europäisches Pro-
jekt zu engagieren. Das muss dann zu einem Gesetzes-
akt, zu einem Vorschlag der Kommission führen. Dazu
ist weder von der Bundesregierung noch von einer der
sie tragenden Fraktionen etwas gesagt worden, weder
von CDU/CSU noch von FDP. Dort herrscht nur lautes
Schweigen zu Europa.

Zweites Beispiel: Europäischer Auswärtiger Dienst.
Dazu gibt es Vorschläge und Positionen der SPD, aber
von Ihnen ist kein Vorschlag gemacht worden, wie die
Bundesregierung positioniert werden soll.

Drittes Beispiel: Island. Dieses Beispiel ist besonders
schön; denn da wird die Arbeitsteilung der Verhinderung
einer Positionierung deutlich. Die einen, nämlich die
Bundesregierung, sagen, man müsse auf den Bundestag
warten, und die anderen, die Koalitionsfraktionen im
Bundestag, erweisen sich als unfähig, sich in ihren Ar-
beitsgruppen abzustimmen, um rechtzeitig eine Positio-
nierung zu Island zu erreichen.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Warum die Eile, Herr Kollege? – Bernhard Kaster [CDU/ CSU]: Die wird rechtzeitig da sein!)


Es wäre jetzt noch möglich, eine Positionierung rechtzei-
tig zu erreichen. Bis zur letzten Woche war von der spani-
schen Ratspräsidentschaft angekündigt worden – der
Brief vom 18. März liegt vor –, das zu machen. Das ist
nicht gemacht worden. Wir sind jetzt in der Situation,
dass wir nicht wissen, auf welchen Wegen bestimmte
Entscheidungen, Vorentscheidungen oder Abstimmun-
gen getroffen werden, ohne dass der Bundestag durch
eine Debatte und einen Beschluss Einvernehmen her-
stellt. Wir wollten das mit gutem Willen machen. Dieser
gute Wille hat bei Ihnen im Monat März gefehlt. Das
muss hier offen kritisiert werden.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um die
Frage: Sind wir als Bundestag, selbstverpflichtend über
die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg, willens und in
der Lage, tatsächlich europäische Politik zu gestalten?
Das, was ich zurzeit von den geschätzten Kolleginnen
und Kollegen der Regierungskoalition erlebe, ist mutlos.
Es ist auch manchmal ratlos. Aber am Ende kann es auch
dazu führen, dass man rückgratlos wird, wenn man all
das, was man vorher zur Stärkung der parlamentarischen
Rechte vereinbart hat, hier nicht wahrnimmt.

Wir werden unsere Oppositionsrolle so wahrnehmen,
dass wir Punkt für Punkt bei allen wichtigen europäi-
schen Fragen die Diskussion im EU-Ausschuss, mög-
lichst in allen Ausschüssen und im Plenum führen, damit
die Europäisierung des Bundestages gelingt. Dafür
braucht man nicht nur Überzeugung, sondern auch Ge-
staltungswillen. Der Gestaltungswille fehlt auf der rech-
ten Seite dieses Hauses.


(Beifall bei der SPD)






Axel Schäfer (Bochum)



(A) (C)



(D)(B)

Dass Sie anders können, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, haben Sie an zwei Stellen gezeigt:

Sie haben den Mut gehabt – es gehört zu einer fairen
und ehrlichen Debatte, auch das zu sagen –, dafür zu sor-
gen, dass der Deutsche Bundestag – das wurde auf An-
trag der SPD-Fraktion beschlossen und vom Bündnis 90/
Die Grünen, von der Linken, der FDP und der CDU/
CSU unterstützt – den deutschen Kommissar Günther
Oettinger nach seiner Benennung eingeladen hat und wir
ihn befragt haben. Das war ein historisches Novum für
das Parlament. Die Regierenden sollten sich schon ein-
mal Gedanken machen, ob sie auch Minister in Zukunft
vielleicht nicht nur ernennen, sondern ob sie solche An-
lässe auch parlamentarisch nutzen. Minister könnten
sich hier im Parlament den Fragen der Abgeordneten
stellen und gewissermaßen auf den Prüfstand gestellt
werden. Die Befragung des deutschen Kommissars
Oettinger haben wir im Bundestag, wie gesagt, gemein-
sam beschlossen. Das war ein guter Weg.

Außerdem haben wir im Europaausschuss gemeinsam
vereinbart, bei unseren Debatten die Öffentlichkeit zuzu-
lassen; auch das ist richtig.

Ich appelliere an Sie von CDU/CSU und FDP, der ge-
meinsamen europäischen Verantwortung im Parlament
nachzukommen und nicht nur zu fragen, was die Regie-
rung erlaubt. Die SPD wird sich nicht danach richten,
was die Regierung ihr erlaubt, sondern wir werden un-
sere Fragen stellen. Wir werden uns Punkt für Punkt an-
schauen, wie Sie Europapolitik machen, und den Finger
dort in die Wunde legen, wo Sie keine gestaltende deut-
sche Europapolitik machen. Die brauchen wir nämlich.
Das ist eine gute Tradition. Für diese Tradition stehen
Frank-Walter Steinmeier und die sozialdemokratische
Bundestagsfraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703403300

Das Wort hat nun Hans-Peter Friedrich für die CDU/

CSU-Fraktion


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1703403400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch wenn sich die Frau Bundeskanzlerin
schon auf den Weg zum Europäischen Rat machen
musste, will ich mit einem großen Kompliment begin-
nen. Sie hat in den letzten Tagen und Wochen die Inte-
ressen Deutschlands, aber auch die Interessen Europas
trotz der schwierigen Debattenlage auf europäischer
Ebene in hervorragender Weise vertreten, und zwar so-
wohl im Hinblick auf die Schuldenkrise Griechenlands
als auch hinsichtlich der EU-Strategie 2020.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Angela Merkel hat gezeigt, dass sie Hüterin der Ord-
nung in Europa ist, einer Ordnung, die sich Europa selbst
gegeben hat und die von Begriffen wie Subsidiarität und
Stabilität geprägt ist. Beide Begriffe dürfen nicht der Be-
liebigkeit geopfert werden; dafür hat sie gesorgt. Denn
sie sind die Spielregeln, die wir Europäer uns selbst ge-
geben haben und die eingehalten werden sollen.

Lieber Herr Kollege Schäfer, ich bin froh, dass wir
nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Mög-
lichkeit haben, uns mehr als in der Vergangenheit und
bei noch größerer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im
deutschen Parlament mit europäischen Themen zu be-
fassen. Ich bin der Meinung, dass diese wichtigen The-
men nicht in irgendeinen nichtöffentlich tagenden Aus-
schuss gehören, sondern in das Parlament. Insofern sind
diese Regierungserklärung und die heutige Debatte
wichtig und, wie ich hoffe, der Anfang einer ausführli-
chen europäischen Debatte, die wir gemeinsam führen
wollen.


(Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Nur, ich halte es, auch wenn wir über die verschiede-
nen Fragen kontrovers diskutieren, für notwendig, dass
wir dann, wenn es darum geht, deutsche Interessen
wahrzunehmen, der Regierung und insbesondere, wie in
diesem Fall, der Bundeskanzlerin den Rücken stärken,
zusammenstehen und sagen: Wenn es um unser gemein-
sames deutsches Interesse geht, dann muss die Regie-
rung von allen unterstützt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703403500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Sarrazin?


Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1703403600

Nein, danke. Jetzt keine Zwischenfragen.

Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt; ich
glaube, das bestreitet auch niemand. Das Ergebnis ist,
dass Griechenland heute eine Nettoneuverschuldung von
13 Prozent zu verzeichnen hat; ich wiederhole: 13 Pro-
zent. Das Ergebnis ist, dass die Schuldenstandsquote in
Griechenland heute bei 120 Prozent liegt; das bedeutet,
die Schulden betragen 120 Prozent dessen, was das Land
in einem ganzen Jahr erwirtschaftet. Das ist eine unvor-
stellbare Summe.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist deut-
sches und europäisches Interesse, und zwar das Interesse
aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Grie-
chenland aus dieser instabilen, schwierigen Lage heraus-
kommt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie doch etwas!)


Das ist deswegen unser Interesse, weil wir eine gemein-
same Währung haben und weil Europa, die EU eine
Schicksalsgemeinschaft ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ach!)


Es ist auch unser Interesse, zu verhindern, dass an die
Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und Europas die
Botschaft gesendet wird, dass derjenige, der sich an die





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)



(A) (C)



(D)(B)

Spielregeln hält und fleißig ist, am Ende der Dumme ist
und die Zeche zahlen muss. Auch dies ist notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich begrüße es außerordentlich, dass die Frau Bundes-
kanzlerin heute gesagt hat: Alles, was wir uns an Hilfen
überlegen, ist Ultima Ratio, das allerletzte Mittel. – Da-
rum muss es gehen. Griechenland hat einen wichtigen
und einen richtigen Kurs eingeschlagen. Dass der Kurs
richtig ist, beweisen die Reaktionen der Finanzmärkte
und die heutige Entscheidung der EZB, den Griechen ein
Stück entgegenzukommen. Ich glaube, das ist ein glaub-
würdiger und richtiger Kurs.

Dieser Kurs kann nur gemeinsam mit der griechi-
schen Bevölkerung in Angriff genommen werden. Es
ist notwendig, dass die Menschen in Griechenland den
Ernst der Lage ihres Landes erkennen. Sie müssen aber
auch die Ursachen dafür erkennen. Deswegen ist es sehr
ungünstig – ich drücke mich vorsichtig aus –, dass man
in Griechenland heute so tut, als seien die europäischen
Partner nicht die Opfer der Tricks und Täuschungen, die
frühere Regierungen vorgenommen haben, sondern die
Täter; dies geht aus der veröffentlichten Meinung her-
vor. Täter und Opfer auseinanderzuhalten, ist in dieser
Frage sehr wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Zeitung haben Sie denn gelesen?)


Herr Gysi, Sie haben letzte Woche – ich zitiere aus
dem Protokoll – in der Haushaltsdebatte gesagt:

Jetzt gehen die Menschen dort

– also in Griechenland –

auf die Straße, und zwar, wie ich finde, völlig zu
Recht. … Da stehen wir an der Seite der Bevölke-
rung Griechenlands.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wenn es gegen den Sozialabbau geht, dann ja!)


Herr Gysi, Sie gehören zu denjenigen, die der griechi-
schen Regierung in der Problematik, den Menschen den
Ernst der Lage ihres Landes zu erklären, in den Rücken
fallen. Darum geht es.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Sie haben nicht richtig zugehört!)


Deswegen gehören Sie auch zu denjenigen, die eine Mit-
schuld daran tragen, dass stattfindet, wovon Herr Trittin
gesprochen hat: Es werden europäische Flaggen ver-
brannt. Wir jedenfalls stehen an der Seite derjenigen, die
eine verantwortliche Politik für Europa machen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, die Einhaltung der Stabili-
tätskriterien und der Stabilitätsziele war eine wichtige
Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit unserer Wäh-
rung und eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der
Euro und Europa bis jetzt so hervorragend aus dieser
Wirtschaftskrise hervorgegangen sind. Ich glaube, dass
es richtig war, von Anfang an klar und deutlich zu ma-
chen: Es gibt keine Gemeinschaftshilfen. Es gibt keine
gesamtschuldnerische Haftung aller Europäer für grie-
chische Schulden. Das ginge nämlich gegen den Geist
und gegen die Buchstaben von Maastricht. Deswegen
möchte ich an dieser Stelle der Frau Bundeskanzlerin
herzlich dafür danken, dass sie dies von Anfang an klipp
und klar gemacht hat.

Heute kommt die Idee, den IWF in die Verantwor-
tung einzubeziehen, offiziell zum Tragen. Wer Mitglied
der Europäischen Union und Mitglied der Europäischen
Währungsunion ist, scheidet nicht automatisch aus ande-
ren Organisationen aus. Er scheidet nicht automatisch
aus anderen Instrumentarien, auf die er einen Anspruch
hat, aus, wenn es darum geht, ihm zu helfen. Weil die
Griechen gegenüber dem IWF einen Anspruch auf Hilfe
haben, ist es richtig, den Weg der Einschaltung des IWF
als Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dennoch zögert Griechenland, Hilfen von den euro-
päischen Partnern oder vom IWF anzufordern. Grie-
chenland zögert zu Recht. Denn jeder, der Hilfen von
Dritten anfordert, beraubt sich gleichzeitig eines Stückes
seiner Freiheiten und Möglichkeiten. Er muss akzeptie-
ren, dass an diese Hilfen und Forderungen Bedingungen
geknüpft sind. Deswegen zögert Griechenland zu Recht.
Es geht um die Aufrechterhaltung seiner eigenen Souve-
ränität. All diejenigen, die allzu schnell raten, den Grie-
chen zur Seite zu stehen, haben oft überhaupt nicht das
griechische Interesse im Blick, sondern eigene, vielleicht
manchmal auch sehr durchsichtige Interessen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau
Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung ge-
sagt: Wir müssen vermeiden, dass die Stabilitätskrite-
rien in der Zukunft wieder unterlaufen werden können.
Die Lehre, die aus der Krise zu ziehen ist, ist in allerers-
ter Linie, dass wir Transparenz herstellen: Transparenz
in technischer Hinsicht dadurch, dass wir eine einheitli-
che Datengrundlage für alle Länder zur Verfügung stel-
len, aber auch Transparenz in politischer Hinsicht – auch
das ist heute angesprochen worden – dadurch, dass wir
europäischen Aufsichtsbehörden die Möglichkeit ge-
ben, die Einhaltung der Stabilitätskriterien vor Ort zu
überwachen.

Mit der eindeutigen Haltung von Angela Merkel in all
diesen Fragen ist etwas korrigiert worden, was zu Zeiten
der rot-grünen Regierung 2005 allzu leicht und allzu
leichtfertig über Bord geworfen worden ist. Damals
wurde nach Europa ein falsches Signal gesandt,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


nämlich das Signal, man könne über die Stabilitätskrite-
rien, die Theo Waigel seinerzeit eingeführt hat, noch ein-
mal reden. Nein, man kann darüber nicht reden. Die Sta-
bilitätskriterien gelten und müssen eingehalten werden
und werden eingehalten werden. Das hat Angela Merkel
deutlich gemacht.





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat
eine besondere Stabilitätsmentalität. Das liegt nicht nur
an Traditionen, sondern auch an schlechten Erfahrungen,
die dieses Land, dieses Volk gemacht hat. Deswegen war
und ist es wichtig, das Vertrauen der Menschen in die
neue Währung Euro zu erhalten. Ich bin der Frau Bun-
deskanzlerin und der Bundesregierung außerordentlich
dankbar,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt bekommt sie das gar nicht mit!)


dass sie im Zusammenhang mit der EU-Strategie 2020
deutlich gemacht haben, dass wir die Stabilitätskriterien
nicht an politische, zweifelhafte Kriterien binden lassen.
Frau Merkel hat in einem Brief an Herrn Van Rompuy
deutlich gemacht, dass auch im Sinne der neuen Strate-
gie Europa 2020 ein Aufweichen der Stabilitätskriterien
nicht infrage kommt. Ich bin froh, dass so etwas aus den
Vorschlägen, die die Europäische Union macht, inzwi-
schen verschwunden ist.

Theo Waigel hat gestern in einem Artikel in der FAZ
etwas gefordert, was, glaube ich, identisch ist mit dem,
was die Bundeskanzlerin heute in ihrer Regierungserklä-
rung gesagt hat. Theo Waigel hat gesagt: Wir brauchen
eine neue Konsolidierungsstrategie für ganz Europa. –
Ja. Und auch da ist Deutschland Vorreiter, und zwar weil
wir im vergangenen Jahr gemeinsam – SPD, FDP, CDU/
CSU – eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufge-
nommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Und jetzt tretet ihr auf das Bremspedal!)


Das ist in Europa wie in der Welt ein bisher einmaliger
Vorgang. Diese Schuldenbremse wird unseren Kollegen
aus dem Haushaltsausschuss noch sehr viel Arbeit ma-
chen und die Bundesregierung – ich sage das voraus –
noch viel Schweiß kosten, wenn es darum geht, den
nächsten Haushalt und den übernächsten Haushalt auf-
zustellen.


(Ulrike Flach [FDP]: Das kann man wohl sagen!)


Sie wird auch der deutschen Bevölkerung das eine oder
andere abverlangen. Diese Schuldenbremse ist aber al-
ternativlos angesichts der Verantwortung, die wir für die
Finanzen, aber auch für die Zukunft künftiger Generatio-
nen in diesem Land haben. Deswegen gibt es zu dieser
Konsolidierungsstrategie in Deutschland, aber auch in
Europa keine Alternative.

Es ist angesprochen worden, dass Deutschland von ei-
nigen europäischen Partnern wegen seiner Wettbe-
werbsfähigkeit angegriffen wird. Mit der Lissabon-
Strategie ist damals ausgerufen worden, Europa solle zur
wettbewerbsfähigsten Region der Erde werden. Leider
ist daraus nichts geworden; aber das Land, das dieses
Ziel für sich erreicht hat, ist Deutschland. Deswegen ist
es falsch, gerade dieses Land an den Pranger zu stellen.
Vielmehr sollten sich die anderen überlegen, warum sie
mit Deutschland nicht gleichziehen konnten, warum es
ihnen nicht gelungen ist, ebenfalls eine so gute Wettbe-
werbsfähigkeit zu erreichen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Wett-
bewerbsfähigkeit ist uns nicht geschenkt worden. Ich er-
innere daran, dass wir in den 90er-Jahren ein Leistungs-
bilanzdefizit hatten, nämlich als wir nach der
Wiedervereinigung, Herr Gysi, die Trümmer des Kom-
munismus auf deutschem Boden aufräumen mussten.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So war es! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ist es!)


Dieses Land hat gelitten unter diesem Defizit. Es war
nicht einfach, dieses Defizit zu überwinden. Ich erinnere
an die Konsolidierungsstrategie, die Mitte der 90er-Jahre
dafür gesorgt hat, dass die Produktivität in Deutschland
gestiegen ist, aber auch an die Agenda 2010. Auch durch
sie wurde den Menschen viel abverlangt, aber sie hat
dazu geführt, dass die Produktivität an jedem Arbeits-
platz in Deutschland höher als bei den Wettbewerbern in
der Welt ist. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähig-
keit und für die Leistungsfähigkeit, und dafür brauchen
wir uns nicht zu schämen, sondern darauf kann dieses
Land stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die eu-
ropäische Leistungsbilanz insgesamt negativ wäre,
wenn es den Überschuss in der Leistungsbilanz der
Deutschen nicht gäbe. Insofern leisten wir auch in die-
sem Punkt einen wichtigen Beitrag.

Zur Lohnpolitik. Die zurückhaltende Lohnpolitik un-
serer Tarifpartner, die ich an dieser Stelle ausdrücklich
loben möchte, hat dazu geführt, dass Deutschland hin-
sichtlich der Arbeitslosigkeit bis heute weit mehr Fort-
schritte als seine Partner gemacht hat.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Keine Binnennachfrage!)


Wir liegen heute mit 7,5 Prozent um 2,5 Prozentpunkte
unter der Arbeitslosenquote in Europa. Wenn man das
mit anderen Ländern vergleicht – 9 Prozent in Frank-
reich, 13,8 Prozent in Irland –, dann kann man sehen,
dass diese Lohnzurückhaltung, die unsere Tarifpartner
an den Tag gelegt haben, der richtige Weg zu Beschäfti-
gung und Arbeit für die Menschen in Deutschland ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schließlich zur EU-Strategie 2020. Ich werfe einen
Blick auf die Struktur Europas und der europäischen
Partnerländer. Diese Struktur ist außerordentlich hetero-
gen. Wir haben im Grunde folgende Möglichkeiten:

Erstens. Wir, alle 27 Länder, einigen uns nur auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner. Das wäre zu wenig für
ein gemeinsames Europa.

Zweitens. Wir zwängen diese 27 Länder auf einen ge-
meinsamen Kurs, durch den Kreativität verschwindet
und der letzten Endes auch hinsichtlich der Akzeptanz in
der Bevölkerung schwierig ist.





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)



(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Diesen Weg wollen und sollten wir gehen:
den Weg der Vielfalt der Systeme, der Gestaltungsfrei-
heit und des Gestaltungswettbewerbs. Dieses Prinzip hat
sich im deutschen Föderalismus hervorragend bewährt.
Dieser Gestaltungswettbewerb muss auch in Europa
Platz greifen. Der Beste muss derjenige sein, der die
Marken setzt und das Vorbild für andere ist.

In diesem Sinne wird es gelingen, dass Deutschland
Vorbild in Europa ist und dass Europa insgesamt voran-
kommt. Wir wünschen der Bundeskanzlerin für ihre Ver-
handlungen beim Europäischen Rat alles Gute.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703403700

Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1703403800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

sehe überhaupt keinen Anlass, der Bundeskanzlerin in
einer Rede fünf Komplimente zu machen und 28-mal zu
danken,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das wäre aber angemessen!)


weil ich die Regierungserklärung der Kanzlerin enttäu-
schend und erschreckend ideenlos fand.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir hätten hier im Bundestag gerne über ein Konzept
zu Europa 2020 diskutiert. Als Mitglied der SPD-Frak-
tion und Opposition sage ich: Ich hätte mich gerne rich-
tig kritisch mit den Vorstellungen und Ideen der Bun-
desregierung auseinandergesetzt, aber ich habe keine
Konzepte, keine Visionen und keine Strategie für Europa
gehört,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dann bereichern Sie die Debatte doch mit Ihren Konzepten!)


sondern ich habe ganz viel dazu gehört, was Sie alles
nicht wollen. Das verstecken Sie hinter der Floskel
„Vielfalt der Systeme“. Dabei bleiben Sie doch erschre-
ckend vage und unverbindlich.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Einfalt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, die
CDU war einmal europaengagiert. Ich müsste mich gar
nicht um das europapolitische Profil der CDU sorgen,
wenn es nicht um Deutschland und um die Zukunft Eu-
ropas ginge. Das sorgt uns alle. Wir haben in Europa
nämlich zehn ganz entscheidende Jahre vor uns. Es geht
um die Stabilität und den Zusammenhalt Europas und
um unsere Rolle in der Welt. Ich habe von der Bundesre-
gierung bisher nichts dazu gehört, wie es da weitergehen
kann.
Die EU-Kommission unter Barroso macht Vorschläge
zu fünf Kernzielen; mehr sind es gar nicht. Ich muss die
EU-Kommission und ihren Präsidenten Barroso über-
haupt nicht verteidigen; denn das ist gar nicht meine
Kommission, und sie ist, wie Sie wissen, auch nicht
mehrheitlich mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten besetzt. Die EU-Kommission legt also eine
Grundlage mit fünf Zielen. Zwei davon lehnen Sie ab.
Da fragen wir uns doch: Welche Strategie bleibt eigent-
lich noch für Europa? Wohin soll der Weg gehen?

Dass Sie das Armutsziel ablehnen, halte ich für einen
unglaublichen Vorgang.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Beim Thema Armut dürfen wir uns nicht hinter Sonn-
tagsreden und hinter halbherzigen Bekenntnissen ver-
schanzen. Dafür ist das Thema Armut zu wichtig; es
muss auch auf der europäischen Ebene ausführlich dis-
kutiert und engagiert angegangen werden.

Wir erleben zurzeit die Bundesministerin von der
Leyen – wortreich und durchaus mit Empathie – zum
Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-
zung. Aber auch sie lehnt das Ziel der Armutsbekämp-
fung in Europa ab. Dabei geht es nur um ein gemeinsa-
mes Ziel in Europa – nicht um mehr, aber auch nicht um
weniger.

Dieses gemeinsame Ziel wäre ein wichtiges Signal an
die Menschen in Deutschland und in Europa, dass wir es
ernst meinen mit der Bekämpfung von Armut, dass uns
ihre Sorgen ernsthaft interessieren und kümmern, dass
wir Maßnahmen ergreifen und nicht nur reden, sondern
auch handeln. Wenn dieses Signal vom Europäischen
Rat ausgehen würde, wäre das sehr, sehr wichtig für die
Menschen in Europa.


(Beifall bei der SPD)


Ich will auch etwas zum Thema Bildung sagen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist immer gut!)


Man kann kritisch sein, und der Bundesrat hat zum Aus-
druck gebracht, dass er für das Thema Bildung zuständig
ist. Aber ein gemeinsames Ziel in Europa, die Verständi-
gung darauf, dass Bildung wichtig ist und wir in diesem
Bereich ambitioniert vorgehen müssen, stellt die Kom-
petenz der Bundesländer überhaupt nicht infrage. Wenn
man will, dass in Europa Wachstum und Wettbewerbsfä-
higkeit großgeschrieben werden und wir gut aufgestellt
sind – das haben Sie betont –, dann müssen wir uns auch
im Bereich der Bildung Ziele setzen. Dann geht es in Eu-
ropa gar nicht ohne Bildung.

Aber die schwarz-gelbe Regierung bleibt die Antwort
auf die Frage schuldig, wie das mit der Bildung denn ge-
hen soll. Denn Sie nehmen uns mit Ihrer Steuerpolitik je-
den Spielraum, um in Deutschland sinnvolle und gute
Bildungspolitik zu machen. Ich würde mir wünschen,
dass die Bildungspolitik durch ein engagiertes Ziel auf
der europäischen Ebene befördert würde.


(Beifall bei der SPD)






Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Zwei Ziele lehnen Sie ab – darauf habe ich hingewie-
sen –, bei einem dritten Ziel sind Sie unengagiert, und
das ist die Beschäftigungsquote. Es geht um die Weiter-
entwicklung der Lissabon-Strategie. Wir dürfen das
Thema Beschäftigungsquote nicht nur auf die Floskel
„Hauptsache Arbeit, egal was für eine“ reduzieren. Wir
brauchen bei der neuen Strategie klare Aussagen zur
Qualität der Arbeit.


(Beifall bei der SPD)


Es geht nämlich darum, wie die Menschen in unserem
Land arbeiten. Wir brauchen eine Lösung für das Pro-
blem, dass immer mehr Menschen von Löhnen leben,
von denen sie sich und ihre Familien nicht ernähren kön-
nen.

Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass wir die neue
Strategie ganz klar formulieren, im Bereich der Beschäf-
tigungspolitik um einen qualitativen Aspekt ergänzen
und feststellen: Wir sind gegen Ausbeutung. Wir sind für
gute Löhne auch auf der europäischen Ebene. – Ich hätte
mir auch gewünscht, dass wir uns ein engagiertes Ziel
mit Blick auf die gleiche Bezahlung von Männern und
Frauen gesetzt hätten. Morgen findet der Equal Pay
Day statt. In diesem Zusammenhang hätte man diese
Strategie gut weiterentwickeln und ein gutes Ziel setzen
können. Das hätte dann den Namen „neue Strategie“
auch verdient.


(Beifall bei der SPD)


Eine letzte Bemerkung zum Parlament – der Kollege
Schäfer hat es schon angesprochen –: Wir haben eine
erste Debatte zum Thema Europa 2020 – und dabei geht
es nicht um mehr, aber auch nicht um weniger als um die
Zukunft der Europäischen Union – am 4. März um
21.30 Uhr für 30 Minuten geführt. Ansonsten ist das
Parlament nicht beteiligt worden. Heute hat es zum ers-
ten Mal die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, wel-
che Position die Kanzlerin bei diesem wichtigen Euro-
päischen Rat vertreten wird. Ich finde, das ist eine
gravierende Missachtung des Deutschen Bundestages.
Das finde ich enttäuschend. Ich hätte mir im Vorfeld die-
ses Europäischen Rates mehr gewünscht.


(Beifall bei der SPD)


Das wäre insbesondere vor dem Hintergrund der Tat-
sache wichtig gewesen, dass mit dem Lissabon-Vertrag
die Parlamente gestärkt wurden. Man hätte auch hier ein
deutliches Zeichen setzen können. Aber die Kanzlerin
hat in ihrer Regierungserklärung die Parlamente nicht
ein einziges Mal erwähnt, weder den Deutschen Bundes-
tag noch das Europäische Parlament.

Ich kann nur hoffen, dass sie sich mit ihrer Zögerlich-
keit und Ideenlosigkeit im Europäischen Rat nicht
durchsetzt und dass die anderen Kolleginnen und Kolle-
gen ambitionierter sind und eine gute Strategie 2020 im
Sinne der Zukunft Europas, im Sinne der Menschen in
Deutschland und Europa und auch im Sinne einer guten
Positionierung Deutschlands formulieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703403900

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem

Kollegen Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1703404000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Euro-
päischen Rat, der in wenigen Stunden in Brüssel beginnt,
soll über die Ausgestaltung der sogenannten Europa-
2020- oder Post-Lissabon-Strategie diskutiert werden. –
Frau Högl, hören Sie einmal zu, was ich zu sagen habe.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Ich höre Ihnen immer zu!)


Der neue Präsident Van Rompuy beabsichtigt, beim Eu-
ropäischen Rat eine Grundverständigung über die Archi-
tektur der neuen Wachstumsstrategie zu erreichen. So
steht es auf der Einladung und in der Tagesordnung. Es
soll eine Aussprache geben, um dann zu Vorarbeiten und
konkreten Beschlüssen zu kommen. Das passiert jetzt
beim Europäischen Rat. Wenn Sie richtig zugehört ha-
ben, dann wissen Sie, dass der Präsident des Europäi-
schen Parlaments, Herr Buzek, diese Woche mehrfach
erklärt hat, dass der Europäische Rat frühestens am
17. Juni eine konkrete Strategie beschließen wird.

Die Koalitionsfraktionen werden fundiert, und zwar
durch Beratung in allen beteiligten Ausschüssen im Bun-
destag, rechtzeitig zu diesem Termin eine detaillierte
Stellungnahme mit Bindewirkung für die Bundesregie-
rung vorlegen. Das geschieht dann, wenn es nötig ist,
und dies ist für eine allgemeine Diskussion nicht der
Fall. Wir beschließen doch im Bundestag keinen Sprech-
zettel für die Kanzlerin, auf dem steht, was sie in der
Aussprache mit den Regierungschefs sagen darf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das weiß sie schon selber!)


In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf Island
eingehen. Für jemanden, der das Thema nicht genau
kennt, ist es nicht nachvollziehbar, worüber sich die SPD
und die Grünen beschweren.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir auch!)


Wir haben von der Bundesregierung den Auftrag be-
kommen, eine Stellungnahme zum Beschluss von Bei-
trittsverhandlungen mit Island zu erarbeiten. Zunächst
war von der schwedischen und dann weiter verfolgt von
der spanischen Ratspräsidentschaft geplant, heute auf
dem Europäischen Rat über die Beitrittsverhandlungen
abzustimmen. Es zeichnete sich seit Januar ab, dass die-
ser Termin von den europäischen Institutionen nicht ge-
halten werden wird.

Wir haben im Bundestag mit unseren Anträgen dafür
gesorgt, dass wir schon in der nächsten Sitzungswoche
eine fundierte Stellungnahme vorlegen können,


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 15. März!)






Michael Stübgen


(A) (C)



(D)(B)

die den Beginn von Beitrittsverhandlungen befürwortet,
was wir aber mit dem konkreten Hinweis verbunden ha-
ben, dass dann ein entsprechender Beschluss gefasst
werden soll. Wir werden am 22. April die zweite und
dritte Lesung im Bundestag durchführen, rechtzeitig be-
vor irgendein Rat irgendetwas in dieser Angelegenheit
entscheiden wird. Genau das fordert die Begleitgesetz-
gebung von uns. So werden wir das als Koalitionsfrak-
tionen auch weiter handhaben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703404100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Sarrazin?


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1703404200

Bitte.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703404300

Herr Kollege Stübgen, Sie haben gesagt, Sie wüssten

nicht, worüber wir uns beschweren. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen darüber beschwert, dass die Koalition eine
Chance vergibt, Island ein deutliches Signal zu geben,
dass wir für einen Beitritt sind, dass wir zwar kritische
Fragen haben, aber in der Lage sind, schnell zu agieren,
um die Verhandlungen aufzunehmen? Das heißt, wir be-
schweren uns darüber, dass ein positives Signal ausge-
lassen wird. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu neh-
men?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703404400

Herr Kollege, bevor Sie antworten: Der Kollege

Liebich will auch eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie
sie zulassen? Dann können Sie zusammenhängend Ihre
Redezeit deutlich verlängern.


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1703404500

Danke schön.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703404600

Herr Kollege, ich möchte mich der Beschwerde mei-

nes Vorredners anschließen. Denn es gab Anträge von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion im
Europaausschuss, die die CDU/CSU und die FDP nicht
beschließen wollten, in denen wir uns dafür ausgespro-
chen haben, jetzt sehr frühzeitig das Signal auszusenden,
dass sich die Bundesregierung für Verhandlungen mit Is-
land einsetzt. Sind Sie auch bereit, zuzugestehen, dass
Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass das
nicht auf der Tagesordnung steht? Der Staatssekretär hat
nämlich gesagt, dass es noch nicht auf der Tagesordnung
steht bzw. dass man nicht wisse, ob es auf der Tagesord-
nung stehen werde.

Ist es nicht vielmehr so, dass Sie dort gesagt haben,
dass Sie, egal ob es auf der Tagesordnung steht oder
nicht, nicht wollen, dass es auf die Tagesordnung
kommt, weil Sie Beratungsbedarf haben, und demzu-
folge CDU/CSU und FDP auf der Bremse stehen, aber
nicht Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1703404700

Ich werde es im Protokoll nachlesen. Vielleicht ver-

stehe ich dann Ihre Frage.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: So schwer war es nicht! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Kriegen wir dann eine schriftliche Antwort?)


Aber ich glaube, es war so ziemlich dieselbe Frage wie
die von Herrn Sarrazin.

Es war ganz einfach so, dass nach der ursprünglichen
Planung heute ein Beschluss gefasst werden sollte. Wir
haben uns im Ausschuss mit der Frage beschäftigt, wie
wir es schaffen können, heute zu beschließen. Dabei ist
herausgekommen, dass wir es mit verkürzten Beratungs-
zeiten der mitberatenden Ausschüsse, Fristverzicht und
dergleichen gerade so hätten hinbekommen können. Als
dann vor drei Wochen deutlich wurde, dass dieser Rat
darüber nicht entscheiden kann, haben wir gesagt, dass
wir es auch mit den mitberatenden Ausschüssen ausführ-
lich beraten werden, was übrigens unsere Verantwortung
als federführender Europaausschuss ist, um den Be-
schluss dann zu fassen, wenn er notwendig ist. Dies wird
in der nächsten Sitzungswoche der Fall sein.

Noch eines auf Ihre Frage, Herr Sarrazin: Die Frage,
wer hier Chancen für Island verbaut, können wir in der
nächsten Woche noch einmal intensiv diskutieren; denn
Sie als Grüne haben einen Antrag gestellt, in dem Sie
von Island fordern, das angeblich absolute Walfangver-
bot der Europäischen Union einzuhalten, bevor es Mit-
glied in der Europäischen Union werden kann. Damit
fordern Sie von Island die Einhaltung von Regeln, die es
in der Europäischen Union gar nicht gibt. Dort gibt es
nämlich Ausnahmen für wissenschaftliche Zwecke und
zur Nutzung durch die indigene Bevölkerung. Wenn Sie
also glauben, Sie setzten sich besonders für Island ein,
dann schauen Sie sich doch erst einmal die rechtlichen
Grundlagen der Europäischen Union an, anstatt von mit-
gliedswilligen Ländern Dinge zu fordern, die wir in der
Europäischen Union selber nicht erfüllen. – Danke
schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In diesem Zusammenhang weise ich noch auf Folgen-
des hin – das muss schon einmal gesagt werden –: Es ist
doch kein Zufall, dass wir in diesem Bundestag erst seit
2006 überhaupt substanzielle Mitbestimmungsrechte
in europäischen Fragen haben. Ich kann Ihnen sagen,
warum das so ist: weil während der Regierungszeit von
Rot-Grün Schröder und Fischer kategorisch jede sub-
stanzielle Mitberatungs- und Mitbestimmungsmöglich-
keit des Bundestages verhindert haben.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Was?)


Wenn Sie sich heute als Retter der Demokratie auf-
spielen, dann sage ich Ihnen: Fassen Sie sich bitte an die





Michael Stübgen


(A) (C)



(D)(B)

eigene Nase; denn wenn wir in der Großen Koalition
nicht mit nachhaltigem Druck im Koalitionsvertrag
durchgesetzt hätten, dass wir substanzielle Rechte für
den Bundestag bekommen, dann gäbe es sie erst jetzt,
weil wir nun eine vernünftige Koalition haben. Aber bis
zum vorigen Jahr hätte es sie noch nicht gegeben. Bitte
seien Sie etwas zurückhaltender mit Ihren Vorwürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich muss noch ein Thema ansprechen; ohne es anzu-
sprechen, kann man nicht über den Europäischen Rat
sprechen. Es geht um die Finanzhilfen an Griechenland.
Ohne Zweifel befindet sich Griechenland in einer sehr
schwierigen Haushaltssituation. Die Situation ist ernst
und wird im Übrigen von der griechischen Regierung
auch nicht beschönigt. Endlich, möchte ich sagen; denn
leider mussten wir an der Verlässlichkeit griechischer
Zahlen in den letzten Jahren zweifeln. Wir wissen heute,
dass die Zahlen viele Jahre bewusst gefälscht wurden.

Das Reformprogramm der griechischen Regierung ist
ambitioniert, aber nicht unerfüllbar. Darauf will ich auch
einmal hinweisen. Wenn ich sehe, dass das Rentenein-
trittsalter in Griechenland auf 63 hochgesetzt worden
ist, dann ist das gut. Aber wir sind bei 67 Jahren. Dies
haben wir nicht gemacht, weil es uns Spaß macht, son-
dern deswegen, weil wir sonst die Rentenstruktur nicht
hinbekämen. Griechenland erhöht die Mehrwertsteuer
um 2 Prozentpunkte. Das ist wichtig, um die eigenen
Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Wir haben die
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, um dies zu
erreichen. Das hat auch keinen Spaß gemacht, war aber
notwendig. Griechenland hat das Ostergeld und das
Weihnachtsgeld für die Angestellten im öffentlichen
Dienst gestrichen. Die rot-grüne Bundesregierung hat
das sogenannte dreizehnte Monatsgehalt 2004 gestri-
chen, übrigens ausnahmsweise ein richtiger Punkt. Wir
sehen, die Reformen, die Griechenland in Angriff
nimmt, sind richtig; sie müssen umgesetzt werden, und
Griechenland braucht unsere Unterstützung dafür. Aber
es sind durchweg Reformen, die in diesem Land sehr
spät in Gang gesetzt werden und bei uns in den letzten
zehn Jahren schon umgesetzt wurden. Deshalb ist es
wichtig, dass Griechenland diese Arbeit in erster Linie
alleine macht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das war Rot-Grün, sehr wahr!)


Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen: Bei dem,
was wir eben nicht nur in Griechenland, sondern auch in
Portugal und Spanien und anderen Mitgliedsländern se-
hen, können wir, was den Stabilitäts- und Wachstums-
pakt betrifft, nicht einfach weiter so machen, auch wenn
wir die kurzfristigen Probleme halbwegs gelöst haben.
Es hat sich gezeigt, dass der Wachstums- und Stabilitäts-
pakt gerade dann nicht funktioniert, wenn eine Krise be-
sonders schwer ist. Deshalb müssen wir uns Gedanken
darüber machen, wie wir den Stabilitäts- und Wachstums-
pakt verändern und ihn krisenfester machen. Ich finde es
zum Beispiel sehr richtig, dass der Europäische Rat
wahrscheinlich schon heute darüber redet – ein Fachmi-
nisterrat wird das umsetzen –, endlich die Kontrollbe-
fugnisse von Eurostat erheblich auszuweiten. Eurostat
soll künftig die Möglichkeit haben, direkt in den Län-
dern zu prüfen, ob die Zahlen, die sie öffentlich angeben
oder nach Brüssel weitergeben, stimmen. Ich weiß: Rot-
Grün hat das damals abgelehnt. Wir haben es damals,
2004, auch abgelehnt; das war ein Fehler. Jetzt ist es
wichtig, diesen Fehler so schnell wie möglich zu korri-
gieren.

Ich möchte noch eines sagen: Zukünftig können wir
in den europäischen Verträgen, in der Euro-Gruppe nicht
mehr ausschließlich auf finanzielle Sanktionen setzen.
Wenn ein Land nämlich erst einmal kurz vor der Zah-
lungsunfähigkeit steht, dann nützt es nicht mehr viel,
Sanktionen in Form einer finanziellen Strafe zu erteilen.
Wir müssen uns da etwas Intelligenteres einfallen lassen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die erwogen wer-
den sollten. Zum einen könnte man im Rahmen eines
Vertragsverletzungsverfahrens wegen eines Verstoßes
gegen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspak-
tes die Stimmrechte eines Landes teilweise aussetzen.
Darüber sollten wir nachdenken. Ich weiß, dass wir da-
für die Verträge ändern müssen. Wir sollten zum anderen
aber das, was ansatzweise im Lissabon-Vertrag schon
angelegt ist, nämlich die Möglichkeit, Zahlungen – zum
Beispiel Agrarsubventionen oder Mittel aus den Struk-
turfonds – einzufrieren, ausbauen. Im Übrigen können
schon jetzt Mittel aus dem Kohäsionsfonds eingefroren
werden; das wurde aber noch nie gemacht.

Eines möchte ich noch sagen: Ich finde es schon
merkwürdig, dass Herr Barroso, der auch schon vor fünf
Jahren Kommissionspräsident war, jetzt in Interviews er-
klärt: Ich bin nicht schuld; ich konnte nichts machen,
weil ich keine Möglichkeiten hatte.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Den haben Sie doch haben wollen! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Den hat Frau Merkel durchgesetzt! Ihr Präsident! Ihr Parteigänger!)


Er sollte erklären, warum er die Möglichkeiten, die er
hatte, nicht genutzt hat.

Das Thema Europa wird auch in Zukunft wichtig
sein. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünsche
der Bundeskanzlerin für den Europäischen Rat alles
Gute.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703404800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu den Entschließungsanträgen.

Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1191 soll überwiesen werden: zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung
an den Auswärtigen Ausschuss, den Finanzausschuss
und den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und den Haushaltsaus-
schuss. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1170 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union und zur Mitberatung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1171 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen
Ausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung
in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Überweisung, und zwar zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss und den Finanzausschuss sowie an
den Ernährungs- und den Umweltausschuss. Die Ab-
stimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung
geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer
stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Überweisung ist so be-
schlossen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, FDP und der Linken gegen die Stimmen der Grü-
nen. Wir stimmen also heute nicht über den Entschlie-
ßungsantrag ab.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Rettungsschirm für Kommunen – Strategie
für handlungsfähige Städte, Gemeinden und
Landkreise

– Drucksache 17/1152 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommu-
nen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen
und Verordnungen sowie im Gesetzgebungs-
verfahren

– Drucksache 17/1142 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Zukunft der Kommunalfinanzen – Transpa-
renz gewährleisten und Öffentlichkeit herstel-
len

– Drucksache 17/1143 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss

d) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteu-
ergesetzes

– Drucksache 17/520 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des

(7. Ausschuss)


– Drucksache 17/869 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Dr. Thomas Gambke


(8. Ausschuss)


– Drucksache 17/872 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zu-
rücknehmen

– Drucksachen 17/447, 17/869 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Dr. Thomas Gambke

Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes, Tagesordnungs-
punkt 5 d, werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1703404900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Im Herbst 2008 haben wir in diesem Hohen Haus
den Rettungsschirm für Banken in einer sehr schnellen
Aktion gemeinsam aufgespannt. Er war erfolgreich und
verbunden mit dem Namen des damaligen Finanzminis-
ters Peer Steinbrück. Wir haben danach gemeinsam in
der Großen Koalition einen Rettungsschirm für Arbeits-
plätze aufgespannt, der mit dem Namen Olaf Scholz eng
verbunden war. Darüber hinaus haben wir zu Zeiten der
Großen Koalition gemeinsam Ansätze eines Rettungs-
schirms für Kommunen beschlossen; ich erinnere an das
Stichwort Konjunkturpaket II. Im Rahmen dieses Kon-
junkturpaketes haben wir als Bund den Kommunen
10 Milliarden Euro gegeben, damit sie vor Ort Arbeits-
plätze sichern und die Wirtschaft am Laufen halten kön-
nen. Das örtliche Handwerk wurde durch die Maßnah-
men, die wir zur energetischen Gebäudesanierung auf
den Weg gebracht haben, gefördert.

Jetzt wäre es an der Zeit, über einen umfänglichen
Rettungsschirm für die Kommunen nachzudenken.


(Beifall bei der SPD)


Eigentlich wäre es Aufgabe der Regierungskoalition,
Aufgabe von Schwarz-Gelb, das Thema hier aufzuset-
zen. Aber wir, die SPD-Fraktion, haben es aufgesetzt,
weil wir dieses Thema für besonders wichtig erachten.
Denn den Kommunen geht es schlecht.

Landauf, landab wird diskutiert, wo man in kommu-
nalen Haushalten einsparen kann und wie man eventuell
an mehr Geld kommt. Es wird über die Schließung von
Theatern, Museen, Schwimmbädern und Ähnlichem
nachgedacht. Städte wie Köln denken darüber nach, ob
sie eine Bettensteuer einführen.


(Gisela Piltz [FDP]: Haben sie schon eingeführt!)


– Ein Akt der Notwehr, Frau Kollegin Piltz, gegen die
Maßnahmen, die Sie hier schon beschlossen haben.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt Kommunen, Duisburg zum Beispiel, die da-
rüber nachdenken, eine besondere Form der Gewerbe-
steuer einzuführen: Sie wollen das älteste Gewerbe der
Welt besteuern.

Das alles sind Akte der reinen Verzweiflung, weil es
den Kommunen schlecht geht und sie den Eindruck ha-
ben, dass sich Schwarz-Gelb auf Bundesebene nicht um
sie kümmert.


(Beifall bei der SPD)


Die Kommunen leiden unter der Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise. Das gilt natürlich auch für Bund und Länder.
Die Kommunen leiden zudem aber unter Schwarz-Gelb.


(Beifall bei der SPD)


Sie leiden unter dem Katalog der Grausamkeiten, den
Sie Koalitionsvertrag nennen. Man bräuchte eine
Stunde, um all das aufzuzählen, was Sie den Kommunen
antun wollen. „Privat vor Staat“ steht quasi über dem
Koalitionsvertrag. Sie wollen, dass der Staat den Kom-
munen alles wegnimmt, was sie als Aufgaben sinnvol-
lerweise für die Bürger erledigen, und es den Privaten
gibt, damit diese ihre Geschäfte machen können.

Das ist nicht das, was wir wollen.


(Beifall bei der SPD)


Sie wollen einen schwachen Staat. Wir wollen einen
leistungsfähigen Staat und starke Kommunen. Denn in
den Kommunen entscheidet sich das Schicksal der Men-
schen. Vor Ort wird gelebt, gearbeitet, Kultur erlebt, ge-
meinsam etwas getan. Vor Ort wird auch Politik hautnah
erlebt, und vor Ort werden die Folgen von Politik unmit-
telbar deutlich.

Aber was macht Schwarz-Gelb? Was macht zum Bei-
spiel die CDU in Nordrhein-Westfalen? Am Wochen-
ende gab es einen Parteitag in Münster. Da haben sich
die Bundeskanzlerin und der Kollege Rüttgers für einen
Satz feiern lassen, der sinngemäß lautete: Wir dürfen die
Kommunen nicht ausbluten lassen, nur um Steuersen-
kungen durchführen zu können. – Ja, richtig!


(Beifall bei der SPD)


Für diesen Satz sollen die beiden auf diesem Parteitag
jubelnd gefeiert worden sein.


(Joachim Poß [SPD]: Im Fernsehen war es zu sehen!)


Da kann man sich nur fragen: Leiden die Delegierten
dort alle unter retrograder Amnesie?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Haben sie zum Beispiel Ihren Koalitionsvertrag nicht ge-
lesen? Haben sie noch nicht mitbekommen, was Sie hier
bisher getan haben, was Sie an Gesetzen beschlossen ha-
ben? Sie sind jetzt fünf Monate an der Regierung. Die
Bilanz ist: drei Gesetze.


(Gisela Piltz [FDP]: Vorher elf Jahre gar nichts für die Kommunen!)


Das nennt man normalerweise Stillstand der Rechts-
pflege.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber diese drei Gesetze gehen im Wesentlichen zulasten
der Kommunen. Als Erstes haben Sie im vorigen Jahr
die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unter-
kunft abgesenkt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie wollten doch gar nichts bezahlen!)


– Das ist doch völliger Unsinn, Herr Kollege; das wis-
sen auch Sie. – Sie haben den Kommunen 3 Prozent-
punkte – das sind 400 Millionen Euro – abgenommen,
und das in einer Situation, wo die Kosten der Unterkunft
in den Kommunen steigen.

Spätestens jetzt muss auch Ihnen klar werden, dass
der bestehende Abrechnungsmechanismus, so sinn-
voll er im Einzelnen vielleicht sein mag, ein schwerwie-
gendes Problem hat: Er kommt immer zwei Jahre zu
spät. Den Kommunen wird jetzt Geld erstattet auf der
Basis von vor zwei Jahren, als es den Kommunen gut





Bernd Scheelen


(A) (C)



(D)(B)

ging. Auf dieser Basis hatte man errechnet, sie bräuchten
weniger. Jetzt geht es ihnen aber schlecht. Das heißt, zu-
mindest hier sollten Sie uns zustimmen, wenn wir sagen:
Wir brauchen für die nächsten zwei Jahre eine Über-
brückung, damit die Kommunen nicht prozyklisch be-
straft werden. Das heißt, wenn es mit der Wirtschaft ab-
wärtsgeht, bekommen sie weniger; wenn es mit der
Wirtschaft wieder aufwärtsgeht, dann erhalten sie mehr.
Was Sie da machen, ist doch hirnrissig. Da muss eine
Überbrückung her.


(Beifall bei der SPD – Ingbert Liebing [CDU/ CSU]: Scholz war doch Sozialminister, als das beschlossen wurde! – Zuruf der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])


– Die Kollegin Hagedorn weist zu Recht darauf hin, dass
die SPD-Fraktion einen entsprechenden Antrag in der
vorigen Woche im Rahmen der Haushaltsberatungen
eingebracht hat.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie hatten elf Jahre Zeit dazu!)


Wir haben beantragt, den Kommunen 400 Millionen
Euro mehr für dieses und das nächste Jahr zur Verfügung
zu stellen. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt. Zu den
Schweinereien, die Sie hier veranstalten, sollten Sie auch
stehen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Sie waren elf Jahre verantwortlich!)


Die anderen beiden Gesetze, die Sie verabschiedet ha-
ben, haben Steuergeschenke an Privilegierte zum Inhalt:
an Hoteliers, an reiche Erben und an Unternehmen, die
ihre Gewinne lieber im Ausland versteuern. Sie haben
ihnen das noch erleichtert. An den Verlusten, die als
Folge dieser Gesetze entstehen, sind die Kommunen
überproportional beteiligt: bei dem einen Gesetz mit
40 Prozent, bei dem anderen mit 20 Prozent, obwohl sie
an den Gesamteinnahmen des Staates auf der Steuer-
ebene mit nur 13 Prozent beteiligt sind. Das heißt: Sie
machen konkret eine Politik gegen die Kommunen. Die
Kommunen leiden unter Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Es muss Schluss sein mit Ihren weiteren Steuersen-
kungsplänen. Sie müssen das, was den Kommunen
durch Ihre Beschlüsse an Verlusten – sie belaufen sich in
etwa auf 2,5 Milliarden Euro – entsteht, kompensieren.
Die Kommunen brauchen dieses Geld; sonst können sie
ihre Aufgaben nicht erfüllen.


(Beifall bei der SPD)


Sorgen Sie also für Kompensation für die Steuerausfälle.
Hören Sie auf, Steuergeschenke zu verteilen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Steuergeschenk ist ein Widerspruch in sich!)

Heben Sie die Beteiligung des Bundes an den Kosten der
Unterkunft um 3 Prozentpunkte, um 400 Millionen
Euro, an.

Ganz wichtig: Lassen Sie die Finger von der Gewer-
besteuer.


(Beifall bei der SPD)


Das ist ein entscheidender Punkt.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie haben nichts begriffen!)


Die Gewerbesteuer ist kein Thema, mit dem man die
Menschenmassen auf den Marktplätzen begeistern kann.
Aber wenn man den Menschen sagt, dass die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer im Jahre 2008, als sie den höchs-
ten Stand in der Nachkriegsgeschichte erreicht hatte,
41 Milliarden Euro ausgemacht haben und die Sozial-
ausgaben der Kommunen bei 40 Milliarden Euro liegen,
dann wird ihnen klar, dass in vielen Kommunen das, was
an Gewerbesteuereinnahmen hereinkommt, für soziale
Aufgaben benötigt wird. Lassen Sie deswegen die Fin-
ger von der Gewerbesteuer. Das ist die wichtigste Ein-
nahmequelle, die die Kommunen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Zug der Krise sind natürlich auch die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer eingebrochen, und zwar um etwa
18 Prozent – das ist schlimm genug –; aber auch die Ein-
nahmen aus der Einkommensteuer sind eingebrochen,
um 8 Prozent.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber konjunkturell bedingt!)


– Natürlich konjunkturell bedingt. – Die Einnahmen aus
der Körperschaftsteuer, die Sie teilweise als Ersatz an-
bieten, sind um 60 Prozent eingebrochen. Was ist das
denn für die Kommunen für ein Ersatz, wenn sie die Ein-
nahmen aus einer Steuer, die leicht konjunkturreagibel
ist, gegen die Einnahmen aus einer anderen Steuer tau-
schen, die schwer konjunkturreagibel ist? Was Sie da
machen wollen, ist doch hirnrissig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warten Sie mal ab!)


Sie benutzen die Krise sozusagen als Alibi, um die
Gewerbesteuer abzuschaffen. Insbesondere die FDP
stellt sich hierhin und erklärt: Schaut doch einmal, die
Einnahmen aus der Gewerbesteuer sind eingebrochen.
Eine solche Steuer muss abgeschafft werden; denn die
Kommunen brauchen verlässliche Einnahmen. – Die
Krise dient hier als reines Alibi.

Was Sie als Ersatz anbieten, ist, die Einnahmen aus
einer Steuer, die nur die Wirtschaft zahlt, durch die Ein-
nahmen aus drei anderen Steuern zu ersetzen, von denen
nur noch eine von der Wirtschaft gezahlt wird, nämlich
die Körperschaftsteuer. Die Einnahmen aus dieser Steuer
liegen manchmal bei null. Ich erinnere an das Jahr 2003:
Da gab es überhaupt keine Zahlungsverpflichtungen.





Bernd Scheelen


(A) (C)



(D)(B)

Die anderen beiden Steuern werden von den Menschen
gezahlt, nämlich die Mehrwertsteuer – von den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern – und die Einkommen-
steuer, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Das ist nicht unser Modell. Das werden wir auf keinen
Fall mitmachen.


(Beifall bei der SPD)


Ein weiterer Punkt. Klopfen Sie bitte Ihren Ländern
auf die Finger,


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Vor allem Rheinland-Pfalz!)


damit sie das Geld, das der Bund ihnen für die Kommu-
nen zur Verfügung stellt, weitergeben. Stichwort „Be-
treuung unter Dreijähriger“: Das Geld für die Kommu-
nen, das der Bund zur Verfügung stellt, versickert in den
meisten Ländern mit einer CDU-geführten Regierung,
bleibt also an den klebrigen Händen der dortigen Finanz-
minister hängen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ihr habt damals in Nordrhein-Westfalen gar nichts gemacht! – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Vor allem in Rheinland-Pfalz!)


Ein letztes Wort, und zwar zu der Einigung von letzter
Nacht zu den Jobcentern. Hier haben wir gemeinsam
eine gute Lösung gefunden. Aber diese hätten Sie schon
voriges Jahr haben können. Das hätten Sie mit uns ge-
meinsam in der Großen Koalition beschließen können.
Das haben Sie aus durchsichtigen Gründen nicht ge-
wollt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ganz im Gegenteil: Sie haben in den schwarz-gelben
Koalitionsvertrag aufgenommen, dass Sie die bewährte
Zusammenarbeit der Jobcenter mit der Bundesagentur
für Arbeit und den Kommunen beenden wollen. Sie wol-
len alles wieder auseinanderreißen. Das steht so in Ihrem
Koalitionsvertrag. Gott sei Dank sind Sie klüger gewor-
den. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass ich das gut
finde; denn jetzt können Millionen Langzeitarbeitslose
nach wie vor Leistungen aus einer Hand bekommen.


(Beifall bei der SPD)


Ich stelle fest, dass die Einigung im Wesentlichen
eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Wir wissen,
wie man gute Politik macht. Wenn Sie gute Politik ma-
chen wollen, fragen Sie uns. Wir wissen, wie es geht, Sie
nicht.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703405000

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss auf den

vorherigen Tagesordnungspunkt zurückkommen. Bei der
Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1172 habe ich bei der Verle-
sung der vielen Ausschüsse, an die der Antrag überwie-
sen werden soll, den Haushaltsausschuss vergessen. Das
ist ein unverzeihlicher Fehler, den wir jetzt korrigieren
sollten. Ich bitte also um Ihre Zustimmung für die Über-
weisung des Antrags auch an den Haushaltsausschuss. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das ausdrücklich
so beschlossen.

Nun erteile ich der Kollegin Antje Tillmann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1703405100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit

einiger Zeit diskutieren wir in jeder Plenarwoche min-
destens ein Mal über die Situation der Kommunen, heute
sogar anhand von fünf verschiedenen Oppositionsanträ-
gen. Das wäre gut und richtig, wenn wir mit dieser De-
batte neue und problemlösende Ideen diskutierten; denn
die Situation der Kommunen ist ernst. Leider steht in
den Anträgen nichts, was nicht sowieso schon Gesetz ist
oder durch Bundesfinanzminister Dr. Schäuble nicht be-
reits auf den Weg gebracht worden ist. Lieber Kollege
Scheelen, in Ihrem Antrag steht nichts, was in irgend-
einer Weise gegenfinanziert ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist kein Wunder, dass Sie Ihren Antrag genau in
der Woche stellen, in der die Haushaltsberatungen vorbei
sind. Alles, was Sie fordern, ist überhaupt nicht gegenfi-
nanziert. Bei den Haushaltsberatungen haben Sie ver-
säumt, entsprechende Anträge zu stellen.


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind für unfinanzierbare Steuersenkungen! Was reden Sie denn da für einen Stuss?)


Sie können das bei den nächsten Haushaltsberatungen
nachholen.

Ich zähle einzeln auf: Sie fordern 1,6 Milliarden Euro
als Kompensation für die Kommunen. Sie fordern, die
Beteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten um
3 Prozent anzuheben. Sie fordern, bewährte Programme
wie die Städtebauförderung zu verstärken. Sie fordern
Altschuldenhilfe für Wohnungsunternehmen in den
neuen Ländern. Sie fordern die Erweiterung der kulturel-
len Projektförderung und die Unterstützung der kulturel-
len Infrastruktur und, und, und. Die Umsetzung dieser
Forderungen macht ohne Weiteres bis zu 20 Milliarden
Euro aus. Wo war Ihr entsprechender Antrag in den
Haushaltsberatungen? Fehlanzeige! Sie haben sich vor
dieser Debatte bei den Haushaltsberatungen ganz be-
wusst gedrückt, weil Sie nämlich nicht wussten, woher
dieses Geld genommen werden soll.


(Joachim Poß [SPD]: KdU haben Sie in den Haushaltsberatungen abgelehnt!)


– Herr Poß, ich freue mich immer, wenn Sie bei meiner
Rede anwesend sind; denn dann wird es lebhaft.


(Bernd Scheelen [SPD]: Ansonsten geht es nur darum, was Sie denen weggenommen haben!)






Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

Herr Kollege Scheelen, Ihre Forderung, unseren Län-
dern auf die Finger zu klopfen, sieht unsere Verfassung
aufgrund unseres föderalen Staatsaufbaus nicht vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Machen Sie doch bitte konkrete Vorschläge, wie wir den
Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern verändern
können. Zu dieser Debatte sind wir mit Sicherheit bereit.

Das von Ihnen gewählte Beispiel Jobcenter ist nun
wirklich das schlechteste Beispiel. Es geht überhaupt
nicht darum, den Kommunen über viele Einzelpro-
gramme – wie Sie sie fordern – immer dann Mittel zur
Verfügung zu stellen, wenn wir uns dazu zwar bereit er-
klären, diese Mittel aber an eine Zweckbindung ge-
knüpft sind. Vielmehr geht es darum, dass die Kommu-
nalparlamente freie Einnahmen brauchen, mit denen sie
eigenverantwortlich Schwerpunkte in der jeweiligen
Kommune setzen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Entscheidung für Jobcenter zeigt, worauf es Ih-
nen ankommt: Ihnen geht es darum, die Kommunen so
weit wie möglich zu gängeln. Warum sonst sollte es von
einer Zweidrittelmehrheit im Kommunalparlament ab-
hängen, ob sich eine Kommune entscheidet, zu optieren
oder nicht? Wir haben Vertrauen in unsere kommunalpo-
litischen Kollegen. Wir glauben, dass die Kommunen ei-
gene Einnahmequellen brauchen, damit sie besser Ent-
scheidungen treffen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden keineswegs die Finger davon lassen. In
der Kommission, die Finanzminister Schäuble einberu-
fen hat, werden wir selbstverständlich den Finger auf
jede Wunde legen, und wir werden jede Chance erörtern,
die es den Kommunen ermöglicht, zukünftig über eigene
und sichere Einnahmequellen zu verfügen. Die Gewer-
besteuer ist sehr konjunkturabhängig. Ich habe nicht ge-
hört, welche Einnahmequelle Sie den Kommunen anbie-
ten, die eine Alternative zu den Einnahmen aus der
Gewerbesteuer ist – abgesehen von Einzelprogrammen,
bei denen wir als Bundestagsabgeordnete mit darüber
entscheiden, was die Kommunen mit ihren Mitteln ma-
chen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Gucken Sie in den Antrag! Da steht alles drin! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Gemeindewirtschaftsteuer!)


– Sie können sich jetzt beruhigen!

Neben den SPD-Anträgen gibt es auch Anträge der
Linken. Diese fordern zum Beispiel ein verbindliches
Mitwirkungsrecht der Kommunen. Sie kritisieren, dass
die institutionelle Garantie der Kommunen, verankert in
Art. 28 des Grundgesetzes, nicht dazu führe, dass Kom-
munen Debatten, die sie betreffen, mitgestalten dürften.
Das ist völlig daneben. Selbstverständlich sieht dieser
Artikel vor, dass die Kommunen gefragt werden, wenn
es um ihre Einnahmesituation geht. Das ist übrigens eine
ganz alte Tradition in diesem Haus.
Sowohl in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien als auch der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestags sind das Beratungsrecht und die
Fragepflicht der Kommunen ausdrücklich vorgesehen.
Ich zitiere § 41 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien:

Zur Vorbereitung von Gesetzesvorlagen, die Be-
lange der Länder oder der Kommunen berühren,
soll vor Abfassung eines Entwurfs die Auffassung
der Länder und der auf Bundesebene bestehenden
kommunalen Spitzenverbände eingeholt werden.

Was Sie fordern, ist also längst Tatsache. Das bewährt
sich in der Praxis. Ob Sie die Unternehmensteuerreform,
das Zukunftsinvestitionsgesetz oder die Föderalismus-
kommission nehmen: Sie können selbstverständlich in
jedem Protokoll der Anhörungen sachkundige Äußerun-
gen der kommunalen Spitzenverbände lesen. In die Be-
schlüsse der Föderalismuskommission haben wir die
Forderung der kommunalen Spitzenverbände, dass es
künftig keine Bundesaufgabe mehr gibt, die den Kom-
munen direkt übertragen wird, sogar eins zu eins aufge-
nommen. Es gibt also unendlich viele Beispiele, die zei-
gen, dass diese Zusammenarbeit hervorragend ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin sicher – das ist Auftrag der Regierungskom-
mission von Herrn Finanzminister Dr. Schäuble –, dass
diese Frage in der Kommission überprüft wird, dass
noch einmal überlegt wird, wie man kommunale Ver-
bände noch besser in zusätzliche Entscheidungen einbe-
ziehen kann.

Nur eine Randbemerkung: Ihnen ist aufgefallen, dass
in der Kommunalkommission der Bundesregierung die
kommunalen Spitzenverbände mit Herrn Christian
Schramm und Herrn Jörg Duppré vertreten sind, wir
Bundestagsabgeordnete aber nicht.


(Bernd Scheelen [SPD]: Die gehören doch beide Ihrer Partei an! Da haben Sie doch Drähte!)


Ich sehe nicht, dass die kommunalen Spitzenverbände
nicht in dem erforderlichen Umfang auch in diese Kom-
mission eingebunden sind, sodass ich glaube, dass dieser
Antrag in dem Punkt völlig überflüssig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Als reine Zeitverschwendung würde ich, liebe Kolle-
gen von der Linken, Ihren Antrag „Zukunft der Kommu-
nalfinanzen – Transparenz gewährleisten und Öffentlich-
keit herstellen“ bewerten. Sie fordern, eine breite und
ergebnisoffene Debatte über Chancen der dauerhaft sta-
bilen Einnahmesituation der Kommunen zu führen. Seit
20 Jahren tun wir nichts anderes, als darüber zu diskutie-
ren, ob es richtig ist, den Kommunen eine Einnahme-
quelle neben der Gewerbesteuer und der Grundsteuer zu
ermöglichen. Diese Diskussion wird immer dann beson-
ders laut, wenn die Gewerbesteuer nicht so gut fließt wie
in guten Jahren, also wie es jetzt der Fall ist.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)






Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

Dass diese Diskussion ergebnisoffen geführt wird, kön-
nen Sie daran erkennen, dass wir in den letzten 20 Jahren
keine Lösung gefunden haben.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Weil der Herr Koch sie im Vermittlungsausschuss wegdiskutiert hat!)


Deshalb wäre mir sehr viel lieber, wir führten sie ein bis-
schen weniger ergebnisoffen und dafür ein bisschen er-
gebnisorientierter. Das werden wir tun, und das wird
auch die Gemeindefinanzkommission tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie fordern weiter, dass Vorschläge, die bisher von
kommunalen Vertretungen, Wahlbeamten, Gewerkschaf-
ten und Wissenschaftlern gemacht wurden, in die Dis-
kussion dieser Kommission einfließen. Entschuldigung,
worum geht es denn sonst in dieser Kommission, außer
über die Modelle, die auf dem Tisch liegen, zu diskutie-
ren und gemeinsam mit den kommunalen Spitzenver-
bänden eine Lösung zu suchen?

Sie fordern in demselben Antrag auch, dass die Re-
gierungskommission regelmäßig über den Stand der Ar-
beit öffentlich Bericht erstattet. Der federführende Aus-
schuss ist gestern informiert worden, und ich bin sicher,
dass er in den nächsten Monaten immer wieder infor-
miert wird. Wie die Kommission es schaffen sollte, völ-
lig geheim die Gewerbesteuer abzuschaffen, auszuwei-
ten oder eine sonstige Kommunalsteuer einzuführen, ist
mir nicht klar. Also, die Öffentlichkeit wird selbstver-
ständlich hergestellt. Ihres Antrags bedarf es deshalb
nicht.

Ich schlage vor, wir lassen die Kommission erst ein-
mal arbeiten. Dann hat sie auch etwas zu berichten. Ich
bin sicher, dass Finanzminister Schäuble seine Zusage,
die er uns gegeben hat, nämlich über die Informationen
zeitnah mit uns zu diskutieren, einhalten wird. Wir wer-
den gemeinsam mit den Städten und Gemeinden eine
Lösung für das Problem der nicht vorhandenen Versteti-
gung der Einnahmen finden. Selbstverständlich geht das
nicht gegen die kommunalen Verbände. Wir werden ge-
meinsam nach einer Lösung suchen, und die Kommunen
werden eigenständig über eigene, konjunkturunabhän-
gige Einnahmen beraten. Zu der Diskussion darüber lade
ich Sie ein, und darauf freue ich mich.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703405200

Das Wort hat nun Gesine Lötzsch für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703405300

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die schwäbische Stadt Nürtingen
hat für dieses Jahr ihren Bürgern angekündigt, dass die
Elternbeiträge für den Hort um 5 Prozent, für die Ferien-
betreuung um 12 Prozent und für die Musikschulen um
5 Prozent steigen werden. Die Stadt Wuppertal denkt da-
rüber nach, das Schauspielhaus, Schulen und Bäder zu
schließen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Die Rede habe ich schon mal gehört!)


Ich finde, das sind unhaltbare Zustände für eines der
reichsten Länder der Erde.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Jahr 2009 fehlten den Kommunen 7,1 Milliarden
Euro, und im Jahre 2010 werden es wohl 12 Milliarden
Euro sein. Die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat wie
immer Verständnis für die Lage der Kommunen geäu-
ßert. Verständnis ist immer gut. Doch woher soll das
Geld für die Kommunen kommen? Diese Frage muss be-
antwortet werden.

Nun plant die Bundesregierung eine Bankenabgabe.
Das hört sich erst einmal gut an. Doch diese Bankenab-
gabe soll lediglich 1 Milliarde Euro einbringen; das ist
lächerlich. Diese 1 Milliarde Euro ist nicht einmal für
die Kommunen gedacht. Sie, meine Damen und Herren
von der Bundesregierung, wollen nur die Banken vor der
nächsten Krise schützen, nicht etwa die Kommunen und
die Bürgerinnen und Bürger. Für sie gibt es keinen
Schutz, weder in der jetzigen Krise noch vor zukünftigen
Krisen. Das müssen wir ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir in die Zukunft.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Völker, hört die Signale!)


Ab dem Jahr 2011 wird Finanzminister Schäuble das Vo-
lumen des Bundeshaushalts jedes Jahr um 10 Milliarden
Euro kürzen müssen, um die Schuldenbremse, die im
Grundgesetz festgeschrieben wurde, einzuhalten. Wie er
das machen will, hat er uns bisher nicht verraten.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Lassen Sie sich doch überraschen, Frau Kollegin!)


Klar ist nur, dass angesichts der Schuldenbremse für die
Unterstützung der Kommunen kein Spielraum mehr sein
wird. Im Gegenteil: Er wird die Kommunen mit den
Auswirkungen der Gesetze allein lassen, wie es die
Kommunen seit Jahren erleben. Dieser Zustand muss
endlich beendet werden.


(Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Deshalb geht es Berlin so gut, weil Sie in Berlin regieren!)


Aber das ist noch nicht alles. Die Koalition hat vor al-
len Dingen auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, dass weitere Steuersenkungen von
24 Milliarden Euro beschlossen werden sollen. Damit
wollen Sie den Kommunen noch mehr Geld entziehen.


(Zuruf von der FDP: Nein, das wollen wir ausdrücklich nicht!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Es war ein schwerer Fehler,
die Banken an der Finanzierung der Kosten, die im Rah-
men der Krise angefallen sind, nicht zu beteiligen. Es





Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)

war ein schwerer Fehler, Bund, Länder und Gemeinden
mit einer Schuldenbremse zu knebeln. Es war ein weite-
rer schwerer Fehler, in dieser Situation weitere Steuerge-
schenke zu versprechen. Das ist die falsche Politik.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine Politik der Deregulierung der Märkte, der Privati-
sierung öffentlichen Eigentums und der Zerstörung des
Arbeitsmarktes blutet die Kommunen aus.

Wenn ich die Anträge der anderen Fraktionen lese,
dann habe ich häufig den Eindruck, dass man dort denkt,
die Finanz- und Wirtschaftskrise sei vom Himmel gefal-
len bzw. habe uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel ge-
troffen und die Welt sei vorher in Ordnung gewesen.
Doch die Welt war auch vorher nicht in Ordnung. Die
Regierungen Kohl, Schröder und Merkel haben dazu
beigetragen, dass die Haushaltsnotlage der Kommunen
immer größer wurde.

Ich kann es Ihnen, meine Damen und Herren von der
SPD, nicht ersparen: Ihr Antrag ist zwar gut gemeint;
doch es kommt nicht zum Ausdruck, wie Sie das struktu-
relle Defizit von 12 Milliarden Euro jährlich beseitigen
wollen. In Ihrem Antrag wird das Problem nicht an der
Wurzel gepackt. Das Problem ist die Agenda 2010, ins-
besondere Hartz IV. Dies hat nämlich dazu geführt, dass
die Kommunen über 40 Milliarden Euro für soziale
Leistungen aufbringen müssen. Das können die Kom-
munen nicht schultern; das wissen Sie genau.


(Joachim Poß [SPD]: Unsinn en gros!)


Dies war die falsche Entscheidung. Die Agenda 2010
und Hartz IV müssen abgewickelt werden.


(Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß [SPD]: Das hat doch mit der Agenda 2010 überhaupt nichts zu tun!)


Wenn das SPD-Präsidium nun vor der Wahl in Nord-
rhein-Westfalen einen Rettungsschirm für die Kommu-
nen beschließt, dann ist das gut. Aber Sie müssen natür-
lich ganz genau erklären, wie Sie ihn finanzieren wollen;
denn wir können nicht noch einmal einen Rettungs-
schirm in Höhe von 480 Milliarden Euro aufspannen. So
viel Geld ist wirklich nicht vorhanden. Wir können den
Kommunen nur helfen, wenn die Kräfte der Vernunft in
diesem Haus bereit sind, über die Stabilisierung der Ein-
nahmen zu reden. Bundespräsident Horst Köhler haben
wir erfreulicherweise schon auf unserer Seite. Er hat
nämlich erklärt, es gebe keinen Spielraum für Steuersen-
kungen. Ich finde, da Sie sich so gerne auf den Bundes-
präsidenten berufen, sollten Sie diese Aussage von ihm
ernst nehmen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Finanztransaktionsteuer will er auch haben!)


Um die aktuellen und langfristigen Probleme in unse-
rem Land zu lösen, müssen wir endlich diejenigen zur
Kasse bitten, die uns die Krise eingebrockt haben, an der
Krise verdient haben und jetzt schon wieder im Kasino
zocken. Wir von der Linken wollen Mehreinnahmen.
Mit diesen Mehreinnahmen wollen wir eine stabile Fi-
nanzausstattung der Kommunen schaffen und diese
langfristig sichern. Denn das Leben in den Kommunen
ist konkret: Es geht um Schulen, es geht um Schwimm-
bäder, es geht um Bibliotheken, es geht um Theater. Ich
kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein reiches Land
wie Deutschland auf all dies verzichten bzw. die kultu-
relle Landschaft ausdünnen will.

Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag enthält
viele Forderungen, die wir von der Linken mittragen
können. Doch der Schirm, den Sie konzipiert haben, ist
leider ein bisschen zu klein. Wir brauchen einen wirklich
verlässlichen Rettungsschirm für die Kommunen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703405400

Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1703405500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich nach diesem Rundumschlag über die allge-
meine Steuer- und Verteilungspolitik zum Thema kom-
munale Finanzen zurückkehren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Am Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundes-
amt die aktuellen Zahlen zur Finanzsituation der Städte
und Gemeinden vorgelegt. Die Finanzlage der Kommu-
nen ist noch ernster als erwartet. Im Jahr 2009 klaffte in
den Kassen der Kommunen ein Finanzloch in Höhe von
7,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr sind die
Einnahmen im Krisenjahr um rund 2,7 Prozent eingebro-
chen – die Konjunktur ist übrigens um 5 Prozent einge-
brochen –; die Ausgaben der Kommunen stiegen dage-
gen um 6 Prozent. Das macht deutlich: Wir haben ein
Einnahmeproblem und ein noch wesentlich größeres
Ausgabenproblem.

Verursacht wurde dieses Problem einerseits durch den
Einbruch der Gewerbesteuer – bundesweit um 18,4 Pro-
zent, in einzelnen Kommunen um bis zu 40 Prozent –
und andererseits durch die Explosion der Sozialausga-
ben.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Durch Steuersenkungen! – Bernd Scheelen [SPD]: Das Ausgabenproblem ist durch die Gewerbesteuer verursacht? Was ist das für eine Logik? – Gegenruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Steuersenkungen werden erst 2010 wirksam!)


Diese stiegen um 4,9 Prozent auf insgesamt 40,3 Milliar-
den Euro. Laufende Ausgaben müssen zunehmend über
Kassenkredite finanziert werden. Es ist richtig: Dadurch
werden die notwendigen Gestaltungsspielräume der ver-
fassungsrechtlich geschützten kommunalen Selbstver-
waltung immer geringer.





Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich von diesen pauschalen Zahlen abse-
hen; denn die Lage der einzelnen Kommunen stellt sich
recht unterschiedlich dar: Neben schuldenfreien Kom-
munen gibt es solche mit einer Pro-Kopf-Verschuldung
von über 2 000 Euro, und das über alle Gemeindetypen,
Gemeindegrößen und Regionen hinweg. Das heißt, man-
che Kommune muss sich fragen lassen, inwieweit sie
konsequent Ausgaben- und Aufgabenkritik betreibt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Also sind die selbst schuld? Man merkt, dass die FDP in den Kommunalparlamenten wenig vertreten ist!)


Gleichzeitig gibt es durchaus positive Beispiele: Kom-
munen, die trotz aller Widrigkeiten ihren Haushalt kon-
solidieren konnten, zum Beispiel Dresden und Düssel-
dorf. Die Analyse dieser Best-practice-Beispiele wäre
sicherlich lohnenswert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es besteht Konsens, dass die Kommunen eine solide,
verlässlichere finanzielle Basis brauchen. Darunter ver-
stehen wir allerdings keine plakativen Worthülsen. Wir
streben möglichst schnell eine nachhaltige und tragfä-
hige Lösung an. „Solide“ bedeutet: verlässlich, konjunk-
turunabhängig und weniger schwankungsanfällig auf der
Einnahmeseite.

Genauso wichtig ist es, die Ausgabenseite zu betrach-
ten. In diesem Zusammenhang sollten wir überprüfen,
ob die Zuweisungsschlüssel im Rahmen des kommuna-
len Finanzausgleichs die Veränderungen der Bevölke-
rungsstrukturen noch ausreichend abbilden.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Am 4. März hat die Regierungskommission, die sich
mit diesen Themenkomplexen befasst, ihre Arbeit aufge-
nommen. Staatssekretär Koschyk hat diese Woche im Fi-
nanzausschuss bestätigt, dass alle Beteiligten zu einer
vorurteilsfreien und zielorientierten Zusammenarbeit be-
reit sind. Das ist schon einmal ein guter Ausgangspunkt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich werde aus dem Protokoll zitieren! – Bernd Scheelen [SPD]: Was sollen sie auch machen, wenn sie eingeladen sind? Dann müssen sie auch kommen!)


Drei Arbeitsgruppen werden sich mit den Themen
kommunale Steuern, Standards und Rechtsetzung be-
schäftigen. Damit sind die Weichen gestellt. Die von
SPD und Linken geforderte Transparenz und Beteili-
gung der Kommunen sind durch die Mitwirkung der
kommunalen Spitzenverbände seit Jahren längst gewähr-
leistet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Noch vor der Sommerpause wird es einen Zwischenbe-
richt geben, und bis zum Herbst soll das Konzept stehen.
Dieser Zeitplan ist sehr ambitioniert, realistisch und
dringend notwendig.
Die kurzfristigen Hauruck-Aktionen, die die SPD in
ihrem Antrag vorschlägt, verpuffen, wenn die strukturel-
len Defizite nicht behoben werden. Wie fair und solida-
risch ist es denn, schlecht wirtschaftenden Kommunen
finanziell unter die Arme zu greifen und die, die sich
schmerzhaft konsolidieren, links liegen zu lassen?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden die Grundstrukturen des Systems verbes-
sern. Sie doktern an den Symptomen herum.


(Sabine Bätzing [SPD]: Was?)


Das ist populistisch und erzielt keine nachhaltige Wir-
kung. Als kurzfristige Maßnahmen gab es die Konjunk-
turpakete und die – seit langem höchsten – Zuweisungen
an Kommunen. Wie Sie selbst erkannt haben, basieren
die Finanzprobleme der Kommunen in erster Linie auf
den strukturellen Fehlentwicklungen der letzten Jahre.
Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass es die SPD war,
die die letzten elf Jahre den Finanzminister gestellt hat


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und die Kommunen jahrelang im Regen stehen ließ. Die
Kommunen leiden nicht unter Schwarz-Gelb, sie leiden
an den Folgen von Rot-Grün.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag, und zwar
durchaus richtig, die strukturelle Unterfinanzierung der
Kommunen und fordern, dass diese durch mittelfristige
und langfristige Maßnahmen beseitigt werden. Da sind
wir ganz auf einer Linie. Dann stellen Sie fest, dass der
Umfang der kommunalen Aufgaben und Ausgaben und
die zur Verfügung stehenden Einnahmen in Einklang ge-
bracht werden müssen. Auch das ist absolut richtig.
Doch ist der vorwurfsvolle Ton nicht ziemlich heuchle-
risch? Es war schließlich die rot-grüne Regierung, die
den Kommunen mit der fortlaufenden Übertragung von
Aufgaben finanziell die Luft abgeschnürt hat,


(Joachim Poß [SPD]: Was? – Bernd Scheelen [SPD]: Damit haben wir Geld geliefert!)


zum Beispiel mit dem Gesetz zum Krippenausbau ohne
gleichzeitige Kostenübernahme


(Bernd Scheelen [SPD]: Anders als SchwarzGelb unter Kohl!)


und mit dem Gesetz zu den Kosten der Unterkunft für
Hartz-IV-Empfänger.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Lassen Sie sich nicht durcheinanderbringen! Die haben keine Ahnung da drüben! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das müssen Sie alles einmal nachlesen!)


– Das habe ich sehr wohl nachgelesen, Herr Binding. –
Soll Ihr gegenwärtiger Aktionismus eventuell die Fehler
Ihrer eigenen Regierungszeit kaschieren?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)

Das müssen Sie nicht tun. Wir gehen die Themen jetzt
an.


(Joachim Poß [SPD]: Die von der FDP erzählen die ganze Zeit nur Unsinn!)


Strukturelle Probleme müssen mit Strukturreformen
gelöst werden. Ich lade Sie ein, konstruktiv, vorurteils-
frei und offen mitzuarbeiten. Diskussionsgrundlage,
auch der Kommission, ist die im Koalitionsvertrag ver-
einbarte Strukturreform. Die in höchstem Maße kon-
junkturabhängige Gewerbesteuer soll aufkommensneu-
tral ersetzt werden durch eine stabile, verlässlichere
Einnahmequelle, durch einen höheren Anteil an der Um-
satzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Ein-
kommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen He-
besatzrecht für die Kommunen. Wir diskutieren
ergebnisoffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1703405600

Das Wort hat nun Kollegin Britta Haßelmann für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703405700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein

Gott, Frau Reinemund, um Ihre Vorstellung von der
kommunalen Wirklichkeit sind Sie wirklich nicht zu be-
neiden. Ich rate Ihnen: Fahren Sie einfach einmal nach
Nordrhein-Westfalen und unterhalten Sie sich mit den
Menschen, die in den Kommunen Politik machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


In Ihrer Wirklichkeit kommt Kommunalpolitik nicht vor.

Ihre latente Botschaft war: Es gibt Kommunen, die
haben es geschafft, die haben sich aus eigener Kraft sa-
niert,


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Richtig!)


und es gibt welche, die haben das nicht getan, die haben
sich anscheinend nicht genug angestrengt. Meinen Sie,
den Kommunen eine solche Botschaft übermitteln zu
müssen? In den Kommunen gibt es 35 Milliarden Euro
Kassenkredite. 15 Milliarden Euro davon gibt es allein
in Nordrhein-Westfalen. Ich rate wirklich niemandem in
diesem Haus, eine Botschaft nach dem Motto: „Wisst
ihr, ihr habt einfach nur eine falsche Politik vor Ort ge-
macht, und daran liegt das Wohl und Wehe der Kommu-
nen“ zu propagieren.


(Gisela Piltz [FDP]: Nicht die, Sie haben die falsche Politik gemacht!)


Ich finde das ungeheuerlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vermitteln Sie das einmal Leuten, die jeden Tag Kom-
munalpolitik machen, und das auch noch ehrenamtlich.

(Gisela Piltz [FDP]: Was ist denn unter Rot-Grün für die Kommunen gemacht worden?)


Genauso unangenehm fällt eine Bemerkung der
Kanzlerin auf. In Wahlkampfreden sagt sie dauernd – in
Nordrhein-Westfalen tritt sie zurzeit besonders häufig
auf;


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist doch schön!)


ob das hilft, sei einmal dahingestellt; der CDU geht es ja
schlecht;


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wieso das denn?)


das wissen die CDUler hier vorne selber –: Wir müssen
jetzt etwas für die Kommunen tun. Letzte Woche sagte
sie noch, die Menschen müssten Spaß an Kommunalpo-
litik haben.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Wie wahr, Frau Merkel. Nur, dann muss man hier in Ber-
lin endlich einmal mit der kommunenfeindlichen Politik
aufhören. Herr Dautzenberg, das wissen Sie doch ganz
genau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: 2008 waren Überschüsse in den Haushalten! Bis 2005 war es ein Minus!)


Frau Reinemund, auch wenn Sie erst seit Beginn die-
ser Legislaturperiode dabei sind: Es ist eine Mär, dass
die Situation, die heute in den Städten und Gemeinden
herrscht, das Resultat von rot-grüner Politik ist. Wissen
Sie eigentlich, wie lange hier schon eine andere Regie-
rung existiert, wie lange in Nordrhein-Westfalen
Schwarz-Gelb regiert und wie viele Klageverfahren die
Kommunen dort gerade gegen diese schwarz-gelbe Lan-
desregierung anstreben?


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unter Rot-Grün war ein Minus in Nordrhein-Westfalen!)


Ich glaube, Sie wissen es nicht. Aber ich will mich nicht
zu lange damit aufhalten.

Vielleicht nenne ich Ihnen einfach einmal ein paar
Fakten. Mindereinnahmen für die Kommunen seit
Ende 2008 durch Bundesbeschlüsse – –


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bis 2008, Frau Kollegin, waren Überschüsse in den Haushalten! Bis 2005 gab es ein Minus! Unter Rot-Grün! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ja! Und 2008 war das beste Jahr für die Kommunen!)


– Seien Sie doch erst einmal ganz ruhig. Das waren Bun-
desbeschlüsse. Da haben Sie von der CDU mitregiert.
Da können Sie nicht sagen: Rot-Grün war es!

Mindereinnahmen für die Kommunen seit Ende
2008 – da gab es noch Schwarz-Rot – durch Bundesbe-
schlüsse: Die Mindereinnahmen durch die Konjunktur-





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

pakete I und II – sie brachten 10 Milliarden Euro zusätz-
lich für die Kommunen für zwei Jahre; was haben wir
uns alle auf die Schultern geklopft – betrugen 2,5 Mil-
liarden Euro.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Bürgerentlastungsgesetz: 1,7 Milliarden Euro Minder-
einnahmen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wollen Sie keine Kindergelderhöhung, Frau Kollegin?)


Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz:
1,6 Milliarden Euro Mindereinnahmen; dies wurde jetzt
unter Schwarz-Gelb beschlossen. Über die Änderung
steuerlicher Regelungen bei Funktionsverlagerungen
wird ja Ende der Woche im Bundesrat entschieden.
Jürgen Rüttgers reißt gerade den Mund ganz weit auf


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Braucht er gar nicht, weil das sinnvoll ist!)


nach dem Motto, er stimme keinem einzigen Gesetz
mehr zu, das negative Auswirkungen, sprich Steuersen-
kungen, für die Kommunen bedeutet. Am Freitag wer-
den wir einmal sehen, wie Jürgen Rüttgers im Bundesrat
abstimmt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Er kann zustimmen!)


Besteuerung von Funktionsverlagerungen: 0,65 Milliar-
den Euro weniger für die Kommunen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Quatsch! – Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das steht im Finanztableau!)


Sie wissen das alles. Das ergibt unter dem Strich – ich
sage das für die, die nicht so schnell mitgerechnet haben –
knapp 6,5 Milliarden Euro Mindereinnahmen seit Ende
2008 nur durch Bundesbeschlüsse.

Wie sollen die Städte und Gemeinden das verkraften?
Erklären Sie uns das doch einmal!


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das steht in der Antwort des Finanzministeriums!)


Denn zu diesen Steuerbeschlüssen kommen noch die
wahnsinnigen Auswirkungen der Krise und der aktuellen
konjunkturellen Situation. Die aktuellen Zahlen liegen
vor: 14,8 Milliarden Euro weniger für die Kommunen;
das ist Fakt. Wir haben bei den Gewerbesteuereinnah-
men Einbrüche von 19,7 Prozent und bei den Steuern ein
Minus von 11,4 Prozent.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie viel Minus hat der Bund, Frau Kollegin?)


Kommen Sie doch hier nicht mit typischen Erklärungs-
mustern wie „man werde schon helfen“ und „es werde
schon besser werden“, wenn die Kommunen Kritik an
der Aufgabenzuweisung äußern. Wir müssen hier im
Bundestag systematisch auf Steuersenkungen verzich-
ten. Geben Sie doch endlich einmal eine Garantie dafür
ab, dass Sie davon absehen, Ihre Steuersenkungspläne
weiter zu verfolgen; denn Sie schaden den Kommunen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Erklären Sie den Menschen doch einmal, wie Sie die
Gewerbesteuer ersetzen wollen. Die Einnahmen durch
die Gewerbesteuer betragen 35 Milliarden Euro.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In der Spitze, ja!)


– In der Spitze, Herr Dautzenberg, okay. Aber Sie spre-
chen doch dauernd vom Wachstum und sagen, dass es
besser wird.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unter uns ist das gewachsen, Frau Kollegin!)


Wenn Sie auf diese 35 Milliarden Euro verzichten
wollen,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ersetzen!)


was Sie ja anscheinend planen – die FDP erklärt doch
dreimal pro Woche, sie wolle die Gewerbesteuer ab-
schaffen –,


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ersetzen!)


dann sagen Sie doch einmal, wer diese 35 Milliarden
Euro dann zahlen soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Die Wirtschaft! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist nur eine Ausrede, um nächstes Jahr die Mehrwertsteuer zu erhöhen!)


Wenn die Kommunen dies über ihre Anteile an der Kör-
perschaftsteuer, der Einkommensteuer, der Mehrwert-
steuer und der Umsatzsteuer ausgleichen, bedeutet das,
meine Damen und Herren – ich sage das auch an die
Menschen, die heute der Debatte zuhören –, dass nicht
mehr die Unternehmen vor Ort durch die Gewerbesteuer
in die Verantwortung genommen werden,


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist doch Blödsinn!)


um auch ihren Beitrag zur Daseinsvorsorge zu leisten,
sondern dass die Bürgerinnen und Bürger in die Haftung
genommen werden.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist auch Blödsinn!)


Das ist Fakt, wenn wir uns von der Gewerbesteuer ver-
abschieden und eine Verlagerung in Richtung Einkom-
mensteuer vornehmen. Körperschaftsteuer betrifft auch
Unternehmen; darüber können wir gerne diskutieren.
Aber eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuer-
und Umsatzsteueranteile zahlen – das wissen Sie ganz
genau – am Ende die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb
stehen Sie in der Frage schlecht da.






(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703405800

Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dautzenberg?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703405900

Ja, natürlich, Herr Dautzenberg.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703406000

Frau Kollegin Haßelmann, konstatieren Sie und stim-

men Sie mir zu, dass die Gewerbesteuer durch einen be-
trieblichen Teil der Einkommensteuer ersetzt wird und
dass die Körperschaftsteuer der klassische Teil der Un-
ternehmensbesteuerung ist?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703406100

Herr Dautzenberg, wir beide wissen sehr genau, wie

die Gewerbesteuer funktioniert. Deshalb glaube ich
auch, dass Sie wissen, dass die Pläne der FDP, die Ge-
werbesteuer komplett abzuschaffen, problematisch sind.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ersetzen!)


Ich weiß, dass Sie persönlich immer „ersetzen“ sagen.


(Zuruf von der FDP: Ja, wir auch!)


Aber Ihre Koalition sagt: Wir schaffen das Ganze ab. Da
liegt der Unterschied. Wir beide wissen genau, wie es
funktioniert.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Soll ich die Frage noch einmal stellen?)


Ich sage Ihnen: Sie dürfen die Unternehmen nicht aus
der Verantwortung für die Daseinsvorsorge ihrer Stadt
und Gemeinde – sie müssen hier Verantwortung zeigen –
entlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das hat niemand vor! – Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU] meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703406200

Herr Dautzenberg, möchten Sie eine zweite Frage

stellen?


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!)


Lassen Sie, Frau Haßelmann, eine zweite Frage zu?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703406300

Ich glaube, ich habe auf Ihre Frage hinreichend geant-

wortet.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Das finde ich nicht!)


Die Detailprobleme im Hinblick auf die Gewerbesteuer
werden wir in meinem Redebeitrag von noch einer Mi-
nute nicht lösen.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Deswegen haben wir ja eine Kommission!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703406400

Ich muss korrigieren: Sie haben noch eine halbe Mi-

nute, wie Ihnen auch angezeigt wird.


(Vereinzelt Heiterkeit)



Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703406500

Okay, gut.

Wir werden die Debatte über die Gewerbesteuer fort-
setzen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber nichts unterstellen!)


– Nein. Wir wissen doch ganz genau, wovon die Rede
ist.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, eben!)


Sie arbeiten mit verteilten Rollen. Jürgen Rüttgers er-
klärt überall in Nordrhein-Westfalen: Es gibt keine wei-
teren Steuersenkungen zulasten der Kommunen, und die
Gewerbesteuer bleibt bestehen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Das hat er so nicht gesagt! Zitieren Sie ihn bitte nicht falsch!)


Gleichzeitig planen Sie hier etwas ganz anderes. Sie
wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Sie machen sich
aber einen schlanken Fuß,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


indem Sie die Diskussion in die Kommission verlagern.
Sie wollen am liebsten außerhalb des Parlaments, näm-
lich in der Kommission, darüber diskutieren.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ach! Das ist doch Quatsch!)


Wir werden erst beteiligt, wenn das Ganze beschlossen
ist. Dann darf auch das Parlament etwas dazu sagen.

Jetzt möchte ich noch einen Satz an die SPD richten.
Ich freue mich, dass Sie, wie auch wir, eine Weiterent-
wicklung der Gewerbesteuer wollen, zum Beispiel
durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha! Hin zur Substanzbesteuerung, ja?)


An dieser Stelle sage ich Ihnen: Für einen Teil der Steu-
erbeschlüsse tragen, wie ich gerade ausgeführt habe,
auch Sie Verantwortung.


(Joachim Poß [SPD]: Für die Konjunkturpakete!)


Mich ärgert, dass Sie sich einen schlanken Fuß gemacht
haben, als wir in der letzten Woche im Bundestag über
die Kosten der Unterkunft gestritten haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703406600

Kollegin Haßelmann, das ist ein sehr langer letzter

Satz.






(A) (C)



(D)(B)


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703406700

Ich komme zum Ende. – Wir haben ganz klar gesagt:

Die Kosten der Unterkunft müssen sich an den tatsächli-
chen Kosten orientieren; denn sonst zahlen die Städte
und Gemeinden die Zeche. Wir haben einen entspre-
chenden Antrag eingebracht, den Sie abgelehnt haben.
Eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte reicht an dieser
Stelle nicht aus.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703406800

Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer Fraktion.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703406900

Das wissen Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703407000

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1703407100

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir

mussten den größten Wirtschaftseinbruch seit den 30er-
Jahren hinnehmen. 2009 sackte das Bruttoinlandspro-
dukt in Deutschland um 5 Prozent ab. 2010 ist nur mit
einer leichten Erholung auf niedrigem Niveau zu rech-
nen. Die schwerste und gefährlichste Wirtschafts- und
Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg schlägt auf alle
Gebietskörperschaften durch. Wir stehen vor einer Her-
kulesaufgabe. Die Folgen der Finanzmarkt- und Wirt-
schaftskrise, unter anderem die daraus resultierenden ge-
waltigen Einnahmeeinbrüche der Kommunen, müssen
wir möglichst schnell beseitigen.

Dazu gibt es, wie diese Debatte zeigt, unterschiedli-
che Ansätze. Wir wollen Finanzmarktstabilität, Wachs-
tum und Konsolidierung. Das ist unser Ziel. Wir müssen
natürlich zunächst einmal über die Ausgangslage reden:
Wie sah die Ausgangslage aus? 2008 hatten wir noch
hervorragende Verhältnisse. Die Kommunen verzeichne-
ten einen Überschuss in Höhe von 7,7 Milliarden Euro;


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


das ist eine Tatsache.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


2009 sanken die Steuereinnahmen auf 62,4 Milliarden
Euro. Das war ein Rückgang gegenüber dem Vorjahres-
betrag um 11,4 Prozent. Letzten Endes wurde durch
diese Entwicklung, die eindeutig mit der Finanzmarkt-
und Wirtschaftskrise zu tun hat, ein großes Loch in die
Haushalte der Kommunen gerissen. Heute beträgt das
Defizit 7,1 Milliarden Euro. Das ist die Ausgangslage,
die den akuten Handlungsbedarf aufzeigt.

Das kommunale Handeln ist aufgrund der Finanzkrise
zweifellos stark eingeschränkt. Die Situation der Kom-
munen muss stabilisiert werden. Der politisch motivierte
Versuch der Opposition, diese Probleme der heutigen
Bundesregierung anzulasten, ist jedoch unglaubwürdig,
sachlich falsch und nicht zielführend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ihre Polemik, meine Damen und Herren, hilft unseren
Kommunen nicht. Nur Reformfähigkeit, Wirtschaftsför-
derung und Entlastung helfen unseren Kommunen. Das
ist der richtige Rettungsschirm, nicht aber Steuererhö-
hungen, Mangelverwaltung und was Sie sonst noch auf
Ihrer Agenda haben. Wir wollen unseren Kommunen
konkret helfen, und zwar durch Finanzmarktstabilität,
Konsolidierung und Wachstumsentwicklung.


(Joachim Poß [SPD]: Durch Ankündigungen!)


Die Sicherung der Kommunalfinanzen ist für uns ein
wichtiges Anliegen. Die Bekämpfung der Auswirkungen
der Wirtschaftskrise auf die Kommunen wird offensiv
angegangen.


(Joachim Poß [SPD]: Was? Durch die Bildung einer Kommission!)


Wir haben das Konjunkturpaket II geschnürt. Es ist
ein Erfolgsmodell. Maßnahmen im Umfang von 8,3 Mil-
liarden Euro wurden in die Wege geleitet. Ich verstehe
nicht, dass es Länder in dieser Republik gibt – insbeson-
dere die, die von Ihnen regiert werden –, die das Zusätz-
lichkeitskriterium im Zukunftsinvestitionsgesetz aufwei-
chen wollen. Das ist kontraproduktiv. Wir wollen keine
Förderung mit der Gießkanne, sondern das Gegenteil:
eine gezielte Förderung der Kommunen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das der Regierung! Das kommt doch aus Ihren Reihen! – Bernd Scheelen [SPD]: Das hat die Kanzlerin doch versprochen!)


Wir haben die Einsetzung einer Gemeindefinanz-
kommission beschlossen.


(Joachim Poß [SPD]: Mensch, Herr Michelbach, lassen Sie sich aufklären!)


Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie die
Umsetzung des Koalitionsvertrages jetzt schon konkret
angegangen ist. Herr Bundesfinanzminister, die Einset-
zung einer Kommission zur Erarbeitung von Vorschlä-
gen zur Verbesserung der Gemeindefinanzen ist in der
jetzigen Zeit der richtige Weg. Dafür sind wir dankbar.
Die Kommission wird auf der Basis einer Bestandsauf-
nahme Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinan-
zierung erarbeiten und bewerten. Im Rahmen dieser Be-
standsaufnahme soll es auch um die Frage der
Gewerbesteuer sowie um die Frage der anderen Finanz-
beziehungen zwischen Wirtschaft und Kommunen ge-
hen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Wir sprechen uns Ende des Jahres wieder!)


Wir wollen ein stabiles Band zwischen Wirtschaft und
Kommunen. Wir wollen dieses Wellental bei der Gewer-
besteuer nicht mehr. Wir wollen eine Verstetigung der





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Einnahmen der Kommunen. Das ist ein wesentlicher
Punkt.

Wir wollen deutlich machen, dass in einer Finanzver-
fassung, wie wir sie haben, nicht nur im Falle von Steuer-
mehreinnahmen, sondern auch im Falle von Steuermin-
dereinnahmen alle Gebietskörperschaften beteiligt sind.
Anders geht es nicht. Wir können doch keinen Verschie-
bebahnhof organisieren. Das wäre völlig falsch.


(Bernd Scheelen [SPD]: Sie machen Steuergeschenke zulasten Dritter!)


Wir betreiben in dieser Frage eine konsequente und
fachlich klare Haushalts- und Steuerpolitik gemäß unse-
rer Finanzverfassung. Wenn Sie die Einnahmeseite stär-
ken wollen, dann müssen Sie Leistungsanreize setzen.
Diese Anreize setzen wir durch unsere steuerpolitischen
Maßnahmen. Für die Kommunen bedeutet das zukünftig
Mehreinnahmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Es handelt sich dabei nicht um Steuergeschenke. Sub-
stanzbesteuerung ist kontraproduktiv. Das, was wir im
Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben, ist
für die Kommunen hilfreich.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das sehe ich aber ganz anders!)


Wir haben zum Beispiel die Verlustnutzung bei Sanie-
rungen von Betrieben zugunsten des Erhalts von Betrie-
ben und Arbeitsplätzen erst wieder möglich gemacht.
Was nützt es unseren Kommunen, wenn die Betriebe vor
Ort vor die Hunde und Arbeitsplätze verloren gehen? Es
darf keine Substanzbesteuerung geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Korrektur war absolut zielführend für unsere
Kommunen. Das gilt auch für die Zinsschrankenände-
rung und die Funktionsförderung in der Forschung. Das
alles sind ganz gezielte Maßnahmen, die uns in unserer
Aufgabe, die Kommunen zu stabilisieren und zu stärken,
voranbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ganz fatal ist es, wenn Sie ausgerechnet die Förde-
rung von Familien sowie Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern, also das Kindergeld und die Tarifentlas-
tung, geißeln. Das ist doch eine verkehrte Welt. Auch
durch den Konsum entstehen Mehreinnahmen bei den
Kommunen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Wo denn?)


Deswegen sage ich: Sie haben mit diesen Einnahmeaus-
fällen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro für die Kommu-
nen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Teu-
fel an die Wand gemalt. Die Tatsachen sehen nämlich
ganz anders aus. Wir haben ein klares Konzept für
Wachstum, Finanzmarktstabilität, Entlastung und Förde-
rung der Kommunen. Das sind die richtigen Rettungs-
schirme, und sie werden uns zum Erfolg führen. Deswe-
gen sind Ihre Anträge für die Kommunen absolut
kontraproduktiv. Wir haben ein klares ökonomisches
Konzept, wie wir in die Zukunft gehen wollen. Das wird
den Kommunen letzten Endes helfen, so, wie es 2008
zum Erfolg geführt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703407200

Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1703407300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir diskutieren heute auch über die Mehr-
wertsteuerermäßigung für Hotelübernachtungen, die
uns diese Koalition eingebrockt hat,


(Otto Fricke [FDP]: Dieses Thema hatten wir ja schon lange nicht mehr!)


mit der sie den Hotels Millionen geschenkt und den
Kommunen Millionen genommen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch aus diesem Grund ist ein Rettungsschirm für Kom-
munen notwendiger denn je.

Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten
wir der Union und der FDP dankbar sein; denn der
schwarz-gelben Koalition ist etwas gelungen, was mit
Gesetzen nicht immer gelingt: Sie hat unser Leben tief
und nachhaltig beeinflusst. Den Beweis halte ich hier in
meinen Händen. Ich darf aus einem Hinweis des Refera-
tes PM 2 der Verwaltung des Deutschen Bundestages zur
Abrechnung von Reisekosten zitieren:

Die Kosten für das Frühstück können ab sofort nur
erstattet werden, wenn eine Arbeitgeberveranlas-
sung vorliegt.

Danke, liebe Regierungskoalition! Wenn wir Sie und Ihr
Wachstumsbeschleunigungsgesetz nicht gehabt hätten,
hätten wir das nie erfahren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie werden mir verzeihen, wenn ich etwas sarkastisch
bin; aber die Mehrwertsteuerermäßigung für Übernach-
tungen – wir wollen sie mit unserem Gesetzentwurf
heute rückgängig machen – bietet sich geradezu dafür
an, sarkastisch zu sein. Ich habe mir in der Vorbereitung
auf die heutige Debatte noch einmal angeschaut, was
mein Kollege Martin Gerster am 9. Februar im Finanz-
ausschuss gesagt hat. Mein Kollege hat einfach die Äu-
ßerungen verschiedener Politiker zu diesem Thema auf-
gelistet. Ich sage Ihnen: Aus diesen Äußerungen könnte
man ein ganzes Comedyprogramm gestalten. Kollegin-
nen und Kollegen, we proudly present: Herr
Dr. Pinkwart von der nordrhein-westfälischen FDP will
das Gesetz aussetzen; man habe ein „bürokratisches
Monster“ geschaffen. Herr Dr. Rüttgers findet das gut –





Sabine Bätzing


(A) (C)



(D)(B)

nicht das mit dem bürokratischen Monster, sondern das,
was Herr Dr. Pinkwart gesagt hat. Da frage ich mich:
Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundesrat zu-
gestimmt? Der Kollege von der CDU, Herr Kolbe, sagte
am 25. Januar der Presse, dass die Mehrwertsteuerermä-
ßigung der Koalition den Start vermasselt habe. Auch
der Kollege Dr. Wissing von der FDP war mit dem Ent-
wurf und der Bevorzugung von Sondergruppen nicht zu-
frieden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hört! Hört! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Schallplatte hat einen Sprung!)


Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigent-
lich im Finanzausschuss zugestimmt? Unser Bundes-
tagspräsident, Herr Dr. Lammert, hielt die Mehrwert-
steuerermäßigung für eine „nicht vertretbare Regelung“.
Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigent-
lich im Bundestag zugestimmt?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie reden ja wie eine Schallplatte!)


Es könnte trotzdem alles in Ordnung sein, wenn we-
nigstens die Hotelbetreiber dankbar und zufrieden wä-
ren. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Hotels
haben plötzlich einen erhöhten Verwaltungsaufwand.
Genauso geht es den Reiseunternehmen, den Wirt-
schaftsverbänden und den Finanzämtern. Wir halten also
fest: Die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels ist Mist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Ich dachte, Opposition ist Mist! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Opposition ist Mist!)


Immerhin können wir durch die Mehrwertsteuerermä-
ßigung für Hotels viel Neues lernen: Tierpensionen sind
keine Hotels; sie genießen keine Steuerermäßigung. Al-
lerdings ist die Übernachtung des Tieres doch steuerer-
mäßigt, wenn es mit einem Menschen in einem Hotel
übernachtet. Wenn Kabinen auf Schiffen der Beförde-
rung dienen, sind sie nicht steuerermäßigt, wenn sie dem
Wohnaufenthalt dienen, schon. Der Handtuchwechsel im
Hotel ist steuerermäßigt. Bahnfahrten im Schlafwagen
sind es nicht. Plätze zum Abstellen von Fahrzeugen sind,
selbst wenn es sich bei diesen Fahrzeugen um Camping-
mobile handelt, nicht steuerermäßigt – es sei denn, es
handelt sich um Campingplätze.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch Tagungsräume und Stundenhotels sind nicht um-
satzsteuerermäßigt – wenigstens etwas.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Vergnügungsteuer, Frau Kollegin!)


Was sagt die Finanzverwaltung dazu? Sie will bei der
Anwendung des Gesetzes kulant sein. Gott sei Dank,
was für eine Erleichterung für den Bürger!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachen
und von unnötiger Bürokratie befreien.

Wissen Sie, wer das gesagt hat? – Das waren die Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und FDP in ihrem Ko-
alitionsvertrag.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Aus diesem Grund wollen wir eine Kommission
einsetzen, die sich mit der Systemumstellung bei
der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßig-
ten Mehrwertsteuersätze befasst.

Wissen Sie auch, wer das gesagt hat? – Genau: Auch das
steht in dem Koalitionsvertrag.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Zeit wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen; denn das Einzige, was Sie zwei
Monate nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes haben sinken
sehen, sind nicht die Hotelpreise, sondern Ihre Umfrage-
werte.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist das Positive an diesem Gesetz!)


Die Hotelpreise sind im Gegensatz dazu gestiegen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich frage mich: Was war denn eigentlich noch einmal
das Ziel, das mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
verbunden war? Wachstum? Meinten Sie das Wachstum
der Gewinnmarge der einzelnen Lobbygruppen oder das
Wachstum der Branche durch mehr Übernachtungen?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben das Thema verfehlt! – Gegenrufe von der SPD: Oh!)


Ob und wie viel investiert worden ist, ist eine schöne
Frage, die wir uns aufheben, und Sie können sich sicher
sein, dass wir sie immer und immer wieder stellen wer-
den, es sei denn, Sie machen heute dem Spuk ein Ende


(Otto Fricke [FDP]: Können Sie sich nicht weniger mit der Vergangenheit beschäftigen?)


und stimmen unserem Gesetzentwurf heute zu, mit dem
Sie das Thema ein für alle Mal vom Tisch hätten. Außer-
dem hätten Sie den großen Vorteil, politische Größe ge-
zeigt zu haben. Das wird aber wahrscheinlich nicht pas-
sieren.


(Bernd Scheelen [SPD]: Ist nicht zu erwarten!)


Warum nicht? – Das wird deshalb nicht geschehen,
weil es Ihrem Plan für Deutschland widersprechen
würde, wenn wir ein Land hätten, in dem die Politik
nicht durch die Interessen einzelner Wirtschaftsteilneh-
mer bestimmt wird,





Sabine Bätzing


(A) (C)



(D)(B)


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Märchen gehen nicht in Erfüllung, Frau Kollegin! Das ist der Punkt!)


und wenn wir ein Land hätten, in dem man einen Interes-
senausgleich sucht, statt nur die Interessen einer be-
stimmten Klientel zu vertreten. Manchmal wird von der
FDP ja nicht nur das Interesse einer Branche, sondern
sogar das Interesse eines einzelnen Wirtschaftsteilneh-
mers höher als das Allgemeinwohl gewertet.


(Beifall bei der SPD)


Herr Westerwelle hat uns ja immer wieder gesagt, wie
er sich seine Welt vorstellt,


(Joachim Poß [SPD]: Ja, seine Welt!)


eine Welt mit Menschen, die ihren Lohn nicht mehr von
Unternehmen, sondern als ergänzende Sozialleistung
vom Staat erhalten, eine Welt mit Unternehmen, die da-
durch ihre Gewinne ins Unermessliche steigen lassen,
darauf aber möglichst keine Steuern zahlen müssen,


(Otto Fricke [FDP]: Wann hat er das denn gesagt?)


eine Welt mit Kommunen, die nicht mehr für sich selber
sorgen können und nach dem Willen der FDP dann wohl
auch abgeschafft werden müssen.


(Otto Fricke [FDP]: Wann hat er das denn gesagt? – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Das sagt er jeden Tag! Das ist die Übersetzung, Herr Kollege!)


Gott sei Dank regiert die FDP aber nicht alleine; sie
hat ja noch einen Koalitionspartner. Was macht der? –
Nun, die CSU mosert zwar ständig gegen die FDP,


(Joachim Poß [SPD]: Mit Ausnahme von Michelbach!)


macht aber nichts richtig Eigenes. Die CDU lässt jeweils
eine Seite gewähren und versucht im Erfolgsfalle, das
Ganze als ihre Idee hinzustellen. Das kennen wir aber
schon aus der Großen Koalition.

Ich und mit mir Hunderte von Kommunen in
Deutschland wollen endlich einmal eine Antwort auf die
Frage bekommen, wie die Regierung die finanzielle Zu-
kunft der Kommunen sieht.


(Otto Fricke [FDP]: Nachdem Sie elf Jahre lang nichts unternommen haben!)


Die Antwort der Regierung lautet: Wir haben dafür eine
Kommission.


(Otto Fricke [FDP]: Ja! Was hattet ihr?)


Meine Frage lautet: Was machen Sie denn inzwischen?
Was machen Sie bis zur NRW-Wahl? Nichts?

Sagen Sie den Kommunen, dass Ihnen das Wahl-
ergebnis in NRW wichtiger ist, als es die Finanzen und
damit auch die soziale und kulturelle Ausstattung der
Kommunen sind?


(Beifall bei der SPD)

Sagen Sie ihnen, dass Sie auch weiterhin Gelder, die die
Kommunen wirklich brauchen, an Wirtschaftsunterneh-
men verteilen wollen? Sagen Sie ihnen das wirklich?

Mein üblicher Schlusssatz: Schaffen Sie die Klientel-
politik ab, stimmen Sie unserem Antrag zu, und küm-
mern Sie sich endlich um die Probleme in diesem Land!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703407400

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703407500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Bätzing, Sie haben sich heute hier eines ernsthaft
erworben, nämlich den Titel der Märchenerzählerin des
Tages.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Die Rede war spitze! Voll super! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh!)


Sie haben dabei nur eines vergessen: dass nämlich ge-
rade Ihre SPD in Bayern die Mehrwertsteuersenkung für
Hotels und Gastronomiebetriebe genauso gefordert hat.
Weil an Ihrem Märchen etwas gefehlt hat, möchte ich
das ergänzen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann
reden sie als SPD in Bayern noch immer in der Opposi-
tion. – Daran sollten Sie immer denken.


(Beifall bei der FDP – Sabine Bätzing [SPD]: Schauen Sie sich einmal die aktuellen Umfragen an!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabenstel-
lung ist eindeutig: Der Schieflage in den kommunalen
Haushalten muss jetzt entgegengewirkt werden. Wir
müssen jetzt handeln, um die immer deutlicher werdende
Misere – ich glaube, das sehen wir alle im Haus so – in
den Griff zu bekommen. So gesehen finde ich es gut,
wenn hier im Haus Konsens herrscht. Erstaunlich ist nur,
dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der SPD
hier so auftrumpfen. Sie haben die Kommunen elf Jahre
lang mit drei Finanzministern gequält.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das war eine gute Zeit für die Kommunen!)


Das waren Herr Lafontaine – daran erinnern Sie sich
nicht so gerne –, Herr Eichel und Herr Steinbrück. Aber
keiner Ihrer Minister hat es geschafft, eine wirklich
grundlegende Lösung zu finden. Von daher müssen Sie
sich erst einmal selbst fragen lassen, was Sie eigentlich
gemacht haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal, was Sie machen wollen!)






Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

Wenn ich von Ihnen höre: „Wir brauchen eine kom-
munalfreundliche Politik“, dann sage ich Ihnen eines:
Das machen wir jetzt, weil Sie es nicht hinbekommen
haben.


(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Scheelen, Frau Haßelmann, Sie erzählen hier ja
immer von den Kommunen in Nordrhein-Westfalen.
Ich kann Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Ich darf
sie erzählen, weil ich ja gelernt habe, wie man das
macht.


(Zuruf von der SPD: Märchen, Märchen, Märchen!)


– Nein, das ist leider kein Märchen: Sie sind schuld da-
ran, dass es Köln so schlecht geht. 1999 bei der Kom-
munalwahl hat es in Köln und in Düsseldorf eine deutli-
che Mehrheit für Schwarz-Gelb gegeben. Ich kann Ihnen
sagen, was in Düsseldorf passiert ist: Wir haben dort
zehn Jahre lang die kommunalen Haushalte saniert.


(Zuruf von der LINKEN: Sie haben alles verkauft! – Bernd Scheelen [SPD]: Auf bester Grundlage: Landeshauptstadt, Rhein, Flughafen!)


Wir sind seit Jahren schuldenfrei. Wir haben über
100 Millionen Euro in die Schulen investiert und jede
Steuer gesenkt. Den Unternehmen geht es gut und den
Bürgerinnen und Bürgern auch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was ist in Köln passiert?


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703407600

Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Haßelmann?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703407700

Nein, im Moment nicht.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! Nicht mit Fakten kommen!)


Sie kommt ja weder aus Köln noch aus Düsseldorf. Und
nach einer Kurzintervention, Frau Haßelmann, habe ich
drei Minuten Zeit zum Antworten; das ist noch schöner.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703407800

Es gibt kein Grundrecht auf Kurzinterventionen. Inso-

fern ist noch nicht klar, ob Sie diese drei Minuten zur
Antwort überhaupt erhalten.


(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr, Frau Präsidentin!)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703407900

Also: In Köln hat es Rot-Grün geschafft, dass diese

Stadt wirklich am Ende ist.

(Bernd Scheelen [SPD]: Da war zehn Jahre ein CDU-Oberbürgermeister!)


Ich sage das nicht, weil ich Düsseldorferin bin. Ich leide
wirklich mit Köln. Manchmal frage ich mich, ob wir als
Düsseldorfer nicht Entwicklungshilfe leisten müssten.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das würde Köln nie akzeptieren!)


Daran sehen Sie, was eine Regierung unter Rot-Grün ka-
puttmachen kann. Das sollten Sie sich einfach einmal
klarmachen und nicht pauschal davon reden, dass die Si-
tuation in Nordrhein-Westfalen so schlimm ist.


(Beifall bei der FDP)


Frau Haßelmann, noch ein Wort zu Ihnen: Wenn Sie
sagen, dass die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf
die Kommunen kaputtgespart hat, dann sage ich Ihnen:
Das Land hat dieses Jahr trotz rückläufiger Steuerein-
nahmen den zweithöchsten Betrag aller Zeiten, nämlich
7,6 Milliarden Euro, an die Kommunen gegeben. Ich
frage Sie: Was hat denn Rot-Grün in Nordrhein-Westfa-
len gemacht, solange es regiert hat? – Gar nichts! Sie ha-
ben uns verfassungswidrige Haushalte beschert, mehr
nicht!


(Beifall bei der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Sie haben 3,1 Milliarden Euro weggenommen!)


Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir uns mit
der Verstetigung der Kommunalfinanzen beschäfti-
gen. Sie haben eigentlich genau das Gegenteil gemacht:
Sie haben über die Substanzbesteuerung auch noch die
Liquidität der Unternehmen gefährdet. Das heißt, Sie ha-
ben die Einnahmenseite nur begrenzt verbessert, die Fi-
nanzsituation der Unternehmen geschwächt und damit
die Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Vielleicht können Sie über die Steuersenkung für Unternehmen reden! Was erzählen Sie für einen Unsinn! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie doch mal, was Sie machen wollen!)


Ich frage mich, ob es das ist, was Sie gewollt haben.

Ich frage mich auch noch etwas anderes, wenn Sie
hier immer wieder mit dem Thema Hotels anfangen:
Herr Scheelen, wo waren Sie eigentlich, als die soge-
nannte Große Koalition 5 Milliarden Euro per Feder-
strich in die Autoindustrie gesteckt hat? Wo sind Sie
denn da gewesen? Wo waren Sie denn, als die Kommu-
nalpolitiker der Grünen und insbesondere der SPD ge-
jault haben: Warum gebt ihr der Autoindustrie 5 Milliar-
den Euro und gebt diese Mittel nicht an die Kommunen?


(Bernd Scheelen [SPD]: Hunderttausende von Arbeitsplätzen!)


Das habe ich bei Ihnen vermisst. Das ist unehrlich. Aber
das mag sicherlich daran liegen, dass Herr Gabriel und
die SPD ordentlich Geld mit der Autoindustrie verdient
haben.





Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Das ist ja unerhört! Das war zur Rettung von Arbeitsplätzen!)


Ich jedenfalls bin froh, Herr Schäuble – und deshalb
mein Dank an Sie –, dass Sie sich der kommunalen Fi-
nanzen so schnell annehmen. Es ist mir auch wichtig,
dass wir nicht nur über die Einnahmenseite, sondern
auch über die Ausgabenseite sprechen. Ich hoffe, dass
sich alle Mitglieder dieser Kommission – das gilt insbe-
sondere für die Opposition und die kommunalen Spit-
zenverbände – endlich von dem Gedanken befreien, dass
die Gewerbesteuer, so wie sie jetzt angelegt ist, die beste
Steuer in diesem Zusammenhang ist.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen das Gewerbe
nicht aus seiner steuerlichen Verantwortung entlassen.
Aber das muss nicht über die Gewerbesteuer erfolgen.
Das müssen Sie irgendwann einmal zur Kenntnis neh-
men. Wenn Sie das immer wieder falsch zitieren, bringt
uns das auch nicht weiter.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU] – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wie dann?)


Zum Schluss noch einige Sätze zu dem Antrag der
Linken: Recycling ist sicherlich in der Umweltpolitik
schön und richtig, aber nicht bei Ihrem Antrag. Den ha-
ben Sie schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist das Modell FDP! Das haben Sie früher auch immer gemacht!)


– Nicht immer; nur dann, wenn es sinnvoll war. Aber zu
dem Thema dieses Antrags hat es eine Anhörung gege-
ben, aus der relativ deutlich geworden ist, dass das nicht
der richtige Weg ist. Ich zitiere:

Die Forderungen aus dem Antrag der Linken sind
in der Sache bereits im geltenden Recht verankert.

Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen die
Kommunen beteiligen. Auch das wird Thema der Kom-
mission sein. Kommunen sind aber – das ist schon ange-
sprochen worden – nicht Sache des Bundes, sondern der
Länder. Ihr Antrag ist leider nicht klug und bringt uns
nicht weiter.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408000

Kollegin Piltz, kommen Sie bitte zum Schluss.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703408100

Ich komme zum Schluss. – Wir glauben, dass die

Kommunen unsere Hilfe brauchen. Deshalb gibt es eine
Kommission, die handelt, statt nur zu reden. Das haben
wir elf Jahre und damit lange genug von Ihnen ertragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408200

Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin

Haßelmann das Wort.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703408300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Piltz, Sie

haben über NRW geredet und mich direkt angesprochen.
Ist Ihnen bewusst, dass die Stadt Düsseldorf in einer sol-
chen Situation ist – das müsste Ihnen klar sein, weil Sie
die Stadt gut kennen –, weil sie ihr gesamtes Tafelsilber
verscheuert hat?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Düsseldorf hat sämtliche Beteiligungen verkauft und
konnte damit seine massiven Haushaltsschulden sanie-
ren. Das kann man aber nur einmal tun. Das ist der erste
Punkt.

Der zweite Punkt ist: Sie suchen Beispiele für Ihre
kommunenfreundliche Politik. Ich hoffe, Sie wissen,
dass derzeit über 20 Kommunen vor dem Landesverfas-
sungsgericht in Nordrhein-Westfalen gegen Sie, die
schwarz-gelbe Landesregierung, klagen, weil Sie syste-
matisch den Kommunen Geld entziehen und Aufgaben
von der Landesebene auf die kommunale Ebene delegie-
ren, ohne die Finanzierung dieser Aufgaben sicherzu-
stellen. Über 20 Kommunen klagen gegen Sie.

Es gibt ein weiteres Beispiel für Ihre kommunen-
feindliche Politik. Sie haben unter großem Applaus Ihrer
selbst die Änderung der Gemeindeordnung in Nord-
rhein-Westfalen gefeiert, in der Sie versucht haben, den
Kommunen die wirtschaftliche Betätigung völlig zu ent-
ziehen.


(Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!)


Damit sind Sie jetzt absolut abgestürzt. Sie müssen die
Gesetzgebung korrigieren. Die Gemeindeordnung muss
geändert werden, weil die wirtschaftliche Betätigung,
die unter Schwarz-Gelb beschlossen worden ist, den ge-
richtlichen Prüfungen nicht standgehalten hat. Das ist
ein Beleg für kommunenfeindliche Politik im Land
Nordrhein-Westfalen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408400

Bitte, Kollegin Piltz.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1703408500

Frau Haßelmann, ich will kurz antworten. Erstens. Ich

war Fraktionsvorsitzende im Rat einer Stadt. Sie waren
Landtagsabgeordnete.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich war keine Landtagsabgeordnete!)


Ihr Problem ist, dass Sie hier im Bundestag Landespoli-
tik diskutieren wollen. Das ist durchsichtig, und ich
finde, das gehört so nicht hierher.


(Beifall bei der FDP – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn Gisela Piltz von Düsseldorf geredet? – Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch von Düsseldorf und Köln gesprochen!)





(A) (C)


(D)(B)


Zweitens. Wenn Sie davon sprechen, dass eine Stadt
ihr Tafelsilber verscheuert, dann muss ich Sie darauf
hinweisen, dass ich in Düsseldorf noch nie mit silbernem
Besteck gegessen habe.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie wissen wohl gar nicht, dass das ein Terminus technicus ist!)


Ein weiterer Punkt ist, dass das, was Sie so bedauern,
der Stadt Düsseldorf jedes Jahr 50 Millionen Euro
bringt, und zwar dauerhaft. Das, was Sie verscherbeln
nennen, halte ich für eine gute Anlage, weil wir durch
den einmaligen Verkauf von Anteilen jedes Jahr über
50 Millionen Euro an Schuldentilgung sparen. Das ist
kluge Haushaltsführung und hat nichts mit dem zu tun,
was Sie hier vorgetragen haben.

Ich komme zum Schluss. Wenn ich das richtig sehe,
ist die Klage, die Sie meinen, in dieser Woche entschie-
den worden. Leider hat die Landesregierung gewonnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408600

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Ingrid Remmers das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408700

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Der Regionalverband Rhein-Ruhr hat am Montag
eine Resolution gegen die Überschuldung der Kommu-
nen beschlossen. In dieser Sitzung sagte der CDU-Ober-
bürgermeister aus Hamm:

Ich bin seit elf Jahren Oberbürgermeister, beschis-
sen werden wir von beiden Landesregierungen.

– Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU
und SPD, sollte Sie tief erschüttern.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach Auffassung der Linken liegt die Hauptverant-
wortung für die chronische Unterfinanzierung der Kom-
munen in der Gesetzgebung des Bundes. Hier müssen
die notwendigen Weichenstellungen für die Anpassung
an den Finanzbedarf der Kommunen erfolgen. Hatte
aber bereits die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer
Steuer- und Finanzmarktreform den Grundstein für die
heutige Finanzmisere der Kommunen gelegt, sattelten
und satteln die Große Koalition und die jetzige Bundes-
regierung noch kräftig weitere Kosten für Städte und Ge-
meinden obendrauf.

Diese Entwicklung, noch einmal verschärft durch das
krisenbedingte Wegbrechen der Gewerbesteuer, führte
im letzten Jahr dazu, dass die Städte und Gemeinden ins-
gesamt 7,1 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben, als
sie im selben Zeitraum eingenommen haben. Für dieses
Jahr wird – die Genossin Gesine hat es eben schon ge-
sagt –


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke [FDP]: „Genossin Gesine“? Sie meinen wohl die Bürgerin Lötzsch?)


ein Rekorddefizit von 12 Milliarden Euro erwartet.

Für mein Bundesland NRW heißt dies ganz konkret,
dass sich die Haushaltspläne der Kommunen inzwischen
zu reinen Sparlisten entwickelt haben, dass in Hagen und
Oberhausen der Gesamtwert des städtischen Besitzes in-
zwischen geringer ist als ihre Verbindlichkeiten und in
Städten wie Duisburg, anders als etwa eben in Düssel-
dorf, die Entwicklung der Gewerbesteuer zur reinen
Glückssache geworden ist. Diese völlige Schieflage, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, ist aus Sicht der betrof-
fenen Kommunen nicht haltbar.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Warum wohl?)


Aber erst jetzt, nachdem die Kommunen beginnen,
sich öffentlich zu wehren, und angesichts der anstehen-
den NRW-Landtagswahl sieht sich endlich auch unsere
Bundesregierung gezwungen, sich in dieser Frage zu be-
wegen. Dazu hat sie erst einmal eine Kommission zur
Erarbeitung von Reformvorschlägen eingesetzt. Wie
halbherzig dieser Ansatz ist, zeigt sich, anders als Kolle-
gin Tillmann es eben behauptet hat, darin, dass schon der
Einsetzungsbeschluss der Bundesregierung keine Ände-
rung der Finanzverteilung vorsieht. Dies führt doch, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, die ganze Angelegen-
heit ad absurdum.


(Beifall bei der LINKEN)


Das bedeutet faktisch, dass eine echte Mitbestim-
mung der einbezogenen kommunalen Spitzenverbände
genauso wenig vorgesehen ist wie etwa die weiterer
kommunaler Verbände, Gewerkschaften oder gar der
Bürgerinnen und Bürger.

Auch der vorliegende Antrag der SPD geht hier völlig
ins Leere. Ein verbindliches Mitspracherecht der Kom-
munen taucht auch hier nicht auf. Sowohl Rot-Grün als
auch – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408800

Kollegin Remmers, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Tillmann?


Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703408900

Ungern.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409000

Ja oder nein?


Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409100

Sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Rot


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


waren in den vergangenen Jahren die Belange der Kom-
munen augenscheinlich ziemlich egal. Die Linke fordert,





Ingrid Remmers


(A) (C)



(D)(B)

die Kommunen endlich in die Entscheidungen über ihre
eigenen Angelegenheiten einzubeziehen und ihnen dabei
selbstverständlich reale Mitwirkungsrechte zuzugeste-
hen.


(Beifall bei der LINKEN)


Darüber hinaus fordern wir die Weiterentwicklung
der Gewerbesteuer zur sogenannten Gemeindewirt-
schaftsteuer. Dazu gehören unter anderem die Einbezie-
hung der freien Berufe; alle Schuldzinsen und Finanzie-
rungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und
Lizenzgebühren sollen künftig in voller Höhe bei der Er-
mittlung der Steuerbasis berücksichtigt werden und Ge-
winne und Verluste dann steuerlich geltend gemacht
werden, wenn sie tatsächlich anfallen, um hier Steuer-
schlupflöcher zu verhindern. Um kleinere Gewerbetrei-
bende nicht zu stark zu belasten, soll der Freibetrag für
Freiberufler, kleine Unternehmen und Existenzgründer
von derzeit 24 500 Euro auf 30 000 Euro erhöht werden.

Nicht zuletzt muss man nach unseren Vorstellungen
nicht, wie es hier eben gesagt worden ist, die Gewerbe-
steuer abschaffen, sondern die Gewerbesteuerumlage der
Kommunen an den Bund und die Länder schrittweise,
aber schnell senken.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Vorschläge, verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen, bieten einen praktikablen Weg, um die Eigenstän-
digkeit der Kommunen endlich wieder herzustellen.
Da, wo die Kommunen einsparen müssen, braucht es
meines Erachtens eine neue Debatte über die Frage, was
in Zukunft eigentlich Pflichtaufgabe und was freiwillige
Leistung sein soll.

Zuletzt sage ich noch einmal klipp und klar, dass auch
der Ausverkauf öffentlichen Eigentums – Beispiel Düs-
seldorf – die faktische Handlungsunfähigkeit der Kom-
munen mitverursacht hat.


(Gisela Piltz [FDP]: Das ist doch Unsinn!)


Man kann es nicht oft genug sagen: Der Verkauf von
Wohnungen, Stadtwerken und Öffentlichem Personen-
nahverkehr sowie die Einführung von Public-Private
Partnerships fanden aus akutem Geldmangel statt und
verschlechtern auch noch die langfristigen Aussichten.
Damit wird nicht nur die politische Kontrolle über die
Infrastruktur weitgehend ausgelagert; auch die mögli-
chen Einnahmen öffentlicher Betriebe verschwinden
völlig. Da drängt sich doch schon fast der Eindruck auf,
die gewollte Finanznot der Kommunen hätte Methode.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Die Linke hat mit ihren Anträgen, wie ich Ihnen ge-
rade aufgezeigt habe, erfolgversprechende Vorschläge
auf den Tisch gelegt. Wir fordern nun die Bundesregie-
rung auf, endlich dafür zu sorgen, dass die Kommunen
wieder handlungsfähig werden, und dabei intelligente
Vorschläge auch über Fraktionsgrenzen hinweg aufzu-
nehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409200

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,

Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Lage der kommunalen Finanzen, der Kommunen ist
schwierig. Ich hatte bei manchen Beiträgen, die ich eben
in dieser Debatte gehört habe, fast das Gefühl, dass es
schon ein bisschen aus dem Blick geraten ist: Die Lage
ist wirklich ungewöhnlich ernst. Wahr ist auch: 2008 ha-
ben die kommunalen Gebietskörperschaften saldiert ei-
nen deutlichen Überschuss erzielt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)


Es ist also richtig, dass ein Teil der Probleme eine Folge
der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist, die
uns in den letzten zwei Jahren ereilt hat. Wahr ist aber
auch, dass wir bei den Kommunalfinanzen ein grund-
sätzliches Problem haben, das sich über eine viel längere
Zeit hinweg entwickelt hat. Es kommen also beide
Dinge zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, es ist unstreitig – deswegen ist es gut, dass
wir diese Debatte führen –, dass die Lebensfähigkeit
und Leistungsfähigkeit der Kommunen die Grundlage
für die Nachhaltigkeit und Stabilität unserer freiheitli-
chen demokratischen Grundordnung bildet. Wir dürfen
das nicht aus dem Blick verlieren. Ich habe schon ein
paar Mal an dieser Stelle gesagt: In einer Welt der Glo-
balisierungen, in einer Zeit, in der Bindungen aufgrund
vielfältiger Entwicklungen eher schwächer werden und
es schwierig erscheint, die Menschen zu erreichen, ist es
umso wichtiger, dass die kommunale Selbstverwaltung
– die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die Ge-
meinde, die Eigenverantwortung und die Gestaltungs-
möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Ge-
meinde – vital bleibt. Das ist die Grundlage für die
Stabilität und Nachhaltigkeit unserer Freiheitsordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen diese Aufgabe in unserer föderalen Ord-
nung erfüllen. Wir wissen spätestens seit den beiden Fö-
deralismusreformen, dass diese Ordnung kompliziert ist.
Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen. Ich be-
grüße sehr, dass wir uns bei der Frage der Jobcenter da-
rauf verständigt haben, eine gute Grundlage zu schaffen.
Wir sehen an jedem dieser Punkte, welche Rahmen-
bedingungen unsere förderale Ordnung für die Lösung
dieser Probleme setzt. Ich füge hinzu – das muss man
gelegentlich den Kommunalvertretern sagen –: Unser
Bundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland, besteht
aus den staatlichen Ebenen des Bundes und der Länder,
nicht aus drei Ebenen. Die kommunale Selbstverwaltung
bildet eine wichtige Grundlage; aber sie ist etwas ande-
res als eine dritte staatliche Ebene. Das muss man sich
gelegentlich ins Bewusstsein rufen.





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

Ich finde es richtig – das muss ich entgegen manch
kritischem Einwand sagen –, dass wir uns dafür ent-
schieden haben, die Kommission, in der wir die Pro-
bleme aufarbeiten und Lösungsvorschläge erarbeiten
wollen – wir wollen und wir werden die Vorschläge noch
in diesem Jahr dem Hohen Haus präsentieren –, mit Ver-
tretern der Bundesländer und der Kommunen, der kom-
munalen Spitzenverbände, zu führen. Deswegen haben
wir die Kommission so gebildet. Sie hat ihre Arbeit mit
hoher Dringlichkeit aufgenommen. Daran liegt mir, weil
das eine prioritäre Aufgabe ist, die wir erfüllen müssen.

Ich will zwei Bemerkungen hinzufügen. Ich glaube,
dass Ad-hoc-Zuweisungen an die Kommunen durch
den Bund, durch Programme des Bundes bis hin zu Ret-
tungsschirmen, wie man sie damals spannte – die aber
auch nicht lange halten; sonst hätten Sie nicht so viele
Rettungsschirme aus der Vergangenheit erwähnen kön-
nen, und die Probleme bestehen trotzdem weiterhin –,
generell allenfalls die zweitbeste Lösung sind


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke [FDP]: Wenn überhaupt!)


– wenn überhaupt –, und zwar im Wesentlichen aus zwei
Gründen: Zum einen führen sie nicht gerade zur Stär-
kung der kommunalen Eigenverantwortung. Die Kom-
munen können nicht selbst gestalten; denn auch der gol-
dene Zügel ist ein Zügel. Zweitens befördern sie
natürlich nicht gerade die optimale Ressourcenalloka-
tion. Denn wenn man Zuweisungen, Zuschüsse be-
kommt, wendet man in dem Bereich notfalls auch Eigen-
mittel auf, auch wenn man das anderenfalls nicht
machen würde.

Deswegen ist es besser – und das ist unser grundsätz-
licher Ansatz –, die Grundlagen der kommunalen Fi-
nanzen zu stärken, und zwar in zweierlei Hinsicht. Den
ersten Punkt habe ich in der bisherigen Debatte ein we-
nig vermisst. Wir sollten gemeinsam mit den Ländern
und Gemeinden überlegen, ob wir den Kommunen bei
der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht größere Gestaltungs-
und Entscheidungsspielräume geben können. Das heißt,
wir müssen prüfen: Müssen in Bezug auf die Ausgaben-
seite und die Leistungsstandards bundeseinheitliche Vor-
gaben gemacht werden, oder können wir uns zu mehr Ei-
genverantwortung, zu Regionalisierung, Benchmarking,
Wettbewerb bekennen? Ich bin für das Zweite. Genau
dafür muss diese Arbeitsgruppe Vorschläge machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir das Problem nicht von der Ausgabenseite,
sondern nur von der Einnahmeseite her angehen, werden
wir es nicht zureichend lösen können. Im Übrigen beför-
dern wir auf diese Weise langfristig die Entwicklung,
dass viele, die sich in der kommunalen Selbstverwaltung
heute dankenswerterweise noch engagieren, keine Lust
mehr dazu haben, weil sie nichts mehr entscheiden kön-
nen. Das gilt übrigens auch im Zusammenhang mit der
Auslagerung vieler Eigenbetriebe in manchen Kommu-
nen; aber das ist ein anderes Thema. Wir werden diesen
Trend nur stoppen, wenn wir der kommunalen Ebene
selbst wieder mehr Entscheidungsspielraum und Ent-
scheidungsverantwortung geben. Diesen Aspekt dürfen
wir nicht aus dem Auge verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der zweite Punkt sind die kommunalen Finanzquel-
len. Es ist ein altes Thema, dass die Gewerbesteuer eine
besonders konjunkturanfällige Steuerquelle der Gemein-
den ist. Das kann man nicht ernsthaft bestreiten.


(Joachim Poß [SPD]: Aber wir haben sie gemeinschaftlich verbessert! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Sie ist aber immer noch anfällig!)


– Aber Sie wissen genau, Herr Kollege Poß: In dem
Maße, in dem Sie sie verbessern, gehen Sie im Zweifel
stärker


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In die Substanz rein!)


in Richtung Substanzbesteuerung.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Dadurch erreichen wir genau das Gegenteil. Wir haben
im Zusammenhang mit dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz darüber diskutiert. Ich halte die Entschei-
dung nach wie vor für zwingend notwendig und richtig,
dass wir bei der gegebenen Lage etwa des Einzelhandels
in Großstädten und Mittelstädten die begrenzten Korrek-
turen im Wachstumsbeschleunigungsgesetz festgeschrie-
ben haben, die natürlich zulasten der Bemessungsgrund-
lage für die Gewerbesteuer gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist wahr. Aber wenn die Unternehmen pleitegehen
würden, dann wäre die Bemessungsgrundlage null. Da-
mit wäre auch nichts gewonnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das zeigt doch nur die Reformbedürftigkeit.

Das kann also nicht falsch, sondern muss richtig sein.
Wir haben ja auch einen gewissen internationalen Ver-
gleich. Wir haben uns mit dem Dualismus in der Besteue-
rung in Deutschland lange beschäftigt, bis hin zur Anrech-
nung im Rahmen der Einkommensteuer – auch darüber
ist schon gesprochen worden –, um das Problem zu mi-
nimieren. Die Grundüberlegung, eine Verbreiterung der
Finanzierungsgrundlage der Kommunen durch eine Ver-
stetigung des Zuschlags – nicht nur durch die Beteili-
gung an der Einkommensteuer, sondern auch durch ein
Zuschlagsrecht einschließlich Hebesatzrecht bei Ein-
kommen- und Körperschaftsteuer – herbeizuführen, ist
doch nichts Schlimmes, sondern dient im Ergebnis der
Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in der
Breite der Bevölkerung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich weiß schon, dass die Interessenlage und die Be-
troffenheit der Kommunen unterschiedlich sind. Ich
weiß auch, dass das alles andere als einfach ist. Aber ge-
nau deswegen sagen wir: Wenn wir den Gesamtzusam-
menhang, Beteiligung an der Umsatzsteuer, Revitalisie-
rung der Grundsteuer – darüber ist noch gar nicht





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

geredet worden –, Zuschlagsrecht auf Einkommen- und
Körperschaftsteuer, sehen, dann hätten wir eine Chance,
die Einnahmebasis der Kommunen im Sinne einer Stär-
kung der kommunalen Selbstverwaltung zu festigen.
Das ist des Schweißes aller Beteiligten wert. In genau
diese Richtung wollen wir arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir dies mit mehr Entscheidungsspielräumen
für die Kommunen bei den Ausgaben verbinden, dann
erfüllen wir unsere Aufgabe, nämlich die Stärkung der
kommunalen Selbstverwaltung. Dafür bitte ich um Ihre
Mitwirkung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409300

Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich kann es
Ihnen nicht ersparen:


(Otto Fricke [FDP]: Auch Sie haben keine andere Idee, als dasselbe wie die anderen zu sagen!)


Das Thema ist die Umsatzsteuer. Ich weiß, Sie können es
nicht mehr hören; denn die guten Argumente sind viel-
fach genannt


(Otto Fricke [FDP]: Nur nicht von Ihnen!)


und von Ihnen, wie ich immer wieder merke, gehört, von
vielen auch verstanden und – das lese ich zwischen den
Zeilen – für richtig befunden. Nehmen Sie sich doch mal
zusammen. Der doch sehr lebendige Vortrag von Kolle-
gin Bätzing hat es vielleicht ein bisschen in den Hinter-
grund gerückt:


(Otto Fricke [FDP]: Das ist aber sehr freundlich formuliert! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das war eine Märchenstunde!)


Wir reden immerhin von 1 Milliarde Euro, die dem Staat
nicht mehr zur Verfügung stehen, weil Sie dieses Geld
durch die Umsatzsteuerermäßigung für Hoteliers wegge-
ben. Erkennen Sie dies als Fehler an und nehmen Ihr Ge-
setz zurück. Stimmen Sie dem Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zu!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich in der knappen Redezeit, die ich
habe, eine grundsätzliche Bemerkung machen. Ich will
mit einem Zitat anfangen:

Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobby-
gruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung
ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den
berechtigten Belangen der Gesellschaft … gerecht
wird.
Würden Sie dem zustimmen? Das hat Kollege Wissing
2008 in der Diskussion zu einem Antrag gesagt, der den
Umsatzsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für
Kinder beinhaltete. Herr Wissing, Glückwunsch zu die-
ser Bemerkung und zu dieser klaren ordnungspolitischen
Aussage. Aber dann machen Sie doch das, was Sie ge-
sagt haben. Handeln Sie so, wie Sie sprechen.

Auch Herr Kolbe von der CDU hat im Übrigen durch
sein Abstimmungsverhalten beim Wachstumsbeschleu-
nigungsgesetz eine klare Aussage getroffen. Dabei ist
Herr Kolbe kein Geringerer als derjenige, der bei Ihnen
für die Umsatzsteuer verantwortlich ist. Beide Kollegen
wissen nämlich, dass die Umsatzsteuer eben kein Steue-
rungsinstrument ist. Sie eignet sich dafür nicht. Sie wis-
sen auch, dass es jetzt umso schwieriger sein wird, diese
Sündenfälle zu stoppen. Was 2008 die Schweineohren
waren, sind jetzt die Hoteliers.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na, na!)


Kehren Sie auf den Pfad der Ordnungspolitik zurück. Sie
wollen eine Kommission zur Reform der Umsatzsteuer
einsetzen. Sie verlieren doch hier Ihre Glaubwürdigkeit,
wenn Sie dieses Gesetz zur Umsatzsteuerermäßigung
nicht sofort stoppen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie müssen doch die grundsätzlichen Probleme der
Umsatzsteuerermäßigung anerkennen. Sie wirkt nicht
zielgenau. Sie weist hohe Mitnahmeeffekte auf. Sie hat
kaum eine Verteilungswirkung, weil Einkommensmillio-
näre genauso wie Hartz-IV-Empfänger betroffen sind. In
vielen Fällen kommt sie gar nicht beim Verbraucher an.

Gehen Sie einmal zu McDonald’s. Kaufen Sie einen
Hamburger zum Mitnehmen, dann zahlen Sie 7 Prozent
Mehrwertsteuer. Kaufen Sie einen zum Verzehr vor Ort,
dann sind es 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wer profitiert
von dieser Differenz von 12 Prozentpunkten? Nicht der
Verbraucher, sondern McDonald’s. So ist die Wirklich-
keit. Die Einnahmeausfälle für den Fiskus sind enorm.

Wenn Sie etwas für eine nachhaltige Entwicklung tun
wollen, dann investieren Sie bitte in den Klimaschutz,
dann investieren Sie bitte in Bildung, aber bitte geben
Sie das Geld nicht einfach so den Hoteliers.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409400

Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1703409500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die finanzielle Situation der Gemeinden und Städte ist
schlecht, sie ist dramatisch schlecht. Die Wirtschafts-
krise – das haben wir in der Debatte schon mehrfach ge-
hört – ist auf der Ebene angekommen, auf der das reale
Leben vor Ort stattfindet, nämlich bei unseren Kommu-





Bernhard Kaster


(A) (C)



(B)

nen. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass das
Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um 90 Mil-
liarden Euro, also um 5 Prozent gesunken ist.

Was ist nun zu tun? Die SPD beantragt einen Ret-
tungsschirm. Ich sage: Nein, wir brauchen keinen
Schirm. Wir brauchen für die Kommunen dauerhaft und
nachhaltig gutes Wetter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Sie lassen sie im Regen stehen!)


Sie fordern eine kurzfristige Stabilisierung, Herr
Scheelen. Sie wollen auf zwei Jahre befristete Hilfen bei
den Kosten der Unterkunft. So steht es in Ihrem Antrag.
Das heißt nichts anders als: Schirm auf, Schirm zu.

Für uns, für die Union als Kommunalpartei ist die
politische und finanzielle Handlungsfähigkeit unserer
Gemeinden und Städte niemals Thema für populistische
Anträge.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die kommunale Ebene, die kommunale Selbstverwal-
tungsgarantie und die Subsidiarität sind bei uns politi-
sches Fundament. Deshalb werden wir diese Legislatur-
periode nutzen, um die politische und finanzielle
Handlungsfähigkeit unserer Kommunen nachhaltig zu
sichern.

Die eingesetzte Regierungskommission unter Lei-
tung von Finanzminister Dr. Schäuble und unter Beteili-
gung unseres Innenministers de Maizière hat drei große
Aufgabenstellungen: erstens die notwendige Versteti-
gung der Einnahmeseite, zweitens die Begrenzung der
Ausgaben und Standards sowie die Schaffung von mehr
Flexibilität und drittens die stärkere Beteiligung der
Kommunen bei den sie betreffenden politischen Ent-
scheidungsprozessen.

Auch auf der Einnahmeseite gehen wir im Hinblick
auf nachhaltige Finanzstrukturen ohne Tabus an dieses
Thema heran. Das heißt, wir reden über die Ausgestal-
tung der Gewerbesteuer und auch über Alternativen,
über den Anteil am Umsatzsteueraufkommen und über
den Anteil am Einkommensteueraufkommen.

Als ehemaliger Bürgermeister sage ich Ihnen, dass es
mir wichtig ist, bei der Gestaltung der kommunalen Fi-
nanzen weiterhin an drei wichtigen Beziehungen, an
drei wichtigen Bezugspunkten festzuhalten. Dies sind
der Bezugspunkt Gemeinde und Bürger, der Bezugs-
punkt Gemeinde und Grund und Boden sowie der Be-
zugspunkt Gemeinde und Wirtschaft. Bei der Ausgestal-
tung des dritten Bezugspunkts, bei der Ausgestaltung
einer wirtschaftsbezogenen Steuer, müssen wir uns Ge-
danken machen.

Aber auch auf der Ausgabenseite müssen wir zwin-
gend über Standards nachdenken. Dies betrifft viele Be-
reiche und erfordert mehr Flexibilität.

Dazu fällt mir ein Beispiel aus meiner Heimatstadt
Trier ein. Über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg befan-
den sich dort französische Streitkräfte und deren franzö-
sische Familien. Noch kurz vor dem Abzug der französi-
schen Streitkräfte konnten wir uns damals als Stadträte
die französischen Schulen und die französischen Kinder-
gärten ansehen. Wir haben gesehen, wie wohl sich die
Kinder dort gefühlt haben.

Als wir diese Schulen und Kindergärten jedoch über-
nommen haben, waren plötzlich Millioneninvestitionen
notwendig, weil es hieß, die Scheiben seien zu dünn, der
Boden sei zu hart, die Fliesen seien zu glatt usw. Wir
brauchen also mehr Flexibilität.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist schon et-
was dreist, wer sich heute hier als der Retter der Kom-
munen aufspielen will. Das muss in dieser Debatte ein-
mal gesagt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Wirtschaftskrise – daran gibt es nichts herumzu-
deuteln – hat die Kommunen in große finanzielle
Schwierigkeiten gebracht. In den rot-grünen Jahren von
1998 bis 2005 hat es einer solchen Wirtschaftskrise aber
nicht bedurft, um die Gemeinden finanziell abstürzen zu
lassen. Das hat Rot-Grün damals ganz allein geschafft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Wahrheit!)


5 Milliarden Euro Minus im Schnitt in dieser Zeit. Das
war damals so gewesen. Ich könnte mehrere Beispiele
nennen, wie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage
usw.

Lassen Sie mich noch etwas als Rheinland-Pfälzer sa-
gen. Ich finde es schon gewagt, dass Sie in Ihrem Antrag
Vergleiche zu Rheinland-Pfalz anstellen. Ich bitte Sie!


(Bernd Scheelen [SPD]: Die kümmern sich um die Kommunen!)


– Herr Scheelen, Rheinland-Pfalz kümmert sich um die
Kommunen in der Weise, dass in Rheinland-Pfalz die
Pro-Kopf-Verschuldung der Kommunen aufgrund eines
ganz miesen Finanzausgleichs um 30 Prozent höher ist
als in allen anderen westlichen Flächenländern. Ich will
gar nicht davon sprechen, wofür in Rheinland-Pfalz
sonst noch Geld ausgegeben wird. Nürburgring lässt
grüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein Finanzminister ist schon zurückgetreten. Ich sage
aber auch: In dieser Gemeindefinanzkommission wird
auch Rheinland-Pfalz vertreten sein. Der Finanzminister
wird, solange er im Amt ist,


(Otto Fricke [FDP]: Das ist aber nicht sehr lange!)


auch da mitwirken können.

Noch ein Wort zu Ihrer doch sehr populistischen und
falschen Steuerdiskussion. Dass wir zum 1. Januar das
Kindergeld, die Kinderfreibeträge und den Grundfreibe-
trag erhöht und den Steuertarif um 330 Euro nach rechts
verschoben haben, das war richtig.


(Beifall des Abg. Ingbert Liebing [CDU/ CSU])


(D)






Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)

Es war deswegen richtig, weil es nicht sein kann, dass
die Finanzmisere, in der sich Bund, Länder und Kommu-
nen befinden, ausgerechnet von den Bürgern mit mittle-
ren und kleineren Einkommen bezahlt werden soll, die
über Jahre Steuern zahlen. Es kann nicht sein, dass sie
still und heimlich über die Jahre inflationsbedingt in hö-
here Steuersätze hineinrutschen und wir einfach zu-
schauen. Das ist unfair gegenüber den Bürgern. Das
muss man korrigieren, und das haben wir gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir brauchen Fairness gegenüber den Bürgern und
Fairness gegenüber den Kommunen. Die Koalition und
die Union als Kommunalpartei


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


werden auch in schwieriger Zeit diese Fairness gewähr-
leisten; denn unser Grundsatz gilt: Geht es den Gemein-
den gut, geht es dem ganzen Land gut. Deswegen wie-
derhole ich: Wir brauchen keinen Schirm, sondern
dauerhaft gutes Wetter für unsere Kommunen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kol-

legen Poß das Wort gebe, sei mir der Hinweis gestattet,
dass wir noch zwei Redner in dieser Debatte haben und
beiden ermöglichen sollten, hier zu reden. Allen, die im
Saale sind, sollten wir ermöglichen, sie zu hören und zu
verstehen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kolle-
gen, die zur namentlichen Abstimmung schon herbeige-
eilt sind, Platz zu nehmen, sodass wir die Debatte zu
Ende führen können.

Das Wort hat der Kollege Joachim Poß für die SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1703409700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Kaster, die Kommunen brauchen jetzt keinen
Schönwetterredner, sondern sie brauchen eine sofortige
Hilfe,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Eine dauerhafte Hilfe!)


weil sie mit den Folgen der Krise nicht mehr klarkom-
men, weil sie die Einrichtungen der sozialen Infrastruk-
tur wie Kindertagesstätten nicht mehr aufrechterhalten
können. Die haben nichts von Ihren Sprüchen und von
den Ankündigungen von Herrn Schäuble, die er hier ge-
macht hat. Denen muss jetzt und wirksam geholfen wer-
den,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

und zwar nicht, um abstrakt Kommunen zu helfen, son-
dern um den wirklich Betroffenen, den Kindern und Ju-
gendlichen in den Kommunen, zu helfen. Das ist die
Aufgabe. Das müssen Sie doch erkennen.

Diese Feststellung wird nicht einmal mit einem Vor-
wurf garniert. Wir alle fühlen uns doch zu Recht nicht
schuldig wegen der Krise. Wir haben nicht die schwerste
Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir bisher in der Nach-
kriegszeit erlebt haben, herbeigeführt, und zwar keiner
von uns. Wir müssen uns nur der Realität stellen. Sie ha-
ben einen Koalitionsvertrag gemacht, der die Realität
leugnet. Das ist doch das Problem. Deswegen kommen
Sie im Moment mit der Realität nicht klar.


(Beifall bei der SPD)


Das dürfen nicht die Kommunen ausbaden, weil Sie
Schwierigkeiten haben, irgendetwas von Ihrem „Kolli-
sionsvertrag“, wie meine Kollegin gesagt hat, überhaupt
umzusetzen, was kein Wunder ist. Alles, was Sie bisher
durchgesetzt haben, wirkte krisenverschärfend für die
Kommunen. Das ist die Wahrheit. Da helfen die schönen
Reden von Frau Merkel auf dem CDU-Landesparteitag
in Münster oder die von Herrn Rüttgers, der die Gemein-
den beschwört, nichts. In der Realität machen Sie das
Gegenteil von dem, worüber Sie reden. Bei Ihnen klaf-
fen Reden und Handeln notorisch auseinander. Das geht
zulasten der Kommunen. Das zu ändern, ist die Aufgabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie, Herr Bundesfinanzminister, beginnen jetzt von
neuem, das durchzubuchstabieren, was schon 2003 in ei-
ner großen Kommission unter Beteiligung aller Ebenen
erörtert wurde, nämlich alle Modelle der letzten
30 Jahre, die Sie so gut wie ich kennen. Die Wahrheit ist:
Damals, im Jahr 2003, hat die rot-grüne Koalition – ich
war der Verhandlungsführer der SPD im Vermittlungs-
ausschuss – im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben,
die Gewerbesteuer gerettet; denn starke Kräfte in der
Union – ich erinnere an den Leipziger Parteitag – woll-
ten die Gewerbesteuer abschaffen. Das ist die historische
Wahrheit und nicht das, was Sie gesagt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es waren die Sozialdemokraten, die in der Großen
Koalition in der Koch-Steinbrück-Arbeitsgruppe dafür
gesorgt haben, dass die Gewerbesteuer gefestigt wurde.
Das ist die historische Wahrheit. Das war nicht die
Union; von der FDP rede ich erst gar nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn es also eine Kommunalpartei in Deutschland gibt,
dann können die Sozialdemokraten das für sich in An-
spruch nehmen und niemand anderes. Das muss klarge-
stellt werden.


(Beifall bei der SPD – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Die Lage der Kommunen ist desaströs! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)






Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)

Herr Schäuble, zu unserer gemeinsamen Vergangen-
heit gehört, dass Sie als Fraktionsvorsitzender der CDU/
CSU Mitte der 90er-Jahre die Aushöhlung der Gewerbe-
steuer als Ihr wichtigstes Anliegen begriffen hatten. Sie
sind nämlich damals vehement für die Abschaffung der
Gewerbekapitalsteuer eingetreten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben damals gesagt, dies führe zu einem enormen
Aufwuchs an Arbeitskräften. Die Gewerbekapitalsteuer
wurde abgeschafft. Die Gewerbesteuer wurde dadurch
instabiler und konjunkturanfälliger. Ein Aufwuchs an
Arbeitskräften ist nicht eingetreten. Daraus sollten Sie,
was Ihre Einschätzungsfähigkeit angeht, lernen, Herr
Schäuble.


(Beifall bei der SPD)


Sie sollten den Einbruch der Wirtschaftskraft um
5 Prozent im vergangenen Jahr nicht als Alibi nutzen, um
die wichtigste Einnahmequelle der Kommunen – diese
haben wir damals in Verhandlungen mit Ihnen in Art. 28
des Grundgesetzes gefestigt – zu beschädigen. Die FDP
sagt es im Klartext: Wir wollen die Gewerbesteuer end-
lich weghaben. – Das ist die schwarz-gelbe Zukunft für
die Gemeinden. Da können die Gemeinden nur noch
schwarzsehen. Es muss, auch nach dem 9. Mai – denn
Herr Rüttgers macht, was Politik für die Gemeinden be-
trifft, nur Sprüche –, eine stärkere Sozialdemokratie her,
um das zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen geht es
am 9. Mai auch um die Zukunft der Gemeinden.


(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der letzte Mohikaner der Substanzbesteuerung!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703409800

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1703409900

Werter Herr Kollege Poß, wir hatten im Mittelteil un-

serer Debatte eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung
über die sehr ernsthafte finanzielle Lage der Kommunen.
Insbesondere als unser Minister Dr. Schäuble dazu ge-
sprochen hat, konnten Sie feststellen, wie ernsthaft wir
uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir debattie-
ren nicht nur darüber, sondern wir handeln. Wir setzen
konkret diese Kommission mit speziellen Untergruppen
ein. Wir veranstalten keine Wahlkampfshow, wie Sie das
in Ihrem Beitrag versucht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Uns geht es nämlich nicht um Wahlkampf, sondern uns
geht es wirklich darum, ein schwieriges Thema in den
Griff zu bekommen.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Es ist schon verwunderlich und ziemlich scheinheilig,
wie Sie sich hier aufgeführt haben. Wer hat denn elf
Jahre lang den Finanzminister in der Bundesrepublik
Deutschland gestellt? Wer war denn elf Jahre verant-
wortlich in diesem wesentlichen Ressort?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wer hatte die Mehrheit im Bundesrat?)


Diese Regierung ist jetzt seit fünf Monaten im Amt. Sie
wollen sie für das derzeitige Szenario in den Kommunen
verantwortlich machen. Das ist schon ziemlich daneben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Kommunen befinden sich aus zwei Gründen – Bun-
desminister Schäuble hat sie eben deutlich gemacht – in
einer ernsthaften finanziellen Situation. Ein wesentlicher
Gesichtspunkt ist der starke Zusammenbruch bei der Ge-
werbesteuer. Das ist auch logisch; denn die Gewerbe-
steuer ist vor allen Dingen eine sehr wirtschaftsnahe und
unternehmensnahe Steuer. Wir sehen bei den Bundes-
steuern, auch bei der Körperschaftsteuer, mit einem
Rückgang des Aufkommens von über 50 Prozent die
stärksten Einbrüche.

Das deutet das Dilemma der Kommunen an. Wir
müssen die Finanzierung der Kommunen auf stabilere
Standbeine stellen als bisher. Das heißt, dass es eine Mo-
difikation bei der Gewerbesteuer geben muss. Deshalb
ist es richtig, diese Kommission, in die die Länder und
auch die kommunalen Spitzenverbände einbezogen sind,
jetzt einzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist jedenfalls weitaus intelligenter als die Schnell-
schüsse, die Sie uns heute per Antrag vorlegen. Sie sind
kein ernsthafter Beitrag zur Lösung.

Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht: Wir
brauchen eine kommunale Steuer, die einen Bezug zur
wirtschaftlichen Entwicklung in den Kommunen hat. Ich
denke, das sollte uns klar sein; denn sonst würden wir all
die Kommunen bestrafen, die sich in den letzten Jahren
und Jahrzehnten für die Ansiedlung von Unternehmen
und damit für Arbeitsplätze engagiert haben. Das wollen
wir nicht tun. Das wäre der falsche Anreiz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich komme zum Thema Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz. Es ist Ihre Lieblingsbeschäftigung, das zu kriti-
sieren. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz genau das
Richtige gemacht haben.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Für die jetzige Situation kann es nicht verantwortlich
sein; denn es gilt erst seit drei Monaten. Wir haben in der
Tat auch bei der Besteuerung der Leasingunternehmen
und bei der Frage der Funktionsverlagerung, die wir an-
ders geklärt haben, richtig gehandelt. Das stärkt auf
Dauer unseren Investitionsstandort und auch die steuerli-
che Basis. Das wird auf mittlere und längere Sicht die
Einnahmesituation der Kommunen verbessern.





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie reden sich ein, Sie hätten durch allerlei Hinzu-
rechnungen die Gewerbesteuer und damit die Einnahme-
situation der Kommunen stabilisiert. Gerade die derzei-
tige Krisensituation zeigt, dass das völliger Unsinn ist;


(Joachim Poß [SPD]: Das zeigt sie eben nicht!)


denn Sie besteuern damit die Substanz von Unterneh-
men, denen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals
steht. Sie würden in dieser Situation die Unternehmen
und damit die Arbeitsplätze wegsteuern


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Genau!)


und die steuerliche Basis vieler Kommunen vernichten.

Wir haben dem Mittelstand Luft verschafft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Er braucht nämlich vor allen Dingen eines: Liquidität.
Sie beschwören immer wieder die Kreditklemme. Indem
wir Liquidität für den Mittelstand geschaffen haben, sind
wir dieses Problem angegangen. Wir geben den mittel-
ständischen Unternehmen mehr Möglichkeiten, über Ka-
pital frei zu verfügen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Interessanterweise hat die SPD im Kreistag des Land-
kreises Emsland eine Resolution gegen das Wachstums-
beschleunigungsgesetz einbringen wollen. Der dortige
Landrat hat sich dezidiert mit einzelnen Punkten dieses
Gesetzes auseinandergesetzt und sehr fundiert dargelegt,
warum es für den Mittelstand in den Gemeinden im
Landkreis Emsland nützlich ist. Letztendlich ist es näm-
lich ein kommunalfreundliches Gesetz. Sie werden la-
chen: Noch bevor es zur Debatte über diese Resolution
kam, hat die dortige SPD-Kreistagsfraktion ihren Reso-
lutionsantrag zurückgezogen. So empfehlen wir Ihnen
das mit Ihrem vorliegenden Antrag auch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das setzt Einsicht voraus!)


An uns – das unterscheidet uns von Ihnen – haben die
Kommunen noch Erwartungen. Von Ihnen erwartet man
bei diesem Thema nichts mehr. Das drückt sich auch in
der Presseinformation des Deutschen Städte- und Ge-
meindebundes aus, die Ende vergangener Woche heraus-
gegeben wurde. Es ging um das Thema Hartz-IV-Ge-
setze. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat
ausgeführt, dass Ihre Korrekturvorschläge zum Thema
Hartz IV unbezahlbar seien. Es gelte, die Eigenverant-
wortung der Bürger zu stärken, statt immer wieder den
Eindruck zu vermitteln, der Staat könne weiterhin ein
Rundum-sorglos-Paket finanzieren. Konkret heißt es:

Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Ver-
mögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nicht
noch zusätzliche Transferleistungen erhalten …
Weiter heißt es:

Das sei auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit
gegenüber Menschen, die mit ihren Steuern das So-
zialsystem finanzieren.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat recht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich darf mit folgender Feststellung schließen. Sie – das
machen Ihre Anträge deutlich – entfernen sich immer
weiter von der Realität. Uns geht es nicht um Tamtam,
sondern um einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des
Problems. Deswegen empfehle ich, dass wir Ihre An-
träge ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703410000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1152, 17/1142 und 17/1143 an die
an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung
des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/869, den Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/520 abzulehnen. Wir stimmen
nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion
der SPD namentlich ab. Vorher möchte ich noch darauf
hinweisen, dass wir im Anschluss daran noch eine einfa-
che Abstimmung durchführen werden.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze be-
setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu
nehmen, damit wir die Abstimmungen zur Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/869
fortsetzen können.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/447
mit dem Titel „Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie
zurücknehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der

1) Ergebnis Seite 3148 D





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkt 28 a bis 28 e und
28 h bis 28 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:

28 a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung

Technikfolgenabschätzung (TA)


Zukunftsreport – Ubiquitäres Computing

– Drucksache 17/405 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Adulte Stammzellforschung ausweiten, For-
schung in der regenerativen Medizin voran-
bringen und Deutschlands Spitzenposition
ausbauen

– Drucksache 17/908 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Verbraucherfreundliche kostenfreie Warte-
schleifen bei telefonischen Dienstleistungen
einführen

– Drucksache 17/1029 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Federführung strittig

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Verhandlungen über die Aufnahme Islands in
die Europäische Union eröffnen

– Drucksache 17/1059 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP

Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Re-
publik Island zur Europäischen Union und zur
Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Fe-
bruar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsver-
handlungen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

– Drucksache 17/1190 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

h) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP

Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung
des Europäischen Parlamentes nach dem In-
krafttreten des Vertrages von Lissabon

– Drucksache 17/1179 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

i) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP

Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbah-
nen in Deutschland

– Drucksache 17/1162 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Krüger-Leißner, Martin Dörmann,
Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Für eine Kinodigitalisierung, die den Erhalt
unserer Kinolandschaft sichert

– Drucksache 17/1156 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Partei-Sponsoring transparenter gestalten

– Drucksache 17/1169 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln

– Drucksache 17/892 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist.

Tagesordnungspunkt 28 c. Interfraktionell wird Über-
weisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1029 mit dem Titel „Ver-
braucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei tele-
fonischen Dienstleistungen einführen“ an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe-
derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-
führung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über-
weisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an-
genommen.

Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisun-
gen.

Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b, 28 d und 28 e,
28 h bis 28 j sowie Zusatzpunkte 3 a und 3 b. Interfrak-
tionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/1059, Tagesordnungs-
punkt 28 d, soll abweichend von der Tagesordnung nicht
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 k auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 29 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Abkommens vom
15. Dezember 1950 über die Gründung eines
Rates für die Zusammenarbeit auf dem Ge-
biete des Zollwesens

– Drucksache 17/759 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/1207 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Nicolette Kressl
Dr. Birgit Reinemund
Richard Pitterle
Lisa Paus

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/1207, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/759 anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Änderungsurkunden vom 24. Novem-
ber 2006 zur Konstitution und zur Konvention
der Internationalen Fernmeldeunion vom
22. Dezember 1992

– Drucksache 17/760 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– Drucksache 17/1197 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas G. Lämmel





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1197,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/760 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes

– Drucksache 17/800 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/1198 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1198, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/800 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Frak-
tion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stim-
men der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beschlagnahmung von Generika in Europa
stoppen – Versorgung von Entwicklungslän-
dern mit Generika sichern
– Drucksachen 17/448, 17/871 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss (Wesel I)

Karin Roth (Esslingen)

Helga Daub
Niema Movassat
Uwe Kekeritz

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/871, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/448 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Achtundachtzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
– Drucksachen 17/441, 17/1136 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1136, die Aufhebung der Verord-
nung auf Drucksache 17/441 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 29 f:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Neunundachtzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
– Drucksachen 17/442, 17/1136 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff

Der Ausschuss empfiehlt weiterhin in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhe-
bung der Verordnung auf Drucksache 17/442 nicht zu ver-
langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 g:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung

Einhundertneunundfünfzigste Verordnung zur
Änderung der Einfuhrliste
– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –

– Drucksachen 17/443, 17/1136 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff

Auch hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhe-
bung der Verordnung auf Drucksache 17/443 nicht zu ver-
langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 h:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Umsetzung der Dienstleis-
tungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umwelt-
rechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher
Vorschriften

– Drucksachen 17/862, 17/940 Nr. 2, 17/1212 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1212, der Verordnung auf
Drucksache 17/862 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.

Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)


zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht 2 BvG 1/10

– Drucksache 17/1192 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder

(Villingen-Schwenningen)

Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Streitverfah-
ren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten,
Herrn Professor Dr. Christian Seiler als Prozessbevoll-
mächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 61 zu Petitionen

– Drucksache 17/1180 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 61 ist einstimmig an-
genommen.

Zusatzpunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 62 zu Petitionen

– Drucksache 17/1181 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 62 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Zusatzpunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 63 zu Petitionen

– Drucksache 17/1182 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 63 ist einstimmig an-
genommen.

Zusatzpunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 64 zu Petitionen

– Drucksache 17/1183 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 64 ist gegen die Stim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 4 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 65 zu Petitionen

– Drucksache 17/1184 –





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


– Drucksache 17/1186 – – Drucksache 17/1189 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 67 ist gegen die Stim-
men der Fraktion der SPD angenommen.

Zusatzpunkt 4 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 68 zu Petitionen
– Drucksache 17/1187 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 68 ist gegen die Stim-
men der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktionen ange-
nommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 556;
davon

ja: 248
nein: 308

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer

Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
hält sich? – Die Sammelübersicht 70 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen nun
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-
telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD „Entwurf eines
… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes“,
Drucksachen 17/520 und 17/869, bekannt: abgegebene
Stimmen 557. Mit Ja haben 248 Kolleginnen und Kolle-
gen gestimmt, mit Nein haben 309 Kolleginnen und Kol-
legen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetz-
entwurf ist damit abgelehnt.

Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf (Rosenheim)

Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic

Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
Wer stimmt dafür? – Wer s
hält sich? – Die Sammelübe
der Fraktion Bündnis 90/Die

Zusatzpunkt 4 g:

Beratung der Beschlus

(2. Aussc Sammelübersicht 66 – Drucksache 17/1185 Wer stimmt dafür? – Wer s hält sich? – Die Sammelübe men der Unionsfraktion, der S Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Zusatzpunkt 4 h: Beratung der Beschlus ausschusses (2. Aussc Sammelübersicht 67 timmt dagegen? – Wer entrsicht 65 ist bei Enthaltung Grünen angenommen. sempfehlung des Petitionshuss)


zu Petitionen


timmt dagegen? – Wer ent-
rsicht 66 ist mit den Stim-
PD-Fraktion und der FDP-

der Fraktion Die Linke und
Grünen angenommen.

sempfehlung des Petitions-
huss)

zu Petitionen
Zusatzpunkt 4 j:

Beratung der Beschlus

(2. Aussc Sammelübersicht 69 – Drucksache 17/1188 Wer stimmt dafür? – Wer s hält sich? – Die Sammelübers der Unionsfraktion und der Stimmen der SPD-Fraktion nis 90/Die Grünen bei Enthal angenommen. Zusatzpunkt 4 k: Beratung der Beschlus ausschusses (2. Aussc Sammelübersicht 70 sempfehlung des Petitionshuss)


zu Petitionen



timmt dagegen? – Wer ent-
icht 69 ist mit den Stimmen
FDP-Fraktion gegen die
und der Fraktion Bünd-
tung der Fraktion Die Linke

sempfehlung des Petitions-
huss)

zu Petitionen





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Konstantin Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Anna Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte

Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Müller (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)


Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)


Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder

(Villingen Schwenningen)

Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Heiko Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)






Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt
gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in
kirchlichen und weltlichen Einrichtungen

Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703410100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

gut, dass das Thema Kindesmissbrauch den Deutschen
Bundestag endlich im Rahmen eines ordentlichen Tages-
ordnungspunktes beschäftigt. Es ist schlecht, dass, ob-
wohl wir seit Ende Januar massiv von neuen Fällen hö-
ren, die Bundesregierung sich bis heute an dieser Stelle
nicht erklärt hat. Ich hätte erwartet, dass die zuständige
Bundesministerin längst eine Regierungserklärung abge-
geben und uns dargelegt hätte, welche Maßnahmen er-
griffen werden müssen, um die Vorfälle aufzuarbeiten
und Kinder in Zukunft zu schützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Welche Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden,
das ist die Frage. Stattdessen bietet uns diese Regierung
einen runden Tisch. Da gab es einen Vorschlag von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, dem die anderen nicht fol-
gen wollten. Dann hat Frau Schavan – bis vor kurzem
Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken –
erklärt, sie wolle auch einen runden Tisch. Da waren es
schon zwei. Die Bundesministerin, die eigentlich zustän-
dig ist, kam auch irgendwann. Noch ein runder Tisch. Am
Ende wurde ein runder Tisch mit zwei Untergruppen und
einer Beauftragten eingerichtet. Seit Ende Januar ist das
sozusagen die erste Aussage der Bundesregierung. Das
hilft den Kindern nicht.

Meine Damen und Herren, ich erwarte, dass die für
Familie und Kinder zuständige Ministerin jeden Tag
Leute vorlädt – ob aus dem Bereich Schule, ob aus dem
Bereich Heimaufsicht, ob aus dem Bereich der Träger
dieser Internate oder Freizeiteinrichtungen –, nach Ber-
lin einlädt und von ihnen jetzt und hier ganz konkrete
Schritte fordert, zum Beispiel die klare Aussage: Ab so-
fort wird bei jedem Gerücht und jedem Verdachtsfall das
an unabhängige Dritte gegeben, und das geht auch sofort
an Polizei und Staatsanwaltschaft. – Republikweit so et-
was zu organisieren, Frau Schröder, wäre Ihre Pflicht ge-
wesen als Reaktion auf die Hunderte von Vorfällen, die
wir sehen und die wahrscheinlich nur die Spitze des Eis-
berges darstellen. Stattdessen wollen Sie es am runden
Tisch diskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihre Aufgabe wäre gewesen, Vertreter der Länder vor-
zuladen und dafür Sorge zu tragen, dass überall – in je-
dem Bundesland, in jedem Regierungsbezirk – Anlauf-
stellen eingerichtet werden, zum Beispiel dass es im
Jugendamt eine Person gibt mit getrennter Aktenführung
und Schweigepflicht, an die sich Kinder, Jugendliche,
Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter sofort wenden
können. Das muss man jetzt für alle Fälle, die noch pas-
sieren können – und das wissen wir –, einrichten. Statt-
dessen diskutieren Sie das an einem runden Tisch.

Ich sage Ihnen eines ganz klar: Bei solchen Straftaten
– den vergangenen und auch denen in der Zukunft – gibt
es überhaupt keinen Grund, an einem runden Tisch zu
diskutieren, weil es dort nichts zu erörtern gibt. Es gibt
die moralische Pflicht, innerhalb einer Schule über Ge-
rüchte des sexuellen Missbrauchs nicht zu diskutieren,
sondern den Kindern sofort zu helfen. Ich muss sagen:
An der Stelle scheinen Sie mir überfordert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wollen Sie beispielsweise mit einem Vertreter der ka-
tholischen Kirche, sozusagen dem Arbeitgeber eines Pa-
ters, der sexuellen Missbrauch betrieben hat, an einem
runden Tisch diskutieren, wie die Meldepflichten sind?
Das geht gar nicht.


(Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär: Darum geht es doch gar nicht!)


– Doch, auch darum geht es bei diesem runden Tisch,
und wenn es darum nicht geht, dann muss die Bundes-
ministerin die Vertreter der Länder und Institutionen
jetzt vorladen und ganz klar sagen, was sie will.

An dieser Stelle sage ich: Die Ministerin ist überfor-
dert, und Frau Merkel hat zugelassen, dass hier am Ende
mehr Rücksicht auf die Institutionen genommen wurde,
als dass man tatsächlich etwas getan hat.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das stimmt gar nicht!)


– Doch, das stimmt. – Es gab an dieser Stelle keinerlei
Grund, irgendjemanden für seine Aufklärungsarbeit zu
loben, und schon gar nicht den Papst. Lesen Sie einmal,
wie viele neue Fälle bei uns bekannt geworden sind.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber nicht nur in der Kirche!)


Wenn Sie die internationale Presse lesen, zum Beispiel
die New York Times, dann sehen Sie, welche Probleme
auch die Kirche aufzuarbeiten hat.

Ich sage an dieser Stelle: Ich will, dass wir wirklich
ganz klare Linien ziehen. Wenn es um den aktuellen
Schutz geht, dann gibt es nichts zu diskutieren. Sie kön-
nen an einem runden Tisch oder in einem anderen Gre-
mium über einen Entschädigungsfonds und über die
Veränderung der Verjährungsfristen zum Beispiel im Zi-
vilrecht reden, aber Sie sind jetzt, nachdem Wochen ver-
strichen sind, verpflichtet, endlich dafür Sorge zu tragen,
dass das falsche Verhalten, diese Wagenburgmentalität
und dieses Bestreben, die Institutionen zu schützen
– egal ob katholische Kirche oder Reformpädagogik –,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aha!)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

endlich ein Ende findet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wissen eines: Der Bundestag muss Position be-
ziehen, und die Bundesregierung muss Position bezie-
hen. Die Kinder und nicht der Papst oder andere öffentli-
che Institutionen brauchen unseren Schutz und unsere
Unterstützung. Die Kinder brauchen einen Anwalt.

Die Opfer, die es schon gibt und die noch heute als
Erwachsene leiden, brauchen einen öffentlichen Bericht,
in dem ganz deutlich gesagt wird, was war. In den Fäl-
len, in denen Verjährung eingetreten ist, erleben die Opfer
nicht mehr, dass sich eines Tages ein Richter erhebt und
sagt: Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. – Un-
sere Verpflichtung ist es, gegenüber diesen Opfern klar-
zumachen, dass es einen öffentlichen Bericht geben
wird, in dem steht, was dort passiert ist, sodass die ge-
samte Gesellschaft dies aufnimmt. Sie haben das Recht,
dass sich solche Dinge ab heute nicht wiederholen kön-
nen.

Ich bitte Sie inständig: Regeln Sie die Dinge, die
heute zu regeln sind, und verschieben Sie sie nicht an ir-
gendeinen runden Tisch oder an eine Kinderschutzbe-
auftragte! Heute brauchen viele Kinder in diesem Land
unseren Schutz und unsere schützende Hand. Dies ist
kein Delikt der Vergangenheit, sondern ein Delikt, das
noch heute an Kindern begangen wird.

Ich sage: Frau Ministerin, walten Sie endlich einmal
Ihres Amtes, statt sich nur zu verstecken!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703410200

Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senio-

ren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schockierendes war in den letzten Wochen über sexuel-
len Missbrauch an Mädchen und Jungen in kirchlichen,
in weltlichen und in pädagogischen Einrichtungen zu le-
sen und zu hören. Nicht weniger schockierend ist das
Schweigen, das diese Verbrechen über viele Jahrzehnte
begleitet hat; denn durch dieses Schweigen wurden
Mauern zementiert, hinter denen viele Kinder und Ju-
gendliche Pädophilen hilflos ausgeliefert waren und hin-
ter denen manche der Betroffenen auch heute noch ge-
fangen sind.

Ich glaube, dass wir uns nicht im Geringsten vorstel-
len können, welche Verletzungen Missbrauchserleb-
nisse Kinderseelen zufügen und wie tief diese Narben
sind, die ein Leben lang bleiben.

Verantwortung zu übernehmen, bedeutet deshalb zu-
nächst einmal, den Opfern Gehör zu schenken und die
Fakten klar und schonungslos zu benennen, über die viel
zu lange geschwiegen wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der nüchterne Begriff des sexuellen Kindesmiss-
brauchs bringt nur vage auf den Punkt, worüber wir hier
reden: In kirchlichen und weltlichen Einrichtungen sind
Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg vergewaltigt,
misshandelt und gedemütigt worden. Diese Verbrechen
haben Menschen begangen, denen die Kinder vertrauten,
die sie respektierten und gern hatten und von denen sie
sich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung er-
hofften. Zu den Tätern gehörten Priester, Lehrer und Er-
zieher. Zu den Verantwortlichen gehörten aber auch die-
jenigen, die die Mauern des Schweigens aufgebaut und
aufrechterhalten haben: durch Wegsehen, durch Vertu-
schen, durch Banalisieren, aber auch zum Beispiel durch
die Versetzung von Tätern in die nächste Schule, in die
nächste Gemeinde, in den nächsten Verein, wo sie es
wieder mit Kindern zu tun hatten.

Es gab aber auch couragierte Frauen und Männer, die
ihre Verantwortung ernst nahmen. Stellvertretend für
viele nenne ich zum einen Pater Klaus Mertes, den Rek-
tor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg.
Er hat im Januar Berichte über sexuelle Übergriffe
zweier Patres in den 70er- und 80er-Jahren öffentlich ge-
macht und damit die aktuelle Debatte erst ausgelöst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zum anderen nenne ich Margarita Kaufmann, die Di-
rektorin der Odenwaldschule in Hessen. Auch sie hat die
Vorwürfe ehemaliger Schüler öffentlich gemacht und
sich von Anfang an um Aufklärung und Aufarbeitung
bemüht. Allen, die sich wie diese beiden in kirchlichen
und weltlichen Einrichtungen um Wahrheit und Wahr-
haftigkeit bemühen, gebührt unser Respekt, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt geht es darum, so wie Margarita Kaufmann und
Klaus Mertes Verantwortung zu übernehmen für das,
was geschehen ist. Das sind wir den Opfern schuldig.
Und es geht darum, alles in unseren Möglichkeiten Ste-
hende zu tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu
verhindern. Das sind wir den Kindern schuldig, das sind
wir aber auch den Eltern schuldig. Denn jede Mutter, je-
der Vater wird sich doch jetzt fragen: Wie kann ich
meine Kinder vor solchen Erfahrungen schützen? Die
aufrichtige Antwort muss lauten: Einen hundertprozenti-
gen Schutz gibt es nicht. Aber es gab in kirchlichen und
weltlichen Einrichtungen offenbar Schutzräume für Pä-
dophile, in denen Kindesmissbrauch lange unbemerkt
und ungestraft bleiben konnte. Solche Schutzräume dür-
fen wir nicht länger zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb hat das Kabinett gestern die Einrichtung ei-
nes runden Tisches beschlossen, der sich mit sexuellem
Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen





Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)

befassen wird – auch in Familien. Wir wollen unserer
doppelten Verantwortung für Aufarbeitung und wirksa-
men Kinderschutz gerecht werden: zum einen durch die
Anerkennung des Leidens der Opfer und möglicher-
weise notwendige rechtspolitische Folgerungen, zum an-
deren aber auch durch präventive Maßnahmen und ef-
fektive Interventionsmöglichkeiten.

Diese Aufgaben kann kein Ressort alleine bewältigen.
Deshalb danke ich meinen Kolleginnen Frau Schavan
und Frau Leutheusser-Schnarrenberger herzlich für die
gute und enge Zusammenarbeit. Gemeinsam haben wir
Umsetzungsvorschläge erarbeitet, die wir am runden
Tisch unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftli-
chen Institutionen und mit Unterstützung von Kinder-
schutz- und Opferorganisationen zur Diskussion stellen
und konkretisieren wollen.

Zur Prävention schlagen wir unter anderem vor: Maß-
nahmen zur behutsamen Sensibilisierung und zur Stär-
kung von Jungen und Mädchen – sie sollen Missbrauch
erkennen und klar benennen können –, Maßnahmen zur
Sensibilisierung und Weiterbildung von Fachkräften und
Eltern – sie sollen Indizien sexualisierter Gewalt erken-
nen und intervenieren können –, strukturelle Maßnah-
men wie die Überprüfung von Aus- und Fortbildungen,
aber auch Zulassungsbedingungen für pädagogisch täti-
ges Personal.

Wir müssen aber auch direkt bei den Neigungen pä-
dophiler Männer ansetzen. Vorbildlich sind hier die Pro-
jekte der Charité im Rahmen der Kampagne „Kein Täter
werden.“, die in den letzten Jahren – gemeinsam geför-
dert von Bundesjustizministerium und Bundesfamilien-
ministerium – entwickelt wurden. Hier können sich
Männer konkret beraten und therapieren lassen, bevor
aus ihren pädophilen Fantasien pädophile Handlungen
werden.

Über diese präventiven Maßnahmen hinaus müssen
wir aber auch zusätzlich zum Strafrecht wirksame Inter-
ventionsstrategien erarbeiten. Dazu gehören zum Bei-
spiel klare Verhaltensregeln, die wir in Form von Selbst-
verpflichtungserklärungen festlegen wollen. All das
betrifft den künftigen Schutz von Kindern und Jugendli-
chen.

Diejenigen aber, die in den letzten Jahren und Jahr-
zehnten Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind,
haben einen Anspruch auf umfassende Anerkennung ih-
res Leids. Deshalb freue ich mich, dass wir mit Frau
Dr. Christine Bergmann eine erfahrene Fachfrau als un-
abhängige Beauftragte gewinnen konnten. Sie bringt die
für dieses sensible Thema richtige Mischung aus Finger-
spitzengefühl und Durchsetzungsvermögen mit. Da-
durch kann sie zum einen Ansprechpartnerin für die Op-
fer sexuellen Missbrauchs sein. Sie kann zum anderen
aber auch Vorschläge erarbeiten, wie Opfern materiell
und immateriell umfassend geholfen werden kann.

Einen Beitrag zur Prävention wird schließlich auch
die geplante Reform des Kinderschutzgesetzes leisten,
auf die ich hier nur am Rande eingehen kann. Unter an-
derem geht es dabei um die Neuregelung der Befugnis-
norm für Berufsgeheimnisträger, um zum Beispiel eine
bessere Zusammenarbeit zwischen Kinderärzten und Ju-
gendämtern zu ermöglichen.

Die Debatte über sexuellen Missbrauch, die wir hier
führen, ist eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Wir
sollten diese Debatte – darum bitte ich Sie – immer auf
eine Art und Weise führen, die der Perspektive der Opfer
gerecht wird. Dazu gehört auch, dass wir uns bei allen
Meinungsunterschieden über den richtigen Weg gegen-
seitig ein aufrichtiges Interesse an Aufarbeitung, Aufklä-
rung und Kinderschutz unterstellen. Dafür bitte ich Sie
um Ihre Unterstützung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703410300

Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1703410400

Meine Damen und Herren! Mir geht es wie Ihnen und

vielen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland: Wir
verfolgen atemlos, was alles an neuen Berichten bekannt
wird. Jeden Tag, wenn man die Zeitung aufschlägt,
Nachrichten hört oder im Fernsehen sieht, was berichtet
wird, denkt man: Das kann und darf in unserem Land
doch nicht sein. – Aber es ist so.

Deshalb gehört, finde ich, zu den Feststellungen, die
uns leiten sollten, eine klare Aussage: Niemand darf des-
halb, weil wir über lange zurückliegende Vorfälle disku-
tieren, den Eindruck haben, es handele sich um ein Pro-
blem der Vergangenheit. Sexueller Missbrauch von
Kindern in Schulen und Einrichtungen kirchlicher oder
weltlicher Art findet auch heute statt, und wahrschein-
lich in viel größerem Umfang, als jeder von uns es wahr-
haben will. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns um diese
Frage kümmern, und zwar nicht nur um gute Aufklärung
der Vergangenheit, sondern auch um Handlungsstrate-
gien, die jetzt notwendig sind. Ich glaube, wir sollten
das, was jetzt neu herauskommt, zum Anlass nehmen,
dafür zu sorgen, dass die Dunkelfeldforschung in
Deutschland mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet wird,
und zu versuchen, herauszufinden, wie groß das Ausmaß
des Missbrauchs ist, über das wir nichts wissen, weil nie-
mand darüber redet. Das muss jetzt dringend geschehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich finde es gut, dass nach dem vielen Hin und Her,
von dem wir gehört haben, jetzt in der Regierung Einig-
keit über die Bildung eines gemeinsamen runden Tisches
besteht. Dabei muss eines klar sein – darin bin ich mir
mit der Kollegin Künast einig –: Ein runder Tisch ist
kein Ersatz für eigenes Handeln und eigene Politik. Die
Regierung ist jetzt nicht suspendiert und darf warten,
was der runde Tisch macht; vielmehr muss sie jeden Tag
handeln. Denn die Probleme sind drängend und können
nicht auf spätere Zeiten vertagt werden.





Olaf Scholz


(A) (C)



(D)(B)

Selbstverständlich ist es richtig, dass man versucht,
möglichst viele einzubeziehen. Dass Sie die frühere Mi-
nisterin Bergmann als Beauftragte für diesen Prozess mit
einbezogen haben, ist ein guter Schritt, und zwar des-
halb, weil sie eine gute Ministerin war, von der wir alle
wissen, dass sie gerade auf dem Feld der Bekämpfung
des sexuellen Missbrauchs viele gesetzliche und staatli-
che Initiativen auf den Weg gebracht hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich glaube aber, dass man dabei nicht stehen bleiben
sollte, und habe mir nun sehr sorgfältig angehört, was
bei Ihren verschiedenen Bemühungen, miteinander klar-
zukommen, herausgekommen ist. Eine Frage scheint mir
darüber aber vergessen worden sein, und deshalb stelle
ich sie hier: Haben Sie auch an das Parlament gedacht?
Selbstverständlich muss in diesem Kommunikationspro-
zess nicht nur die Regierung mit irgendwem in der Welt
reden, sondern eben auch mit dem Parlament. Deshalb
fordere ich Sie an dieser Stelle auf: Sorgen Sie dafür,
dass auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages – al-
ler Fraktionen in diesem Parlament – an diesem runden
Tischen teilnehmen können!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe gesagt: Wir müssen heute handeln. – Dies
können und müssen wir durchaus in einer Kontinuität
von Gesetzgebung und Problembewältigung tun, die in
den letzten Jahren, gerade in den Regierungen von Rot-
Grün und der Großen Koalition, stattgefunden haben.
Deshalb noch einmal zur Erinnerung: Da ist ganz schön
viel passiert. Das Strafmaß ist massiv heraufgesetzt wor-
den. Viele, die früher ganz harmlos davongekommen
sind, können dies heute nicht mehr, weil sich eben der
Strafrahmen verändert hat. Wir haben auch dafür ge-
sorgt, dass diese Taten nicht mehr so einfach verjähren
können, wie es in der Vergangenheit der Fall war, indem
wir sowohl die zivilrechtliche als auch, was noch wichti-
ger ist, die strafrechtliche Verjährung erst zu einem Zeit-
punkt beginnen lassen, an dem ein erwachsener Mensch
darüber entscheiden kann, was er mit den schrecklichen
Erlebnissen seiner Jugend in dieser Hinsicht machen
will.

Aber wir lernen ja auch aus den jetzigen Berichten.
Wir lernen, dass es sehr lange dauert, bis manche Debat-
ten und manche Ereignisse öffentlich und breit diskutiert
werden. Das ist in einer bestimmten Hinsicht sehr be-
merkenswert; denn es hat ja in großen Wellen immer
wieder neue Diskussionen über sexuellen Missbrauch
gegeben, die auch zu Konsequenzen sowie dazu geführt
haben, dass sich flächendeckend viele melden und sa-
gen: Ich bin ein Opfer dieser Taten gewesen und will,
dass das jetzt endlich in Ordnung gebracht wird. – Aber
immer wieder gibt es neue Wellen. Deshalb glaube ich,
dass dies ein fortschreitender Prozess von Aufklärung,
von Problembewusstsein ist, der in der Gesellschaft
stattfindet, dass dieser Prozess aber bestimmt noch lange
nicht abgeschlossen ist, und ich glaube auch, dass wir
Handlungsinstrumente brauchen, die gerade für diese
Straftaten eine andere Form von Verjährung möglich
machen, als das heute schon der Fall ist.

Deshalb sollte bei dem, was wir jetzt diskutieren, ge-
schaut werden, ob wir – das wäre ein gewisser System-
bruch zu dem Prinzip der Verjährung – in diesem Zu-
sammenhang eine regelhafte zwanzigjährige Verjährung
auch für solche Straftaten möglich machen, die eigent-
lich schneller verjähren. Denn es muss möglich sein,
dass sich jemand später noch ein Herz fasst und sagt: Ich
will, dass das jetzt diskutiert wird. – Auch muss für die
Täter klar sein, dass sie nicht nur kurze Zeit abwarten
müssen, bis Dinge nicht mehr verfolgt werden, die sie
für harmlos halten, die für die Betroffenen aber eine
schwere Demütigung darstellen, die sie möglicherweise
ein ganzes Leben lang nicht vergessen. Deshalb sollten
wir auch darüber diskutieren, speziell im Zusammen-
hang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und
Schutzbefohlenen, eine zwanzigjährige Verjährung re-
gelhaft zu machen, die sicherstellt, dass alle Straftaten
möglichst ans Tageslicht kommen und immer wieder
neue Wellen dieses Prozesses dazu führen können, dass
eines Tages die Dunkelziffer bei diesem Problem kleiner
geworden und nicht mehr so groß ist wie heute.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703410500

Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine

Leutheusser-Schnarrenberger.


(Beifall bei der FDP)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in
Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in Institutionen
privater und kirchlicher Art sowie im familiären Umfeld
muss man nicht nur sehr verantwortungsbewusst, son-
dern auch sorgfältig und ernst umgehen. Da helfen keine
vordergründigen Vorschläge, dass jetzt die Bundesregie-
rung anfangen solle, dass halbe Land vorzuladen und
zum Rapport zu bitten.

Ich denke, Frau Künast, in Hamburg werden Sie sich
dafür eingesetzt haben, dass entsprechende Angebote
gemacht werden, wie es gerade auch in Bayern, in der
Bayerischen Staatsregierung geschieht. Es ist wichtig,
dass nicht nur die Bundesregierung ihrer Verantwortung
gerecht wird.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hamburger haben es schon gemacht! Danke für den Hinweis!)


– Dann hätten Sie einmal von den guten Beispielen be-
richten können.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zeit war zu kurz!)






Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)

Wir sind froh über alle Anregungen und greifen sie
gerne auf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie habe ich gar nicht angegriffen! Sie sind gar nicht das Problem!)


Eines ist doch auch selbstverständlich, liebe Kollegin-
nen und Kollegen: Der runde Tisch – es gibt ja gute Vor-
bilder für die Wirkungskraft runder Tische; ich erinnere
in diesem Zusammenhang an die deutsche Einheit – ist
die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Kräfte zu-
sammenzubringen, um über zwei wichtige Bereiche zu
reden


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind doch kein Land in Auflösung!)


und dort zu Empfehlungen und Vorschlägen zu kommen.
Nie und nimmer kann dies aber die Arbeit der Regierung
und die wichtige Aufgabe des Parlaments ersetzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Diskussion unter den Beteiligten kann aber wichtige
Anstöße geben. Man wird von den Vertretern der betrof-
fenen Institutionen fordern, nicht nur alles zu tun, damit
weiter aufgeklärt wird, sondern auch eine Untersuchung
der Strukturen in den jeweiligen Einrichtungen vorzu-
nehmen, damit es zu Verbesserungen kommt, damit frü-
her aufgeklärt wird und Informationen früher an die
Staatsanwaltschaft vor Ort weitergegeben werden. Wenn
die Informationen möglichst früh – sobald man Anhalts-
punkte hat – weitergegeben werden, wenn nicht interne
Untersuchungen eine frühe Weitergabe verhindern, dann
haben wir die Chance, die Verantwortlichen wirklich zur
Rechenschaft zu ziehen. Es muss ein Ergebnis des run-
den Tisches sein, zu entsprechenden Veränderungen bei
den jeweiligen internen Strukturen zu kommen.


(Beifall der Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] und Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU])


Herr Scholz, Sie haben die Frage angesprochen: Was
ist mit dem Parlament? Natürlich muss auch das Parla-
ment am runden Tisch vertreten sein. Die Parlamentarier
ergänzen die Vertreter von Organisationen und gesell-
schaftlich relevanten Einrichtungen, die eingeladen wer-
den. Meine Kollegin, Frau Schröder, hat schon eine ent-
sprechende Liste vorgelegt und den 23. April als Termin
festgelegt; eine Einladung ist bereits herausgegangen.
Wir drei Ministerinnen, jeweils für einen Bereich zustän-
dig, werden jetzt, nach dem Kabinettsbeschluss, den
Teilnehmerkreis des runden Tisches erweitern, weil der
runde Tisch mehr Aufgaben bekommen hat. Er wird
über die Aufarbeitung der Vergangenheit – ein wichtiges
zweites Standbein –, die Durchsetzung des staatlichen
Strafanspruchs, rechtspolitische Folgerungen und mögli-
che Rechtsänderungen debattieren. Selbstverständlich
muss auch das Parlament bei diesem runden Tisch ver-
treten sein.

Wir werden hier unabhängig von dem, was der runde
Tisch und die unabhängige Beauftragte zu leisten in der
Lage sind, Debatten zu diesem Thema führen; denn wir
wollen, dass gerade durch die Diskussion eine öffentli-
che Debatte erzeugt wird, die dazu führt, dass in den In-
stitutionen selbst für Änderungen gesorgt wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um an dieser Stelle die katholische Kirche anzuspre-
chen: Hier geht es auch um interne Richtlinien, die bis-
her nicht so klare Anweisungen enthalten haben; Vertre-
ter der katholischen Kirche, gerade auch aus Bayern,
haben jetzt aber Änderungen gefordert. Der runde Tisch
kann hier Unterstützung geben und diesen Prozess beför-
dern. Weder der runde Tisch noch das Parlament können
aber die notwendigen Entscheidungen ersetzen, die von
den Verantwortlichen in den Institutionen getroffen wer-
den müssen.

Wir können einen Beitrag leisten, indem wir Vor-
schläge unterbreiten, wie Strukturen so verbessert wer-
den können, dass sich Kinder und Jugendliche, die sich
in Abhängigkeitssituationen befinden, trauen, zu den
Ansprechpartnern und Anlaufstellen zu gehen. In welch
einer fürchterlichen Situation befinden sich diese jungen
Menschen! Sie haben vielleicht Angst, sich an ihre El-
tern zu wenden, weil sie befürchten, dort nicht ernst ge-
nommen zu werden. Sie trauen sich nicht, sich an einen
Lehrer zu wenden, weil sie nicht wissen, wie das in der
jeweiligen Einrichtung – in der Schule, im Internat, im
Kloster, wo auch immer – behandelt wird. Sie brauchen
also externe Ansprechpartner. Wir benötigen also ver-
trauensbildende Maßnahmen dieser Institutionen, damit
die jungen Menschen sehen: Wenn es hier zu sexuellem
Missbrauch kommt – er kann in unterschiedlichen For-
men und mit unterschiedlicher Intensität stattfinden –,
gibt es, wenn sich die Betroffenen nicht trauen, sich
gleich an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft zu
wenden, vertrauliche Ansprechpartner und -partnerin-
nen, die mit den Informationen so umgehen, wie es der
Situation angemessen ist. –


(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Hier eine Struktur aufzubrechen, die das bisher nicht er-
möglicht hat, ist ein ganz wichtiges Anliegen des runden
Tisches. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir damit wirk-
lich etwas bewegen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden natürlich Debatten führen, die schon in der
Vergangenheit geführt worden sind. Ich war Anfang der
90er-Jahre Justizministerin, als wir im Parlament die Re-
gelung verabschiedet haben, dass die Verjährungsfrist
bei sexuellem Missbrauch erst mit dem 18. Lebensjahr
des Opfers beginnt und abgestuft nach der Höhe der
Strafandrohung 10 und 20 Jahre beträgt.

Ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche ge-
führt, sowohl mit Beauftragten von betroffenen Institu-
tionen, zum Beispiel des Jesuitenordens, als auch mit
Beauftragten und Verantwortlichen außerhalb dieser In-
stitutionen, die sich schon jetzt mit diesem Thema befas-
sen. In diesen Gesprächen kam immer wieder zum Aus-





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)

druck, dass es für das Opfer am allerschlimmsten ist,
wenn nach 20 oder 30 Jahren Informationen an die
Staatsanwaltschaft gehen, der mögliche Täter die Tat
nicht zugibt, es zu einem Gerichtsverfahren und zur Be-
weisaufnahme kommt, man sich auf konkrete Daten
nicht mehr einlassen kann, weil die Erinnerung einfach
nicht mehr da ist, und dann der Sachverhalt nicht mehr
aufklärbar ist. Denn was bleibt dann? Es bleibt ein Op-
fer, das zum zweiten Mal zum Opfer geworden ist, weil
es das Gefühl hat, dass ihm trotz eines Gerichtsverfah-
rens keine Gerechtigkeit widerfährt. Das muss bei der
Debatte über die Länge und den Beginn von Verjäh-
rungsfristen im strafrechtlichen Bereich immer mit be-
rücksichtigt werden. Deshalb bin ich hier so zurückhal-
tend. Ich glaube, wir müssen vor allem alles daransetzen,
dass frühzeitiger aufgeklärt werden kann.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber es geht um sehr viel mehr. Es geht auch um die
Frage: Wie gehen wir mit den Taten um, die verjährt
sind? Was können wir noch für die Opfer tun, wenn zi-
vilrechtliche Ansprüche verjährt sind? Eine vertrauens-
bildende Maßnahme könnte sein, dass die Verantwortli-
chen laut und deutlich sagen, dass sie das Eintreten der
Verjährung außer Acht lassen. Das könnte schon ein
wichtiger Schritt sein. Aber natürlich sind weitere
Schritte notwendig. Diese müssen zusammen mit den In-
stitutionen und den Verantwortlichen erörtert werden.
Das kann einen Weg weisen und eine Perspektive eröff-
nen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass mit dem runden
Tisch und der Berufung einer unabhängigen Beauftrag-
ten zwei gute Entscheidungen im Kabinett getroffen
worden sind. Wenn wir hier ein gemeinsames Ziel ver-
folgen, dann sollten wir uns darüber unterhalten, welche
Maßnahmen im Einzelnen getroffen werden müssen,
aber nicht darüber streiten, ob ein runder Tisch richtig ist
oder nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703410600

Für die Fraktion Die Linke hat Diana Golze das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703410700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Gewalt an Kindern, auch und gerade
sexuelle Gewalt, ist ein Straftatbestand, der nicht zu ent-
schuldigen ist und der weder vertuscht noch verharmlost
werden darf. Es hat mich wütend gemacht, wenn ich in
den letzten Tagen gehört habe, dass die Kirche nur bei ei-
nem erhärteten Verdacht einen Staatsanwalt eingeschaltet
oder irgendwie auf den Rechtsstaat zurückgegriffen hat.
Das kann nicht sein. Ich sehe es so: Die Kirche ist Teil der
Gesellschaft; sie will Teil der Gesellschaft sein. Dann
müssen aber auch für ihre Mitglieder, für ihre Angestell-
ten und für ihre Mitarbeiter dieselben Regeln gelten wie
für alle anderen. Dazu zählt, dass man sich rechtsstaatli-
chen Verfahren stellt und dass Kindern und Jugendlichen
die Möglichkeit gegeben wird, diesen Weg zu wählen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte, ebenso wie es die Frau Ministerin getan
hat, meine Achtung vor den Menschen ausdrücken, die
ein Tabu gebrochen haben, indem sie dieses Thema an
die Öffentlichkeit gebracht und die ganze Gesellschaft
zum Hinschauen und hoffentlich auch zum Handeln ge-
zwungen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie
viel Überwindung so etwas gekostet haben muss, wenn
bisher die oberste Priorität der Schutz der Institutionen
war. Jetzt endlich setzt ein Umdenken ein und der Schutz
der Kinder und Jugendlichen wird zur obersten Priorität.
Ich möchte diesen Menschen dafür meinen ausdrückli-
chen Dank aussprechen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte aber nicht nur über die Kirche und die
jetzt zutage getretenen Fälle sprechen; denn sexuelle Ge-
walt an Kindern ist ein gesamtgesellschaftliches Pro-
blem. Die jüngst bekannt gewordenen Fälle machen
deutlich: Es sind Vergehen von Erziehenden gegenüber
Kindern und Jugendlichen, die mit einem Missbrauch
von Macht einhergehen. Hier werden Hierarchien und
Strukturen genutzt, um diejenigen zu Opfern zu machen,
die in einem Abhängigkeitsverhältnis, in einem Vertrau-
ensverhältnis gestanden haben und die sich aus diesen
Strukturen nicht befreien konnten. Je hierarchischer und
autoritärer eine solche Struktur aufgebaut ist, umso
leichter fällt es den Tätern, Opfer zu finden und diese zu
jahrelangem Schweigen zu bringen; denn hier ist die
Macht ganz klar verteilt. Die Kinder sind die Ohnmäch-
tigen. Sie haben in diesem Machtverhältnis die gerings-
ten Möglichkeiten, sich zu wehren.

Ich spreche ganz bewusst nicht vom „Missbrauch von
Kindern“, sondern von Machtmissbrauch; denn der Wort-
gebrauch „Missbrauch von Kindern“ legt nahe, es gäbe
einen richtigen „Gebrauch“ von Kindern. Das macht Kin-
der wieder nur zu Objekten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb bitte ich gerade die Grünen, die die Aktuelle
Stunde mit diesem Titel beantragt haben, diesen Sprach-
gebrauch zu ändern. Es geht nicht um den sexuellen
Missbrauch von Kindern, sondern es geht um Macht-
missbrauch und um Opfer. Mit einer solchen Formulie-
rung werden Kinder wie Objekte behandelt, obwohl sie
Subjekte sind. Das müssen wir als Gesetzgeber unter-
streichen. Ich fordere an dieser Stelle noch einmal die
Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Wir
müssen die Machtverhältnisse zugunsten der Kinder ver-
ändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kinder und Erwachsene müssen sich auf Augenhöhe
und dürfen sich nicht hierarchisiert begegnen. Kinder und





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)

Jugendliche müssen dann aber auch ihre Rechte kennen.
Das ist schon gesagt worden; ich möchte es aber noch ein-
mal unterstreichen. Sie müssen ihre eigenen Grenzen und
ihre Rechte kennen. Sie müssen damit umgehen lernen.
Sie müssen wissen und darauf vertrauen können: Wann
darf und muss ich Nein sagen, wenn meine Grenzen über-
schritten werden? Das muss diesen Kindern klar werden.
Ganz egal, ob in der Familie, in der Schule oder im Sport-
verein – wir hören regelmäßig von Vorfällen, in denen
Trainer übergriffig werden –: Kinder müssen ihre Rechte
und ihre Grenzen kennen.

Um sich für ihre Rechte einzusetzen, brauchen sie
schnell erreichbare Hilfen: Notrufnummern, möglichst
bundesweit einheitlich, die überall bekannt sind und
überall veröffentlicht sind, wo am anderen Ende der Lei-
tung gut geschultes Personal ist, wo man schnell Hilfe be-
kommt. Dabei geht es auch um von den Institutionen un-
abhängige Hilfen. Natürlich spreche ich mich für den
verstärkten Einsatz von Schulsozialarbeitern aus. Aber
wir brauchen auch Hilfe, die unabhängig von diesen In-
stitutionen existiert. Stellen Sie sich folgende Situation
vor: Das Kind sieht auf dem Schulhof den Lehrer, von
dem es sich angefasst gefühlt hat, mit dem Schulsozialpä-
dagogen sprechen. Diesen Schulsozialpädagogen spricht
es doch nicht an, um ihn um Hilfe zu bitten. – Es muss
also auch außerhalb der Institutionen verlässliche und be-
kannte Hilfe für die Kinder und Jugendlichen geben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Klar ist: Für das gesunde Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen und ihren bestmöglichen Schutz müs-
sen wir Ressourcen zur Verfügung stellen. Jugendämter
– ich will es nur schlagwortartig ansprechen – dürfen
nicht mehr nur als Feuerwehr fungieren, sondern müssen
wieder agieren können. Sie brauchen Personal. Wir brau-
chen Jugendeinrichtungen mit geschultem pädagogi-
schen Personal. Wir brauchen Beratungsstellen, die nicht
dem kommunalen Sparzwang unterliegen. Wir brauchen
schlicht und ergreifend eine Gesellschaft, die ihre Verant-
wortung übernimmt – auf allen Ebenen und vor allem
dort, wo die Kinder sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703410800

Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1703410900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Aktuelle Stunde,

beantragt von den Grünen, behandelt die Konsequenzen
aus den zahlreich bekannt gewordenen Fällen sexuellen
Missbrauchs.
Ich finde, die Bundesregierung hat zügig gehandelt.
Die erste Konsequenz ist dieser runde Tisch. Man kann
das kritisch sehen; man kann runde Tische im Allgemei-
nen für unzureichend halten. In diesem speziellen Fall
– das haben die Beiträge vorhin gezeigt – gibt es aber
schon viele Vorschläge und viele Überlegungen, die im
Vorfeld eingebracht wurden. Ich halte es sogar für eine
kluge Entscheidung, dass wir uns angesichts der Ernst-
haftigkeit dieses Themas ganz bewusst auf eine andere
Art, als es sonst in Gesetzgebungsverfahren üblich ist,
auf einen runden Tisch mit verschiedenen Arbeitsgrup-
pen eingelassen haben, um so zu versuchen, Lösungs-
vorschläge oder -ansätze dazu zu finden.

Es beschäftigen sich vier starke Frauen mit diesem
Thema, drei amtierende Ministerinnen und eine ehema-
lige Ministerin. Ich glaube, dass die Chance groß ist,
dass in den Arbeitsgruppen, die vorwärtsgewandt straf-
rechtliche Aspekte, aber auch rückwärtsgewandt As-
pekte der Wiedergutmachung im Blick haben, gute Vor-
schläge erarbeitet werden. Herr Kollege Scholz,
natürlich bin auch ich der Auffassung, dass das Parla-
ment dem nicht zusehen kann. Spätestens dann, wenn es
darum geht, Ergebnisse bzw. Vorschläge in Gesetzes-
form zu gießen, muss das Parlament beteiligt werden.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt „Beteiligung“? Hier wird es entschieden!)


– Wir werden es natürlich entscheiden. Wir werden uns
sinnvollerweise auch im Vorfeld an der Diskussion be-
teiligen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir beteiligen Sie auch!)


Die Rechtspolitiker der CDU/CSU und der FDP haben
sich schon den einen oder anderen Gedanken gemacht.
Ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg, uns zu
einigen und uns auch daran zu beteiligen.

Die Bedeutsamkeit und die schwerwiegenden Fälle
von Kindesmissbrauch muss man nicht besonders er-
wähnen. Kindesmissbrauch findet überall statt, vorwie-
gend im privaten Bereich. Es ist widerlich, was Kindern
teilweise angetan wird. Selbst im sogenannten Arbeiter-
und Bauernparadies – so schreibt Die Welt am 21. März –
hat es allein in Thüringen über 160 ehemalige Insassen
von sogenannten Jugendwerkhöfen gegeben, die sich
wegen sexueller Übergriffe zu ihren Lasten gemeldet ha-
ben. Wir sehen also: Diese Taten finden überall und im-
mer statt. Deswegen ist es richtig, zu versuchen, deren
Zahl zu minimieren, sie frühzeitig aufzudecken und eine
langfristige Belastung der Opfer zu vermeiden.

Es wurden schon gute Projekte genannt, zum Beispiel
das Projekt „Kein Täter werden“ der Charité. Meines Er-
achtens würde es sehr viel Sinn machen, dass sich nicht
nur Berlin mit solchen Projekten beschäftigt, sondern
auch Hamburg, Frankfurt, Köln und München. Es ist ein
richtiger Ansatz, zu sagen: Wenn man Missbrauch ver-
meiden kann, muss man sich gar nicht erst über Bestra-
fung und Opferentschädigung unterhalten.





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)

Das muss man aber gleichwohl tun, wenn Missbrauch
stattgefunden hat. Deswegen sind wir der Auffassung
– das ist mittlerweile unstreitig –, dass es sinnvoll ist, die
zivilrechtliche Verjährungsfrist zu verlängern. Es ist
nicht nur sinnvoll zu wissen, dass der Täter bestraft wird,
sondern es ist auch sinnvoll zu wissen, dass man eine
Entschädigung für das erlittene Leid bekommt. So be-
kommt man vielleicht die Kosten der Therapie erstattet
oder – was meines Erachtens noch wichtiger ist – sogar
Schmerzensgeld aufgrund dieser massiven Eingriffe in
die körperliche und seelische Integrität.

Die CDU/CSU-Fraktion ist der Auffassung, dass man
den Täter in genügendem Maße abschrecken muss. An-
gesichts dieser abscheulichen Form der Kriminalität hal-
ten wir es zudem für sinnvoll, diese Form des Miss-
brauchs endlich als das zu bewerten, was es ist, nämlich
als ein Verbrechen. Das ist ein Teil der Gesamtstrategie;
aber auch über den strafrechtlichen Aspekt der Abschre-
ckung sollte nachgedacht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aus meiner Sicht muss man über eine Verlängerung
von Fristen auch im strafrechtlichen Bereich nachden-
ken; Herr Kollege Scholz hat das auch angesprochen.
Dabei gibt es eine gewisse Diskrepanz, vielleicht auch
eine gewisse Problematik, die darin besteht, dass sich
manche nicht offenbaren können. Strafrechtlich gesehen
gibt es das Problem der Aufklärung nach langer Zeit.
Persönlich beim Opfer besteht das Problem, dass man
nicht sofort in der Lage ist, sich zu offenbaren, erst recht
nicht, wenn man noch ein Kind ist und missbraucht
wurde.

Da wir in der vergangenen Woche auch über dieses
Thema diskutiert haben und die Grünen Antragsteller
dieser Aktuellen Stunde sind, möchte ich abschließend
Folgendes sagen: Herr Kollege Montag hat erwähnt,
dass Rot-Grün nach dem Regierungswechsel 1998 nichts
Eiligeres zu tun gehabt habe, als ein veraltetes und täter-
freundliches Sexualstrafrecht zu verschärfen. Im An-
schluss an die vergangene Sitzung habe ich mich schlau-
gemacht: In Wahrheit war es so, dass die Reform erst
einmal gar nicht stattfand, sondern fünf Jahre nach dem
Regierungswechsel, nämlich im Jahr 2003, und zwar
auch deshalb, weil der Bundesrat und die CDU/CSU-
Fraktion über Jahre hinweg eigene, zum Teil wesentlich
schärfere Gesetzentwürfe vorgelegt haben, die zum Bei-
spiel von den Grünen abgelehnt wurden. Ich zitiere ab-
schließend aus der Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
schusses dazu:

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hob hervor,
dass die parlamentarischen Debatten um die Re-
form des Sexualstrafrechts als ein offener Dialog
geführt worden seien. Es stimme, dass sich die Ko-
alition in einigen Punkten nach der Anhörung und
der notwendigen Abwägung der juristischen … Ar-
gumente der Position der Union angenähert habe.
Im Laufe dieser Diskussion habe es auch Positionen
gegeben, die man nicht mehr vertrete.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703411000

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1703411100

Das war in diesem Fall sicherlich sehr sinnvoll. Viel-

leicht können wir uns darauf verständigen, dass wir uns
auch diesmal annähern und für die Opfer gute Lösungen
finden. In diesem Fall freue ich mich auf die Zusammen-
arbeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703411200

Nächste Rednerin ist Marlene Rupprecht für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1703411300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „sexu-
eller Missbrauch“ oder „sexualisierte Gewalt gegen Kin-
der“ eignet sich wirklich nicht für Parteipolitik, nicht für
Populismus und auch nicht für kurzfristige Schlagzeilen.
Das Thema bedarf ganz großer Ernsthaftigkeit und Hart-
näckigkeit; denn es geht um die Zerstörung von Kindern –
ihrer Körper, ihrer Seelen und ihres ganzen Lebens. Da-
rum geht es. Deshalb erwarte ich große Ernsthaftigkeit.

Die Menschenrechte gelten überall – so sind sie fest-
gelegt – und für jeden Menschen, auch für unsere Kin-
der. Niemand auf dieser Welt – das muss man sich täg-
lich sagen – hat das Recht, die Rechte eines Kindes zu
missachten. Weder in Familien noch im Bekanntenkreis,
in Vereinen oder in irgendeiner Institution duldet die De-
mokratie Menschenrechtsverletzungen, weder in Kir-
chen und kirchlichen Einrichtungen noch in Reform-
pädagogikschulen oder sonst irgendwo. Die Straftaten,
über die wir derzeit öffentlich reden, wurden in Institu-
tionen begangen, in Schulen und Internaten. Diese bilde-
ten mit ihrem geschlossenen System den Schutzraum
und den Nährboden für die Täter, die hier ihren Neigun-
gen nachgehen und diese ausleben konnten, ohne Konse-
quenzen befürchten zu müssen. Das ist das System, nach
innen abgeschottet.

Wir alle können hier nicht versprechen, dass es nie
mehr Kinderschänder geben wird. – Ich benutze bewusst
dieses Wort und nicht ein griechisches oder ein sonstiges
Fremdwort, weil ich denke, dass es eindeutig und klar
ist. Das sind Kinderschänder, und da gibt es kein Pardon. –
Was wir aber versprechen müssen, ist, dass wir alles tun
werden, um den Tätern den Schutzraum zu nehmen, da-
mit sie nicht unentdeckt bleiben.

Was muss also getan werden? Wir fangen bei der Be-
kämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuali-
sierten Gewalt nicht bei null an. Das sollten wir sehen.
Wir haben Aktionspläne geschrieben; wir haben eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet, die immer
noch existiert und in der Vertreter des Bundes, der Län-





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)

der und von Nichtregierungsorganisationen sind. Wir
brauchen eine rückhaltlose Aufklärung aller Fälle.

Ich erwarte von den Tätern und den Institutionen,
dass sie sich klar und eindeutig zu ihrer Schuld bekennen
und dass sie sich für dieses Unrecht entschuldigen. In
der Bibel heißt es:

Eure Rede aber sei: ja ja; nein nein. Was darüber ist,
das ist von Übel.

Diese Klarheit erwarte ich von den Institutionen, egal
von welcher. Ich erwarte auch, dass sie alles unterneh-
men, die geschlossenen Systeme aufzubrechen, um die
ihnen anvertrauten Kinder vor Gewalt zu schützen. Und:
Alle Opfer brauchen die notwendige Unterstützung, um
ihre Traumatisierungen zu verarbeiten. Das gilt auch für
diejenigen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Auch
diese Opfer haben ein Recht darauf.

Wir müssen die seit Jahren begonnene Arbeit zum
Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und Miss-
brauch fortsetzen. Hier ist wirklich viel getan worden.
Dabei geht es nicht um Parteipolitik, nicht darum, wer
was mehr gemacht hat. Das Thema ist schon lange in der
Politik angekommen. Wir haben sowohl im Strafrecht
und im Jugendhilferecht als auch in der Öffentlichkeit
sehr viel dafür getan. Wenn der runde Tisch dazu bei-
trägt, die Aufgaben der Aufarbeitung und der Hilfe für
die Opfer, soweit möglich, zu erfüllen – wir können die
Taten nicht ungeschehen machen –, wenn wir für die Zu-
kunft lernen, dann hat der runde Tisch einen Sinn, aber
nur dann.

Was wir nicht machen dürfen, sind leere Versprechun-
gen und großes Getöse. Ich verspreche, mich im parla-
mentarischen Raum und außerhalb im Sinne der Betrof-
fenen und aller Kinder ernsthaft, ehrlich und offen dafür
einzusetzen, dass wir an diesem Thema arbeiten und ih-
nen Schutz gewähren. Das erwarte ich übrigens vom
ganzen Haus. Das erwarte ich von jedem Mitglied dieser
Gesellschaft. Wenn wir sehen, dass ein Kind von Gewalt
betroffen bzw. Gewalt ausgesetzt ist, dann müssen wir
– ich, Sie, wir alle – hinsehen, handeln und helfen. So
– „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ – hieß übrigens im
April 2004 die erste Kampagne in diesem Bereich. Mil-
lionen Menschen haben sie mitbekommen. Ich hoffe,
dass wir sie fortsetzen können. Ich mache mich dafür
stark.

Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Sie
mich, sehr verehrte Ministerinnen, an Ihrer Seite. Ich
kämpfe gern dafür, dass wir einen Riesenschritt im Sinne
der Kinder und der Betroffenen vorwärts machen.

Danke schön.


(Beifall im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703411400

Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion.


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1703411500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, ich glaube,
dass wir alle in dieser Stunde versuchen, uns diesem
Thema sehr ernsthaft zu nähern, und dass das in dieser
Aktuellen Stunde gut gelungen ist. Sie weisen zu Recht
darauf hin, dass dieses Thema parteiübergreifend ange-
gangen werden muss und dass es für dieses Thema keine
schnellen Lösungen gibt.

Als ich mich gestern Nachmittag auf diese Aktuelle
Stunde vorbereitet habe, ist mir eine dpa-Meldung in die
Hände gekommen, aus der ich kurz zitieren will:

Die Mutter der Mädchen hatte ihren Bekannten öf-
ter auf die Kinder aufpassen lassen. Als sie den
Missbrauch bemerkte, ließ sie den Mann nicht mehr
in die Wohnung, zeigte ihn aber nicht an.

Das ist die Situation. – Wenn wir versuchen, nach Ant-
worten zu suchen, dann kommt es darauf an, dass wir
uns die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen müssen
uns auch im Zusammenhang mit der katholischen Kirche
beschäftigen. Sie erschrecken uns. Die Fragen lauten:
Wie lange dauert es, bis ein Opfer den Weg nach drau-
ßen findet? Warum liegen die Fälle des Missbrauchs 10,
20 und mehr Jahre zurück, bevor die Opfer den Mut fin-
den, sich zu öffnen und die Tat, die an ihnen verübt wor-
den ist, bekannt zu machen?

Wenn man sich die Fragen so stellt, wird man eine
Antwort in erster Linie im Bereich der Prävention su-
chen müssen. Das Projekt „Kein Täter werden“ der Cha-
rité in Berlin ist schon angesprochen worden. Es gibt ein
vergleichbares Projekt an der Universität Kiel und ein
ähnliches an der Universität Regensburg. Die Projekte
wenden sich an potenzielle Täter, also an Pädophile, die
noch keine Tat verübt haben, um sie zu therapieren. Ich
halte es deswegen für wichtig, dass sich der runde Tisch
mit der Frage beschäftigt, wie wir dieses Projekt auch an
anderen Universitäten, die ähnliche Lehrstühle haben,
etablieren können, um ein Angebot zu schaffen; denn
das Besondere an dem Angebot ist die Anonymität.

Wenn wir in diese Richtung denken, dann müssen wir
auch in Richtung der Opfer denken. Wir müssen – das ist
eine Aufgabe, die wir als Parlament an den runden Tisch
bringen müssen – uns die Frage stellen, ob wir nicht
auch ein Projekt mit der Überschrift „Kein Opfer wer-
den“ brauchen. Das ist sicherlich etwas unglücklich for-
muliert; denn wenn ein Mensch, ob Junge oder Mäd-
chen, in die Situation kommt, missbraucht zu werden,
dann ist er schon ein Opfer. Aber die Opfer müssen ei-
nen Ausgang finden, weil sie sich in der Situation befin-
den – das wurde bereits angesprochen –, dass der Täter
aus demselben sozialen Netzwerk kommt: Er kommt aus
der Familie, er ist, wie ich es eben vorgelesen habe, der
Bekannte der Mutter, er ist der Lehrer, in der Kirche der
Priester oder möglicherweise auch der Lehrer.

Tatsache ist auch, dass Dritte, die diese Taten be-
obachten, nicht unmittelbar die Kraft und den Mut fin-
den, sich dieser Situation zu stellen. Deswegen müssen
wir nach geeigneten Stellen suchen – ähnlich wie bei den
Projekten der Charité, in Kiel oder in Regensburg –, an
die sie sich wenden können, um ihre Beobachtungen
oder möglicherweise ihren eigenen Missbrauch vortra-
gen zu können, um Hilfe und Beratung zu erhalten. Da-





Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)

mit öffnen wir eine Tür, damit die Menschen aus diesem
Problembereich herauskommen.

Wir müssen uns auch die Frage stellen: Was müssen
wir im Strafrecht tun, um die vorhandenen Instrumente
stärker auf Prävention auszurichten? Es kann doch nicht
sein, dass jemand, der zum ersten Mal mit 1,6 Promille
im Verkehr unterwegs ist, nach einem Jahr seinen Füh-
rerschein nicht wiederbekommt, ohne eine sogenannte
MPU, eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung,
gemacht zu haben, während wir im Strafrecht die Situa-
tion haben, dass – wenn niedrige Freiheitsstrafen, nied-
rige Geldstrafen, überhaupt Strafen unter zwei Jahren
verhängt werden – die Maßregeln, die wir im Strafrecht
zur Verfügung haben, um den Täter zu einer Therapie zu
bewegen, nicht genügend angewendet werden. Das
Strafrecht bietet gerade bei Tätern, die im Bereich der
Kinderpornografie ihre „Täterkarriere“ beginnen, einen
durchaus sinnvollen Ansatz – eine Ordnung in der Struk-
tur in der Maßregel, was eine therapeutische Behandlung
als Auflage in einem Urteil angeht –, um zu Ergebnissen
zu kommen und weiterhin einen präventiven Schutz zu
gewährleisten.

Ausgehend von der Frage, die ich aufgeworfen habe,
sind das mögliche Antworten. Viele andere Ansätze sind
heute genannt worden. Es liegt eine Diskussion vor uns,
die von den Ergebnissen des runden Tisches wesentlich
beeinflusst werden wird. Ich glaube, wir alle haben die
Ernsthaftigkeit, um am Ende die richtigen Entscheidun-
gen zu treffen, um auf die Frage, wie wir den Miss-
brauch von Kindern erfolgreich bekämpfen, eine gute
Antwort zu geben.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703411600

Ekin Deligöz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703411700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Missbrauch von Kindern, insbesondere in Institutio-
nen, ist ein abscheuliches Verbrechen. Darin sind wir uns
einig. Wir dürfen das nicht bagatellisieren. Wir dürfen
das nicht verharmlosen, indem wir sagen: Das gab es
schon immer und wird es auch immer geben. Ich glaube,
auch darin sind wir einer Meinung. Das Parlament steht
in der Mitverantwortung, wenn es darum geht, Kinder zu
schützen. Auch darin wäre ich gerne mit Ihnen einer
Meinung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wenn man in den vergangenen Tagen und Wochen die
Berichterstattung der Medien verfolgt hat, konnte man
das nicht wirklich herauslesen. Was haben die zuständi-
gen Ministerinnen dazu beigetragen? An dem Punkt, an
dem man geradezu erpicht darauf war, zu handeln, die
Dinge beim Namen zu nennen, nichts zu vertuschen und
schonungslos aufzuklären, haben uns die Medien ein
Schauspiel von drei Ministerinnen, von drei – Zitat –
„starken Frauen“ geliefert. Das war ein Schauspiel, in
dem sie sich gezankt haben, in dem sie Zwistigkeiten
hatten und in dem nicht klar war, wer welche Kompeten-
zen hat. Sie haben Parteipolitik gemacht. Sie haben Res-
sortinteressen vertreten. Sie haben einzelne Interessen-
gruppen geschützt und gedeckt. Sie haben uns ein
Schauspiel geliefert, und Sie haben sich nicht den drän-
genden Fragen gestellt. Das müssen Sie sich vorwerfen
lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Leutheusser-Schnarrenberger, vieles von dem,
was Sie gesagt haben, habe ich sehr geschätzt. Aber
wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: „Wir ho-
len uns Anregungen vom runden Tisch“, dann sage ich
Ihnen: Sie waren doch schon einmal viel weiter. Sie wa-
ren auch bei Ihren Forderungen schon viel weiter. Wa-
rum stehen Sie nicht dazu? Sie haben doch schon einmal
genau das Richtige gefordert. Sie haben gesagt: Wir
brauchen eine Aufarbeitung der Verbrechen. Das brau-
chen wir. Dafür reicht ein runder Tisch aber nicht aus.
Wir brauchen unabhängige Stellen. Auch das haben Sie
einmal gefordert. Stehen Sie doch dazu. Das ist richtig.
Wie soll denn der runde Tisch funktionieren? An einem
runden Tisch, ohne klare Kompetenzen, sollen sich die
Betroffenen selbst analysieren und sich selbst kritisie-
ren? Sie sollen selbst schauen, was bei ihnen in die Brü-
che gegangen ist, was bei ihnen falschgelaufen ist? Das
wissen Sie doch. Sie waren doch schon viel weiter. Set-
zen Sie sich doch durch. Lassen Sie sich doch nicht ein-
lullen von Ihren Kollegen, und lassen Sie sich auch nicht
einreden, ein runder Tisch sei der richtige Ort, um so et-
was aufzuarbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen diese Anregungen nicht. Wir brauchen
eine schonungslose Aufklärung. Wir müssen herausbe-
kommen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass
so etwas passiert ist, welche Umstände dazu geführt ha-
ben, welche Rahmenbedingungen das ermöglicht haben
und was wir tun können, damit so etwas in Zukunft in
dieser Form nicht wieder vorkommt; denn wir brauchen
mehr als Aufklärung.

Es ist immer noch nicht ganz klar, was Sie mit dem
runden Tisch erreichen wollen. Einen Rechercheauftrag
gibt es nicht. Einen Analyseauftrag, einen Ermittlungs-
auftrag gibt es nicht. Es ist überhaupt nicht klar, wer was
wie veröffentlichen soll oder wird.

Noch eines ist anzumerken, wenn man nach vorne
schaut – das sage ich gerade der CDU/CSU-Fraktion, die
immer gesagt hat: „Kinderrechte sind in der Verfassung
schon verankert. Deshalb brauchen wir sie nicht noch
einmal aufzunehmen“ –: Nehmen Sie diesen Auftrag
ernst, und sagen Sie, dass es hier auch um Kinderrechte
geht, dass wir das in den Vordergrund stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])






Ekin Deligöz


(A) (C)



(D)(B)

Dann agieren Sie doch auch so. Nehmen Sie sich selbst
beim Wort. Davon ist leider nichts, aber auch gar nichts
zu spüren.

Frau Schröder, Sie sagen, dass es keine Schutzräume
für Pädophile geben soll. Konkretisieren Sie das: Was
meinen Sie damit? Wie soll das aussehen? Wie wollen
Sie das verhindern? Was sind Ihre Antworten? Sagen Sie
uns nicht Sachen, die sowieso jeder weiß und jeder
kennt. Sagen Sie uns, wie Ihre Vorstellung aussieht, wie
Sie handeln wollen. Wir wollen Sie handeln sehen. Wir
wollen Sie nicht nur reden hören. Wir wollen auch nicht,
dass Sie lavieren. An diesem Punkt haben wir die Ver-
antwortung, im Parlament und in der Regierung.

Wir lassen viele Opferverbände alleine. Wir können
nicht nur die Charité unterstützen, sondern müssen auch
Wildwasser und Zartbitter unterstützen. Das sind viele
Frauen, die Tag für Tag mit den Opfern arbeiten. Auch
sie kommen in unseren Debatten nicht vor.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Kinderschutzbund!)


Auch Kinderschutzbund und Kinderschutzhäuser müs-
sen Sie einbeziehen. Sie fühlen sich im Moment allein-
gelassen. Sie fühlen sich im Stich gelassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unser Auftrag lautet: schonungslose Aufklärung und
konsequenter Schutz von Kindern, und das ohne Wenn
und Aber, ohne Lavieren, nicht mit unverbindlichen run-
den Tischen, sondern mit einem klaren Handlungsauf-
trag. Das fordern wir von Ihnen ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703411800

Die Kollegin Dorothee Bär hat jetzt das Wort für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1703411900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute
eine Aktuelle Stunde, der es meines Erachtens nicht an
Ernsthaftigkeit gefehlt hat – egal wer ans Rednerpult ge-
treten ist, ob Herr Scholz, Frau Golze oder Frau
Rupprecht. Auch die Beiträge der Kolleginnen und Kol-
legen von den Oppositionsfraktionen waren sehr kon-
struktiv.

Deswegen verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum
Sie, Frau Künast und Frau Deligöz, so viel Redezeit da-
für verwenden, zu sagen, was Sie alles nicht in Ordnung
finden, warum Sie meinen, die Ministerinnen an dieser
Stelle vorführen zu müssen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es einen Anlass dafür gibt! Machen Sie es besser!)


Die Debatte ist dafür viel zu ernst. Ich würde mich
freuen, wenn die Grünen bei diesem Thema gemeinsam
mit allen Fraktionen im Bundestag an einem Strang zie-
hen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seitdem der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin an
die Öffentlichkeit gegangen ist – das ist auch von Minis-
terin Schröder angesprochen worden –, vergeht kein
Tag, an dem nicht weitere Fälle bekannt werden, in de-
nen Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Es
ist wichtig, in dieser Debatte anzusprechen, dass nicht
eine einzelne Gruppierung dafür verantwortlich ist.
Diese Misshandlungen, dieser Missbrauch, diese unter-
lassene Hilfe für die Opfer findet nicht nur in kirchlichen
Einrichtungen statt, sondern auch in weltlichen, in Inter-
naten, in Schulen, in Sportvereinen, und leider Gottes
eben auch in Familien.

Es ist auch angesprochen worden, dass diese Taten,
die hier jetzt ans Tageslicht kommen, schon sehr viele
Jahre zurückliegen, weil die meisten Opfer aus Scham
geschwiegen haben. Diejenigen, die gesprochen haben,
haben oft sehr schnell wieder geschwiegen, weil ihnen in
vielen Fällen nicht geglaubt wurde. Durch dieses
Schweigen und Wegsehen wurde großes menschliches
Leid verursacht. Aus falsch verstandener Sorge um den
Ruf der Schule, des Vereins, der Kirche, aber auch aus
Angst vor Skandalen hat man die Opfer alleingelassen.

Ich bin sehr dankbar, dass das Verschweigen und
Wegsehen ein Ende hat und dass eine Enttabuisierung
stattfindet, und zwar so, dass sich jedes Opfer melden
und sagen kann, dass es ihm passiert ist, ohne damit
rechnen zu müssen, in eine Ecke gestellt und mit komi-
schen Begriffen tituliert zu werden, leider Gottes auch
vor Gericht. Diese Enttabuisierung findet endlich statt.

Frau Künast, wenn Sie die Ministerin kritisieren und
sagen, sie hätte hier eine eigene Regierungserklärung ab-
geben müssen, dann müssen Sie doch feststellen, dass
sogar die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung
auf das Thema Bezug genommen und zum Thema Miss-
brauch Stellung genommen hat. Ich denke, höher ange-
siedelt als bei der Bundeskanzlerin ist das in diesem
Land nicht möglich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas tun! Nicht nur einen Satz sagen, der Papst sei gut!)


Die Bundeskanzlerin hat gesagt – ich zitiere –: Klarheit
und Wahrheit sind das, was die Opfer, aber auch die Ge-
sellschaft als Ganzes brauchen. – Nur so können Über-
griffe in der Zukunft verhindert werden.

Wir alle wissen, dass es besonders perfide ist, dass es
in der Regel Vertraute sind, die die Opfer angreifen. Es
sind Lehrer, es sind Sporttrainer, es sind Chorleiter, nahe
Verwandte und Bekannte. Mit dieser Tat werden nicht
nur die Körper zerstört, sondern auch das Vertrauen, die
Unbeschwertheit, die Unbefangenheit und das ganze Le-
ben dieser Kinder. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt
diese Transparenz und Offenheit haben. Die Idee der
Bundesregierung – die drei Ministerinnen wurden ange-





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

sprochen –, einen runden Tisch zu installieren, ist gut.
Ich begrüße das sehr.

Wir müssen den Opfern natürlich auch materiell hel-
fen – Schmerzensgeld ist angesprochen worden –, aber
Geld ist nicht das Einzige, und mit Geld kann kein Leid
aufgewogen werden. Aber oft ist es so – auch das muss
man hier feststellen –, dass die Berufsbiografien von Op-
fern, die sich nach Jahren oder Jahrzehnten melden, so
zerstört sind, dass Geld wichtig ist, damit sie sich bei-
spielsweise durch Fortbildungen oder Weiterbildungen
die Möglichkeit schaffen können, eine neue berufliche
Existenz aufzubauen. Das erleben wir sehr oft.

Wir müssen natürlich die Kinder sehr starkmachen;
das ist klar. Die Verbesserung der Möglichkeiten für Op-
fer, sich jemandem anzuvertrauen, ist angesprochen
worden. An dieser Stelle muss eine stärkere Sensibilisie-
rung stattfinden, sodass hauptamtliche und ehrenamtli-
che Mitarbeiter fortgebildet werden und dass über Stra-
tegien gesprochen wird. Wir brauchen natürlich auch
Rahmenbedingungen, die es den Tätern erschweren,
neue Opfer zu finden. Deswegen müssen zunächst die
Berufe, aber auch die Ehrenämter identifiziert werden,
bei denen potenzielle Täter sehr nah an Opfer herankom-
men. Wir haben schon über das erweiterte Führungs-
zeugnis für den Bereich Jugend- und Bildungsarbeit ge-
sprochen, das künftig zur Pflicht werden soll, damit ein
auffällig gewordener Lehrer, Übungsleiter oder Trainer
keine weitere Anstellung bekommt, bei der er mit Kin-
dern und Jugendlichen arbeitet.

Dass die Taten jetzt öffentlich werden, hat den positi-
ven Nebeneffekt, dass jetzt mehr Opfer den Mut fassen
– deswegen werden jetzt jeden Tag neue Fälle bekannt –,
sich zu melden. Alle haben realisiert, dass es sich nicht
um Einzelfälle handelt, sondern um ein Kartell des Weg-
schauens, des Schweigens und des Bagatellisierens, das
diesen Missbrauch über viele Jahre erst ermöglicht hat.

Der runde Tisch ist wichtig und richtig, auch auf-
grund der aktuellen Debatte. Meiner Kollegin Miriam
Gruß und mir ist es auch ganz wichtig – an dieser Stelle
sind wir Koalitionsfraktionen uns einig –, dass wir paral-
lel dazu weiter mit Hochdruck, wie versprochen, am
Kinderschutzgesetz arbeiten. Auch das ist zum Teil der
aktuellen Debatte geschuldet. Nichts darf unversucht
bleiben, um im Vorfeld präventiv so tätig zu sein, dass
wir in Zukunft nicht mehr so viel mit Aufarbeitung zu
tun haben werden. Wir wollen verhindern, dass so viele
Fälle überhaupt stattfinden können. Das ist ein ganz
wichtiger Schritt.

Herr Scholz hat bereits das Thema Verjährungsfristen
angesprochen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703412000

Frau Kollegin.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1703412100

Ich weiß; das ist der letzte Satz. – Herr Scholz, über

die Verjährungsfristen sollten wir uns wirklich in Ruhe
unterhalten, weil bei vielen Betroffenen oft noch nach
20 Jahren keine Bereitschaft besteht, etwas aus ihrer
Kindheit preiszugeben. Oft kommt der Missbrauch erst
wesentlich später als nach 20 Jahren heraus. Ich habe in
meinem eigenen Wahlkreis erlebt, dass manche Opfer
erst nach 30 Jahren in der Lage sind, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703412200

Frau Kollegin!


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1703412300

– über den Missbrauch zu sprechen. Ich finde es gut,

dass wir alle Fraktionen an unserer Seite haben, wenn
wir uns dieses Themas annehmen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703412400

Die Kollegin Sonja Amalie Steffen hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1703412500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine ungeheure, ja
eine ungeheuerliche Zahl von Missbrauchsfällen in ka-
tholischen Einrichtungen, Klöstern, Schulen, Chören ist
bekannt geworden, der Strom der schlechten Nachrich-
ten reißt nicht ab, und auch ehemalige Schüler einer re-
formpädagogischen Schule sind betroffen.

Hinter den nun aufgedeckten Missbrauchsfällen ste-
hen Einzelschicksale, die alle eines gemeinsam haben
– das ist vorhin schon angesprochen worden –: Alle Tä-
ter kamen über die Strenge und die Autorität zu ihren Ta-
ten. Zuerst wurde die hierarchische Stellung benutzt, um
die Integrität der Kinderkörper durch Schlagen und
Züchtigen zu verletzen, dann durch sexuellen Miss-
brauch. Die Hand, die schlug, wurde zur Hand, die strei-
chelte, wo sie wollte, und sich griff, was ihr beliebte.
Schließlich wurde sie zur Hand, die Jahre, oft sogar Jahr-
zehnte Vorwürfe abwehrte.

In der Vergangenheit haben wir gerade im Sexual-
strafrecht bedeutende Erfolge erzielt. Diese Erfolge sind
zum größten Teil der rot-grünen Regierung zu verdan-
ken. Mit der 2004 in Kraft getretenen Gesetzesnovelle
wurden bereits erhebliche Strafverschärfungen im Be-
reich der sexuellen Gewalt gegen Kinder und gegen wi-
derstandsunfähige Personen beschlossen.

Aus der Praxis wissen wir jedoch, dass es oft sehr
lange dauert, bis Missbrauchsopfer in der Lage sind, die
Straftat anzuzeigen; die aktuellen Fälle machen dies er-
neut auf schockierende Art und Weise deutlich. Erst
wenn die Opfer über das Geschehene reden, in Therapie
gehen und verdrängte Bilder zulassen, kommen viele zu
dem Schluss, dass der Missbrauch geahndet werden
muss.

In Ländern wie Kanada oder Großbritannien müssen
Sexualstraftäter mit lebenslanger Strafverfolgung rech-
nen. Rechtsanwälte und Opferschutzorganisationen in
diesen Ländern stellen eine erhebliche Verbesserung der





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)

Strafverfolgung fest, auch deshalb, weil der Zeitdruck
bei der Beweisbeschaffung wegfällt.

Auch im deutschen Strafrecht ist eine Korrektur der
regelmäßigen Verjährungsfrist bei sexuellem Miss-
brauch geboten. Nach unserem gegenwärtigen Recht
ruht die Verjährung bei Sexualstraftaten, bis das Opfer
18 Jahre alt geworden ist; das ist, wie ich denke, eine
Reform, die wirklich sehr gut war. Jedoch ist die Zeit,
die dem Opfer dann bleibt, um die Straftat zur Anzeige
zu bringen, zu kurz; das haben wir in den aktuellen Fäl-
len erneut feststellen müssen. Sie beträgt bei Missbrauch
von Jugendlichen nur fünf Jahre und bei Missbrauch von
Kindern unter 14 Jahren zehn Jahre. Das bedeutet, dass
die jugendlichen Opfer mit ihrer Anzeige schon im Alter
von 24 Jahren zu spät kommen, die Opfer, die als Kinder
missbraucht wurden, bereits mit 29 Jahren. Hier ist eine
Verlängerung der Verjährungsfrist angezeigt.

Jedoch ist dieser Schritt allein nicht ausreichend. Be-
sonders wichtig ist es, den Opfern professionelle Hilfe
an die Hand zu geben, wenn sie sich nach Jahren der
Verzweiflung und des Verdrängens zur Anzeige ent-
schließen. Für zahlreiche Missbrauchsopfer werden die
langwierigen Verfahren mit Vernehmungen bei Gerich-
ten, bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft und
mit Glaubwürdigkeitsgutachten zur Tortur. Den Opfern
muss eine juristische und vor allem eine intensive psy-
chologische Unterstützung gewährt werden.

Der runde Tisch, der am 23. April seine Arbeit auf-
nehmen wird, ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Auf-
deckung von sexuellem Missbrauch und zur Verstärkung
der Präventionsmaßnahmen. Es wird sich jedoch nicht
am runden Tisch allein entscheiden, wie Deutschland
künftig mit Missbrauch umgeht. Die Tische, auf die es
ankommt, sind eckig. Sie stehen in Schulen, in Vereins-
büros, in Jugendklubs, in Esszimmern, in Küchen und in
Kneipen. Wie oft an diesen Tischen den Kindern zuge-
hört und den Tätern Nein gesagt wird, davon hängt alles
ab. Dass die Dunkelziffer bei Taten, die sich zu
90 Prozent im sozialen Nahbereich der Opfer abspielen,
besonders hoch ist, verwundert nicht; das wissen wir
alle.

Die Hamburger Initiative gegen sexuelle Gewalt an
Kindern hat ermittelt, dass ein Kind bis zu sieben Perso-
nen ansprechen muss, bevor ihm geholfen wird. Es muss
daher auch darüber nachgedacht werden, ob die Mittä-
terschaft derjenigen, die wissen, schweigen und die Tä-
ter oftmals sogar noch decken, nicht stärker unter den
strafrechtlichen Fokus genommen werden soll.

Im Kampf gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch
von Kindern und Jugendlichen kommt es darüber hinaus
entscheidend darauf an, den Kindern auf breiter Ebene
neutrale Vertrauenspersonen in den Schulen, Internaten
und Vereinen, aber auch als neutrale Anlaufstelle außer-
halb dieser Einrichtungen zur Seite zu stellen, die ihre
Sprache sprechen, ihnen zuhören und helfen.

Besonders begrüße ich an dieser Stelle, dass mit
Christine Bergmann eine im Kampf gegen den Miss-
brauch sehr erfahrene Sozialdemokratin von der Bundes-
regierung zur Missbrauchsbeauftragten bestimmt wurde.


(Beifall bei der SPD)

Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder stark zu machen.
Wir müssen alles dafür tun, dass dieses Engagement auf
eine breite gesellschaftliche Basis gestellt wird. Denn es
ist zu bedenken: Die Opfer sexueller Gewalt bekommen
immer lebenslänglich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703412600

Frau Steffen, für Sie war das die erste Rede hier im

Plenum. Dazu gratulieren wir Ihnen alle ganz herzlich
und wünschen viel Erfolg für die weitere Arbeit.


(Beifall)


Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1703412700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Taten,
über die wir heute sprechen, sind wirklich erschütternd.
Die Fallzahlen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen,
machen uns sehr betroffen. Solche Taten verletzen die
Würde, die Integrität, die körperliche und seelische Ge-
sundheit der Opfer. Sie bekommen in der Tat lebensläng-
lich. Die Verarbeitung solcher Taten dauert Jahre, und
oft hört das Leid, das dadurch verursacht wurde, niemals
auf.

Deshalb müssen wir uns hier die Frage stellen, wie
wir damit umgehen und welche Konsequenzen wir zie-
hen. Mir ist wichtig, an den Anfang zu stellen, dass bei
der Erarbeitung möglicher Konsequenzen die Perspek-
tive der Opfer in den Vordergrund gestellt werden muss.
Die möglichen Konsequenzen müssen außerdem auf ihre
Wirksamkeit geprüft werden. Es geht nicht vorrangig da-
rum, Täter zu schützen und sie zu therapieren. Man muss
die Sicht der Opfer berücksichtigen, wenn es darum
geht, herauszufinden, was nötig ist.

Es geht um Aufarbeitung, um Aufklärung, um Bestra-
fung der Täter. Es geht aber auch um Schadensersatz
nach dem Zivilrecht. Einerseits geht es um Geld, das hel-
fen kann, Therapien zu finanzieren. Andererseits ist da-
mit auch eine Genugtuungswirkung verbunden, da der
Täter an dieser Stelle noch einmal zur Verantwortung ge-
zogen wird. Wir brauchen darüber hinaus Veränderun-
gen in den Einrichtungen, bei den Trägern. Wir brauchen
Hilfe für Menschen mit pädophilen Neigungen; das ist
hier bereits erwähnt worden. Wir müssen bei den Kin-
dern ansetzen, sie sensibilisieren und sie starkmachen,
sodass sie sich trauen, Nein zu sagen, und sich wehren
können, aber auch sich äußern können, wenn etwas pas-
siert ist, und sich gegen weitere Übergriffe wehren kön-
nen.

Ich empfehle, bei den Dingen anzusetzen, die in unse-
rem Handlungsbereich liegen. Bereits angesprochen
wurden die Änderungen im strafrechtlichen Bereich.





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

Sinnvoll ist zum Beispiel die Verlängerung der Verjäh-
rungsfrist; denn eine dreijährige Verjährung ab dem
21. Geburtstag bei zivilrechtlichen Ansprüchen ist zu
kurz. Wir erleben aufgrund der bekannt gewordenen
Fälle gerade jetzt, dass das Bewusstsein, dass einem
massives Unrecht angetan worden ist, und die Fähigkeit,
darüber zu reden, manchmal erst später eintreten. Die
Opfer können meist erst in einem fortgeschritteneren Al-
ter darüber sprechen, da die Verletzung so tief liegt. Dies
soll nicht den Täter vor Strafe oder vor zivilrechtlicher
Verfolgung schützen. Wir brauchen vielmehr einen
Schutzraum für die Opfer. Deshalb müssen wir prüfen,
was wir in Bezug auf die Verjährungsfristen tun können.

Auch hinsichtlich der Straftatbestände gibt es Wer-
tungswidersprüche. Selbst wenn man das flüchtige Be-
rühren über der Kleidung nicht dramatisieren muss, kann
man Wertungswidersprüche nicht stehen lassen. Sexu-
elle Nötigung bei Erwachsenen stellt ein Verbrechen dar.
Eine vergleichbare Tat kann im Grundtatbestand bei
Kindern nicht nur als Vergehen bewertet werden.

Wir müssen näher an die Kinder herankommen. Wir
müssen ihnen Ansprechpartner in ihrem Umfeld zur Ver-
fügung stellen, zu denen sie Vertrauen aufbauen können.
Das geht aber natürlich nicht per Dekret. Gerade dies ist
Aufgabe des runden Tisches. Er ist unter anderem sinn-
voll, weil man dort mit den betroffenen Institutionen da-
rüber sprechen kann, welche strukturellen Veränderun-
gen helfen, damit Kinder genau dieses Angebot
vorfinden können.

Meine Damen und Herren, es sind schon viele As-
pekte angesprochen worden. Ich möchte nicht alles wie-
derholen, aber noch einmal darauf eingehen, welche
Strukturen wir vielleicht verändern müssen, wie wir da
herangehen müssen, und da beginnen mit einer Einschät-
zung von Zartbitter Köln, nämlich dass es tatsächlich ei-
nen Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit von
sexuellem Missbrauch und der Struktur einer Organisa-
tion.

Offene, klar organisierte Strukturen, ein Mitsprache-
recht, Möglichkeiten, sich zu beschweren, helfen gegen
Missbrauchsanfälligkeit. Wenn die Persönlichkeit des
Kindes ernst genommen wird, wenn – das ist nicht wirk-
lich überraschend – nicht zu viel Autorität herrscht, aber
auch kein diffuses Laisser-faire – damit zitiere ich die
Leiterin von Zartbitter Köln –, wird Missbrauch nicht
begünstigt. In beiden Extremen ist den Kindern nicht ge-
holfen. Demokratische, offene, klare Strukturen sind
das, was hilft. Das muss der Maßstab sein für alle Struk-
turveränderungen, die in Institutionen diskutiert und in
Angriff genommen werden.

Erschreckend ist, dass anscheinend auch ein hoher
moralischer Anspruch nicht davor schützt, dass Miss-
brauch passiert, sondern ihn sogar noch schlimmer ma-
chen kann. Ich möchte aber auch betonen, dass es bei
dem moralischen Anspruch, mit dem die Institutionen
– die Reformpädagogen, aber auch die Kirchen – wir-
ken, gerade darum geht, das Wohl des Menschen, das
Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu rücken. Die An-
liegen dieser Institutionen, auch die Glaubensbotschaft,
dürfen nicht insgesamt dadurch diskreditiert werden,
dass in ihren Einrichtungen Taten begangen worden
sind, die Missbrauch darstellen.

Ich schließe mich hier Heiner Geißler an, der mit sei-
ner Kritik an den Strukturen ja nicht gerade zimperlich
ist. Er hat aber auch ganz klar gesagt: Aus seiner Erfah-
rung als Jesuitenschüler sind die Vorfälle in den Orden
keine typischen Vorfälle. Die kirchliche Botschaft besagt
ganz klar: Wer einem Kind etwas antut, der wäre besser
mit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenkt
worden.

Deshalb glaube ich der Kirche und nehme es ernst,
wenn sie jetzt sagt, dass sie neue Leitlinien entwickeln
will, die verhindern, dass es zu Missbrauch kommt, die
verhindern, dass verdeckt wird, die verhindern, dass der
Täter geschützt wird. Genau das ist der Sinn des runden
Tisches.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703412800

Frau Kollegin.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1703412900

Ich wünsche den drei Ministerinnen viel Glück. Ich

denke, dieser runde Tisch ist der richtige Rahmen, um
darüber zu sprechen, wie man die inneren Strukturen so
verändern kann, dass man den Kindern tatsächlich hel-
fen kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703413000

Die Kollegin Michaela Noll hat jetzt das Wort für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1703413100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegen! Die Kollegin Künast ist gegan-
gen, und das ist auch nicht schlimm; man hat sie entspre-
chend entschuldigt. Ich will dennoch sagen, dass ich ih-
ren Vorwurf, wir reagierten mit Schnellschüssen, nicht
angebracht fand.

Ich bin sehr dankbar, dass wir heute diese Debatte
führen. Ich mache den Grünen an dieser Stelle aber den
Vorwurf, dass sie das Thema einengen auf sexuellen
Missbrauch in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen.
Es ist zwar richtig, dass gerade vermehrt Fälle von Miss-
brauch in solchen Einrichtungen ans Licht kommen;
aber es gibt jährlich circa 20 000 Fälle von Missbrauch.
Missbrauch findet überall statt.

Was glauben Sie, was Opfer von sexuellem Miss-
brauch denken, die diese Aktuelle Stunde verfolgen?
Viele Opfer werden sich fragen: Warum wird nicht auch
über Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie ge-
sprochen?

Ich finde es wichtig, zu betonen, dass es uns darum
gehen muss, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Wir





Michaela Noll


(A) (C)



(D)(B)

haben auch im Familienausschuss darüber gesprochen:
94 Prozent der Täter kommen aus dem unmittelbaren so-
zialen Nahfeld, das heißt, aus dem Familien-, Bekann-
ten-, Verwandtenkreis. Nur 6 Prozent der Täter sind
Fremde. Ich glaube, es wäre hilfreicher gewesen, wenn
Sie das Thema weitergefasst hätten.

Wir müssen Lösungen finden, um Missbrauch zu ver-
hindern, egal wann und wo er stattfindet. Meiner Mei-
nung nach wäre es wichtig, die Opfer in den Fokus zu
nehmen. Deswegen bin ich den Ministerinnen dankbar,
dass sie diesen runden Tisch eingerichtet haben. Das
zeigt, dass sie einen breiten Lösungsansatz suchen.

Viele Kollegen haben schon von Veränderungen im
Strafrecht gesprochen. Dafür werden wir sorgen. Es
müssen aber vielleicht auch die zivilrechtlichen Vor-
schriften geändert werden. Ich bin hier relativ nah auch
bei Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger; denn wir
haben doch eben davon gesprochen: Opfer schaffen es
oft nicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie brauchen Jahre,
um sich zu öffnen und zu sagen, was passiert ist. Die
Verjährungsfrist beträgt aber nur drei Jahre.

Es gibt Momente, in denen man sich freut, wenn man
morgens die Zeitung liest. Der Fuldaer Bischof hat ge-
sagt, er rege an, dass die Kirche über eine freiwillige
Entschädigung nachdenkt. Ich glaube, das wäre wirklich
einmal eine vertrauensbildende Maßnahme für die Kin-
der, die in den Einrichtungen zu Schaden gekommen
sind. Ich würde das begrüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Genauso sollten wir darüber nachdenken, wie wir das
Schweigen der Täter und der Opfer durchbrechen kön-
nen. Es ist hier mittlerweile meine dritte Legislaturperi-
ode. Schon in der ersten habe ich mich vehement für
„Opferschutz vor Täterschutz“ eingesetzt und von dem
Mainzer Modell gesprochen. Das Mainzer Modell be-
sagt, dass ein Kind dann, wenn es zum Strafprozess
kommt, dem Täter im Verfahren nicht noch einmal ge-
genübersitzen muss, sondern über eine Videokamera
vernommen werden kann. Dadurch wird das Kind ent-
lastet, und das Kind wird nicht erneut zum Opfer.

Sie haben das damals unter Rot-Grün zulasten der
Kinder aber abgelehnt. Das fand ich bitter. In der Großen
Koalition haben wir die Videovernehmung dann zuge-
lassen und das 2. Opferrechtsreformgesetz auf den Weg
gebracht. Ich glaube, das war ein ausgesprochen wichti-
ger Schritt.

Wir müssen – vor allem als Familienpolitiker – die
Kinder starkmachen, sodass die Kinder selbstbewusst
sind; denn die Täter suchen keine Gegner, die Täter su-
chen Opfer. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Kin-
der dahin gehend stärken, dass sie vielleicht auch bei ih-
ren eigenen Eltern „nein“ sagen.

Ich nenne auch das Projekt, das der Kollege Ahrendt
vorgeschlagen hat, „Kein Opfer werden“. Genauso ha-
ben Sie auch in der Presse angesprochen, dass die Thera-
pieplätze in der Charité weiter ausgebaut werden müs-
sen. Hier bin ich ganz bei Ihnen. Das halte ich für
ausgesprochen wichtig. Man sollte vielleicht auch über
eine Therapiepflicht von Sexualverbrechern nachden-
ken. Auch das halte ich für wichtig.

Jetzt muss ich aber leider einmal mit den Grünen ab-
rechnen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gar keine Zeit mehr dazu! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zeit ist schon um!)


– Nein, die habe ich schon, nämlich 1 Minute und
17 Sekunden. – Kollegin Künast sprach: Die Kinder
brauchen Schutz, aber nicht der Papst. Frau Künast
appellierte an die moralische Pflicht. Sie sagte auch
noch – –


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen verstecken;
denn ich hatte das Glück, vor zwei Tagen das Morgen-
magazin zu sehen. Ihre Kollegin war dort zu Gast und
wurde auf den Programmparteitag 1985 angesprochen.
Das machte mich neugierig. Also habe ich angefangen
zu forschen.

Jetzt kurz zur Erinnerung: Die Grünen sagten damals,
Sex mit Kindern sei für beide Teile – so wörtlich – ange-
nehm, produktiv, entwicklungsfördernd, kurz: positiv.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nicht das Thema! – Christine Lambrecht [SPD]: Das ist doch zu billig für so ein Thema!)


Es sei nicht hinzunehmen, dass Erwachsene, die sexuelle
Wünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen
und liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten, mit
Gefängnis von bis zu zehn Jahren bedroht werden.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch niveaulos! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Propaganda!)


– Nein, das hat nichts mit Propaganda zu tun. Ich finde
einfach nur im Ganzen, Sie hätten das gar nicht themati-
sieren müssen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben 2010!)


Sie werfen uns vor, dass wir keine Schnellschüsse
machen. Ich bitte Sie um eines: Bevor Sie uns und die
Regierung auffordern, aufzuklären, klären Sie die Wäh-
ler in NRW darüber auf, was Sie tatsächlich wollen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Dieser Beitrag spricht für sich! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bodenlos! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie sich einmal kundig!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703413200

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich schließe die Aus-

sprache.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines

… Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes

– Drucksache 17/1147 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Solarstromförderung wirksam ausgestalten
– Drucksache 17/1144 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen. – Vielleicht kann die Fortsetzung der vorheri-
gen Debatte woanders stattfinden.

Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin
Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1703413300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bundesumweltminister Röttgen hat gestern neue Zahlen
über die Entwicklung der erneuerbaren Energien vorge-
legt. 2009 machten die Erneuerbaren 10 Prozent des Ge-
samtenergieverbrauchs aus. Der Anteil am Stromver-
brauch steigerte sich auf 16 Prozent, und es ließ sich ein
deutlicher Zuwachs des Zubaus im Bereich Biogas-, Fo-
tovoltaik- und Windenergieanlagen verzeichnen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das war die VorRöttgen-Zeit!)


Die Investitionssumme ist auf insgesamt 17,7 Milliarden
Euro angestiegen. Die Zahl der Beschäftigten stieg auf
300 000 an. Das sind 8 Prozent mehr als im Vorjahr.
Man kann tatsächlich zu Recht sagen: Die Erneuerbaren
haben sich als der Stabilitätsanker in Zeiten der Krise er-
wiesen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Damit ist das, was im Koalitionsvertrag beschrieben
wird, nämlich der Weg in das regenerative Zeitalter,
nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern er bie-
tet vielmehr gewaltige Potenziale für Innovation, Wachs-
tum und Beschäftigung beim Umbau unseres Energie-
systems.

Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun Aufträge
erteilt hat, die Grundlagen für das Energiekonzept durch
Forschungsinstitute errechnen zu lassen, damit wir eine
Grundlage für die politische Entscheidung haben, wie
der dynamische Energiemix der Zukunft aussehen soll,
in dem die konventionellen Energieträger mehr und
mehr durch regenerative Energien ersetzt werden sollen.

Im Energiemix der Zukunft wird Fotovoltaik eine
sehr, sehr wichtige Rolle spielen. Wir wollen Fotovoltaik
weiter ausbauen. Das zeigt sich auch daran, dass wir den
Zielkorridor für den jährlichen Zuwachs nahezu verdop-
pelt haben, nämlich auf 3 000 Megawatt im Jahr. Das ist
ein echtes Wort.

Aber jetzt ist es wichtig, die Akzeptanz für die Foto-
voltaik in der Bevölkerung auf dem hohen Niveau zu er-
halten, auf dem sie schon jetzt besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn von nichts kommt nichts: Natürlich fallen Kos-
ten für den Ausbau der Erneuerbaren an. 2009 betrugen
sie 1,1 Cent pro Kilowattstunde. In 2010, in diesem Jahr,
werden sie vermutlich 2 Cent pro Kilowattstunde errei-
chen. Das sind immerhin 6 Euro pro Monat für einen
Durchschnittshaushalt – ein Betrag, dessen Höhe ohne
Zweifel erträglich ist, der aber erklärt werden muss. Und
es ist schwierig zu erklären, dass im Jahr 2008 der Strom
aus Fotovoltaik, deren Anteil am Stromverbrauch
5 Prozent beträgt, letztendlich 45 Prozent der Umlage
verursacht hat. Zweistellige Renditeerwartungen müssen
zumindest erklärt werden. Deshalb musste die Bundesre-
gierung und muss dieses Haus auf den Umstand reagie-
ren, dass in 2009 die Systempreise – das heißt, die Preise
für die Module plus Installationskosten – insgesamt
durchschnittlich um 30 Prozent gesunken sind. Für die-
ses Jahr erwartet man noch einmal einen Preisrückgang
von 10 Prozent. Das liegt daran, dass der spanische
Markt nahezu zusammengebrochen ist. Das liegt auch
daran, dass es einen gewaltigen Zubau an Produktions-
kapazitäten gegeben hat. Deshalb müssen wir jetzt mo-
derat umsteuern. Genau das wollen wir mit der Novelle
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen die Vergütung der Preisentwicklung anpas-
sen, und zwar durch zusätzliche Degressionsschritte
zwischen 11 und 16 Prozent.

In der Fotovoltaiknovelle wollen wir einen weiteren
Komplex angehen, und zwar das Thema der Flächen-
konkurrenz. Darüber haben wir schon in ganz anderen
Zusammenhängen gesprochen, zum Beispiel im Zusam-
menhang mit Biokraftstoffen. Flächen, gerade Ackerflä-
chen, werden zur Produktion von Nahrungsmitteln und
Futtermitteln, aber eben auch von Rohstoffen zur ener-
getischen oder stofflichen Nutzung gebraucht. Wenn
dazu noch eine Nutzung durch Fotovoltaik kommt
– dazu ist es im letzten Jahr vermehrt gekommen –, dann





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

haben wir tatsächlich ein Problem, zu erklären, wie wir
diese unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten unter
ein Dach bekommen und dazu noch den Flächenver-
brauch, der im Moment bei 100 Hektar pro Tag liegt,
realistisch und schnell zurückfahren wollen. Deshalb
wollen wir die Nutzung auf Ackerflächen einschränken
und stattdessen viel stärker als bislang noch Konver-
sionsflächen in den Mittelpunkt der Nutzung durch Foto-
voltaik stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein dritter Punkt ist uns ganz wichtig, nämlich die
Förderung des Eigenverbrauchs: Wie bekommen wir es
hin, die Nachfrage dem volatilen Angebot anzupassen?
Das ist durch intelligente Haushaltsgeräte möglich, zum
Beispiel durch eine Waschmaschine oder Kühltruhe, die
zu laufen beginnen, wenn der Fotovoltaikstrom entspre-
chend produziert wird.

Wir hoffen aber auch, dadurch, dass wir den Eigen-
verbrauch so viel besserstellen als die Einspeisung ins
Netz, einen besonderen Anreiz für Innovationen im Be-
reich der Speichertechnologie zu schaffen und damit das
EEG nicht nur quantitativ auszubauen, sondern letztend-
lich auch qualitativ zu verändern. Ich glaube, dass wir
damit einen sehr interessanten und ausgesprochen not-
wendigen Weg einschlagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden im Rahmen der Diskussionen im Aus-
schuss insbesondere darauf Wert legen, Planungssicher-
heit zu gewährleisten, und zwar für die Investoren, die
bereits investiert haben und auf der Grundlage der beste-
henden gesetzlichen Regelung in finanzielle Vorleistung
gegangen sind, gerade wenn sie sich in längeren Pla-
nungsphasen befinden, weil für die Realisierung ihres
Projektes zum Beispiel Bebauungspläne erforderlich
sind. Das wird ein Hauptteil unserer Arbeit sein und si-
cherlich auch im Rahmen der Anhörung eine Rolle spie-
len.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen Sie mit
auf den Weg, das EEG qualitativ weiterzuentwickeln!
Ich freue mich auf unsere Diskussionen im Ausschuss.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703413400

Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1703413500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Das alles heute als qualita-
tive Weiterentwicklung zu verkaufen, ist ein netter Ver-
such. Für die qualitative Weiterentwicklung des EEG ist
zwar einiges zu tun, was Sie auch erwähnt haben, was
aber nicht Gegenstand der von Ihnen vorgesehenen Ge-
setzesänderung ist, um die es heute geht.
Einen Punkt will ich für die SPD-Fraktion ganz deut-
lich machen: Wir haben zu jeder Zeit gesagt, dass wir
auch die Akzeptanz dieses Gesetzes im Blick haben
müssen. Überförderungen dürfen nicht eintreten. Wir
müssen auf Überförderungen reagieren.

Wir haben 2009 – Frau Dr. Flachsbarth hat das ange-
sprochen – die Marktdynamik gerade beim Thema Foto-
voltaik aufgegriffen. In der Begründung zum Gesetz
heißt es, dass mit sinkenden Produktions- und Stromge-
stehungskosten zu rechnen ist. Deshalb wurden sowohl
die Degressionsschritte erhöht als auch der flexible Kor-
ridor oder atmende Deckel, wie er auch genannt wird,
eingeführt.

Das zeigt, dass wir schon darauf achten, wie sich der
Markt entwickelt. An der Marktentwicklung machen wir
fest, ob weitere Kürzungsschritte nötig sind oder ob die
Kürzungen geringer ausfallen können.

Entscheidend ist für mich eine einzige Frage: Wie er-
mittelt man verlässlich, was im Markt geht, und wie be-
gründet man das? An diese Frage will ich anknüpfen;
denn es ist der Hauptpunkt unserer Kritik. Die Vergü-
tungssätze werden immer wieder mit der schlechten
Preisentwicklung in Verbindung gebracht. Doch ange-
sichts der Preisentwicklung muss man zur Kenntnis neh-
men, dass Preisentwicklungen nicht nur von Kostensen-
kungspotenzialen abhängen, sondern dass insbesondere
im letzten Jahr auch der Zusammenbruch des spanischen
Marktes und die Wirtschaftskrise zu einem Absinken der
Modulpreise geführt haben. Das hing nicht nur mit dem
Kostensenkungspotenzial zusammen.

Wenn man das weiß und zur Kenntnis nimmt, dann
muss man sehr sorgfältig analysieren, wie viel künftig
im Markt möglich ist. An dieser Stelle gehen die Mei-
nungen weit auseinander. Sie, die Regierungsfraktionen,
schlagen uns 16 Prozent vor. Der Fachverband hat 5 Pro-
zent genannt.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Und die Verbraucherschützer?)


Die SPD hat bisher bewusst noch keine Zahl in die Welt
gesetzt, weil es uns wichtig ist, dass die Höhe nicht nach
Gemüt oder nach Stimmung, sondern so sachverständig
wie möglich ermittelt wird. Deshalb haben wir eine
Sachverständigenanhörung gefordert und werden nach
der Sachverständigenanhörung einen Vorschlag unter-
breiten, was geht.

Ich sage nur eine Hausnummer: Die Landesbank Ba-
den-Württemberg, die nicht im Verdacht steht, der SPD
nahezustehen, hat gesagt, dass sie alles über 10 Prozent
als gefährlich für die Branche ansieht, was den deut-
schen Markt angeht.

Wir haben versucht, beim Bundesminister in Erfah-
rung zu bringen, auf welcher Grundlage diese 16 Prozent
entstehen. Wir haben, wie gesagt, die Sachverständigen-
anhörung beantragt. Mittlerweile hat der Kollege Kelber
nach mehrfacher Rückfrage ein Gutachten bekommen,
das an mehreren Punkten bemerkenswert ist.

Erstens. Bisher haben Sie argumentiert, sie wollten
Preisentwicklungen der Vergangenheit aufnehmen, um





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

dann zu einer einmaligen zusätzlichen Absenkung zu
kommen. Das Zitat in dem Gutachten sagt etwas ande-
res. Da geht man davon aus, dass Erhebungen zufolge
für 2010 Preissenkungen von 10 bis 15 Prozent zu er-
warten sind. Dass man aufgrund einer Prognose für das
laufende Jahr bereits in das Gesetz eingreifen will, wi-
derspricht dem bisherigen Grundsatz der Degression,
wie wir ihn im Gesetz verankert haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Entscheidend ist aber auch die Frage, wo-
her diese 10 bis 15 Prozent kommen. Da unterstellt man,
dass in einer so wichtigen Frage Wissenschaftler, Wirt-
schaftsinstitute und wer auch immer gefragt wurden.
Wenn man dann liest, woher das kommt, staunt man: Es
ist eine Umfrage einer Zeitung. Auf der Grundlage von
Daten einer Zeitung kommt diese Regierung zu diesen
16 Prozent. Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, in ei-
ner so wichtigen Frage Ihre Entscheidung von Mei-
nungsumfragen einer Zeitung abhängig zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Welche Zeitung war das denn?)


– Photon. – Wir erwarten einfach, dass in diesen Fragen,
bei denen es auch um 50 000 Arbeitsplätze in diesem
Land geht, in der Tat eine breite wissenschaftliche Basis
Gegenstand der Kürzungsschritte ist.

Drittens. Diese Studie arbeitet, wie ich finde, nicht
ganz fair mit anderen Studien. Man sucht ganz geschickt
aus verschiedensten Studien Zahlen zusammen und ver-
mengt sie ein wenig, um dann zu dem Ergebnis zu kom-
men, das man – das behaupte ich – erreichen wollte. So
wird die BP-Studie zitiert. Man greift Modulkosten aus
dieser BP-Studie auf, argumentiert dann aber nicht im
Sinne dieser Studie zu Ende. Man sagt nur: BP sagt;
1 600 Euro bis 1 700 Euro sind zu erwarten; davon ge-
hen wir jetzt einmal aus. Unter dem Strich heißt das,
dass wir um 16 Prozent kürzen können. BP kommt zu ei-
nem ganz anderen Ende. BP sagt, wie ich vorhin ausge-
führt habe, dass die Preissenkungen des vergangenen
Jahres noch nicht durch Maßnahmen in den Unterneh-
men in dem Sinne umgesetzt werden konnten, dass sie
auch zu Kostensenkungen wurden, und kommt zu dem
Ergebnis, dass eine Kürzung über 10 Prozent den deut-
schen Markt nachhaltig beeinflussen würde. Das heißt,
dass deutsche Unternehmen massenhaft große Probleme
bekommen und wahrscheinlich sogar nicht mehr im
Weltmarkt konkurrenzfähig sind. Meine Damen und
Herren, ich habe einfach die Bitte: Wenn Sie solche Gut-
achten vorlegen, dann zitieren Sie fair und gehen Sie
auch auf die Ergebnisse und Argumente der anderen Stu-
dien ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das wird Thema der Anhörung!)


Ich will noch kurz auf Folgendes eingehen: Das Wirt-
schaftsministerium hat zu Recht festgestellt, dass die
Branche, also die PV-Industrie, ihre Rolle als weltweiter
Technologieführer sichern muss, indem sie an der Spitze
der Bewegung steht. Das heißt technologischer Fort-
schritt made in Germany als besonderes Aushänge-
schild, was zugleich einen Wettbewerbsvorteil bedeutet.
Nur sage ich noch einmal: Dazu braucht es Zeit. Das
geht nicht in einem solchen Hauruckverfahren mit derar-
tigen Kürzungen innerhalb eines Jahres.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal auf die Regie-
rung des Freistaates Bayern Bezug nehmen muss. Ich
mache dies aber gerne.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gott sei Dank!)


– „Gott sei Dank“, sagt Herr Kauch.


(Michael Kauch [FDP]: Ich habe gar nichts gesagt! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nehmen Sie mal Thüringen!)


– Ach so, dann kam es aus Thüringen. Es heißt hier ganz
klar: Die kurzfristige Umsetzung dieser Pläne überfor-
dert die Anpassungsfähigkeit der deutschen Solarwirt-
schaft. Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt die
Gefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet den
Verlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hochmodernen
Branche.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Ich habe gehört, dass sich Frau Gönner in einem heute
erschienenen Interview ähnlich geäußert hat und sich
dieser Auffassung anschließt.

Ich habe nur die Bitte: Seien Sie so fair, offen in diese
Anhörung zu gehen, sodass wir mit einem gemeinsamen
Ergebnis herausgehen! Beteiligen Sie die Branche in
Gänze! Verwenden Sie nicht nur die Meinungsumfrage
eines Magazins als Entscheidungsgrundlage! Das Thema
ist dafür zu wichtig, sowohl im Hinblick auf den Ausbau
der erneuerbaren Energien als auch die vielen Arbeits-
plätze in unserem Land.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703413600

Herr Kollege.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1703413700

Herr Bundesminister, ich habe die herzliche Bitte:

Werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst und gehen
Sie auf unsere Argumente ein!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703413800

Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1703413900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Becker hat einen richtigen Punkt angesprochen: Es ist





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

für die Politik sehr schwer, im Bereich des EEG die rich-
tigen Preise zu finden. Man stellt sich nur die Frage, wa-
rum es die SPD in elf Jahren Regierungszeit, davon zehn
nach Verabschiedung des EEG, nicht geschafft hat, eine
staatliche, unabhängige Marktbeobachtungsstelle an
eine der vorhandenen Behörden anzuhängen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Eine neue Behörde!)


Wir sind in dieser Diskussion immer wieder auf inte-
ressengeleitete Informationen angewiesen. Man muss
sich auch bei einer Bank wie der LBBW fragen: Was ha-
ben die in ihren Investmentportfolios? Dass uns die
Branche andere Zahlen nennt als die Verbraucherschüt-
zer, ist möglicherweise auch nicht überraschend. Ich
ziehe eine erste Lehre aus diesem Gesetzgebungsverfah-
ren – erstmals nicht in der Opposition, sondern als Ver-
treter einer Regierungsfraktion –: Wir müssen uns bei
den Beratungen zum Haushalt 2011 darüber unterhalten,
ob wir hier nicht eine unabhängige staatliche Beobach-
tung der Marktentwicklung einführen sollten.


(Ulrich Kelber [SPD]: Eine neue Behörde? Da können auch Fehler eingestellt werden!)


– Das sind Fehler, die Sie gemacht haben. Das FDP-ge-
führte Wirtschaftsministerium hat die einzige unabhän-
gige Studie, das Prognos-Gutachten, eingeholt, die die-
sen Beratungen zugrunde liegt. Wir sind noch hinter den
Vorschlägen geblieben, die dieses Gutachten zur Degres-
sion macht.

Lassen Sie mich, um dieses Thema abzuschließen, et-
was aus dem Bauernblatt-Sonderdruck zitieren. Dort
schreibt der Bundesverband Solarwirtschaft, vertreten
durch Kai Lippert:

Selbst nach einer zusätzlichen Kürzung der Ein-
speisevergütung zum Halbjahreswechsel werden
Photovoltaikanlagen weiterhin eine attraktive und
überdurchschnittlich rentable Geldanlage für Haus-
besitzer und sicherheitsorientierte Investoren sein.

Was gilt denn nun? Einerseits sagt der BSW, dass eine
Degression um mehr als 5 Prozent die Branche ruiniert;
andererseits empfiehlt er im Bauernblatt-Sonderdruck,
in die Solarenergie zu investieren, weil dies eine „über-
durchschnittlich rentable Geldanlage“ sei. Nur eines
kann richtig sein. Man muss das im Lichte dessen beur-
teilen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die FDP will, dass wir den Weg in das regenerative
Zeitalter beschreiten. Die Solarbranche ist eine Zu-
kunftsbranche, die wir am Standort Deutschland aus-
bauen wollen. Klar ist aber auch: Die ganze Förderung
wird am Schluss von den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern bezahlt. Wir haben als Gesetzgeber eine Ver-
antwortung gegenüber den Bürgern, die die Rechnung
zahlen. Wir sind dafür, eine Förderung zu betreiben, um
die Solarenergie auszubauen, wir erhöhen sogar die Aus-
bauziele; aber es kann doch nicht sein, dass Anleger auf
Kosten der Stromverbraucher Traumrenditen erwirt-
schaften. Familien mit Kindern müssen hier die größte
Zeche zahlen. Die SPD redet hier einer Umverteilung
von unten nach oben das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der Solarkompromiss gefährdet nicht das Wachstum
im Bereich der Solarenergie. Wir senken zwar die Vergü-
tungen ab; aber wir erweitern den Ausbaukorridor. Zu-
gleich hat die FDP in den Verhandlungen erreicht, dass
die Degression im Jahr 2011 im Vergleich zum BMU-
Vorschlag abgemildert wurde. Ich glaube, wir müssen
uns auf diesen Punkt konzentrieren.

Jetzt geht es darum, die Kostensenkungen der vergan-
genen Jahre nachzuvollziehen. Aber es geht in der Ent-
wicklung der Branche auch darum, was nach dem Jahr
2010 geschieht. Ein Punkt in der Anhörung, auf den wir
noch etwas Sachverstand verwenden sollten, wird sein:
Was ist für die Zukunft das richtige Maß, und vor allen
Dingen was ist der richtige Beobachtungszeitraum für
unsere Berechnungen in Bezug auf das nächste Jahr?

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein
Thema ansprechen, das für die FDP von herausragender
Bedeutung war und ist, nämlich das Thema Vertrauens-
schutz. Wir haben erreicht, auch vor dem Hintergrund
des harten vergangenen Winters, dass die Fristen bei den
Dachanlagen verschoben wurden und dass die Degres-
sion nicht zum 1. April, sondern erst zum 1. Juli wirk-
sam wird.


(Beifall bei der FDP)


Unser Anliegen ist auch, dass Investoren, die im Ver-
trauen auf das EEG schon deutlich vor der Bundestags-
wahl in Freiflächenanlagen investiert haben, nicht plötz-
lich vor den Trümmern ihrer Investitionsentscheidung
stehen. Auch hier haben wir Verbesserungen erreicht.
Aber wir müssen in der Anhörung herausfinden, ob das
in allen Fällen ausreichenden Vertrauensschutz bietet.
Das ist die Offenheit, mit der wir in die Anhörung gehen.

Offen sind wir beispielsweise auch in der Frage des
Eigenverbrauchs. Auf die Frage, inwieweit der Eigen-
verbrauch vorangebracht werden kann, ohne dass es zu
Mitnahmeeffekten kommt, wird die Anhörung ebenfalls
eine Antwort bringen müssen. Die Diskussion darüber
müssen wir ergebnisoffen führen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine Frage, die wir bereits in den vergangenen Wo-
chen intensiv diskutiert haben und bei der die Emotionen
sehr stark sind, ist mir noch wichtig: Sollen Solaranlagen
auf Äckern installiert werden oder nicht? Es kann aus
unserer Sicht keine sinnvolle Lösung sein, wenn man
großflächig auf besten Böden Solaranlagen installiert.
Aber wir haben in der Koalition einen Kompromiss
schließen müssen, zu dem wir auch stehen. Die FDP hat
erreicht, dass im Gegenzug zum Ausschluss der Äcker
die Konversionsflächen in ihrer wirtschaftlichen Nut-
zung deutlich ausgeweitet wurden. Aber sollte die CSU
ihre Position jetzt ändern, wie es der bayerische Minis-
terpräsident angedeutet hat, dann wird dies an der FDP
nicht scheitern. Auch das werden wir in den nächsten
Wochen miteinander diskutieren müssen, um bei den
Freiflächenanlagen, die der Billigmacher der Solarbran-
che sind, zu einem guten Ergebnis zu kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414000

Ich erteile das Wort der Kollegin Eva Bulling-

Schröter für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703414100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nachdem die Bundesregierung seit Monaten mit Ver-
lautbarungen Unruhe, Ängste und Chaos in der Branche
der erneuerbaren Energien schürt und wöchentlich eine
neue energiepolitische Sau durchs Dorf treibt, liegt nun
ein Gesetzentwurf der Koalition dazu vor. Ich halte ihn
für einen Salto rückwärts. Der Antrag, den wir vorgelegt
haben, will da einiges ausbügeln.

Deutschland steht vor einer Systementscheidung. Der
notwendige Ausbau der erneuerbaren Energien ist mit
einer Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken
und dem Neubau von Kernkraftwerken nicht vereinbar.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundes-
regierung spricht von einem grundlegenden Systemkon-
flikt zwischen einem hohen Anteil von Strom aus
Grundlastkraftwerken auf der Basis von Kohle und Uran
und einem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Das
sind klare Worte. Ich frage mich: Warum ignorieren Sie
eine solche Aussage? Wenn Sie die Aussagen des Sach-
verständigenrates immer ignorieren, bräuchten Sie sich
eigentlich keinen zu leisten.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
ist – das wurde schon dargelegt – der Anteil der erneuer-
baren Energien an der Stromversorgung auf über
16 Prozent angestiegen. Bei jährlichen Minderungen von
gegenwärtig etwa 110 Millionen Tonnen Kohlendioxid
leisten erneuerbare Energien damit einen wichtigen
Beitrag zum Klimaschutz. Also müssen sie ausgebaut
werden. Wesentliche Ursache dieser dynamischen Ent-
wicklung ist die durch das EEG garantierte Einspeise-
vergütung für Strom aus erneuerbaren Energien. Die
ebenfalls dort verankerte jährliche Absenkung der Ein-
speisevergütung – das ist die Degression – hat sich als
Anreiz für technische Innovationen und die Optimierung
in der Anlagenproduktion bewährt.

Für Investoren und auch für die produzierenden Un-
ternehmen brauchen wir Planungssicherheit durch mit-
telfristig festgelegte Vergütungssätze und Degressions-
schritte. Das ist von zentraler Bedeutung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unter dem Motto „Wenn es am schönsten ist, soll
man aufhören“ legt uns die Koalition einen Gesetzesent-
wurf auf den Tisch, der die positive Entwicklung im Be-
reich Solarstrom beenden soll;


(Horst Meierhofer [FDP]: So ein Quatsch!)

zumindest – so schätzen wir das ein – besteht die große
Gefahr. Eigentlich könnte es uns, den Linken, egal sein,
wenn Schwarz-Gelb wieder einmal Fehler macht und
sich ein ums andere Mal als verlängerter Arm der Kon-
zerne profiliert.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Um Gottes willen!)


– Hören Sie doch zu! – Es ist uns aber nicht egal, wenn
Sie Tausende Arbeitsplätze in Gefahr bringen und zu-
gleich energie- und klimapolitisch zur Rolle rückwärts
ansetzen. Wir halten Ihren Gesetzesentwurf für kontra-
produktiv. Ich sage es noch einmal: Seine Verabschie-
dung gefährdet viele heimische Produzenten. Bereits
jetzt mussten einige Kommunen und Privatanleger ihre
Solarprojekte auf Eis legen oder absagen, weil sie die
Kostenfrage nicht mehr klären können.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Welche?)


Von der Koalition kamen im Januar nebulöse Ankün-
digungen. Zuerst hieß es, dass zum 1. April gekürzt wer-
den soll. Jetzt soll die Kürzung zum 1. Juli erfolgen. Je-
des Mal stehen andere Zahlen im Raum. Jede Woche
gibt es einen anderen Sachverhalt. Niemand weiß mehr,
wie es eigentlich weitergehen soll. Das ist unverantwort-
lich gegenüber der ganzen Branche.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie kommen mit Entwürfen, die sämtlichen Solar-
unternehmen die Haare zu Berge stehen lassen und den
Beschäftigten den Angstschweiß auf die Stirn treiben.
Sie sind in diesen Fragen ziemlich beratungsresistent.
Sie agieren in Rambo-Manier und gefährden – ich sage
es noch einmal – Tausende Arbeitsplätze, insbesondere
an Solarstandorten mit vielen kleineren Unternehmen in
den strukturschwachen Regionen Sachsen, Sachsen-An-
halt und Thüringen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Lassen Sie Thüringen mal aus dem Spiel!)


Aber auch in Bayern gibt es Widerstand. Auch Herr
Seehofer hat sich dazu geäußert. Mich würde interessie-
ren, ob er die Sonderausgabe des Bauernblatts gelesen
hat. Sie zerstören auch international Vertrauen in die
Verlässlichkeit deutscher Umwelt- und Energiepolitik –
mit unabsehbaren Folgen.

Nur noch einmal als Merkposten: 300 000 Menschen
arbeiten hierzulande in der Branche der erneuerbaren
Energien – Tendenz stark steigend. Das sind zehnmal so
viele wie in der konventionellen Energieerzeugung. Al-
lein 60 000 Beschäftigte entfallen auf die Fotovoltaik-
branche, vor allem im produzierenden Gewerbe und im
Handwerk.

Jetzt behauptet die Regierungskoalition, die konkre-
ten Zahlen und Vorhaben in engem Kontakt mit Solar-
wirtschaft und Interessenverbänden abgesprochen zu ha-
ben. Ich weiß nicht, mit wem Sie da gesprochen haben.
Wir haben viele Mails und Briefe erhalten. Wir haben
auch mit dem Bundesverband Erneuerbare Energie ge-
sprochen. Da sind uns andere Zahlen vorgelegt worden;





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

das wurde vorher schon angedeutet. Ich meine, dass wir
das in der Anhörung sehr intensiv diskutieren müssen.

Wir fordern einen Austausch mit den Betroffenen al-
ler Ebenen. Den werden wir führen. Wir fordern in unse-
rem Antrag, die Einspeisevergütung


(Horst Meierhofer [FDP]: 10 Euro!)


im einstelligen Prozentbereich zu kürzen, keine Decke-
lung des jährlichen Leistungsausbaus vorzunehmen und
vor allem keinen Axthieb auszuführen, sondern eine
schrittweise Anpassung vorzusehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sowohl die Branche als auch die Verbraucher müssen
sich so auf die Anpassung einstellen können. Dazu benö-
tigt man natürlich auch Zeit. Unser Antrag wird dieser
Tatsache gerecht.

Die von der Koalition vorgesehene flexible Markt-
anpassung der Einspeisevergütung, nach der die Degres-
sion um weitere 3 Prozentpunkte angehoben wird, wenn
zu viele Solaranlagen gebaut werden, widerspricht unse-
rer Meinung nach dem eigentlichen Förderzweck des
EEG. Marktwachstum ist kein Maß für die Kostenent-
wicklung bei der Herstellung von Solarmodulen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414200

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Hinsken zulassen?


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703414300

Nein, will ich nicht. – Im Übrigen verschweigt die

Koalition elegant, dass zur Einmalabsenkung mit dem
Jahreswechsel 2011 noch eine Sonderabsenkung um
2 Prozent dazukommt.

Bereits in Ihrem eigenen Gesetzentwurf wird davon
ausgegangen. Sie versuchen, als Leistung zu verkaufen,
dass die Zielmarke des Solarausbaus hochgesetzt wird.
Ich frage Sie: Was ist das für eine Zielmarke, von der Sie
bereits jetzt wissen, dass sie überschritten wird? Das ist
keine Zielmarke, sondern eine Schranke.

Wem nützt es letztendlich, wenn der Ausbau der
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gebremst
wird? Das nützt denjenigen, die aus abgeschriebenen
Kernkraftwerken Milliardenprofite machen, und den
politischen Akteuren, die als Lobbyisten der Energie-
konzerne auftreten und sich für Laufzeitverlängerungen
starkmachen.


(Michael Kauch [FDP]: Den Hartz-IV-Empfängern nützt Ihre Position nichts!)


– Sie haben über Profite gesprochen, die abgeschöpft
werden. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. In den ver-
gangenen Jahren haben wir dafür gekämpft, die Profite
der großen Konzerne abzuschöpfen, um endlich Mittel
für die Menschen zu haben, die weniger Geld verdienen.
Das haben Sie aber nicht getan.

Sie verfolgen Ihre Ziele jetzt in der Solarbranche, die
schwach ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414400

Frau Kollegin!


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703414500

Die großen Konzerne hingegen fassen Sie nicht an.

Mit denen gehen Sie – wie es Gregor Gysi heute Vormit-
tag schon gesagt hat – lieber zum Essen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der SPD: Aber die zahlen das auch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414600

Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414700

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Gestern hat Umwelt-
minister Röttgen die aktuelle Erfolgsbilanz der erneuer-
baren Energien vorgestellt: Gegen den Trend der
Wirtschaftskrise sind sie – Frau Kollegin Flachsbarth hat
schon darauf hingewiesen – weiter gewachsen. Die In-
vestitionen in dieser Branche sind im vergangenen Jahr
auf knapp 18 Milliarden Euro gestiegen. Sie bieten be-
reits 300 000 Arbeitsplätze, allein 60 000 davon in der
Solarwirtschaft. Kein anderer Industriezweig in Deutsch-
land hatte in den letzten zehn Jahren eine solche Bilanz
vorzuweisen. Das ist eine hervorragende rot-grüne Er-
folgsgeschichte, die von Union und FDP nicht initiiert,
sondern anfänglich sogar bekämpft wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sehr geehrter Herr Röttgen, Sie reden viel von erneu-
erbaren Energien. Wir glauben Ihren schönen Worten
aber nicht mehr, weil Sie mit Ihren Handlungen offen-
sichtlich auf die Beendigung dieser Erfolgsgeschichte
abzielen. Ihr Plan einer achtjährigen Laufzeitverlänge-
rung und Ihre Unterstützung für den Neubau von Kohle-
kraftwerken werden eine massive Mauer gegen den Aus-
bau der erneuerbaren Energien aufbauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])


Gleichzeitig greifen Sie heute mit der Vorlage der No-
velle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz massiv in die
Erfolgsgeschichte der Solarwirtschaft ein. Sie wollen
nach der zum Jahreswechsel erfolgten Senkung der So-
larvergütung um etwa 10 Prozent nun zum Juli erneut
um bis zu 16 Prozent senken und zu Beginn des nächsten
Jahres noch einmal um circa 10 Prozent zulangen. Ein-
nahmeverluste von mehr als 30 Prozent innerhalb eines
Jahres kann keine Branche schadlos überstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zusätzlich wollen Sie mit den besonders kostengünsti-
gen Freiflächen auf den Äckern sogar ein ganzes Markt-
segment völlig zum Erliegen bringen.





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)

Alle diese Vorschläge sind hochgefährlich für die
deutsche Solarwirtschaft. Das sieht neben den Minister-
präsidenten der Ostbundesländer nun sogar die baden-
württembergische Umweltministerin Gönner so.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414800

Herr Fell, Herr Kollege Hinsken würde Ihnen gern

eine Zwischenfrage stellen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703414900

Gerne, Herr Hinsken.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415000

Herr Hinsken, bitte schön.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1703415100

Herr Kollege Fell, zunächst einmal herzlichen Dank,

dass Sie meine Frage zulassen.

Vorweg möchte ich bemerken, dass ich grundsätzlich
für Solarenergie bin. Ich sage das, damit hier kein fal-
scher Eindruck entsteht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber?)


Halten Sie es für gerechtfertigt, dass jemand im son-
nigen Regierungsbezirk Niederbayern mit 100 000 Euro
Bargeld in der Tasche zu einer Bank gehen und einen
Kredit in Höhe von 15 Millionen Euro beantragen kann,
um sich 10 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zu
kaufen und darauf eine Solaranlage zu errichten? Das
heißt, es wäre möglich, mit einem Einsatz von 0,6 Pro-
zent Eigenkapital 15 Millionen Euro zu investieren und
so in den folgenden 20 Jahren letztlich Millionen heraus-
zuholen. Ist das nicht ein bisschen überzogen? Ist das
noch nachvollziehbar? Ist das gerechtfertigt? Sind Sie
nicht ebenfalls der Meinung, dass diese Förderung voll-
kommen überzogen ist und dass deshalb dringend Kor-
rekturen erforderlich sind?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415200

Herr Kollege Hinsken, ich würde Ihr Bekenntnis zur

Solarenergie ernster nehmen, wenn Sie dieselben Maß-
stäbe, die Sie hier in Bezug auf die hohen Renditen an
die Solarwirtschaft anlegen, auch an die Atomwirtschaft
und die Kohlewirtschaft, die überzogene Gewinne erzie-
len, anlegen würden. Ich habe noch nie gehört, dass Sie
diese kritisiert haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es sind Milliardengewinne, die in Unternehmen dieser
Branche durch Strompreiserhöhungen, die unsere Kun-
den immer mehr belasten, erwirtschaftet werden; ich
werde in dieser Rede noch darauf eingehen. Diese Ge-
winne thematisieren Sie nicht.

In der Tat bin ich in einem Punkt ganz bei Ihnen:
Auch überzogene Gewinne der Solarwirtschaft müssen
gecancelt werden; dazu stehen wir. Wir reden aber erst
dann ehrlich miteinander, wenn Sie endlich auch die
überzogenen, weitaus höheren Milliardengewinne der
Unternehmen, die mit konventionellen, klimaschädli-
chen Technologien produzieren, kritisieren. Genau das
habe ich von Ihnen aber noch nie gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das heißt, Äpfel mit Birnen zu vergleichen!)


Viele der jungen deutschen Solarfabriken haben be-
reits 2009 rote Zahlen geschrieben. Vielfältige Ursachen
stehen hinter dem Preisverfall. Der politisch verordnete
Zusammenbruch des spanischen Marktes, die massive
Unterstützung Chinas für den Aufbau neuer Solarfabri-
ken, die Probleme mit einem unterbewerteten Yuan, all
das sind Randbedingungen, die die deutschen Solarfabri-
ken aus eigener Kraft nicht ändern können. Was die Un-
ternehmen hier brauchen, ist eine klare Innovationsun-
terstützung. Aber auch hier machen Sie von der Union
das glatte Gegenteil, indem Sie, statt die Fotovoltaikfor-
schungsmittel im Haushalt zu erhöhen, diese sogar noch
um 4 Millionen Euro kürzen. Viele Experten befürchten,
dass mit Ihren Vorschlägen zur Solarvergütung und zur
Kürzung der Fotovoltaikforschungsmittel Zehntausende
Jobs in den deutschen Solarfabriken gefährdet sind.
Symbolische Werksschließungen und Protestkundge-
bungen der Belegschaften lassen Sie einfach kalt.

Als Jobverluste in der Automobilwirtschaft drohten,
haben Sie von der Union zusammen mit den Sozialde-
mokraten über die Abwrackprämie gleich 6 Milliarden
Euro neue Schulden gemacht, um den Kauf von sprit-
fressenden Autos zu unterstützen, die sogar das Klima
schädigen. Doch in der Branche mit der Klimaschutz-
technologie Fotovoltaik produzieren Sie Arbeitslose.
Wie passt das zusammen? Es gelten bei Ihnen offen-
sichtlich unterschiedliche Gesetze.

Sie folgen aufgebauschten, überzogen hochgerechne-
ten Belastungsszenarien, die vor allem von Atom- und
Kohlekonzernen vorgelegt werden oder in von ihnen fi-
nanzierten wissenschaftlichen Studien erscheinen. Sie
fürchten Dutzende Milliarden Euro Markteinführungs-
hilfen für die Fotovoltaik in den nächsten 20 Jahren. Ge-
flissentlich verschweigen Sie in der Debatte, dass die
Atomwirtschaft in Deutschland rund 165 Milliarden
Euro staatliche Förderung erhalten hat, weit mehr, als
die Fotovoltaik jemals benötigen wird. Sie verschweigen
auch die Folgekosten der Atomwirtschaft: Mindestens
40 Milliarden Euro kostet den Steuerzahler die Entsor-
gung der Atomforschungseinrichtungen. Niemals wird
die Fotovoltaik solche Schäden verursachen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie verschweigen auch, dass für die Atomkraft da-
mals der Strompreis massiv erhöht wurde. Sie ver-
schweigen zudem, dass die Steinkohlewirtschaft rund
180 Milliarden Euro an Beihilfen erhalten hat und dass
sogar im schwarz-gelben Haushalt wieder 2 Milliarden
Euro für Kohlesubventionen bereitgestellt werden. Wo





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)

ist die Gleichwertigkeit der Betrachtung, wenn Sie die
überzogenen Kosten für die Fotovoltaik thematisieren?
Ich höre nichts davon, dass Sie selber konventionelle
Technologien immer noch zu stark unterstützen. Klima-
schutz und Zukunftsinvestitionen sehen wahrhaftig an-
ders aus. Sie von der Union und der FDP beklagen sich
auch über die angeblich hohe Belastung durch die
Strompreise und verschweigen, dass die erneuerbaren
Energien schon heute zur Senkung der Strompreise über
den sogenannten Merit-Order-Effekt beitragen. Scham-
los streichen die Stromkonzerne die darüber erzielbaren
Gewinne ein und erhöhen mit ihrer Monopolmacht die
Strompreise. Allein 6 Milliarden Euro haben die Kon-
zerne im letzten Jahr den Stromverbrauchern zusätzlich
abgeknöpft, ohne dass irgendeine Gegenleistung er-
bracht wurde. Der Gipfel der Frechheit ist, dass sie diese
Strompreiserhöhungen mit den Mehrkosten für erneuer-
bare Energien begründen. Herr Kauch, auch Sie haben
die hohen Strompreise kritisiert. Ich habe von Ihnen bis-
her nichts über diese überzogenen Milliardengewinne
der Konzerne gehört. Mit dem Kampf dagegen können
Sie Verbraucherschutz praktizieren und nicht mit der
Kürzung der Solarvergütung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie von Union und FDP verschweigen zudem wich-
tige positive volkswirtschaftliche Effekte, die die Strom-
preiserhöhungen sogar überkompensieren. Obwohl die
Fotovoltaik erst in den Anfängen steckt, wurden durch
sie 2009 bereits 3,6 Millionen Tonnen CO2 eingespart.
Steuereinnahmen in Höhe von über 3 Milliarden Euro
wurden in der Solarstrombranche erwirtschaftet, und
Kosten in Höhe von rund 400 Millionen Euro für Ener-
gieimporte, vor allem von Kohle und Erdgas, wurden
durch die Fotovoltaik letztes Jahr vermieden.

All diese ökologischen und volkswirtschaftlichen
Vorteile spielen für Sie aber keine Rolle. Sie wollen die
wichtigste Energiequelle der Zukunft, mit der die Bürge-
rinnen und Bürger bald kostengünstig selbst Strom er-
zeugen können, zum Schutz der Atom- und Kohlekon-
zerne ausbremsen.

Längst haben wir Grüne vielfältige Vorschläge ge-
macht, wie die Balance zwischen Vermeidung überzoge-
ner Gewinne und einem weiteren Ausbau der Fotovol-
taik gelingen kann. Wir haben Ihnen aufgezeigt, dass die
Vergütung in diesem Jahr in drei gestaffelten Schritten
um jeweils 3 Prozent gesenkt werden kann. Dies vermei-
det überhöhte Gewinne und gleichzeitig abrupte Markt-
verwerfungen. Lösen Sie doch einfach den Konflikt um
die Ackerflächen, indem Sie eine agrarische Nutzung
der Freiflächen zulassen. Es wird keinen Konflikt zwi-
schen Lebensmittelerzeugung und Solarstrom geben, da
selbst bei einer Vollversorgung mit erneuerbaren Ener-
gien nicht mehr als 0,5 Prozent der deutschen Ackerflä-
chen für Freiflächenanlagen gebraucht würden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Mit dem Aufgreifen der grünen Vorschläge im parla-
mentarischen Verfahren würde auch der skurrile Streit
innerhalb der CSU endlich beendet werden. In Bayern
lacht man Sie doch inzwischen aus. Nur eine Stunde
nach der Kabinettsentscheidung in Berlin hat Minis-
terpräsident Seehofer die CSU-Minister Guttenberg,
Aigner und Ramsauer heftig kritisiert, indem er sagte,
dieser Beschluss sei das Ende der bayerischen Solarwirt-
schaft. Herr Seehofer hat recht. Nur, warum hat er seine
Minister nicht vorher zurückgepfiffen?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415300

Herr Kollege Fell, Sie müssen zum Schluss kommen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415400

Das Spiel wird immer klarer. Sie reden zwar viel von

erneuerbaren Energien; in Wirklichkeit geht es Ihnen
aber um den Schutz der Atom- und Kohlekonzerne.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ach, Herr Fell!)


Sie greifen so massiv ein, um den Ausbau erneuerbarer
Energien auszubremsen.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415500

Das Wort hat der Bundesminister Dr. Norbert

Röttgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Nach den relativ aufgeregten Reden der Opposi-
tion will ich mich dem Versuch zuwenden, die Debatte
auf ihren Kern zurückzuführen, in dem wir in diesem
Hause, so glaube ich, weitgehend übereinstimmen. Ich
möchte die Frage stellen: Was folgt aus der Übereinstim-
mung in diesem Haus für die Förderung der Fotovoltaik,
der Solarenergie?

Die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien
– auch die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: 300 000 Ar-
beitsplätze –


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Späte Erkenntnis!)


ist geschildert worden. Sie ist nicht nur schön, sondern
sie ist auch notwendig als energiepolitische Schlussfol-
gerung: Es bedarf eines Strukturwandels, den der Bun-
despräsident in dieser Woche beschrieben hat. Ich bin
außerordentlich dankbar dafür und nutze diese Debatte
bewusst, um das entscheidende und aus meiner Sicht
wichtigste Zitat aus einem Interview des Bundespräsi-
denten in diese Debatte einzuführen, weil das der Ge-
samtkontext der Strategie zur Förderung der erneuerba-
ren Energien ist. Ich zitiere aus einem Interview des

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1703415600






Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen jetzt den Paradigmenwechsel hin zu ei-
ner Wirtschaftsweise einleiten, die unser Planet ver-
kraftet und die letztlich auch mehr Sinn stiftet.


(Marco Bülow [SPD]: Genau! Deshalb verlängern Sie die Atomlaufzeiten und kürzen bei der Solarenergie!)


Der Befund ist doch eindeutig: Die Rohstoffe wer-
den knapper, die Energie wird knapper, die Um-
weltschäden werden größer. Für mich gibt es kei-
nen Zweifel: Die Nation, die sich am schnellsten,
am intelligentesten auf diese Situation einstellt,
wird Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen.

Genau so ist es. Ich finde, wir können dem Bundespräsi-
denten dankbar sein, dass er das in dieser Klarheit for-
muliert hat. Das darf eine Würdigung in diesem Hause
finden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das war eine Ermahnung an Sie, Herr Röttgen!)


– Ich weiß nicht, warum Sie sich selbst dann empören,
wenn der Bundespräsident etwas Richtiges sagt, von
dem ich unterstelle, dass auch Sie es für richtig halten. –


(Ulrich Kelber [SPD]: An Ihre Adresse hat er es gesagt! Sie sollen das endlich mal tun, nicht nur reden!)


Daran sollten wir uns orientieren. Der Bundespräsident
hat die entscheidende Orientierung gesetzt.

Die erneuerbaren Energien sind die Strategie im Kon-
text des allgemeinen wirtschaftlichen Strukturwandels,
den wir angehen müssen. Darum setzen wir auf die er-
neuerbaren Energien, übrigens auch als Teil eines globa-
len Trends. Heute kam die Meldung, dass China erstmals
weltweit an der Spitze der Länder liegt, die am meisten
in die erneuerbaren Energien investieren.

Das zeigt: Wir befinden uns auf einem globalen Markt,
der rund 5 000 Milliarden Dollar umfasst, und in einem
globalen Wettbewerb.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ja! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie das unterstützen!)


Es geht um die Frage, welche Strategie wir verfolgen,
um die Nutzung der erneuerbaren Energien voranzutrei-
ben. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein erfolgrei-
ches Instrument. Ich habe übrigens keine Schwierigkei-
ten damit, zu erkennen, dass gelegentlich auch andere
etwas richtig machen.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das zeichnet Sie aus!)


Vielleicht könnten Sie sich in dieser Hinsicht etwas fort-
entwickeln.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie etwas!)

Die Frage ist: Was ist die Philosophie des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes? Messen wir die Qualität dieses
Gesetzes daran, dass Subventionen, die die Stromkunden
finanzieren, möglichst lange und in möglichst großem
Umfang fließen? Oder ist die Philosophie des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes die eines Gesetzes zur Markt-
einführung erneuerbarer Energien, zur Technologieför-
derung, die umso erfolgreicher ist, je früher und je
schneller sie nicht mehr der Subventionierung bedarf?
Denn die erneuerbaren Energien werden entweder auf
dem Markt erfolgreich sein, oder sie werden gar nicht er-
folgreich sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich! Keine Frage!)


Nebenbei bemerkt: Das ist eine Investition in die er-
neuerbaren Energien. Aber das betrifft nur ein Bruchteil
der Strompreiserhöhungen, die in den letzten Jahren
stattgefunden haben.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Es ist wissenschaftlich völlig unbestritten, dass die
Strompreiserhöhungen der letzten Jahre auf den fehlen-
den Wettbewerb auf dem Strommarkt zurückzuführen
sind. Es ist die oligopolistische Struktur dieses Marktes,
die Wettbewerb verhindert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch in diesem Zusammenhang sind die erneuerbaren
Energien von strategischer Bedeutung, weil sie Wettbe-
werb in diesen Markt bringen, der in Wahrheit noch viel
zu wenig ein Markt ist.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wollen Sie dann die Monopolmacht mit Laufzeitverlängerungen unterstützen?)


Weil das so ist, wollen und werden wir die Solarener-
gie ausbauen. Auch das ist mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf beabsichtigt. Die Solarenergie hat bislang
eine Nischenfunktion. Ich weise darauf hin: Die Koali-
tion wird durch Verabschiedung des vorliegenden Ge-
setzentwurfs die Solarenergie aus ihrer Nische heraus-
holen und für einen relevanten Anteil der Solarenergie
an der Stromversorgung sorgen. Das ist eine zentrale
Aussage, die mit diesem Gesetz verbunden ist.

Wenn in den letzten Jahren die Systempreise, von de-
nen hier gesprochen worden ist, im Verhältnis zu dem
Zeitpunkt, als die staatliche Vergütung festgesetzt wurde,
um 30 Prozent gesunken sind und wenn wir nun für die-
ses Jahr erneut mit einem Preisrückgang von 10 bis
15 Prozent rechnen, also am Ende des Jahres einen
Preisrückgang von 40 bis 45 Prozent im Vergleich zu
dem haben, was die Stromkunden derzeit zahlen müssen,
dann muss der Gesetzgeber reagieren,


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht überreagieren!)






Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

wenn es bei der Markteinführung bleiben und nicht zu
einer Subventionierung von Investmentfonds kommen
soll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist nicht das Ziel, das wir verfolgen. Wir wollen die
Markteinführung.

Nebenbei bemerkt: Auf den Preiswettbewerb zwi-
schen den Herstellern von Modulen – ob es sich um ei-
nen deutschen oder um einen chinesischen Hersteller
handelt – hat die Einspeisevergütung von vornherein
keine Auswirkungen. Sie wirkt sich darauf schlicht und
ergreifend nicht aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ihr Argument ist in ökonomischer Hinsicht definitiv
falsch. Wir haben diesen Preiswettbewerb übrigens
schon bei der heutigen Vergütung. Die Einspeisevergü-
tung hat dabei keinerlei Auswirkungen.

Herr Kollege Fell, bei aller Wertschätzung: Auch die
Aussage, dass wir nicht auf Forschung setzen, ist falsch.
In diesem Haushalt setzen wir vermehrt auf Forschung.
Mit diesem Haushalt, der ein Spar- und Konsolidie-
rungshaushalt ist, werden gegen die Notwendigkeit, zu
sparen, zusätzlich 10 Millionen Euro in die Forschung
investiert. Natürlich setzen wir auf die Forschung, weil
es um die Zukunft geht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Bei der Solarförderung?)


Wir führen ein System ein, das Verlässlichkeit in die
Finanzierung bringt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ach!)


Wir schaffen dadurch Verlässlichkeit, dass wir in Zu-
kunft die Vergütung an die Marktentwicklung koppeln.
Im Gesetzentwurf ist keine fixe Vergütung vorgesehen,
die immer wieder angepasst werden muss, je nachdem,
wie sich der Markt entwickelt. Wir führen vielmehr ei-
nen flexiblen Vergütungsmechanismus ein, der an die
Marktentwicklung gekoppelt wird und Verlässlichkeit
für Finanzierung und Planung bringt. Damit vermitteln
wir Investitionssicherheit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415700

Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fell zulassen?

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Ja.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415800

Herr Minister Röttgen, wenn ich Sie richtig verstan-

den habe, haben Sie gerade behauptet, die Mittel für die
Fotovoltaikforschung würden in diesem Bundeshaushalt
gegenüber dem letzten Haushalt erhöht. Ich habe gesagt
– das war meine Kritik –, dass das nicht richtig ist, dass
die Mittel vielmehr gesenkt werden. Die heutige Ant-
wort der Bundesregierung auf eine Anfrage von mir hat
klar bestätigt, dass die Mittel in diesem Haushalt für die
Fotovoltaikforschung von 32,9 Millionen Euro auf
28 Millionen Euro gesenkt werden. Wer hat nun recht?
Ist die Antwort der Bundesregierung an mich richtig
oder Ihre Aussage, die Mittel würden erhöht werden?

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Ich habe gesagt, dass wir in diesem Haushalt die Mit-
tel für die Förderung der erneuerbaren Energien von
110 Millionen Euro auf 120 Millionen Euro gesteigert
haben.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Forschung!)


– Wir haben die Forschungsmittel für den Bereich der
erneuerbaren Energien von 110 Millionen Euro auf
120 Millionen Euro erhöht. Damit setzen wir auf For-
schung. Das war meine Aussage. So einfach ist das.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und bei Fotovoltaik werden sie gesenkt! Das war meine Aussage!)


Ich komme zu einem weiteren Element – ich will das
in aller Kürze vortragen –, das diese Novelle prägt. Was
wir tun, ist mehr als eine Reaktion auf den Preisrück-
gang; an einer Stelle fördern wir sogar stärker als bisher.
Es geht um den Bereich, in dem die Solarenergie nicht
eingespeist, sondern vom Haushalt selber genutzt wird.
Das ist in hohem Maße sinnvoll, weil wir damit einen
Anreiz für Verhaltensänderungen bieten. Wir geben ei-
nen wirtschaftlichen Anreiz, den Verbrauch nach der Er-
zeugung auszurichten. Wir geben einen Anreiz für Ent-
wicklungen im Bereich Batterietechnologie. Es soll sich
lohnen, diese Installationen im Privathaushalt vorzuneh-
men. Außerdem ist das ein Angebot an die Bürger, mit-
zumachen. Sie haben die Chance, sich selber zu versor-
gen. Das ist ein Anreiz, davon Gebrauch zu machen.

Eine letzte Bemerkung: Es geht bei diesem Vorschlag
auch um die Kürzung von Subventionen. Was ist der
Kern? Es geht um Geld und um Interessen. Ich finde,
dass das nicht die Orientierung dieser Debatte und dieser
Gesetzgebung sein darf. Ich meine, wir müssen uns an
dem strategischen Ziel orientieren, die Nutzung der er-
neuerbaren Energien durch eine verlässliche Rahmenset-
zung zu fördern, damit der in unserem Land eingeschla-
gene Weg der Energiegewinnung erfolgreich wird.

Die einen sagen: Es ist viel zu viel gekürzt worden.
Die anderen sagen: Es ist noch viel zu wenig gekürzt
worden. Ich glaube, dass wir mit Augenmaß und einer
konzeptionellen Klugheit einen Rahmen setzen, was
dazu führen wird, dass die erneuerbaren Energien und
speziell die Solarenergie in Deutschland weiter eine Er-
folgsgeschichte schreiben. Unser Gesetz ist nicht nur gut
gemeint, sondern auch richtig gut gemacht. Die Solar-
energie erhält somit eine wirkliche Förderung.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Becker [SPD]: Aber nicht die deutsche Solar Bundesminister Dr. Norbert Röttgen industrie! Ein chinesisches Wachstumsbeschleunigungsgesetz, was Sie machen!)





(A) (C)


(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703415900

Waltraud Wolff hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1703416000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Erneuerbare Ener-
gien über den grünen Klee loben, Anerkennung für
300 000 Arbeitsplätze zollen, Visionen für die Zukunft
der erneuerbaren Energien haben und die Zukunft schön
ausmalen, das ist das eine, Herr Minister Röttgen. Aber
gleichzeitig verlängern Sie die Laufzeit der Atomkraft-
werke um acht Jahre. Das nenne ich wirklich konse-
quent!

In der letzten Woche, in der Haushaltsdebatte, habe
ich von einem CDU-Kollegen zum Haushalt eine Frage
gestellt bekommen, nämlich: Ist es gerecht und richtig,
dass die kleinen Stromkunden jemanden für seine Foto-
voltaikanlage 10 Prozent Rendite zahlen sollen? Ich will
heute noch einmal Bezug auf diese Frage nehmen und
mit einer Gegenfrage antworten: Ist es eigentlich okay,
dass Union und FDP genau diesen Stromkunden mehr
als 46 Milliarden Euro Zusatzgewinne für die Atom-
kraftbetreiber abverlangen?


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Was?)


2009 betrugen die Kosten für Strom aus erneuerbaren
Energien 4,6 Milliarden Euro.


(Michael Kauch [FDP]: Sie haben das nicht so ganz verstanden!)


Auf mindestens 46 Milliarden Euro beziffert eine Studie
des Öko-Instituts vom Oktober letzten Jahres die Ge-
winnmitnahme der Betreiber von Atomkraftwerken bei
einer zusätzlichen Laufzeit von acht Jahren – 46 Milliar-
den Euro zusätzliche Gewinne, die Union und FDP aus-
lösen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist doch Unfug! Auf welcher Grundlage denn?)


Es ist richtig: Weder Verbraucher noch Steuerzahler
sollen die Melkkuh der Nation sein.


(Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP])


Aber können Sie mir bitte schön erklären, wie es kommt,
dass die kleinen Leute bei Ihren Entscheidungen über-
haupt keine Rolle spielen,


(Michael Kauch [FDP]: Das ist eine Frechheit!)


wenn es zum Beispiel um Milliarden für Hotelbesitzer
geht,


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Eigenheimzulage!)

wenn es zum Beispiel um Milliarden für die Betreiber
von Atomkraftwerken geht und wenn es um Zusatzbei-
träge bei der Krankenversicherung geht?


(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)


Ganz einfach – ich kann Ihnen die Frage beantworten –:
Es geht Ihnen nicht um die kleinen Leute. Ihnen geht es
nur um billige Begründungen und um nichts anderes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Fakt ist: Die Strompreise werden immer mehr zur Be-
lastung. Aber: Während die durchschnittlichen Strom-
preise für Haushalte in den letzten zehn Jahren um
9,3 Cent auf 23,2 Cent pro Kilowattstunde gestiegen
sind, hat sich der Anteil der EEG-Umlage im gleichen
Zeitraum lediglich von 0,2 auf 1,1 Cent pro Kilowatt-
stunde erhöht;


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Genau!)


einer von fünfzehn durch das EEG. Geht es der Regie-
rungskoalition wirklich um die Verbraucherinnen und
Verbraucher,


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja, natürlich!)


geht es der Regierungskoalition um eine Senkung von
Kosten? Nein, die Regierungskoalition setzt auf Dino-
sauriertechnologie statt auf Zukunft. Sie wissen doch
ganz genau, dass die Investitionen in die erneuerbaren
Energien heute für bezahlbare Strompreise morgen sor-
gen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen auch ganz genau, dass sinkende Preise nur
durch einen funktionierenden Wettbewerb erreichbar
sind. Das alles wissen Sie. Also hören Sie doch auf, hier
Nebelkerzen zu werfen.


(Michael Kauch [FDP]: Können von der SPD mal die Fachleute reden? – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind auch keiner!)


Im Oktober letzten Jahres hat der damalige Kartell-
amtspräsident Bernhard Heitzer auf einen wichtigen
Punkt hingewiesen – ich zitiere –:

Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird die
hohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten ze-
mentiert …

Gemeint sind die vier Energieriesen in Deutschland.


(Horst Meierhofer [FDP]: Wer hat die denn geschaffen, Frau Kollegin? Wo kommen die denn her?)


Auf dem Strommarkt – das wissen wir alle – herrscht
kein Wettbewerb. Wir müssen die Strukturen ändern,
wenn wir Wettbewerb wollen. Laufzeitverlängerungen
bewirken das Gegenteil.





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie zementieren die Strukturen, die seit Jahren private
und gewerbliche Energiekunden mehr und mehr Geld
kosten. Sie verhindern, dass in Zukunftstechnologien in-
vestiert wird.

Ein großes Problem – darauf haben andere schon hin-
gewiesen – ist, dass Sie die Fotovoltaik auf Ackerflä-
chen beenden wollen. Wieder ist Ihre Argumentation
einfach nur unehrlich. Richtig ist: Es gibt Flächenkon-
kurrenz. Richtig ist auch: Der Ackerboden ist begrenzt.
Aber ich frage mich: Warum gehen Sie hier wieder auf
den kleinsten Mitspieler los? Der Sachverständigenrat
für Umweltfragen hat zu Ihrer Biomassestrategie festge-
stellt, dass bei der Biomasse die Nutzungskonkurrenzen
nicht ausreichend berücksichtigt sind. Die Produktion
von Biomasse – das wissen wir alle; ich komme aus dem
Landwirtschaftsbereich und beschäftige mich hiermit
schon seit zwölf Jahren – hat auf Ackerflächen eine we-
sentlich größere Bedeutung als Fotovoltaik. Das heißt,
Biomasse zur Energieerzeugung hat einen vielfach grö-
ßeren Flächenbedarf als Fotovoltaik.

Zusammengefasst: Auch hier stimmen Ihre Begrün-
dungen vorne und hinten nicht. Im Übrigen ist die SPD
explizit der Meinung, dass wir nicht in die Hoheitsrechte
der kommunalen Verwaltungen eingreifen sollten. Die
Kommunen haben selber genug Sachverstand, um zu
entscheiden, ob sie auf ihren Äckern Fotovoltaikanlagen
installieren lassen oder nicht. Das können Sie denen zu-
trauen.


(Beifall bei der SPD)


Am 12. März 2010 hat Ministerpräsident Seehofer
verlauten lassen: „Die von der Bundesregierung ange-
strebten Senkungen der Solarförderung sind zu hoch.“
Ihre eigenen Ministerpräsidenten – hier sind schon an-
dere angeführt worden – haben die wesentlichen Pro-
bleme schon benannt und Vorschläge gemacht. Hören
Sie doch wenigstens denen zu! Der Ministerpräsident
meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Herr Professor
Böhmer, ist sicherlich kein Ministerpräsident der lauten
Worte. Aber selbst er hat Sie aufgefordert, „die Folgen
der beschlossenen Kürzung zu überdenken.“


(Elke Ferner [SPD]: Unser Umweltminister hat das auch getan!)


Ich glaube, dass er nur aus Gründen der Parteiräson nicht
die Rücknahme Ihrer Vorschläge, sondern lediglich Er-
satzlösungen durch eine stärkere Unterstützung der So-
larzellenhersteller gefordert hat. Es geht um Arbeits-
plätze, nur falls es Sie interessiert.

Meine Damen und Herren, das Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetz – Kollege Fell hat das vorhin deutlich ge-
macht – ist eine Erfolgsgeschichte. Diese Erfolgsge-
schichte erkennen auch Sie an. Die Fotovoltaik ist ein
sehr wichtiger Teil der Zukunft unserer Energieversor-
gung. Dafür steht die SPD. Ich fordere allerdings auch
die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, die
sich als Freunde der Sonnenenergie betiteln, auf: Helfen
Sie mit! Lehnen Sie die strengen Kürzungen, die vorge-
nommen werden sollen, gemeinsam mit der Opposition
ab!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Strenge kann manchmal auch Wirtschaftlichkeit sein!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703416100

Nächster Redner ist der Kollege Horst Meierhofer für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1703416200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe wirklich ein Problem mit dem Politikverständ-
nis, das der eine oder andere hier hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Herr Fell kommt auf die Idee, zu sagen: Die Kohle
wurde im Laufe der Jahre zu stark subventioniert. Des-
wegen dürfen wir jetzt keine Übersubventionierungen
bei der Fotovoltaik verhindern. – Welche Logik liegt
dem zugrunde?


(Michael Kauch [FDP]: Das frage ich mich allerdings auch!)


Weil das eine gewollt und das andere ungewollt ist?


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Hören Sie doch endlich mit der Kohlesubventionierung statt mit der Solarförderung auf!)


Es geht nicht darum, dass wir in diesem Bereich Arbeits-
plätze schaffen oder gefährden wollen, sondern es geht
um nicht mehr und nicht weniger als darum, dass staat-
lich garantierte Traumrenditen nicht auf Kosten des klei-
nen Mannes finanziert werden sollen;


(Elke Ferner [SPD]: Genau dafür sorgen Sie doch!)


das ist das Entscheidende.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frau Wolff, es ist eine absurde Vorstellung, zu glau-
ben, dass, wenn wir die Förderung pro Kilowattstunde
für die Fotovoltaikindustrie in Deutschland nicht kürzen
würden, Arbeitsplätze gerettet würden. Ganz im Gegen-
teil, das würde nämlich den Wettbewerb im Ausland ver-
schärfen. Dort profitiert man von unserer Unterstützung
nämlich genauso wie in Deutschland. Wir müssen dafür
sorgen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt,
dass sie forscht und selbst in Forschung investiert. Dann
ist sie anderen einen Schritt voraus, nicht dann, wenn sie
viel Unterstützung bekommt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wol Horst Meierhofer mirstedt] [SPD]: Ach was! Das ist doch nicht das, was Sie machen! Sie holen doch sogar noch Kohle aus China hierher!)





(A) (C)


(D)(B)


Ein solches Verständnis führt mit Sicherheit nicht dazu,
dass in Deutschland mehr Arbeitsplätze entstehen. Diese
Arbeitsplätze werden in China entstehen.

Es gibt ein grundsätzliches Verständnisproblem. Wer
glaubt, dass es ökologisch ist, Investoren möglichst hohe
Renditen zu versprechen, der denkt überhaupt nicht lo-
gisch, ökologisch schon gar nicht. Der denkt nur im Inte-
resse derer, die es sich leisten können und genug Geld
haben, um in großem Umfang zu investieren. Der denkt
aber nicht im Interesse des kleinen Mannes.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Mir ist vollkommen unverständlich, wie es sein kann,
dass gerade die Linkspartei auf die Idee kommt, zu sa-
gen: Wer bei der Fotovoltaik kürzt, denkt nicht an den
kleinen Mann. – Das genaue Gegenteil ist der Fall.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, dass Sie zu viel kürzen, nicht darum, dass Sie überhaupt kürzen!)


Für dieses Jahr werden Ausbauziele von 4 bis
6 Gigawatt erwartet. Das ist toll und erfreulich. Das
heißt, dass die Fotovoltaikbranche auf einem sehr guten
Weg ist. Das heißt aber auch, dass sie die Kürzungen, die
vorgesehen sind, gut verkraften kann.

Sie haben davon gesprochen, dass der eine oder an-
dere Vertreter eines Verbandes der Fotovoltaik- oder So-
larwirtschaft gesagt hat, die Förderung sei zu hoch. Viel-
leicht wollen Sie ja, gerade wenn Ihnen der kleine Mann
so wichtig ist, auch hören, was der Chef des Verbrau-
cherzentrale Bundesverbandes gesagt hat. Er sagte:
Wenn die Absenkung nicht noch deutlich höher erfolgen
wird, werden die Kosten in Zukunft in nicht tragbare Di-
mensionen vorstoßen. – Vielleicht sollten Sie sich auch
diese Aussage einmal zu Herzen nehmen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Was sagen denn Ihre Ministerpräsidenten dazu? – Gegenruf des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ CSU]: Die haben doch gar keine! Das sind alles unsere!)


Das ist nämlich das Entscheidende. Darüber müssen wir
uns Gedanken machen.


(Beifall bei der FDP)


Ich meine, dass wir damit begonnen haben, einen
wirklich guten Weg einzuschlagen.


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt! Und das ist auch gut so, könnte man hinzufügen!)


Ich bin mir sicher, dass wir in die richtige Richtung ge-
hen. Diejenigen Unternehmen, die aufgrund dieser Kür-
zung nicht wettbewerbsfähig sind, müssen sich in Zu-
kunft besonders anstrengen; das ist das Entscheidende.
Wir können keinen Arbeitsplatz garantieren. Wir können
nur die Rahmenbedingungen schaffen, und das passiert
gerade.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein Thema möchte ich noch ganz kurz ansprechen.
Heute haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf einge-
bracht. Nun folgt ein offenes parlamentarisches Verfah-
ren. Wir werden zu diesem Thema auch eine Anhörung
durchführen. Ich bin überzeugt, dass es noch die eine
oder andere Änderung geben kann. Frau Dr. Flachsbarth
hat bereits darauf hingewiesen, dass die Vergütung für
Anlagen auf Ackerflächen eingeschränkt werden muss.
Hier sind wir uns absolut einig, und das ist auch vernünf-
tig. Über die Frage, ob ein Förderstopp für Anlagen auf
Ackerflächen vernünftig ist, kann man durchaus disku-
tieren, weil Fotovoltaik dort natürlich deutlich günstiger
ist als auf dem Dach.


(Dirk Becker [SPD]: Wenigstens ein richtiger Satz!)


Gleichzeitig müssen aber die Bedürfnisse der Land-
wirtschaft befriedigt werden, indem man sagt: Wir wol-
len keine riesigen Parks. Wir wollen keine Investoren-
modelle, die von auswärts oder sonst woher kommen.
Das ist klar. Die Größen zu begrenzen oder nach Boden-
punkten des Werbers zu gehen, könnte beispielsweise
ein Kompromiss sein.


(Beifall bei der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dafür haben die Kommunen den Sachverstand!)


Das Gleiche gilt für den Eigenverbraucher. Wir müs-
sen aufpassen, dass wir keinen zusätzlichen Subven-
tionstatbestand schaffen. Wenn uns das gelingt, wird es
im Rahmen des Verfahrens zu einer für alle befriedigen-
den Lösung kommen. Die Fotovoltaikindustrie wird
weiterhin wachsen. Erneuerbare Energien sind die Zu-
kunft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703416300

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Scheer das Wort.


(Zuruf von der FDP: Jetzt kommt die Lobby!)



Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1703416400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben eben gehört, dass auch seitens der Koalitions-
fraktionen und der Regierung noch Überlegungsspiel-
raum vorhanden sein soll. Außerdem wird es ein Hea-
ring geben.

Am Schluss der Debatte möchte ich aber eine Sache
zu bedenken geben: Wir haben erst vor kurzem eine De-
batte anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes geführt. Im Rahmen dieser
Debatte ist gelegentlich zitiert worden, welche schwer-
wiegenden Bedenken und Warnungen es vor diesem Ge-
setz vonseiten der CDU/CSU und der FDP gegeben hat.
All diese negativen Voraussagen sind nicht eingetreten,





Dr. Hermann Scheer


(A) (C)



(D)(B)

und all die positiven Voraussagen bezüglich der Wirkung
des Gesetzes sind eingetreten und werden heute bestä-
tigt. Deswegen wundert mich die Selbstsicherheit, mit
der all diejenigen, die sich nachweislich geirrt haben
– das haben sie selbst zugegeben –, jetzt meinen, dass ihr
Ansatz, wie es mit dieser Schlüsseltechnologie weiterge-
hen soll, richtig ist.

Ich möchte Sie bitten, bei der jetzt anstehenden De-
batte und dem Hearing das eigene Wort ernst zu nehmen.
Schauen Sie sich die Dinge ganz genau an, damit im
Hinblick auf diese Frage kein wesentlicher Fehler pas-
siert. Was von Deutschland aus aufgebaut worden ist, bis
hin zu den Produktionen in China, ist eine Weltindustrie
für Fotovoltaik, die es ohne das Erneuerbare-Energien-
Gesetz so nicht gäbe. Ein wesentlicher Fehler wäre also,
wenn ausgerechnet Deutschland auf einmal einen sol-
chen Einbruch erleidet, dass das, was wir angestoßen ha-
ben, am Ende von anderen gemacht wird. Das kann doch
wohl nicht in unserem Interesse liegen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703416500

Herr Kollege Meierhofer, bitte schön.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1703416600

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Scheer, die

Angst kann ich Ihnen nehmen. Für die Anhörung wur-
den Experten geladen. Das haben übrigens auch der Herr
Minister und die FDP-Fraktion getan. Es werden die un-
terschiedlichsten Interessenvertreter gehört, mit denen
dann besprochen wird, worum es geht.

Das Wichtigste an dieser Novellierung ist, dass man
die Zukunft der erneuerbaren Energien nicht gefährdet.
Wir haben vorher gehört, welche Verwicklungen es bei-
spielsweise in Spanien gegeben hat. Dort war man ir-
gendwann nicht mehr bereit, die Subventionen zu redu-
zieren, obwohl man rechtzeitig gemerkt hat, dass
entsprechend große Profite gemacht werden, sodass zu-
sätzliche Unterstützung gar nicht nötig war, um die Wirt-
schaft anzutreiben. Irgendwann kommen dann Politiker
und sagen: Um Himmels willen, so viele Milliarden
Euro, wie ihr sie hier an Steuergeldern ausgebt, können
und wollen wir uns nicht mehr leisten. Deswegen ist
jetzt Schluss mit diesem Wahnsinn.

Genau das wollen wir verhindern. Genau das werden
wir dadurch verhindern, dass wir vernünftige Kürzungen
vornehmen, die die Branche nicht gefährden, die aber
dafür sorgen, dass es für den Verbraucher bezahlbar
bleibt. Wir werden damit den Ausbaupfad der erneuerba-
ren Energien, insbesondere der Fotovoltaik, immer wei-
ter vorantreiben. Sie ist zwar im Moment noch teuer, hat
aber das Potenzial, günstig zu werden. Dann wird sie oh-
nehin nicht mehr aufzuhalten sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703416700

Nun hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1703416800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir füh-

ren diese Debatte über Fotovoltaik nun seit Wochen,
wenn nicht seit Monaten, mit einer Emotionalität, wie
ich sie in diesem Bundestag noch nie erlebt habe.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Die SPD hat heute die bayerische Staatsregierung zi-
tiert. Die FDP hat das Bauernblatt zitiert. Dies zeigt, wie
schwierig die Gefechtslage an dieser Stelle ist. Deshalb
will ich einleitend versuchen, zwei grundsätzliche Dinge
festzuhalten, über die es in diesem Hause einen Konsens
geben sollte: Erstens. Wir wollen mit dem EEG Techno-
logien fördern und nicht Investmentfonds.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zweitens. Die Fotovoltaikbranche hat eine besondere
Verantwortung für das EEG. 45, wenn nicht 50 Prozent
der Differenzkosten gehen zulasten der Fotovoltaik. Die
Fotovoltaik produziert aber nur gut 6 Prozent des aus er-
neuerbaren Energien erzeugten Stromes. Wir haben da
also noch immer ein großes Missverhältnis. Nun ist das
erklärbar, weil es sich bei der Fotovoltaik um eine junge
Technologie handelt, die man in den Markt einführen
möchte. Aber es muss doch unser gemeinsames Anlie-
gen sein, meine Damen und Herren, das möglichst rasch
zu tun, um nicht Kritiker auf den Plan zu rufen, die am
Beispiel der Fotovoltaikförderung das EEG insgesamt
diskreditieren. Dieses Potenzial bietet die Fotovoltaik-
förderung, weil sie sehr hoch ausfällt.

Der Meilenstein, den wir erreichen müssen, ist, dass
der Strom, der vom Dach kommt, vergütet wird wie der
Strom, der aus der Steckdose kommt. Da sind wir auf ei-
nem guten Weg. Eigentlich sollte die Branche die Vor-
schläge von Minister Röttgen aufgreifen, ihn unterstüt-
zen und sagen: Yes, we can; wir können das. Das wäre
ein Ansatzpunkt, der die entsprechende Begeisterung für
die erneuerbaren Energien unterstreichen würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind dabei, die entsprechenden Konsequenzen zu
ziehen mit Sonderabschlägen, über die man natürlich
diskutieren muss. Wir führen eine Anhörung dazu durch,
die ergebnisoffen sein wird, aber natürlich das Ziel hat,
das, was bei der Fotovoltaik zu viel gefördert wird, abzu-
schöpfen. Wer wie Herr Becker von der enormen Preis-
entwicklung spricht, die sich deutlich abzeichnet, der
muss dafür sein, übermäßige Förderung abzuschöpfen.
Wie der Minister es richtig ausgeführt hat: Es hilft doch
der Branche nicht, wenn man das nicht tut. Am Ende
blieben nur überhöhte Renditen stehen.






(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703416900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kelber?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1703417000

Angesichts meiner kurzen Redezeit gern.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703417100

Bitte sehr.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1703417200

Die Absicht meiner Fragestellung, Herr Kollege

Nüßlein, war auch, Ihnen mehr Redezeit zu verschaffen;
Sie sind ja der vorletzte Redner insgesamt und auch Ihrer
Fraktion.

Wären Sie bereit, die zusätzliche Redezeit zu nutzen,
um nicht mehr abstrakt über die Frage der Vergütung zu
sprechen? Die Koalitionsfraktionen haben einen konkre-
ten Gesetzentwurf eingebracht, mit dem sie die Förde-
rung der Fotovoltaik kürzen wollen. Legen Sie einmal
dar, wie ein Qualitätsprodukt wie Solarmodule unter die-
sen Bedingungen noch in Deutschland produziert wer-
den und seinen Markt finden kann. Nutzen Sie die zwei
Minuten, die Ihnen die Präsidentin bestimmt dafür ein-
räumen wird.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1703417300

Ich nutze die Gelegenheit, das im Rahmen der Beant-

wortung Ihrer Frage außerhalb meiner Redezeit zu dis-
kutieren.

Ich möchte noch einmal unterstreichen, was Minister
Röttgen vorhin ökonomisch präzise analysiert hat: Die
Einspeisevergütung hat mit der Entwicklung der Modul-
preise nichts zu tun.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich hat sie damit etwas zu tun!)


Am Markt spielt die entscheidende Rolle nicht die Kos-
tensituation der Unternehmen, sondern der Preis. Wenn,
obwohl die Preise sinken, die Einspeisevergütung gleich
hoch bleibt, wem wird die Differenz zugutekommen?
Müssen wir nicht davon ausgehen, dass der Investor
seine Rendite maximieren will?


(Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie es doch einmal in Euro und Cent!)


Er wird die hohe Einspeisevergütung gerne kassieren,
den Strom aber trotzdem mit asiatischen Modulen erzeu-
gen, weil so seine Gewinnspanne am höchsten ausfällt.

Das ist ein Problem, das wir mit dem EEG nicht lösen
können. Insofern haben all diejenigen Kolleginnen und
Kollegen recht, die sagen: Das EEG ist kein Instrument
zur Subventionierung, das heißt, kein Instrument dazu,
zielorientiert bestimmte Unternehmen der deutschen
Wirtschaft zu fördern. Jemand hat vorhin gesagt, es gehe
um den Weltmarkt. Meine Damen und Herren, glauben
Sie denn ernsthaft, dass wir über das EEG den Welt-
markt beeinflussen können? Das glauben Sie doch sicher
auch nicht, sehr geehrter Herr Kollege.

(Ulrich Kelber [SPD]: Konkret!)


– Da Sie es konkret haben wollen, nenne ich Ihnen die
Abschläge, um die es hier geht: 15 Prozent bei Freiflä-
chen, 16 Prozent bei Dachflächen und 11 Prozent bei
Konversionsflächen, also entsprechend weniger, sind die
Vorschläge, die wir an dieser Stelle jetzt gemacht haben,
über die wir in der Anhörung aber durchaus noch disku-
tieren werden. Ich gehöre zu denen, die nicht sagen:
„Das ist zementiert, das ist betoniert“, sondern wir wol-
len das auch dort noch einmal verifiziert bekommen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Nennen Sie doch einmal einen Eurobetrag!)


Das Umweltministerium hat eine Rechnung vorge-
legt, die ich für plausibel halte, und diese Rechnung wird
man im Rahmen der Anhörung dann auch weiter verifi-
zieren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind nicht in der Lage, einen Eurobetrag zu nennen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703417400

Herr Kollege, es gibt noch einen Kollegen, nämlich

den Herrn Becker, der Ihnen die Redezeit verlängern
möchte.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1703417500

Das kann der Kollege Becker auch noch tun.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber bitte einmal die Frage beantworten!)


– Sie können doch 15 Prozent von der Einspeisevergü-
tung berechnen. Ich erwarte, dass Sie das können. Das
traue ich Ihnen zu.


(Ulrich Kelber [SPD]: Euro! Das sind nur vier Buchstaben!)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1703417600

Herr Kollege Nüßlein, ich habe nur eine ganz kurze

Nachfrage.

Sie haben ja gerade ausgeführt, dass Sie den Berech-
nungen des Bundesumweltministers vollumfänglich fol-
gen können. Sie haben auch seine wirtschafts- und
marktpolitische Logik herausgestellt und ihm in dem,
was er vorgelegt hat, recht gegeben.

Da Sie ja derselben Partei wie der bayerische Minis-
terpräsident angehören, heißt das für mich, dass Herr
Seehofer diese Voraussetzung logischerweise nicht er-
füllt, weil er etwas anderes fordert. Stimmen Sie mir in
dieser Deutung zu?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1703417700

Das ist eine wunderschöne Frage. Wir können bei Be-

wertungen natürlich durchaus zu anderen Ergebnissen
kommen, weil insbesondere die Branche, die bestimmte
Interessen verfolgt, etwas anderes behauptet. Der Minis-
ter steht zwischen dem Verbraucherschutz auf der einen
Seite und den Brancheninteressen auf der anderen Seite.





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe nicht gesagt, dass das, was der Minister hier
vorschlägt, bereits der endgültige Vorschlag ist, sondern
ich habe gesagt: Wir haben jetzt einen Vorschlag auf
dem Tisch, der im Rahmen dieser Anhörung, zu der auch
entsprechende Experten geladen werden, noch einmal
verifiziert wird und von dem wir aber glauben, dass wir
damit grundsätzlich richtig liegen. Wenn wir zu einem
anderen Ergebnis kommen, dann bitte gern, aber das
muss an der Stelle dann auch entsprechend fundamen-
tiert erfolgen.


(Dirk Becker [SPD]: Danke für das entschiedene Sowohl-als-auch!)


Was für mich an diesem Punkt ganz wesentlich und
wichtig ist, ist das Thema Vertrauensschutz. Das ist nicht
ein Anliegen der FDP allein. Wir werden uns noch ein-
mal gemeinsam darüber unterhalten, ob das, was jetzt im
Vorschlag steht, ausreicht. Das ist das eine.

Das andere ist das Thema Ackerland. Hier muss ich
die Kollegen von der FDP nun auch klar enttäuschen.
Die Ackerlandauflage macht keinen Sinn. Sie hat schon
zu rot-grüner Zeit keinen Sinn gemacht. Wie erklären
Sie denn, dass es die Fotovoltaik auf Ackerland geben
soll – neben Konversionsflächen und vorbelasteten Flä-
chen? Damit hat sich Rot-Grün damals vor der Verant-
wortung gegenüber dem Natur- und Landschaftsschutz
drücken wollen. Ich nehme an, dass Sie das deshalb ge-
macht haben. Das muss gestrichen werden, weil es nicht
konsequent und nicht sinnvoll ist.


(Horst Meierhofer [FDP]: Grünland!)


Wir werden dann auch noch einmal darüber diskutieren,
ob die Alternativen, die Flächen, die jetzt im Gesetzent-
wurf vorgeschlagen sind, ausreichen, um das ganze
Thema entsprechend voranzubringen.

Ich möchte auch noch einmal betonen: Ich hätte mir
gewünscht, dass auch der Kollege Fell die flexible Ver-
gütung – das, was Minister Röttgen mit Blick auf die
Verlässlichkeit gesagt hat – in ganz besonderer Weise
gewürdigt hätte. Lieber Kollege Fell, wenn ich mich
recht entsinne, war das nämlich bei der letzten EEG-No-
vellierung ein Vorschlag der Grünen. Ich würde mir
wünschen, auch einmal ein bisschen für das gewürdigt
zu werden, was wir hier an der Stelle umsetzen. Das
macht mehr Sinn als der Versuch, das Ganze politisch zu
instrumentalisieren, die alte Leier „Kernenergie gegen
erneuerbare Energien“ zu spielen und so zu tun, als ob es
da eine Konkurrenz gibt. Diese gibt es nicht.


(Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP])


Wir stehen für den Einspeisevorrang erneuerbarer
Energien. Deshalb hat die Laufzeitverlängerung für
Atomkraftwerke nichts, aber auch gar nichts mit dem
Thema erneuerbare Energien und Fotovoltaik und deren
Ausbau zu tun.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703417800

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1703417900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den
Horrorszenarien, die gerade von der Opposition gezeich-
net wurden, möchte ich die Diskussion noch einmal et-
was versachlichen und betonen, dass das Gegenteil von
dem der Fall ist, was Sie derzeit behaupten: Wir werden
in den Bereich der Fotovoltaik nach wie vor enorm viel
investieren; die Förderung wird enorm hoch sein. Kein
Träger erneuerbarer Energien wird in den nächsten Jah-
ren so stark gefördert wie die Fotovoltaik.


(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Da hat er recht! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht! Es geht um ausreichende Förderung!)


Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren auch zu ei-
nem enormen Ausbau in diesem Bereich führen. Die
Zahlen zeigen ganz deutlich, dass es in diesem Jahr eine
Steigerung um 3 000 bis 5 000 Megawatt geben wird.
Das heißt, allein in diesem Jahr gibt es einen Aufwuchs
um 30 bis 50 Prozent. Der deutsche Anteil am Welt-
markt in diesem Bereich wird nach wie vor 50 Prozent
betragen, obwohl der deutsche Markt nicht gerade der
Markt ist, auf dem die Sonne am meisten scheint. Auch
das muss man sicherlich in der Diskussion berücksichti-
gen.

Herr Kauch hat mir ein Zitat vorweggenommen, aber
ich muss das doch noch einmal sagen, weil ich glaube,
dass es in dieser Debatte enorm wichtig ist, die Positio-
nen klarzustellen. Der Bundesverband Solarwirtschaft
hat vor wenigen Tagen ganz klar gesagt: Bei einer ge-
zielten Eigennutzung des erzeugten Stroms besteht ab
2010 durchaus Potenzial, die Vorjahresrendite noch ein-
mal zu übertreffen. – Meine Damen und Herren, allein
diese Aussage sagt doch alles. Ich glaube, sie zeigt, dass
eine Anpassung dringend notwendig ist.

Ich meine, wir sollten in dieser Debatte unsere Ziele
noch einmal in den Mittelpunkt stellen.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist es!)


Das erste Ziel ist, die Träger erneuerbarer Energien
schrittweise auszubauen, wo es nur geht. Dann müssen
wir prüfen, an welchen Stellen wir das tun. Wir werden
das im Bereich der Fotovoltaik massiv tun, aber wir
müssen die Diskussion auch ehrlich führen und anerken-
nen, dass wir im Bereich der Fotovoltaik und Solarener-
gie nur ein begrenztes Potenzial haben. Selbst die größ-
ten Optimisten sagen, dass wir in den nächsten Jahren
nur 5, 6, 7 oder 8 Prozent der Stromerzeugung durch Fo-
tovoltaik erzielen können.


(Ulrich Kelber [SPD]: Bis wann?)


Trotzdem werden wir in den nächsten zehn Jahren
80 Milliarden Euro in diesen Bereich investieren. Ich





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

glaube, es ist richtig, dass wir das tun. Denn die Exper-
ten sagen uns, dass es in den nächsten zwei bis drei Jah-
ren gerade in diesem Bereich noch Technologiesprünge
geben wird. Ich glaube deshalb, es ist richtig, in die Fo-
tovoltaik zu investieren.

Aber wir müssen auch das zweite Ziel verfolgen – das
wurde schon angesprochen –, nämlich die Solarbranche
wettbewerbsfähig zu machen, damit sie auf dem interna-
tionalen Markt bestehen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn nur so können langfristig sichere Arbeitsplätze
entstehen; und nur so können wir eine Branche auf-
bauen, die zukunftssicher ist.

Bei aller Diskussion dürfen wir nicht vergessen – es
ist mir wichtig, das noch zu erwähnen –, dass wir mit
gleichem Druck dafür sorgen müssen, die Energie, die
wir durch Fotovoltaik erzeugen, auch speichern zu kön-
nen. Die ganz große Herausforderung für die nächsten
Jahre ist, Speichertechnologien zu entwickeln. Ich
glaube, neben dem Netzausbau wird die große Heraus-
forderung im Bereich der erneuerbaren Energien sein,
Speichertechnologien zu entwickeln, um die Solarbran-
che zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist,
glaube ich, der Ansatz richtig, die Eigenförderung erheb-
lich auszubauen und zu versuchen, neue Innovationen zu
ermöglichen.

Meine Damen und Herren, ich meine, durch die An-
passung, die wir jetzt vornehmen – und es ist eine An-
passung und keine Kürzung –, werden wir der wettbe-
werbsfähigen Solarbranche eher den Rücken stärken, als
dass wir sie abwürgen. In diesem Sinne freue ich mich
auf die kommende Anhörung und die kommenden Bera-
tungen in den Ausschüssen. Ich glaube, wir sind in die-
sem Bereich auf dem richtigen Weg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703418000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/1147 und 17/1144 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Eurozone reformieren – Staatsbankrotte ver-
hindern
– Drucksache 17/1058 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können
wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703418100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Griechenland ist durch massiven Druck aus Brüssel bzw.
aus der EU mitten in der Wirtschaftskrise gedrängt und
verpflichtet worden, ein massives Sparprogramm aufzu-
legen, zum Beispiel durch Lohnkürzungen und Einspa-
rungen im öffentlichen Dienst, eine Mehrwertsteuer-
erhöhung und dergleichen mehr. Das wird das Problem
in Griechenland nicht lösen. Im Gegenteil: Diese von au-
ßen aufgezwungene Politik des Sparens wird die Wirt-
schaftskrise in Griechenland nur noch weiter verschärfen
und letzten Endes die Staatsverschuldung tendenziell
weiter erhöhen.

Der britische Schatzkanzler hat zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass dies eine Verrücktheit ist. Ich sage deut-
lich: Für Verrücktheiten steht die Linke nicht zur Verfü-
gung. Das lehnen wir ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Verrücktheit wird sich möglicherweise noch stei-
gern, wenn auf Intervention der deutschen Regierung der
IWF auf Griechenland losgelassen wird. Was für verhee-
rende Folgen die IWF-Politik für die Binnenstruktur von
Ländern hat, konnte man in den letzten Jahrzehnten in
diversen Ländern der Dritten Welt verfolgen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie haben doch keine Ahnung!)


Das griechische Volk wehrt sich zu Recht gegen die
massiven Verschlechterungen. Es bleibt aus unserer
Sicht nur zu hoffen, dass sich das griechische Volk mög-
lichst erfolgreich gegen diese Verschlechterungen wehrt;
denn es ist im Interesse des Landes und letztlich auch im
Interesse Europas, dass diese Politik nicht aufgeht. Es ist
deswegen völlig klar, dass die Linke diese Auseinander-
setzung unterstützt.


(Beifall bei der LINKEN)


Überhaupt ist festzuhalten, dass andere Bereiche, in
denen man in der Tat einsparen könnte, bisher nicht ins
Blickfeld geraten sind. Die Militärausgaben zum Bei-
spiel belaufen sich in Griechenland auf mehr als 4 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ungefähr dreimal
so viel wie in Deutschland. Es ist mir jedenfalls bisher
aber nicht bekannt, dass ein einziger Politiker der deut-
schen Bundesregierung den Griechen vorgeschlagen hat,
ihren Rüstungshaushalt herunterzufahren. Nein, man muss
im Gegenteil immer wieder feststellen, dass gerade auch
deutsche Minister eher darauf hinwirken, die Griechen
zur Steigerung der Rüstungsausgaben zu animieren und
sich zu Lobbyisten deutscher Rüstungsunternehmen zu





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)

machen. Auch das geht im Grunde nicht so weiter. Wir
sind ganz klar dagegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Man sieht an diesem Beispiel, dass das eigentliche
Problem in Griechenland auch sehr viel mit Deutschland
zu tun hat. Das eigentliche Problem ist die Entwicklung
der deutschen Wirtschaftspolitik, und zwar die Politik
des deutschen Lohndumpings in Europa und in der Welt.

Die Lohnstückkosten sind in den letzten zehn Jahren
in der Eurozone um 27 Prozent und in Griechenland um
28 Prozent angestiegen. Nur in Deutschland sind sie um
gerade einmal 7 Prozent angestiegen. Dahinter steht,
dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die Real-
löhne in den letzten zehn Jahren gesunken sind.

Insofern kann man der französischen Finanzministe-
rin Lagarde nur zustimmen, die letzte Woche das deut-
sche Lohndumping sehr stark kritisiert hat. Mir ist nach
wie vor völlig unverständlich, weshalb in diesem Hause
auch von Vertretern der Bundesregierung diese Kritik re-
lativ läppisch abgetan worden ist, ohne sich damit aus-
einanderzusetzen.

Deutschland hat von 2000 bis 2008 einen Außenhan-
delsüberschuss von 1,3 Billionen Euro erzielt. Interessan-
terweise deckt sich das Defizit der Euro-Südländer genau
mit dieser Zahl. Die Euro-Südländer haben in diesen acht
Jahren ein Defizit von 1,3 Billionen Euro aufgehäuft. Die-
ser Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit in
den Euro-Südländern ist auch der entscheidende Grund
für das Desaster ihrer Staatshaushalte.

Wenn es nicht gelingt, diese Politik umzukehren – si-
cherlich neben einer Reihe von Hausaufgaben, die in den
Ländern selbst zu erledigen sein wird – und in Deutsch-
land eine andere Politik durchzusetzen, die viel stärker
auf die Kräftigung und den Ausbau des Binnenmarktes
setzt und dadurch zu fairen Außenhandelsbeziehungen
führt, dann werden diese Probleme in Europa nicht gelöst
werden. Dann werden nach Griechenland noch Spanien,
Portugal und weitere Länder folgen. Ich sage voraus:
Dann ist die Gefahr, dass der Euro auseinanderfliegt, ex-
trem groß, und dann könnten die Erfolge von 60 Jahren
europäischer Integration am Ende in hohem Maße gefähr-
det sein.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ein sehr einfaches Weltbild, das muss man mal sagen!)


Außerdem besteht die Gefahr, dass wir in Europa wieder
zu einer verhängnisvollen Entwicklung gelangen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703418200

Nächster Redner ist der Kollege Peter Aumer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1703418300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Der Antrag, den die Fraktion Die Linke heute hier ein-
bringt, trägt die falsche Überschrift. Nicht „Euro-Zone
reformieren – Staatsbankrotte verhindern“ ist das Ziel
dieses Antrags, sondern damit soll der Weg zu einer so-
zialistischen Staatswirtschaft in Europa geöffnet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Antrag, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren der Linken, ist wohl Ausfluss des in dieser Woche
vorgestellten Entwurfs Ihres neuen Parteiprogramms.
Die Financial Times Deutschland bewertet die dort auf-
geführten Ziele als naive Utopien. Wenn man diesen An-
trag liest, dann kommt es einem zum Teil so vor, als
wollten Sie die Kräfte des Marktes außer Kraft setzen,
als hätte die Utopie wieder einmal Einzug in die Real-
politik gehalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Weiter schreibt die Financial Times Deutschland:

Die Linke denkt nur in Schwarz-Weiß.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, in RotRot! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Für sie gibt es nur die da unten und die da oben, die
Linkspartei und alle anderen.

– Welch treffende Einschätzung, wenn man den vorlie-
genden Antrag liest!

Wer ist schuld an der Krise Griechenlands? Da holen
Sie zum Rundumschlag aus, wie wir gerade gehört haben:
natürlich die EU und der Internationale Währungsfonds,
weil sie von Griechenland Lohnkürzungen im öffentli-
chen Dienst und Sozialabbau verlangen, Deutschland,
weil wir für das Leistungsbilanzdefizit von Mitgliedstaa-
ten der Euro-Zone verantwortlich sind und Steuerdum-
ping bei Unternehmensteuern betreiben, die Ratingagen-
turen und wahrscheinlich viele andere mehr.

Meine sehr geehrten Damen und Herren Antragstel-
ler, hätten Sie doch einmal in die Stellungnahme des Ra-
tes zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Griechen-
lands für 2010 bis 2013 geschaut, die uns in der letzten
Sitzung des Finanzausschusses vorgelegen hat. Ein paar
Zitate daraus zeigen, wie falsch Sie in Ihrer Einschät-
zung liegen: deutlich über dem Produktionswachstum
liegender Anstieg der Reallöhne, Abkopplung der Löhne
von Arbeitsmarktbedingungen und Produktivitätsent-
wicklung. Die Kerninflation wird den Prognosen zufolge
rascher zunehmen als im Durchschnitt des Euro-Raums.
Die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands muss auch im
nichtpreislichen Bereich verbessert werden; Forschungs-
und Entwicklungsinvestitionen müssen gefördert wer-
den. Außerdem werden die Reform der öffentlichen Ver-
waltung, Qualität der Bildung und Reformen bei den
Renten gefordert. All diese Dinge haben Sie in Ihrem
Antrag ganz verquer dargestellt. Ich kann nicht nach-
vollziehen, wie Sie auf diese Einschätzung gekommen
sind.





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und
Herren der Linken, würden Sie die Krise in Griechen-
land verschärfen. Sie vergeben die Chance, die in dieser
Krise steckt, eine zukunftsfähige Entscheidung für den
Stabilitäts- und Wachstumspakt zu treffen.

Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
haben in dieser außerordentlich schwierigen Situation
das einzig Richtige getan. Sie haben durch ihre konse-
quente Politik dazu beigetragen, dass Griechenland in
kurzer Zeit ein ambitioniertes Sparprogramm vorgelegt
hat. Das ist der einzige Weg von Griechenland aus der
Krise und in eine stabile Zukunft.

Die Krise in Griechenland ist keine Krise des Euros,
wie gestern der frühere Bundesfinanzminister Theo
Waigel in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung feststellte; vielmehr habe die nationale Finanz-,
Wirtschafts- und Lohnpolitik einiger Mitgliedstaaten diese
Probleme geschaffen. Aus diesem Grund ist der deutsche
Weg, der Weg von Bundeskanzlerin Merkel, der einzig
richtige. Der nötige Reformdruck auf Griechenland muss
aufrechterhalten werden. Hier passt sehr gut der Satz:
Hilf dir selbst, dann ist dir geholfen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Erst wenn es gar nicht mehr anders geht – das hat die
Bundeskanzlerin heute dargestellt –, muss man helfen,
muss die Bundesrepublik Deutschland als Ultima Ratio
gemeinsam mit anderen Mitgliedsländern der Europäi-
schen Union und dem Internationalen Währungsfonds
eingreifen und so ihrer Verantwortung gerecht werden.

In der ganzen Debatte dürfen wir nicht vergessen,
dass Deutschland den höchsten Nettobeitrag zum Haus-
halt der EU leistet


(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bayern auch!)


– Bayern selbstverständlich auch – und somit den Auf-
hol- und Transformationsprozess jüngerer EU-Mitglied-
staaten fördert.

Ein zentraler Punkt bei der Bekämpfung der aktuellen
Krise in Griechenland ist es, die Kontrolle der Staaten
auszubauen und den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit
Nachdruck durchzusetzen. Die Pflicht aller Euro-Staaten
zur Einhaltung dieses Paktes muss oberstes Gebot blei-
ben. Es ist wichtig, in Zukunft Tricksereien in der Haus-
haltspolitik, wie sie in Griechenland stattgefunden ha-
ben, zu unterbinden,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kontrollen zu verstärken und wirkungsvolle Instrumente
der Prävention und Sanktion zu schaffen.


(Beifall des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])


Die von den Linken eingebrachten Vorschläge sind nicht
zielführend.

Es ist wichtig und richtig – Minister Schäuble hat es
gesagt –, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erwei-
tern und zu überlegen, was hier der richtige Weg ist. Die
Wirtschaftsweise Weder di Mauro sagte: „Wir müssen
dem Stabilitätspakt Zähne geben.“

Ich komme zum Schluss. Der ehemalige Finanzminis-
ter Waigel hat im vorhin angesprochenen Artikel ein Ge-
dicht von Reiner Kunze zitiert:

Wort ist
währung
Je wahrer,
desto härter

Das ist richtig. Die Worte Ihres Antrags sind nicht unter-
stützenswert.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703418400

Manfred Zöllmer ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1703418500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Wirtschafts- und Währungsunion hat viele Väter:
Giscard d'Estaing, Helmut Schmidt, Helmut Kohl,
François Mitterrand, um nur einige zu nennen. Sie hat
die Idee verbunden, die wirtschaftliche Integration in
Europa mit einem einheitlichen Währungsraum zu voll-
enden. Dahinter stand die Vision einer politischen
Union, einer gemeinsamen Währung als Ausdruck einer
kollektiven europäischen Identität. Die währungspoliti-
sche Integration in Europa ist Schritt für Schritt vorange-
kommen. Die Einführung des Euro war ein Glücksfall,
auch für Deutschland;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn der Euro war und ist ein Hort der Stabilität. Ohne
ihn müssten wir jetzt über völlig andere Krisenszenarien
in Europa sprechen, als wir es jetzt tun. All dies – Inte-
gration, Einführung des Euro – ist von den Linken, da-
mals noch PDS, konsequent bekämpft und abgelehnt
worden. Gilt das jetzt eigentlich noch? Sie formulieren
in Ihrem Antrag: „Die Europäische Währungsunion ist
bedroht.“ Jetzt wollen Sie offenkundig das, was Sie vor-
her vehement bekämpft haben, retten, nach dem Motto:
Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer
Kraft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Griechenland hat über einen sehr langen Zeitraum
massiv über seine Verhältnisse gelebt. Es gibt eine große
Wettbewerbsschwäche des Landes. Griechenland steht
vor dem Problem, sein exorbitantes Haushaltsdefizit zu
finanzieren. Griechenland hat ein fiskalisches Problem.
Lieber Kollege Schlecht, es ist im Übrigen wirklich
aberwitzig, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf dem
Weltmarkt als Ursache dieser Probleme zu bezeichnen.





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Liest man den Antrag der Linken, so findet man über-
haupt nichts zu der Verantwortung Griechenlands, seine
Probleme zuerst selbst zu lösen. In Ihrem Antrag fordern
Sie des Weiteren, die EZB, also die Europäische Zentral-
bank, solle Staatsschuldtitel entsprechend der Praxis in
den USA erwerben dürfen, um damit Haushaltsfinanzie-
rung zu betreiben. Ich sage Ihnen ganz klar: Das geht gar
nicht.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir wollen aus der Stabilitäts- keine Inflationsunion ma-
chen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen Defizite abbauen – das sage ich auch in
Richtung CDU/CSU und FDP –, im Übrigen auch in
Deutschland. Schauen Sie sich das einfach einmal an.

Die griechische Krise zeigt, dass das System des
Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes über-
prüft werden muss. Was ist zu tun? Griechenland hat ei-
nen glaubwürdigen Haushaltsplan vorgelegt, der schnell
umgesetzt werden muss. Griechenland braucht dringend
ein funktionierendes und gerechteres Steuersystem,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


ein System, das sicherstellt, dass auch die Besserverdie-
nenden sich an der Finanzierung des Gemeinwesens be-
teiligen.

Griechenland braucht dringend entschiedene Maß-
nahmen gegen die grassierende Korruption. Wir brau-
chen Wahrheit und Klarheit über die Zahlen. Es darf
nicht wieder passieren, dass Eurostat sozusagen herein-
gelegt wird, dass Entscheidungen auf einer völlig fal-
schen Datengrundlage getroffen werden. Wir brauchen
darüber hinaus ein entschiedenes Vorgehen gegen die
Spekulanten, die in dieser Situation Griechenland und
auch andere Länder weiter destabilisieren wollen.

Wir brauchen im Euro-Raum eine stärkere Koordina-
tion der Wirtschaftspolitiken; denn eine nationale Zins-
und Wechselkurspolitik steht nicht mehr zur Verfügung.

Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir
ein System der Bereitstellung von Notfallliquidität
schaffen, das den strikten Grundsatz des No-bail-out
– Artikel 125 des EU-Vertrages – nicht außer Kraft setzt,
sondern durch ein Notfallsystem ergänzt wird. Das ist
entscheidend.


(Beifall bei der SPD)


Nun schauen wir uns einmal an, wie die Bundesregie-
rung in dieser Situation agiert hat. Statt beruhigend zu
wirken, wurde Öl ins Feuer gegossen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt wird es falsch! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Bis dahin war es richtig! So hätte es weitergehen können!)

– Nein, das ist völlig richtig. – Uns wurde ein besonde-
res Schauspiel der Regierungskunst vorgeführt. Es kam
der Vorschlag der Kanzlerin, man möge unbotmäßige
Mitglieder der Währungsunion einfach hinauswerfen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer sagt das?)


Gut, darüber kann man nachdenken, aber nicht laut,
wenn man deutsche Bundeskanzlerin ist. Mit wem ist
dieser Vorschlag eigentlich abgestimmt worden? Wie
soll das durchgesetzt werden? Welche Verbündeten gibt
es? Viele Fragen, auf die die Regierung keine Antwort
hatte. In der Süddeutschen Zeitung hieß es nur: „Abfuhr
für Merkel“. Jean-Claude Trichet von der EZB sagte, er
werde solche „absurden Hypothesen“ nicht kommentie-
ren.

Dann gab es den nächsten Akt, den man überschrei-
ben kann mit „Schäuble gegen Merkel“ oder „Merkel
gegen Schäuble“, wie auch immer. Der Bundesfinanz-
minister hielt es für „blamabel“, wenn der Eindruck ent-
stünde, die EU könne sich nicht selbst helfen. Er war der
Meinung, der IWF sei zu stark amerikanisch dominiert
und bei Hilfe durch den IWF könnten die Amerikaner in
die Haushaltspolitik der EU-Länder eingreifen. Dann
gab es die Befürchtung, dass die Unabhängigkeit der
EZB möglicherweise beeinträchtigt sei. Das waren sub-
stanzielle, fundamentale Bedenken, und der Bundes-
finanzminister hatte deshalb einen anderen Vorschlag
gemacht, nämlich den eines EWF.

Auf einmal kam die Kehrtwende um 180 Grad,
Motto: Was kümmert mich mein Geschwätz von ges-
tern? Nun soll es doch der IWF sein. Ich sage sehr deut-
lich: Das wäre eine Möglichkeit; denn der IWF hat in
Lettland, Ungarn und anderen Ländern bereits geholfen.
Lieber Kollege Schlecht, die Linke lebt ja größtenteils in
den 80er-Jahren – auch Sie; das haben Sie hier deutlich
gemacht –; aber Sie müssen einfach einmal zur Kenntnis
nehmen, dass sich der IWF unter Strauss-Kahn deutlich
verändert hat. Er ist nicht mehr der neoliberale Teufel,
der er früher in der Tat einmal war.

Liebe Bundesregierung, was war das für ein blamab-
les Schauspiel, das insgesamt hier gegeben wurde!
„Merkel brüskiert EU-Partner“, titelte die Financial
Times Deutschland. Dieses Agieren der Bundesregie-
rung ist der Situation nicht angemessen, passt aber naht-
los in die bisherige Performance, die die Bundesregie-
rung hier abgegeben hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703418600

Nun hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1703418700

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, Sie haben viel





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

Richtiges gesagt. Sie haben am Ende krampfhaft ver-
sucht, noch Schuldzuweisungen gegenüber der Bundes-
regierung zu tätigen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das gehört zur Wahrheit dazu!)


Das sei Ihnen als Opposition zugestanden. Wer heute die
Regierungserklärung verfolgt hat, hat aber eine Regie-
rungschefin erlebt, die sich mit einem hohen Maß an
Verantwortungsbewusstsein dieser großen Aufgabe
stellt,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


die einen ganz klaren Blick hat für die Verantwortung für
die Gelder der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler, aber auch für unsere gemeinsame europäische
Währung, für die Stabilität dieser europäischen Wäh-
rung. Diese Entschlossenheit, die heute in diesem Hohen
Hause zum Ausdruck gekommen ist, ist ein wichtiges
Signal gewesen. Dafür sind wir der Bundeskanzlerin
sehr dankbar.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Euro erlebt eine historische Bewährungsprobe.
Es gibt zahlreiche Mitgliedsländer, die vor gewaltigen
wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen
stehen. Das ist wahrhaftig keine einfache Stunde. Wir
sind gut beraten – das will ich der Linken sagen –, in die-
ser Situation nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen,
sondern die europäischen Länder als Partner zu sehen.
Wir haben ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Inte-
resse, und deswegen müssen wir auch gemeinsam nach
Lösungen suchen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Euro ist nicht nur eine Währungsgemeinschaft; er
ist auch eine Schicksalsgemeinschaft für uns Europäer.
Derzeit wird viel über griechische Probleme geredet. Sie
tun das in Ihrem Antrag. Sie machen Schuldzuweisun-
gen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere und sagen,
was die alles falsch machen und wie schlimm da alles
ist. Ich will einmal daran erinnern, dass es nicht die
Griechen waren, die eine Aufweichung des Stabilitäts-
und Wachstumspaktes betrieben haben.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Rot-Grün!)


Es waren nämlich der deutsche Bundeskanzler Gerhard
Schröder


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und sein Finanzminister Hans Eichel, die das getan ha-
ben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Zöllmer, ich erinnere mich noch gut an
die scheinheilige Begründung der Sozialdemokraten.
Damals haben sie gesagt, Maastricht sei nicht nur ein
Stabilitäts-, sondern auch ein Wachstumspakt, und es
dürfe nicht immer nur um Stabilität gehen. Das war die
Begründung, mit der Gerhard Schröder damals mit Un-
terstützung der Sozialdemokraten eine Aufweichung der
Maastricht-Kriterien betrieben hat.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So war das!)


Wir haben Ihnen damals gesagt, dass es falsch ist, und
heute werden wir darin bestätigt. Das war ein histori-
scher Fehler sozialdemokratischer Finanzpolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich auf die Situation Griechenlands zu-
rückkommen. Wir wollen das im Geiste einer Partner-
schaft und im Miteinander regeln. Wir wollen keine Bes-
serwisserei gegenüber Griechenland betreiben. Arroganz
und Überheblichkeit, wie sie in dem Antrag der Linken
zum Ausdruck kommen, sind schwer erträglich und soll-
ten in diesem Haus keine Mehrheit finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Griechen haben Probleme. Die Linken kennen die
Ursache. Sie kennen die Problemlösung. Sie wissen al-
les. Sie wissen, dass Steuerhinterziehung an der Situa-
tion schuld ist, dass Steuerdumping daran schuld ist,
dass eine ungenügende Besteuerung von Kapital für die
Lage verantwortlich ist. All das wissen die Linken. Man
fragt sich manchmal, warum sich der griechische Minis-
terpräsident nicht mit Gregor Gysi, sondern mit der Bun-
deskanzlerin trifft.

In Wahrheit ist es eben die Bundeskanzlerin, die den
Ausweg aufzeigt und die in Partnerschaft eine Lösung
für Griechenlands Probleme sucht. Sie hat klar erkannt
– sie hat das auch zum Ausdruck gebracht –, dass Hilfe
zur Selbsthilfe das Gebot der Stunde ist. Das unterschei-
det die Bundesregierung von der Opposition: Die einen
suchen nach einem Weg, wie man Hilfe zur Selbsthilfe
leisten kann, und die anderen – Sie nämlich – zeigen mit
dem Finger auf andere.

Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
haben es von Anfang an abgelehnt, Griechenland mit
deutschen Steuergeldern zu helfen, und sie haben gut da-
ran getan. Es war ein wichtiges Zeichen, dass deutlich
gemacht wurde: Griechische Schulden müssen griechi-
sche Schulden bleiben. – Deutschland kann vieles leisten
– wir sind eine große Volkswirtschaft –, aber es gibt
auch für uns Grenzen. Man kann den Euro nicht stärken,
indem man die stärksten Volkswirtschaften des Euro-
Raums schwächt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Probleme Griechenlands haben ihren Ursprung in
Griechenland. Sie haben eine nationale Ursache, und
deswegen können sie nachhaltig auch nur auf nationaler
Ebene gelöst werden.

Deutschland ist sicher ein wirtschaftlich starkes Land,
aber auch starke Länder können sich übernehmen. Des-
wegen finde ich es verantwortungslos, wie bereitwillig
Sie das Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler europaweit zur Verfügung stellen wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

Die Vorschläge in Ihrem Antrag sind nicht Ausdruck
europäischer Solidarität; sie sind Ausdruck nationaler
Verantwortungslosigkeit.

Nehmen Sie nur Ihre Forderung nach einer Euro-An-
leihe. Allein das zeigt doch, wie wenig Sie die Probleme
des eigenen Landes im Blick haben. Wenn Sie eine
Euro-Anleihe fordern, sollten Sie auch dazu sagen, dass
das mit einer jährlichen Mehrbelastung in Milliarden-
höhe für die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzah-
ler verbunden wäre. Deutschland müsste höhere Zinsen
bezahlen, wenn wir uns auf so etwas einlassen würden.

Damit führen Sie die Opfer, die die Bürgerinnen und
Bürger bei uns erbracht haben, ad absurdum. Deutsch-
land ist deshalb kreditwürdiger als andere Länder, weil
Deutschland bereit ist, sich ernsthaft der Konsolidie-
rungsaufgabe zu stellen. Deutschland profitiert aufgrund
der Sparopfer der Bürgerinnen und Bürger von günstige-
ren Kreditkonditionen.

Sie wollen diese Früchte nationaler Anstrengung zu-
gunsten einer Euro-Anleihe opfern. Ihre Idee ist nicht
europäisch, sie ist entsetzlich, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ihre Forderungen führen nicht etwa zu einer verant-
wortungsbewussteren Haushalts- und Finanzpolitik in
Europa, nein, Sie zementieren Verantwortungslosigkeit
mit Ihren Vorschlägen. Sie fordern tatsächlich einen
Fonds, um längerfristige Defizite der Mitgliedstaaten zu
finanzieren.

Das wäre ein Blankoscheck für unsolide Haushalts-
und Finanzpolitik nach dem Motto: Die Staaten ver-
schulden sich, und wenn die Schulden hoch genug sind,
dann werden sie aus einem großen Topf beglichen.

Meine Damen und Herren, das funktioniert in keiner
Familie, das funktioniert in keinem kleinen und in kei-
nem großen Unternehmen, und das funktioniert schon
gar nicht in Europa.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie verlieren auch kein Wort darüber, wer diesen
Wunderfonds bestücken soll, wer die Zeche bezahlen
soll. Sie tun immer so, als seien Sie diejenigen, die die
Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wahrnehmen. Tatsächlich wollen Sie aber die Menschen
zur Kasse bitten für Ihren europäischen Fonds. Wir ma-
chen Ihre Idee des Schuldentransfers auf dem Rücken
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-
land aber nicht mit. Wir werden die Interessen der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrnehmen, indem
wir Ihren wirklich nicht zu verantwortenden Antrag ab-
lehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703418800

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Viola von Cramon-Taubadel das Wort.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, Herr Wissing hat recht. Der Euro befindet
sich in einer historischen Bewährungsprobe. Die Quali-
tät von Bündnissen zeigt sich aber in Krisen. In Krisen-
situationen wird deutlich, ob sich nur Vorteilssucher
zusammengefunden haben oder ob man gewillt ist, ge-
meinsam Probleme zu lösen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiteres Merkmal von Krisensituationen ist sicher-
lich der Auftritt ungewöhnlicher Ratgeber. Wenn eine
europaskeptische Partei wie Die Linke sich plötzlich um
die EU sorgt, dann stellt sich die Frage: Sind die Linken
klüger geworden, oder ist die Lage in Europa bedrohli-
cher geworden?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Den zweiten Teil der Frage beantworte ich mit einem
eindeutigen Ja. Allerdings – und das muss im Zentrum
dieser Auseinandersetzung stehen – hat die Politik der
Bundesregierung erheblich dazu beigetragen, dass wir
uns in einer derart schwierigen Situation in Europa be-
finden.

Es ist doch offensichtlich: Wer auch immer in der aktu-
ellen Europadebatte das Sagen hat – der Finanzminister,
die Kanzlerin oder sogar einmal der Außenminister –, sie
reden über Europa, aber sie denken an den Wahlkampf in
Nordrhein-Westfalen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich hoffe, dass diese durchsichtigen Manöver irgend-
wann einmal aufhören; denn das hat Europa nicht ver-
dient.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir brauchen jetzt eine starke Europapolitik. Diejeni-
gen, die von einem gemeinsamen Europa und insbeson-
dere von der Währungsunion stark profitieren – und da-
bei ist Deutschland nun einmal die Nummer 1 –, müssen
auch die größte Solidarität zeigen. Solidarität heißt aber
nicht Blindheit. Gute Partner müssen es ertragen, dass
man sich kritisch über bestimmte Verhaltensweisen aus-
lässt.

Die Regierung Griechenlands und die Bevölkerung
Griechenlands haben sicher schon erkannt: Jahrzehnte-
lange Klientelpolitik, mangelhafte Bekämpfung von
Korruption, eine weit verbreitete laxe Steuermoral und
ein überdimensionierter öffentlicher Sektor, eine solche
Politik hält kein Staatshaushalt der Welt lange aus.

Allerdings hat die Welt, haben insbesondere die Part-
ner in der EU viel zu lange tatenlos zugeschaut. Grie-
chenland hat bereits am 21. Oktober des vergangenen
Jahres sein Haushaltsdefizit von 12,7 Prozent offiziell
bekannt gegeben. Damit hätte die Bundesregierung ge-
nügend Zeit gehabt, um ein Konzept mit den Partnern in





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)

der Euro-Zone abzustimmen und die Währungsunion
mit neuen Instrumenten für die Zukunft zu stärken. Weg-
schauen ist keine kluge Politik. Die Bedienung nationa-
ler Ressentiments ist sogar eine sehr dumme Politik.
Aber genau so handelt diese Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was die Euro-Zone und Griechenland betrifft, muss
genau hingeschaut werden. Dort hat die Regierung ein
ambitioniertes Sparpaket vorgelegt. Das sollte man aner-
kennen. Genau hinschauen muss man aber auch auf die
Rüstungsausgaben des Landes. Den Griechen sollte klar
sein: Der vermeintlichen finanziellen Bedrohung, der sie
ausgesetzt sind, kann man nicht mit Waffen begegnen.
Sie müssen alle Möglichkeiten nutzen, ihren Militär-
haushalt zu reduzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dabei dürfen wir nicht übersehen: 35 Prozent der Rüs-
tungsgüter Griechenlands werden aus Deutschland impor-
tiert. Dennoch konnte es Außenminister Westerwelle bei
seinem Staatsbesuch am 3. Februar nicht unterlassen, für
die deutsche Rüstungsindustrie zu werben. Der Außen-
minister hilft bei Exporten, und die Bundeskanzlerin
denkt offen über einen Ausschluss aus der Währungsu-
nion nach und blockiert anschließend auf dem Frühjahrs-
gipfel auch noch den dringend erforderlichen Hilfsme-
chanismus zur Unterstützung Griechenlands. Das ist
eine kalte Verweigerungshaltung, das ist unsolidarisch,
das ist im Kern antieuropäisch. Es ist antieuropäisch,
weil nicht auf eine europäische Lösung gesetzt wird.

Natürlich heißt europäische Solidarität nicht, Geld
nach Athen zu tragen.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Eulen!)


Ich habe in Griechenland mit Vertretern des Parlaments,
der Gewerkschaften und der Zentralbank gesprochen.
Dabei hat mich überrascht, dort nicht eine einzige Forde-
rung nach Finanztransfers erhalten zu haben. Die Grie-
chen erwarten lediglich ein Bekenntnis der Bundesregie-
rung zu einer europäischen Solidarität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nein, es geht wirklich darum, Griechenland nicht
dem Spiel der Spekulanten zu überlassen. Der Haushalt
muss konsolidiert werden, aber die Zinsen dürfen auf-
grund von Spekulationen an den Finanzmärkten nicht
weiter hochgetrieben werden. Deshalb brauchen wir
– das sehen Sie anders; das weiß ich – eine europäische
Anleihe, die Griechenland einen niedrigen, einen tragba-
ren Zinssatz ermöglicht.


(Zuruf von der FDP: Auf wessen Kosten?)


Die Krise muss und sie kann auch nur innerhalb der
Europäischen Währungsunion gelöst werden. Sie kann
aber nur gelöst werden, wenn sich die Bundesregierung
konstruktiv verhält. Schon jetzt sollte man die richtigen
Lehren aus dieser Krise ziehen: Auch langfristig darf die
Bundesregierung einer verbesserten wirtschaftspoliti-
schen Koordination in der Euro-Zone und in der Euro-
päischen Union nicht weiter im Wege stehen.

Die EU, aber auch die Mitgliedstaaten der Euro-Zone
müssen diese Krise nutzen, um die jetzt offen zutage ge-
tretenen fundamentalen Schwächen zu beseitigen. Dafür
muss der Stabilitätspakt weiterentwickelt und auch das
außenwirtschaftliche Gleichgewicht als Ziel mit aufge-
nommen werden. Anders als im vorliegenden Antrag der
Linken müssen neben den Mitgliedstaaten mit hohen
Überschüssen, wie Deutschland, auch jene mit hohen
Defiziten verbindliche Empfehlungen zur Reduktion von
Ungleichgewichten bekommen. Hier brauchen wir si-
cherlich mehr Kontrolle durch die EU-Kommission oder
in diesem Fall Eurostat.

Wir brauchen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik
mehr Gemeinsamkeit. Bei der Herstellung der Gemein-
samkeit hat diese Bundesregierung bisher versagt, zum
Schaden für die EU, für die Währungsunion und letztlich
auch für unser Land.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Na ja!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703418900

Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem

Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und wünsche Ih-
nen weiterhin viel Erfolg und Freude bei der Arbeit.


(Beifall)


Nun hat der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703419000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wenn man einige der Forde-
rungen aus dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Euro-Zone reformieren – Staatsbankrotte verhin-
dern“ liest und die Überschrift wirken lässt, könnte man
sagen: Euro-Zone reformieren – Staatsbankrotte herbei-
führen. Damit haben Sie ja in der Vergangenheit durch-
aus Erfahrungen gemacht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte mich auf einige Punkte konzentrieren und
darstellen, was die Regierung gerade in Bezug auf Grie-
chenland getan hat. Ich nehme an, dass Sie Ihren Antrag
nicht nur aufgrund des Tatbestandes Griechenland einge-
bracht haben, sondern dass sich Ihr Antrag auch auf eine
allgemeine Reform der Euro-Zone bezieht. Es ist festzu-
stellen, dass diese Bundesregierung handlungsfähig ist,
dass sie auf europäischer Ebene Verantwortung für die
Stabilität des Euros übernommen hat und den Nachweis
dafür bisher immer wieder erbracht hat. Es wäre näm-
lich, noch in der letzten Woche, ein Leichtes gewesen,
auf den Vorschlag des Kommissionspräsidenten Barroso





Leo Dautzenberg


(A) (C)



(D)(B)

positiv einzugehen, der dazu geführt hätte, dass wir mit
Hilfen für Griechenland den Euro geschwächt und nicht
gestärkt hätten. Dass das nicht so gekommen ist, wurde
durch den Einsatz unserer Regierung, der Kanzlerin
Merkel und des Finanzministers, auf europäischer Ebene
gewährleistet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man muss natürlich auch feststellen, dass die Hand-
lungsanweisungen, die wir teilweise von der europäi-
schen Ebene bzw. von europäischen Partnern aus der
Euro-Zone bekommen, nicht nur Beiträge zur Stabilisie-
rung des Euros und des Euro-Verbundes, unseres Wäh-
rungssystems auf europäischer Ebene, sind, sondern
auch eine interessengeleitete Politik darstellen. Wenn
man sich manche Vorstellungen unserer Freunde in
Frankreich und in anderen Ländern vor Augen führt,
dann kommt man zu dem Ergebnis, dass sie teilweise da-
nach ausgerichtet sind, wie sehr man in diesen Ländern
in der griechischen Wirtschaft, zum Beispiel bei Banken,
engagiert ist. Das spiegelt sich in manchen französischen
Vorschlägen wider.

Wenn man darüber hinaus den südeuropäischen Be-
reich betrachtet, sieht man, dass man sich dort anders
verhält und sich für Hilfen einsetzt und sogar danach
schreit. Dies entspricht zum Teil durchaus auch dem In-
teresse des Kommissionspräsidenten Barroso. Das
würde nichts anderes bewirken, als dass weitere Länder
Hilfen beanspruchen würden und damit innerhalb des
Euro-Verbundes ein Trend hervorgerufen würde, den wir
nicht verantworten können. Denn die Bundesrepublik
Deutschland wäre bei diesen vorschnellen Hilfen der
Hauptzahler.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber in den jeweiligen Ländern würden in der Zwi-
schenzeit nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen,
sich selber zu helfen und auf den Weg der Stabilität zu-
rückzukehren. Auch das gehört zur jüngsten Geschichte
bei der Betrachtung von Stabilisierungsmaßnahmen auf
europäischer Ebene.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703419100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Sarrazin?


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703419200

Gerne.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703419300

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben von den Inte-

ressen gesprochen, die hinter manchen Vorschlägen,
manchen Aktivitäten stecken. Ich bin weit davon ent-
fernt, beispielsweise der konservativen französischen
Regierung nicht unterstellen zu wollen, dass auch sie In-
teressen hat, die sie zum Teil in ihren Vorschlägen unter-
gebracht hat. Aber ich finde, es gehört zur Ehrlichkeit,
dass Sie eine Antwort auf folgende Frage geben: Ist es
eine nicht interessengeleitete Politik, wenn der Außen-
minister –

Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703419400

Welcher Außenminister?


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703419500

– Außenminister Westerwelle –, wie von der Kollegin

von Cramon-Taubadel dargestellt, nach Griechenland
fährt und dafür sorgen will, dass dort eine unglaublich
hohe Rüstungsquote durch den Export von Rüstungsgü-
tern durch deutsche Unternehmen aufrechterhalten wird,
anstatt dafür zu sorgen, dass im Interesse des Euros ge-
spart wird? Halten nicht auch Sie das für eine schlechte,
von rein nationalen Interessen getragene Politik?


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703419600

Ich glaube, jedes Land in Europa sollte so souverän

sein, im Rahmen seiner Sicherheitspolitik seine Interes-
sen wahrzunehmen und seinen Teil zur Sicherheit beizu-
tragen. Da sollten wir auch unserem Partner Griechen-
land keine Vorschriften machen und sollten keine
Ratschläge erteilen, sondern wir sollten, wenn unsere
Wirtschaft Chancen hat, dort Produkte abzusetzen, diese
auch nutzen. Da brauchen wir uns nichts vorhalten zu
lassen. Wenn Sie das aus einer Ideologie der Abrüstung
heraus zum Nachteil unserer Wirtschaft interpretieren,
ist das Ihre Sache. Meine Fraktion und ich sehen das an-
ders. Man sollte das politische Selbstbestimmungsrecht
der jeweiligen Länder akzeptieren und sie nicht bevor-
munden, weil das in die falsche Richtung führt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703419700

Herr Kollege Dautzenberg, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Schick?


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703419800

Wenn es der Sache dient, ja.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703419900

Das wird sich zeigen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Haben die Grünen zu wenig Redezeit bekommen?)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, nicht zu wenig Redezeit, aber es gibt einen An-
lass, noch eine weitere Frage zu stellen. – Sie sprechen
sich dafür aus, dass wir es den griechischen Politikern
und Politikerinnen überlassen sollten, die Probleme in
ihrem Land selbst zu lösen, und dass wir uns nicht be-
vormundend einmischen sollten. Wie bewerten Sie dann
die Stellungnahmen aus Ihrer Fraktion, dass man viel-
leicht auch griechische Inseln verkaufen könnte? Es gibt
noch weitere wohlgemeinte Vorschläge, die gerade das
sind: Sie sind bevormundend und tragen massiv zu einer
Verschlechterung der Beziehungen bei.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Wer denn?)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

– Es waren Herr Schlarmann und Herr Wanderwitz,
wenn Sie es genau wissen wollen.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703420000

Sehr geehrter Herr Kollege Schick, wir sind hier im

Parlament, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass
ein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion einen solchen
Vorschlag unterbreitet hat.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich glaube, dass auch Sie genauso wenig die Verantwor-
tung für eine Aussage eines Mitglieds der Grünen über-
nehmen können wie ich für ein Mitglied meiner Partei.
Vielmehr geht es darum, was von den Abgeordneten im
Plenum gesagt wird. Das sollte man ernst nehmen und
nicht das, was Sie zitieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703420100

Herr Kollege Dautzenberg, ich muss Sie noch einmal

unterbrechen. Auch die Frau Kollegin Hendricks möchte
mit Ihnen diskutieren.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703420200

Ja.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1703420300

Herr Kollege Dautzenberg, ich wollte im Prinzip die-

selbe Frage stellen wie Herr Kollege Schick. Herr
Schlarmann ist der Vorsitzende des Wirtschaftsrates der
CDU.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703420400

Nein, er ist Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1703420500

Ja gut, dann eben der Mittelstandsvereinigung. – Sie

sind stolz darauf, dass mehr Mitglieder von Ihnen in der
Mittelstandsvereinigung sind, als wir Mitglieder in der
ganzen Fraktion haben. Demnach müssten auch Sie alle
in der Mittelstandsvereinigung sein. Das nehmen wir zur
Kenntnis. Außerdem ist Herr Kollege Wanderwitz auch
Mitglied Ihrer Fraktion. Zu erwähnen ist auch der Kol-
lege Schäffler aus der FDP-Fraktion, der besonders
sachkundig ist.

Ich habe diesbezüglich eine Frage an die Bundesre-
gierung gestellt. Die Bundesregierung hat immerhin da-
rauf geantwortet, dass sie sich diese Vorschläge nicht zu
eigen macht. Aber dass Bevormundung enthalten war,
wollen Sie doch nicht in Abrede stellen?


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sag: nein!)



Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1703420600

Wieso ist das eine Bevormundung? Aus Ihrer Tätig-

keit als Parlamentarische Staatssekretärin im Finanz-
ministerium wissen Sie, dass jeder für seine Aussage
verantwortlich ist. Dabei sollten wir es auch belassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Privatperson!)


Es wurde bereits richtigerweise angesprochen, dass
wir uns als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
nicht dazu aufschwingen sollten – ich sage salopp: die
Backen dick aufzublasen –, Griechenland zu erzählen,
wie es sich verhalten solle. Dass wir erwarten, dass sie
die angekündigten Reformmaßnahmen im eigenen Land
durchsetzen, ist völlig klar. Darauf setzen wir. Griechen-
land ist am besten zu helfen, indem man hilft, dass es
sich selber helfen kann. Aber wir sollten uns nicht – das
klang schon an – aufspielen, sondern daran erinnern,
dass von Herrn Schröder und von Herrn Eichel als ver-
antwortlichem Finanzminister in der Zeit der rot-grünen
Koalition das 3-Prozent-Kriterium des Stabilitätspaktes
nicht eingehalten werden konnte. Gegen uns wurde ein
Verfahren eröffnet, das zwischenzeitlich aufgeweicht
worden ist. Da muss man sich nicht wundern, wenn die-
ses Handeln Schule macht und andere Länder für sich in
Anspruch nehmen, ähnlich zu verfahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man sollte behutsam mit diesem Thema umgehen und
den Griechen klarmachen, dass wir erwarten, dass sie
ihre Maßnahmen fortsetzen. Wir haben keine aktuelle
Äußerung des griechischen Ministerpräsidenten vorlie-
gen, die besagt, dass er finanzielle Hilfe in Anspruch
nehmen will. Die Griechen werden auch dieses Jahr gut
ihre Schwierigkeiten meistern, wenn sie ihre Refinanzie-
rungen für die fälligen Anleihen im April und im Mai tä-
tigen. Wir sollten Griechenland dahin gehend unterstüt-
zen, dass diese Leistungen am Finanzmarkt möglich
werden.

Wenn man die Forderungen der Linken sieht, muss
man fragen: Wollen Sie das Verbot von Bail-out aufhe-
ben? Wollen Sie im Grunde Finanzierungshilfen der Na-
tionalstaaten für den Haushalt Griechenlands? Wollen
Sie vielleicht sogar Anleihen auf europäischer Ebene
auflegen, um damit Griechenland zu helfen? Wo wollen
Sie die Einnahmen generieren, um die Anleihen bedie-
nen zu können, wenn sie fällig werden? Wer soll das
übernehmen? Die Partner, die an der Finanzierung des
europäischen Haushalts beteiligt sind? Ich wünsche Ih-
nen viel Erfolg bei Ihrem Versuch, den deutschen Steu-
erzahler dazu zu bringen, dass er Ihre Auffassung teilt,
dass dies ein Weg ist, um Griechenland in dieser akuten
Situation zu helfen.

Was noch wichtiger ist: Sie wollen das zur Grundlage
einer Reform der Euro-Zone machen. Wir brauchen aber
genau das Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aufgrund der Erfahrungen, die wir bei den jetzigen Vor-
gängen gemacht haben, wissen wir das. Man sollte den
Schöpfern des Euros nicht vorhalten, dass sie das 1998/
1999 und bei den Maastrichter Verträgen nicht berück-
sichtigt haben; denn es war damals nicht erkennbar, dass
Euro-Länder in eine Situation kommen können, in der
sie die Vorgaben der Stabilitätskriterien nicht einhalten





Leo Dautzenberg


(A) (C)



(D)(B)

können. Aber die Lehre daraus muss sein, dass wir diese
Verträge weiterentwickeln. Bevor wir sie öffnen, müssen
wir aber sicher sein, dass wir mit den Staaten, die das be-
trifft, eine Reform durchbringen können, die dafür sorgt,
dass am Ende engere Maßstäbe hinsichtlich des Stabili-
tätskriteriums angelegt werden. Bevor man beginnt, da-
rüber zu diskutieren, bevor man dieses Fass aufmacht,
muss man sicher sein, dass es nicht dazu kommt, dass
andere Länder in genau die andere Richtung gehen. Des-
halb sollte man sich genau überlegen, wann man damit
beginnt. Es darf keine weitere Aufweichung stattfinden,
sondern es müssen Kriterien entwickelt werden, die dazu
beitragen, dass der Euro stabilisiert, dass diese Währung
im Grunde weiterentwickelt wird.

Eines ist doch wohl klar: Wenn wir die Währung Euro
nicht seit 1998 – in physischer Ausführung seit 2001 –
hätten, dann hätten wir all die Krisen, die wir seitdem er-
lebt haben – angefangen mit 9/11 – so nicht überstanden,


(Beifall des Abg. Peter Aumer [CDU/CSU])


dann wäre in Europa gegen jede einzelne Währung spe-
kuliert worden, auch gegen die dominierende Währung
in Europa, die D-Mark. Mit dem Euro haben wir schon
viele Krisen überstanden. Es wäre fatal, wenn wir diese
Währung jetzt nicht weiterentwickeln würden, sondern
Elemente zulassen würden, die ein Aushöhlen möglich
machen. Damit würden wir das Gegenteil von dem errei-
chen, was wir eigentlich erreichen wollen.

Deshalb ist das, was bisher vonseiten der Regierung
auch auf europäischer Ebene unternommen worden ist,
richtig. Der Beitrag unseres Finanzministers Wolfgang
Schäuble war so zu verstehen, dass auch er einen Instru-
mentenkasten haben will, um die Stabilität des Euros
weiter festigen zu können. Ihm geht es nicht darum, un-
ter dem Stichwort „Europäischer Währungsfonds“ einen
Zahlungsausgleich, im Grunde ein Funding für schwä-
chere Länder, in Europa zu entwickeln. Diesen Ansatz
sollten wir als Grundlage nehmen und uns nicht die
Empfehlungen der Fraktion Die Linke zu eigen machen;
denn dann würden wir in der Tat beim Staatsbankrott
landen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703420700

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Lothar Binding für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1703420800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrte Damen und Herren! Leo Dautzenberg hat
eben Hans Eichel ins Gespräch gebracht. Ich will an et-
was erinnern: Wir denken bei 13 Ländern an ein Defizit-
verfahren, 13 von 16 Ländern in der Euro-Zone.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das macht es doch nicht besser, Herr Kollege!)

– Das macht es nicht besser, erklärt aber ein bisschen,
dass es eine eingeschränkte Sicht ist, wenn man ein Land
hervorhebt. Nur Finnland, Luxemburg und Zypern sind
bisher nicht davon betroffen.

Herr Aumer hat vorhin einen wichtigen Satz gesagt:
„Sparen ist für die Griechen der einzig richtige Weg.“
Das zeigt einen falschen Denkansatz. Es gibt nicht den
einzig richtigen Weg. Es gibt nicht den einen Parameter,
den man nur ändern muss, und dann wird alles gut.
Manfred Zöllmer hat einen ganzen Strauß von notwendi-
gen Dingen aufgezählt, über die Griechenland selbst
nachdenkt und möglicherweise anstoßen will. Vielleicht
könnte Griechenland auch wieder auf Vertrauen setzen,
vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, um zum
Beispiel den – verglichen mit deutschen Staatsanleihen –
hohen Spread zu vermindern, um so die eigene Situation
zu verbessern.

Kollege Wissing hat vorhin ein Wort genannt; das
habe ich nicht verstanden. Er hat von Konsolidierungs-
anstrengungen in Deutschland gesprochen. Diese müss-
ten ja irgendwo zu finden sein. Im Moment sind sie aber
nirgends zu finden. Die Staatsverschuldung ging viel
stärker als nötig in die Höhe.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir haben weniger Schulden gemacht, als Sie machen wollten!)


Es gab eine Reihe von Klientelgesetzen, die nicht dem
Sparen geschuldet waren, sondern anderen Zielen. Es ist
erschreckend, wie wenig eine Regierung in fünf Mona-
ten hinsichtlich der Konsolidierung schaffen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Obwohl sie mehr geschafft hat als Sie!)


Es gibt keine Perspektive für die Kommunen, keine
Perspektive für die Länder, es gibt auch keine Perspek-
tive für den Bundeshaushalt, geschweige denn eine Per-
spektive für Europa. Ich glaube, es gibt außer dem „Kol-
lisionsvertrag“, wie wir heute von Sabine Bätzing
gelernt haben, jetzt auch Kommissionen; diese sind aber
nicht zielführend.

Ähnlich reduziert ist dieser Antrag zu betrachten. Er
fängt mächtig an. Die Überschrift lautet: „Euro-Zone re-
formieren – Staatsbankrotte verhindern“. Dann kommen
zwei magere Seiten, die viele Denkfehler und Oberfläch-
lichkeiten enthalten und dieser Überschrift überhaupt
nicht gerecht werden. Der mächtigste Satz steht gleich
am Anfang:

Die Europäische Währungsunion ist bedroht.

Einmal angenommen, der Bundestag würde so etwas
beschließen – manche Länder sind ja besonders be-
droht –: Was ist eigentlich wichtig, wenn man eine Boni-
tätseinschätzung eines Landes vornimmt, Fundamentalda-
ten oder auch die Stimmung? Die subjektive Erwartung
und die Stimmung sind extrem wichtig. Wenn wir das ma-
chen würden, was Sie jetzt vorschlagen, könnte es zum
Beispiel sein, dass der Preis für CDS, Credit Default
Swaps, Kreditausfallversicherungen, plötzlich ansteigt.
Das Maß der Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsunfähig-





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

keit von Griechenland würde ansteigen. Was würde das
bedeuten? Der Preis für die CDS würde ansteigen. Was
würde das wiederum bedeuten? Die Wahrscheinlichkeit,
dass Griechenland schlecht eingestuft wird, würde stei-
gen. Was würde das bedeuten? In der Erwartung der stei-
genden Kosten für CDS würden viele gekauft, und wenn
viele gekauft würden, würden die Kosten für die CDS
weiter ansteigen. Was würde dann mit Griechenland pas-
sieren? Es würde in gigantische Probleme geraten. Des-
halb ist diese Art von Sätzen extrem gefährlich.

Aber wie einfältig – so will ich es nennen – dieser
Antrag vorgeht, erkennt man an einem weiteren Satz:

Die Probleme Spaniens … gehen auf unzurei-
chende Steuereinnahmen sowie die staatlichen Ret-
tungsmaßnahmen für Banken zurück.

Als ob es in Spanien keine anderen Probleme gegeben
hat! Ich will nur eines nennen: Wer sich den Bauboom –
er ist künstlich erzeugt – und den Wohnungsmarkt in
Spanien ansieht, der bekommt eine Ahnung davon, dass
es möglicherweise noch andere Ursachen gibt als die,
die in diesem so mächtig daherkommenden Antrag ge-
nannt werden.

In dem Antrag steht auch:

Deutschland betreibt … Steuerdumping bei den
Unternehmensteuern.

Jetzt frage ich mich: Warum haben wir uns eigentlich so
angestrengt, die Gewinnverlagerung zu verhindern? Das
haben Unternehmen in einem Steuerdumpingland doch
gar nicht nötig. Warum sollten sie Gewinne verlagern,
wenn es ihnen hier so gut geht? Das alles hat keinen
Sinn. Das zeigt, warum wir diesem Antrag nicht folgen
können.

Ich will noch eine monokausale Ableitung, die der
Antrag nahelegt, ansprechen. Es ist richtig: Die Real-
löhne in Deutschland sollten steigen. Aber folgende
Maßnahmen sind eine zu einfache Ableitung: Reallöhne
erhöhen, Exportüberschuss senken, Leistungsbilanzdefi-
zit in Griechenland ausgleichen, Verschuldung in Grie-
chenland senken, Wohlstand in Griechenland steigern
und mit den Reallöhnen auch den Wohlstand in Deutsch-
land steigern. Dies soll nach Ihrer Vorstellung einen
Wundereffekt bewirken, durch den es Europa plötzlich
besser geht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


– So einfach ist es leider nicht.

Dabei wird vergessen, was die anderen Staaten ma-
chen. Was machen eigentlich Unternehmen? Saniert
Griechenland? Sparen die Deutschen oder investieren
sie?


(Zuruf von der LINKEN: Jetzt hat er es kapiert!)


– Ihr habt es leider nicht kapiert, sonst hättet ihr euch gar
nicht getraut, den Antrag vorzulegen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Man muss darauf hinweisen, dass Griechenland – das
weiß es natürlich selbst am Besten – sehr viel mehr über
die Lösung der eigenen Probleme nachdenken muss, als
es bisher der Fall war.

Ich will noch einen Satz sagen zur Idee gemeinsamer
Euro-Anleihen und der Idee, einen EWF einzurichten.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass solche Maß-
nahmen – wenn man nur wenig neben dem liegt, was
man machen müsste; Ihrem Antrag kann man allerdings
nicht entnehmen, was genau das sein könnte – auch In-
strumente sein können, um Schulden zu verteilen. Das
kann auch dazu führen, dass Verantwortung sinkt. Wa-
rum gilt das dann nicht auch für andere Länder? Man
muss sich überlegen, was man damit erzeugt. Man min-
dert die Eigenverantwortung, und letztendlich werden
die Schulden in allen Ländern steigen. In der Vergangen-
heit hat sich gezeigt, dass es so ist.

Die Summe der Argumente macht es notwendig, dass
wir Ihren Antrag ablehnen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703420900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1058 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie.

Ich lasse nun zuerst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Die Linke abstimmen, das heißt Federfüh-
rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-
schlag ist abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, das
heißt Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen?
– Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist ange-
nommen. Das heißt, die Federführung liegt beim Finanz-
ausschuss.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Holger Haibach, Peter Altmaier, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga
Daub, Joachim Günther (Plauen), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP

Haiti eine langfristige Wiederaufbauperspek-
tive geben

– Drucksache 17/1157 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha

(Heidelberg)

der SPD

Zukunft für Haiti – Nachhaltigen Wiederauf-
bau unterstützen

– Drucksachen 17/885, 17/1214 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Thilo Hoppe

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung
jetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Haiti entschulden und langfristig beim Wie-
deraufbau unterstützen

– Drucksachen 17/774, 17/791, 17/1099 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Thilo Hoppe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann können
wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Harald Leibrecht für die FDP-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Harald Leibrecht (FDP):
Rede ID: ID1703421000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Für jedes Land wäre ein Erdbeben in dem
Ausmaß, wie es in Haiti geschehen ist, verheerend. Für
ein Land, das zum Zeitpunkt des Erdbebens bereits ein
sogenannter Failed State, also ein gescheiterter Staat,
war und das bereits vor der Katastrophe zu 60 Prozent
auf Nahrungsmittelimporte angewiesen war, gilt das na-
türlich in ganz besonderem Maße. Es hat die Ärmsten
der Armen getroffen. Darum müssen wir dem Wieder-
aufbau des Landes eine Chance geben.
Wir müssen die Menschen und das Land jetzt so un-
terstützen, dass ein neuer, moderner und vor allem de-
mokratisch fester Staat entstehen kann, ein Staat, der die
Menschenrechte und den Rechtsstaat achtet, der aber
auch auf wirtschaftlich festen Beinen steht und seine Zu-
kunft wieder selbst in die Hand nehmen kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist wichtig, dass sich die vielen Hilfsorganisatio-
nen und vor allem die Geber auf der Wiederaufbaukon-
ferenz in New York bei ihren Hilfsmaßnahmen eng ab-
stimmen, damit der bestmögliche Effekt und somit die
größtmögliche Hilfe für die Menschen in Haiti erzielt
werden. Deutschland und seine europäischen Partner
müssen auf der Konferenz geschlossen auftreten, und die
EU muss mit einer Stimme sprechen.

Meine Damen und Herren, wir debattieren heute drei
Anträge, in denen es um die Frage geht, wie die deutsche
Hilfe für Haiti aussehen sollte. Die Linken meinen lei-
der, das Schicksal Haitis dafür nutzen zu müssen, um
einmal mehr antiamerikanische Ressentiments zu schü-
ren und dieses Thema damit unnötigerweise zu ideologi-
sieren. Der Antrag der Linken impliziert, dass es sich
beim amerikanischen Engagement um eine Besatzung
Haitis handelt. Dabei war es die Regierung von Haiti
selbst, die nach dem Beben die USA um Hilfe gebeten
hat. Wir Liberale jedenfalls begrüßen das Engagement
der USA in Haiti, ohne das die umfangreiche humanitäre
Hilfe und die Sicherheit im Land nicht so schnell hätten
gewährleistet werden können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein Land, das schätzungsweise 300 000 Tote zu be-
klagen hat, braucht dringend Hilfe und keinen ideologi-
schen Streit. Haiti braucht jetzt eine langfristige Wieder-
aufbauperspektive. Hilfe für die Betroffenen kommt
derzeit nur von außen und kann auch nur von außen lo-
gistisch koordiniert werden. Daher begrüßen wir auch
das Engagement der Vereinten Nationen.

Im gestrigen Expertengespräch im Ausschuss wurden
von allen Fachleuten zwei Punkte besonders unterstri-
chen: erstens die Notwendigkeit einer langfristigen Un-
terstützung für Haiti und zweitens die Zusammenarbeit
mit der Regierung bei gleichzeitiger Einbeziehung der
Zivilgesellschaft. Wenn die Hilfe von außen nicht im In-
neren des Staates und in seiner Gesellschaft verankert
wird, schaffen wir nur neue Abhängigkeiten und nicht
den so dringend benötigen Neuaufbau.

Die Bundesregierung hat nach der Katastrophe
schnell gehandelt und zunächst 17 Millionen Euro für
Maßnahmen der humanitären Hilfe bereitgestellt. Unter
anderem setzte die GTZ mit diesem Geld den Bau von
1 400 Einfachhäusern für etwa 7 000 Menschen um. Ins-
gesamt unterstützt Deutschland die Maßnahmen zur un-
mittelbaren Nothilfe und zum Wiederaufbau mit insge-
samt 179 Millionen Euro. Das ist sehr viel Geld. Auch die
Menschen hierzulande haben mit ihrer Hilfsbereitschaft
Fantastisches geleistet und annähernd 200 Millionen Euro
gespendet. Das ist das höchste Spendenvolumen in ganz
Europa. Hierfür danke ich meinen Landsleuten.





Harald Leibrecht


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wichtig ist jetzt, in Haiti kein Vakuum zwischen der
humanitären Soforthilfe, der Nothilfe, dem Wiederauf-
bau und der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit
entstehen zu lassen. Einige wichtige Aspekte müssen
beim Wiederaufbau des Landes beachtet werden. Diese
möchte ich hier kurz unterstreichen: Das Wichtigste ist,
die Infrastruktur wiederherzustellen. Dazu zählen die
Häfen, die Flughäfen, die Hauptstraßen und die Wasser-
versorgung. Außerdem muss die Basis für ein funktio-
nierendes Staatswesen gelegt werden. Dazu gehören eine
gute Regierungsführung, Eigenverantwortung und die
Stärkung der Zivilgesellschaft.

Zu den wichtigen Aspekten gehört aber auch, Haiti zu
entschulden. Deutschland hat es bereits getan. Zusam-
men mit den G-7-Staaten muss sich die Bundesregierung
bemühen, so schnell wie möglich eine Lösung zum Er-
lass der noch ausstehenden Schulden beim Internationa-
len Währungsfonds, bei der Weltbank und bei der Inter-
amerikanischen Entwicklungsbank zu finden.

Ich bin überzeugt, dass wir mit den soeben genannten
Schritten den richtigen Weg einschlagen hin zu einem
nachhaltigen Wiederaufbau Haitis, zu einem Haiti, das
in die Weltgemeinschaft zurückfindet, zu einem Land, in
dem die Menschen wieder Perspektiven haben und von
ihrer Not befreit werden. Hierzu können Deutschland
und Europa einen ganz wichtigen Beitrag leisten. Die
Bundesregierung ist bereit, diesen Beitrag zu leisten, und
hat bereits erste Schritte in diese Richtung unternom-
men. Dafür möchte ich mich bei dieser Gelegenheit be-
danken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Derzeit hören wir immer wieder von illegalen Adop-
tionen in Haiti. Das ist ein sehr dunkles Thema, das ge-
rade in schwierigen Zeiten, in Zeiten der Not immer wie-
der aktuell wird. Ich möchte an dieser Stelle die
Bundesregierung auffordern, in diesem Punkt gemein-
sam mit Hilfsorganisationen tätig zu werden und nicht
zuzusehen, wie Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld he-
rausgerissen werden, was oft auf falsch verstandenen gu-
ten Willen und falsch verstandene Hilfsbereitschaft zu-
rückzuführen ist. Wenn wir hier eine Milderung oder
vielleicht sogar den Stopp dieser illegalen Adoptionen
erreichen könnten, wäre viel getan.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703421100

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1703421200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! In Haiti, einem Land mit einer Bevölkerung von
10 Millionen Menschen, gab es 230 000, vielleicht sogar
300 000 Tote. Das sind 3 Prozent der Bevölkerung. Auf
Deutschland umgerechnet wären das 2,4 Millionen Tote.
Das ist ein unfassbares Leid und eine Tragödie, die wir
uns kaum vorstellen können, und das in einem der ärms-
ten Länder der Erde. Deswegen geht in der heutigen De-
batte das Mitgefühl aller Fraktionen an die Angehörigen
der Opfer.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Ich glaube, dass sich die Entwicklungspolitiker aller
Parteien in diesem Haus einig in der Feststellung sind,
dass das eine Tragödie ist. Normalerweise eignet sich ein
solches Unglück auch nicht für eine parteipolitische
Auseinandersetzung. Aber der Bundestag ist kein Kir-
chentag, und es reicht auch nicht aus, wenn wir uns in
diesem Hohen Hause gegenseitig unserer Betroffenheit
versichern – wir müssen handeln.

Ich habe persönlich lange gezögert mit Kritik an der
Bundesregierung, weil ich mir gewünscht hätte, dass ich
als Oppositionspolitiker gemeinsam mit den Politikern
der anderen Parteien ein Lob hätte aussprechen können,
wie es Politiker aller Parteien gemacht haben in einer
vergleichbaren Situation: als 2004 bei dem Tsunami in
Südostasien 220 000 Menschen ums Leben gekommen
waren. Da hat die rot-grüne Bundesregierung 500 Mil-
liarden Euro zugesagt.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du meinst sicherlich Millionen! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das andere sind die Banken!)


– 500 Millionen Euro.

Nach dem Erdbeben auf Haiti waren es zunächst
7 Millionen Euro, dann 9 Millionen Euro, dann 17 Mil-
lionen Euro. Das sind lediglich 3,4 Prozent des Geldes,
das damals bei einer vergleichbaren Katastrophe zuge-
sagt wurde. Auch wenn zu den genannten 17 Millionen
Euro noch deutsche Anteile aus multilateralen Beiträgen
wie der EU-Soforthilfe kommen, ist das angesichts des
Ausmaßes der Katastrophe viel zu wenig. Bei der Anhö-
rung im Ausschuss, die am Mittwoch stattfand, haben
die Vertreter der zivilen Hilfsorganisationen dies kriti-
siert und gesagt, dass die Bundesregierung auf diesen
Beitrag nicht stolz sein kann.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Allerdings!)


Stolz sein können wir hingegen auf unsere Bürgerin-
nen und Bürger, auf die Kinder, auf die Schülerinnen
und Schüler, die insgesamt 200 Millionen Euro gespen-
det haben. Dieses Geld haben die Menschen von ihrem
zum Teil kleinen Einkommen abgezwackt. Darauf kön-
nen wir stolz sein, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man das vergleicht, sieht man, wie gering das
Engagement der Bundesregierung ist. Darauf können
wir leider – ich sage wirklich: leider – nicht stolz sein.





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)

Die SPD-Bundestagsfraktion hat bei den Haushalts-
beratungen einen Sonderfonds für den Wiederaufbau
Haitis beantragt mit Barmitteln in Höhe von 150 Millio-
nen Euro und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe
von 130 Millionen Euro. Leider wurde dieser Sonder-
fonds von der Regierungskoalition, von CDU/CSU und
FDP, abgelehnt.

Nachdem wir diesen Antrag gestellt hatten, hat Ent-
wicklungsminister Niebel selbst erkannt, dass die bisher
zur Verfügung gestellten Mittel nicht ausreichen. Er hat
in einem Brief an die Haushälter der Fraktionen um die
Einrichtung eines Sonderfonds, wie wir ihn gefordert ha-
ben, gebeten, wenngleich nur ausgestattet mit Barmitteln
in Höhe von 25 Millionen Euro und Verpflichtungser-
mächtigungen in Höhe von 91 Millionen Euro – aber im-
merhin. Ich zitiere aus dem Brief von Minister Dirk
Niebel:

Mit möglicherweise bis zu 300 000 Toten,
250 000 Verletzten und rd. 1,2 Mio. Obdachlosen
haben die Folgen dieses Erdbebens das Ausmaß der
Tsunamikatastrophe des Jahres 2004 erreicht.
Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit und
Hilfsbereitschaft werden an unserer Reaktion auf
dieses Unglück gemessen werden.

Weiter heißt es:

Um sich angemessen an der internationalen Hilfe für
Haiti beteiligen zu können, ist die Ausbringung zu-
sätzlicher Verpflichtungsermächtigungen in Höhe
von 91 Mio. € sowie die Erhöhung der Baransätze
um 24 Mio. € erforderlich.

Minister Niebel schließt mit den Worten:

Um die notwendige Flexibilität im Rahmen des
noch laufenden Abstimmungsprozesses in der EU
und im sonstigen internationalen Geberkreis zu si-
chern und entsprechend der sehr guten Erfahrungen
mit dem „Tsunami-Titel“ empfiehlt sich die Schaf-
fung eines eigenen „Haiti-Wiederaufbautitels“.

Richtig, Herr Minister.

Doch was ist mit Ihrem Antrag passiert? Die Kolle-
gen von FDP und CDU/CSU haben ihn abgelehnt. Sie
sind mit Ihrem guten Vorhaben kläglich gescheitert. Ich
sage an die Kollegen von CDU/CSU und FDP gerichtet:
Damit haben Sie nicht nur Ihrem Minister einen Bären-
dienst erwiesen, da haben Sie auch den Ärmsten der Ar-
men in Haiti einen Bärendienst erwiesen. Das war falsch
und schändlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage mich auch: Wo war die Kanzlerin? Immer
wieder hat sie sich bei Fernseh-Spendengalas für Haiti
feiern lassen, schon immer hat sie auf Kirchentagen oder
bei anderen Anlässen betont, wie wichtig ihr die Ärms-
ten der Armen seien. Aber wenn es darauf ankommt, zu
handeln, dann taucht sie ab.

Selbst wenn die Bundesregierung auf der internatio-
nalen Geberkonferenz Ende des Monats neue Zusagen
für den internationalen Hilfsfonds für Haiti geben sollte,
wären diese nicht mehr zusätzlich – das hätten wir nur im
Rahmen der Haushaltsberatungen erreichen können –,
sondern gingen zulasten der Zusagen gegenüber anderen
Staaten, zum Beispiel afrikanischen Staaten. Wir dürfen
die Ärmsten der Armen nicht gegeneinander ausspielen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jeden Tag sterben 24 000 Menschen, vor allem Kin-
der, an den Folgen von Hunger und Armut. Das ist alle
zehn Tage ein stiller Tsunami oder ein Erdbeben vom
Ausmaß des Erdbebens auf Haiti.

Um diesen Menschen ein selbstbestimmtes Leben
ohne Hunger und Armut zu ermöglichen, müssen wir
insgesamt mehr Mittel und Hilfe geben. Die Kanzlerin
hatte sich ja auch dazu verpflichtet, 0,51 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammen-
arbeit zur Verfügung zu stellen. Ich mache gerne einen
Werbeblock für die Regierung in dem Sinne, dass ich
aus einer Rede der Kanzlerin zitiere. In der Regierungs-
erklärung 2005 sagte die Kanzlerin:

Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis
2010 mindestens 0,51 Prozent … des Brutto-
inlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungs-
zusammenarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da
sage.

Das hat sie damals gesagt. Offensichtlich wusste sie
nicht, was sie sagt; denn sie hat ihr Versprechen bei den
diesjährigen Haushaltsberatungen eiskalt gebrochen.
Wir werden mit 0,4 Prozent weit unter dem Ziel liegen.
Die Steigerungen sind geringer, nämlich nur ein Viertel
dessen, was in den Jahren zuvor unter unserer Ministerin
zur Verfügung gestellt worden ist, und das in einem Jahr,
in dem die ärmsten Länder besonders hart von der Wirt-
schafts- und Finanzkrise getroffen sind. Selbst das un-
fassbare Unglück in Haiti hat die Kanzlerin nicht zur
Einhaltung ihres Versprechens bewegen können. Was
muss denn noch passieren?

Dazu, dass man so kaltblütig ein Versprechen bricht,
sage ich: Ich bin enttäuscht von Frau Merkel. Gemessen
an der Zahl der ärmsten Menschen, denen sie das Ver-
sprechen gegeben hat, nämlich 1 Milliarde hungernder
Menschen, ist das für mich persönlich der größte Wort-
bruch einer Kanzlerin, den es je gegeben hat.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was wollten Sie denn in Ihrem Haushalt erreichen?)


Herr Fischer, es hat konkrete Auswirkungen, dass
diese Mittel fehlen. Das gilt nicht nur bezogen auf die
Nothilfe, sondern auch bezogen auf die Zukunft Haitis;
denn wir reden hier nicht nur von irgendwelchen Zahlen.
Vielmehr hat uns im Ausschuss auch der Vertreter der
KfW-Entwicklungsbank gesagt, dass aufgrund der Tatsa-
che, dass die Regierung nur so klägliche Mittel zur Ver-
fügung stellt – zum Beispiel für die Zukunft Haitis –,
Aufforstungsprogramme, die man geplant hat, jetzt ge-





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)

stoppt wurden, weil man das Geld für die Nothilfe ge-
braucht hat.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703421300

Herr Kollege.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1703421400

Wer sich Haiti von oben angeguckt hat, der wird fest-

gestellt haben, dass in Haiti alles abgeforstet ist. Nur
noch 1 Prozent des Landes ist Wald, während in der Do-
minikanischen Republik noch viele Wälder sind. Dort ist
quasi fast eine Mondlandschaft. Deswegen wäre es ganz
wichtig, dass wir den Menschen vor Ort auch mit deut-
schen Hilfsmitteln – zum Beispiel mit „Cash for Work“ –
die Möglichkeit geben, dort Aufforstung zu betreiben.
Dann würden sie – bei 80 Prozent Arbeitslosigkeit in
diesem Land – auch ein Einkommen haben, und wir
würden einen Beitrag für die Zukunft leisten.

Deswegen sage ich: Wir müssen hier endlich mehr
tun; wir müssen vorangehen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703421500

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr

Günther möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1703421600

Gerne.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1703421700

Herr Kollege Raabe, Sie hinterlassen hier den Ein-

druck, Deutschland stelle zu wenig Mittel zur Verfü-
gung.


(Andrej Konstantin Hunko [DIE LINKE]: Allerdings! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!)


Ich muss Sie fragen: Waren Sie nicht in der Aus-
schusssitzung dabei, in der alle Fachexperten erklärt ha-
ben, dass, international gesehen, genügend Mittel für
Haiti zur Verfügung stehen, dass es dort eine korrupte
Regierung gibt, dass deshalb versucht werden sollte,
diese Mittel effektiv einzusetzen, und dass in dieser
Phase mit Sicherheit dann auch von Deutschland die
Chance wahrgenommen wird, wenn es notwendig ist,
weitere Mittel bereitzustellen?

Etwas anderes stand nie zur Debatte, und ich glaube,
dass die Mittel, die Deutschland zur Verfügung gestellt
hat, in der jetzigen Situation völlig ausreichend sind.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1703421800

Herr Kollege, es tut mir leid, dass ich Ihnen sagen

muss – Sie sind ja von der FDP –, dass Ihr Minister Ih-
nen da weit voraus ist. Ihr Minister hat das genauso wie
wir erkannt. Es geht nicht in erster Linie um die Mittel
der Nothilfe. Es geht darum, dass wir für den langfristi-
gen Wiederaufbau Mittel brauchen. Deswegen haben wir
damals nach dem Tsunami ja auch nicht gesagt, dass wir
500 Millionen Euro in zwei Monaten irgendwo „verbra-
ten“ wollen, sondern wir haben damals gesagt: Wir brau-
chen nach so einer Katastrophe mehrere Jahre, um die
Region wieder aufzubauen.

Deswegen haben wir als SPD-Fraktion gesagt – da-
rum geht es mir mit Blick auf die Mittel, die fehlen –,
dass wir für die nächsten Jahre einen ähnlich hohen Be-
trag zur Verfügung stellen müssen. Das hat ja sogar auch
Ihr Minister erkannt. Jetzt widersprechen Sie ihm; Sie
fallen ihm in den Rücken. Er hat ja selbst gesagt: Es ist
zu wenig Geld für die nächsten Jahre zugesagt worden.

Herr Kollege, wir müssen doch jetzt die Weichen für
die Zukunft stellen, und wir müssen gerade jetzt dafür
sorgen, dass zum Beispiel wieder Bäume gepflanzt wer-
den, weil wir so etwas gegen die Erosion tun können,
weil Häuser ansonsten wegrutschen und weil auch die
Auswirkungen eines Sturmes anderenfalls viel größer
sind.

Deswegen brauchen wir jetzt auch für die gute Regie-
rungsführung, die Sie angesprochen haben, Mittel, damit
man einen Rechtsstaat aufbauen kann, damit Flächen in
ein Kataster aufgenommen werden können, damit es
Landtitel gibt und damit wir auch die Zivilgesellschaft
und die Kommunen dort mit Dezentralisierungsprojek-
ten einbinden können. Dafür brauchen wir einen lang-
fristigen Plan und langfristige Mittel. Darum geht es mir
hier.

Auch Ihr Minister sagt: Da hat die Bundesregierung
zu wenig getan. – Hier stimme ich ihm ausnahmsweise
zu. Das heißt aber nicht, dass sich die Regierung aus der
Verantwortung dafür stehlen kann, dass sie hier bisher so
kläglich versagt hat.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703421900

Herr Kollege Raabe, gestatten Sie eine weitere Zwi-

schenfrage, dieses Mal vom Kollegen Fischer?


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1703422000

Gerne.


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1703422100

Herr Kollege Raabe, Sie haben darauf hingewiesen,

wie sich die entwicklungspolitische Situation in Haiti
bereits vor dem Erdbeben dargestellt hat und dass bereits
zu diesem Zeitpunkt zu wenig getan worden ist. Können
Sie mir erklären, warum Sie in der Großen Koalition
nicht den Antrag gestellt haben, Haiti in die Länderliste
des BMZ aufzunehmen, damit dort ganz spezielle Pro-
gramme aufgelegt werden können?


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1703422200

Herr Fischer, das erkläre ich Ihnen gerne. Ich möchte

Sie auch daran erinnern,


(Ute Kumpf [SPD]: Dass Sie auch in der Großen Koalition waren!)


dass es Ihre Fraktion war, die bei der Aushandlung des
Koalitionsvertrags darauf gedrungen hat, die Liste der
Partnerländer stark zu verkleinern und in diesem Zusam-
menhang immer darauf zu achten, dass eine gute Regie-
rungsführung gegeben ist.





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)


(Ute Kumpf [SPD]: Der Kollege Fischer hat eine kleine Amnesie!)


Im Fall Haiti war der Staat in den Jahren vor dem
Erdbeben leider unstrittig fragil; es gab kaum funktionie-
rende Verwaltungsstrukturen. Wir hatten auch keine An-
sprechpartner, um eine normale staatliche Entwicklungs-
zusammenarbeit durchzuführen. Deswegen haben wir
uns dort über die zivilen Organisationen und im Rahmen
unserer multilateralen Beteiligung weiter engagiert.
Aber wir haben immer gesagt: Wenn eine Regierung ge-
bildet wird, der wir vertrauen können,


(Harald Leibrecht [FDP]: Es ist immer noch die gleiche Regierung!)


bei der wir das Gefühl haben, dass sie die Mittel für die
Menschen einsetzt, dann werden wir die entsprechenden
Mittel auch zur Verfügung stellen.

Herr Kollege Fischer, Sie sind ja auch ein langjähri-
ger Experte, Sie erinnern sich sicherlich: Nach dem Tsu-
nami gab es in Indonesien zum Beispiel in der Region
Banda Aceh große Konflikte zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen. Diese Katastrophe damals hat
aber auch die Chance eröffnet, die Konfliktparteien wie-
der ein Stück weit zu versöhnen. Zumindest in dieser
Region wurde ein positiver Versöhnungsprozess einge-
leitet. Ich wünsche mir, dass wir es gemeinsam schaffen,
Herr Kollege, die Regierung in Haiti vor dem Hinter-
grund der Katastrophe zu der Einsicht zu bewegen, dass
sie mehr für die Menschen tun muss. Ich wünsche mir,
dass wir es schaffen, eine Zivilgesellschaft mit einer Op-
position aufzubauen, sodass nach freien Wahlen eine
bessere Regierungsführung möglich ist.

Deswegen widerspreche ich ausdrücklich der Aus-
sage des Entwicklungsministers, der in seinem Brief
schreibt, Haiti solle kein Partnerland mehr werden. Wir
wollen, dass die Liste unserer Partnerländer alle zwei bis
drei Jahre überprüft wird. Da wir uns nach der Katastro-
phe in Haiti dort mindestens vier bis fünf Jahre engagie-
ren müssen, Herr Kollege Fischer, müssen wir Haiti
auch wieder als Partnerland aufnehmen. Wir müssen da-
für sorgen, dass dort in Zukunft demokratische Struktu-
ren vorherrschen.


(Harald Leibrecht [FDP]: Die Regierung ist noch die gleiche!)


Zu der alten Regierung, Herr Fischer, muss man sa-
gen: Der Präsident ist nach dem Erdbeben erst einmal für
zwei bis drei Monate abgetaucht.


(Anette Hübinger [CDU/CSU]: Und jetzt ist er wieder da!)


Einer solchen Regierung sollten wir als Partnerland
keine staatlichen Mittel zur Verfügung stellen. Deswe-
gen müssen wir jetzt gemeinsam versuchen, die Ziele zu
erreichen. Denn wir wollen ja nicht einer Regierung hel-
fen, sondern den Menschen. Deswegen glaube ich, Herr
Kollege, dass wir Haiti in Zukunft wieder als Partner-
land in die Liste aufnehmen sollten – allerdings nur unter
der Bedingung, dass dort faire und demokratische Ver-
hältnisse vorherrschen und unsere Mittel auch bei den
Ärmsten der Armen ankommen.

(Anette Hübinger [CDU/CSU]: Da können wir aber noch ein bisschen warten!)


In diesem Sinne legt unser Antrag sehr viel Wert auf
Dezentralisierung, Demokratisierung und den Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen. Wir fordern ganz ausdrück-
lich, dass die Zivilgesellschaft an der Verteilung der Mit-
tel, die der Internationale Währungsfonds verwalten
wird, beteiligt wird. Nicht nur die haitianische Regie-
rung und die Geberländer sollen beteiligt werden, son-
dern die Zivilgesellschaft sollte diese Mittel mitverwal-
ten und in einem Beirat oder anderen Gremium
mitbestimmen können, wohin die Mittel fließen. Das ist
ein sehr wichtiger Punkt unseres Antrags.

Wir fordern eine langfristige Perspektive. Dazu ge-
hört es übrigens auch, die Landwirtschaft in Haiti zu för-
dern, sodass die Menschen von ihren eigenen Agrarpro-
dukten leben können. Wie war denn die Situation in
Haiti? – Vor noch ungefähr 20 Jahren hat sich Haiti mit
Lebensmitteln vollständig selbst versorgt. Dann kamen
hochsubventionierte Importe aus den USA, und der
Reisanbau und die Hühnerzucht sind zusammengebro-
chen. Es kam zu Abrodungen, sodass die landwirtschaft-
lichen Flächen schlechter geworden sind.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist aber antiamerikanisch!)


Diese beiden Faktoren haben dazu geführt, dass Haiti
zurzeit von Lebensmittelimporten abhängig ist, obwohl
es von den klimatischen Verhältnissen her durchaus
möglich wäre, alle Menschen mit dort angebauten Le-
bensmitteln zu versorgen.

Deswegen sage ich – auch an die Bundesregierung
gerichtet –: Wir brauchen eine kohärente Entwicklungs-
politik. Das bedeutet, dass mit den Agrarexportsubven-
tionen und den internen handelsverzerrenden Unterstüt-
zungen Schluss sein muss. Wenn ich daran denke, dass
die Landwirtschaftsministerin Aigner im letzten Jahr
Agrarexportsubventionen bei Milchpulver zugestimmt
hat


(Zuruf von der FDP: Aus Haiti? Das hat doch damit nichts zu tun!)


und wir die gleichen Fehler, die in Haiti gemacht wur-
den, in anderen Ländern dieser Welt wiederholen, muss
ich sagen: Es muss Schluss sein mit Agrarexportdum-
ping. Wir brauchen endlich faire Handelsbedingungen
für Haiti und alle Entwicklungsländer.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte abschließend festhalten, dass wir aus mei-
ner Sicht zum einen eine schlechte Regierungsführung in
Haiti genauso wie in Afrika nicht zum Vorwand nehmen
dürfen, keine Mittel zu vergeben, zum anderen aber auch
– das sage ich mit Blick auf die Anträge der anderen Par-
teien – Anreize setzen müssen, dass dort Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit Einzug halten.

Ich glaube, wir haben einen umfassenden Antrag vor-
gelegt, der sehr stark auf Demokratisierung und Dezen-
tralisierung, aber auch auf einen langfristigen Wieder-
aufbau setzt, damit künftig Katastrophen wie in Haiti





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)

kein so schlimmes Ausmaß mehr annehmen können. Wir
werden Erdbeben nicht verhindern können, aber dass in
Chile ein vergleichbar starkes Erdbeben ein paar Hun-
dert Todesopfer gefordert hat, während es in Haiti zu
300 000 Toten geführt hat, zeigt, dass ein Großteil der
Katastrophe von Menschen gemacht ist. Wir alle in die-
sem Hause sollten ein gemeinsames Interesse daran ha-
ben, dass das in Zukunft verhindert wird. Ich lade Sie
alle dazu ein, dass wir gemeinsam daran mitwirken, die
Zukunft Haitis in eine gute Richtung zu lenken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703422300

Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion ist nun der

nächste Redner.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1703422400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haiti

wurde einmal die „Perle der Karibik“ genannt. Im
18. Jahrhundert hat Haiti 60 Prozent des Kaffees und
40 Prozent des Zuckers für Europa angebaut und gelie-
fert. Allerdings haben einige wenige Weiße die Schwar-
zen versklavt. Die Lebenserwartung der versklavten Be-
völkerung betrug im Durchschnitt etwa 21 Jahre.

Zwischen 1825 und 1947 wurden Haiti von der Kolo-
nialmacht Frankreich Entschädigungszahlungen im Wert
von umgerechnet 22 Milliarden Dollar aufgezwungen.
Zwischen 1957 und 1986 haben die Duvaliers, bekannt
als „Papa Doc“ und „Baby Doc“, ihr Unwesen getrieben
und das Land geknechtet und unterdrückt. Danach ka-
men Wirren, Putsche, blutige Unruhen, das militärische
Eingreifen der USA und regelmäßig Naturkatastrophen
wie Wirbelstürme und Überschwemmungen hinzu.

Dieses Land wurde im Januar von einem schrecklichen
Erdbeben mit bis zu 300 000 Toten heimgesucht – die ge-
naue Zahl der Toten konnte nicht festgestellt werden –,
mit über 310 000 Verletzten und 1 Million Obdachlosen.

Wir stehen in der Tat in dem Zielkonflikt, dass es in
Haiti auf der einen Seite nur eine schwache bis gar nicht
vorhandene Regierung und keine Zivilgesellschaft in un-
serem Sinne gibt, aber auf der anderen Seite die Geber-
gemeinschaft nicht gegen die Interessen der Menschen
handeln soll. Damit haben wir ein riesengroßes Problem,
das man sicherlich nur behutsam angehen kann. Das
braucht seine Zeit.

Der Wiederaufbauplan, der erstellt worden ist, bezif-
fert die Kosten in den nächsten drei Jahren mit 8,3 Mil-
liarden Euro. Ich zitiere aus der Zeit vom 21. Januar:

Staatsaufbau heißt nicht, einem schwer traumati-
sierten Land innerhalb kurzer Zeit ein Mehrpartei-
ensystem samt parlamentarischer Geschäftsord-
nung hinzustellen. Staatsaufbau bedeutet, Straßen
und Krankenhäuser zu bauen, Polizisten und Rich-
ter auszubilden. Also ein Minimum an Sicherheit
zu schaffen, damit eine Bevölkerung von 10 Millio-
nen Überlebenskünstlern, Haitis einzige Ressource,
sich möglichst schnell selbst helfen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So weit das Zitat aus der Zeit.

Die Bundesregierung hat mit 17 Millionen Euro für
humanitäre Soforthilfe schnell geholfen. Ich bin schon
etwas enttäuscht, lieber Kollege Raabe, dass Sie die mit-
tel- und langfristigen EU-Zusagen in Höhe von 84 Mil-
lionen Euro, die wir gegeben haben, nicht erwähnt ha-
ben,


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Doch, doch, ich habe gesagt: Das kommt hinzu! Trotzdem ist das viel zu wenig!)


sondern mit Blick auf die 17 Millionen Euro so getan ha-
ben, als hätten wir nichts gegeben. Wir sind auch für die
private Hilfe in Höhe von fast 200 Millionen Euro dank-
bar. Das wurde schon erwähnt; für dieses Engagement
kann man unseren Bürgern nur herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ebenso vorbildlich haben wir die Entschuldung vo-
rangetrieben. Bilateral hat Deutschland die Schulden er-
lassen. Wir fordern die anderen Länder auf, es uns
gleichzutun, und wir sind der Meinung, dass der Interna-
tionale Währungsfonds, die Interamerikanische Ent-
wicklungsbank und die Weltbank ebenfalls über entspre-
chende Schuldenerlasse nachdenken sollten.

Wie sieht jetzt die Zukunftsperspektive aus? Ich
denke, mit „build back better“ ist gut beschrieben, wie
vorher der Zustand war und vor welcher riesigen Auf-
gabe wir hier stehen. Dies bedeutet zum einen eine Ko-
ordinierung der Hilfen. Deswegen setzen wir auf die
Wiederaufbaukonferenz am 31. März in New York. Wir
wollen, dass verlässliche Strukturen geschaffen werden.
Auf der anderen Seite muss der Demokratisierungspro-
zess mit den Menschen und der dortigen Regierung vo-
rangebracht werden. An dieser Stelle war Ihre Rede
reichlich naiv, lieber Kollege Raabe, weil es im Hinblick
auf ein Land, das bisher Unterdrückung und Diktatur er-
lebt hat, naiv ist, zu glauben, aus den Trümmern entstehe
plötzlich eine demokratische Kultur. Auch da werden
wir langen Atem brauchen.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das Ziel muss es sein, Herr Kollege! Langfristig!)


– Das Ziel habe ich gerade so formuliert; da sind wir uns
dann wieder einig.

Initiativen wie „Cash for Work“, Mikrokreditpro-
gramme und Investitionen, auch private, brauchen wir in
Haiti. Außerdem sollten wir schon klar sagen, dass wir
die Chancen ergreifen müssen, und zwar vom Tourismus
bis zum UNO-Sonderbeauftragten Bill Clinton. Es gibt,
glaube ich, keine professionelleren Spendensammler als
ehemalige amerikanische Präsidenten. Da sollten wir die
Chancen ergreifen.





Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)

Den Dank an die UNO hat der Kollege Leibrecht
schon ausgesprochen. Die UNO-Hilfsmission wurde bei
dem Erdbeben stark betroffen und hat deswegen einige
Tage gebraucht, um die Lage in den Griff zu bekommen.
Deshalb gilt der UNO erst recht der Dank für die Hilfe,
die dort geleistet wird.

Ich zitiere noch einmal die Zeit vom 28. Januar:

Haiti könnte als positives Beispiel für Staatsaufbau
in die Geschichte eingehen, wenn die Lehren aus
vergangenen Fehlern beherzigt werden. Zu den
wichtigsten gehören: Kurzfristige Nothilfe und
langfristiger Wiederaufbau müssen gemeinsam ge-
plant werden. Und: Nichts geht ohne die Bevölke-
rung …

Wenn die Zusammenarbeit zwischen Geberländern,
Hilfsorganisationen, Staat und Zivilgesellschaft
nicht funktioniert, dann zementiert internationale
Hilfe ebenjene soziale Ungleichheit, die schon vor
der Naturkatastrophe herrschte.

Viel Spielraum für Irrtümer bleibt nicht – auch
nicht bei der Nothilfe. Im Mai beginnt die Hurri-
kan-Saison.

So weit die Zeit.

Deshalb sind wir froh, dass es einen Wiederaufbau-
plan gibt, den 150 haitianische Regierungsbeamte und
90 internationale Experten gemeinsam entworfen haben.
Er stellt eine gute Arbeitsgrundlage dar.

So grundlegend wie jetzt in Haiti ist ein Staatsaufbau
noch nie versucht worden. Aber er kann gelingen, wenn
die internationale Gemeinschaft genügend langen Atem
beweist. Hierzu wollen wir die Bundesregierung mit un-
serem Antrag ermuntern.

Lieber Sascha Raabe, wenn das keine parteipolitische
Rede war, die Sie gerade gehalten haben, dann bin ich
gespannt, wie es sein wird, wenn Sie hier einmal eine
parteipolitische Rede halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ich habe doch erklärt, warum das notwendig war, Herr Kollege! Wir sind hier nicht in der Kirche, sondern wir wollen den Menschen helfen und handeln!)


– Ja, Sie sind nicht in der Kirche; aber wir haben vier
Anträge vorliegen. Ich habe im Ausschuss schon gesagt,
dass ich es nicht verstehe, dass es uns bei den geringfü-
gigen Unterschieden, um die es da geht – sie machen
sich nur an einem Sondertitel fest; ansonsten muss man
die Unterschiede ja krampfhaft suchen –,


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Zwischen 17 und 115 Millionen ist schon ein Unterschied!)


nicht gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag vorzule-
gen, zumal wir auf der einen Seite in der letzten Woche
beim Haushalt über 80 Milliarden Euro Neuverschul-
dung diskutiert haben – das haben Sie in der General-
debatte kritisiert und trotzdem für jeden Einzelhaushalt
neue Mittel gefordert – und auf der anderen Seite am
31. März die Wiederaufbaukonferenz haben werden. Da
wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die
EU mit einer Stimme spricht. Wir werden im Rahmen
der internationalen Gemeinschaft unseren Beitrag leisten
und die auf uns entfallenden Mittel zusätzlich zu den bis
jetzt zugesagten Mitteln bereitstellen.

Ich verstehe nicht, dass wir uns bei einer solch wichti-
gen Sache immer wieder auseinandersetzen, obwohl wir
gemeinsam der Meinung sind, dass man bei einem ge-
beutelten Land wie Haiti einen langen Atem haben muss
und man die Menschen dort nicht vergessen darf, wenn
das Fernsehen, die Medien nach vier Wochen nicht mehr
hinschauen. Sie können das aber noch heute heilen, in-
dem Sie unserem guten Antrag zustimmen. Dazu darf
ich Sie herzlich auffordern.

In diesem Sinne danke ich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sie müssen unserem Antrag zustimmen! Dann ist alles gut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703422500

Für die Fraktion Die Linke hat Heike Hänsel das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703422600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Bei dem schweren Erdbeben in Haiti am 12. Januar sind
wahrscheinlich bis zu 300 000 Menschen ums Leben ge-
kommen; meine Vorredner haben das erwähnt. Das ist
eine unvorstellbare Zahl; damit ist unvorstellbares Leid
verbunden. Mehr als 350 000 Menschen wurden zum
Teil schwer verletzt. Große Teile der Infrastruktur des
Karibik-Staats wurden durch die Erdstöße zerstört.

Mittlerweile sind die meisten Journalisten wieder weg
und die Kameras abgeschaltet, doch in Haiti beginnt ein
neuer Albtraum: die Regenzeit. Ganze Landstriche ha-
ben sich bereits in Teiche verwandelt, andere Regionen
sind mit aufgeweichter Erde überzogen, Erdrutsche dro-
hen. Auch ohne Kameras und Berichterstattung steht
fest: Die Menschen in Haiti brauchen noch für lange Zeit
unsere Solidarität.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])


Herr Kollege Riegert, hier unterscheiden sich unsere An-
träge: Wir fordern mehr Geld für Haiti und einen Son-
dertitel, um eine langfristige Hilfe zu gewähren. Das
steht in Ihrem Antrag eben nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Dann müssen Sie ihn richtig lesen!)


Experten schätzen die Schäden auf bis zu 14 Milliar-
den Dollar. Die Bundesregierung hat bisher die Bereit-
stellung von 17 Millionen Euro für Haiti beschlossen.
Zudem gibt es im gerade verabschiedeten Haushalt kei-
nen Sondertitel, um eine mittel- und langfristige Hilfe
für Haiti zu gewährleisten. Herr Niebel, ich muss es wie-





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

derholen: Das ist ein Armutszeugnis für diese Regie-
rung.


(Beifall bei der LINKEN)


Geld gäbe es genug; die Linke hat viele Vorschläge für
mögliche Einsparungen gemacht. Allein der Afghanis-
tan-Einsatz der Bundeswehr kostet mittlerweile mehr als
1 Milliarde Euro pro Jahr. Damit könnte man in Haiti
mehr als 2 000 Schulen und 250 000 Lehrer und Lehre-
rinnen finanzieren. Am kommenden Mittwoch findet in
New York eine internationale Geberkonferenz für Haiti
statt. Herr Niebel, ich frage mich natürlich, welche kon-
krete, langfristige Hilfe Sie dort eigentlich im Namen
der Bundesregierung anbieten wollen. Ich sehe nichts
davon.

Für die Fraktion Die Linke ist auch entscheidend – das
haben wir in unserem Antrag formuliert –, dass der Auf-
bau Haitis in den Händen der haitianischen Regierung
und der haitianischen Zivilgesellschaft liegt.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt dort viele demokratische Initiativen, selbstorga-
nisierte Basisgruppen, Frauengruppen und Nachbar-
schaftshilfe, über die hier nicht berichtet wird, die aber
maßgeblich zur stabilen Sicherheitslage in Haiti beitra-
gen. Ein Protektorat Haiti, wie es sich manche vorstel-
len, lehnen wir ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir setzen uns auch für die Stärkung der Süd-Süd-
Kooperation ein. Es gibt nämlich bereits eine langjäh-
rige, vorbildliche Entwicklungszusammenarbeit vieler
lateinamerikanischer Staaten. Ich nenne als Beispiel
Kuba: Mehr als 400 kubanische Ärzte und Ärztinnen ar-
beiten seit Jahren vor allem in ländlichen Regionen
Haitis; jetzt sind über 200 Ärzte hinzugekommen. –
Diese Erfahrungen und die bereits bestehende Infra-
struktur wären gute Voraussetzungen für eine trilaterale
Zusammenarbeit zwischen Kuba, Haiti und Deutschland
oder auch der EU. Folgen Sie deshalb, Herr Niebel, dem
Beispiel der norwegischen Regierung, die ein solches
Abkommen mit Kuba nach dem Erdbeben unterzeichnet
hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Während das Geld für den zivilen Aufbau bei weitem
nicht ausreicht, wird allerdings sehr viel Geld für die
Präsenz von Militär in dem kleinen Land ausgegeben.
Die US-Regierung hatte mehr als 20 000 Soldaten statio-
niert. Jetzt werden einige abgezogen; aber nach wie vor
plant die US-Regierung, langfristig ein Kontingent von
mehreren Tausend Soldaten in Haiti zu halten. Auch die
UN-Mission MINUSTAH wurde auf jetzt über 9 000 Sol-
daten aufgestockt. Sie kostet über 400 Millionen Euro
im Jahr. Wir lehnen diese Militarisierung von Aufbau-
hilfe ab, die in unseren Augen einer neuen Besatzung
Haitis gleichkommt. Wir fordern den Abzug aller Trup-
pen und eine rein zivile Aufbaumission.


(Beifall bei der LINKEN)


Das fordern auch über 100 Organisationen weltweit, un-
ter anderem La Via Campesina, oder der argentinische
Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel; sie alle
wenden sich gegen die Militarisierung der Aufbauhilfe.
Für uns ist ganz klar die Armut das Hauptproblem Haitis
und nicht die Sicherheit. Deshalb braucht Haiti nicht
mehr Soldaten, sondern mehr Ärztinnen und Ärzte und
mehr Lehrerinnen und Lehrer.


(Beifall bei der LINKEN)


Die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi
Klein bringt es auf den Punkt: Haiti ist eigentlich kein
Schuldnerland, sondern ein Gläubigerland. Wir müssen
hier endlich einmal über Wiedergutmachung für Haiti
sprechen, Wiedergutmachung für die verheerenden Fol-
gen von Sklaverei, US-Besatzung, von außen unterstütz-
ter blutiger Diktatur, von aufgezwungenem Freihandel,
Schuldendienst und jetzt des Klimawandels. – Haiti ge-
hört zu den am meisten vom Klimawandel betroffenen
Ländern, obwohl es ihn nicht verursacht hat. Neue ver-
heerende Hurrikans werden in diesem Jahr erwartet. Da-
für sind wir in den Industriestaaten verantwortlich, und
deshalb hat Haiti einen Anspruch auf unsere Unterstüt-
zung.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist keine Frage von Goodwill.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703422700

Frau Kollegin!


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703422800

Vielmehr besteht ein Anspruch auf diese Unterstüt-

zung. Dafür setzen wir uns ein.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703422900

Der Kollege Thilo Hoppe hat das Wort für Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Viele haben, als sie die Nachricht gehört haben, dass
Haiti von einem verheerenden Erdbeben erschüttert wor-
den ist, gestöhnt und gefragt: Warum wieder Haiti, aus-
gerechnet Haiti, ein Land, das vom Schicksal schwer ge-
prüft ist? Klaus Riegert und Heike Hänsel haben schon
einiges zur Geschichte Haitis gesagt.

Ich stelle fest: In dieser Debatte gibt es einerseits sehr
viele Gemeinsamkeiten. Wir alle sind tief betroffen von
dem schrecklichen Leid, das den Menschen in Haiti
widerfahren ist. Wir haben in vielen Reden gehört, wie
schlimm die Verhältnisse sind und wie groß die Heraus-
forderung ist. In der Tat könnte man fragen: Können wir
uns nicht auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifen-
den Antrag einigen?

Aber leider gibt es bei all den Gemeinsamkeiten doch
auch Unterschiede, die nicht so klein sind.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)






Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)

Der Streit fängt meistens dann an, wenn es ums Geld
geht. Viele Experten haben gestern in der Anhörung ge-
sagt, dass es bei solchen Katastrophen oft Wellenbewe-
gungen gibt. Wenn die Fernsehbilder, schreckliche,
furchtbare Bilder, um die Welt gehen, dann ist die Spen-
denbereitschaft groß. Alle möglichen Hilfsorganisatio-
nen und Hilfswerke werden mobilisiert. Manchmal
schwappt sogar so viel Geld ins Land, dass es gar nicht
sofort sinnvoll eingesetzt werden kann. Aber wenn die
Scheinwerfer wieder ausgeschaltet sind, geht die Hilfs-
bereitschaft massiv zurück. Diese Wellenbewegungen
sind – das haben uns viele Experten gesagt – sehr
schlecht für eine nachhaltige Entwicklung, für den Auf-
bau von Institutionen und Strukturen, die auch über die
Krisenzeit hinaus tragfähig sind.

Gerade aus diesem Grund ist es so wichtig, langfris-
tig, mit sehr langem Atem, zu helfen und einen Sonder-
titel einzustellen, wie ihn die drei Oppositionsfraktionen
gefordert haben. Auch der Entwicklungsminister hat
dies gefordert – einige Redner haben es schon gesagt –,
ebenso, wie ich glaube, die meisten Kollegen aus dem
Entwicklungsausschuss. Dennoch ist der Sondertitel lei-
der nicht durchgekommen. Er ist an den Haushältern von
CDU/CSU und FDP gescheitert. Da besteht die größte
Differenz. Ich glaube, im Entwicklungsausschuss hätten
wir größere Chancen, zu einem gemeinsamen Antrag zu
kommen.

Ich denke, einiges kann aber noch geheilt werden.
Wir wünschen uns sehr, dass die Bundesregierung die
Knauserei endlich ablegt, ermutigt durch die Debatte zu
der Wiederaufbaukonferenz nach New York fährt, dort
deutlich mehr Geld in die Hand nimmt und sich dabei
wirklich eher an dem orientiert, was Deutschland nach
der Tsunami-Katastrophe geleistet hat. Eines ist nämlich
schon klar: Die Zahl der Opfer ist höher als damals, und
auch die Schäden sind größer; sie übersteigen bei wei-
tem das, was die verheerende Tsunami-Katastrophe an-
gerichtet hat. Also muss die Antwort entsprechend sein.
Ich hoffe, dass es einen gemeinsamen Appell an die
Bundesregierung gibt, dort wirklich mehr zu leisten und
ambitionierter aufzutreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht kann sogar noch im nächsten Haushalt ein
Sondertitel eingerichtet werden.

Bei der Aufbauhilfe – das Wort „Wiederaufbau“ passt
eigentlich nicht, weil man zu einem neuen Status kom-
men muss; man soll nicht den Status wiederherstellen,
den es vor dem Erdbeben gegeben hat – sind drei As-
pekte wichtig, die hier auch schon benannt worden sind.
Zwei möchte ich ganz dick unterstreichen.

Erstens: keine Entwicklung an den Menschen in Haiti
vorbei!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Aufbaupläne dürfen nicht am Reißbrett von Ent-
wicklungsagenturen entstehen. Wir haben da einen ge-
wissen Zielkonflikt. Humanitäre Hilfe muss sofort grei-
fen, um Menschenleben zu retten. Aber jetzt geht es um
den Aufbau, und da muss ein schwieriger Prozess orga-
nisiert werden: mit der Regierung in Haiti, so schwer es
auch ist. Wir haben gestern gehört, dass die Regierung
das Vertrauen eigentlich verspielt hat. Trotzdem führt
kein Weg daran vorbei, auch dort Bildungsprogramme,
Capacity-Building zu machen, damit man zumindest
mittelfristig auch zu tragfähigen staatlichen Strukturen
kommt. Die Bevölkerung muss einbezogen werden. Es
gibt sehr aktive Nachbarschaftskomitees und eine sehr
aktive Zivilgesellschaft. Gebergemeinschaft, Regierung
und Zivilgesellschaft müssen zusammenkommen.

Dann ist ein zweiter Aspekt ganz wichtig – neben der
Entschuldung; darüber sind wir uns, glaube ich, alle ei-
nig –, nämlich dass der ländliche Raum endlich in den
Fokus gerückt werden muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Sascha Raabe hat es gesagt: Haiti ist ein Land, das sich
früher selbst versorgen konnte, das Lebensmittel sogar
exportieren konnte, und zwar nicht nur in der Zeit der
Sklaverei. Es ist in den 80er-Jahren durch IWF und Welt-
bank gezwungen worden – das ist kein Geheimnis –,
Strukturanpassungsmaßnahmen durchzuführen und den
Außenschutz abzubauen. Daraufhin ist es von hochsub-
ventioniertem Reis und anderen Agrarprodukten aus den
USA überschwemmt worden. Die Landwirtschaft ist
durch diese verfehlte Handelspolitik und durch diese
auch verfehlte Liberalisierungspolitik völlig zerstört wor-
den.

Auch dabei muss es jetzt zwei Stufen geben: Sofort-
hilfe in Form von Nahrungsmittelhilfe, dann aber unbe-
dingt Saatguthilfe, damit die Regenzeit für die Aussaat
genutzt werden kann. Wir brauchen eine Unterstützung
für den ländlichen Raum in Haiti, damit vor allem die
Kleinbauern in die Lage versetzt werden, die eigene
Bevölkerung auf nachhaltige Weise zu ernähren. Mittel-
fristig muss dann auch an einen besseren Außenschutz
gedacht werden, also an eine Rücknahme von Liberali-
sierungsschritten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben jetzt über vier Anträge abzustimmen, die
viele Gemeinsamkeiten haben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423100

Herr Kollege, ich glaube, Sie können jetzt nicht mehr

über alle vier Anträge sprechen.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423200

Dann sage ich das jetzt ganz schnell. – Wir haben den

wirklich umfassenden Antrag vorgelegt,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Aber wir haben den realistischen!)


in dem auch der größte Sondertitel gefordert wird. Es
wäre natürlich ein tolles Zeichen, wenn jetzt alle dem
Grünen-Antrag zustimmen würden.





Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden auch dem SPD-Antrag zustimmen. Darin
steht nichts Falsches, aber er bleibt ziemlich vage.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423300

Herr Kollege!


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423400

Beim Antrag der Linken kann ich eines nicht verste-

hen, nämlich dass die Sicherheitsfrage völlig außer Acht
gelassen wird. Dafür, dass Sie Skepsis gegenüber den
amerikanischen Truppen haben, habe ich ein bisschen
Verständnis.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423500

Nein.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423600

Aber dass selbst das UN-Mandat abgelehnt wird, kön-

nen wir nicht mittragen. Deshalb leider eine Ablehnung.

Der Koalitionsantrag –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423700

Herr Kollege!


(Heiterkeit)



Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423800

– enthält nur Allgemeinplätze.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703423900

Das wird nicht funktionieren, weil mein Verständnis

jetzt ganz am Ende ist.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703424000

Deshalb bestenfalls eine Enthaltung.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703424100

Der Kollege Frank Heinrich hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1703424200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Jetzt noch etwas Neues zu sagen, wäre eine
sehr große Herausforderung. Das maße ich mir nicht un-
bedingt an. Ich möchte noch einmal die Bilder in Erinne-
rung rufen, die dem einen oder anderen vielleicht mehr
präsent sind. Ich selbst habe Freunde, die davon direkt
betroffen sind, und auch Freunde in NGOs. Wir alle ha-
ben aber noch die Bilder aus den Medien vor Augen. Ich
habe aber nicht nur dieses Bild des Leides in Erinnerung.
Ich habe auch das Bild in Erinnerung, das Herr Leibrecht
ganz am Anfang aufgezeigt hat, das Dank bei mir her-
vorruft, und zwar das Bild von Deutschland, wie es rea-
giert hat, wie die Bürger in Deutschland reagiert haben.
Vor vier Jahren standen wenige Hundert Meter von hier
entfernt unsere Kicker – wir haben den dritten Platz be-
legt – und haben ein T-Shirt mit der Aufschrift getragen:
Danke, Deutschland. – Ich möchte hier anknüpfen und
„Danke, Deutschland“ sagen, und zwar gerichtet an un-
sere Bürgerinnen und Bürger sowie an die Helferinnen
und Helfer, die sich aufgemacht haben, um in die Tat
umzusetzen, was viele nur bei Worten belassen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Klage, wie wenig wir aufgebracht hätten, hört
sich manchmal wie eine Leier an. Dabei haben Sie viel-
leicht mehr die Regierung in den Fokus genommen. Ich
danke aber auch der Bundesregierung. Ich danke auch
den Vertretern des Auswärtigen Amtes, die koordiniert
haben. Ich habe selbst an solchen Sitzungen teilgenom-
men und weiß, wie gut die Zusammenarbeit zwischen
Technischem Hilfswerk, Welternährungsprogramm, der
GTZ usw. war. Ich war begeistert, dabei sein zu können,
wie das entwickelt wurde. Die gute Zusammenarbeit und
die Hilfe sind einen großen Dank wert.

Das heißt aber nicht – die Gefahr wurde hier realis-
tisch festgestellt –, dass jetzt aufgehört werden darf. Das
machen wir auch nicht. Vieles war gut, und vieles kann
man vielleicht noch besser machen. Wir dürfen aber
nicht aufhören. Wir dürfen uns jetzt nicht aus der Affäre
stehlen. Das machen wir auch nicht. Das haben wir im
Übrigen mit allen Anträgen auf unterschiedliche Weise
bewiesen. Auch den Bürgern rufe ich zu, jetzt bitte nicht
aufzuhören, sondern bei den Organisationen, bei denen
sie gespendet haben, nachzuhaken: Seid ihr noch dort?
Seid ihr noch dran? Braucht ihr noch weitere Hilfe? – So
können wir beweisen, dass wir nicht nur kurzfristig, son-
dern langfristig Herz haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der heutigen Debatte geht es darum, Haiti eine
langfristige Wiederaufbauperspektive zu geben. Für
mich als Novize in diesem Haus ist es schön, zu erleben,
dass unsere Grundsätze und auch unsere Anträge in die-
sem Haus eine große Schnittmenge aufweisen. Das ist
nicht in allen Politikbereichen der Fall. Manchmal wäre
es wünschenswert, wenn sich das übertragen wurde.

Schon vor dem Erdbeben war Haiti eines der ärmsten
Länder, das ärmste Land Lateinamerikas. Nach dem
Erdbeben, das nach dem Tsunami die größte Katastrophe
dieses Jahrhunderts ist, haben wir jetzt die Chance – un-
abhängig davon, ob die Medien davon berichten –, das
Thema nach einigen Wochen noch einmal aufzugreifen.
Noch nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti wahr. Teilweise
nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti deshalb noch wahr,
weil sich Amerika in diesem Prozess so stark engagiert
hat.

Die Hilfe ist aber auch mit einem politischen Auftrag
verbunden. Dem kommen wir heute ein Stück weit nach.
Wir wollen – das steht auch in unserem Antrag – neue
Strukturen schaffen, und zwar sowohl im politischen Be-
reich als auch in den Bereichen der Gerichte, der Polizei





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

und im militärischen Bereich, aber auch in anderen Be-
reichen der Gesellschaft bis hin zur Infrastruktur.

Ich denke, politische Fehler und gegenseitige Vor-
würfe sind genügend ausgetauscht worden. Die vier
politischen Notwendigkeiten, die wir auch in unserem
Antrag beschrieben haben, betreffen unter anderem die
Koordinierung des Wiederaufbaus. Deshalb verstehe ich
nicht, weshalb Sie unsere Forderung hinsichtlich der
UNO ablehnen. Wir wollen abwarten – deshalb gibt es
diesen Titel bei uns noch nicht explizit –, was zum Bei-
spiel die Geberkonferenz beschließt und was die Recher-
chen ergeben, die dann zusammenfließen. Wir wollen
auch abwarten, welchen Bedarf die Geberkonferenz im
Juni zusammenträgt. Jetzt Schnellschüsse zu machen, ist
die Sache meines Erachtens nicht wert. Dafür ist das
Problem zu groß.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre jetzt kein Schnellschuss!)


Die Entschuldung ist vergessen worden. Deutschland
hat im vergangenen Jahr entschuldet. In unserem Antrag
haben wir die Forderung aufgenommen, andere aufzu-
fordern – insbesondere die Inter-American Development
Bank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung –, diesem Beispiel zu folgen. Das wäre der
zweite Bereich.

Der dritte Bereich bezieht sich auf den Finanzbedarf,
bei dem wir uns noch nicht hundertprozentig festlegen,
wie viel das am Schluss sein wird. Da kursieren viele
Zahlen. Wir sind uns einig, dass es sich um viel Geld
und um eine langfristige Investition über mehrere Jahre
handelt.

Der vierte Bereich betrifft den Aufbau eines Rechts-
staates. Die Verwaltung soll bei der UNO bleiben. Die
Sofortmaßnahmen zu Beginn waren positiv. Die Neu-
ausrichtung der Mission MINUSTAH ist ebenfalls posi-
tiv. Es soll innerhalb der EU konzertiert gearbeitet wer-
den. Die NGOs sollen selbstverständlich wie auch die
vor Ort arbeitenden Bürgerbewegungen – das geschah
schon bei der Soforthilfe – einbezogen werden. Natür-
lich sollen auch die Wahlen, die Ende des Jahres stattfin-
den sollen und ganz entscheidend sein werden, begleitet
und kontrolliert werden.

Maßnahmen gegen Kinderhandel und illegale Adop-
tion habe ich in dem einen oder anderen Antrag ver-
misst. Ich denke, es steht uns an, darauf ein Auge zu
werfen.

Lassen Sie uns die Medien und die Bürger auffordern,
weiterhin den Fokus auf Haiti zu richten. Stimmen Sie
auch für den Antrag der CDU/CSU und der FDP, damit
das Signal, das mehrfach angesprochen wurde, ausge-
sendet werden kann.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703424300

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck-
sache 17/1157 mit dem Titel „Haiti eine langfristige
Wiederaufbauperspektive geben“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Antrag bei Zustimmung der Koalitions-
fraktionen angenommen. Dagegen haben die SPD und
die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat sich enthalten.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Zukunft für
Haiti – Nachhaltigen Wiederaufbau unterstützen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1214, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/885 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-
mung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke an-
genommen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben
dagegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 17/1099. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/774 mit dem Titel „Nachhaltige Hilfe für
Haiti: Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Kooperation stär-
ken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist bei Ablehnung durch die Fraktion Die Linke
angenommen. Zugestimmt haben alle anderen Fraktio-
nen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/791 mit dem Titel „Haiti ent-
schulden und langfristig beim Wiederaufbau
unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und die Linke angenommen. Dage-
gen hat das Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Frak-
tion der SPD hat sich enthalten.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Hermann Ott, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzmärkte ökologisch, ethisch und sozial
neu ausrichten

– Drucksache 17/795 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Das Wort als erster Redner hat der Kollege
Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht
in dem Antrag, den wir vorlegen, um ein Thema, das mir
persönlich sehr wichtig ist, weil ich davon überzeugt bin,
dass Menschen nicht nur nach ihrem wirtschaftlichen
Vorteil streben, sondern durchaus bereit sind, auch öko-
logische, soziale und ethische Erwägungen zu berück-
sichtigen, und wir deswegen unser Finanzwesen nicht
nur auf die Rendite ausrichten dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man von diesem Menschenbild ausgeht, dann
sieht man, dass in der bisherigen Diskussion darüber,
was an den Finanzmärkten neu gemacht und verändert
werden muss, eine Dimension völlig fehlt. Das ist die
Dimension: Wie schaffen wir es, dass die Menschen Ver-
antwortung für das übernehmen können, was mit ihrem
Geld geschieht? Wir sollten nicht nur die Frage beant-
worten, warum Banken pleitegegangen sind und Anleger
viel Geld verloren haben, sondern auch die Frage: Wa-
rum fließt so viel Geld in Investitionen, die volkswirt-
schaftlich wertlos oder sogar schädlich sind? Denken Sie
nur an die vielen Gelder, die zur Zerstörung des Regen-
waldes beitragen, oder an andere umweltschädliche In-
vestitionen. Deutsche Anleger haben über Fonds – in
dem Film Let’s make Money ist deutlich geworden, dass
die Anleger nicht wissen, wohin ihr Geld fließt – völlig
sinnlose Immobilienprojekte in Spanien mitfinanziert,
die dort auch noch in Umweltschutzgebieten gesetzes-
widrig durchgeführt worden sind. Wir wollen eine Neu-
ausrichtung an den Finanzmärkten. Die Menschen und
die Märkte sind weiter als der Gesetzgeber. Deswegen
müssen wir nachlegen. Dies fordern wir in unserem An-
trag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach einer Studie der DZ Bank vom Herbst 2009 sa-
gen 55 Prozent der Menschen, dass sie bei ihrer Anlage-
entscheidung ökologische Aspekte berücksichtigen wol-
len, das sei ein wichtiges Kriterium. 74 Prozent der
Menschen sagen, es gebe zu wenige Informationen, vie-
les sei intransparent. Es ist ja auch wenig erklärlich, wa-
rum in Großbritannien bei über 20 Prozent der Anlage-
gelder solche Kriterien mitberücksichtigt werden und
darüber informiert wird, in Deutschland aber nur bei ei-
nem Prozent der Anlagegelder. Ich glaube nicht, dass die
Deutschen weniger ethisch denken als die Briten, son-
dern ich glaube, dass es hier einen Mangel in der deut-
schen Gesetzgebung gibt, den wir korrigieren müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nehmen Sie ein weiteres Beispiel, das Carbon Disclo-
sure Project. An diesem Projekt sind 475 institutionelle
Investoren beteiligt. Sie fragen bei den Unternehmen ab,
in welcher Höhe sie CO2-Emissionen ausstoßen und wie
sie in Bezug auf den Klimawandel dastehen. Das Projekt
krankt daran, dass es keine vergleichbaren standardisier-
ten Informationen aus den Unternehmen gibt. Wir müs-
sen jetzt die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, dass
Investoren, die Klimarisiken berücksichtigen wollen,
dies auch tun können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Die
evangelische Kirche hat ein Projekt gestartet, das ich
sehr gut finde. Man hat gesagt: Wir legen unsere Gelder
zusammen und werden in Zukunft schauen, dass die Kri-
terien, die wir auch sonst anlegen, nämlich ethische und
soziale Aspekte, auch bei unseren Investitionen berück-
sichtigt werden. Wir werden unsere Stimmrechte bün-
deln und als aktive Aktionäre dafür sorgen, dass sich in
den Unternehmen etwas ändert. –


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie haben sie sich dann bei der Mikrofinanzierung verhalten? Abgelehnt!)


Die katholische Kirche will sich dem anschließen. Der
Vorsitzende der Bischofskonferenz sagt, es sei für Anle-
ger außerordentlich schwierig, erfolgreiche und ethisch
zuverlässige Unternehmen von anderen mit zweifelhaf-
tem Ruf zu unterscheiden. Es ist daher die Aufgabe des
Gesetzgebers, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die
ethisch handeln wollen, dies auch tun können und die
dafür notwendigen Informationsgrundlagen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es nicht darum
geht, etwas völlig Neues zu machen, sondern dass wir
als Gesetzgeber im Rückstand sind und aufholen müs-
sen: Die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und
Asset Management, DVFA, sagt, dass es notwendig ist,
dass der Gesetzgeber Standardisierungen im Bereich der
nichtfinanziellen Indikatoren der Unternehmensleistung
vornimmt. Auch das sollten wir aufgreifen.

Meine Bitte ist: Greifen Sie dieses Anliegen, diese
fehlende Dimension in unserer bisherigen Finanzmarkt-
diskussion, auf. Lassen Sie uns die gesetzlichen Voraus-
setzungen dafür schaffen, dass Menschen in dieser Hin-
sicht Verantwortung übernehmen können, zumindest
diejenigen, die das schon heute wollen. Da sind wir als
Gesetzgeber in der Pflicht.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703424400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege

Klaus-Peter Flosbach.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1703424500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Nachfrage nach Geldanlagen, die ethi-
sche, soziale und ökologische Dimensionen berücksich-





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

tigen, nimmt zu. Das begrüßen und unterstützen wir aus-
drücklich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Schick, ich frage Sie: Warum werben Sie nicht stär-
ker für nachhaltige Anlagen und legen uns stattdessen
diesen unausgereiften Antrag vor?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Antrag schießt weit über das Ziel hinaus. Er ist ein
Sammelsurium von Vorschriften und Berichtspflichten,
das nicht das Bewusstsein für nachhaltige Anlagen
schärft, sondern eine Bürokratie ungeahnten Ausmaßes
verursacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ein „typischer Schick“!)


Lassen Sie mich verschiedene Punkte ansprechen.

Erstens. Sie fordern, dass bei allen Altersvorsorgepro-
dukten und Investmentfonds – ich bitte, zuzuhören –
jährlich von allen Aktien, Unternehmensanteilen, Unter-
nehmensfinanzierungen und Unternehmensanleihen die
direkten Treibhausemissionen im Verhältnis zum Port-
foliowert ausgewiesen werden müssen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)


Wer macht das? Mit welchem Aufwand? Mit welchen
Kosten? Mit welchem Effekt? Wo ist die Bemessungs-
grundlage? Wie kann man dieses wichtige Thema der
nachhaltigen Geldanlage so ins Abseits führen?


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Grünen machen sich lächerlich!)


Meine Damen und Herren, die Konsequenz wäre eine
Bürokratie ungeahnten Ausmaßes. Bei der letzten großen
Debatte zum Investmentänderungsgesetz am 13. Juni
2007 sagte Herr Kollege Dr. Schick im Deutschen Bun-
destag – ich zitiere –:

Wenn also durch den Gesetzentwurf bürokratische
Hemmnisse abgebaut werden und die Investment-
branche dadurch entlastet sowie im Wettbewerb ge-
stärkt wird, dann ist dies auch ein Anliegen der
Grünen.

Warum halten Sie sich nicht daran?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist halt kein Selbstzweck, Herr Flosbach!)


Herr Kollege Schick, Die Wirtschaftswoche schrieb
am 24. Juli 2009 zu Ihrem achtseitigen Wahlkampf-
papier, das nahezu identisch mit dem vorliegenden An-
trag ist:


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war kein Wahlkampfpapier!)


„Die Grünen entdecken die Finanzkrise“ und setzen „die
ordnungspolitischen Daumenschrauben an“. – In der Tat
waren Sie 2003 bei der Deregulierung der Finanzmärkte
dabei.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach!)


Jetzt suchen Sie den Platz an der Sonne und sind für al-
les Nachhaltige, aber nicht, weil Sie für Windkraftanla-
gen sind, sondern weil Sie Ihr Fähnchen nach dem Wind
richten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir begrüßen es, dass sich das Angebot an nachhalti-
gen Anlageformen erweitert. In Deutschland gab es
2008 76 Publikumsfonds, deren Anlagepolitik dem Prin-
zip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Allerdings sank
das Volumen von 6,6 Milliarden Euro in 2007 mit dem
Ausbruch der Finanzkrise und dem Einbruch der Wert-
papierbörsen auf 3,9 Milliarden Euro. Viele Anlagen
sind also nicht unabhängig von den sonstigen Marktent-
wicklungen.

Zweitens. Es ist sehr problematisch, wenn Sie bei Ka-
pitallebensversicherungen oder Rentenversicherungen
Ihren Blick einseitig auf die Verwendung der Versiche-
rungsbeiträge unter ökologischen, sozialen und ethi-
schen Gesichtspunkten richten. Die aufsichtsrechtlichen
Ziele lauten: Sicherheit, Rendite, Liquidität und Streu-
ung. Selbstverständlich kann die Nachhaltigkeit ein wei-
teres Kriterium sein, aber es darf nicht im Widerspruch
zu den anderen Zielen stehen. In diesem Zusammenhang
sollten wir uns die Riester-Rente noch einmal genauer
anschauen. Es gibt bereits Berichtspflichten, aber sie
sind in der jetzigen Form wirkungslos, wie Sie selbst in
der Begründung Ihres Antrages schreiben. Sie könnten
Ihre Auffassung zu diesem Thema noch einmal überden-
ken; denn wer fördert, kann auch Auflagen machen.

Drittens. Sie wollen die Vertriebsvorschriften für alle
Finanzdienstleistungsprodukte so ändern, dass nicht nur
schriftlich auf die ethische Dimension der Kapitalanlage
hingewiesen wird; vielmehr soll in jedem Beratungsge-
spräch auch die sozial-ökologische Interessenlage des
Kunden abgefragt werden. Meine Güte! Offensichtlich
halten Sie die Bürgerinnen und Bürger für unmündig. Ihr
Antrag entfacht in der Tat eine wahre Regulierungswut
und bevormundet den Bürger in seiner freien Entschei-
dung, wie er sein Geld anlegen will. Das machen wir
nicht mit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Versuchen Sie nicht, mit der Keule nachhaltige Geld-
anlagen unters Volk zu bringen. Die Nachfrage und das
Bewusstsein für solche Geldanlagen steigen, und das
sollten wir unterstützen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist es doch genau! Wie wollen Sie es denn machen?)


Herr Dr. Schick, entscheidend ist doch, dass ausreichend
Produkte zum Verkauf und zum Kauf zur Verfügung ste-
hen. Ihr Hinweis auf Großbritannien ist nicht in Ord-
nung, Herr Dr. Schick. Bei den 20 Prozent handelt es sich
ausschließlich um institutionelle Anleger bei Pensions-





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

fonds. Das sind nicht private Anleger. Da sollten Sie
noch einmal genau nachsehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es geht in unserem Antrag auch um die institutionellen!)


In 2007 haben wir das Investmentgesetz geändert und
unter dem Begriff „sonstige Sondervermögen“ die Mög-
lichkeit eröffnet, in Deutschland Mikrofinanzfonds auf-
zulegen;


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


darüber wurde auch in der vorangegangenen Debatte
diskutiert. Wir können also auch in Deutschland Mikro-
finanzfonds auflegen, Fonds für Kleinkredite zur Be-
kämpfung weltweiter Armut. Ein Hinweis: Herr
Dr. Schick und die Grünen haben das abgelehnt, als wir
das vor drei Jahren hier vorgeschlagen haben.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist die ethische Norm! – Zuruf von der FDP: Unfassbar!)


Leider wurden die Bedingungen im Gesetz durch un-
seren damaligen Koalitionspartner, die SPD, so einge-
schränkt, dass in Deutschland nicht ein einziger Fonds
aufgelegt wurde und das Geld nach wie vor ganz offi-
ziell nach Luxemburg und in die Schweiz fließt, Frau
Dr. Hendricks.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)


Diese Anlagen waren übrigens, sofern sie im Ausland
waren, nicht von der Finanzkrise betroffen.

Ich fordere Sie auf – die Grünen, aber auch die SPD –:
Unterstützen Sie uns, wenn wir im Sommer vor dem
Hintergrund der Erfahrungen im Bereich Entwicklungs-
hilfe und der Erfahrungen der kirchlichen Banken und
Investmentgesellschaften – um die geht es vor allem –
einen neuen Vorschlag zum Thema Mikrofinanzfonds
vorlegen.

Die Bereitschaft der Anleger, hier Geld zu investie-
ren, ist da. Versuchen Sie es ganz einfach einmal mit so-
zialer Marktwirtschaft. Das ist und bleibt unser Erfolgs-
rezept. Ihr Antrag ist vielleicht gut gemeint, aber sehr
schlecht gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703424600

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1703424700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Finanzmärkte nachhaltig auszurichten, ist unser
aller Anliegen; das ist ganz selbstverständlich. Die heu-
tige Debatte bietet aber auch die Chance, noch einmal
insgesamt über nachhaltige Maßnahmen infolge der Fi-
nanzkrise zu reden.
Wenn es um Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten
geht, dann geht es nicht nur um die ökologische, ethische
und soziale Ausrichtung von Produkten, sondern es geht
insbesondere auch um die Frage, welchen Schutz wir
Verbraucherinnen und Verbrauchern auf dem Finanz-
markt bieten. Auch das ist ein Aspekt von Nachhaltig-
keit und Teil einer nachhaltigen Strategie und muss be-
rücksichtigt werden, wenn wir über Auswirkungen auf
den Finanzmarkt reden wollen.


(Beifall bei der SPD)


Im Juli des letzten Jahres wurde im Deutschen Bun-
destag ein umfangreicher Katalog mit Maßnahmen vor-
gelegt. Die CDU/CSU, die damals gemeinsam mit der
SPD Antragsteller war, will heute kaum bis gar nicht
mehr wissen, welchen Antrag sie damals beschlossen
hat. Deshalb will ich darauf hinweisen, dass diese Bun-
desregierung die Umsetzung einiger bereits beschlosse-
ner Maßnahmen noch schuldig ist. Das ist selbstver-
ständlich nachzuholen; denn es geht explizit um die
Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn wir über die
Frage reden, welche Form an Beratung und welche An-
gebotspalette ihnen in Zukunft zur Verfügung stehen
werden.

Welche Vorlagen erwarten wir also? Welche Lehren
sollen bezüglich des Schutzes von Verbraucherinnen und
Verbrauchern aus der Krise gezogen werden? Alles
wurde beschlossen von der Großen Koalition – die FDP
hat sich damals enthalten –:

Erstens. Die Bundesregierung wollte und will sich auf
europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Regelungen im
Finanzmarktbereich getroffen werden, die eine deutlich
stärkere Regulierung zur Folge haben. Wo stehen wir
heute? Nichts ist passiert.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Doch! Haben Sie das mit den Ratingagenturen zur Kenntnis genommen?)


Zweitens. Nationale Maßnahmen sind zu ergreifen,
um alle Finanzprodukte einer Regelung und einer Kon-
trolle zu unterziehen, was selbstverständlich auch für die
Finanzberaterinnen und -berater gilt. Was ist geschehen?
Nichts.


(Beifall bei der SPD)


Das Eckpunktepapier von Herrn Schäuble ist in diesem
Punkt völlig unzureichend.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, haben Sie es gelesen, Frau Kollegin?)


Drittens: Mindeststandards für alle Finanzvermittler
und Finanzvermittlerinnen sowie Finanzberater und Fi-
nanzberaterinnen. Es geht dabei um Berufsqualifikation,
um Weiterbildung, um Registrierung und um die Frage
einer Berufshaftpflicht. Was ist bis heute passiert?
Nichts.

Viertens. Es geht um die Unabhängigkeit von Bera-
tung für Verbraucherinnen und Verbraucher, und zwar
auch zu alternativen Produkten und deren Wirkungsgrad.
Damals ist beschlossen worden, dass man den Verbrau-
cherzentrale Bundesverband personell und finanziell





Kerstin Tack


(A) (C)



(D)(B)

ausbaut und verstärkt und dass man die Verbraucherzen-
tralen der Länder beim Ausbau unterstützt. Eine Finan-
zierung über vier Jahre wollte man ihnen zubilligen. Was
ist passiert? Nichts. Kein einziger Cent ist geflossen.
Verbraucherschutzministerin Aigner hatte vor Weih-
nachten großspurig angekündigt, man wolle im Verbrau-
cherschutz Kartellstrafen einführen. Sie ist erbärmlich
gescheitert. Nichts ist passiert. Die Verbraucherzentralen
gucken weiter in die Röhre. Das wäre eine Maßnahme
gewesen, um auch Finanzprodukte nachhaltig in die Be-
ratung aufzunehmen.


(Beifall bei der SPD)


Fünftens. Eine Aufklärungskampagne für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher sollte es geben. Was ist
geschehen? Nichts.


(Zuruf von der FDP: Ja, ehrenamtlich muss man das machen!)


– Ehrenamtlich muss man das machen? Also wirklich!


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Sechstens. Zusammen mit den Ländern, mit Verbän-
den und Organisationen sollte ein Forum initiiert werden,
um gemeinsam Konzepte und Maßnahmen zur Verbesse-
rung der ökonomischen Bildung und der Finanzkompe-
tenz zu erarbeiten. Diverse Regierungskommissionen
sind eingerichtet worden, damit die Koalition darüber re-
den kann, was sie überhaupt will. Aber dieses Forum
konnte bisher nicht eingerichtet werden. Das Thema war
anscheinend nicht wichtig genug. Nichts ist passiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Frank Schäffler [FDP]: Das ist aber ein bisschen hart!)


Zusammenfassend lässt sich die Tätigkeit der Bun-
desregierung bei der Nachhaltigkeit und der Regulierung
der Finanzmärkte folgendermaßen beschreiben: nichts,
nichts und noch mal nichts.


(Zuruf von der SPD: Gar nichts!)


Stattdessen soll es eine Bankenabgabe geben, wodurch
letztendlich die Verbraucherinnen und Verbraucher in
die Pflicht genommen werden. Das kann es nicht sein.

Deswegen sagen wir: Ziehen Sie die richtigen Konse-
quenzen. Sorgen Sie dafür, dass eine Aufsicht für alle Fi-
nanzprodukte gewährleistet wird. Sorgen Sie dafür, dass
Vermittlerinnen und Vermittler erstens eine vernünftige
Berufsqualifikation haben


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und zweitens eine Berufshaftpflicht.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Sorgen Sie dafür, dass Kostentransparenz für alle Berei-
che besteht


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Machen wir!)


und den Verbrauchern deutlich signalisiert werden kann.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Machen wir auch!)


Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherverbände eine Be-
schwerdemöglichkeit erhalten und Musterklagen durch-
führen können.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und was machen Sie?)


Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherinnen und Ver-
braucher Zugang zu einer unabhängigen Beratung ha-
ben, zu Menschen, die beraten und nicht verkaufen wol-
len. Sorgen Sie dafür, dass die beschlossenen
Produktinformationsblätter einheitlich und insbesondere
verständlich sind.


(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Auf das Produkt bezogen!)


Sorgen Sie dafür, dass auch in Europa einheitliche Fi-
nanzregeln gelten. Sorgen Sie dafür, dass Leerverkäufe
verboten werden. Für diese nachhaltigen Maßnahmen
haben Sie alle Zeit der Welt gehabt. Legen Sie endlich
los!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703424800

Frau Tack, das war Ihre erste Rede hier im Haus.

Dazu gratulieren wir Ihnen und wünschen alles Gute.


(Beifall)


Für die FDP hat der Kollege Frank Schäffler das
Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1703424900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Lieber Kollege Schick, Sie haben hier einen
Schönwetterantrag vorgelegt. Er passt zum heutigen
Wetter, aber er löst nicht die Probleme, die wir auf den
Finanzmärkten und bei der Vermittlung von Finanzpro-
dukten in Deutschland haben. Vielmehr bedient er grüne
Klientel. Das mag auch der aktuellen Situation geschul-
det sein; aber ich glaube, wirkliche Probleme löst Ihr
Antrag nicht.

Was ist in Deutschland wie in allen modernen Volks-
wirtschaften das Problem bei der Altersvorsorge und der
Geldanlage?


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dass es kein solidarisches System ist!)


Das Problem ist, dass es immer mehr ältere Menschen
gibt – glücklicherweise werden wir immer älter – und
dass es immer weniger junge Menschen gibt.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch jetzt nicht das Thema!)






Frank Schäffler


(A) (C)



(D)(B)

Das heißt, der Altersquotient, also das Verhältnis der
über 65-Jährigen zu Personen im erwerbsfähigen Alter,
wird in den nächsten 25 Jahren von 35 Prozent auf
65 Prozent ansteigen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein anderes Thema! Falsche Rede!)


Deshalb müssen wir uns Gedanken über die Frage ma-
chen: Wie kann man die junge Generation in die Lage
versetzen, sich eine eigene Altersvorsorge aufzubauen?

Es wäre gut, wenn Sie sich einmal angeschaut hätten,
was Sie selbst in der Vergangenheit, nämlich in der rot-
grünen Koalition, auf diesem Gebiet getan haben. Da-
mals war – das muss man sagen – nicht alles schlecht.
Das, was Sie mit der Riester-Rente geschaffen haben,
war sicherlich ein Paradigmenwechsel in Deutschland.
Es wäre gut, wenn Sie auf diese Grundlage zurückkeh-
ren würden. Diesen Bereich müssen wir weiter aus-
bauen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wollen wir tun. Beispielsweise wollen wir Riester-
Verträge auch für Selbstständige öffnen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch das ist ein anderes Thema!)


Denn auch die Altersarmut von Selbstständigen ist ein
Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen.

Außerdem wollen wir zum Bürokratieabbau beitra-
gen; auch dies ist ein zentrales Thema. Die Durchfüh-
rungswege im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge
sind sehr undurchsichtig. Sie müssen entschlackt und
vereinfacht werden, damit sie für Arbeitnehmer und Ar-
beitgeber verständlicher werden.

Auch die Regelungen der sogenannten Rürup-Rente
müssen flexibilisiert werden. Unter anderem muss das
wichtige Thema Berufsunfähigkeit im Rahmen von
Rürup- und Riester-Rente stärker berücksichtigt werden.
Ich glaube, dass der Antrag, den Sie vorgelegt haben,
zwar gut gemeint ist, dass er unter dem Strich aber nicht
hilft.

Die Praxis, die Sie beschreiben, macht deutlich,
welch „nachhaltige“ Wirkung Ihre Konzepte haben. Sie
weisen in Ihrem Antrag darauf hin, dass bei Riester-Ren-
ten eine Prüfung sozialer, ethischer und ökologischer
Gesichtspunkte erfolgt. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass
nur 1 Prozent der Riester-Verträge tatsächlich nach so-
zialen, ethischen oder ökologischen Gesichtspunkten ab-
geschlossen wird. Man muss sich fragen: Wenn das am
Markt nicht nachgefragt wird, wieso sollte man es er-
zwingen? Wer soll am Ende die Kriterien festlegen: ein
paritätisch besetzter Beirat aus Arbeitnehmervertretern,
also Gewerkschaften, und Arbeitgebervertretern? Ein
Beamter im Ministerium oder bei der BaFin? Wer soll
das letztlich machen?


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Herr Schick macht das!)

Entscheidend ist, dass wir auf die Altersvorsorge set-
zen und Anreize schaffen, damit die Menschen für ihre
Altersvorsorge sparen. Dafür brauchen wir eine nachhal-
tige wirtschaftliche Dynamik. Sie ist die Grundvoraus-
setzung dafür, dass die Menschen in die Lage versetzt
werden, für ihre Altersvorsorge zu sparen.

Die Steuerreform ist für die christlich-liberale Koali-
tion die Mutter ihrer Reformen. Wir haben uns die Ziele
Steuersenkung und Steuervereinfachung auf die Fahnen
geschrieben.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat nichts mit dem Thema zu tun! Das ist alles nicht zum Thema!)


Es ist zu einfach, wenn Sie auf der letzten Seite Ihres
Antrags schreiben – das passt allerdings zu diesem An-
trag –:

Grüne Rhetorik allein wird den Klimawandel nicht
aufhalten können.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Wir brauchen Regulierung und Taten!)


Sie sollten sich, statt solche Anträge in den Bundestag
einzubringen, um die wirklichen Probleme in diesem
Land kümmern.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können unserem Antrag ja zustimmen!)


Die Menschen müssen wieder mehr Geld in der Tasche
haben, um für ihre Altersvorsorge sparen zu können. Der
Staat darf ihnen nicht immer mehr Geld aus der Tasche
ziehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703425000

Barbara Höll hat für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703425100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Was sagt Ihr Antrag aus? Sie wollen durch
mehr Berichte und klare Kriterien Klarheit in die Finanz-
märkte bringen. Sie wollen nicht mehr und nicht weni-
ger, als sie neu auszurichten. Herr Schick, Ihr Anliegen
in allen Ehren. Aber glauben Sie allen Ernstes, dass
durch veränderte Kriterien in alten Strukturen ein erneu-
tes Marktversagen verhindert werden kann? Ich sage Ih-
nen ganz klar: Sie setzen an der falschen Stelle an. Sie
behalten Ihre Marktgläubigkeit bei und handeln nach
dem Motto: Der Markt wird es schon richten.

Der Markt macht, was er will. Das Profitstreben steht
über allem anderen. Dass Sie in Ihrem Antrag Schwe-
den, Frankreich und Großbritannien als Beispiel für Län-
der nennen, in denen entsprechende Maßnahmen bereits
funktionieren, spricht eine beredte Sprache. Denn diese





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Länder sind genauso von der Finanzkrise betroffen wie
wir.

Wir müssen endlich die Spielregeln auf den Finanz-
märkten ändern. Die Finanzmärkte tatsächlich neu aus-
zurichten, bedeutet nach Meinung der Linken unter an-
derem


(Zuruf von der FDP: Abschaffen!)


eine Stärkung ihrer Funktion,


(Beifall bei der LINKEN)


die Absicherung der unternehmerischen Tätigkeit, die
Absicherung von Krediten und ihren Risiken, Anlage-
funktionen für Sparerinnen und Sparer sowie die Absi-
cherung des Zahlungsverkehrs. Das sind die entschei-
denden und eigentlichen Funktionen der Finanzmärkte.
Die Märkte sind nur Mittel zum Zweck.


(Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und das in einem Fünfjahresplan!)


Wenn die Mittel nicht dem öffentlichen Interesse,
sondern den Interessen Einzelner dienen, und zwar auf
Kosten der Mehrheit, muss die Politik eingreifen und re-
gulieren. Das könnten Sie endlich einmal tun.


(Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und dann eine Mauer drumherum bauen!)


Wir fordern deshalb ein Verbot von Spekulationen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern zum Beispiel ein Verbot der Leerverkäufe.
Wir fordern die Einführung einer Finanztransak-
tionsteuer. Diese Maßnahmen würden nämlich dafür sor-
gen, die Märkte zu entschleunigen und tatsächlich regu-
lierend einzugreifen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von den Grünen, ich ver-
misse bei Ihrem Anliegen leider einen wichtigen Punkt:
Es muss doch darum gehen, die Finanzmärkte in ihrem
Volumen zu verringern. Denn die Masse frei schweben-
den Kapitals auf den Finanzmärkten führt automatisch
zu Spekulationsblasen. Es gab bereits eine Dotcom-
Blase. Damals suchten zahlreiche Anleger nach Rendite-
möglichkeiten. Wir erinnern uns noch daran, dass An-
fang dieses Jahrtausends die Technologieblase geplatzt
ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703425200

Frau Höll, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kolle-

gen Schick zu?


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703425300

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703425400

Bitte schön.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Höll, damit wir nicht in die Gefahr kommen, an-
einander vorbeizureden, wäre es vielleicht gut – daher
meine Nachfrage –, wenn Sie Folgendes zur Kenntnis
nähmen: Wir Grünen sind für eine Finanzumsatzsteuer,
die natürlich auch eine Volumenreduktion beinhaltet.


(Frank Schäffler [FDP]: Wir nicht!)


Wir haben in den letzten Debatten zahlreiche Beiträge
geliefert. Wir haben auch Anträge vorgelegt, in denen
wir uns für eine Regulierung aussprechen, damit die Fi-
nanzmärkte stabiler werden.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Alles kumulativ!)


Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es hier
um eine andere Dimension geht, die wir in dieser De-
batte zusätzlich brauchen? Der vorliegende Antrag sagt
also nicht aus, dass wir die gesamte Regulierungsdiskus-
sion ersetzen wollen. Wir wollen vielmehr eine zusätzli-
che Dimension schaffen. Wenn man in seinem Men-
schenbild den Menschen als ethisches und soziales
Wesen wahrnimmt, muss man an den Finanzmärkten die
entsprechenden Voraussetzungen für Wahlmöglichkeiten
schaffen. Denn viele Menschen interessieren sich nicht
nur für die Rendite; das geht aus Umfragen hervor. Sie
wollen auch anderes berücksichtigen. Sie bekommen
aber die dafür notwendigen Informationen nicht. Darum
geht es in dem Antrag. Er soll nicht anstelle einer
Finanzumsatzsteuer oder anderer regulatorischer Maß-
nahmen treten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das
klarstellen könnten.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703425500

Herr Schick, ich danke Ihnen für die Frage. Ich hoffe,

dass wir im Bundestag gemeinsam – sogar gemeinsam
mit der SPD – Vorschläge für die Regulierung der Fi-
nanzmärkte erarbeiten werden.


(Frank Schäffler [FDP]: Gott bewahre!)


Ich finde es schade, dass sich die Koalitionsfraktionen
weigern, zeitnah darüber zu diskutieren, wie wir künftig
mit der Frage der Besteuerung des Kapitalverkehrs um-
gehen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir wollen die Kleinsparer nicht belasten!)


Das ist diese Woche nämlich passiert: Sie von der CDU/
CSU haben eine zeitnahe Anhörung zur Transak-
tionsteuer abgelehnt.

Da sind wir uns einig. So, wie Ihr Antrag formuliert
ist, erwecken Sie aber den Anschein – das steht auf
Seite 1 Ihres Antrages –, die Finanzmärkte könnten der
zentrale Hebel für eine Neuausrichtung werden. Das ist
Marktgläubigkeit, die Bände spricht. Die Kriterien, die
Sie formuliert haben, sind gut, und wir werden uns si-
cherlich an etlichen Stellen einigen können.

Das Grundproblem – dass die Finanzmärkte diesen
enormen Umfang haben – haben Sie jedoch nicht er-





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

kannt. Das liegt natürlich auch ein bisschen an den poli-
tischen Entscheidungen, die Sie in der rot-grünen Regie-
rung getroffen haben.

Die Grünen haben gemeinsam mit der SPD eine abso-
lute Ausweitung der privaten Altersvorsorge verabschie-
det. Das steht in einem scharfen Gegensatz dazu, dass
das Umlageverfahren gestärkt werden müsste. Wenn das
Geld, das heute eingezahlt wird, gleich morgen ausgege-
ben wird – die Rücklage ist ja sehr gering –, dann muss
gar nicht erst nach Anlagemöglichkeiten gesucht wer-
den.

Die ganzen Alterssicherungsfonds weltweit sind ein
wesentlicher Motor des Aufblähens der Finanzmärkte
gewesen, weil natürlich all diese Fonds mit möglichst
hohen Renditen geworben haben. Deshalb ist es eine
entscheidende Frage, wie man es erreicht, dass das Kapi-
talvolumen insgesamt wieder geringer wird.

Das bedeutet für die Linke – wir haben die Auswei-
tung der privaten Altersvorsorge von Anfang an abge-
lehnt –: Wir müssen das solidarische Rentensystem stär-
ken, indem wir zurückkommen zu einer tatsächlich
paritätischen Finanzierung, zu einem System, in das alle
einzahlen und bei dem die Beitragsbemessungsgrenze
aufgehoben wird.


(Frank Schäffler [FDP]: Haben wir schon: 80 Milliarden Euro Steuerzuschuss!)


Dann hätten die wirklich Vermögenden in diesem Lande
wesentlich weniger Geld, für das sie nach ökologisch,
ethisch und sozial sauberen Anlagemöglichkeiten su-
chen könnten.

Wenn Sie für niedrige Steuersätze kämpfen – der
Spitzensteuersatz soll, wenn es nach Ihnen geht, ganz
weit unten liegen –, führt das dazu, dass Spitzenverdie-
ner nach Anlagemöglichkeiten suchen. Jemand, der über
ein sehr hohes Einkommen verfügt, kann dann für ein
ruhiges Gewissen leicht auf 1 oder 2 Prozent Rendite
verzichten. Wir fordern – Sie wissen das – einen wesent-
lich höheren Spitzensteuersatz. 53 Prozent halten wir für
angemessen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Früher waren es 90 Prozent!)


Wir halten es auch für angemessen, dass bei der Renten-
versicherung die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben
wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann hätten die Millionäre wesentlich weniger Geld, für
das sie nach sauberen Anlagemöglichkeiten suchen
könnten.

Wenn ich den Antrag der Grünen im Gesamtzusam-
menhang betrachte, muss ich angesichts des Anspruchs,
der ausgedrückt wird, leider sagen: Das ist ein Tarnmän-
telchen. Der Antrag ist nett und unschädlich; aber er
wird das Grundproblem nicht ändern. Bei den einzelnen
Punkten werden wir mit Ihnen gemeinsam schauen, auf
welche Kriterien wir uns einigen können. Das Grundpro-
blem wird nicht geändert; da müssen wir noch streiten.
Ich hoffe, dass sich das im Plenum auf andere Fraktio-
nen ausweitet.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703425600

Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1703425700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte zur Abwechslung zum Thema, nämlich zu dem
Antrag, reden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich halte diesen Antrag für wichtig, Herr Dr. Schick.

Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der Er-
halt unserer Umwelt ist ohne Zweifel die große Heraus-
forderung unserer politischen Generation. Umso bedau-
erlicher ist es, dass diese Frage anscheinend in den
Hintergrund gerückt ist. Wir reden sehr viel über die Be-
wältigung der Finanzkrise und über Arbeitsplätze, aber
zu wenig über die Umwelt und über ethische Fragen. In-
sofern ist es richtig, wenn wir gerade jetzt prüfen, wie
wir an die großen ökologischen Herausforderungen he-
rangehen. Genau in diesem Kontext sehe ich Ihren An-
trag und nehme ihn durchaus ernst.

Trotzdem hatte ich beim Lesen dieses Antrags ein
Störgefühl. Ich musste lange überlegen, warum ich die-
ses Störgefühl hatte. Eine erste schnelle Antwort war:
Die Grundidee ist gut; aber muss es dieses riesige büro-
kratische Paket von zwölf Maßnahmen, Regulierungen
und Bestimmungen sein? Das hat mich an unser Steuer-
system erinnert: Genau durch eine solche Regelungswut
haben wir unser Steuersystem nachhaltig verwüstet und
dadurch bei den Bürgerinnen und Bürgern diskreditiert.

Das hat mein Unbehagen aber noch nicht ganz erklärt.
Ich habe mich dann gefragt: Wer soll eigentlich festle-
gen, was ökologisch, ethisch oder sozial richtig und was
falsch ist? Ich denke, bei der Produktion von Landminen
sind wir uns schnell einig. Bei der Kernkraft – Sie sehen
das an den Diskussionen in der einen oder anderen
Partei – wird das schon schwieriger. Bei Mindestlöhnen
wird es recht kontrovers. Ich will damit sagen, dass die
Bewertungen, die Sie fordern, immer subjektiv sind, von
den Kriterien des jeweiligen Bewertenden abhängen. Ich
halte es für sehr gefährlich, ein Unternehmen, das sich
im Rahmen der geltenden Gesetze bewegt, nach den
subjektiven moralischen Vorstellungen derjenigen, die
aktuell über die politische Deutungshoheit verfügen, in
gut und schlecht einzuteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber das war es ehrlich gesagt auch noch nicht, was
mich an Ihrem Antrag letztlich besonders irritiert hat.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube, das war vielmehr der Geist, den ich hinter Ih-
ren Formulierungen vermute,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Geist?)


ein Geist, der geprägt ist von mangelndem Zutrauen in
die Urteilsfähigkeit der Menschen in diesem Land, ein
Geist – und dies ist jetzt bei allem Respekt vor Ihrem
Antrag meine subjektive Deutung – der Bevormundung.

Ich möchte das auch erläutern. Wir haben in Deutsch-
land eine Bevölkerung, die für ökologische und ethische
Fragen hochsensibel ist – niemand trennt so viel Müll
wie wir Deutschen, und es gab, das haben wir gerade in
der Diskussion vorher gehört, eine unglaubliche Spen-
denbereitschaft für Haiti –, eine Bevölkerung, der ich
also sehr wohl zutraue, die Entscheidung zu treffen,
mehr in nachhaltige Finanzprodukte zu investieren. Die
Wachstumszahlen bei derartigen Produkten zeigen dies
auch.

Wir sollten diese Menschen für die ethische und vor
allem ökologische Weiterentwicklung unserer Gesell-
schaft gewinnen und vielleicht sogar begeistern. Begeis-
tern, Herr Schick, funktioniert aber weder durch ein Pa-
ket aus zwölf neuen Vorschriften noch durch jährliche
schriftliche Berichte und auch nicht durch Stimmrechts-
übertragungen bei Hauptversammlungen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist es, was mich an der Vorlage wirklich stört: Es
ist neben der Kleinteiligkeit der ein bisschen über allem
schwebende erhobene Zeigefinger. Wir sollten uns wirk-
lich überlegen, ob das der richtige Weg ist, um für die
Menschen in Deutschland, die an den von Ihnen aufge-
worfenen Fragen, glaube ich, wirklich interessiert sind,
eine innovative, motivierende Politik zu machen, eine
Politik, die dazu führt, dass die Verbraucher aus eigener
Entscheidung und aus eigener Überzeugung mehr ökolo-
gische und ethische Produkte nachfragen.

Wir haben hier im Übrigen nicht nur im Finanz-
bereich einen erheblichen Nachholbedarf. In unserer so-
zialen Marktwirtschaft hat es eigentlich immer ganz gut
geklappt, durch Nachfrage, also durch den Verbraucher-
willen, auch das entsprechende Angebot zu generieren.
Warum soll das also nicht auch bei nachhaltigen Finanz-
produkten funktionieren?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Begeisterung und den Willen, etwas zu ändern, kön-
nen wir aber nur befördern, wenn wir als Politiker die
Dinge beim Namen nennen und die Menschen für unsere
Ideen gewinnen. Genau das ist unsere Aufgabe. Insofern
ist Ihr Antrag nicht ganz falsch; denn ausbeuterische
Kinderarbeit ist genauso ein Skandal wie die Produktion
von Streumunition.


(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU])


Den Raubbau an unseren Ressourcen und den Klima-
wandel dürfen wir nicht mit einem Achselzucken zur
Kenntnis nehmen. Herr Schick, es ist richtig: Viele die-
ser Dinge würden nicht passieren, wenn sich nicht je-
mand finden würde, der das finanziert.

Insofern bin ich Ihnen grundsätzlich sehr dankbar,
dass Sie das Thema der ökologischen und ethischen
Ausrichtung der Finanzmärkte auf die Agenda gesetzt
haben. Wir haben vielleicht unterschiedliche Ansätze,
aber wir sollten gerade in dieser Zeit gemeinsam weiter
an diesem Projekt arbeiten.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703425800

Für die SPD hat der Kollege Dr. Carsten Sieling das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1703425900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In dem letzten Beitrag ist in der Tat ein bisschen stärker
auf den Geist und die Grundidee, die hinter diesem An-
trag stehen, eingegangen worden. Dass wir im Rahmen
unserer vielen Diskussionen über die notwendige Regu-
lierung der Finanzmärkte, über viele Bestimmungen und
über quantitative Steuerungen reden müssen, ist die eine
Sache. Ich glaube, das ist auch das Vorrangige.

Ich finde es aber ganz angenehm – das muss ich wirk-
lich sagen –, hier auch einmal eine Debatte zu führen,
die sich auch darum rankt, wie die qualitativen Orientie-
rungen und Prozesse eigentlich gesteuert werden können
und wohin wir mit unserer Gesellschaft gehen wollen.
Das ist doch ein klarer Punkt.

Ich teile natürlich die Auffassung, dass wir einen
überschäumenden Reichtum auch durch Besteuerung
und andere Dinge sicherlich in stärkerer Weise als bisher
gemeinwohlorientierten Finanzierungen zuführen müs-
sen. Wir müssen aber auch immer im Kopf haben – das
habe ich in dem Redebeitrag von Frau Höll von den Lin-
ken nicht verstanden –, dass wir Gott sei Dank ein wohl-
habendes Land sind und dass wir natürlich dafür sorgen
müssen, dass in dieser sozialen Marktwirtschaft, die na-
türlich ökologische und ethische Komponenten braucht
und auch hat, auch das Nachfrageverhalten entsprechend
gesteuert wird, sodass nachhaltige, vertretbare und gut
gestaltbare Produkte und Anlageformen nachgefragt
werden.

Das ist das, was der Antrag thematisiert und was so-
zusagen als Idee dahintersteht. Ich wäre froh, wenn wir
alle sagen würden: In diese Richtung müssen wir weiter-
denken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe, der wir uns in Deutsch-
land stellen müssen.

An dieser Stelle möchte ich sagen: Die Finanzkrise ist
entstanden, weil kurzfristiges Denken und profitorien-
tiertes Handeln im Vordergrund standen. Ich kann nie-





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

manden verstehen, der sagt – Kollege Flosbach und Kol-
lege Schäffler haben das gemacht –: Es gibt zu viele
Regularien, hier werden zu viele Leitplanken gezogen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es müssen die richtigen Regularien sein!)


Wir brauchen eine langfristige Orientierung, eine
langfristige Ausrichtung, eine langfristige Politik. Das
hat viel mit Nachhaltigkeit zu tun.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das hat nur mit Nachhaltigkeit zu tun!)


Diese Kriterien gehen dann auch in den sozialen, ökolo-
gischen und ethischen Bereich hinein. Dabei gibt es Ver-
bindungen, die auch unterstützt werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich weiß ja, warum sich die Regierungskoalition im-
mer so aufregt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir regen uns doch nicht auf!)


Denn wenn man den Nachhaltigkeitstest einmal bei den
Maßnahmen, die Sie in den Raum stellen, durchführt,
dann wird man feststellen, wie wenig davon vorhanden
ist.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Elf Jahre SPD als Fazit!)


Wir haben in diesem Hause viel darüber diskutiert
– auch die Regierung hat lange darüber geredet –, dass
die Verbraucherseite durch Produktinformationen, Ver-
triebsvorschriften und viele andere wichtige Dinge, die
in dem Antrag auch genannt werden, gestärkt werden
muss. Aber außer Papier kommt nichts dabei heraus; es
folgt kein Handeln. Dazu kann ich nur sagen: beim
Nachhaltigkeitstest durchgefallen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Das ist doch Quatsch!)


Ebenso sind doch die Maßnahmen zur Regulierung
– wir haben es jüngst diskutiert – von Ratingagenturen,
Hedgefonds und anderen Dingen nicht auf Nachhaltig-
keit und Langfristigkeit ausgerichtet.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann überzeugen Sie doch Gordon Brown, dass er zustimmt, Herr Kollege!)


Genau das, Herr Dautzenberg, brauchen wir aber.

Zum Schluss möchte ich gerne sagen: Ihr Paradepferd
ist ja ganz plötzlich die Bankenabgabe. Auch dabei muss
man vielleicht einmal den Nachhaltigkeitstest machen.
Man muss sich einmal fragen, ob die Bankenabgabe ei-
gentlich geeignet ist, die gewaltige Belastung der öffent-
lichen Haushalte und der Steuerzahler zu mindern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703426000

Herr Kollege!

Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1703426100

Ich komme zum Ende. – 100 Milliarden Euro für die

HRE, 18 Milliarden Euro allein für die Commerzbank –
und Sie kommen mit einer Abgabe, die 1 Milliarde Euro
erbringen soll.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das eine war eine Bürgschaft, das andere eine Garantie!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703426200

Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kom-

men.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1703426300

Das ist Symbolik, das ist wirkungslos. Wir brauchen

erheblich weiter reichende Maßnahmen. Ich finde, der
Antrag spricht diese Punkte an.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703426400

Herr Kollege!


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1703426500

Ich teile nicht alle Aspekte des Antrags, halte das aber

für eine unterstützenswerte und richtige Diskussion. Ich
bedanke mich bei der Präsidentin für ihre Geduld und
bei Ihnen, meine Damen und Herren, fürs Zuhören.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703426600

Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage

auf Drucksache 17/795 an die Ausschüsse zu überwei-
sen, die in der Tagesordnung vorgeschlagen sind. – Da-
mit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Freie und faire Wahlen im Sudan sicherstellen,
den Friedensprozess über das Referendum
2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre
und menschenrechtliche Situation verbessern
– Drucksache 17/1158 –

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Johannes Selle für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1703426700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diesen

interfraktionellen Antrag zum Sudan gibt es, weil dieses
Land vor einer historischen Chance steht. Nach über
zwei Millionen Toten und vier Millionen Vertriebenen
im Süden des Sudan – der Sudan hat insgesamt





Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)

38 Millionen Einwohner – und einem mühevollen Pro-
zess von 2002 bis 2005 in Naivasha überwanden die
Bürgerkriegsparteien Feindseligkeit und Misstrauen und
schlossen einen Friedensvertrag: das Comprehensive
Peace Agreement.

Dieser Vertrag hat es in sich; denn es geht um verab-
redete Machtteilung, um Ressourcenteilung, um Grenz-
ziehung in ölreichen Gebieten, um Entmilitarisierung
und gesetzliche Grundlagen zur Vorbereitung der Wah-
len. Dabei waren circa 40 Kommissionen und Überwa-
chungsgremien zu bilden.

Nach der kurzen Übergangszeit von fünf Jahren fin-
den im April dieses Jahres Wahlen auf allen parlamenta-
rischen Ebenen statt. Das sind acht Wahlvorgänge in ei-
nem Jahr. In unserem Superwahljahr 2009 hatten wir
vier Wahlen zu drei Terminen.

Die Menschen stehen vor einer großen Herausforde-
rung, und die Analphabetenquote ist hoch. Es wird zu
Recht hinterfragt, ob die Vorbereitungen umfassend und
ausreichend sind. Aber ich kann Ihnen aus eigener An-
schauung versichern, dass die erste Wahl nach 20 Jahren
Aufbruchstimmung erzeugt. Die Parteien wollen jetzt
die Erfahrung einer freien Wahl machen, auch wenn die
regierenden Parteien ungleich mehr finanzielle und pu-
blizistische Vorteile haben.

Unser Antrag richtet sich an die Bundesregierung mit
dem Ansinnen, in dieser entscheidenden Phase zusam-
men mit der internationalen Gemeinschaft alles zu tun,
dass diese Wahlen frei von Gewalt, unter Wahrung der
Versammlungs- und Pressefreiheit und mit entsprechen-
der logistischer Unterstützung stattfinden können und
das Ergebnis von den Parteien akzeptiert wird. Denn
schon in einem Jahr soll in einem Referendum darüber
entschieden werden, ob sich Südsudan abtrennt und aus
dem Sudan zwei Staaten entstehen.

Das wichtigste Überwachungsgremium ist die As-
sessment and Evaluation Commission. Die Kommission
ist aus Vertretern der beiden Konfliktparteien, der Unter-
zeichnerstaaten und weiteren internationalen Vertretern
zusammengesetzt. Sie soll die Implementierung überwa-
chen und nach der Hälfte der Interimsperiode den Pro-
zess evaluieren.

Die Kommission hat sich entschieden, entsprechend
der Bedeutung der Situation im Januar dieses Jahres eine
ausführliche Bewertung des CPA-Prozesses durchzufüh-
ren. Der Bericht zeigt auf, was alles erreicht wurde – der
Frieden hat gehalten –, aber auch, welche Mängel beste-
hen.

Sorgen machen die nicht abgeschlossene Grenzzie-
hung, die fehlende Friedensdividende für den kleinen
Mann, die Vervollständigung der Entmilitarisierung, die
Vorbereitung des Referendums und der Maßnahmeplan
für die Zeit nach dem Referendum.

Trotz allem macht der Bericht der Kommission Hoff-
nung, und er macht deutlich, dass die Zeit knapp und die
internationale Gemeinschaft gefordert ist. Auch deshalb
haben wir diesen Antrag vorgelegt. Ein Scheitern würde
die Konflikte wieder aufflammen lassen und wahr-
scheinlich ganz Afrika destabilisieren.

Es ist großartig, dass dieser Vertrag geschlossen wer-
den konnte, und es ist großartig, dass er bis heute gehal-
ten hat. Mit dem CPA wird aber nur ein Konflikt ange-
sprochen. Ungelöst sind die Krisenherde in Darfur und
im Ostsudan. Mit unserem Antrag wollen wir einfordern,
dass eine gesamtsudanesische Strategie notwendig ist.
Das CPA könnte dabei das Modell werden, wie es auch
Mohamed Adam, der Generalsekretär der Übergangsbe-
hörde in Darfur, vorschlägt.

Ziel dieses Antrags ist außerdem, die Beachtung der
Menschenrechte im Sudan zu fördern. Insbesondere Or-
ganisationen, deren Ziel es ist, eine Verbesserung der Le-
bensbedingungen von Minderheiten und die Einhaltung
von Menschenrechten in Darfur, aber auch im Südsudan
zu bewirken, erhalten unsere volle Unterstützung.

Es gilt, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein ko-
härentes Konzept für den Umgang mit dem Sudan zu
entwickeln, das die unterschiedlichen Rollen und Inte-
ressen der Nachbarländer Sudans beachtet und die De-
mokratiedefizite sowie die schwachen staatlichen Struk-
turen im Sudan selbst berücksichtigt.

Der Sudan ist eigentlich reich. Das größte Land Afri-
kas ist neunmal so groß wie die Bundesrepublik. Es gibt
Wasser, Sonne, Bodenschätze und Öl. Die Chinesen ha-
ben das erkannt. Sie sind präsent und nutzen die Res-
sourcen des Landes. Am 1. März übergaben sie
1 Million von insgesamt 10 Millionen Dollar für demo-
kratische Wahlen. Der chinesische Beauftragte für den
Sudan erklärte, dass China mit zehn Wahlbeobachtern
und weiterer technischer Hilfe die Wahlen unterstützen
wird.

Deutschland und Europa sollten sich in Sachen De-
mokratie nicht von China übertreffen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Christoph Strässer [SPD])


Deutschland sollte auch die Chancen einer wirtschaftli-
chen Zusammenarbeit in den Blick nehmen. Deutsch-
land wird zugetraut, den Aufbau fair, partnerschaftlich
und ökologisch zu unterstützen.

Hilfsorganisationen tragen seit Jahren dafür Sorge,
dass diese für den Sudan historische Situation erfolg-
reich bewältigt wird. Ich erinnere an den Appell vom
Juni letzten Jahres. Im Januar 2010 hatten Amnesty In-
ternational, World Vision, das Bonn International Center
for Conversion, die Gesellschaft für bedrohte Völker,
Media in Cooperation and Transition und Oxfam zu ei-
ner Podiumsdiskussion zum fünften Jahrestag des CPA
eingeladen. Dafür möchte ich danken. Denn der vorlie-
gende gemeinsame Antrag ist auch ein Ergebnis dieser
Veranstaltung. Die Fraktionen haben lange daran gefeilt
und Gedanken ausgetauscht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ein gemeinsamer Antrag ist der sudanesischen Situa-
tion angemessen. Wir haben das gemeinsame Ziel eines





Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)

dauerhaften Friedens im Blick, und das erwarten wir
auch von den Konfliktparteien.

Man kann den Fortschritten misstrauen; man kann die
zweifellos vorhandenen Gefahren immer wieder vor-
schieben. Ich plädiere dafür, die Parteien beim Wort zu
nehmen und zu den noch fehlenden Vertragselementen
zu ermutigen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir sollten das tatkräftig unterstützen, was wir gewollt
haben. Heute brauchen Afrika und der Sudan unsere Un-
terstützung. Bei all den globalen Problemen, vor denen
wir stehen, werden wir ziemlich bald Afrika und den Su-
dan brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703426800

Für die SPD spricht der Kollege Christoph Strässer.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1703426900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Zunächst schließe ich mich
dem Dank an, den der Kollege Selle zum Ausdruck ge-
bracht hat. Ich glaube, die Initialzündung für diesen An-
trag ist der Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen
zu verdanken. Dass vier Fraktionen es hingekriegt ha-
ben, sich fraktionsübergreifend zu verständigen, ist auch
ein gutes Signal. Deshalb beginne ich meine Rede auch
mit einem Zitat aus einer Schrift von zehn Nichtregie-
rungsorganisationen aus dem Januar:

Die nächsten zwölf Monate werden für die Zukunft
des Sudans entscheidend sein. Während das Land
den fünften Jahrestag der Unterzeichnung des
Nord-Süd-Friedensabkommens von 2005 begeht,
das einen mörderischen Bürgerkrieg beendete, hat
im Südsudan die Gewalt erheblich zugenommen.
Im Jahr 2009 wurden rund 2 500 Menschen getötet,
und 350 000 mussten fliehen. Bevorstehende histo-
rische Wahlen und ein späteres Referendum werden
das brüchige Friedensabkommen auf eine harte
Probe stellen. Es ist zu befürchten, dass die Gewalt
eskaliert – es sei denn, die dringend benötigte inter-
nationale Unterstützung wird gewährt.

Wegen des letzten Satzes habe ich dieses Zitat vorge-
lesen; denn wir alle wissen, dass die Lage im Sudan
– nicht nur im Sudan, sondern in der kompletten Region –
außerordentlich fragil ist. Es gibt die eine oder andere
positive Nachricht, beispielsweise über eine angebliche
Annährung zwischen der Zentralregierung des Sudans
und dem Tschad. Es gibt Meldungen über Friedensab-
kommen, die in Darfur, einer der großen Krisenregionen,
zwischen der größten Rebellenorganisation und der Re-
gierung geschlossen worden sind. Aber all dies ist mit
Vorsicht zu genießen; das wissen wir. Meldungen über
Friedensabkommen aus dieser Region haben selten die
Zeit überlebt, in der man in diesem Hohen Hause über-
haupt darüber diskutieren konnte.
Deshalb ist in dieser fragilen Situation natürlich auch
die Frage zu stellen, ob es gut und richtig ist, Wahlen an-
zuberaumen. Das ist aber auch die Wahrheit, die hinter
diesem Wahlprozess steht: Wir haben über das CPA,
über das Friedensabkommen zwischen Nord und Süd,
gesprochen, und wir haben auch festzustellen, dass die
Wahlen und das anschließende Referendum im Jahr
2011 tragende Elemente und wichtige Pfeiler dieses
Friedensabkommens sind. Deshalb müssen wir trotz der
schwierigen Situation in den Krisenherden in Darfur, im
Osten des Sudans und insbesondere im Süden klarma-
chen, dass wir, der Westen, die Staatengemeinschaft, die
Afrikanische Union und alle anderen, hinter diesem Pro-
zess stehen. Wir müssen die Menschen ermutigen und
dürfen sie nicht erneut enttäuschen und ihnen die Frie-
densdividende, die sie erwarten, nicht länger vorenthal-
ten. Das ist, glaube ich, die Kernbotschaft unseres heuti-
gen Antrages. Ich bin wirklich der Meinung, dass dieser
Antrag eine breite Unterstützung in diesem Hohen
Hause verdient hätte.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen auch, wenn wir über Friedensdividende
reden, was im Land wirklich los ist. In den letzten fünf
Jahren bin ich sechsmal im Südsudan gewesen. Wir ha-
ben einfach festzustellen: Der Fortschritt ist dort langsa-
mer als eine Schnecke. Wir wissen, dass fast jeder
zweite Mensch im Südsudan keinen Zugang zu Wasser
hat. Es gibt dort keine funktionierende Infrastruktur.
Hunger, Elend und Gewalt bestimmen nach wie vor den
Alltag. Deshalb mehren sich ja nun auch die Stimmen,
die die Frage stellen, ob es unter diesen Umständen
wirklich sinnvoll ist und einen Fortschritt bedeutet, hier
Wahlen abzuhalten.

Ich habe es eben schon gesagt: Eine Botschaft von
hier, von den Vereinten Nationen und anderen Institutio-
nen, diese Wahl jetzt, wenige Wochen, bevor sie stattfin-
den soll, abzubrechen, wäre trotz all der Schwierigkeiten
das absolut falsche Signal. Es gibt dort viele Menschen,
gerade junge Leute, die noch nie in ihrem Leben wählen
konnten, die noch nie über ihre eigene Zukunft mitbe-
stimmen konnten. Sagten wir ihnen, weil es schwierig
ist, helfen wir euch nicht, enttäuschten wir diese jungen
Leute und verspielten ihre Zukunft. Das kann und darf
an dieser Stelle nicht sein.

Wir haben – das ist der einzige Punkt, bei dem ich
auch etwas größere Kritik an den Formulierungen im
Antrag habe – mittlerweile gehört, dass der amtierende
Präsident des Sudans, Herr Baschir, Wahlbeobachtern
die Einreise verweigern und sie des Landes verweisen
will. Das muss man hier zur Kenntnis nehmen. Ich bin
definitiv der Meinung – ich kritisiere die Nachgiebigkeit
an diesem Punkt –, dass die internationale Staatenge-
meinschaft, die im Weltsicherheitsrat den Auftrag erteilt
hat, zum Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts-
hofs gegen Herrn Baschir stehen muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)






Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

So schwierig das außenpolitisch ist – ich weiß, dass die
Gespräche sehr schwierig sind –: Es kann nicht sein,
dass Herr Baschir – er leugnet alles, weist alles von sich
und schiebt anderen die Schuld zu – bei der ersten Be-
währungsprobe des Internationalen Strafgerichtshofes –
zum ersten Mal gibt es einen Haftbefehl gegen einen am-
tierenden Staatspräsidenten – ungeschoren davonkommt.
Das wäre eine Niederlage für den internationalen
Rechtsschutz; das kann sich die internationale Staaten-
gemeinschaft nicht leisten. Deshalb geht es darum, wei-
terhin den Wahlprozess zu forcieren, aber auch alle Mit-
tel und Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit das
internationale Recht bei Herrn Baschir angewendet wer-
den kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Marina Schuster [FDP])


Wir sollten an dieser Stelle der Auseinandersetzung
auf das CPA zurückkommen, das Abkommen, das die-
sen Konflikt regelt. Viele von uns – Kollege Fischer war
auch dabei – waren im Jahr 2004 im Sudan. Damals wa-
ren wir der Meinung, in jenem Jahr würde in Naivasha
der Prozess beendet und das Abkommen unterschrieben.
Wir waren bereit, einen Bus zu chartern und dorthin zu
fahren, um das zu feiern und die Menschen zu beglück-
wünschen. 2004 hat es nicht geklappt; aber das macht
nichts. 2005 ist es dann zum Abschluss des Vertrages ge-
kommen.

Man sollte zwei Feststellungen machen:

Erstens. CPA, das umfassende Friedensabkommen,
hat seine Mängel. Es hat strukturelle Mängel: Beispiels-
weise haben nur zwei große Konfliktparteien verhandelt,
auf der einen Seite die herrschende Partei NCP im Nor-
den, auf der anderen Seite die Befreiungsbewegung des
Südens. Viele kleinere Gruppen, zivile Gruppen, waren
nicht daran beteiligt.

Zweitens. In der Konsequenz handelte es sich nur um
eine Befriedung des Nord-Süd-Konflikts; der Konflikt in
Darfur wurde nicht geregelt, nicht gelöst, der Zustand im
Osten ist sehr fragil.

Man muss also bei der Bewertung dieses Friedensab-
kommens vorsichtig sein. Viele Menschen, die dort
arbeiten, vertrauen aber auf die Wirkung dieses Vertrags-
werkes. Ich möchte etwas überspitzt zum Friedenspro-
zess im Sudan, insbesondere zum Konflikt zwischen Süd
und Nord, sagen – in Abänderung eines Zitats von Willy
Brandt; irgendwie finde ich den Vergleich zutreffend –:
Dieser Friedensschluss, dieses umfassende Friedensab-
kommen ist nicht alles; aber ohne diesen Friedenschluss
wäre alles nichts. Das sollten wir bedenken. Wir müssen
die Sudanesen unterstützen, damit der Friedensprozess
gelingt. Ich finde es ganz wichtig, dass sich die interna-
tionale Staatengemeinschaft einmischt, dass sie insbe-
sondere – das hat Gerhart Baum in einem Interview in
der heutigen Financial Times Deutschland bekräftigt –
die Forderung nach einer UN-Konferenz zum Sudan
endlich umsetzt, um einen umfassenden Friedensprozess
zu gewährleisten.
Ich schließe mit einem Zitat derselben Nichtregie-
rungsorganisation, die ich schon zu Beginn meiner Rede
zitiert habe:

Die Bevölkerung im Südsudan hat außergewöhnli-
che Ausdauer bewiesen, als es darum ging, nach
den Kriegsjahrzehnten neu anzufangen. Wenn die
Menschen Hoffnung auf eine Zukunft haben sollen,
benötigen sie dringend spürbare Entwicklungsfort-
schritte und Schutz vor Gewalt. Der Sudan steht vor
vielen miteinander verknüpften Herausforderungen,
die jedoch gemeistert werden können, wenn die in-
ternationale Gemeinschaft jetzt handelt.

Ich hoffe und wünsche, dass heute vom Bundestag für
diese Handlungsfähigkeit ein deutliches Signal ausgeht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427000

Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1703427100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich einen Dank
vorausschicken. Ich denke, wir haben sehr konstruktive
Antragsberatungen erlebt. Dafür gilt mein Dank den be-
teiligten Fraktionen. Ich danke aber auch den NGOs
– manche sind heute auf der Tribüne vertreten –, die sich
so engagiert beteiligt haben und wichtige Informations-
geber waren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem freue ich mich, dass ich gestern im Aus-
wärtigen Ausschuss vernommen habe: Auch die Bun-
desregierung begrüßt diesen Antrag vollumfänglich. Ich
freue mich noch mehr, wenn ich sehen kann, dass unsere
Bundesregierung die Forderungen dieses Antrages
Schritt für Schritt umsetzt. Da setze ich große Hoffnun-
gen auf Staatsministerin Cornelia Pieper, Dirk Niebel
und natürlich auch den Außenminister.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Mit dem interfraktionellen Antrag senden wir ein sehr
starkes Signal, was die Wahlen betrifft; das ist heute
schon angesprochen worden. Es geht darum, dass freie
und faire Wahlen stattfinden. Diesbezüglich haben wir in
unseren Antrag verschiedene Forderungen aufgenom-
men: Es muss Wahlbeobachter geben. Bei der Vorberei-
tung der Wahlen ist logistische Unterstützung erforder-
lich. Wichtig ist auch, dass sowohl die Konfliktparteien
als auch die politischen Parteien alles in ihrer Macht Ste-
hende tun, vor Ort für gewaltfreie und faire Wahlen zu
sorgen.

Der Antrag legt den Fokus aber auch auf die kritische
Phase danach und auf die Abstimmungen, die 2011 beim





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

Referendum stattfinden werden. Das ist sozusagen das
Herzstück des Antrages. Wir wissen nicht, wie das Refe-
rendum ausgehen wird, wie sich die Bürgerinnen und
Bürger entscheiden werden. Aber eines ist klar: Die
Konfliktparteien müssen mit Unterstützung der interna-
tionalen Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass es nicht
zu einem neuen Krieg kommt. Das heißt, es muss klare
Vorgaben für den Fall geben, dass sich der Südsudan für
eine Abspaltung entscheidet. Es muss geregelt werden,
wie es dann in Bezug auf die Staatsangehörigkeit und die
Aufteilung der Öleinnahmen weitergeht. Ich denke, es
ist eine ganz, ganz wichtige Forderung, dass das im Rah-
men der Konferenz umgesetzt wird.

Der Antrag nimmt sich aber nicht nur des Konfliktes
zwischen Nord und Süd an, sondern auch der anderen
Regionen. Denn vieles ist miteinander verwoben und
hängt voneinander ab. Die entscheidende Frage ist: Sind
die jeweiligen Regionen und die jeweiligen Stämme ge-
nügend eingebunden? Haben sie ihren Anteil an der poli-
tischen Mitwirkung und an der Wirtschaftsentwicklung?
Ohne die Einbindung der Zivilgesellschaft vor Ort ist
kein tragfähiger Frieden möglich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch dürfen wir nicht die unterschiedlichen Rollen
der Nachbarstaaten außer Acht lassen, die mit sehr ver-
schiedenen Agenden ihre eigenen Interessen in den Vor-
dergrund stellen. Nach wie vor sehe ich die Gefahr eines
Flächenbrandes. Deshalb ist auch die Berücksichtigung
der Interessen der Nachbarländer als Forderung in unse-
rem Antrag enthalten. Denn man kann den Sudan nicht
losgelöst von den Problemen der Nachbarn sehen.

Zwei Punkte möchte ich noch erwähnen. Wir werden
natürlich Debatten zu den Mandaten UNAMID und
UNMIS führen; sie werden im Sommer kommen. Ich
habe bei der ersten Mandatierung von UNAMID schon
davor gewarnt, die Gegebenheiten vor Ort falsch einzu-
schätzen. Erst wurde laut nach dem UN-Hybrid-Mandat
gerufen, und dann standen die Truppen auf verlorenem
Posten, ohne volle Truppenstärke und ohne ausreichende
Transportkapazitäten. Ich denke, wir tun gut daran, wenn
wir uns im Rahmen der Vereinten Nationen wirklich für
eine Anpassung der Mandate an die Gegebenheiten vor
Ort einsetzen.


(Beifall des Abg. Christoph Strässer [SPD])


Das Gleiche betrifft das UNMIS-Mandat. Wir legen
den Fokus auf die Konfliktprävention. Ein Schlüssel
dazu ist die Polizeiausbildung im Rahmen des Mandates,
die wir verstärken möchten.

Ich komme zum letzten Punkt des Antrages, zu den
Menschenrechten. In einer wegweisenden Entscheidung
hat der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafge-
richtshof mandatiert, Kriegsverbrechen im Sudan zu ver-
folgen. Für mich ist vollkommen klar, dass es – das ha-
ben wir auch im Koalitionsvertrag niedergeschrieben –
keine Kultur der Straflosigkeit geben darf. Die massiven
Menschenrechtsverletzungen müssen geahndet werden,
und deswegen unterstützen wir die Haftbefehle gegen
Baschir, Kony und Weitere, die angeklagt sind.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Baschir hat in einem Interview im Spiegel erklärt,
dass der Haftbefehl seine Popularität gesteigert habe.
Diese persönliche Schlussfolgerung darf uns nicht be-
irren.


(Christoph Strässer [SPD]: Das stimmt auch nicht!)


Wir dürfen nicht zulassen, dass der Internationale Straf-
gerichtshof belächelt oder seine Autorität untergraben
wird. Es ist an uns, geschlossen gegen Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzutreten
und die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. Mit dem Antrag, der heute
vorliegt, halten wir Wort. Wir haben bei der Podiumsdis-
kussion am 7. Januar das Versprechen gegeben, uns zu
einem interfraktionellen Antrag zusammenzufinden, und
wir haben unser Versprechen gehalten. Wir tun mit die-
sem Antrag aber noch viel mehr: Wir beweisen den hoff-
nungsvollen Menschen im Sudan, dass wir ihre Unter-
stützer sind auf einem Weg zu einem Leben in Frieden,
Freiheit und Menschenwürde.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427200

Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703427300

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Es ist heute schon deutlich geworden: Bei dem Sudan
handelt es sich um eines der ärmsten Länder der Erde.
Laut einem Bericht von Nichtregierungsorganisationen
hat im Südsudan weniger als die Hälfte der Bevölkerung
Zugang zu Trinkwasser; jedes siebte Kind stirbt vor dem
sechsten Lebensjahr. Es ist also dringend notwendig, in
Gesundheit, in Bildung und in den Zugang zu sauberem
Wasser zu investieren,


(Beifall bei der LINKEN)


und zwar nachhaltig; denn die häufig geleistete Nothilfe
ist selten entwicklungsorientiert. Sie trägt vielmehr dazu
bei, die lokale Selbstversorgung zu behindern.

Allerdings ist die Art, wie man sich hierzulande mit
dem Sudan beschäftigt, höchst bedenklich; denn dabei
geht es weniger um die Herstellung von sozialer Sicher-
heit als vielmehr um die Vorbereitung auf die Abspal-
tung des ölreichen Südsudan vom Norden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)






Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

Das Friedensabkommen sieht zwar ein Referendum über
die Frage „Abtrennung oder Autonomie?“ vor, betont
aber ausdrücklich, dass die Einheit des Sudan attraktiv
gemacht werden soll, auch weil eine Abtrennung die Ge-
fahr eines neuen Krieges um die Ölressourcen birgt.

In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren nichts ge-
schehen. Im Gegenteil: Wenn die GTZ im Südsudan ein
Programm zum Staatsaufbau durchführt, wenn sie Stra-
ßen baut, die den Südsudan vor allem mit Kenia anstatt
mit der Hauptstadt Khartoum verbindet, und wenn
gleichzeitig der Nordsudan in der Entwicklungszusam-
menarbeit vernachlässigt wird, dann trägt Deutschland
dazu bei, dass die Abspaltung vorangetrieben wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Wozu das alles? Damit Deutschland und die EU beste
Kontakte zur zukünftigen südsudanesischen Regierung
aufbauen und damit das notwendige Klima dafür ge-
schaffen wird, dass deutsche und europäische Firmen
beim künftigen Poker um Aufbauverträge und Erdöl auf
der Gewinnerseite stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


So hat heute in Berlin ein Planspiel des Afrika-Vereins
der deutschen Wirtschaft stattgefunden – und zwar in ei-
ner Einrichtung des Verteidigungsministeriums –, Titel:
„The Day After – Planspiel für Unternehmer in Konflikt-
regionen“. Ziel des Planspiels ist es, am Beispiel des
– Sie ahnen es – Südsudan die Handlungsmöglichkeiten
deutscher Unternehmen bei kriegerischen Auseinander-
setzungen zu diskutieren.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Pfui!)


Deutschland trägt also zur Abtrennung bei und plant
schon jetzt die Beteiligung deutscher Firmen an sich er-
gebenden zukünftigen Geschäftsmöglichkeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist geschmacklos und kommt Naomi Kleins Schock-
strategie gefährlich nahe.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Rede ist geschmacklos! Jetzt ist aber langsam gut! Was soll das?)


Diese neokolonialistische Herangehensweise schlägt
sich auch in Ihrem Antrag nieder;


(Beifall bei der LINKEN)


denn Sie schreiben, dass im Rahmen einer Sudan-Konfe-
renz ein größtmöglicher Konsens zwischen der EU, den
USA, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und
China über die zentralen politischen Ziele hergestellt
werden soll. Dreimal dürfen Sie raten, wer bei dieser
Aufzählung fehlt: Die dann neugewählte sudanesische
Regierung und damit die sudanesische Bevölkerung.
Wie wäre es, sie zu fragen, was ihre zentralen politi-
schen Ziele sind?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde in Ihrem Antrag auch keinerlei Kritik an der
Aufrüstung und Ausbildung südsudanesischer Milizen
durch Kenia und Äthiopien, obwohl diese Aufrüstung
dem Friedensabkommen widerspricht und obwohl – oder
gerade weil – Äthiopien wichtigster Partner Deutschlands
in der Region ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427400

Herr Movassat, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Schuster zulassen?


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703427500

Nein, ich möchte meine Rede gern zu Ende führen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr sympathisch!)


Ein letzter Punkt. Im Rahmen von UNMIS wollen Sie
die Polizeiausbildung personell und materiell intensivie-
ren. Sie waren doch bei dem Treffen mit den Nichtregie-
rungsorganisationen hier im Bundestag und haben ihre
Kritik an diesem Programm gehört: Die Polizeiausbil-
dung stärkt vor allem eine bestimmte Bevölkerungs-
gruppe im Südsudan und stellt somit ein Potenzial für
zukünftige Spannungen dar. Die Mehrzahl der Polizisten
in spe kann außerdem weder lesen noch schreiben. Hier
muss man ansetzen; sonst hat man schlechte Vorausset-
zungen für eine an Rechtsstaatlichkeit gebundene Poli-
zei.


(Beifall bei der LINKEN – Christoph Strässer [SPD]: Bis dahin schaffen wir die Polizei ab, oder was?)


Alles in allem haben wir es mit einem Antrag zu tun,
der wieder einmal vorgibt, Frieden und Entwicklung
durch Militärmissionen zu erreichen, und durch den der
deutsche Einfluss im Südsudan sichergestellt werden
soll. So einem Antrag wird die Linke auf keinen Fall zu-
stimmen.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das kann nicht wahr sein, was man hier ertragen muss! – Weitere Zurufe von der FDP: Das kann nicht wahr sein!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427600

Das Wort hat Kerstin Müller für Bündnis 90/Die Grü-

nen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich will zunächst einmal sagen, dass ich es sehr be-
grüße und mich freue, dass es gelungen ist, einen inter-
fraktionellen Antrag einzubringen; denn dieses Thema
ist wichtig. Dieser Antrag beinhaltet einen klaren Ar-
beitsauftrag an die Bundesregierung. Die Sudankrise ist
nicht irgendeine Krise; ihre Überwindung stellt eine der
größten außenpolitischen und menschenrechtlichen He-
rausforderungen dar. Das muss in der künftigen Außen-
politik stärker deutlich werden.

Ich finde es bedauerlich, dass die Linke nicht einge-
bunden war. Ich fände es gut, wenn die Union ihre Posi-
tion an dieser Stelle überdenken würde. So vorzugehen,
wie sie es tut, ist politisch einfach nicht klug.





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Movassat, anhand Ihres Beitrags und
auch im Ausschuss durch Herrn van Aken ist klar ge-
worden, dass Sie an einer bestimmten Stelle ausgestie-
gen wären, nicht zuletzt wegen UNMIS und UNAMID.
Das, was Sie hier deutlich gemacht haben, zeigt, dass
Ihre Position zu den Mandaten außenpolitisch schlicht-
weg abenteuerlich ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wenn Sie einen Einsatz, der nachweislich zur Stabili-
sierung der Lage im Südsudan entscheidend beigetragen
hat und zu dem Deutschland Beobachter und zivile Mit-
arbeiter, die unter größten Anstrengungen ihren Beitrag
leisten, entsendet, als Kampfeinsatz bezeichnen, dann ist
das einfach nur abenteuerlich und außenpolitisch nicht
seriös. Sie stellen sich damit ins Abseits. Ich glaube, die
Klugen bei Ihnen wissen das. Sie werden da sicherlich
zu einer Veränderung ihrer Position kommen; denn sonst
brauchen Sie sich an dieser Stelle gar nicht mehr einzu-
mischen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Gerade jetzt, im letzten Jahr der Umsetzung des CPA,
muss deutlich werden, dass wir es ernst meinen mit der
Krisenprävention und der internationalen Schutzverant-
wortung, der R2P, gegenüber den Menschen im Sudan.
Ein solches Signal ist bitter nötig; denn der Sudan steht
am Scheideweg, zum einen wegen der Wahlen im April,
zum anderen wegen des Referendums im nächsten Jahr.
Der Friedensprozess ist ins Stocken geraten. Wenn das
CPA auf den letzten Metern scheitert, dann könnte der
Sudan erneut zum größten Katastrophenfall Afrikas wer-
den, und zwar mit einem neuen Krieg, der das gesamte
Horn von Afrika mit in den Abgrund zieht und der Fol-
gen für Europa und Deutschland hätte.

Die Wahlen im April sind in Gefahr, weil die al-Ba-
schir-Partei durch Tricksereien, falsche Wahlregister und
repressive Sicherheitsgesetze keinen fairen Wahlkampf
und keine freie Wahlen zulässt. Wer diese Probleme
beim Namen nennt, dem droht al-Baschir mit Raus-
schmiss. Sie haben alle das Zitat gelesen: „Wenn sich
andere in unsere Angelegenheiten einmischen, dann
werden wir ihnen die Finger abschneiden und sie unter
unseren Schuhen zerquetschen.“ Das ist eine unakzep-
table Äußerung des Präsidenten al-Baschir. Wir werden
nicht zulassen, dass die Wahlen eine Wahlshow für al-
Baschir werden, aus der er wieder Legitimation ziehen
will. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts-
hofs gegen ihn bleibt bestehen. Er muss sich Den Haag
stellen. Das machen wir alle gemeinsam mit diesem An-
trag noch einmal deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Die Wahlen sind aber nur der Auftakt. Die eigentliche
Zäsur, und zwar für ganz Afrika, steht mit dem Referen-
dum bevor. Es wird wahrscheinlich zum ersten Mal pas-
sieren, dass sich die postkolonialen Grenzen durch
Abstimmung verändern. Die Frage ist, ob das die Ge-
burtsstunde eines neuen Failing State ist, und zwar mit
dramatischen Folgen, oder ob es die Chance auf eine
friedliche Abspaltung gibt.

Ich glaube, nichts wird gut sein im Sudan, wenn wir
uns jetzt nicht intensiv engagieren, wenn es nicht eine
große internationale Kraftanstrengung gibt. Genau des-
halb fordern wir eine UNO-Konferenz zum Thema Su-
dan, bei der alle an einem Strang ziehen. Die Europäi-
sche Union, die UNO, China, aber auch die Arabische
Liga und die AU müssen eingebunden werden; das ist
die Lehre aus dem CPA. Das CPA kam nach mehr als
25 Jahren Bürgerkrieg zustande, weil alle an einem
Strang gezogen haben, weil man Druck auf die Konflikt-
parteien ausgeübt hat. Es müssen jetzt genauso große
Anstrengungen unternommen werden, eine Sudan-Kon-
ferenz durchzuführen, damit dort ein Fahrplan zur Bear-
beitung der strittigen Fragen ausgearbeitet werden kann,
und zwar für die Zeit vor und nach dem Referendum.
Wenn diese Konferenz nicht zustande kommt, dann be-
steht die große Gefahr, dass ein Krieg ausbricht, und den
müssen wir unbedingt verhindern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427700

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende bitte.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich komme zum Schluss. – Bei der Sudan-Krise reicht
es nicht aus, bloß mitzuschwimmen, sondern wir müssen
zeigen, dass wir es mit der Krisenprävention ernst mei-
nen. Das ist der wichtige Arbeitsauftrag an die Bundes-
regierung. Sie können sicher sein, dass wir Sie an diesem
Auftrag messen und dieses Thema immer wieder auf die
Tagesordnung setzen werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427800

Frau Kollegin.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Wir haben ein großes außenpolitisches Interesse da-
ran, einen neuen Krieg im Sudan zu verhindern.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703427900

Hartwig Fischer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1703428000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ein herzliches Dankeschön an alle, die durch die Mitar-
beit an diesem Antrag gezeigt haben, dass sie es mit dem
Frieden für den Sudan ernst meinen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben eine Chance. Ob diese Chance aber Reali-
tät wird, hängt auch davon ab, wie man sich als Parla-
ment international präsentiert, ob man diese Chance
ernst nehmen will und was man aus dieser Chance
macht. Die Menschen dort sind geschunden. Ich kann
nur sagen: Herr Movassat, was Sie hier gesagt haben,
grenzt an Realitätsverweigerung. Hier sind Kollegen,
auch aus Ihrer Fraktion, die Menschen haben sterben se-
hen. Herr Leutert war mit in Darfur und hat miterlebt,
was dort mit den Menschen vorgeht. Herr Leutert aus Ih-
rer Fraktion weiß, dass die Helfer ohne UNAMID und
ohne UNMIS überhaupt keine Chance hätten, den Men-
schen dort zu helfen. Ich finde es deprimierend, wenn
dennoch von Neokolonialismus gesprochen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie zeigen hier auf, dass die Hälfte der Menschen im
Südsudan keinen Zugang zu Wasser hat, verweigern sich
aber der Realität, dass über 400 000 südsudanesische
Flüchtlinge in den vergangenen anderthalb Jahren aus
Kenia und aus Uganda in den Südsudan zurückgekehrt
sind. Unter anderem hat dies die GTZ möglich gemacht,
weil sie eine Infrastruktur für diese Rückkehrer aufgebaut
hat, weil sie Wasserlöcher gebohrt und den Menschen
eine Chance gegeben hat, aus den Flüchtlingslagern in
ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Auch das wäre ohne
eine entsprechende Hilfestellung der UN nicht möglich
gewesen.

Auch bei dem Wahlprozess stehen wir in der Verant-
wortung, auch wenn wir das in den Antrag nicht expres-
sis verbis aufgenommen haben; denn es muss auch di-
plomatische Auseinandersetzungen geben. Al-Baschir
ist ein Straftäter, auf den ein internationaler Haftbefehl
ausgestellt ist. Dies muss man in einer Debatte offen sa-
gen. Das muss auch für die Zukunft gelten; sonst glau-
ben Machthaber, einen Freibrief für Völkermord zu ha-
ben, wie wir ihn an vielen Stellen auf dieser Erde immer
wieder erlebt haben.

Wenn wir diesen Friedensprozess und auch den Wahl-
prozess im Sudan vorantreiben wollen, dann dürfen wir,
die Weltgemeinschaft, nicht zulassen, dass Wahlbeob-
achter aus diesem Land vertrieben werden. Wir wissen,
dass die Wahlvorbereitungen einigermaßen anständig
abgelaufen sind. Aber die letzten Tage müssen genutzt
werden, um die deutliche Aufbruchstimmung, die es in
der Bevölkerung gibt, zu unterstützen und dafür zu sor-
gen, dass die Menschen über diese Wahlen eine Chance
bekommen.

Unser Außenministerium und unser Entwicklungs-
ministerium müssen sich darauf vorbereiten, dass wir,
wenn dieser Wahlprozess in einer vernünftigen Form ab-
läuft und sich dann eine Regierung bildet, dazu beitra-
gen, dass dort in Zukunft ein Aufbau erfolgt. Das heißt,
Herr Movassat, dass wir den Aufbau nicht nur über Ent-
wicklungszusammenarbeit organisieren; vielmehr müs-
sen wir als Deutsche ein Interesse daran haben, dass es
Unternehmen gibt, die bereit sind, dort partnerschaftlich
aufzubauen. Man muss diesem Land beim Übergang
vom informellen zum formellen Sektor helfen, um den
Menschen im Sudan eine nachhaltige Teilhabe zu er-
möglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen im
Südsudan, in Darfur oder in anderen Regionen handelt.

Der nächste Schritt wird dann sein, dass sich dieses
Volk eigenständig auf der Grundlage von Regeln, die
man getroffen hat, entscheidet, ob es sich teilt oder ob es
sich nicht teilt. Diese Entscheidung wird nicht in interna-
tionalen Gremien getroffen,


(Marina Schuster [FDP]: So ist es!)


sondern durch ein Referendum. Wenn diese Entschei-
dung getroffen ist, geht es darum, entweder einem oder
zwei sudanesischen Staaten eine Friedensdividende zu
geben. In diesem Sinne bitte ich Sie alle – ich fordere die
Linke auf, dem Appell von Herrn Movassat nicht zu fol-
gen –, für Frieden und Gerechtigkeit im Sudan zu stim-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703428100

Ich beende die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1158 mit dem Titel „Freie
und faire Wahlen im Sudan sicherstellen, den Friedens-
prozess über das Referendum 2011 hinaus begleiten so-
wie die humanitäre und menschenrechtliche Situation
verbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag ange-
nommen bei Zustimmung durch die einbringenden Frak-
tionen. Die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt.
Enthaltungen gab es keine.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a und b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Mobilität nachhaltig gestalten – Erfolgreichen
Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fort-
entwickeln

– Drucksache 17/1060 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit grüner Elektromobilität ins postfossile
Zeitalter

Drucksache 17/1164 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine halbe
Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1703428200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe

Kolleginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Bald ist
es so weit: Die Osterferien kommen auch für uns näher
und mit ihnen zahlreiche Staus auf unseren Straßen. Ki-
lometerlang rollen gewaltige Blechlawinen – meist gen
Süden –, und so mancher Urlaub beginnt mit Stress. Von
der erhofften Erholung sind die, die im Stau stehen, im
wahrsten Sinne des Wortes kilometerweit entfernt.

Was wir wollen, ist, schnell, bequem und sicher sowie
preisgünstig von A nach B zu kommen. Unsere Wirt-
schaft braucht für eine immer spezialisiertere, hoch-
arbeitsteilige Produktion Rohstoffe und Fertigteile just
in time in ganz Europa. Eine gut ausgebaute Infrastruk-
tur ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine
funktionierende Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD)


Die Globalisierung hat die Fahrstrecken verlängert.
Diese von uns allen gewollte Mobilität aber hat ihren
Preis, nicht nur in Form von Tarifen und Treibstoffkos-
ten, sondern auch in Form von Verkehrslärm, Luftver-
schmutzung, Flächenverbrauch und Zerschneidung von
Städten und Landschaften. Der Energieverbrauch, der
mit der Verkehrsleistung verbunden ist, verursacht er-
hebliche Umweltbelastungen. So geht ein Fünftel aller
CO2-Emissionen auf das Konto des Verkehrs.

Wir stehen vor der Herausforderung, Mobilität zu er-
möglichen, gleichzeitig aber die Belastung für Men-
schen und Umwelt zu senken. Die Bewältigung der
künftig noch wachsenden Verkehrsprobleme setzt eine
integrierte Verkehrspolitik voraus.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sehr richtig!)


Teillösungen und das Fokussieren auf einzelne Verkehrs-
träger sind der falsche Weg. Nötig ist eine zukunftsfä-
hige Verkehrspolitik aus einem Guss.

(Beifall bei der SPD)


Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen ha-
ben dies bereits früh erkannt und haben schon im Jahr
1999 im SPD-geführten Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Wohnungswesen eine Arbeitsgruppe „Inte-
grierte Verkehrspolitik“ einberufen, die das damals noch
neuartige Konzept in einem breiten Dialog weiterentwi-
ckeln sollte. Im Verkehrsbericht 2000 und im Rahmen
der Mobilitätsoffensive des damaligen Bundeskanzlers
Gerhard Schröder im Jahr 2002 wurde diese Integra-
tionsidee aufgegriffen und zur Grundlage unseres Regie-
rungsarbeitens in den vergangenen Jahren gemacht.

Die zentrale Aufgabe einer nachhaltigen, integrierten
Verkehrspolitik ist es, die gesellschaftlich notwendige
Mobilität möglichst umweltverträglich zu gestalten. Die-
ser Ansatz hat nicht nur eine bessere Vernetzung der ein-
zelnen Verkehrsträger zum Ziel, sondern muss auch die
städtebauliche Entwicklung berücksichtigen.

Meine Herren und Damen von der Regierungs-
koalition, Sie können froh sein, dass Sie mit der
nationalen Stadtentwicklungspolitik, dem Programm der
Städtebauförderung, dem Investitionspaket und dem
Programm zur energetischen Gebäudesanierung wir-
kungsvolle Instrumentarien zur Gestaltung der Zukunfts-
aufgaben in unseren Städten und Gemeinden von Ihrem
Vorgänger übernehmen konnten.


(Beifall bei der SPD)


Ich hoffe, Sie wissen dies auch zu schätzen. Zumindest
haben Sie den Haushaltsentwurf von Herrn Tiefensee bei
der Städtebauförderung fast – aber leider eben nur fast –
unverändert übernommen.

Dennoch frage ich mich: Wo sind Ihre neuen Im-
pulse? Sie schreiben in Ihrem Koalitionsvertrag, dass die
Hinterlassenschaften von Rot-Grün in der Verkehrspoli-
tik endgültig der Vergangenheit angehören.


(Beifall des Abg. Gero Storjohann [CDU/CSU])


Wie sieht Ihre neue Verkehrspolitik aus? Das würde ich
gerne wissen. Ein planvolles Handeln kann ich nicht er-
kennen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern Sie auf, endlich ein Gesamtkonzept vor-
zulegen. Wie zum Beispiel wollen Sie die Herausforde-
rungen eines wachsenden Güterverkehrs bewältigen?
Wir hören immer, dass Sie die Verlagerung auf die
Schiene wollen. Aber wie? Indem Sie die Bahn aushun-
gern? Um die Maßnahmen umzusetzen, die bereits im
vordringlichen Bedarf stehen, werden jährlich 1,8 Mil-
liarden Euro benötigt. Tatsächlich stehen der Bahn nach
den Planungen des Bundesverkehrsministers in den
kommenden Jahren jährlich 600 Millionen Euro weniger
zur Verfügung.

Der Bahnchef persönlich ist mit Mitgliedern des Ver-
kehrsausschusses die sogenannte Streichliste durchge-
gangen und hat erklärt, was kommt, was vielleicht
kommt und was mit der Politik der schwarz-gelben Bun-





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)

desregierung gar nicht kommen kann. Dabei konnte man
feststellen, dass zum Beispiel die Y-Trasse nicht finan-
ziert ist und bei den geplanten Transaktionsvolumina
auch nicht finanzierbar ist. Wie soll da der Güterverkehr
auf die Schiene gebracht werden? Das müssen Sie mir
bitte erklären.


(Beifall bei der SPD)


Gleichzeitig kürzen Sie die Mittel für den kombinier-
ten Verkehr um 64 Millionen Euro. Das bedeutet, dass in
diesem Bereich mehr als die Hälfte der Zuschüsse für In-
vestitionen privater Unternehmen gestrichen wird, und
dies in einem Jahr, in dem die Branche nach der Wirt-
schaftskrise wieder Fuß fassen will. Damit lassen Sie
Unternehmen mit ihren Logistikproblemen im Stich. Sie
enthalten der Bahn wichtige Neukunden für den Güter-
verkehr vor.

Ihr Vorhaben, verkehrsträgerbezogene Finanzkreis-
läufe zu stärken, bedeutet konkret, dass die Lkw-Maut
nur noch in den Erhalt und den Ausbau der Straße flie-
ßen soll und dass damit die Weiterentwicklung der
Schienen- und Wasserwege geschwächt wird. Das heißt
doch, dass Sie vorne Löcher stopfen, indem Sie hinten
neue, größere Löcher aufreißen. Meine Frage ist: Wo
bleibt der Blick auf das Ganze?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gustav Herzog [SPD]: So ist es! – Uwe Beckmeyer [SPD]: Recht hat sie!)


Wir möchten, dass der unter der rot-grünen Bundesre-
gierung angestoßene Prozess zur Entwicklung eines Ge-
samtkonzepts für eine integrierte Verkehrspolitik konse-
quent fortgeführt und weiterentwickelt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nur damit werden wir einem zukunftsfähigen Verkehrs-
system gerecht. Damit befasst sich unser Antrag, in dem
wir unsere Forderungen an die Bundesregierung in elf
Punkten zusammengefasst haben.

Wir fordern Sie auf, der zentralen Rolle des Ausbaus
und der Optimierung des umweltfreundlichen Verkehrs-
trägers Schiene gerecht zu werden. Dazu bedarf es eines
umfassenden, transparenten und langfristig stabilen Fi-
nanzierungskonzeptes. Außerdem beantragen wir, dass
Sie für die ehemalige Gemeindeverkehrsfinanzierung
ein Konzept für die Förderung des ÖPNV vorlegen.

In Ihrer Koalitionsvereinbarung bekennen Sie sich
zum öffentlichen Personennahverkehr als unverzichtba-
rem Bestandteil der Daseinsvorsorge auch in der Fläche.
Dann sagen Sie aber bitte auch, was Sie dafür tun wol-
len. Ihr Bekenntnis wird zur leeren Sprechblase, wenn
Sie zugleich ankündigen, dass Sie den kommerziellen
Verkehr vorrangig bedienen wollen. Sorgen Sie dafür,
dass die Wettbewerbsbedingungen im öffentlichen Nah-
verkehr und vor allem die Gestaltungsspielräume der
Kommunen so ausgestaltet werden, dass sich Mobilität
nicht zu einem Exklusivprodukt entwickelt.


(Beifall bei der SPD)

Mobilität muss bezahlbar bleiben, auch im ländlichen
Raum. Nur auf diese Weise können sich Menschen wirk-
lich an der Arbeitswelt, an Bildung und Kultur sowie am
Gesellschaftsleben insgesamt beteiligen. Wir fordern
dazu auch barrierefreie Mobilität. Bedürfnisse von be-
hinderten Menschen, von Familien und von älteren Bür-
gern und Bürgerinnen müssen Bestandteil der Stadtent-
wicklung und der Verkehrspolitik sein.

Wir wollen ein Konzept für die aussterbenden Städte
im Osten wie im Westen. Der demografische Wandel
sitzt uns im Nacken, und alles, was Sie machen, ist ab-
warten und an den falschen Stellen sparen.


(Beifall bei der SPD)


Sie machen Klientelpolitik zulasten der Menschen,
zulasten einer zukunftsorientierten Mobilität, zulasten
von Umwelt und Natur und zulasten von Arbeitnehmen-
den in wichtigen Bereichen von Transport und Logistik.
Das lehnen wir ab. Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen
des Antrages den nötigen Mut aufbringen und sich unse-
ren Vorschlägen anschließen, damit Mobilität in
Deutschland nachhaltig gestaltet wird und der erforderli-
che Ansatz der integrierten Verkehrspolitik weiterentwi-
ckelt werden kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703428300

Frau Lühmann, hier im Haus war das Ihre erste Rede.

Dazu gratulieren wir Ihnen alle herzlich und wünschen
für Ihre Arbeit Erfolg.


(Beifall)


Der nächste Redner ist der Kollege Gero Storjohann
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1703428400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Sozialdemokraten vollführen mit ihrem An-
trag heute einen verkehrspolitischen Rundumschlag.


(Sören Bartol [SPD]: Habt ihr auch verdient!)


Bei der Lektüre stößt man auf viele schöne Worte und
eine Vielzahl von Allgemeinplätzen.


(Gustav Herzog [SPD]: Und viele gute Gedanken!)


Zur Verdeutlichung möchte ich gerne einiges zitieren:
„Mobilität … hat einen sehr hohen Stellenwert in unse-
rer Gesellschaft“, heißt es dort. Dem stimmen wir alle
hier sicherlich uneingeschränkt zu. Sie machen weiter-
hin aufmerksam auf negative Folgewirkungen des Ver-
kehrs: auf Lärm, Luftverschmutzung, Benzinkosten für
den Einzelnen, Flächenverbrauch.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Warum lehnen Sie das dann ab?)






Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)

Auch hier sind wir Verkehrspolitiker uns eigentlich alle
einig.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Was regen Sie sich dann auf?)


Schließlich leiten Sie daraus eine Schlussfolgerung ab:

Die strategische Ausrichtung einer zukunftsfähigen
Verkehrspolitik muss „aus einem Guss“ erfolgen.

Das nennen Sie dann integrierte Verkehrspolitik.

Wir brauchen in der Tat ein verbessertes Gesamtver-
kehrssystem. Dafür zu sorgen, ist die ständige Aufgabe
von uns Verkehrspolitikern und der Politik allgemein.
Ich nehme stark an, dass darüber in allen Fraktionen Ei-
nigkeit besteht. Was soll mit diesem Antrag also erreicht
werden? Sie bleiben im Allgemeinen; Sie verweisen
wiederholt auf längst bekannte Handlungsfelder; Sie bie-
ten nicht unbedingt Lösungen an, sondern fordern die
Regierung auf, Lösungen zu bieten. Nichts an Ihrem An-
trag ist wirklich neu, nichts ist innovativ. Schon der Titel
entlarvt Sie:


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind rückwärtsgewandt! Das ist das Problem!)


Den „… Erfolgreichen Ansatz der integrierten Verkehrs-
politik fortentwickeln“. Das machen wir doch. Verlassen
Sie sich darauf!


(Lachen des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD])


Dazu hätte es dieses Antrages der SPD nicht bedurft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eines ist ganz klar: Dieser Antrag kommt viel zu spät.
Sozialdemokratische Verkehrspolitiker hatten elf Jahre
Zeit, all das umzusetzen, was Sie hier aufgeschrieben ha-
ben.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Richtig!)


In Oppositionszeiten formulieren Sie schöne Anträge.
Sie hätten handeln und agieren können. Dieser Antrag
überrascht mich doch sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie ruhen sich doch auf den Leistungen von Tiefensee aus!)


Ihr Antrag kommt also zu spät.

Die Verkehrspolitik der christlich-liberalen Koalition
enteilt Ihnen.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaube ich jetzt wirklich nicht!)


Union, FDP und der neue Bundesverkehrsminister, Peter
Ramsauer, haben für eine neue Dynamik und Vitalität in
der Bundesverkehrspolitik gesorgt.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Es ist erstaunlich, dass Sie das noch nicht merken. –


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Mief der sozialdemokratischen Führung im Ver-
kehrsministerium ist jetzt weg. Wir können nach vorne
schauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: Ist das eine Spaßdebatte heute?)


CDU/CSU und FDP haben die angesprochenen
Handlungsfelder selbstverständlich angenommen. Wir
entwickeln eine zukunftsfähige, ökologische und sozial
ausgewogene Verkehrspolitik. Für uns in der CDU/CSU-
Fraktion gilt: Mobilität besitzt eine Schlüsselfunktion in
unserer Gesellschaft. Mobilität schafft die Voraussetzun-
gen für Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Frei-
heit. Wir wollen mit einer effizienten Verkehrspolitik die
Mobilität für die Zukunft sichern. Das ist unser eigenes
vitales Interesse. Unsere Verkehrspolitik wird den An-
forderungen des Klima-, Umwelt- und Lärmschutzes ge-
recht.

Aus diesem Grund hat der Bundesminister in seinem
Haus eine eigene umweltpolitische Abteilung geschaf-
fen. Es geht darum, zwei Bedürfnisse der Bürgerinnen
und Bürger in Einklang zu bringen: auf der einen Seite
das Bedürfnis nach Mobilität und Verkehr – die Men-
schen wollen mobil sein –, auf der anderen Seite das Be-
dürfnis nach Klimaschutz, nach Lärmschutz und nach
verantwortungsvoller Verkehrspolitik mit Blick auf die
nachfolgenden Generationen. Die Abteilung für Um-
weltfragen bringt diese Bedürfnisse in Einklang. Es war
keine rot-grüne Bundesregierung, kein sozialdemokrati-
scher Bundesverkehrsminister, der diese Abteilung ein-
gerichtet hat. Das heißt, Umweltfragen haben ihren fes-
ten Platz in unserem Bundesverkehrsministerium. Das
ist schön, und das können Sie nur begrüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: Eine Luftnummer!)


Ein weiterer Punkt Ihres Antrages betrifft die soziale
Ausgestaltung der Bundesverkehrspolitik. Mobilität soll
ein Gemeingut bleiben. Sie fordern die besondere Be-
rücksichtigung der Interessen von Menschen mit Behin-
derung, von Familien und älteren Bürgerinnen und Bür-
gern. Auch hier rennen Sie bei uns offene Türen ein; das
wissen Sie. Wir sagen: Mobilität sichert die Teilhabe des
Einzelnen am gesellschaftlichen Leben. Deshalb muss es
unser Ziel sein, Mobilität für alle Bevölkerungsgruppen
zu garantieren.

Um dieses Ziel zu erreichen, orientieren wir uns an
folgenden Grundsätzen: Mobilität muss bezahlbar sein,
sie muss vielfältig angeboten werden, und sie muss flä-
chendeckend angeboten werden. Wir bekennen uns zum
öffentlichen Personennahverkehr. Der ÖPNV ist ein fes-
ter Bestandteil der Daseinsvorsorge.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kirsten Lühmann [SPD]: Den Sie gerade zerstören!)


Wir setzen uns für die Verbesserung des ÖPNV ein. Das
ist eine Daueraufgabe. Wenn der ÖPNV attraktiv ist und
eine durchgängige Reisekette möglich ist, wird er auch
vermehrt von den Bürgerinnen und Bürgern angenom-





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)

men. Hierdurch wird die soziale Aufgabe von Verkehrs-
politik gewahrt. Wir leisten auch einen Beitrag zum Kli-
maschutz, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger
die Vorteile des ÖPNV für sich persönlich erkennen.

Mobilität in Deutschland wird immer vielfältiger.
Dies hat auch die Bundesregierung erkannt. Wie Sie in
Ihrem Antrag richtig festgestellt haben – jetzt kommt ein
Lob –, ändert sich das Mobilitätsverhalten der Bürgerin-
nen und Bürger. Um auf diese Entwicklung zu reagieren,
setzen wir in einem vernetzten Verkehrssystem auf die
spezifischen Stärken eines jeden einzelnen Verkehrsträ-
gers.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Und führen die PkwMaut ein!)


Die Vielfalt der Mobilität ist unser Leitprinzip. Zur Viel-
falt der Mobilität gehört, dass wir innovative Verkehrs-
konzepte fördern und neue Mobilitätsoptionen schaffen.


(Gustav Herzog [SPD]: Da sind wir gespannt!)


Elektrofahrzeuge, Carsharing und öffentliche Fahrrad-
verleihsysteme sind die Stichworte, mit denen wir uns
jetzt beschäftigen. Das wollen wir voranbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)


In vielfältigen Initiativen wie dem Nationalen Ent-
wicklungsplan Elektromobilität oder dem Nationalen In-
novationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellen-
technologie wirkt die Bundesregierung aktiv an der
zukünftigen Verkehrsgestaltung mit. Die Verkehrspolitik
der Koalition ist modern, nachhaltig, vielfältig und
orientiert sich an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und
Bürger. Wir arbeiten mit aller Kraft daran, die Verkehrs-
politik für Deutschland und Europa optimal zu gestalten.
Sie sind aufgefordert, sich aktiv daran zu beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703428500

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege

Herbert Behrens.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703428600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir hörten eben einen Bericht der Großen Koalition, die
ihre vierjährige gemeinsame Verkehrspolitik kurz hat
Revue passieren lassen. Ich meine, diese müsste man
noch ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen. In
dem Antrag der SPD geht es darum, dass der erfolgrei-
che Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwi-
ckelt werden soll. Das setzt erstens voraus, dass es die-
sen erfolgreichen Ansatz gibt,


(Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Gustav Herzog [SPD]: Den hat es gegeben!)

und zweitens, dass man ihn wirklich fortsetzen will. Bei-
des kann ich im Unterschied zu Ihnen, Frau Lühmann, so
nicht erkennen.

Sie haben eben dargestellt, welche konkreten Aussa-
gen dieser Antrag beinhaltet. Ich erkenne diese inhaltli-
chen Forderungen nicht.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind mit Ihrer Politik ja auch überhaupt nicht konsistent! Sie haben ja bis heute noch keine gemacht! Das ist doch das Problem!)


Ich finde vielmehr, Herr Beckmeyer, Ihr Antrag ist eine
Ansammlung von verkehrspolitischen Phrasen und Wi-
dersprüchen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie schreiben, die CO2-Belastung habe, bedingt durch
den Autoverkehr, seit 1990 zugenommen. Hier von er-
folgreicher Verkehrspolitik zu sprechen, das geht nun
wirklich nicht.

Mobilität habe ihren Preis, heißt es an anderer Stelle
in Ihrem Antrag. Dazu gehöre Verkehrslärm, Luftver-
schmutzung und Flächenverbrauch. Sie führen aber auch
an, dass im Straßenverkehr in Deutschland jährlich
4 000 Menschen getötet und 70 000 schwer verletzt wer-
den. Das ist eine Bilanz. Das ist aber keine Bilanz einer
erfolgreichen Verkehrspolitik, sondern, im Gegenteil,
die Bilanz einer erfolglosen und kontraproduktiven Ver-
kehrspolitik.


(Beifall bei der LINKEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Da merkt man wieder, dass Sie sich mit diesem Thema noch nicht intensiv beschäftigt haben!)


Das ist auf jeden Fall kein erfolgreicher Ansatz.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ja Hohn, was Sie erzählen!)


– Wenn Sie sagen, dass das Hohn ist, sollten Sie Ihren
eigenen Antrag lesen. Das steht nämlich so in diesem
Antrag drin.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie wissen doch, von welchen Zahlen bei den Verkehrstoten wir kommen? Das ist unglaublich!)


Sie machen in Ihrem Antrag Ausführungen zur sozia-
len Dimension der Verkehrspolitik. Doch auch hier ma-
chen Sie keine konkreten Lösungsvorschläge. Sie blei-
ben bei der Beschreibung und vermeiden beispielsweise
die Aussage, dass ärmere Menschen durch Fahrpreiser-
höhungen beim ÖPNV ausgeschlossen werden. Sie kön-
nen nicht spontan eine Fahrt unternehmen und haben
Schwierigkeiten, mit dem öffentlichen Personennahver-
kehr zu ihrer schlecht bezahlten Arbeitsstelle zu kom-
men. Wenn Sie das jetzt so sehen, frage ich mich: Wa-
rum haben Sie unseren Anträgen, beispielsweise zur
Einführung einer Sozial-Bahncard, nicht zugestimmt?


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben es auch abgelehnt, Sozialticketinitiativen vor
Ort zu unterstützen. Immer dann, wenn es konkret wird,





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

entziehen Sie sich der Verantwortung. Das werden wir
nicht akzeptieren.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist alles Schwätzerei, was Sie erzählen!)


– Herr Kollege Beckmeyer, da Sie gerade „Schwätzerei“
gesagt haben,


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja! Mehr kann ich dazu nicht sagen!)


nenne ich Ihnen einige Beispiele. Ein Vorschlag, den wir
eingebracht haben, um für mehr Verkehrssicherheit zu
sorgen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren, ist die Ein-
führung eines Tempolimits von 130 Stundenkilometern
auf deutschen Autobahnen.

Diesen Antrag haben wir vor zweieinhalb Jahren ein-
gebracht. Sie haben ihn abgelehnt, obwohl der Parteitag
der SPD nur zwei Wochen zuvor festgestellt hat: Wir
brauchen ein Tempolimit, und die Bundestagsfraktion
soll diese Forderung aufgreifen.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie waren noch nie in einer Koalition! Ich merke schon: Politisch erfahren sind Sie nicht!)


Ein weiteres Beispiel ist die Umstellung der Kfz-
Steuer hin zu einer Bemessung nach dem CO2-Ausstoß.
Auch diese Forderung haben Sie nicht vernünftig umge-
setzt.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, ja! Reden Sie nur!)


Im Gegenteil, Ihr damaliger Umweltminister Sigmar
Gabriel hat diese Umstellung blockiert. Umweltver-
bände haben ihn deshalb schon damals als Autominister
bezeichnet; ich meine, zu Recht.


(Beifall bei der LINKEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Arbeiten Sie sich nur weiter an den Sozialdemokraten ab! Dann haben Sie Ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllt! Machen Sie nur weiter so!)


Es wurde schon erwähnt: Sie hatten als Regierungs-
partei elf Jahre Zeit, vier davon in der Großen Koalition.
Sie haben es aber nicht geschafft, die Konzepte, die Sie
heute fordern, umzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt wollen Sie Ihre Versäumnisse erneut auf die Ta-
gesordnung setzen. Sie bringen einen Antrag ein, in dem
Sie formulieren, was Sie in den vergangenen elf Jahren
nicht durchsetzen konnten. So darf man mit innovativen
Verkehrskonzepten nicht umgehen. Ich denke, mit die-
sem Antrag tun Sie sich selbst keinen Gefallen.


(Gustav Herzog [SPD]: Mit dieser Rede tun Sie der Sache keinen Gefallen!)


Sie müssen konkreter werden. Denn integrierte Ver-
kehrspolitik ist eigentlich intelligente Verkehrspolitik,
und die erwarten wir von Ihnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703428700

Nächster Redner ist der Kollege Werner Simmling für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1703428800

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen

und Kollegen! In den vorliegenden Anträgen geht es da-
rum, wie ein Industrieland wie Deutschland seine wirt-
schaftliche und gesellschaftspolitische Zukunft im Be-
reich der integrierten Mobilität gestalten kann: mit
Friktionen oder ohne Friktionen. Auf die vielen Selbst-
verständlichkeiten, die Sie in den vorliegenden Anträgen
formuliert haben, möchte ich jetzt gar nicht eingehen.
Mobilität hat in unserer Gesellschaft eine Schlüsselfunk-
tion – das wurde vorhin schon gesagt –: Sie schafft die
Voraussetzungen für Beschäftigung, Wohlstand und per-
sönliche Freiheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das soll nach unserem Willen auch in Zukunft so sein.
Uns geht es darum, langfristig für jedermann – das be-
tone ich ausdrücklich – eine umweltfreundliche und inte-
grierte Mobilität zu ermöglichen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wo es sinnvoll ist, wollen wir die Verlagerung von
der Straße auf die Schiene fördern.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Da bin ich mal gespannt!)


Gleichzeitig müssen wir den Verkehrssektor auf den Ab-
schied vom Zeitalter der fossilen Energien vorbereiten.
Zur kurzfristigen Verbesserung der Klimabilanz werden
wir die Optimierung von fossilen Antriebstechnologien
verstärken. An dieser Stelle können wir noch sehr
schnell Einsparungen von bis zu 30 Prozent realisieren,
und zwar ohne Einbußen bei Komfort, Sicherheit und
Benutzerfreundlichkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Parallel dazu wollen wir hin zur Elektromobilität. Die
Weichen für diesen Strategiewechsel stellen wir jetzt.
Wir wollen Deutschland zu einem Leitmarkt und Leitan-
bieter für Elektromobilität machen. Bis zum Jahr 2020
wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge auf die Straßen
bringen. Das ist eine Anstrengung bzw. ein Versuch – je
nachdem, wie Sie wollen – in einer Größenordnung, die
es in Deutschland bisher noch nicht gegeben hat.

Wir handeln schnell.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Was?)


Aber wir werden uns trotzdem die nötige Zeit nehmen,
um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Immer alles auf einmal: schnell und langsam!)






Werner Simmling


(A) (C)



(D)(B)

Dieser Strategiewechsel hat Konsequenzen. Er bedeu-
tet nicht nur völlig neuartige Mobilitätssysteme, sondern
auch eine vollkommen neue Wirtschaftsstruktur, und
zwar weltweit; das muss Ihnen einmal klar werden. Die-
ser Systemwechsel muss zukunftsfest sein. Die Stabilität
unserer Wirtschaft darf dabei zu keinem Zeitpunkt in
Gefahr geraten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn er zum Erfolg führen soll, müssen wir in die-
sem Prozess alle Beteiligten rechtzeitig mitnehmen, um
die Zukunft verantwortungsvoll gestalten zu können.
Dabei sollen aber nicht ein Strukturbruch in Wirtschaft
und Gesellschaft mit vielen Tausenden Arbeitslosen oder
ein Zusammenbruch von unzähligen mittelständischen
Unternehmen riskiert werden. Das gilt besonders für die
Automobilindustrie und die Zulieferer, die derzeit
750 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Es gilt,
diese Arbeitsplätze zu erhalten und sogar noch auszu-
bauen.

Unter Berücksichtigung des eben Gesagten ist die
Strategie der christlich-liberalen Koalition nur folgerich-
tig.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Schwarz-Gelb heißt das!)


Am 3. Mai 2010 wird im Kanzleramt ein Elektrogipfel
stattfinden, der gleichzeitig den Startschuss für die natio-
nale Plattform zukünftiger Elektromobilität darstellt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Einen Elektrogipfel haben Sie! Auch nicht schlecht! – Gustav Herzog [SPD]: Passen Sie lieber auf, dass es keinen Kurzschluss gibt!)


Elektromobilität ist für uns das Zukunftsthema. Es ist
eine nationale Herausforderung. Wir brauchen dazu un-
sere besten Wissenschaftler und Forscher. Wir brauchen
ein enges Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Wissen-
schaft und Politik. Unser Ziel muss es sein, unseren Bür-
gerinnen und Bürgern in der Zukunft ein integriertes
Mobilitätsangebot zu unterbreiten, welches ihren Anfor-
derungen und Wünschen gerecht wird und ihnen die
freie Entscheidung lässt.


(Kirsten Lühmann [SPD]: Das steht in unserem Antrag!)


Das zukünftige Mobilitätsangebot muss mehr bieten.
Es muss umweltfreundlicher, sicherer und komfortabler
sein als heutige Lösungen. Dabei muss es für alle be-
zahlbar und jederzeit verfügbar sein.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Richtig! Das haben Sie gut abgelesen!)


– Schön, dass Sie mir da zustimmen. – Der Fortschritt
muss sichtbar werden. Nur dann werden wir weltweit
weiter an der Spitze bleiben und den gewünschten Erfolg
haben. Ein führendes Industrieland wie Deutschland lebt
eben nun einmal von seinen technischen Innovationen.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Richtig!)

Die hier zur Debatte stehenden Anträge vom Bünd-
nis 90/Die Grünen und von der SPD beinhalten leider
Eingriffe in den Markt und setzen nicht nur Rahmenda-
ten. Sie geben keine zukunftsfähigen Antworten im Hin-
blick auf die vor uns liegenden Herausforderungen,


(Gustav Herzog [SPD]: Sie haben die Anträge doch gar nicht gelesen!)


sondern wiederholen nur Altbekanntes. Es wurde vorher
bereits auf Verkehrstote und anderes eingegangen. Das
wissen wir alles. Heute schon über finanzielle Anreize
beim Kauf oder die Größe von Kraftfahrzeugen zu spe-
kulieren, ist absolut verfrüht.

Der Elektrogipfel am 3. Mai 2010 wird ein wichtiger
Meilenstein


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ein Kurzschluss! Sind Sie sicher, dass das ein Elektrogipfel ist?)


unserer durchdachten, verantwortungsvollen und damit
überzeugenden Strategie auf dem Weg zur Zukunft der
Elektromobilität sein. Sie können sich gerne daran betei-
ligen und den Erfolg dann mit uns gemeinsam feiern.

In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war jetzt ein Kurzschluss!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703428900

Das Wort hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703429000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Zu dem Antrag der SPD ist fast alles gesagt wor-
den; dem brauche ich eigentlich nichts hinzuzufügen.
Von einer Partei, die elf Jahre die für die Verkehrspolitik
verantwortlichen Minister gestellt hat, muss mehr kom-
men, als nach dem großen Gesamtentwurf zu verlangen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Haben Sie sonst noch etwas zu bieten?)


Die Menschen in unserem Land wollen Antworten,
sie wollen von uns ganz konkret wissen, mit welchen
Vorschlägen wir unser Land voranbringen wollen, zum
Beispiel bei dem wichtigen Zukunftsthema Elektromobi-
lität.


(Gustav Herzog [SPD]: Da bin ich gespannt!)


Noch enttäuschender als der Antrag der SPD ist nur
die Regierung: Sie macht ihre Arbeit schlecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Sie haben so gut angefangen!)


Erinnert sei nur an das Gutachten der Expertenkommis-
sion „Forschung und Innovation“. Es besagt ganz deut-





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

lich: Deutschland ist kein Leitmarkt für Elektromobilität.
Jetzt bestätigt Ihnen auch noch der Bundesrechnungshof
– Sie bekommen es schriftlich –: Die vorhandenen Mit-
tel für Elektromobilität werden „zu langsam, zu bürokra-
tisch und zu unkoordiniert“ eingesetzt. Das kennen wir
schon von der Hotelbesteuerung: Eine schlechte Idee
wurde auch noch bürokratisch umgesetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ist das der Maßstab der neuen Regierung?

Wir Grüne halten dagegen: Mit unserem Antrag zur
Elektromobilität zeigen wir, dass Politik aus einem Guss
möglich ist. Vier Punkte sind für uns entscheidend: Ers-
tens sorgen wir langfristig dafür, dass der CO2-Ausstoß
des Verkehrs endlich reduziert wird. Bislang kennt der
Verkehr nur eine Steigerung des Ausstoßes klimaschäd-
licher Gase. Zweitens können wir Deutschland auf ei-
nem wichtigen Zukunftsmarkt nach vorne bringen und
dafür sorgen, dass wir bei Forschung und Entwicklung
nicht den Anschluss verlieren. Mit einem umfassenden
Forschungs- und Entwicklungsprogramm wollen wir
den technologischen Rückstand aufholen. Drittens
schaffen wir die Voraussetzungen für eine neue Mobili-
tät, die unabhängig von den zur Neige gehenden fossilen
Ressourcen ist. Viertens können wir mit intelligenten
Systemen zur Stabilität des Stromnetzes beitragen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Was ist daran neu?)


Klar ist jedoch: Von allein wird hier wenig passieren.
Wenn wir jetzt untätig bleiben, werden Elektrofahrzeuge
in Deutschland wie in den letzten 20 Jahren neugierig
bestaunte Prototypen auf Automobilmessen bleiben. Es
wäre der absolut falsche Weg, wenn wir bei dieser An-
kündigungspolitik blieben. Die Menschen würden sich
von der Politik immer mehr abwenden, und die Arbeits-
plätze würden dorthin abwandern, wo heute Milliarden
in die Elektromobilität fließen: nach China, Korea und
Japan. Das kann nicht in unserem Interesse sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen müssen wir heute investieren. Mit einem
Marktanreizprogramm wollen wir besonders saubere
Fahrzeuge wie Elektromobile oder Plug-in-Hybride mit
einer Barprämie von 5 000 Euro fördern, und zwar kos-
tenneutral; wir müssen nur die Kfz-Steuer endlich refor-
mieren und zu einem Bonus-Malus-System umgestalten.

Werte Kolleginnen und Kollegen, im postfossilen
Zeitalter wird sich unsere Mobilität ändern. Es wird da-
rauf ankommen, die Stärken der einzelnen Verkehrsträ-
ger aufeinander abzustimmen. Elektromobilität bedeutet
nicht einfach ein paar neue Autos mit anderem Antrieb,
Elektromobilität muss in ein umfassendes grünes Mobi-
litätskonzept integriert sein. Müssen wir denn immer alle
Strecken mit dem eigenen Auto fahren? Die junge Gene-
ration macht es uns vor, Sie ist nicht mehr so autofixiert:
Die Bahn für die Langstrecke, ÖPNV oder Carsharing
vor Ort.
Auf eines will ich explizit hinweisen: Das alles ist nur
sinnvoll, wenn erneuerbare Energien zum Einsatz kom-
men.

Unser Antrag zeigt deutlich, an welchen Stellschrau-
ben wir drehen müssen, um einer Zukunftstechnologie
zum Durchbruch zu verhelfen. Hier werden nicht – wie
bei der Abwrackprämie – für veraltete und umwelt-
schädliche Ideen Milliarden verplempert, sondern Öko-
nomie und Ökologie sinnvoll verbunden. Die Bundesre-
gierung hat eine nationale Plattform für Elektromobilität
bisher nur angekündigt. Geschehen ist nichts. Wir for-
dern Sie auf, endlich zu handeln und breite gesellschaft-
liche Gruppen einzubeziehen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


denn eines ist doch klar: Nur mit einem breiten Bündnis
ist der Rückstand aufzuholen, und die Zukunft des Ver-
kehrs ist grün.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt ist die Ampel aber auf Rot geschaltet!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703429100

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1703429200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Antriebsart für den motorisierten Individualverkehr
der Zukunft ist der Elektromotor. In dieser Form der
Fortbewegung stecken viele Chancen für die Lebensqua-
lität der Bevölkerung, für die deutsche Wirtschaft und
insbesondere auch für die Umwelt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit der Nutzung von erneuerbaren Energien für die
Elektromobilität – und hierfür stehen wir als Union –
werden Luftverschmutzung, Lärmbelastung, CO2-Emis-
sionen, Treibstoffkosten und die Abhängigkeit vom Öl
verringert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Thema Elektromobilität ist eines der großen Zu-
kunftsthemen, wie auch heute Morgen im Plenum in Be-
zug auf die europäische Agenda 2020 noch einmal ver-
deutlicht wurde. Weil die Elektromobilität so viele
Chancen bietet, dürfen wir dieses Thema nicht verschla-
fen, und das tun wir auch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung hat mit ihrem Nationalen Ent-
wicklungsplan Elektromobilität und mit ihrem klaren
Bekenntnis im Koalitionsvertrag die Weichen gestellt.
Kollege Simmling hat darauf hingewiesen: Deutschland
soll Leitmarkt für Elektromobilität werden. – Es ist rich-





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)

tig, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Elektromo-
bilität zur Chefsache erklärt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass im Grünen-Antrag ausdrücklich ein Programm
„Anwendbare nächste Generation von Energiespeichern
und Leistungselektronik in Automobilen“ – kurz:
ANGELA – gefordert wird, habe ich durchaus erfreut
zur Kenntnis genommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dadurch wird doch unterstrichen, dass auch die Grünen
das Engagement der Bundeskanzlerin anerkennen. Am
3. Mai 2010 findet jedenfalls der Kanzlergipfel zur Elek-
tromobilität statt. Wir begrüßen diese Initiative der Bun-
desregierung ausdrücklich.

Wenn ich mir den SPD-Antrag anschaue, dann muss ich
schon sagen: Die Bedeutung des Themas Elektromobili-
tät ist zwar unbestritten – alle reden davon –, nichtsdes-
totrotz kommt die Elektromobilität in Ihrem Antrag we-
der inhaltlich noch vom Wort her vor; Frau Dr. Wilms
hat bereits darauf hingewiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir haben gestern eine Pressekonferenz dazu durchgeführt, Herr Kollege!)


Dabei geht es Ihnen doch angeblich um nachhaltige
Mobilität. Dass Nachhaltigkeit gerade bei der Mobilität
wichtig ist, wird hier im Hause wahrscheinlich keiner
bestreiten. Wer von Nachhaltigkeit in der Verkehrspoli-
tik spricht, der darf die Elektromobilität nicht verschwei-
gen. Wir als Union reden über beides und handeln auch.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weil wir nachhaltige Mobilität wollen, haben wir im
Koalitionsvertrag mit der FDP festgelegt, ein umfassen-
des Entwicklungsprogramm aufzustellen. Außerdem
haben wir das Ziel, bis zum Jahr 2020 1 Million Elektro-
fahrzeuge auf die Straßen zu bringen. Ein zukunftswei-
sendes, ganzheitliches Verkehrskonzept steht ebenfalls
auf dem Programm, von der Weiterentwicklung der
Brennstoffzelle und der Wasserstofftechnologie und vom
Aufbau eines Ladestellennetzes für Elektrofahrzeuge in
Ballungsräumen ganz zu schweigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dabei ist unser Ziel von 1 Million Elektrofahrzeugen
auf deutschen Straßen bis 2020 bereits ambitioniert.
Eine glatte Verdopplung auf 2 Millionen, wie es die Grü-
nen in ihrem Antrag fordern, ist nach allem, was uns Ex-
perten sagen, unrealistisch und lehnen wir daher ab.

Auch die Grünen-Forderung der direkten Marktan-
reize durch eine 5 000-Euro-Barprämie beim Kauf eines
Elektroautos ist für uns nicht tragbar,

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Abwrackprämie war es!)


zumal derzeit nicht erkennbar ist, dass die Prämie den
deutschen Unternehmen zugutekommen würde. Viel
sinnvoller wäre beispielsweise eine direkte Förderung
bei Taxis, Fahrzeugen des öffentlichen Personennahver-
kehrs, Carsharing-Wagen, öffentlichen Fuhrparks oder
bei Kurierdiensten im Innenstadtbereich,


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr guter Vorschlag!)


sobald eben die nötigen Kapazitäten vorhanden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Investiertes Geld ist besser in Forschung und Ent-
wicklung angelegt. Hier gilt es, besonders die Spei-
chertechnologie und Batterieproduktion weiter voran-
zutreiben. Wir müssen hier an die Weltmarktspitze
aufschließen.

Jetzt aber bereiten wir uns auf den Kanzlergipfel am
3. Mai vor und warten seine Ergebnisse ab. Nach dem
Gipfel müssen und werden wir die Diskussion im Ver-
kehrsausschuss und im Parlament weiterführen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703429300

Herr Kollege Bilger, das war Ihre erste Rede im Deut-

schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und
wünsche Ihnen weiterhin viel Freude und Erfolg.


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1060 und 17/1164 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c
auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP

Menschenrechte weltweit schützen

– Drucksachen 17/257, 17/1135 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Volker Beck (Köln)






Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim),
Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Menschenrechtsverteidiger brauchen den
Schutz der Europäischen Union

– Drucksache 17/1048 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidige-
rinnen und Menschenrechtsverteidiger

– Drucksache 17/1165 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP liegen sechs
Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Serkan Tören für die Fraktion der
FDP das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1703429400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, wie
sehr ich mich über die Ernennung von Markus Löning
zum neuen Beauftragten der Bundesregierung für Men-
schenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe freue. Gerade
für meine Kollegen war Markus Löning immer ein sehr
geschätzter Parlamentarier in persönlicher wie fachlicher
Hinsicht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der FDP: Eine sehr gute Wahl ist das! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso ist er eigentlich kein Bundestagsabgeordneter geworden?)


– Deshalb habe ich auch „war“ gesagt, Herr Beck. Kon-
zentrieren Sie sich doch bitte!


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das hat er gemacht!)

Kommen wir nun zu den Anträgen. Zur Bewertung
der Anträge der Opposition ist zu sagen, dass der EU-
Ministerrat Leitlinien zum Schutz von Menschenrechts-
verteidigern verabschiedet hat, um das langfristige Han-
deln der EU gegenüber Drittstaaten zu verbessern. Die
von Deutschland nachdrücklich unterstützten Leitlinien
sehen zum Beispiel den Aufbau und die Pflege systema-
tischer Kontakte zu Menschenrechtsverteidigern durch
die EU-Auslandsvertretungen vor.

Deutschland setzte sich während der Dauer der deut-
schen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007
für die konsequente Umsetzung der Leitlinien zu Men-
schenrechtsverteidigern ein und ergriff die Initiative zur
weltweiten Erarbeitung lokaler Implementierungsstrate-
gien der EU.

Die derzeitige Bundesregierung fördert die Arbeit
von Menschenrechtsverteidigern weltweit nach Kräften.
Sie setzt sich insbesondere für ihren verbesserten Schutz
und die umfassende Anerkennung ihrer Tätigkeit im
menschenrechtlichen Sinne ein. Die christlich-liberale
Koalition ist sich dessen bewusst, dass ohne das mutige
Wirken von Menschenrechtsverteidigern die weltweite
konsequente Durchsetzung der Menschenrechte undenk-
bar wäre.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Unterstützung der Arbeit von Menschenrechtsvertei-
digern stellt daher auch einen Schwerpunkt der Projekt-
förderung des Auswärtigen Amtes im Bereich der Men-
schenrechte dar.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass die meisten Forde-
rungen in dem SPD-Antrag als überflüssig gelten kön-
nen, da sie bereits Bestandteil der Leitlinien der aktuel-
len Bundesregierung sind und, insbesondere was die
Forderung in Punkt 7 des SPD-Antrages angeht, durch
unseren Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ ab-
gedeckt werden.


(Christoph Strässer [SPD]: Eben nicht!)


Wir lehnen daher die Anträge der Opposition ab.

Ich bitte hier im Hohen Hause um Zustimmung zu un-
serem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“. Die
christlich-liberale Koalition hat einen sehr ausgewoge-
nen und in sich stimmigen Antrag eingebracht. Punkt für
Punkt werden in diesem Antrag Vorgaben aus dem Ko-
alitionsvertrag umgesetzt. Für uns als FDP ist klar, dass
alle Menschen schon allein aufgrund ihres „Mensch-
seins“ die gleichen universellen, unveräußerlichen und
unteilbaren Grundrechte besitzen. Nicht zuletzt steht die
Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland in di-
rektem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten
für die Menschenrechte in der Innen- und Außenpolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch setzen wir uns für die weltweite Abschaffung
der Todesstrafe sowie für das absolute Folterverbot ein.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt aber mutig!)






Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

Regime, die ihre Bürger steinigen und ihren Kindern
Bildung verweigern, die das Internet zensieren und Jour-
nalisten ermorden lassen und die Glaubensfreiheit mit
Füßen treten, müssen unseren Druck spüren. All dies ist
in unserem Antrag eindrucksvoll dargelegt und wird das
Fundament unserer Menschenrechtspolitik für die nächs-
ten vier Jahre sein.

Lassen Sie mich abschließend auf zwei konkrete Bei-
spiele eingehen, die die Wichtigkeit unseres Antrages
„Menschenrechte weltweit schützen“ noch einmal doku-
mentieren, nämlich zum einen die Menschenrechtslage
im Iran und zum anderen die Menschenrechtslage in
Kuba. Deutschland und seine Partner stehen hinsichtlich
des Irans vor der doppelten Herausforderung, einerseits
eine konstruktive Lösung im Streit um das iranische Nu-
klearprogramm zu finden und gleichzeitig einen Beitrag
zur Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran zu
leisten.

Mit wachsender Sorge verfolgen wir als FDP die Ent-
wicklungen der letzten Wochen und Monate im Iran. Ich
möchte ausdrücklich die schweren Menschenrechtsver-
letzungen im Iran scharf verurteilen. Die blutige Nieder-
schlagung von Demonstrationen, die Unterdrückung von
Meinungen und die unerträgliche Missachtung weiterer
elementarer Menschenrechte können und dürfen wir
nicht ignorieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch vor dem Hintergrund des iranischen Nuklear-
programms muss die internationale Gemeinschaft ein
deutliches Signal an Teheran senden. Dabei wird ent-
scheidend sein, dass sich Sanktionen nicht gegen die Be-
völkerung, sondern gezielt gegen die das Regime tragen-
den Kräfte richten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Außenwirtschaftsbeziehungen zum Iran?)


Es bleibt zu hoffen, dass die iranische Regierung bald
erkennt, dass sie durch ihre provokative Außenpolitik
nicht von ihrer Unfähigkeit, die materiellen und freiheit-
lichen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, ab-
lenken kann. Der Mut der Opposition in den Monaten
seit der Präsidentschaftswahl hat gezeigt, dass der Wille
zur Veränderung ungebrochen ist. Die Menschen im Iran
sollten wissen: Wir sind fest an ihrer Seite.

Auch in Kuba ist die Menschenrechtslage mehr als
prekär. Als FDP-Bundestagsfraktion möchten wir unsere
Bestürzung über die Nachricht vom Tod des kubanischen
Menschenrechtsaktivisten Orlando Zapata Tamayo zum
Ausdruck bringen. Als Mitglied der Oppositionsgruppe
Republikanische Alternative starb Zapata Tamayo nach
85-tägiger Leidenszeit aufgrund eines Hungerstreiks in
einem kubanischen Gefängnis.

Die Vorstellung, dass Herrn Tamayo vorsätzlich zu
lange ärztliche Hilfe vorenthalten wurde, ist unerträg-
lich. Als FDP protestieren wir ausdrücklich gegen diese
menschenverachtende Unterlassung von lebenserhalten-
den Maßnahmen und fordern die rückhaltlose Aufklä-
rung der Geschehnisse um den tragischen Tod.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


– Dass Sie das stört, ist mir klar.

Ferner sind wir tief besorgt über den körperlichen
Zustand des unabhängigen kubanischen Journalisten
Guillermo Fariñas, den wir als FDP in seiner Forderung,
alle kranken politischen Häftlinge aus kubanischen Ge-
fängnissen freizulassen, ausdrücklich unterstützen. Wir
gehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern von
der Republik Kuba, alle politischen Gefangenen unver-
züglich und bedingungslos freizulassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte die kubanische Regierung mit Nachdruck da-
ran erinnern, dass die Inhaftierung von politischen Geg-
nern sowie die Vorenthaltung von deren medizinischer
Versorgung schwerwiegende Menschenrechtsverstöße
sind, die die politische Glaubwürdigkeit der Republik
Kuba schwer erschüttern.

Lassen Sie Fariñas nicht dasselbe Schicksal erleiden
wie Tamayo und beenden Sie die menschenrechtswid-
rige Inhaftierung von politischen Oppositionellen!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703429500

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1703429600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

An einer Stelle schließe ich mich Ihren Ausführungen
an, Herr Tören.


(Zuruf von der FDP: Sie können sich ganz anschließen! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Nur an einer Stelle?)


– Ja, schon das ist eigentlich übertrieben, aber ich mache
es trotzdem. – Dem Glückwunsch an den neuen Men-
schenrechtsbeauftragten schließe ich mich ausdrücklich
an. Ich weiß zwar noch nicht, welche Politik er in die-
sem Bereich verfolgen wird, weil ich bisher noch nichts
von ihm dazu gehört habe, aber das muss nicht schlecht
sein. Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn es zu einer
guten und konstruktiven Zusammenarbeit kommen
würde.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Und Kuba?)


Allem anderen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege,
muss ich ernsthaft widersprechen, zumindest Ihrer Aus-
sage, Sie hätten einen guten Menschenrechtsantrag vor-
gelegt, mit dem Sie etwas umgesetzt hätten, das Sie ir-
gendwo anders niedergeschrieben haben.





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

Das, was ich in Ihrem Antrag lese, ähnelt Ihrem Ko-
alitionsvertrag: erstens nichts Neues, zweitens alte Ka-
mellen, und drittens wird nichts umgesetzt.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Umgesetzt wird gar nichts. Er enthält eine Reihe von
massiven Ankündigungen, aber damit ist es auch gut. Ich
werde noch auf einzelne Punkte eingehen. Denn in Ihrer
Überschrift über diesem Antrag fehlt ein entscheidender
Satz. Der Titel lautet „Menschenrechte weltweit schüt-
zen“, und wenn man Ihren Antrag weiterliest, dann wird
klar: aber nicht in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Serkan Tören [FDP]: Da sind wir gespannt!)


– Ja, darauf können Sie gespannt sein.

Auch wir haben einen Antrag vorgelegt. Sie haben
völlig recht. Der Antrag ist gut, und er ist richtig. Wir ha-
ben ihn deshalb formuliert, weil Sie bei Ihren Ausfüh-
rungen etwas vergessen haben, nämlich dass es eine spa-
nische EU-Ratspräsidentschaft gibt, die festgestellt hat,
dass das, was die EU-Richtlinie zu diesem Thema um-
fasst, nicht ausreicht. Sie hat dafür eine Kommission ein-
gesetzt. COHOM hat die Arbeit bereits aufgenommen.

Die aktuellen Schlussfolgerungen des Rates zur Än-
derung der EU-Richtlinie über Menschenrechtsverteidi-
ger enthalten 64 Empfehlungen. Die Schlüsselrolle bei
diesen Empfehlungen spielen Punkte, die gerade auch in
Deutschland in den Umsetzungsrichtlinien noch nicht
ausreichend verwirklicht worden sind. Sie enthalten zum
Beispiel so etwas wie Koordinierungsstellen oder Kon-
taktstellen in allen EU-Botschaften, in den Botschaften
aller Länder. Da geht es nicht, wie Sie es ganz verschämt
in Punkt 17 Ihres Antrags schreiben, darum, dass es da
gute Beziehungen gibt, dass man das unterschreibt und
gegebenenfalls unter den Bedingungen des Ausländer-
rechtes auch bedrohten Menschenrechtsverteidigern Zu-
gang zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
gewährt. Dies, meine Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ist pure Ankündigungspolitik. Das
hat noch nicht einmal etwas mit den Richtlinien der
OSZE zu tun, sondern das ist schlicht und ergreifend viel
zu wenig und entspricht nicht dem Stand in vielen ande-
ren EU-Ländern, die uns in diesem Bereich etwas vor-
machen.


(Beifall bei der SPD)


Noch zwei Anmerkungen zu den Menschenrechtsver-
teidigern, die mir wichtig sind und die mich dann auch
dazu bringen, noch einmal zu Ihrem Antrag Stellung zu
nehmen: Ich will jetzt gar nicht abstrakt darüber reden,
was in den entsprechenden Beschlüssen der VN-Gene-
ralversammlung von 1998 steht, sondern nur einmal
zwei Namen nennen, die Menschenrechtsverteidiger im
Moment aktuell betreffen und auch bei uns diskutiert
werden.

Der eine ist Kamal al-Labwani; er wird Ihnen wahr-
scheinlich aus den menschenrechtlichen Debatten be-
kannt sein. Herr Labwani ist 53 Jahre alt, er ist Arzt und
Künstler, er ist mehrfacher Familienvater. Er ist wegen
„Schwächung des Nationalgefühls“, wegen „Kommuni-
kation mit einem ausländischen Staat zur Anstachelung
eines Angriffs auf Syrien“ und wegen Verleumdung ei-
nes Staatsoberhauptes verurteilt. Herr Labwani sitzt seit
2005 im Adra-Gefängnis in Damaskus im Flügel Nr. 5;
auch er ist unter Menschenrechtlern bekannt, weil dort
die Gewaltkriminellen sitzen, weil dort gefoltert wird
und weil dort medizinische Behandlung für die Gefan-
gen nicht stattfindet.

Ich nenne Anwar el-Bunni; ihn kennen Sie wahr-
scheinlich auch. Er hat im Dezember 2009 den Men-
schenrechtspreis des Deutschen Richterbundes verliehen
bekommen. Er ist seit 2007 inhaftiert. Der Vorwurf: Ver-
breitung staatsgefährdender Falschinformationen. Seine
Tat: Anprangerung systematischer Folter in syrischen
Gefängnissen.

Das ist jetzt der Übergang zu dem, was aus meiner
Sicht in Ihrem Antrag fehlt: die komplette innenpoliti-
schen Dimension der Menschenrechtsfrage. Deshalb
habe ich Syrien genannt. Wir haben ja nun mit großer
Verbitterung und Empörung vernommen, dass das, was
Ihre Bundesregierung im Dezember noch für richtig be-
funden hat, nämlich die Aussetzung des Rückführungs-
abkommens mit Syrien, jetzt wieder eingeführt worden
ist. Meine Damen und Herren, ich kenne die Argumente
mit Einzelfallprüfung und allem, was damit zusammen-
hängt. Aber wenn selbst die Bundesregierung, wenn
selbst der Innenminister, wenn ein Völkerrechtler wie
Herr Tomuschat bei der Verleihung des Preises an Herrn
al-Bunni sagt, Syrien sei ein Folterstaat, dann kann ich
doch bitte schön nur darauf hinweisen, dass es der Men-
schenwürde widerspricht, wenn man in einen solchen
Staat, in dem systematisch gefoltert wird, Menschen zu-
rückführt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das heißt aus meiner Sicht völlig klar und eindeutig: In
diesem Fall geht es nicht um Einzelfallprüfung, sondern
in diesem Fall geht es um das Verbot der Rückführung in
einen solchen Staat. – Das ist ein Punkt, um den wir uns
zu kümmern haben.

Ein zweiter Punkt ist dann, wie ich finde, schon eine
sehr bemerkenswerte Geschichte: An keiner Stelle des
Antrags „Menschenrechte weltweit schützen“ befassen
Sie sich mit der Situation von Flüchtlingen, an keiner
Stelle! Ich kann Ihnen nur sagen – wir haben das in unse-
rem Ausschuss und in anderen Ausschüssen massiv dis-
kutiert –: Was an den Grenzen der Europäischen Union
mit Unterstützung der Bundesregierung abläuft, ist ein
menschenrechtlicher Skandal. Diesen Skandal in einem
solchen Antrag nicht zu benennen, ist ein weiterer Skan-
dal. Diesen Skandal werden wir auch immer und immer
wieder benennen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Serkan Tören [FDP]: Das hat Steinmeier alles ausgehandelt! Das müssen Sie Steinmeier sagen!)


– Da können Sie empört sein, wie Sie wollen, da können
Sie auch sagen, wer das früher alles gemacht hat. Sie be-
haupten in diesem Antrag, Sie machten eine konse-





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

quente und kohärente Menschenrechtspolitik. Aber Sie
tun es an dieser Stelle nicht nur nicht, sondern machen
sogar noch das genaue Gegenteil. Dafür werden wir Sie
auch in allen öffentlichen Diskussionen stellen; das ist
völlig klar.


(Beifall bei der SPD – Serkan Tören [FDP]: Was sagt dazu Herr Schily?)


Es gibt noch eine andere Geschichte, die aus meiner
Sicht sehr wichtig ist: Sie fordern in Ihrem Antrag – wie
ich finde: zu Recht – die Einhaltung, die Umsetzung und
die Ratifizierung völkerrechtlicher Abkommen durch
andere Staaten, die dies noch nicht getan haben. Auf der
anderen Seite tun Sie aber so, als hätten wir das alles
schon erledigt. Ich frage Sie: Wo sind denn die Feststel-
lungen zum Beispiel zum Zusatzprotokoll zum WSK-
Abkommen? Wenn es darum geht, einmal exakt zu sa-
gen, dass es in diesem Bereich ein Beschwerderecht gibt,
kneifen Sie. Nichts kommt, nichts steht in Ihrem Antrag.
Ich halte dies für ein eklatantes Versagen, nicht zuletzt
im Hinblick auf die Gespräche, in denen Sie anderen
Ländern vorhalten, etwas zu tun oder zu unterlassen. Sie
selber tun nichts, und das ist Doppelstandard in der Men-
schenrechtspolitik. Das ist gefährlich, und das halten uns
andere Länder zu Recht vor.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber es gibt nicht nur diesen Part. Es geht auch noch
um ein paar andere Dinge. Ich will darauf hinweisen, wo
in Ihrem Antrag nach meiner Meinung ebenfalls ein
Doppelstandard zum Ausdruck kommt – Frau Steinbach,
Sie werden das wahrscheinlich relativieren –: bei der Re-
ligionsfreiheit. Ich kann nur sagen: Jeder Satz zur welt-
weiten, universellen Religionsfreiheit ist richtig. Herr
Tören, Sie haben gerade die Situation im Iran angespro-
chen.


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Die Bahai!)


Die am meisten gefährdeten Menschen im Iran sind we-
gen ihrer Glaubenszugehörigkeit angeklagt und von der
Todesstrafe bedroht: die Bahai. Jetzt sagen Sie einmal
den Bahai: Die Menschenrechtspolitik in Deutschland ist
darauf ausgerichtet, die Religionsfreiheit unter besonde-
rer Berücksichtigung des Christentums durchzusetzen.
Das ist ein doppelter Standard; das geht nicht. Die Reli-
gionsfreiheit muss für alle Religionen auf dieser Welt
gleichermaßen gelten, nicht besonders für bestimmte
Religionen. Wenn Sie das nicht vertreten, verabschieden
Sie sich von einer glaubwürdigen Menschenrechtspoli-
tik. Deshalb können wir Ihrem Antrag auf keinen Fall
zustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703429700

Erika Steinbach ist nun die nächste Rednerin für die

CDU/CSU-Fraktion.

Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1703429800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Menschenrechte sind universell, unteilbar
und unveräußerlich.


(Christoph Strässer [SPD]: Das gilt für alle gleich, oder?)


Herr Strässer, für Sie mögen das olle Kamellen sein;
aber man kann das nicht oft genug wiederholen. Nur ste-
ter Tropfen höhlt den Stein; das möchte ich deutlich hin-
zufügen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte etwas zu Ihren Ausführungen sagen. Ich
war doch schon ein wenig verblüfft:


(Christoph Strässer [SPD]: Das glaube ich!)


Bis vor kurzem haben Sie all das, was zu den EU-Au-
ßengrenzen geregelt wurde, als Regierungsfraktion mit-
getragen.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Heute, ein paar Monate später, stellen Sie das an den
Pranger und klagen es an. Da ist irgendwo etwas Schizo-
phrenie im Spiel. Sie sind da zu sich selber nicht ganz
ehrlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das Sein bestimmt das Bewusstsein! – Gegenruf des Abg. Christoph Strässer [SPD]: Ja, da liegen Sie bei Frau Steinbach richtig!)


Die Menschenrechte sind leider in vielen Teilen der
Welt nicht einmal ansatzweise Realität. Wir können das
beklagen, wir wollen das beklagen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen etwas tun, nicht nur klagen!)


Wir müssen alles tun, damit es sich bessert. In einigen
Regionen befinden sich Menschenrechte sogar auf dem
Rückzug; das kann man leider nicht verkennen. Die Ein-
forderung des besonderen Schutzes von Minderheiten
und der Einsatz gegen jegliche Benachteiligung auf-
grund von Religion und ethnischer Herkunft sind aktuel-
ler denn je. Herr Strässer, da haben Sie recht: Im Iran
sind die Bahai die am intensivsten verfolgte Religions-
gruppe. Wir haben erst vor wenigen Tagen mit dem Vor-
sitzenden der Bahai hier in Deutschland gesprochen; das
wissen Sie genauso gut wie ich. Natürlich gehört es bei
der Religionsfreiheit dazu, dass wir uns hinter die Bahai
stellen; das ist doch selbstverständlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christoph Strässer [SPD]: Nein, eben nicht!)


In der vergangenen Woche drohte der türkische Mi-
nisterpräsident Erdoğan, bis zu 100 000 im Lande le-
bende Armenier auszuweisen. Das sind Drohgebärden,
die den Umgang der Türkei mit ihren christlichen Min-
derheiten schlaglichtartig und massiv erhellen. Sie be-
wirken noch etwas anderes: Sie erinnern beklemmend
an den Genozid des Osmanischen Reiches an den Ar-





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

meniern und den anderen Christen damals in den Jahren
1915 und 1916. So nimmt es auch nicht Wunder, dass
der türkische Staat bis zum heutigen Tage nicht bereit ist,
diese traurige Erblast auch nur ansatzweise aufzuarbei-
ten. Das halte ich bei einem Land, das Mitglied der Eu-
ropäischen Union werden will, schon für einen Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist gut und richtig, dass sich der Deutsche Bundes-
tag für Menschenrechte weltweit einsetzt. Ich halte es
für genauso unverzichtbar, dass wir – Herr Kollege
Strässer, da gebe ich Ihnen recht – auch vor unserer eige-
nen Tür kehren, dass wir uns mit Defiziten im eigenen
Lande auseinandersetzen. Da muss ich schon sagen: Die
bundesweiten Berichte der letzten Wochen und Monate
über sexuellen Missbrauch von Kindern schrecken zu-
tiefst auf. Es ist gut, dass seitens der Bundesregierung in-
tensiv über weitergehende Prävention nachgedacht wird.
Es ist gut, dass dabei alle gesellschaftlichen Gruppen
eingebunden werden sollen.

Allerdings registriere ich in den Debatten der letzten
Wochen über die Vergehen mit tiefem Befremden eine
Fokussierung auf die katholische Kirche. Hier ist die Ge-
wichtung, bezogen auf die Anzahl der Täter, inzwischen
schlicht und ergreifend vollständig verschoben. Auch in
katholischen Einrichtungen hat es Missbrauchsfälle ge-
geben. Auch dort sind nicht in jedem Einzelfall die rich-
tigen Maßnahmen getroffen worden. Aber der katholi-
schen Kirche den Willen zur Aufklärung und das
Mitgefühl für die Opfer abzusprechen, das halte ich für
schlichtweg infam. Dahinter steckt Methode. Als Nicht-
katholikin sage ich das in aller Deutlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Tatsache ist: Die überwiegende Zahl, nämlich rund
99 Prozent dieser scheußlichen Vergehen spielen sich in
anderen gesellschaftlichen Bereichen ab. Der prozen-
tuale Anteil aus dem Bereich katholischer Einrichtungen
liegt bei nicht einmal einem Prozent.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das macht die Vorfälle aber nicht besser!)


Wenn ich nun die Stimmen aus dem Bereich der Grü-
nen in Richtung katholische Kirche vernehme, so erin-
nert mich das sehr drastisch an den Täter, der anderen in
die Hosentasche greift und ruft: „Haltet den Dieb!“ Die
Äußerungen der Grünen sind pures Ablenkungsmanöver
von sich selbst.


(Christoph Strässer [SPD]: Hört! Hört!)


Es waren Grüne in der Bundesarbeitsgemeinschaft
„Schwule und Päderasten“ – so hieß diese Bundes-
arbeitsgemeinschaft –, die 1985 den Schutz Minderjähri-
ger, den Schutz von Kindern, vor sexuellem Missbrauch
insgesamt aufheben wollten.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau dasselbe haben Sie doch schon mal erzählt!)


– Es ist eine Menschenrechtsfrage. – Es waren Sie, Herr
Kollege Beck, der 1988 eine Entkriminalisierung der Pä-
dosexualität als nächsten Schritt nach der Mobilisierung
der Schwulenbewegung einforderte.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch schon einmal gebracht und eine Antwort bekommen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703429900

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck?


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1703430000

Ich will den Gedanken nur zu Ende führen; dann kann

er gerne eine Frage stellen. –


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine furchtbare Unterstellung, Frau Steinbach!)


Ihre strategischen Überlegungen, Herr Beck, sind nach-
lesbar als Beitrag in dem Buch „Der pädosexuelle Kom-
plex“, das übrigens bis zur Stunde in der Bundestags-
bibliothek vorhanden und ausleihbar ist. Es ist gut, Herr
Beck, dass Sie sich inzwischen davon distanziert haben.
Vielleicht erübrigt sich damit Ihre Frage.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703430100

Ich mache mir große Sorgen um Ihr Erinnerungsver-

mögen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


da Sie die gleiche Schote schon in der letzten Menschen-
rechtsdebatte gebracht haben. Da habe ich Ihnen erklärt,
dass das damals ein verfälschter, nichtautorisierter Arti-
kel von einem unter Pseudonym veröffentlichten He-
rausgeber war. Angelika Graf hat unseren Schlagab-
tausch damals korrekt bewertet. Hätten Sie Anstand,
würden Sie sich für Ihre Äußerung entschuldigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass we-
der ein Verband der Bundespartei der Grünen noch die
Bundespartei der Grünen sich jemals die Forderung, die
Sie gerade zitiert haben, zu eigen gemacht hat? Wären
Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass auf mei-
nen Antrag hin der Bundeshauptausschuss, meiner Erin-
nerung nach im Jahre 1986, die Nichtanerkennung dieser
Bundesarbeitsgemeinschaft beschlossen hat und darauf-
hin eine neue Arbeitsgemeinschaft gegründet wurde?
Wenn Sie aus Ihren Political-incorrect-Seiten hier solche
Falschbehauptungen zusammenkramen, finde ich das
wirklich unanständig, und wenn Sie es zum zweiten Mal
tun, dann zeigt das, dass Sie nicht bereit sind, dazuzuler-
nen. Das ist nicht mehr Kollegialität unter Demokraten,
und das ist Ihrer nicht würdig, Frau Kollegin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Sie sollten sich vielleicht einmal mit der Vergangen-
heit Ihres Verbandes auseinandersetzen, wenn Sie schon
meinen, für die katholische Kirche hier Entlastungsvor-
würfe vorbringen zu müssen. Ich habe das Gefühl, die
Deutsche Bischofskonferenz ist da wesentlich weiter als
Sie. Sie setzt sich nämlich an die Aufarbeitung, und das
ist auch gut so, wenn auch nicht alle Bischöfe gleicher-
maßen die richtige Tonlage gefunden haben.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1703430200

Herr Beck, ich habe eben gesagt, es ist gut, dass Sie

sich von diesem Beitrag distanziert haben.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letztes Mal haben Sie das auch gesagt!)


Allerdings muss ich hinzufügen: Wie ich Sie kenne, Herr
Beck – Sie sind ein guter Jurist –,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na ja!)


hätten Sie, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, die-
ses Buch längst verboten, wenn es so gewesen wäre, wie
Sie hier behaupten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich würde doch keine Bücher verbieten!)


Ich glaube, es ist nötig, zu schauen: Wer hat damals
die grüne Bundesarbeitsgemeinschaft „Schwule und Pä-
derasten“, Schwup, mitgetragen und ist heute noch bei
den Grünen aktiv? Den Vorstellungen auch Grüner ent-
sprach doch das pädosexuelle Binnenleben in der Re-
formschule im Odenwald. Dieses Eldorado für Kinder-
schänder unter dem Deckmantel von Fortschritt und
moderner Erziehung galt doch als erstrebenswertes Mo-
dell.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn, was Sie da erzählen!)


Es ist heute nötig, dass die Grünen einmal in sich ge-
hen, in ihren eigenen Reihen forschen und ihre eigene
Vergangenheit aufarbeiten, ehe sie mit dem Finger auf
andere zeigen. Ich habe die jüngsten Presseerklärungen
gelesen, die vonseiten Ihrer Fraktion dazu abgegeben
worden sind. Aber bei der Vergangenheitsbewältigung,
so scheint mir, ist Ihnen wohl ein bisschen mulmig zu-
mute.


(Frank Schwabe [SPD]: Das müssen Sie gerade sagen!)


Anders kann ich die Äußerungen Ihres Kollegen Jerzy
Montag, der gerade eingetroffen ist,


(Zuruf von der SPD: Er ist schon die ganze Zeit da!)


nicht interpretieren. Herr Montag, Sie haben zur Frage
der Verlängerung der strafrechtlichen Verjährung gesagt,
das sei fundamentalistische Rachsucht. Das kann ich nun
wirklich nicht nachvollziehen. Fundamentalistische
Rachsucht ist das mit Sicherheit nicht.

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703430300

Frau Kollegin, der Herr Montag würde gern eine Zwi-

schenfrage stellen.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1703430400

Ja, aber gern.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703430500

Sehr geehrte Frau Kollegin, wenn Sie schon zitieren,

wozu Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1703430600

Aber selbstverständlich!


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703430700

– dann benennen Sie bitte die Fundstelle und zitieren

Sie richtig und vollständig.

Ich habe mich in dem in der Zeitung veröffentlichten
Artikel ganz konkret und sachlich mit der Frage ausei-
nandergesetzt, was für und was gegen die Verlängerung
von Verjährungsfristen in bestimmten Bereichen des Zi-
vilrechts und des Strafrechts spricht. Dabei habe ich
auch ausgeführt, was nach meiner Überzeugung hinter
bestimmten Forderungen steht. Dazu stehe ich und sage
es heute noch einmal: Hinter dem, der die Forderung
aufstellt, für bestimmte Straftaten – außer Völkermord
und Mord – jegliche Verjährungsfristen aufzuheben, ver-
mute ich tatsächlich statt einer rationalen Kriminalitäts-
politik eine Strafsucht, die in einem demokratischen
Rechtsstaat nichts zu suchen hat.

Benennen Sie also bitte die Fundstelle genau und zi-
tieren Sie mich richtig, statt hier solche Verfälschungen
vorzutragen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1703430800

Aber Herr Montag, Sie haben das doch im Grunde ge-

nommen gerade bestätigt. Ich bin der festen Überzeu-
gung, dass Kinder über Vorfälle gerade in diesem Be-
reich häufig nicht reden können, sondern erst darüber
reden können, wenn sie erwachsen sind. Deshalb braucht
man eine längere Spanne.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum beginnt die Verjährung auch erst später!)


Das als eine bestimmte Art zu qualifizieren, macht schon
deutlich, dass man das eigentlich wegschieben möchte.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Fundstelle kennen Sie also offensichtlich nicht!)


– Das habe ich gerade heute in der Hand gehabt; das war
in einem Bericht.





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja, die Mitarbeiter haben es herausgesucht!)


Wenn die Grünen sich seinerzeit mit dem durchge-
setzt hätten, was sie im Bereich Pädophilie angedacht
haben – in Teilen, natürlich nicht alle –, dann hätten wir
heute diese Debatte nicht, weil all das, was wir heute de-
battieren, überwiegend straffrei gewesen wäre – zulasten
von Kindern. Das, meine Damen und Herren, ist massiv
gegen Menschenrechte gerichtet.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich, was Sie da erzählen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703430900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703431000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selten

hat man solch unseriöse Reden hier gehört, Frau
Steinbach.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Serkan Tören [FDP]: Doch, von Ihnen haben wir schon genug gehört!)


Dabei haben Sie auch noch auf falschen Behauptungen
beharrt, etwa bezüglich Herrn Beck. Er ist ein guter und
engagierter Abgeordneter. Das sage ich, auch wenn ich
politisch nicht alle seine Positionen teile. Er ist kein Ju-
rist. Das muss man schon sehen.

Selten ist mehr Heuchelei im Deutschen Bundestag
zu hören als dann, wenn es um das Thema Menschen-
rechte geht. Die kurzfristig zeitweilige Aufnahme von
Menschenrechtsverteidigern ziehen Sie aus der Koali-
tion in Ihrem Antrag unter den entsprechenden Vor-
schriften des geltenden Ausländerrechts gegebenenfalls
in Erwägung. Angesichts der Tatsache, dass das Auslän-
derrecht kaum noch Schutz für politisch Verfolgte bietet,
ist das eigentlich zynisch.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Jahr für Jahr erreichen weniger Flüchtlinge überhaupt
den Geltungsbereich dieses Ausländerrechts, weil sie
von der Europäischen Union und auch von der Bundes-
regierung mit martialischen Mitteln wie der Grenz-
schutzagentur FRONTEX an der Flucht und an der Ein-
reise gehindert werden und im Mittelmeer sterben
müssen. Ein wertvoller Beitrag zum Schutz der Men-
schenrechte ist für die Linke ein freier Zugang für
Flüchtlinge und ein umfassendes Asylrecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch davon ist in den vorliegenden Anträgen natür-
lich keine Rede; denn Menschenrechtsverletzungen fin-
det man leider immer nur bei anderen. Glaubwürdig ist
man bei Menschenrechten aber nur dann, wenn man bei
sich selbst beginnt.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Kuba!)


Beim Rüstungsexport haben Sie eine Politik zu ver-
antworten, die Sie unglaubwürdig macht. Wie sonst er-
klären Sie es sich, staatlich finanzierte Ausstattungshilfe
für die Armeen in Georgien, in Nigeria, im Jemen und in
Marokko zu leisten? Wie sonst ist zu erklären, dass die
deutsche Rüstungsindustrie mittlerweile im internationa-
len Vergleich auf Platz drei liegt und das weltweite Ge-
schäft mit dem Tod in Deutschland derart boomt? Wie
sonst ist es zu erklären, dass Sie zu der monarchistischen
Diktatur in Saudi-Arabien einfach immer nur schweigen,
aber exzellente Handelsbeziehungen zu ihr pflegen?


(Beifall bei der LINKEN)


Wie ist die Partnerschaft mit Marokko menschen-
rechtlich für Sie vereinbar, zumal die Westsahara weiter-
hin völkerrechtswidrig besetzt ist und ständig Men-
schenrechte der Saharauis verletzt werden, wie jüngst
die Verhaftung von sieben Menschenrechtsaktivisten,
die im Hungerstreik sind? Wie sieht es mit Ihrer Men-
schenrechtspolitik hinsichtlich der Menschenrechtsver-
teidiger aus Honduras aus? Jesús Garza und Bertha
Oliva waren hier im Bundestag und haben über die Men-
schenrechtssituation in Honduras gesprochen. Der Leiter
der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung denunziert
diese Menschen in der honduranischen Zeitung und
nennt sie Spalter. Das ist ein Skandal, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Jetzt reden wir aber über Kuba!)


Ist es mit Menschenrechten vereinbar, dass deutsche
Konzerne wie ThyssenKrupp – unterstützt durch Zu-
schüsse und Steuererleichterungen durch die Regierung –
Milizen als Werkschutz anheuern, die mit Morddrohun-
gen gegen protestierende Fischer vorgehen?

Warum schweigen Sie dazu, dass alle fünf Sekunden
in der Welt ein Kind unter zehn Jahren verhungert,
50 000 Menschen täglich an Hunger sterben


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wer schweigt dazu?)


und eine Milliarde Menschen permanent unterernährt ist,
während Nahrungsmittel zur Gewinnung von Treibstof-
fen für Industrieländer verbrannt werden? Was sagen Sie
dazu, dass Ende 2008 allein in Europa in wenigen Tagen
1,7 Billionen Euro für Banken und Konzerne bereitge-
stellt wurden und gleichzeitig das Welternährungspro-
gramm von 6 Milliarden auf 3,8 Milliarden Euro redu-
ziert wurde, weil Industriestaaten die Mittel für
humanitäre Soforthilfe gekürzt haben?

Das hat nichts mehr mit Menschenrechten zu tun. Wer
Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie im Südsudan
meint, wer politische Rechte für Bürger in anderen Staa-
ten einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in de-
nen ihnen Folter droht, wer Meinungsfreiheit anderswo
einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder vorbe-





Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
reitet, wer öffentliche Dienstleistungen, das Rentensys-
tem und die Gesundheitsvorsorge privatisiert, der
verwandelt den Kampf um Menschenrechte in ein In-
strument von Sozialraub, Krieg und imperialer Politik.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir, die Linke, verstehen Menschenrechte als Wider-
standsrechte gegen Neoliberalismus, entfesselten Kapi-
talismus und Krieg.


(Zuruf von der FDP: Nennen Sie bitte noch die Hotelnummer!)


– Es ist klar, dass das von der FDP kommt.

Menschenrechte sind nur dann von Dauer, wenn sie
auf einer Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, die
die strukturellen Ursachen der andauernden Menschen-
rechtsverletzungen beseitigt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703431100

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703431200

Deshalb treten wir für eine neue, für eine gerechte

Wirtschafts- und Sozialordnung ein. Deshalb setzen wir
uns für ein Exportverbot von Rüstungsgütern ein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703431300

Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703431400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie
in der Menschenrechtsdebatte in diesem Hohen Haus
noch einmal ernst genommen werden wollen, dann zie-
hen Sie bitte nach dem heutigen Auftritt die menschen-
rechtspolitische Sprecherin Steinbach aus dem Aus-
schuss zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Diese Art, mit Falschbehauptungen die Menschen-
rechtsdebatte zu bestreiten, obwohl man es besser weiß,
ist angesichts der Vorlagen, die hier auf dem Tisch lie-
gen, unglaublich.

Wir haben uns um sexuellen Missbrauch von Kindern
schon 1984 mit einer Großen Anfrage hier im Bundestag
gekümmert. Damals waren wir erst ein Jahr im Parla-
ment. Wir brauchen uns bei diesem Thema nichts vor-
werfen zu lassen. Dass es bestimmte Diskussionen gab,
die abwegig waren, sei dahingestellt. Das war nie Be-
schlusslage.


(Zurufe von der CDU/CSU)


– Sie hatten Diskussionen mit Leuten, die Sie ausge-
schlossen hatten. Das waren jede Menge Personen.
Wenn ich Sie mit den Positionen dieser Leute identifizie-
ren würde, würden Sie sich das zu Recht verbitten. Also
bitte, lassen Sie die Kirche im Dorf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich möchte jetzt zu den Menschenrechten sprechen
und mich nicht von Ihren Nebenkriegsschauplätzen ab-
lenken lassen. Es liegen Anträge vor, die die spanische
Ratspräsidentschaft unterstützen und das Ziel haben,
Menschenrechtsverteidigern besser zu helfen. Die spani-
sche Präsidentschaft schlägt vor, einen Liaison-Offizier,
also einen Verbindungsbeamten, für die Menschen-
rechtsverteidiger einzusetzen, wie ihn die Spanier bereits
haben. In Spanien ist es Praxis, dass gefährdete Men-
schenrechtsverteidiger von Spanien, ohne dass ein Asyl-
antrag gestellt werden muss, für zwölf Monate aufge-
nommen und anständig mit 1 200 Euro im Monat
finanziell unterstützt werden. Wer es mit der Unterstüt-
zung von Menschenrechten und Menschenrechtsvertei-
digern im Ausland ernst meint, muss Konsequenzen zie-
hen und ihnen Schutz gewähren, wenn sie ernsthaft
gefährdet sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dazu steht in Ihrem Antrag kein Sterbenswörtchen.
Wenn Sie jetzt schon wissen, dass Sie das alles ablehnen,
und wenn Sie sich gegen die Ratspräsidentschaft wen-
den, dann ist das europapolitisch und außenpolitisch ein
Armutszeugnis.

Lassen Sie mich zu Ihrem Antrag kommen. Wir ha-
ben uns zum Erstaunen der SPD ernsthaft Mühe gemacht
und gedacht, dass wir, auch wenn die Themenzusam-
menstellung ein bisschen nach „copy and paste“ aus-
sieht, versuchen sollten, das Beste daraus zu machen;
denn am Ende wird es womöglich beschlossen. Aber mit
dem Antrag verhält es sich wie mit dem Anfang Ihrer
Rede: allgemeine Worte, ein Blick ins Ausland; aber
Konsequenzen sucht man in diesem Antrag bei jedem
Punkt vergebens. Bei Ihnen ist es wie im Kino: Je weiter
die Menschenrechtsverletzungen weg sind, desto besser
sehen Sie sie. Wenn sie direkt vor Ihnen stattfinden oder
da, wo man etwas tun könnte, dann können Sie sie nicht
mehr erkennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Erika Steinbach [CDU/ CSU]: Das war ja nun wirklich daneben!)


Stichwort Guantánamo. Wer Guantánamo kritisiert
und auflösen will, muss dazu bereit sein, auch hier Men-
schen aufzunehmen, die offensichtlich unschuldig sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn Sie den uigurischen Gefangenen sagen, sie sollten
nach Amerika gehen, in das Land, das sie zu Unrecht ge-
fangen gehalten hat, dann ist das genauso, als wenn wir
1945 zu den deutschen Vertriebenen gesagt hätten, sie
sollten sich in Sibirien ansiedeln. Das ist einfach eine





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Unverschämtheit. So kann mit Menschen in Not nicht
umgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich!)


Wenn Sie über Menschenhandel schimpfen und Frauen-
handel kritisieren, dann müssen Sie schauen, wie es
funktioniert. Wir stellen hier einen Antrag, dass Sie
Konsequenzen aus Ihren großen Worten ziehen. Diese
Opfer brauchen ein Bleiberecht.


(Zuruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ CSU])


– Herr Grindel, Sie müssen ertragen, dass im Moment
überwiegend ich das Wort habe. – Den Opfern des Men-
schenhandels kann man nur dadurch helfen, dass sie,
wenn sie in Deutschland zur Polizei gehen, aussagen und
Strafanzeige erstatten, nicht in das Land abgeschoben
werden, in dem die Banden sitzen, die sie verschleppt
haben. Jeder, der hier aussagt und nach dem Prozess zu-
rück muss, muss um Leib und Leben fürchten; er muss
nicht den Staat fürchten, sondern die kriminellen Ban-
den, die so etwas machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Nennen Sie doch mal ein Beispiel!)


Im heutigen Zeitalter, in dem Wirtschaftskonzerne in-
ternational eine immer stärkere Bedeutung bekommen
und mächtiger als manche Staaten sind, müssen wir uns
auch über das Thema „Menschenrechte und Wirtschaft“
unterhalten. Wir wissen, dass gerade in Afrika viele Bür-
gerkriege und Menschenrechtsverletzungen nur wegen
des Rohstoffhungers in der Welt stattfinden. Es muss
klar sein: Wer Opfer von Menschenrechtsverletzungen
wird, auch unter Beteiligung von Firmen, die hier Töch-
ter oder Muttergesellschaften haben, dem muss es auch
noch nach Jahren möglich sein, unabhängig von den en-
gen Verjährungsregelungen des jetzigen Zivilrechts, hier
Schadensersatz von diesen Firmen einzuklagen. Ansons-
ten ist das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ mit
all den wunderbaren freiwilligen Vereinbarungen, die
Sie in Ihrem Antrag aufgezählt haben, leeres Geschwätz;
denn sie helfen den Opfern nicht, sie wirken nicht gene-
ralpräventiv, und Menschenrechtsverletzungen zahlen
sich weiter aus.

Es fehlt Ihnen in allen Punkten an der Konsequenz.
Deshalb ist dies eine in Antragsform gegossene Schön-
wetter- und Sonntagsrede zum Thema Menschenrechte.
Mehr ist aber notwendig, wenn man ernsthafte Men-
schenrechtspolitik machen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703431500

Der Kollege Dr. Egon Jüttner hat seine Rede zu Pro-

tokoll gegeben.1)

1) Anlage 8

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Dankenswerterweise!)


Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.
Zunächst zum Tagesordnungspunkt 12 a. Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP mit dem Titel „Menschenrechte weltweit
schützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/1135, den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/ 257 in der Ausschussfassung anzunehmen.


(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])


Nun liegen dazu sechs Änderungsanträge der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst ab-
stimmen. Zunächst zum Änderungsantrag auf
Drucksache 17/1227. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist damit
abgelehnt. – Besteht Einverständnis darüber, dass wir ab
22 Uhr bei den Änderungsanträgen pauschal Ablehnung
und Zustimmung signalisieren, oder möchten Sie im
Protokoll die genauen Abstimmungsvoten der Fraktio-
nen haben?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Fraktionen nicht unterschiedlich abstimmen, ist es mir egal!)


– Dann stelle ich das Ergebnis fest: Der Änderungsan-
trag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.

Änderungsantrag auf Drucksache 17/1228. Wer
stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der
Änderungsantrag ist abgelehnt mit dem gleichen Stim-
menverhältnis.

Änderungsantrag auf Drucksache 17/1229. Wer ist
dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-
rungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der SPD-Fraktion.

Wir kommen zum Änderungsantrag auf
Drucksache 17/1230. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist abge-
lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion.

Änderungsantrag auf Drucksache 17/1231. Wer
stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der
Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion und der Fraktion Die Linke.





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache
17/1232. Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion.

Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Oppositionsfraktionen.

Tagesordnungspunkte 12 b und 12 c. Hier wird inter-
fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/1048 und 17/1165 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da-
mit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c
auf:

a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-

(Artikel 28 Absatz 1)


– Drucksache 17/1047 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Hönlinger,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des

(Artikel 28 Absatz 1 – Kommunales Ausländerwahlrecht)


– Drucksache 17/1150 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kommunales Wahlrecht für Drittstaatsange-
hörige einführen

– Drucksache 17/1146 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Rüdiger Veit für die SPD-
Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1703431600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die SPD-Fraktion möchte sich heute Abend mit einem
– aus ihrer Sicht jedenfalls – alten und lieben Bekannten
befassen. Es handelt sich um die Grundgesetzänderung
im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 3. Es geht darum, die
Möglichkeit zu schaffen, dass Länderparlamente darüber
entscheiden können, dass ausländische Mitbürger, die
aus Drittstaaten kommen, an Kommunalwahlen teilneh-
men können. Das hat der Bundesrat übrigens schon 1997
auf Antrag der SPD beschlossen. In diesem Haus hat er
bisher noch keine Mehrheit gefunden. Ich sage ganz of-
fen: Ich war wenig begeistert davon, dass wir im vorletz-
ten Jahr nach einer Anhörung im Parlament dem Antrag,
der von anderer Seite gestellt worden war, aus Gründen
der Koalitionsräson nicht zustimmen konnten.

Ich halte zunächst einmal zufrieden fest, dass wir
heute einen Antrag beraten, der aus unserer Feder
stammt, der identisch mit dem Wortlaut des Bundesrats-
beschlusses ist und der auch wortgleich von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und sinngemäß, jedenfalls in der
Begründung, von der Fraktion Die Linke eingebracht
worden ist.

Weil das alles schon recht bekannt ist und die Diskus-
sion schon viele Jahre geführt wurde,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja!)


kann ich verstehen, dass der eine oder andere es nicht
gerade als sensationell empfindet,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie sagen es!)


dass er sich heute Abend noch damit befassen muss,
Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Mayer.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist immer wieder nötig!)


Ich kann Ihnen das aber nicht ersparen;


(Beifall bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Doch, das können Sie!)


denn wir sprechen von ungefähr 4 Millionen Menschen,
die in Deutschland leben und die weder den deutschen
Pass noch einen Pass aus einem Mitgliedstaat der Euro-
päischen Union haben. Es handelt sich um Ausländerin-
nen und Ausländer aus sogenannten Drittstaaten, also
aus Staaten außerhalb der Europäischen Union. Um de-
ren Mitwirkungsmöglichkeit im kommunalen Bereich
– wir wollen ihre Teilhabe an der Gesellschaft, wir wol-
len eine Mitmachgesellschaft – geht es.


(Beifall bei der SPD)


Die genannte Zahl ist nicht klein. Berlin hat, wie ich
heute gelesen habe, aufgrund des Bevölkerungswachs-
tums derzeit 3,4 Millionen Einwohner zu verzeichnen.
Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn eine solche Zahl
an Deutschen auf diese Art und Weise von der Wahl aus-
geschlossen ist.





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

Im Übrigen: Wenn wir uns die Situation bei kommu-
nalen Wahlen genau anschauen, dann stellt man fest,
dass es praktisch drei Gruppen gibt. Es gibt dort, wo
viele Menschen mit ausländischem Pass leben, ungefähr
ein Drittel, das nicht wählen darf, ein Drittel, das nicht
wählen will, und ein Drittel, das wählen geht. Sie sind
es, die über die Zusammensetzung der Kommunalparla-
mente entscheiden. Man kann nicht sagen, dass das eine
zufriedenstellende demokratische Legitimation ist. Wir
wünschen uns mehr Beteiligung von allen, die hier le-
ben. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Warum nur auf kommunaler Ebene?)


– Herr Kollege, das will ich Ihnen gleich erklären.

Vorher will ich Ihnen aber eine Frage stellen – dazu
ist die Stunde nun doch noch nicht zu spät –: Was haben
der Freiherr vom Stein, die Kollegin Leutheusser-
Schnarrenberger von der FDP und die CDU-Oberbürger-
meisterin der Stadt Frankfurt gemeinsam? Alle drei sind
für das kommunale Ausländerwahlrecht: Der Freiherr
vom Stein schon 1808 im Bereich seiner Städteordnung,
die er damals geschaffen hat. Frau Roth hat damals an-
lässlich der Oberbürgermeisterwahlen geäußert: Wir hat-
ten bis jetzt etwa 50 000 wahlberechtigte EU-Ausländer.
Wenn alle Ausländer wählen dürften, hätten wir rund
140 000 Wahlberechtigte. Ich hätte gerne, dass diese üb-
rigen 90 000 Frankfurter ebenfalls wählen dürften. – Das
finde ich richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat am 21. August
2009 gesagt, dass sie die Kampagne „Demokratie
braucht jede Stimme“ für ein kommunales Ausländer-
wahlrecht in Bayern unterstütze. Die Arbeitsgemein-
schaft der Ausländerbeiräte Bayerns hat sie dafür aus-
drücklich gelobt.


(Serkan Tören [FDP]: Das hat nichts mit Ihrem Antrag zu tun!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren der Koali-
tion, fassen Sie sich ein Herz und überlegen Sie, ob Sie
dieser Verfassungsänderung nicht doch zustimmen soll-
ten.

Was spricht denn dagegen? Gerade aus Ihrem Bereich
wird immer wieder geäußert: Wahlrecht setzt Staatsbür-
gerschaft voraus. Sie sind aber nicht konsequent und
ehrlich genug, um zu sagen: Dann lassen Sie uns bitte
einmal die Voraussetzungen für die Einbürgerung er-
leichtern, damit wir wenigstens annähernd solche Zahlen
haben wie beispielsweise Schweden oder die Nieder-
lande.


(Beifall bei der SPD)


Deutschland hinkt bei den Einbürgerungszahlen im EU-
Vergleich weit hinterher.


(Serkan Tören [FDP]: Sie haben die Einbürgerungsvoraussetzungen erschwert!)

Wenn, dann seien Sie bitte auch konsequent: Stimmen
Sie den Veränderungen im Bereich des Staatsbürger-
schaftsrechtes zu. Dann kann ich Ihr Argument ernst
nehmen, sonst nicht.

Ich vermag nicht einzusehen, warum jemand die deut-
sche Staatsbürgerschaft braucht, um auf kommunaler
Ebene beispielsweise zu entscheiden, ob in einem Be-
bauungsplan genügend Freiraum für Spielflächen für
Kinder vorgesehen ist. Ich vermag nicht zu erkennen,
warum man die deutsche Staatsbürgerschaft braucht, um
verantwortungsvoll entscheiden zu können, in welcher
Weise und mit welchen Finanzmitteln Kindergärten oder
Schulen gebaut werden sollen. Man braucht die deutsche
Staatsbürgerschaft auch nicht, um auf kommunaler
Ebene zu entscheiden, dass man ein städtisches Kran-
kenhaus nicht an irgendjemanden verhökert und ver-
kauft. So ließe sich die Reihe der Beispiele ohne weite-
res fortsetzen.

Wir haben – dieses Argument von Ihnen kenne ich
schon – anlässlich der Expertenanhörung im Innenaus-
schuss des Bundestages sieben Experten gehört. Sechs
davon waren Juristen. Nun gibt es ja das böse Sprich-
wort: Zwei Juristen, drei Meinungen. Ich sage Ihnen
aber einmal: Unter diesen sieben Sachverständigen – wie
gesagt, sechs Juristen darunter – gab es nur zwei mit ei-
ner abweichenden Meinung.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das waren aber die maßgeblichen!)


Sie haben gesagt: Es gibt verfassungsrechtliche Beden-
ken, Ausländern, die aus Drittstaaten kommen, das kom-
munale Wahlrecht einzuräumen.

Kollege Mayer, die ganze Diskussion knüpft an die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den
Ländergesetzen von Schleswig-Holstein und Hamburg
aus dem Jahr 1990 an. Damals gab es noch nicht, was
dann zum 31. Dezember 1992 beschlossen worden ist,
nämlich die Bestimmung, dass alle EU-Ausländer bei
Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. Nun weiß ich
auch, dass man nicht jeden Sachverhalt über einen
Kamm scheren kann. Es gibt sicherlich Unterschiede
– das verkenne ich nicht –, aber ich bestreite entschieden
– so hat es auch die Mehrheit der Sachverständigen ge-
tan –, dass es eine unüberwindbare verfassungsrechtli-
che Hürde für die Einführung des Kommunalwahlrechts
für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt.
Das setzt eine Verfassungsänderung voraus. Wir Sozial-
demokraten wollen das schon sehr lange. Wir wollen das
auch weiterhin. Wir werben bei Ihnen allen um entspre-
chende Unterstützung.

Ich darf meinen Appell wiederholen: Nehmen Sie
sich ein Beispiel an Frau Roth, der Oberbürgermeisterin
von Frankfurt. Sie hat Erfahrung im Umgang mit Mi-
grantinnen und Migranten. Frankfurt hat einen sehr ho-
hen Ausländeranteil. Nehmen Sie sich auch ein Beispiel
an unserer jetzigen Justizministerin, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger.


(Gisela Piltz [FDP]: Jederzeit! Gute Frau!)






Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

Dann bekommen wir in diesem Haus und in der zweiten
Kammer vielleicht eine Verfassungsänderung hin. Das
würde ich mir wünschen. Wir wollen das. Wir wollten
das schon immer. Es bleibt dabei. Wir werden dieses
Projekt weiter intensiv verfolgen.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703431700

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1703431800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die letzte Debatte über das Thema „Kommunalwahl-
recht für Ausländer“ haben wir, Herr Veit, vor zehn Mo-
naten, am 28. Mai 2009, geführt. An der Sachlage hat
sich seitdem nichts geändert. Ihre Argumente haben sich
auch nicht geändert. Insofern werden Sie nicht böse sein,
dass sich an der Position der CDU/CSU-Fraktion auch
nichts geändert hat.

Ich würde mich aber freuen, Herr Kollege Veit, wenn
die Opposition hier einmal mit neuen, weiterführenden
Ideen kommen würde, wie man die Integration der Men-
schen mit Migrationshintergrund weiter verbessern
kann, anstatt hier immer wieder die gleichen Anträge zu
stellen, mit denen Sie den Menschen tatsächlich in ihrer
konkreten Lebenssituation überhaupt nicht helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie werden doch nicht ernsthaft behaupten, dass die
Integration von Migranten in den Ländern, in denen es
ein Kommunalwahlrecht für Ausländer gibt, signifikant
besser gelungen ist. Nein, unsere ausländischen Mitbür-
ger wollen Angebote zur Verbesserung ihrer Sprachkom-
petenz. Sie wollen gute Perspektiven für ihre Kinder im
Kindergarten und in der Schule. Außerdem wollen sie,
dass die Arbeitslosigkeit bei Ausländern nicht immer
deutlich höher ist als bei den deutschen Arbeitnehmern.
In all diesen Feldern echter Integrationspolitik sind wir
unter der Verantwortung von Bundeskanzlerin Angela
Merkel und der im Kanzleramt angesiedelten Staatsmi-
nisterin für Integration, Maria Böhmer, gut vorangekom-
men. Das ist konkrete Integrationspolitik. Davon haben
unsere ausländischen Mitbürger etwas, aber nicht von
Ihren relativ sinnentleerten Anträgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Vertreter der Oppositionsparteien wissen ganz ge-
nau, dass es gravierende verfassungsrechtliche Gründe
gibt, die gegen ein Kommunalwahlrecht für Ausländer
sprechen. Diese Bedenken können, wie uns Verfassungs-
rechtler bei der bereits angesprochenen öffentlichen An-
hörung im Jahre 2008 erklärt haben, auch nicht durch
eine Verfassungsänderung ausgeräumt werden. Eine Er-
weiterung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsange-
hörige über den Kreis der EU-Bürger hinaus wird von ei-
ner Reihe von Verfassungsrechtlern als Verstoß gegen
die verfassungsrechtliche Ordnung schlechthin betrach-
tet.

Der Grundsatz, wonach alle Staatsgewalt vom Volke
ausgeht, unterliegt der Ewigkeitsgarantie des Art. 20
Grundgesetz und kann selbst durch eine Verfassungsän-
derung nicht außer Kraft gesetzt werden. Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das
Staatsvolk in der Bundesrepublik Deutschland das deut-
sche Volk und wird von den deutschen Staatsangehöri-
gen gebildet. Eine Ausnahme – das ist wahr – kann es in-
soweit nur für die Staatsangehörigen anderer Länder der
Europäischen Union geben, weil ihnen nach dem Vertrag
von Maastricht die Unionsbürgerschaft zukommt, die
auch das kommunale Wahlrecht umfasst.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehen Sie!)


Bei den Kommunalwahlen regeln die Bürger einer
Gemeinde, einer Stadt oder eines Landkreises ihre örtli-
chen Angelegenheiten. Es geht um das Wohl der Kom-
mune, die die Menschen im Blick haben.


(Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Die Frage ist, Herr Kollege Veit, ob ein ausländischer
Mitbürger, der nicht der Unentrinnbarkeit der deutschen
Staatsgewalt unterliegt, weil er nicht zum deutschen
Staatsvolk gehört und sich dementsprechend jederzeit
der Wirkung der Staatsgewalt entziehen könnte, bei sei-
ner Wahlentscheidung auch nur das Wohl der Kommune
im Blick hat.

Daran – das sage ich Ihnen ganz offen – wird man
Zweifel haben dürfen, wenn man die jüngsten Reden des
türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan nachliest.

Erdoğan hat seine Landsleute in Deutschland aufge-
rufen, die deutsche Staatsbürgerschaft in Form der dop-
pelten Staatsbürgerschaft zu erwerben, um mehr Einfluss
für türkische Interessen ausüben zu können. Wenn also
schon bei doppelten Staatsbürgern zu befürchten ist, dass
aus dem Loyalitätskonflikt ein Loyalitätsverzicht gegen-
über dem deutschen Staat wird, dann ist eine solche Be-
fürchtung erst recht angebracht, wenn es sich um Perso-
nen handelt, die ausschließlich nur die türkische
Staatsbürgerschaft besitzen, obwohl sie zum Teil viele
Jahre in unserem Land leben.

Herr Veit, Sie haben gesagt: Lass sie doch entschei-
den, ob Schulen gebaut werden. – Ich will, dass sie da-
rüber entscheiden, wie die Schulen für die Schüler in-
haltlich gut gemacht werden. Ich will nicht, dass sie über
türkische Gymnasien entscheiden, um das ganz klar zu
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk sind die drei
Säulen, auf denen die Staatlichkeit eines Gemeinwesens
ruht. Unklarheiten führen dabei – das lehrt uns die Ge-
schichte in vielen Ländern – nur zu Konflikten. Deshalb
bin ich für Klarheit: Wer als Ausländer sich gut integriert
hat, auf Dauer bei uns leben möchte und wer auf die Ge-
staltung seines Gemeinwesens, von der Gemeinde bis





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

hin zur Bundesebene, Einfluss nehmen will, der ist herz-
lich eingeladen, die deutsche Staatsbürgerschaft unter
Verzicht auf seine bisherige Staatsangehörigkeit zu er-
werben. Dann kann er auf allen staatlichen Ebenen durch
ein aktives und passives Wahlrecht Einfluss nehmen.

Es bleibt bei unserem Grundsatz: Die Verleihung der
deutschen Staatsbürgerschaft und der Erwerb des akti-
ven und passiven Wahlrechts stehen am Ende eines ge-
lungenen Integrationsprozesses und sind keine Eintritts-
karte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein Wahlrecht für alle staatlichen Ebenen macht auch
insoweit Sinn, als viele Fragen, die die Menschen mit
Migrationshintergrund in besonderer Weise betreffen,
eben im Landtag oder Bundestag entschieden werden.
Ein Kommunalwahlrecht für Ausländer würde den An-
trieb, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, wei-
ter erlahmen lassen. Im Ergebnis würde es die Integra-
tion also nicht befördern, sondern behindern.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703431900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703432000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Grindel, ich frage mich wirklich, von wo Sie immer
Ihre Argumente hervorzaubern.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Aus dem Grundgesetz! – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Ganz einfach: aus dem Kopf!)


Sie sagen, Drittstaatsangehörigen oder ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern könne man kein kom-
munales Wahlrecht geben. Diese Menschen sind nach
Ihrer Auffassung offenbar nicht in der Lage, im Interesse
bzw. zum Wohle der Kommune zu entscheiden.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn zu Erdoğan?)


Seit 1992 gibt es das kommunale Wahlrecht für EU-
Bürgerinnen und EU-Bürger, die nicht deutsche Staats-
angehörige sind. Wollen Sie jetzt behaupten, dass Mil-
lionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die in Deutsch-
land das kommunale Wahlrecht haben, nicht zum Wohl
der Kommune entscheiden, sondern für irgendetwas an-
deres? Ich finde, das sollten Sie sich sparen.

Sie möchten die Integration mit der sozialen Frage
verbinden; auch das ist für meine Ohren neu. Aber bei
diesem Thema geht es nicht nur um Integration. Hier
geht es um Gleichstellung, hier geht es auch um Partizi-
pation, und hier geht es um das Kernstück der Demokra-
tie: Wir wollen mehr als 4 Millionen Menschen das
Recht einräumen, sich an Wahlen zu beteiligen. Dieses
Recht möchten wir diesen Menschen nicht vorenthalten.
Deshalb unterstützen wir diese Initiative selbstverständ-
lich.

Es geht bei diesem Thema um Gleichstellung. In 16
der 27 EU-Mitgliedstaaten wurde das kommunale Wahl-
recht für Drittstaatsangehörige, wenn auch mit unter-
schiedlichen gesetzlichen Bestimmungen, bereits reali-
siert. Es kann also keine Rede davon sein, dass diese
Menschen nicht im Interesse der Kommune entscheiden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber die Integration ist dadurch auch nicht besser!)


Es wurde deutlich: Das Verständnis, das Schwarz-Gelb
von Integration hat, ist offenkundig gleichbedeutend mit
Ungleichheit; denn Sie wollen die bestehende Ungleich-
heit zementieren.

Ich möchte mich auch an Herrn Veit und die SPD
wenden. Es ist nicht zu verhehlen – da hat Herr Grindel
recht –: Es ist Wahlkampf. Ich frage Sie, Herr Veit: Was
ist innerhalb der letzten zehn Monate passiert? Noch vor
zehn Monaten haben Sie hier im Bundestag bei einer na-
mentlichen Abstimmung gegen das kommunale Wahl-
recht für Drittstaatenangehörige gestimmt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach was! So ist das also! Das ist ja interessant!)


Aber jetzt, kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein-
Westfalen, meinen Sie Ihr vermeintliches Herz für Mi-
grantinnen und Migranten entdecken zu müssen.

Auch in diesem Kontext ist zu sehen, dass Sie heute
eine Pressekonferenz einberufen haben, und zwar nur
deshalb, um zu Ihrem heute zu beratenden Gesetzent-
wurf Stellung zu nehmen. Das macht Sie nicht glaub-
würdiger. Sie haben es in Ihren elf Regierungsjahren
nicht geschafft, bei diesem Thema eine Initiative auf den
Weg zu bringen. Herr Veit, wo war die SPD in diesen elf
Regierungsjahren? Warum haben Sie keine Initiative er-
griffen, um Drittstaatenangehörigen das Wahlrecht zu-
mindest auf der kommunalen Ebene zu geben? Sie haben
nichts getan. Jetzt, kurz vor der Landtagswahl in NRW,
wollen Sie etwas tun. Das ist für die SPD schändlich,
Herr Veit.


(Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner [FDP]: Ihr habt das doch in 40 Regierungsjahren nicht hinbekommen!)


Sie sagen – insbesondere von der Union, aber auch
von der FDP hört man das immer wieder –, die Men-
schen sollen sich einbürgern lassen und deutsche Staats-
angehörige werden; dann können sie auch von ihrem
Wahlrecht Gebrauch machen. Ich frage mich: In welcher
Welt leben Sie eigentlich? Sie haben das Staatsangehö-
rigkeitsgesetz in den letzten Jahren immer weiter ver-
schärft. Im September 2008 haben Sie den Einbürge-
rungstest eingeführt. Die vorherige rot-grüne Regierung
hat das Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahre 2000 refor-
miert. Auch diese Reform hat übrigens zu einem Rück-
gang der Zahl der Einbürgerungen geführt.





Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Der Einbürgerungstest, den Sie im Jahr 2008 einge-
führt haben, hatte zur Folge, dass die Zahl der Einbürge-
rungen im Jahr 2009 im Vergleich zu 2008 um
19 Prozent gesunken ist. Seit dem Jahr 2000, also seit
der großen Reform unter Rot-Grün, beträgt der Rück-
gang 55 Prozent. Es ist also Quatsch, zu sagen: Die
Leute sollen sich einbürgern lassen. – Vielmehr müssen
wir Einbürgerungen massiv erleichtern,


(Beifall bei der LINKEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir müssen die Integration verbessern!)


damit die Menschen überhaupt eingebürgert werden und
bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai
Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen können. Wir
brauchen aber auch ein kommunales Wahlrecht, damit
wir – aus demokratietheoretischen Gründen sage ich das,
Herr Grindel – in Deutschland weniger demokratiefreie
Zonen haben. Wie können Sie in den Kommunen Stadt-
räte legitimieren, wenn dort 30 oder 35 Prozent der Be-
völkerung an den Wahlen nicht teilnehmen können?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703432100

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703432200

Ich komme zum Schluss. Wir als Linke fordern de-

mokratische und soziale Rechte für alle in Deutschland
lebenden Menschen – und das, liebe SPD, nicht nur
dann, wenn sie uns gerade mal wahltaktisch genehm
sind.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703432300

Nun hat der Kollege Serkan Tören für die FDP-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1703432400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die wichtigsten Orte der Integration sind jene, in denen
das alltägliche Leben stattfindet. Das ist dort, wo unsere
Kinder zur Schule gehen, wo wir Mitglied in Sportverei-
nen sind und wo es um Bebauungspläne für Wohnge-
biete geht. Gerade vor Ort ist es von besonderer Bedeu-
tung, dass sich Migranten politisch einbringen und die
Entscheidungen mitgestalten können. Es existieren dort
bereits einige Modelle, so zum Beispiel Ausländerbei-
räte und Integrationsräte. Ich spreche aber ein offenes
Geheimnis an, wenn ich sage, dass deren Sinnhaftigkeit
zweifelhaft ist. Denn diese Gremien werden de facto nur
sehr schlecht angenommen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Die haben ja auch nichts zu sagen! Kein Wunder!)


Ich will nur auf die letzten Integrationswahlen in NRW
verweisen. Da lag die Wahlbeteiligung bei nur 11 Pro-
zent. Hören Sie sich das genau an: nur 11 Prozent. Ein
Gremium zu wählen, das die wirklich entscheidungsbe-
rechtigten Kommunalvertretungen nur berät, ist nun ein-
mal nicht sonderlich attraktiv.

Die FDP hat sich schon immer für eine Ausweitung
demokratischer Mitbestimmung und für eine Verbesse-
rung politischer Teilhabe von Migranten eingesetzt, al-
lerdings immer unter bestimmten Voraussetzungen und
unter dem klaren Leitbild eines mündigen Bürgers, der
sich in die öffentlichen Belange einmischt und auch ein-
mischen kann.

Die Linke und die SPD fordern als einzige Vorausset-
zung dafür, das Kommunalwahlrecht zu erlangen, den
ständigen Wohnsitz. Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist
nicht ausreichend. Das ist schwammig. Das zeigt auch,
dass Sie sich mit Ihrem eigenen Antrag überhaupt nicht
beschäftigt haben.


(Beifall bei der FDP)


Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, führen benachbarte Länder wie Belgien, Schweden
oder auch Irland als glänzende Beispiele an. Dann möchte
ich Ihnen auch mal erzählen, wie es dort tatsächlich aus-
sieht: Erstens. Die Wahlbeteiligung der Migranten ist in
diesen Ländern stets niedriger als die der Staatsbürger
ohne Migrationshintergrund.


(René Röspel [SPD]: Mövenpicker!)


Zweitens. Besonders niedrig ist dabei die Wahlbeteili-
gung in Gemeinden mit einem hohen Migrantenanteil.
Drittens. Migranten in diesen Ländern nehmen das pas-
sive Wahlrecht – wenn überhaupt – nur sehr selten wahr.
Das hat natürlich Gründe: Dazu zählen eine mangelnde
Kenntnis der jeweiligen politischen Systeme, oft auch ein
anderes kulturelles Verständnis von Interessenvertretun-
gen, teilweise auch die geringe Bereitschaft der Parteien,
sich zu öffnen, oder einfach ein genereller Politikver-
druss, wie man ihn auch bei Deutschen hier in Deutsch-
land kennt.


(René Röspel [SPD]: Halten Sie die Teilnahme an Demokratie nicht für ein Grundrecht?)


All diese Punkte zeigen: Das Wahlrecht ist nicht – so
behaupten es die Damen und Herren der Linken – die
entscheidende Komponente erfolgreicher Integrations-
politik. Es sollte auch bitte nicht als solche verkauft wer-
den. Damit machen Sie es sich viel zu einfach.


(Beifall bei der FDP)


Auch das Argument der Ungleichbehandlung gegenüber
EU-Bürgern halte ich für nicht tragfähig, und ich wun-
dere mich darüber immer wieder. Anscheinend kennen
Sie die EU-Verträge und das, was damit verbunden ist,
nicht. Deutschland ist in die EU integriert. Es gibt diese
Verträge nun einmal. Sie müssen sie sich einmal genau
durchlesen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir als FDP können uns durchaus vorstellen, dass ein
Ausländerwahlrecht in bestimmten Kommunen sinnvoll
ist. Es muss dann allerdings an Bestimmungen geknüpft
sein. Wenn sich ein Drittstaatenausländer mindestens
fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhält, sollte es





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

den Kommunen grundsätzlich ermöglicht werden, ihm
das Wahlrecht zu verleihen. Dazu darf es aber keine
starre Vorschrift im Grundgesetz geben. Denkbar wäre
an dieser Stelle zum Beispiel eine Länderöffnungsklau-
sel nach dem Subsidiaritätsprinzip, die es den Ländern in
ihrer Hoheit ermöglicht, den Kommunen die Entschei-
dung über ein solches Ausländerwahlrecht und dessen
Voraussetzungen zu überlassen und es zu gestalten.


(Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Mit welcher Begründung eigentlich?)


Worum es in dieser Debatte tatsächlich geht, ist das
Ziel einer verbesserten Integration. Es geht um das Ziel
einer vollen gesellschaftlichen und politischen Teil-
nahme von Migrantinnen und Migranten in Deutschland.
Dazu ist das kommunale Wahlrecht sicherlich nicht das
geeignete Mittel. Der Königsweg ist und bleibt die Ein-
bürgerung. Gleichwohl: Wir alle kennen die ernüch-
ternde Situation, dass sich von 45 möglichen Personen
nur eine tatsächlich einbürgern lässt. Das ist nicht befrie-
digend. Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit
werben. Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen:
Ein paar warme Worte reichen nicht aus. Wir müssen
konkrete Anreize schaffen. Ein Ansatzpunkt kann die
zügigere Einbürgerung für besonders erfolgreich inte-
grierte Migranten sein. Indem die Einbürgerung von be-
stimmten Integrationsleistungen abhängt, gibt sie näm-
lich allgemeine Zielstellungen vor.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Und Linke dürfen nicht eingebürgert werden, nicht?)


Diese sind wichtig und unabdingbar für die Motivation
der Migranten, insbesondere aber für unser Gemeinwe-
sen. Ein Beispiel: Studiert ein junger Mensch erfolgreich
in Deutschland, lernt er Land und Leute kennen und
lernt er die Sprache, ist er hochqualifiziert, so sind dies
die Integrationsleistungen, die bei der Wartezeit Berück-
sichtigung finden sollten.

Meine Damen und Herren, man kann sich darüber
streiten – wir tun dies, auch heute –, ob die Einbürgerung
am Anfang oder am Ende einer erfolgreichen Integration
stehen sollte. Lassen Sie es mich so formulieren: Die
Einbürgerung ist ein Meilenstein im Integrationsprozess.
Die Zahl der Einbürgerungen zu steigern, muss in unser
aller Interesse sein.


(Rüdiger Veit [SPD]: Schöne Grüße an die CDU/CSU!)


Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer ist nichts
Halbes und nichts Ganzes. Sorgen wir dafür, dass Mi-
granten voll und ganz teilhaben an Staat und Gesell-
schaft! Sorgen wir dafür, dass Migranten sich voll und
ganz zu Staat und Gesellschaft als deutsche Patrioten be-
kennen!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703432500

Nächster Redner ist der Kollege Memet Kilic für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703432600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe gerade mit Erstaunen zur Kenntnis genommen,
dass die Unionsparteien eine Erweiterung des kommuna-
len Wahlrechts auf Drittstaatler für verfassungswidrig
halten


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da haben Sie aber nicht zugehört!)


und unsere Kollegen von der FDP eine Erweiterung des
kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatler für nicht erfor-
derlich halten, sich vielmehr dafür aussprechen, dass die
Kommunen das über eine Öffnungsklausel gestalten
können.


(René Röspel [SPD]: Aber nur, wenn es deutsche Patrioten waren! – Gisela Piltz [FDP]: Da haben Sie auch bei uns nicht zugehört!)


Das zeigt, dass die Koalitionsparteien noch einiges zu
klären haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir Grüne
einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des kommunalen
Wahlrechts auf Angehörige von Drittstaaten in den Bun-
destag eingebracht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In jeder Wahlperiode!)


Unser Entwurf wurde bedauerlicherweise mit den Stim-
men der Fraktionen CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt.
Es ist erfreulich und macht Hoffnung, dass die SPD un-
sere Meinung in dieser wichtigen Frage nun doch teilt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das tun wir eigentlich schon immer!)


Ein großer Teil unserer Bevölkerung, nämlich über
4 Millionen Menschen in Deutschland, darf an Wahlen
nicht teilnehmen. Der Ausschluss dieser Menschen aus
Drittstaaten von der politischen Teilhabe ist weder mit
dem Demokratieprinzip vereinbar noch mit einer erfolg-
reichen Integrationspolitik.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer im Jahr
1990 betont, dass es der demokratischen Idee entspricht,
eine Übereinstimmung zwischen der Wohnbevölkerung
und der Wahlbevölkerung herzustellen. Folgerichtig hat
es die Politik aufgefordert, möglichst viele dauerhaft in
Deutschland lebende Bürgerinnen und Bürger in das
Wahlrecht einzubeziehen.

Solange Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten das
kommunale Wahlrecht nicht erhalten, wird ein erhebli-
cher Teil unserer Gesellschaft von der wichtigsten politi-
schen Teilhabe in einer Demokratie ausgeschlossen. In
einigen Kommunen mit einem hohen Anteil an Immi-
grantinnen und Immigranten entstehen so demokratie-
freie Zonen.

Die Ausübung des kommunalen Wahlrechts ist aber
auch für die Integration der in Deutschland lebenden Im-
migrantinnen und Immigranten von großer Bedeutung.





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

Eine erfolgreiche Integration lässt sich nur durch Teil-
habe, also die Einräumung von Rechten, erreichen.

Ein wesentliches Recht in der Demokratie ist das
Wahlrecht. Die Notwendigkeit der politischen Teilhabe
von Immigrantinnen und Immigranten haben wir Deut-
sche und Europäer bereits 1992 erkannt und mit dem
Vertrag von Maastricht das kommunale Wahlrecht für
EU-Bürgerinnen und -Bürger eingeführt. Seitdem haben
jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger mit Wohn-
sitz in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht bei
kommunalen Wahlen. Die Erfahrungen damit sind äu-
ßerst positiv.

Dass das Demokratieprinzip und der Integrationsge-
danke für Nicht-EU-Immigranten nicht gelten soll, ist
sachlich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlich
höchst bedenklich; denn die Lebenssituation von Dritt-
staatsangehörigen unterscheidet sich nicht von der Le-
benssituation von EU-Bürgern und Deutschen. Es geht
um Menschen, die seit Jahren legal in Deutschland le-
ben, hier arbeiten und Steuern zahlen. Ihre Kinder besu-
chen gemeinsam mit unseren Kindern die Schule oder
den Kindergarten. Der einzige Unterschied ist, dass
diese Bürgerinnen und Bürger die Angelegenheiten ihrer
Kommune nicht mitbestimmen dürfen. Diese Einteilung
in Ausländer erster und zweiter Klasse ist ungerecht und
stellt eine institutionelle Diskriminierung dar.


(Beifall der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


In vielen anderen europäischen Ländern ist das kom-
munale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige eine Selbst-
verständlichkeit. In Finnland, Schweden, Dänemark, Est-
land, Luxemburg, Irland, Belgien und den Niederlanden
traut man den Drittstaatsangehörigen längst mehr zu, als
zu arbeiten, Steuern zu zahlen oder Fußball zu spielen.
Dort dürfen sie mitbestimmen, wenn es um das Schicksal
ihrer Kommune geht.

Deshalb fordern wir, das Grundgesetz dahin gehend
zu ergänzen, dass auch Nicht-EU-Bürgerinnen und -EU-
Bürger, die ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland ha-
ben, das Kommunalwahlrecht erhalten.

Ich bedanke mich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703432700

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1703432800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich möchte zunächst
einmal eines feststellen: Seit die CDU/CSU wieder in
Regierungsverantwortung ist, seit dem Jahr 2005, steht
das Thema Integration endlich wieder ganz oben auf der
politischen Tagesordnung.

(Rüdiger Veit [SPD]: Das habt ihr von uns gelernt!)


Wir reden nicht nur von Integration, wir machen auch et-
was für Integration.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn? – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das träumen Sie doch nur!)


Es gibt eine außerordentlich engagierte und sehr er-
folgreiche Integrationsbeauftragte der Bundesregierung,
Frau Staatsministerin Professor Böhmer. Wir als CDU/
CSU haben klargemacht, dass es nicht an den finanziel-
len Ressourcen scheitern darf, Ausländern oder auch
Aussiedlern die erforderlichen deutschen Sprachkennt-
nisse beizubringen. Das gilt sowohl für Ausländer und
Aussiedler, die schon länger in Deutschland sind, als
auch für die, die neu in unser Land kommen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn eingeführt?)


Wir haben auch in den Ländern einiges dafür getan,
dass wirklich praktische Integrationsarbeit vor Ort geleis-
tet werden kann. Ich möchte nur noch daran erinnern:
Bevor Jürgen Rüttgers Ministerpräsident in Nordrhein-
Westfalen wurde, bevor die CDU dort in Regierungsver-
antwortung kam, haben türkische Hauptschulabsolventen
aus Bayern im Fach Mathematik besser abgeschnitten als
deutsche Hauptschulabsolventen aus Nordrhein-Westfa-
len. Daran sieht man: Es gibt auch in den Bundesländern
ganz hervorragende und herausragende Beispiele für er-
folgreiche Integration.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinsichtlich
der jetzt zu behandelnden Gesetzentwürfe und des jetzt
zu behandelnden Antrages gilt es festzuhalten, dass ein
Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kommunalen Be-
reich gegen die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes,
gegen Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz, verstoßen würde.
Ebenso kann ich mich nur dem renommierten Staats-
rechtler Josef Isensee anschließen, der der Auffassung
ist, dass ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kom-
munalen Bereich auch gegen das Homogenitätsgebot ge-
mäß Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verstoßen würde.

Es ist nun einmal so, dass das Staatsvolk einheitlich
ist. Man kann das Staatsvolk bei einer Kommunalwahl
nicht anders definieren als bei einer Landtags- oder bei
einer Bundestagswahl.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen ist es nun einmal so, dass das Staatsvolk ge-
mäß Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz so definiert wird, dass
die Grundvoraussetzung dafür die deutsche Staatsange-
hörigkeit ist. Deswegen ist es auch richtig, dass das ak-
tive Wahlrecht sowohl im kommunalen Bereich als auch
im überregionalen Bereich an die deutsche Staatsange-
hörigkeit gebunden ist.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit den EU-Bürgern?)






Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Darüber hinaus würde ein Wahlrecht für Drittstaats-
angehörige im kommunalen Bereich gegen das Völker-
recht verstoßen. Im Völkerrecht gilt der Grundsatz, dass
eine Rechtsposition eines Landes nur gewährt wird,
wenn gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit das andere
Land die gleiche Rechtsposition dem ersteren Land auch
gewährt. Dieser Grundsatz des Völkerrechts wäre also
nicht eingehalten.

Darüber hinaus möchte ich auch klarmachen, dass das
Kommunalrecht und der kommunale Bereich keine Ver-
suchsfelder sein können. Es geht hier auch um elemen-
tare Entscheidungen, die die Menschen vor Ort teilweise
unmittelbarer betreffen als manche Entscheidungen, die
auf Landes- oder Bundesebene getroffen werden. Ich
warne davor, das Kommunalwahlrecht hier als Versuchs-
kaninchen zu betrachten.

Abgesehen davon bitte ich schon, sich noch einmal
deutlich vor Augen zu führen, dass in den EU-Ländern,
in denen Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht im kom-
munalen Bereich eingeräumt wurde, die Wahlbeteili-
gung durch die Bank bei weit unter 30 Prozent liegt.
Man sieht also ganz konkret: Es wird von diesem kom-
munalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige nicht Ge-
brauch gemacht.

Ich glaube, eines sollte auch in aller Deutlichkeit fest-
gehalten werden: Eine erfolgreiche Integration kann
nicht mit dem Gewähren des aktiven und passiven Wahl-
rechts im kommunalen Bereich erreicht werden. Die
Möglichkeit, sich im kommunalen Bereich aktiv und
passiv an Wahlen zu beteiligen, kann erst am Ende einer
erfolgreichen Integration stehen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


Darauf gilt es meines Erachtens auch in aller Deutlich-
keit hinzuweisen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703432900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dağdelen?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber hier keine Nachtgedanken!)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1703433000

Ich bin auch zu später Stunde selbstverständlich noch

gerne bereit, die Frage zu beantworten.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703433100

Vielen Dank, das ist der bayerische Charme. – Ich

habe wirklich nur eine ganz kurze Frage. Sie haben auf
die niedrige Wahlbeteiligung der Drittstaatsangehörigen
in den EU-Ländern hingewiesen, in denen es das kom-
munale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige gibt.

Herr Kollege Mayer, in Deutschland – sowohl auf
kommunaler Ebene als auch bei Landtagswahlen oder
bei der Bundestagswahl – beklagen sehr viele Organisa-
tionen, selbst die Parteien, dass die Wahlbeteiligung im-
mer geringer wird.

(Gisela Piltz [FDP]: Ich dachte, das ist eine kurze Frage!)


Immer mehr Menschen bleiben zu Hause.

Würde man Ihrer Logik folgen, müsste man eventuell
auch den Deutschen das Wahlrecht wieder entziehen,
weil sie sich an den Wahlen nicht beteiligen.


(Zuruf von der FDP: Also bitte! Es ist zwar schon sehr spät, aber …!)


Sehe ich das richtig?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Frage war jetzt unverzichtbar! Die musste sein! – Zuruf von der FDP: Das müssen Sie nicht beantworten!)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1703433200

Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie sehen das eklatant

falsch. Es ist vollkommen richtig, dass wir mehr dafür
tun müssen, Ausländer in Deutschland dafür zu interes-
sieren, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen,
insgesamt mehr Interesse an einer Partizipation an der
Gesellschaft an den Tag zu legen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie mal Vorschläge!)


Aber ich bin dezidiert der Auffassung, dass dieser rich-
tige Wunsch nicht dadurch erfüllt wird, dass man auslän-
dischen Mitbürgerinnen oder Mitbürgern das kommu-
nale Wahlrecht gibt. Ganz im Gegenteil: Wenn ich bei
mir im Wahlkreis mit Ausländerinnen und Ausländern
spreche, dann sagen sie nicht, dass es ihr hehrster
Wunsch ist, endlich an Kommunalwahlen teilzunehmen.
Sie sagen, dass sie ordentlich geleistete Integrations-
arbeit an den Schulen wollen. Sie wollen natürlich auch
einen Job; sie wollen Arbeit, mit der sie auch ihre Fami-
lie ernähren können. Sie wollen, was das gesellschaftli-
che Leben insgesamt anbelangt, gleich behandelt wer-
den. Aber ich habe noch von keinem ausländischen
Mitbürger den Wunsch gehört, endlich an einer Kommu-
nalwahl teilzunehmen zu können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In meinem Wahlkreis ist das anders!)


Vor diesem Hintergrund sehe ich dieses Thema derzeit
als absolut am unteren Ende der politischen Agenda an-
gesiedelt an.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, mir fehlt in Ihren Anträgen bzw. Gesetz-
entwürfen vor allem auch ein Hinweis darauf, welche
Mindestaufenthaltszeit erfüllt sein sollte, damit ein Aus-
länder sein aktives und passives Wahlrecht im Kommu-
nalbereich wahrnehmen kann.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das Ihre Meinung ist, dann konkretisieren Sie das mal!)


Nach Ihren Anträgen bzw. Gesetzentwürfen dürfte ein
Ausländer, auch wenn er sich nur drei oder sechs Monate
in Deutschland aufhält, in seiner Heimatgemeinde an der





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Kommunalwahl teilnehmen. Das ist doch in jeder Hin-
sicht absurd und vollkommen illusorisch.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: EUBürger dürfen das!)


Wenn dann immer wieder gesagt wird: „Wir haben
doch jetzt seit den 90er-Jahren auch das kommunale
Wahlrecht für EU-Ausländer“, dann bitte ich dabei zu
bedenken, dass in Deutschland der Grundsatz gilt: Glei-
ches muss gleich und Ungleiches muss ungleich behan-
delt werden.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben eben vom Staatsvolk geredet, zu dem man gehören muss, um teilnehmen zu können! Sie sind widersprüchlich!)


Es besteht nun einmal ein Unterschied zwischen einem
EU-Ausländer und einem Drittstaatsangehörigen. In der
Präambel unseres Grundgesetzes gibt es den ganz klaren
Hinweis, dass es unser Ziel ist, uns in die Europäische
Union zu integrieren. Es gibt den Art. 23 des Grundge-
setzes. Es gilt festzuhalten, dass ein elementarer Unter-
schied zwischen EU-Ausländern und Drittstaatsangehö-
rigen besteht. Deswegen ist es meines Erachtens nur
folgerichtig und sachgerecht, dass EU-Ausländern sehr
wohl das aktive und passive Kommunalwahlrecht einge-
räumt wird, Drittstaatsangehörigen hingegen nicht.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen sich unbeliebt bei Ihren Leuten, wenn Sie hier endlos reden! Das waren gefühlt schon 16 Minuten!)


Es ist schon auf die meines Erachtens sehr bemer-
kenswerte Rede des türkischen Ministerpräsidenten
Recep Tayyip Erdoğan vom 27. Februar in Istanbul hin-
gewiesen worden. Manche Passagen daraus – ich zitiere
nur: Wir sind alle Geschwister; wir sind Kinder dessel-
ben Stammes – zeigen meines Erachtens schon, wes
Geistes Kind Tayyip Erdoğan ist.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja kein Vorbild für uns! Jetzt grenzen Sie sich mal davon ab!)


Letzten Endes geht es ihm darum, ein Pantürkentum zu
schaffen. Demzufolge besteht meines Erachtens die
eklatante Gefahr, dass, wenn es das kommunale Auslän-
derwahlrecht für Drittstaatsangehörige gäbe, offenkun-
dig die Möglichkeit bestände, dass auf die in Deutsch-
land lebenden Türken bei Kommunalwahlen
entsprechend eingewirkt werden würde. Die Möglich-
keit der Instrumentalisierung ist meines Erachtens bei-
leibe nicht von der Hand zu weisen. Das ist meiner Mei-
nung nach auch ein entscheidender Grund, sich
vehement gegen ein aktives und passives kommunales
Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auszusprechen. Des-
wegen kann ich zum Schluss nur in aller Deutlichkeit
festhalten: Es ist sowohl dem Gesetzentwurf der SPD-
Fraktion als auch dem der Grünen-Fraktion sowie dem
Antrag der Linkspartei die Absage zu erteilen.
Ich bitte Sie, endlich die Argumente zur Kenntnis zu
nehmen und die Debatte über ein kommunales Wahl-
recht für Drittstaatsangehörige in Deutschland zu been-
den. Lassen Sie uns die Zeit lieber darauf verwenden,
uns damit zu befassen, was wir machen können, um die
in Deutschland lebenden Ausländer noch besser und in-
tensiver in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703433300

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird

Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1047,
17/1150 und 17/1146 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
terrichtung der Bundesregierung

Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über das
Inverkehrbringen und die Verwendung von

(Text von Bedeutung für den EWR)

ADD 2)

(ADD 1 in Englisch)

KOM(2009) 267 endg.; Ratsdok. 11063/09

– Drucksachen 17/136 Nr. A.94, 17/1218 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing, Josef
Göppel, Dr. Bärbel Kofler, Dr. Lutz Knopek, Ralph
Lenkert und Dorothea Steiner.1)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1218, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Gleichwohl müssen wir
auch über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.

1) Anlage 9





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, wei-
terer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE
Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: Riester-
Faktor streichen – Keine nachholenden Ren-
tendämpfungen vornehmen
– Drucksache 17/1145 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. – Sie sind damit einver-
standen. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben dies
getan: Peter Weiß, Max Straubinger, Anton Schaaf,
Dr. Heinrich Kolb, Matthias Birkwald und Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1145 an die in der Tagesordnung vorge-
sehenen Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Anbau von gentechnisch veränderter Kartof-
fel Amflora verhindern
– Drucksache 17/1028 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier wurde interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. – Auch hier sind Sie da-
mit einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und
Kollegen: Carola Stauche, Josef Rief, Elvira Drobinski-
Weiß, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Kirsten
Tackmann und Ulrike Höfken.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1028 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Modernisierungspartnerschaft mit Russland –
Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stär-
kere Kooperation und Verflechtung
– Drucksache 17/1153 –

1) Anlage 10
2) Anlage 11
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wird vorgeschlagen, auch hier die
Reden zu Protokoll zu geben. – Auch damit sind Sie
einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und Kolle-
gen: Karl-Georg Wellmann, Franz Thönnes, Dr. Bijan
Djir-Sarai, Wolfgang Gehrcke und Marieluise Beck.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1153 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 18 sowie
Zusatzpunkt 6:

18 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Altschulden der ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen streichen
– Drucksache 17/1148 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Altschuldenentlastung für Wohnungsunter-
nehmen in den neuen Ländern
– Drucksache 17/1154 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Parlamentarischer
Staatssekretär Jan Mücke, Volkmar Vogel, Hans-
Joachim Hacker, Petra Müller, Heidrun Bluhm und
Stephan Kühn.


Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1703433400

20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir lei-

der immer noch mit den Altlasten der DDR-Vergangen-
heit zu kämpfen – auf vielen Gebieten des gesellschaftli-
chen Lebens.

Eines der wichtigsten Felder war ein menschenwür-
diges Wohnumfeld, und zwar überall. Ein intakter, be-
zahlbarer und sozial ansprechender Wohnungsmarkt ist
unser Ziel. Gerade ostdeutsche Wohnungsunternehmen
stehen vor großen Herausforderungen, die sie meistern
müssen. Dazu gehören die zu DDR-Zeiten aufgebürde-
ten Altschulden und gleichzeitig hoher Leerstand durch
Wegzug und demografischen Wandel.

3) Anlage 12

Volkmar Vogel (Kleinsaara)



(A) (C)



(D)(B)

Um es klar zu sagen: Alle Akteure am ostdeutschen
Wohnungsmarkt haben Hervorragendes geleistet in den
letzten Jahren. Die christlich-liberale Koalition wird
das weiterentwickeln, was sie bereits 1993 mit dem Alt-
schuldengesetz auf den Weg brachte. Auch das Pro-
gramm Stadtumbau Ost wird fortgesetzt und durch wei-
tere Felder ergänzt.

Wir haben in unserem Koalitionsvertrag festgehalten,
dass „beim Stadtumbau Ost die Aufwertung von Innen-
städten und die Sanierung von Altbausubstanz gestärkt
und der Rückbau der technischen und sozialen Infra-
struktur besser berücksichtigt werden soll. Der Erfolg
des Programms soll nicht durch ungelöste Altschulden-
probleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Abriss
von Wohnungsleerstand gefährdet werden.“ Damit ha-
ben wir einen klaren Arbeitsauftrag formuliert, den die
Koalitionsfraktionen und die Regierung sorgfältig,
überlegt und zielführend umsetzen.

Zugleich möchte ich auch noch mal deutlich die bis-
herigen Leistungen hervorheben. Denn im Rahmen des
Solidarpaktes I von 1993 – nach dem Altschuldengesetz

(AHG) vom 23. Juli 1993 – wurden bereits 14 Milliarden

Euro an Teilentlastungen und 2,6 Milliarden Euro an
Zinshilfen gezahlt. Den Wohnungsgesellschaften und
Genossenschaften, deren Existenz infolge Leerstands
gefährdet ist – und dies ist ab einer Leerstandsquote von
15 Prozent der Fall –, erhalten zusätzlich eine Altschul-
denentlastung nach der Härtefallregelung des Paragra-
fen 6 a AHG, soweit diese ihren Antrag bis zum
31. Dezember 2003 bei der Kreditanstalt für Wiederauf-
bau eingereicht haben.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1703433500

Mit dem seit 2002 laufenden Förderprogramm Stadt-

umbau Ost konnte ein Meilenstein für die Entwicklung
ostdeutscher Städte gesetzt werden. Das milliarden-
schwere Programm hat es ermöglicht, städtebauliche
Fehlentwicklungen zu korrigieren und Quartiere aufzu-
werten. Das Programm geht auf eine Initiative der rot-
grünen Bundesregierung im Jahre 2001 zurück und war
nach Vorlage des Berichts einer Expertenkommission
zum wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in den
neuen Ländern ergriffen worden. Neben der Stabilisie-
rung von Stadtteilen sollten auch besonders wertvolle
innerstädtische Altbaubestände mit überdurchschnittli-
chen Leerständen gerettet werden. Von Anfang an waren
zwei Dinge in dem Programm klar: Abriss und Aufwer-
tung sind zwei Seiten derselben Medaille. Es ging nicht
nur darum, überschüssigen Wohnraum zu entfernen,
sondern gleichzeitig Wohnbedingungen in Quartieren
durch Sanierungen zu verbessern. Und zweitens: Das
Programm war und ist ein „lernendes Programm“, das
sich ständig weiterentwickeln sollte. Es war damit im
Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden bes-
tens geeignet, Lösungen für die Probleme bei der Stadt-
entwicklung in den neuen Ländern umzusetzen.

Die Städte und die Wohnungsunternehmen in den
neuen Ländern standen nach der Wiedervereinigung vor
gewaltigen Herausforderungen. Durch Abwanderung
und Wegzug ins Städteumland war ein immer größer
Zu Protokoll
werdender Wohnungsleerstand zu beklagen. Die wenigs-
ten Wohnungen waren auf modernen Standard saniert.
Die Wohnungsunternehmen standen in den letzten zwei
Jahrzehnten also vor enormen Aufgaben. Sie hatten
noch eine weitere Last zu tragen: Altschulden. Im Zuge
der Herstellung der deutschen Einheit wurden die Alt-
schulden aus dem DDR-Wohnungsbau auf die Woh-
nungsunternehmen übertragen und belasten sie bis
heute. Aufgrund der Qualität der Wohnungen und durch
hohe Leerstände konnten die Unternehmen nur wenig
Mieteinnahmen erzielen. Hinzu kam die gesetzliche Be-
grenzung von Mietsteigerungen im Interesse der Mieter.
Damit drückten die Altschulden besonders. Das Alt-
schuldenhilfe-Gesetz ermöglichte den Abriss von Woh-
nungen bei gleichzeitiger Befreiung von Altschulden.
250 000 Wohnungen wurden auf diese Weise bis Ende
2009 zurückgebaut. Die Unternehmen wurden dadurch
in die Lage versetzt, in einem Milliardenumfang Moder-
nisierungs- und Verbesserungsmaßnahmen für das
Wohnumfeld zu finanzieren.

Der Wohnungsleerstand konnte damit aber noch
nicht gänzlich beseitigt werden. Jetzt droht aufgrund der
demografischen Entwicklung eine zweite Leerstands-
welle in den neuen Ländern. Zu der einen Million leer-
stehender Wohnungen könnten Schätzungen zufolge bis
2020 weitere 430 000 hinzukommen. Neue finanzielle
Belastungen drohen den ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen: weitere Mietrückgänge und höhere Be-
triebskosten in der alten Gebäudesubstanz. Mit etwa
4 000 Euro Restschuld pro Wohnung stehen die ostdeut-
schen Wohnungsunternehmen noch in der Kreide. Sie
müssen davon dringend entlastet werden, um den Spiel-
raum dafür zu gewinnen, weiter ihren Beitrag zu einer
Aufwertung der Quartiere leisten zu können. Viele nach
1990 instandgesetzte Wohnungen müssen bald wieder
saniert werden. Bei vielen Wohnungen ist dringend eine
energetische Sanierung notwendig. Leerstehende Woh-
nungen müssen zu einem großen Teil zurückgebaut, das
Wohnumfeld verbessert werden. Dafür brauchen die ost-
deutschen Wohnungsunternehmen Luft, die sie durch
eine Entlastung bei den Altschulden erhalten können.

Bei der Evaluation des Programms Stadtumbau Ost
im vergangenen Jahr waren wir uns einig, dass dieses
Programm erfolgreich war und fortgesetzt werden muss.
Wir haben uns dazu mit einem Beschluss des Bundes-
tages bekannt. Ein Teil des Beschlusses beinhaltete die
Prüfung, wie eine weitere Entlastung der Wohnungs-
unternehmen von Altschulden ausgestaltet werden
könnte. Hier setzt der Antrag der SPD-Bundestagsfrak-
tion an. Wir fordern eine abschließende Regelung der
Altschuldenproblematik, die es den Wohnungsunterneh-
men in den neuen Ländern ermöglicht, durch Umbau
bzw. Abriss und Wohnumfeldmaßnahmen Quartiere zu
stabilisieren und aufzuwerten. Uns geht es darum, allen
Wohnungsunternehmen gleichermaßen die Chance für
Investitionen in Rückbaumaßnahmen, energetische Sa-
nierung und altersgerechten Umbau zu geben. Die Alt-
schulden müssen bedient werden. Sie dürfen aber nicht
Hindernis für die dringend erforderlichen Investitionen
sein. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam den Antrag
beraten und danach beschließen.



gegebene Reden

(A) (C)



(D)(B)


Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1703433600

Beim Stadtumbau Ost soll die Aufwertung von In-
nenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz
gestärkt und der Rückbau der technischen und so-
zialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden.
Der Erfolg des Programms soll nicht durch unge-
löste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsun-
ternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand ge-
fährdet werden.

So steht es im Koalitionsvertrag, und genau so wer-
den wir auch mit dieser Frage umgehen.

Das Altschuldenhilfe-Gesetz trat 1993 in Kraft. Die
ostdeutschen Wohnungsunternehmen wurden dadurch
etwa um die Hälfte ihrer noch aus DDR-Zeiten stam-
menden Altschulden entlastet. Ende 1993 betrugen die
Altschulden einschließlich aufgelaufener Zinsen circa
30 Milliarden Euro. Im Rahmen des Solidarpaketes I er-
hielten die ostdeutschen Wohnungsunternehmen eine
Teilentlastung von rund 14 Milliarden Euro zulasten des
Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe von Bund und
Ländern. Im Jahr 2001 wurde das Gesetz dahin gehend
ergänzt, dass Wohnungsunternehmen, deren Existenz in-
folge Leerstands ab 15 Prozent gefährdet ist, zusätzliche
Altschuldenentlastung nach der Härtefallregelung in
§ 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetz erhalten. Der entspre-
chende Antrag musste bis zum 31. Dezember 2003 bei
der KfW eingegangen sein. Es erfolgte somit eine Förde-
rung des Abrisses, verbunden mit dem Erlass der Alt-
schulden. Bei einem Abriss bis Ende 2013 wird durch die
KfW ein Tilgungszuschuss bis zu 77 Euro pro Quadrat-
meter gewährt.

Der Stadtumbau Ost unterstützt die Kommunen bei
der Bewältigung der städtebaulichen Folgen des demo-
grafischen und wirtschaftlichen Strukturwandels durch
Maßnahmen der städtebaulichen Aufwertung und des
städtebaulich bedingten Rückbaus von dauerhaft nicht
mehr benötigten Wohnungen. Es geht um eine nachhal-
tige Aufwertung und Stabilisierung von Stadtquartieren
mit dem Ziel, den Strukturwandel der ostdeutschen
Städte zu unterstützen und eine Konsolidierung des
Wohnungsmarktes zu bewirken.

Der Stadtumbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte. Der
Schrumpfungsprozess der Städte geht meist einher mit
hoher Arbeitslosigkeit sowie geringer Steuereinnahmen
und Kaufkraft. Deshalb müssen im Mittelpunkt die
Quartieraufwertung, der bedarfsgerechte Umbau und
der Wohnungsrückbau stehen. Neben dem Abriss müs-
sen wir uns auch um die Sanierung von historischen und
stadtbildprägenden Altbauten kümmern und so den Er-
halt und die Sanierung historischer Quartiere weiter vo-
rantreiben. Seit 2008 können Mittel der Altschuldenhilfe
in Einzelfällen statt zum Abriss auch zur Sanierung von
stadtbildprägenden Altbauten verwendet werden.

Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Städte
und Gemeinden fit zu machen für die Zukunft. Als stadt-
entwicklungspolitische Sprecherin meiner Fraktion lege
ich großen Wert auf einen ganzheitlichen Ansatz und
nicht nur auf die Lösung von Detailproblemen einzelner
Stadtteile. Diesen ganzheitlichen Ansatz verfolgt auch
mein Zukunftsprojekt, die energetisch-dynamische
Zu Protokoll
Stadtentwicklung, die bereits im FDP-Landeswahlpro-
gramm NRW verankert ist.

Es ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abschätzbar, in-
wieweit die Fortführung des Programms von einer Wei-
terführung der Altschuldenhilfe abhängt. Unbestritten
ist, dass es durch einen behutsamen Rückbau zu einer
Aufwertung der betroffenen Quartiere gekommen ist. Al-
lein deshalb hat der Bund mit der Ersten Verordnung zur
Änderung der Altschuldenhilfeverordnung vom 14. No-
vember 2008 zum Beispiel die Abrissfrist von 2010 auf
2013 verlängert.

Wir erwarten, dass die Wohnungsunternehmer und
Kommunen über die integrierten Stadtentwicklungskon-
zepte und die Flexibilisierung der Stadtumbaupro-
gramme eine noch engere Zusammenarbeit in Betracht
ziehen. Die Länder haben über die Verwaltungsverein-
barung 2010 sowie über die Bauministerkonferenz die
Möglichkeit, sich auszutauschen. Wir werden prüfen, ob
es bezüglich § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes eine
Anschlussregelung für die Härtefallregelung geben
wird. Die heutigen Anträge der SPD und der Linken leh-
nen wir deshalb ab.

Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der
Wohnungsunternehmen und Kommunen durch unsere
Städtebauförderprogramme und die KfW-Förderpro-
gramme wesentlich verbessert. Das Evaluierungsgut-
achten zum Stadtumbau Ost aus 2008 hat gezeigt, dass
sich bei fast allen sogenannten §-6-a-Unternehmen die
wirtschaftliche Situation verbessert hat. Ob in Zukunft
weiter die Altschuldenhilfe notwendig ist, werden wir
eingehend prüfen. Dabei wird die Haushaltskonsolidie-
rung nicht aus dem Blick verloren. Ab dem Jahr 2011
stehen wir vor einer finanzpolitischen Herausforderung,
für die es bislang in der jüngeren Geschichte der Bun-
desrepublik kein Beispiel gibt.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703433700

So oft, wie dieses Thema schon in diesem Haus zur

Debatte stand, sollten Sie alle hier eigentlich genug da-
von haben und endlich der längt überfälligen Streichung
der Altschulden ostdeutscher Wohnungsunternehmen
zustimmen. Dass Sie, meine Damen und Herren auf der
Regierungsbank, das ja eigentlich und unter bestimmten
Voraussetzungen vielleicht sogar wollen würden, haben
Sie doch im Koalitionsvertrag – wenn auch ein wenig
verschämt – zum Ausdruck gebracht. Frei nach Karl
Valentin: „Möchten hätten wir schon gewollt – aber
dürfen ham mer uns nicht getraut.“ Nur „eigentlich“
und „vielleicht“ reichen – wie so oft – auch dieses Mal
nicht. Geben Sie sich endlich einen Ruck! Handeln Sie
jetzt, und tun Sie es gründlich! Aussitzen lässt sich die-
ses Problem ohnehin nicht, und je länger Sie warten,
umso dramatischer und kostspieliger wird die Lage vie-
ler ostdeutscher Wohnungsunternehmen am Ende für
uns alle. Ich werde, da können Sie sicher sein, in dieser
Angelegenheit hartnäckig bleiben, bis Sie Ihre eigenen
Ankündigungen ernst nehmen.

Altschulden nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz waren
von Anfang an ein willkürliches politisches Konstrukt
und bleiben eine schreiende Ungerechtigkeit. Fernab



gegebene Reden

Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)

von jeder wirtschaftlichen Verantwortung der Woh-
nungsunternehmen für die Staatsschulden der DDR und
um einen unliebsamen Mitbewerber in der Wohnungs-
und Immobilienbranche dauerhaft zu schwächen, sind
denen in einem historisch wohl einmaligen politischen
Willkürakt Milliardenlasten aufgebürdet worden, wegen
der sie sich bis heute nicht zu der treibenden Kraft beim
Stadtumbau Ost entwickeln konnten, die sie eigentlich
sein müssten. Diese Ungerechtigkeit und wirtschafts-
politische Unvernunft werden nicht gerechter oder ver-
nünftiger, wenn Sie sie bis zum bitteren Schluss durch-
halten wollen und in der Konsequenz schließlich uns
allen damit schaden.

Wir stehen mit unserer Forderung nach Altschulden-
entlastung ja auch längst nicht allein. Auch der GdW,
der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Im-
mobilienunternehmen, hat jüngst – zum wiederholten
Mal – gemeinsam mit ostdeutschen Mitgliederverbän-
den in seiner Leipziger Erklärung gefordert: „Wir
brauchen eine Lösung der Altschuldenfrage, um das er-
folgreiche Fortschreiten des dringend notwendigen
Stadtumbaus in Ostdeutschland und damit die weitere
positive Entwicklung der ostdeutschen Städte nicht zu
gefährden.“ Es geht bei der Entscheidung „Altschulden
streichen oder nicht“ längst nicht mehr nur um die Exis-
tenz und wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Wohnungs-
unternehmen, sondern, auch das hat der GdW richtig er-
kannt, um die Zukunftsfähigkeit der ostdeutschen Städte.
Deshalb wollen wir ja auch gar nicht, dass die noch mit
Schulden belasteten Unternehmen den Erlass zum Null-
tarif bekommen. Wir wollen, dass die Wohnungsunter-
nehmen, statt noch weitere 25 bis 30 Jahre Kapitaldienst
an die Banken zu leisten, die frei werdenden Mittel in die
Kofinanzierung der Gebäudesanierungs- und Stadtum-
bauprogramme stecken, die Sie hier gerade vor wenigen
Tagen mit dem Haushalt 2010 beschlossen haben. Dazu
benötigen sie Eigenkapital, das diese Unternehmen
nicht in ausreichendem Maße haben, weil Sie es ihnen
vorenthalten.

Wir wollen die entlasteten Unternehmen verpflichten,
frei gewordene Mittel in die Umsetzung des CO2-Gebäu-
desanierungsprogrammes zu leiten und dabei die Kalt-
miete für einige Jahre stabil zu halten, damit Segrega-
tion und Entmischung des sozialen Gefüges ganzer
Stadtteile entgegengewirkt werden kann. Das wäre öko-
logisch und sozial. Wir wollen die Unternehmen in die
Lage versetzen – und zwar auch das verbindlich –, Mit-
tel aus den Programmen zum Stadtumbau in Anspruch
zu nehmen und in den Beginn von Stadtumbau hin zur
„Sozialen Stadt“ zu investieren. Das wäre konjunkturbe-
lebend und politisch verantwortlich.

Es geht nämlich schon lange nicht mehr nur darum,
rückwärtsgewandt Fehler zu korrigieren und Schaden
zu begrenzen, sondern es geht trotz des dramatischen
Wohnungsleerstandes in einigen Regionen Ostdeutsch-
lands darum, dem drohenden strukturellen Wohnungs-
mangel, der auf wachsende Städte zukommt, rechtzeitig
und programmatisch entgegenzuwirken. Der Altschul-
denerlass für die ostdeutschen Wohnungsunternehmen
– das ist uns selbstverständlich bewusst – ist nicht der
Zauberschlüssel zur Lösung aller wohnungspolitischen
Zu Protokoll
Probleme. Aber er würde wirken wie der Einstieg in ein
neues Konjunkturpaket und könnte signalisieren, dass
auch die Bundesregierung allmählich eine Ahnung da-
von bekommt, was uns auf dem Gebiet von Wohnungs-
und Städtebau in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht.
Nur so können wir unsere stärksten Partner im Stadt-
umbau erhalten.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703433800

Zum wiederholten Male wird die Problematik der Alt-

schulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen in
diesem Hause debattiert. Ich bin auch durchaus der
Meinung, dass die Altschuldenproblematik einen Kon-
struktionsfehler der deutschen Einheit darstellt, der die
ostdeutsche Wohnungswirtschaft nachhaltig belastet.
Deswegen haben Bündnis 90/Die Grünen sich in der
Kleinen Anfrage „Fortführung und inhaltliche Aus-
richtung des Programms Stadtumbau Ost“, Drucksache
17/974, auch nach verlässlichen Zahlen zur Problematik
erkundigen wollen, um überhaupt einmal die Dimension
des Problems realistisch einschätzen zu können. Wir
mussten feststellen, dass der Bundesregierung auf die
Frage der Höhe der Altschulden der kommunalen und
genossenschaftlichen Unternehmen anscheinend keine
Informationen vorliegen. Auf unsere Frage, ob denn
weitere Entlastungen für die Wohnungsunternehmen
oder ein Erlass der Altschulden geplant seien, wurde et-
was wortkarg geantwortet: „Dies wird zur Zeit geprüft.
An einen Erlass der Altschulden ist nicht gedacht.“ Mei-
nen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, diese Informationen
einzuholen und an die Bundestagsfraktionen weiterzu-
geben? Der aktuelle Kenntnisstand des Ministeriums
dient jedenfalls nicht einer lösungsorientierten Debatte.

Wir benötigen verlässliche Zahlen als Grundlage für
die politische Diskussion. Diese bekommen wir auch
beim Antrag der Linken übrigens nicht dargestellt. Sie
übernehmen ohne weiteres Hinterfragen des GdW-Bun-
desverbands die Angabe 4 000 Euro durchschnittliche
Belastung pro Wohnung zur Beschreibung des Problems,
schweigen sich aber über die Anzahl der belasteten
Wohnungen aus, sodass wir wiederum keine Erkenntnis
zur finanziellen Dimension des Themas erhalten. Woher
nimmt die Linke die Erkenntnis, dass „ohne Altschul-
denentlastung sich Wohnungsunternehmen nicht oder
nur in Ausnahmefällen am Stadtumbau beteiligen kön-
nen“?

Sie wissen, dass es diese Entlastung durch die Alt-
schuldenhilfe bereits gibt. Sie wissen auch, dass sehr
viele Unternehmen die Unterstützungen wahrnehmen.
Laut der Beantwortung unserer Anfrage sollen 78 Pro-
zent der abgerissenen Wohnungen dank der Altschul-
denhilfe abgerissen worden sein. Bis 2013 stehen laut
Ministerium noch 230 Millionen Altschuldenhilfemittel
zur Verfügung. Die Frage ist gegenwärtig, ob diese Mit-
tel für den bevorstehenden Stadtumbau ausreichen wer-
den oder nicht? Laut unserer Anfrage „wird dies zurzeit
geprüft“. Wir sind gespannt auf die Antwort und die
Zeit, die das Ministerium für diese Antwort benötigt.

Ich sage Ihnen schon einmal: Wir von Bündnis 90/Die
Grünen sind auch nicht zufrieden mit dem Altschulden-



gegebene Reden

Stephan Kühn


(A) (C)



(D)(B)

hilfe-Gesetz. Wir fördern Abriss mit Finanzhilfen, die ei-
gentlich für den Aufbau Ost vorgesehen sind. Die Alt-
schuldenhilfe wird aus dem Korb II des Solidarpakts II
finanziert. Diese Mittel sind absehbar endlich. Und ein
Behelf ist keine nachhaltige Lösung. Sollte eine Neuauf-
lage der Altschuldenhilfemittel notwendig werden, dann
muss über eine ganzheitliche, nachhaltige Lösung der
Altschuldenfrage nachgedacht werden. Dafür fordern
wir von der Bundesregierung verlässliche Zahlen. An-
sonsten führen wir noch 2020 Debatten über Altschul-
den, die ans Fischen im Trüben erinnern.

J
Jan Mücke (FDP):
Rede ID: ID1703433900


Nach dem Koalitionsvertrag soll der Erfolg des Pro-
gramms Stadtumbau Ost nicht durch ungelöste Altschul-
denprobleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Ab-
riss von Wohnungsleerstand gefährdet werden. Dies
bedeutet, wir werden genau prüfen, ob eine Anschlussre-
gelung für die Härtefallregelung nach § 6 a Altschulden-
hilfe-Gesetz – Kosten von circa 800 Millionen Euro bis
2016 – notwendig ist, damit sich die Wohnungsunterneh-
men weiter am Abrissteil des Programms Stadtumbau
Ost beteiligen können. Die Altschuldenregelung ist kein
wohnungswirtschaftliches, sondern vielmehr ein städte-
bauliches Instrument. Eine vollständige Altschuldenent-
lastung aller von Altschulden betroffenen Wohnungsun-
ternehmen unabhängig von der Leerstandsquote wie im
Antrag der Linken gefordert lehnen wir ab. Dies ist ange-
sichts der Kostenbelastung von mehreren Milliarden
Euro völlig illusorisch und wäre auch sachlich nicht zu
rechtfertigen.

Im Einzelnen: Altschulden sind aus der Zeit der DDR
übernommene Wohnungsbaudarlehen. Die Finanzie-
rung des Wohnungsneubaus erfolgte aus dem Staats-
haushalt sowie aus Krediten, die aus den Spareinlagen
der Bürger der DDR bei den Sparkassen refinanziert
wurden. Vor der Währungsumstellung hatte die Staats-
bank der DDR rund 75 Milliarden Mark offene Forde-
rungen für Wohnungsbaukredite. Diese wurden wie alle
Schulden im Verhältnis 2:1 umgestellt. Die Deutsche
Kreditbank AG – DKB – sowie die Berliner Stadtbank
AG – BSB – hatten diese Schulden übernommen. Nach
Art. 22 Abs. 4 des Einigungsvertrages wurden die Kom-
munen oder die Wohnungsgenossenschaften Schuldner
der Baukredite. Wohnungen und Schulden wurden in der
Regel von den Kommunen auf neu gegründete kommu-
nale Wohnungsunternehmen übertragen. Die Wohnun-
gen der Wohnungsgenossenschaften sind einschließlich
der Verbindlichkeiten in deren Eigentum verblieben.

Die Altschulden betrugen am 31.Dezember 1993 ein-
schließlich aufgelaufener Zinsen circa 30 Milliarden
Euro. Die ostdeutschen Wohnungsunternehmen erhiel-
ten im Rahmen des Solidarpaktes I von 1993 bisher nach
Altschuldenhilfe-Gesetz – AHG – vom 23. Juli 1993 eine
hälftige Teilentlastung in Höhe von 14 Milliarden Euro
zulasten des Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe
zulasten von Bund und Ländern. Diese Teilentlastung
senkte die Altschulden auf durchschnittlich 77 Euro pro
Quadratmeter Wohnfläche. Über die bei den Wohnungs-
unternehmen verbliebenen Altverbindlichkeiten haben
Zu Protokoll
diese neue Kreditverträge mit Banken ihrer Wahl ge-
schlossen. Darüber hinaus erhalten die Wohnungsunter-
nehmen, deren Existenz infolge Leerstands ab 15 Prozent
gefährdet ist, seit 2001 zusätzliche Altschuldenentlas-
tung nach Härtefallregelung § 6 a Altschuldenhilfe-Ge-
setz, soweit ihr Antrag bis zum 31. Dezember 2003 bei
der KfW eingegangen ist. Bei Abriss der entsprechenden
Wohnfläche bis spätestens Ende 2013 wird den Unter-
nehmen durch die KfW ein Tilgungszuschuss bis zu
77 Euro pro Quadratmeter gewährt. Rechtsgrundlage ist
die Altschuldenhilfeverordnung – AHGV – vom 15. De-
zember 2000, die auf der Ermächtigungsgrundlage des
§ 6 a AHG beruht. Die Härtefallregelung ergänzt die
umfassende Altschuldenentlastung für ostdeutsche Woh-
nungsunternehmen von 1993.

Mit einem Entschuldungsvolumen von insgesamt
1,1 Milliarden Euro wird so der Abriss von circa
280 000 Wohnungen bis 2013 gefördert – zusätzlich zu
den Abrisshilfen des Programms Stadtumbau Ost. Bis-
her wurden davon 80 Prozent – 885 Millionen Euro –
ausgezahlt. Die tatsächlich erfolgten Abrisse blieben
2007 und 2008 hinter den ursprünglichen Abrissplänen
der Unternehmen zurück – 50,7 Millionen Euro Ausga-
bereste.

Mit der Ersten Verordnung zur Änderung der AHGV
vom 14. November 2008, die unter anderem die Abriss-
frist von 2010 auf 2013 verlängert, hat der Bund auf zu-
nehmende Probleme der Wohnungswirtschaft beim Frei-
ziehen für den Abriss vorgesehener Gebäude reagiert.
Der Leerstand betrifft häufig nur noch Gebäudeteile, so-
dass die Wohnungsunternehmen in langwierigen Verfah-
ren vor Abriss Gebäude freiziehen oder die weitere
Leerstandsentwicklung abwarten müssen. Im Übrigen
können mit dem 2008 eingeführten Haushaltsvermerk
Mittel der Altschuldenhilfe statt zum Abriss auch zur Sa-
nierung von stadtbildprägenden Altbauten verwendet
werden. Diese Regelung dient zusammen mit den Siche-
rungs- und Aufwertungsmaßnahmen des Programms
Stadtumbau Ost dem Erhalt von Altbauten.

Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der
Wohnungsunternehmen durch die Städtebauförderungen
– unter anderem Abrisspauschale und Aufwertungsmit-
tel im Programm Stadtumbau Ost – sowie durch die Alt-
schuldenhilfe, aber auch durch die sehr günstige Zins-
entwicklung wesentlich gebessert. Entsprechend dem
Gutachten zur Evaluierung des Programms Stadtumbau
Ost in 2008 ist bei fast allen sogenannten §-6-a-Unter-
nehmen eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Situa-
tion zu verzeichnen. Nach Erhebungen des GdW hat sich
die Leerstandsquote von 16,2 Prozent 2002 auf circa
10 Prozent Ende 2009 reduziert. Außerdem sind eine
Steigerung der Gesamt- und Eigenmittelrentabilität so-
wie ein besseres Rating bei den Gläubigerbanken zu ver-
zeichnen. Wohnungsunternehmen zahlen inzwischen
zum Teil Dividenden an ihre Kommunen.

Inwieweit der Erfolg des Programms Stadtumbau
Ost, zu dem auch der bedarfsgerechte Abriss von leer-
stehenden Wohnungen gehört, der von der Programm-
evaluierung mit 200 000 bis 250 000 Wohnungen bis
2016 ermittelt wurde, tatsächlich von der Weiterführung



gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Jan Mücke


(A) (C)



(D)(B)

der Altschuldenhilfe abhängt, ist vor diesem Hinter-
grund schwer abschätzbar. Einerseits erfolgten knapp
80 Prozent der bisherigen Abrisse durch Wohnungsun-
ternehmen mit Altschuldenentlastung. Andererseits ha-
ben die Unternehmen durch die grundsätzlich kostende-
ckenden Abrisshilfen des Stadtumbaus, auch ohne
Altschuldenhilfe, starke Anreize zum Abriss, um ihre
Leerstandskosten weiter zu reduzieren. Ob und inwie-
weit zusätzlich dabei die Altschuldenhilfe notwendig ist,
bedarf der eingehenden Prüfung. Dabei sind die schwie-
rige Situation des Bundeshaushalts und die verfassungs-
rechtlichen Konsolidierungsvorgaben zu berücksichti-
gen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703434000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/1148 und 17/1154 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zum Zusatzpunkt 7:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth

(Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander

Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-
schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-
nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-
tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz

– Drucksachen 17/792, 17/1208 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth (Quedlinburg)


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. – Damit sind Sie einverstanden. Es
sind folgende Kolleginnen und Kollegen: Dieter Stier,
Heinz Paula, Dr. Christel Happach-Kasan, Alexander
Süßmair und Undine Kurth.1)

Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1208, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/792 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion.

1) Anlage 13
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Kooperationsverbot in der Bildung unverzüg-
lich aufheben

– Drucksache 17/785 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen die
Reden auch hier zu Protokoll genommen werden. Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Tankred Schipanski, Marianne Schieder, Swen Schulz,
Patrick Meinhardt, Dr. Rosemarie Hein und Priska Hinz.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1703434100

„Rütteln am Grundgesetz“, so die „Süddeutsche Zei-

tung“ am 1. März 2010, „Schavan für Bund-Länder-
Bund“, so die „FAZ“ am 17. März 2010, „Bildung
macht immer Ärger“, so die „Zeit“ vom 10. Dezember
2009. Die Berichterstattungen befassen sich alle mit Äu-
ßerungen unserer Bundesministerin Schavan, die zu ei-
nem Nachdenken über das sogenannte grundgesetzlich
verankerte Kooperationsverbot anregen sollen. Unsere
Ministerin gibt Denkimpulse und hinterfragt die gegen-
wärtige strikte Aufgabentrennung im Bildungsbereich
von Bund und Ländern in einem Bundesstaat. Das ist le-
gitim und richtig. Im Unterschied zur Opposition fordert
die Ministerin aber nicht die sofortige Neuordnung der
Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bil-
dungsbereich. Vielmehr hat die Ministerin klargestellt:
Föderalismus beinhaltet eine klare Verteilung von Auf-
gaben und Verantwortung. An dieser für moderne föde-
rale Systeme kennzeichnenden klaren Verteilung sollten
wir festhalten. Ich verweise auf die Rede von Bundes-
ministerin Schavan vor dem Deutschen Bundestag am
18. März 2010. Diese Einschätzung teilt auch die christ-
lich-liberale Koalition.

Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bil-
dungspartner, genauso wie Studenten, Professoren und
Hochschulleitungen Bildungspartner sind. Bei einer
Partnerschaft braucht es keine verfassungsrechtliche
Diskussion über sogenannte Kooperationsverbote. In ei-
nem föderativ gestalteten Staat wie der Bundesrepublik
Deutschland stehen die Aufgabenbereiche von Bund und
Ländern grundsätzlich nebeneinander. Das Grundgesetz
geht daher in Art. 30 in Verbindung mit Art. 83 sowie
Art. 104 a Abs. 1 grundsätzlich von einer strikten Aufga-
ben- und Ausgabentrennung zwischen Bund und Län-
dern und einem Verbot der Mischverwaltung und -finan-
zierung aus. Diese verfassungsrechtliche Trennung der
Zuständigkeiten ist also staatsstrukturell bedingt und für
einen Bundesstaat elementar.

Von dem Grundsatz der Aufgabentrennung gibt es
Ausnahmen, die ausdrücklich im Grundgesetz geregelt
sind. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Ge-
meinschaftsaufgaben, Art. 91 a bis d GG. Auch für den

Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Bildungs- und Forschungsbereich verlangt das GG Zu-
sammenarbeit und somit Kooperation, wie Art. 91 b
Abs. 1 GG ausdrücklich kodifiziert. Nach Art. 91 b
Abs. 1 Nr. 1 GG können Bund und Länder bei der Förde-
rung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaft-
lichen Forschung außerhalb von Hochschulen zusam-
menwirken. Beispielhaft dafür steht der Pakt für
Forschung und Innovation. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 GG ist
die Grundlage für den Hochschulpakt 2020 sowie für
die Exzellenzinitiative. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 3 GG besagt,
dass Bund und Länder bei Forschungsbauten an Hoch-
schulen, einschließlich Großgeräten, zusammenwirken
können. Die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG zeigt,
dass der Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich
hat. Hier wünscht sich unsere Ministerin die Möglichkeit
eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und
enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine gene-
relle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Län-
dern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund
scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshil-
fen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der
Länder zu nehmen.

Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Auf-
gabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in unsere
Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet von
verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im Bund-
Länder-Verhältnis der Grundsatz des bundesfreundlichen
Verhaltens, die sogenannte Bundestreue, elementar. Die-
ses Prinzip ist – als ungeschriebene Generalklausel –
als staatsrechtliche Ausprägung des Grundsatzes von
Treu und Glauben zu verstehen. Es verpflichtet den Bund
und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompeten-
zen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das
Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange
der Länder zu nehmen“ (BVerfGE 92, 203 [239]).

Zwar eröffnet die Bundestreue keine gesetzgeberische
Kompetenz des Bundes. Dennoch lässt er sich meines
Erachtens im Zusammenhang mit der Kritik am soge-
nannten Kooperationsverbot ins Feld führen: Soweit die
Kritiker befürchten, dass ein Kooperationsverbot zu weit
auseinanderklaffenden Differenzen in der Bildungs-
landschaft führt, dürfte dem die Bundestreue entgegen-
stehen. Sie wirkt nämlich als Verpflichtung zur Zusam-
menarbeit, Abstimmung, Koordination, gegenseitigen
Information und Rücksichtnahme, die insbesondere bei
Ausübung an sich gegebener Kompetenzen zu beachten
ist. Im Einzelfall kann sie dabei als Kompetenzschranke
wirken. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Bun-
destreue verlangt von den Ländern eine Gesamtverant-
wortung für Deutschland. Dies gilt auch für den Bereich
der Bildung. Das heißt: Bei der Herstellung von Bil-
dungsgerechtigkeit müssen die Länder eine gesamtstaat-
liche Verantwortung wahrnehmen.

Aktuell betrachtet bedeutet dies: Der Bund hat durch
die Bundesregierung der christlich-liberalen Koalition
umfangreiche Finanzmittel für unsere Bildungsrepublik
Deutschland zur Verfügung gestellt bzw. zugesichert.
Wir brauchen klare rechtliche Grundlagen, damit wir
diese Gelder sinnvoll in unserer Bildungsrepublik ein-
setzen können. Ziel der christlich-liberalen Koalition ist
es, Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Allen Kindern und
Zu Protokoll
Jugendlichen in unserem Lande soll – unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft – der Zugang zu einer qualitativ
hochwertigen Bildung offen stehen. Zudem geht es uns
darum, Deutschland zu einem attraktiven und interna-
tional wettbewerbsfähigen Wissenschafts- und For-
schungsstandort weiterzuentwickeln. Diese Ziele haben
für uns absolute Priorität.

Das von ihnen vorgetragene sogenannte Koopera-
tionsverbot gibt es in dieser Form nicht; Kooperationen
sind nicht per se verboten. Eine gesamtstaatliche Ver-
antwortung lässt sich nicht verbieten. Gute Bildung ist
in Deutschland nicht verboten. In den Bereichen, in de-
nen eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
nicht ausdrücklich kodifiziert ist, haben wir den Grund-
satz der Bundestreue zu beachten, der ein Zusammen-
wirken von Bund und Ländern erfordern kann. Wir sind
dabei, unsere Erfahrungen der Föderalismusreform I
zusammenzutragen. Unsere Ministerin hat mit Blick auf
Art. 91 b Abs. 2 GG ihre Erfahrungen in die Diskussion
eingebracht. Die Bundesländer werden nunmehr ihre
Erfahrungen kommunizieren. Wir Parlamentarier wer-
den eine Gesamtbetrachtung der Ergebnisse vornehmen
und die unterschiedlichen Interessen abwägen. Erst
dann kann sich ein Parlamentarier eine abschließende
Meinung bilden, allen voran in einem so sensiblen Be-
reich wie einer Grundgesetzänderung. Unser Meinungs-
bildungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich darf
Ihnen jedoch bereits jetzt versichern, dass im Zentrum
unseres Meinungsbildungsprozesses die Frage stehen
wird, wie wir als Bund mit den Ländern und Kommunen
zusammenwirken können, um unseren Kindern und
Jugendlichen die bestmöglichen Bildungschancen zu er-
öffnen und den Wissenschaftsstandort Deutschland vo-
ranzubringen. Dabei werden wir auch überlegen, in wel-
cher Form wir die Zusammenarbeit weiterentwickeln
können.


Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1703434200

Bildung ist ein wichtiges Gut, insbesondere für

Deutschland als innovatives Land der Dichter und Den-
ker. Wir tun gut daran, unser Bildungssystem ständig
weiterzuentwickeln, zu optimieren und allen Menschen
unserer Gesellschaft einen gerechten Zugang zu ermög-
lichen. Kontraproduktiv wäre es, die Sorge um das Bil-
dungswesen dem Diskurs um Kompetenzen zu unterwer-
fen.

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den
letzten 60 Jahren der Bildungsföderalismus grundsätz-
lich bewährt. Daher macht es auch Sinn, an ihm festzu-
halten. Die aktuellen Herausforderungen im Bildungs-
wesen haben jedoch gezeigt, dass die Absolutheit, mit
der der Bildungsföderalismus derzeit zementiert und von
den Bundesländern verteidigt wird, infrage zu stellen ist.
Daher macht es Sinn, das im Grundgesetz festgeschrie-
bene Kooperationsverbot zu überarbeiten. In diesem
Punkt gehe ich mit dem Antrag der Fraktion Die Linke
noch d’accord. Schwierig wird es allerdings mit dem
Wie. In erster Linie soll der Bund zum Finanzhilfengeber
für die Länder im Bereich Bildung mutieren. Und das ist
mir zu wenig, wenn es darum gehen soll, unser Bil-
dungswesen für den internationalen Vergleich fit zu ma-



gegebene Reden

Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)

chen und vor allem für mehr Bildungsgerechtigkeit zu
sorgen.

Wir brauchen eine enge Kooperation in verschiedens-
ten Bereichen des Bildungswesens, wenn wir weiterkom-
men wollen. Wir brauchen eine Kooperation zwischen
Bund und Ländern. Wir brauchen eine Kooperation un-
ter den Bundesländern. Derzeit haben wir leider die Si-
tuation, dass mit jeder Kultusministerkonferenz in
Deutschland neue Unterschiede zwischen den Bundes-
ländern entstehen. Da muss sich etwas ändern. Hier
sind der Bund und insbesondere das Bundesbildungs-
ministerium gefordert, moderierend einzugreifen und
sich darum zu kümmern, die Legitimation dafür zu ha-
ben. Bisher haben wir leider nur leere Ankündigungs-
reden von Frau Ministerin Schavan, dass sich hier etwas
ändern müsse.

Ich fordere die schwarz-gelbe Regierung auf, die
noch vorhandenen Mehrheiten zu nutzen und den Worten
endlich Taten folgen zu lassen, um eine effektive Koope-
ration zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen zu
ermöglichen. Zusammenarbeit beinhaltet auch, auf-
einander zu hören, miteinander zu reden und im Dialog
Vereinbarungen zu treffen. Dies, meine Damen und Her-
ren von der Linken, vermisse ich in Ihrem Antrag, wenn
es hier heißt, dass: „der Bund die Kompetenz erhält, in
allen Bereichen der Bildung bei Aufgaben von überre-
gionaler Bedeutung, insbesondere durch die Gewährung
von Finanzhilfen, beim Ausbau des Bildungssystems
mitzuwirken“. Wenn das Kooperationsverbot im Bil-
dungswesen fällt, dürfen wir nicht neue Problemstellun-
gen schaffen, indem wir den Bund entweder zur Finanz-
melkkuh verkommen lassen oder den Bund auf Bereiche
mit sogenannter überregionaler Bedeutung begrenzen.
Qualifizierte Bildungspolitik für die Herausforderungen
von morgen braucht mehr. Genauso fatal wäre es, dem
Bund einseitig die Kompetenz zu geben, ohne Rückkopp-
lung mit den Ländern in die Bildungspolitik hineinagie-
ren zu können.

Ich halte daher fest, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken: Im Grunde ist ihr Anliegen unterstützens-
wert, doch in der Ausgestaltung bleiben viele Fragen of-
fen, und es droht eine Engführung, die neue Probleme
provoziert. Die letzten Jahre haben zur Genüge gezeigt,
dass blinder Aktionismus in der Bildungspolitik über-
haupt nicht hilft. Bleibt zu hoffen, dass wir in diesem
Hohen Haus baldmöglichst über einen konkreten und
ausgereiften Gesetzentwurf zur Frage des Koopera-
tionsverbotes im Bildungswesens abstimmen können
und uns nicht weiter an Willenserklärungen abarbeiten
müssen. Abschließend kann ich für meine Fraktion sa-
gen, dass wir daran arbeiten, diesem Anspruch gerecht
zu werden.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1703434300

Der Radikalföderalismus in der Bildungspolitik hat

sich überlebt. Leider haben das aber noch nicht alle er-
kannt. Dabei liegt auf der Hand, dass die Herausforde-
rungen im Bildungswesen, die Notwendigkeiten zu Ver-
besserungen zur Erreichung optimaler Bildung für alle
– egal welcher Herkunft sie sind und welchen familiären
Zu Protokoll
Hintergrund sie haben – eine Zusammenarbeit aller
Ebenen nötig machen. Die Ergebnisse des Bildungsföde-
ralismus sind ausweislich der PISA-Studien und anderer
wissenschaftlicher Erhebungen auch nicht so ermuti-
gend, dass alle anderen Nationen mit Neid auf unseren
schönen Föderalismus schauen. Das hat inzwischen so-
gar Bundesministerin Schavan erkannt. Dabei hatte sie
sich als Bildungsministerin Baden-Württembergs noch
ganz anders geäußert. Inzwischen freuen wir uns aber
über ihren Erkenntnisgewinn. Sie möchte den Bund als
Akteur auch in der Schulpolitik sehen, um etwa Grund-
schulen in sozialen Brennpunkten unterstützen zu kön-
nen. Darüber kann man im Einzelnen reden – wenn es
denn eine Grundgesetzänderung gäbe und das soge-
nannte Kooperationsverbot abgeschafft würde. Leider
vermissen wir bis heute bei allen schönen Reden und
Wolkenschiebereien der Frau Schavan eine konkrete,
handfeste Initiative zur Grundgesetzänderung.

Die kommt nun von der Fraktion Die Linke, aber lei-
der nur halbherzig. Der Bund soll bei Aufgaben von
überregionaler Bedeutung beim Ausbau des Bildungs-
systems mitwirken, insbesondere durch die Gewährung
von Finanzhilfen. Was ist von überregionaler Bedeutung
und was nicht? Ist die Einrichtung von Ganztagsschulen
von überregionaler oder regionaler Bedeutung? Und die
Hilfe für besonders belastete Schulen? Und warum nur
Finanzhilfen? Warum soll der Bund nicht auch pädago-
gisches Personal stellen können? Nein, die optimale Lö-
sung liegt doch wohl eher in der Schaffung einer echten
Kooperationsmöglichkeit von Bund und Ländern für die
Bildung ohne einschränkende Bedingungen, die dann
sowieso nur juristischen Streit provozieren.

Ich habe, wie in der Haushaltsdebatte bereits ange-
kündigt, Bundesministerin Schavan in einem Brief ange-
boten, dass wir eine gemeinsame, überparteiliche Initia-
tive zur Grundgesetzänderung ergreifen. Man darf
gespannt sein auf die Antwort. Natürlich gibt es viele
Widerstände gegen eine Grundgesetzänderung. Das hat
mit Eitelkeiten einiger Akteure zu tun, die schlicht nicht
zugeben möchten, dass die Föderalismusreform ein Feh-
ler war, und mit Verlustängsten: Die Bundesländer se-
hen den wichtigsten Kern ihrer Kompetenz – und damit
ihrer Existenzberechtigung – bedroht. Doch das sind
Debatten, über die wir alle nur den Kopf schütteln wer-
den, wenn sie einmal überwunden sind. Denn erstens
wollen wir den Ländern doch nichts wegnehmen, son-
dern nur bei der Bewältigung von Problemen zusam-
menarbeiten. Und zweitens: Kann sich heute noch je-
mand vorstellen, dass bei der Föderalismusreform auch
jede Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der
Hochschulpolitik grundgesetzlich verboten werden
sollte? Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die mit der
Androhung der Ablehnung der gesamten Reform eine
Öffnung des Grundgesetzes zur Kooperation in der Wis-
senschaft erzwungen hat. Und dann gab es in Windeseile
große und erfolgreiche Kooperationen von Bund und
Ländern für die Hochschule, etwa den Hochschulpakt.
Man stelle sich nur für einen Moment vor, jemand wollte
jetzt das Grundgesetz ändern und diese Kooperation
verbieten wollen. Er würde ausgelacht.



gegebene Reden

Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

So, genau so wird es auch beim Thema Schule gehen.
Wir müssen nur endlich einmal durchsetzen, dass die le-
bende Leiche Radikalföderalismus auch endlich beer-
digt wird.


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1703434400

Der hier vorliegende Antrag der Linken zeigt ganz

klar, dass es hier nicht um eine seriöse bildungspoliti-
sche Diskussion geht, sondern ausschließlich um ideolo-
gische Vorurteile. Die Linke zeigt wieder einmal, dass
sie ein grundsätzliches Problem mit der föderalistischen
Ordnung des Grundgesetzes hat.

Sie verstehen das Prinzip des Föderalismus nicht und
deshalb haben sie ein Problem damit. Wie in vielen Be-
reichen hat sich die Linke auch in dieser Frage bis heute
nicht von ihrer Vergangenheit lösen können. Sie streben
weiterhin ein zentralistisches Einheitssystem an, eine
zentralistische Bildung möglichst einheitlich an jedem
Ort dieser Bundesrepublik. Wir Liberale setzen dagegen
auf einen bürgernahen Staat, auf Selbstverantwortung
vor Ort und Entscheidungsfreiheit der Betroffenen.

Über 1 Billion Euro hat die öffentliche Hand in drei-
ßig Jahren für Bildung ausgegeben. Und mit welchem
Ergebnis? Die PISA-Studie und andere Studien haben
uns nicht das beste Zeugnis ausgestellt. Und nur um ei-
nes klarzustellen: Wir reden dabei über die Zeit vor der
Föderalismusreform. Wir reden über die Zeit, als die
Kooperation zwischen Bund und Ländern bestand und
nicht gegriffen hat. Hören Sie also auf, das unsinnige
Märchen zu verbreiten, ohne das Kooperationsverbot
hätten wir ein besseres Bildungssystem in Deutschland.
Hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, dass man nur
mehr Geld für Bildung ausgeben muss und so alle Pro-
bleme lösen könnte. Und hören Sie auf, die föderalen
Strukturen für Probleme verantwortlich zu machen, die
durch diese föderale Ordnung überhaupt erst zu Tage
treten. Die Bundesländer, die sich modernen Konzepten
in der Bildungs- und Hochschulpolitik geöffnet haben,
haben in allen Vergleichsstudien gut oder sehr gut abge-
schnitten. Die Landesregierungen, die an ihren ideologi-
schen Vorstellungen festgehalten haben, wurden mit den
entsprechenden Ergebnissen abgestraft.

Und schließlich muss man sich auch noch die Frage
stellen, welche angeblichen Reformen Sie denn durch
bundeseinheitliche Maßnahmen fördern möchten. Etwa
die staatliche Monopolisierung von Bildung, wie sie in
Mecklenburg-Vorpommern oder Bremen betrieben
wird? Oder doch lieber das Tombolasystem ihrer rot-
roten Parteifreunde in Berlin, wo die Chancen auf einen
Platz an einem Gymnasium und damit die Zukunftschan-
cen eines Kindes vom Losglück abhängen, und zwar nur
deshalb, weil Sie ideologische Probleme mit dieser
Schulform haben. Nein, meine Damen und Herren, diese
Ostalgie in der Bildungspolitik machen wir nicht mit. Sie
setzen auf jene Konzepte, mit denen Sie schon in der Ver-
gangenheit gescheitert sind. Wir wollen moderne Ideen
und Kreativität fördern. Deshalb hat sich die Koalition
der Mitte auch klar für eine Bildungspartnerschaft von
Bund, Ländern und Kommunen unter Wahrung der je-
weiligen staatlichen Zuständigkeit ausgesprochen.
Zu Protokoll
Wir glauben an das Prinzip der Subsidiarität auch in
der Bildungspolitik, und zwar nicht deshalb, weil wir es
vor Jahrzehnten einmal beschlossen haben – das wäre
der Weg, den Sie mit Ihrer Zentralismusgläubigkeit ge-
hen. Wir halten am Prinzip der Subsidiarität deshalb
fest, weil es sich als der richtige Weg erweist, als der
richtige Weg gegen Bürokratie, gegen Innovationsfeind-
lichkeit und für eine moderne Bildungspolitik, die nahe
bei den Menschen ist. Der Wettbewerb um die beste Bil-
dung ist auch ein Wettbewerb der Länder um die beste
Bildungspolitik.

Wir haben hier also einen Antrag vorliegen, der ganz
klar an der Sache vorbeigeht. Wir brauchen keine endlo-
sen Debatten über Zuständigkeiten. Wir brauchen
Debatten über die besseren Bildungskonzepte. Doch bei
dieser Frage versagen Sie regelmäßig, meine Damen
und Herren von den Linken. Wo haben wir denn die
wirklichen Probleme in der Bildungspolitik? Nicht in
Baden-Württemberg, nicht in Hessen und auch nicht in
Schleswig-Holstein. Die großen Probleme haben wir
dort, wo Linke oder SPD oder Grüne regieren und re-
giert haben. Wenn Sie der Ansicht sein sollten, dass wir
diesen Länderregierungen wirklich die Kompetenz für
die Bildungspolitik entziehen sollten, dann könnte ich
dies sogar nachvollziehen. Weil die Länder, in denen
linke Bildungspolitik gemacht wird, den Vergleich weder
national noch international standhalten, wollen Sie den
Zentralismus. Und damit wollen sie letzen Endes nur
vertuschen, dass Sie keine sinnvollen Ideen in der Bil-
dungspolitik bieten können. Wissen Sie, Sie sollten end-
lich verstehen, dass es einzig und alleine um die Kinder
und Jugendliche in der Bildungspolitik geht.

Wir brauchen in Deutschland eine klare Zuordnung
der Kompetenzen als Voraussetzung für ein modernes
und effizientes Bildungssystem. Zu lange haben wir De-
batten über Zuständigkeiten geführt, die uns von wichti-
gen inhaltlichen Diskussionen abgehalten haben. Dass
Sie diese Debatte erneut aufgreifen, zeigt einfach nur,
dass es Ihnen nur um populistische und ideologische Pa-
rolen geht und nicht um die beste Bildung für unsere
Kinder und Jugendlichen.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703434500

Vier Jahre ist es her, dass mit der Föderalismus-

reform die Kooperation und damit die gemeinsame
Finanzierungsverantwortung von Bund und Ländern im
Bereich der Bildung unmöglich gemacht wurden. Heute
findet man kaum noch jemanden, der diesen Schritt von
damals verteidigt. Hätte man bei der Anhörung im Bun-
destag genau hingehört, wäre das Kooperationsverbot
wohl nicht verhängt worden. Dort erklärten mehrere
Sachverständige in großer Deutlichkeit, dass sie diesen
Schritt für einen Fehler halten. So hob der Föderalis-
musexperte Professor Dr. Schneider vom deutschen
Föderalismusinstitut Hannover hervor, dass sich – ich
zitiere aus dem Protokoll der Anhörung im Deutschen
Bundestag – „das Erziehungs- und Bildungswesen am
allerwenigsten zu einer strikten Trennung von Bundes-
und Landeskompetenzen“ eigne. Damals bestanden vor
allem die Bundesländer darauf, die alleinige Verantwor-
tung auf dem Gebiet der Bildung übernehmen zu wollen.



gegebene Reden

Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

Heute hört man in Ost wie West Forderungen nach
mehr Einheitlichkeit im Bildungswesen, und es scheint
so etwas wie eine Gegenbewegung zu geben. Inzwischen
sind sich alle Parteien einig, dass Bildung eine gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe sein muss. Wir als Linke spre-
chen von einer Gemeinschaftsaufgabe und verstehen da-
runter die gemeinsame Verantwortung der öffentlichen
Hand auf allen Ebenen. Doch heute darf der Bund sich
grundsätzlich nicht mehr an den Investitionen in den
Bau von Schulen beteiligen, und so erfinden die Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien fleißig
Programme, mit denen dieses Verbot der Zusammen-
arbeit und gemeinsamen Verantwortungsübernahme
diskret unterlaufen werden kann. Ohne dies wären auch
die lokalen Bildungsbündnisse nicht zu fördern. Von
„Bildungspartnerschaften“ ist dann die Rede und von
„Sicherung der Nachhaltigkeit“ früherer Programme.
Aber eigentlich geht auch das alles nach dem Grundge-
setz nicht. Darum musste erst das Grundgesetz in der
Föderalismusreform II geändert werden, sodass wenigs-
tens in Katastrophenfällen geholfen werden kann. Sonst
hätten Schulen und Kultureinrichtungen vom Konjunk-
turpaket II gar nicht profitieren können.

Tatsächlich leistet der Bund für das Ziel, künftig
7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus-
zugeben, nicht viel. Der Bildungsanteil in den Länder-
haushalten beträgt im Durchschnitt heute bereits mehr
als 32 Prozent; der in den Kommunen dürfte, je nach Be-
rechnung, bei 20 Prozent liegen. Der Bildungsanteil im
Bundeshaushalt liegt deutlich unter 5 Prozent. Dabei
formuliert der Bund ständig Erwartungen und setzt so-
gar gesetzliche Rahmen, die Konsequenzen für bil-
dungspolitische Entwicklungen haben müssten: die Er-
wartung, die starke Abhängigkeit des Bildungserfolges
von der sozialen Herkunft zu mindern, die UN-Konven-
tion über inklusive Bildung umzusetzen und einen
Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung zu verwirkli-
chen. Die Maßnahmen dazu reichen zwar längst nicht
aus, sind aber schon jetzt auf allen Ebenen unterfinan-
ziert.

Das Ganztagsschulprogramm wurde initiiert, um ein
flächendeckendes Ganztagsschulangebot zu entwickeln.
Das Ziel ist richtig. Aber das vom Bund bezuschusste
Bauprogramm war nur der Startschuss und löste bei den
Ländern und Kommunen massive Folgekosten aus.
Ganztagsschulen müssen nicht nur unterhalten, sondern
auch mit Leben erfüllt werden. Dazu gehört nicht nur die
dauerhafte materielle Ausstattung der Schulen, sondern
auch die Bezahlung von Lehrkräften und anderem päda-
gogischen Personal. Es geht um die Sicherung der in-
haltlichen Qualität des Ganztagsschulbetriebs. Dafür
aber reichen Bauprogramme nicht aus.

Oder nehmen wir den frühkindlichen Bereich: Hier
hat die Bundesregierung sogar einen Rechtsanspruch
festgeschrieben – auch das ist richtig –, wenngleich nur
halbherzig, weil kein Ganztagsanspruch formuliert
wurde. Dass aber für frühkindliche Bildung mehr als gut
aufgeschriebene Programme nötig sind, nämlich mas-
senhaft gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, ist
im Eifer der guten Tat untergegangen. Nach den jüngs-
ten Zahlen der Bundesregierung über den Ausbaustand
Zu Protokoll
fehlen schon für das Erreichen des angestrebten Ziels
für die unter Dreijährigen bis 2013 noch immer
78 000 Erzieherinnen und Erzieher in der frühkindli-
chen Bildung. Für den Ausbau der Kinderbetreuung ist
von der Bundesregierung aber bis auf ein kleines Bau-
programm aus dem Jahre 2007 von 2,15 Milliarden
Euro nichts geleistet worden. Für alle anderen Kosten
sind die Länder und Kommunen zuständig. Nicht um-
sonst mehren sich heute die Klagen, dass die Aufgabe
bis 2013 nicht zu schaffen ist. Alleine die Stadt Magde-
burg, aus der ich komme, gibt über 49 Millionen Euro
pro Jahr für Kinderbetreuung aus.

Wenn künftig Bildung als Gemeinschaftsaufgabe ver-
standen werden soll, muss auch der Bund seiner Verant-
wortung nachkommen können für mehr Vergleichbarkeit
in der Bildung, für die Überwindung sozialer Ausgren-
zung, für die Sicherung einer hohen Bildungsqualität
und für eine gute Ausstattung der Bildungsinstitutionen.
Darum muss als erster Schritt das Kooperationsverbot
fallen. Dafür soll unser Antrag den Aufschlag geben. Sie
alle wissen, dass das Kooperationsverbot bildungspoli-
tisch nicht zu begründen ist. Darum springen Sie einmal
über Ihren Schatten. Stimmen Sie unserem Antrag ein-
fach zu.

Mittelfristig muss man weiter gehen. Die Gemein-
schaftsaufgabe Bildung ist im Interesse einer modernen
Ausgestaltung des Föderalismus durch alle Bildungsbe-
reiche hinweg neu zu definieren. Die Abteilung „Pro-
grammerfindung“ im BMBF kann dann künftig ander-
weitig beschäftigt werden. Dazu aber bedarf es einer
umfangreichen Debatte zwischen Bund, Ländern und
Kommunen, die heute begonnen werden muss.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn sagen: Mit
der Einführung des Kooperationsverbots im Rahmen der
Föderalismusreform I im Jahre 2006 haben sich Bund
und Länder einen Bärendienst erwiesen. Dies ist keine
neue Erkenntnis, musste aber offensichtlich so lange
wiederholt werden, bis auch Bundesministerin Schavan
so langsam zu der Erkenntnis kam, dass man wohl da-
mals einen Fehler gemacht hat. Denn was ist die Konse-
quenz? Der Bund kann seinen Teil der gesamtstaatlichen
Verantwortung für Bildung nicht wahrnehmen. Stattdes-
sen wird viel Energie verschwendet, Umwege dafür zu
suchen, wie der Bund die Länder doch unterstützen
kann. Das Konjunkturprogramm II ist ein Beispiel dafür.
Weil die Finanznot von Ländern und Kommunen groß
ist, der Bund aber keine direkte Unterstützung beim
Schulbau leisten darf, wurde die Begründung „energeti-
sche Sanierung“ bemüht, um den Schulen dennoch Geld
zukommen lassen zu können. Viel sinnvoller wären aber
gemeinsam von Bund und Ländern ausgehandelte und
finanzierte Programme, die zu einer Qualitätssteigerung
im Bildungsbereich führen: ganztägige gute Bildung,
längeres gemeinsames Lernen, ein inklusives Schulsys-
tem, die Förderung von Migrantenkindern, ein besserer
Übergang von der Schule in die Ausbildung. Die Liste ist
lang.



gegebene Reden





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

Seit einiger Zeit spricht Bundeskanzlerin Merkel ja
gerne von der „Bildungsrepublik Deutschland“. Doch
was ist bisher daraus geworden? Zwei gescheiterte Bil-
dungsgipfel 2008 und 2009. Der nächste steht im Juni
dieses Jahres an. Doch warum soll das Ergebnis besser
sein als bei den vorangegangenen? Wenn die Bundes-
regierung nicht endlich anfängt, eine Initiative zur Auf-
hebung des Kooperationsverbotes einzuleiten, dann
wird auch dieser Gipfel zu einer Farce. Selbst Frau
Schavan, einst Kämpferin für eine „Nichteinmischung“
des Bundes in Bildungsfragen, gibt inzwischen zu, dass
das Kooperationsverbot ein Fehler war. Es sei 2006 aus
einer „momentanen Missstimmung“ zwischen Bund und
Ländern, in erster Linie auf Drängen der Ministerpräsi-
denten, beschlossen worden. Ich frage Sie: Sollen wir
jetzt weitere Jahre wegen einer „Missstimmung“ das
Kooperationsverbot weitertragen, das verhindert, dass
wir gerade in einem so wichtigen Bereich wie der Bil-
dungspolitik eine Stagnation erleben? Das Koopera-
tionsverbot ist eine selbstverordnete Einschränkung der
politischen Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern.
Der sogenannte Wettbewerbsföderalismus hat das Bil-
dungsniveau insgesamt nicht gesteigert, die Qualität der
Schulen nicht verbessert. Initiativen wie das Investi-
tionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ für
mehr Ganztagsschulen haben gezeigt, dass es wichtig
ist, Programme gemeinsam aufzulegen, durchzuführen
und zu finanzieren.

Sehr geehrte Ministerin Schavan, ziehen Sie die fol-
gerichtige Konsequenz aus Ihrer späten Erkenntnis,
dass das Kooperationsverbot ein Fehler war. Ergreifen
Sie die Initiative für eine Grundgesetzänderung, damit
die Kooperation von Bund und Ländern im Bereich der
allgemeinen Bildung wieder möglich wird. Wir unter-
stützen Sie dabei gerne.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703434600

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/785 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verpflichtung zur Registrierung aller klini-
schen Studien und zur Veröffentlichung aller
Studienergebnisse einführen

– Drucksache 17/893 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig

In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass
auch hier die Reden zu Protokoll genommen werden.
Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Rolf Koschorrek, René Röspel, Dr. Marlies Volkmer,
Lars Lindemann, Dr. Petra Sitte und Birgitt Bender.


Dr. Rolf Koschorrek (CDU):
Rede ID: ID1703434700

Mit der Redewendung „Eulen nach Athen tragen“

bezeichnet man gemeinhin eine überflüssige Tätigkeit.
„Eulen nach Athen tragen“ wäre auch eine passende
Überschrift für den hier vorgelegten Antrag der Linken
zur Registrierung und Veröffentlichung aller klinischen
Studien und ihrer Ergebnisse, denn die Bundesregierung
ist längst dabei, die zentralen Forderungen des hier vor-
gelegten Antrags auf den Weg zu bringen.

Auf europäischer Ebene: Innerhalb der Europäischen
Union besteht bereits eine Registrierungspflicht für alle
hier durchgeführten klinischen Studien in der – zurzeit
allerdings noch nur behördenintern zu nutzenden –
EudraCT-Datenbank. Die Bundesregierung setzt sich
auf europäischer Ebene dafür ein, dass die Daten der
klinischen Studien für die Öffentlichkeit zugänglich ge-
macht werden und engagiert sich dementsprechend bei
der Erarbeitung der erforderlichen EU-Richtlinien.
Konkret geht es dabei um die Festlegung der Datenfel-
der, die der Öffentlichkeit sinnvollerweise bereitgestellt
werden sollen. Als maßgebliches Kriterium hierfür sieht
die Bundesregierung, dass die zugänglich zu machenden
Informationen für die Öffentlichkeit von Nutzen sein
müssen.

In Deutschland: An der Universität Freiburg befindet
sich mit Förderung des Bundesforschungsministeriums
ein nationales Studienregister für klinische Studien im
Aufbau, das Deutsche Register Klinischer Studien,
DRKS. Es umfasst neben Arzneimittelstudien und Stu-
dien zu Medizinprodukten Studien zu medizinischen,
physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Ver-
fahren. Es wird in enger Zusammenarbeit mit der WHO
– speziell mit der International Clinical Trials Registry
Platform, ICTRP – konzipiert. Das DRKS ist seit Okto-
ber 2008 als WHO-Primärregister anerkannt und erfüllt
damit die Anforderungen des International Committee
of Medical Journal Editors, ICMJE, dessen Mitglieder
bereits im September 2004 die prospektive Registrie-
rung klinischer Studien als Voraussetzung für eine Ver-
öffentlichung beschlossen haben. Es zählt zu den der-
zeit weltweit zehn Primärregistern, die in die WHO-
Plattform „International Clinical Trial Registry Plat-
form“, ICTRP, mit einem internationalen Standard für
die Registrierung klinischer Studien integriert ist.

Das DRKS bietet die Möglichkeit, Informationen zu
laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien in
Deutschland zu suchen oder eigene Studien über die Re-
gistrierung anderen zugänglich zu machen. Im Ge-
schäftsbereich des BMBF ist die Registrierung klini-
scher Studien Voraussetzung für eine Förderung, zum
Beispiel in der Fördermaßnahme „Klinische Studien“.
Eine verpflichtende Registrierung aller klinischen Stu-
dien beim DRKS lässt sich derzeit gesetzlich nicht ver-
ankern. Allerdings wird auf untergesetzlicher Ebene da-
rauf hingewirkt, dass möglichst viele Studien im Rahmen
des Antragsverfahrens bei den Ethikkommissionen frei-
willig beim DRKS registriert werden.

Dr. Rolf Koschorrek


(A) (C)



(D)(B)

Dies ist der aktuelle Sachstand der laufenden Bemü-
hungen und des aktiven Einsatzes der Bundesregierung
hinsichtlich der Registrierung von klinischen Studien
und zu den Neuregelungen, wie der Zugang für Ärzte,
Patienten und die Wissenschaft zu den Daten der klini-
schen Studien national und international optimiert wird.
Anstelle weiterer Ausführungen dessen, was aus unserer
Sicht zu dem hier eingebrachten Antrag darzulegen
wäre, ist hier auf die ausführliche Antwort der Bundes-
regierung auf die Anfrage der Fraktion Die Linke,
Drucksache 17/349, hinzuweisen, die dem Parlament
vorliegt und darüber hinaus allgemein zugänglich ist.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1703434800

Klinische Studien sind ein wichtiger Baustein moder-

ner Gesundheitsforschung. Jedoch leidet auch dieser
Forschungszweig unter einem Problem, das zwar
menschlich verständlich, in diesem Bereich aber über-
haupt nicht angebracht ist: positive Ergebnisse werden
überbetont, negative Ergebnisse hingegen zu oft ver-
heimlicht. Dies gilt insbesondere, wenn die klinischen
Studien durch Unternehmen finanziert werden und das
eigentliche Ziel der Studie nicht der Wissensgewinn,
sondern der Nachweis positiver Wirkungen etwa eines
Arzneimittels, ist. Dieser sogenannte „Publication
Bias“ ist ein vielfach nachgewiesenes und seit langem
bekanntes Problem. Kritisch wird dieser Sachverhalt vor
allem dort, wo es um eine gute und finanziell dem Nutzen
angemessene medizinische Versorgung kranker Men-
schen geht.

Die Probleme, vor denen etwa das Institut für Quali-
tät und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in der
Vergangenheit stand und bis heute steht, sind korrekt im
Antrag der Fraktion Die Linke beschrieben. Wir müssen
uns fragen, ob wir als Gesellschaft wirklich akzeptieren
wollen, dass, wie im vorliegenden Fall für drei Antide-
pressiva, bei insgesamt rund 5 100 Testpersonen nur
Daten von 1 600 Probanden transparent verfügbar sind
und publiziert wurden. Die beste Lösung für dieses Pro-
blem kann nur sein, dass wir eine Verpflichtung zur Re-
gistrierung aller klinischer Studien, die in Deutschland
durchgeführt werden, einführen.

Es war und ist gut und richtig, dass das Bundesminis-
terium für Bildung und Forschung knapp 2,3 Millionen
Euro aufgewandt hat, um das „Deutsche Register klini-
scher Studien“, DRKS, aufzubauen. Man muss sich aber
fragen, ob die Schaffung von Anreizen für eine freiwil-
lige Registrierung der Studien beim DRKS ausreicht.
Die Bundesregierung vertritt laut Bundestagsdrucksa-
che 17/349 die Auffassung, dass diese Anreize ausrei-
chen. Wir als Fraktion der SPD teilen diese Bewertung
ausdrücklich nicht. Man muss sich fragen, wer einen
Nutzen aus dem Verzicht auf eine allgemeine Registrie-
rungspflicht hat und hier kommen einem sicherlich we-
der die Probanden noch die Kranken noch unsere Ge-
sellschaft allgemein in den Sinn.

Nicht nur aus Gründen der Verbesserung der Versor-
gung, sondern auch aus forschungspolitischer Sicht ist
eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischer
Studien wünschenswert. So steht zu hoffen, dass eine
Zu Protokoll
umfassende Registrierung etwa dazu führt, dass es Per-
sonen, die an seltenen Krankheiten leiden, leichter mög-
lich sein wird, sich an einer Studie zu beteiligen. Ohne
Registrierungspflicht hätte die Mehrzahl dieser Perso-
nen vermutlich nie von der Studie erfahren. Forschung
und Wissenschaft leben vom freien Austausch von Infor-
mationen. Ohne eine allgemeine Registrierungspflicht
kann man jedoch nie sicher die Frage beantworten, wel-
che Studien zur Krankheit X oder zum Arzneimittel Y be-
reits durchgeführt wurden. Doppelstudien, die durchaus
auch Gefahren für die Probandinnen und Probanden be-
inhalten können, sind die Folge. Ohne Not werden hier
Ressourcen verschwendet, die man besser in zusätzliche
Studien investieren sollte.

Wer gegen eine allgemeine Registrierungspflicht ar-
gumentiert, der sollte sich bewusst sein, dass offenkun-
dig in Deutschland größere Bedenken bestehen als in
anderen Ländern. So haben etwa die USA eine solche
Verpflichtung bereits in geltendes Recht übernommen –
und die USA gelten wahrlich nicht als Land, in dem For-
schung und Freiheit durch bürokratische Fesseln ge-
hemmt werden.

Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ge-
meinsam mit der Fraktion der CDU/CSU einen guten
Antrag zur Förderung nichtkommerzieller klinischer
Studien, Bundestagsdrucksache 16/6775, auf den Weg
gebracht. Diese kollegiale Zusammenarbeit im Sinne
der Patientinnen und Patienten sollten wir fortsetzen.
Wir werden daher ebenfalls einen Antrag in die parla-
mentarische Beratung einbringen. Dieser wird unter an-
derem, ausgehend von der genannten Drucksache, Vor-
schläge unterbreiten, um den öffentlichen Zugang zu
Informationen über klinische Studien umfassend sicher-
zustellen.

Im Gegensatz zum Vorschlag der Fraktion Die Linke
werden wir aber auch stärker darauf Rücksicht nehmen,
dass die Sponsoren klinischer Studien ebenfalls berech-
tigte Interessen haben. So darf etwa eine Registrierungs-
pflicht nicht zum Einfallstor für den Diebstahl von Ideen
und Forschungsdesigns werden. Dieser Aspekt wird im
Antrag der Fraktion Die Linke leider nicht ausreichend
berücksichtigt. Daher sehen wir den Antrag der Linken
als interessanten Impuls für unsere parlamentarische
Debatte; aber wir werden einen besseren Vorschlag zur
Lösung der im vorliegenden Antrag beschriebenen Pro-
bleme unterbreiten.


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1703434900

Bereits seit Jahren diskutieren wir darüber, wie die

Transparenz über laufende, beendete oder abgebro-
chene klinische Studien erhöht werden kann. Heute kann
es keinen Zweifel mehr darüber geben: Die Zeit der frei-
willigen Selbstverpflichtungen ist vorbei. Registrierun-
gen und Veröffentlichungen auf freiwilliger Basis wer-
den niemals zu einem vollständigen Überblick über die
Studien zu einem Arzneimittel oder einem therapeuti-
schen Verfahren führen. Seit den ersten Diskussionen um
die Einführung von Studienregistern hat sich einiges ge-
tan. Heute bezweifelt niemand mehr ernsthaft den Sinn
einer Registrierung von Studien. Register sind unter an-



gegebene Reden

Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)

derem notwendig, weil die Berichterstattung über Stu-
dienergebnisse, positive und negative, vollständig sein
muss. Dies ist wichtig bei der Bewertung des Nutzens ei-
ner Therapie. Zudem ist überflüssige Forschung am
Menschen unethisch und muss vermieden werden. Da-
rüber hinaus müssen Patientinnen und Patienten sowie
Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit erhalten, sich über
laufende Studien zu einzelnen Erkrankungen zu infor-
mieren, aber auch über die besten Behandlungsmöglich-
keiten in bestimmten klinischen Situationen.

Mittlerweile gibt es international eine ganze Reihe
von Registern, die allerdings unterschiedlich zugänglich
und bekannt sind. Das europäische Register EudraCT
dürfte eines der umfangreichsten Register in Europa
sein, da jede klinische Prüfung mit Arzneimitteln dort re-
gistriert sein muss, bevor die Prüfung begonnen wird. Al-
lerdings beinhaltet EudraCT ausschließlich Arzneimit-
telstudien und ist weder Ethikkommissionen noch Ärzten
oder gar der Öffentlichkeit zugänglich. Es gibt Register
in anderen Ländern wie das Register des National Insti-
tute of Health in den USA, www.clinicaltrials.gov. Leider
ist der Anteil der Studien, die Firmen mit Sitz in
Deutschland dort registrieren, nach Aussagen von Ex-
perten äußerst gering. Es wird davon ausgegangen, dass
lediglich 10 bis 30 Prozent aller in Deutschland durch-
geführten Studien dort registriert werden. Es ist bekannt,
dass die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft nicht ein-
mal regelmäßig englischsprachige Artikel in Fachzeit-
schriften zur Kenntnis nimmt. Vor diesem Hintergrund
verwundert es nicht, dass auch nur einer Minderheit das
amerikanische Register überhaupt bekannt ist – was zu-
dem nichts über seine Nutzung sagt.

Argumentiert wird häufig, dass für die Publikation in
einer großen Fachzeitschrift eine Registrierung ohnehin
notwendig sei. Nur: Nicht jede klinische Prüfung wird
publiziert. Vor allem von abgebrochenen Studien und
von Studien mit negativen Ergebnissen, zum Beispiel,
wenn das Arzneimittel nicht die erhoffte Wirkung hatte,
erfahren in der Regel nur die zuständige Bundesoberbe-
hörde und die Ethikkommission, sonst niemand. So
kommt es dazu, dass die Wirksamkeit zum Beispiel von
Arzneimitteln systematisch überschätzt wird, die Risiken
hingegen unterschätzt werden. Das kann fatale Folgen
bei der Behandlung von Patienten haben; denn das be-
stehende Risiko durch nutzlose oder schädliche Behand-
lungen kann kein Arzt aus eigener Kraft recherchieren.
Aber auch Institutionen wie das Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, stoßen
an Grenzen. Das IQWiG hat die Aufgabe, den Nutzen
von Arzneimitteln und anderen Therapien und das Kos-
ten-Nutzen-Verhältnis zu bewerten, und zwar durch Ver-
gleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsfor-
men. Die Bewertung ist dabei maßgeblich von der
Vollständigkeit der publizierten Literatur abhängig. Um
das Problem der lückenhaft publizierten Studien aus der
Welt zu schaffen, hat das IQWiG mit den pharmazeuti-
schen Herstellern bereits 2005 eine grundsätzliche Eini-
gung zur Übergabe solcher Daten vereinbart. Allerdings
ist auf diese Ankündigungen kein Verlass. Nach Aussa-
gen des IQWiG gab es in den letzten Jahren wiederholt
Fälle, in denen es Firmen abgelehnt hatten, dem Institut
Zu Protokoll
Unterlagen zu Studien zur Verfügung zu stellen, die es
für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln benötigte.
Das IQWiG schildert konkret eine Bewertung von Arz-
neimitteln zur Behandlung von Depressionen. In diesem
Fall fehlten in der öffentlich zugänglichen Literatur die
Ergebnisse von etwa zwei Dritteln der behandelten Pa-
tienten. Dabei suggerierten die veröffentlichten Ergeb-
nisse einen Nutzen, der sich letztlich bei Betrachtung al-
ler Daten nicht belegen ließ.

Vor diesem Hintergrund braucht es dringend eine Re-
gistrierungs- und eine Veröffentlichungspflicht klini-
scher Studien. Die Registrierungspflicht muss sich auf
das Deutsche Register für Klinische Studien, DRKS, be-
ziehen, das seit 2007 mit finanzieller Unterstützung des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung aufge-
baut wird. Anders als andere Register, zum Beispiel auch
das geplante europäische EudraPharm-Register, um-
fasst das DRKS über Arzneimittelstudien hinaus Studien
zu Medizinprodukten und Studien zu medizinischen,
physiotherapeutischen oder psychotherapeutischen
Verfahren. Anders als andere Register bietet es durch
die deutsche Sprache Patientinnen und Patienten und
Ärztinnen und Ärzten einen einfachen Zugang. Zudem
soll es – auch das ist nicht unbedingt Usus – eines Tages
Studienergebnisse verzeichnen können. Deshalb braucht
das DRKS langfristig eine ausreichende finanzielle und
personelle Ausstattung.

Sie sehen, dass ich die Hauptargumente des vorlie-
genden Antrags teile. Im Detail sehe ich Verbesserungs-
bedarf vor allem hinsichtlich der konkreten Umsetzung
der Registrierungspflicht. Deshalb wird die SPD-Frak-
tion einen eigenen Antrag vorlegen.


Lars Lindemann (FDP):
Rede ID: ID1703435000

Die Linke hat uns hier einen Antrag vorgelegt, in dem

sie eine uneingeschränkte und undifferenzierte Regis-
trierungs- und Veröffentlichungspflicht für klinische Stu-
dien fordert. Als Begründung wird eine „systematische
Verzerrung in der Bewertung von diagnostischen und
therapeutischen Verfahren“ im gegenwärtigen For-
schungsbetrieb genannt. Dabei umfasst der Geltungsbe-
reich des Antrages Studien forschender Unternehmen
ebenso wie öffentlicher Institute. Ziel soll es sein, fal-
sche Wirksamkeits- und Risikobewertungen zu verhin-
dern. Dieses Ziel teilen wir. Wir haben ein Interesse da-
ran, dass nur solche Arzneimittel auf den Markt
kommen, die wirksam und sicher sind. Und wir haben
ein Interesse an einer guten Verfügbarkeit von Daten
und einer verständlichen Kommunikation der relevanten
Ergebnisse. Sie allerdings nutzen selbst dieses Thema
dazu, Ideologie zu transportieren, statt sachdienliche
Vorschläge zu machen; denn von der Sache haben Sie
ganz offensichtlich nicht viel Ahnung. So zeichnen Sie
einmal mehr das düstere Bild von Forschung, als wäre
sie nicht Hoffnung und Heilsbringer kranker Menschen,
sondern das Reich des Bösen. Sie stellen die Forscher-
gemeinde unter den Generalverdacht der Manipulation
und schießen scharf auf ihren Klassenfeind. Gleichzeitig
beweisen Sie Ihre Realitätsferne, indem Sie die qualita-
tiven Selbstregulationsmechanismen des Wissenschafts-
betriebes ignorieren und keinerlei Differenzierung etwa



gegebene Reden

Lars Lindemann


(A) (C)



(D)(B)

zwischen Phase-I- und Phase-III-Studien vornehmen.
Forscher sollen bei Androhung von Strafe gezwungen
werden, ihre sämtlichen Ergebnisse nicht nur für Fach-
adressaten zu formulieren, sondern stets auch laienver-
ständlich. Aber was heißt das eigentlich in der Wirklich-
keit? Können Sie mir sagen, welcher Bürger sich für die
pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Daten
einer Substanz interessiert, die bereits in dieser Phase
aus dem Prozess fliegt und niemals in der Klinik landet?
Wie kann man ohne Fachausbildung überhaupt die Rele-
vanz dieser Parameter beurteilen? Und haben Sie eine
Vorstellung, welche zusätzliche bürokratische Belastung
sie den Forschergruppen zumuten? Das ist wirklich
nicht Ihre Welt; das merkt man in jeder Zeile Ihres An-
trages.

Wissenschaftliche Fragestellungen sind differenziert,
Studienpublikationen haben bestimmte Adressaten, und
nicht jede Studie hat Fragestellungen, die sich auf eine
einfache Aussage reduzieren lassen. Und wollen Sie
ernsthaft sagen, dass ein Laie die statistische Signifi-
kanz einer Korrelation mathematisch nachvollziehen
will? Für den Bürger ist wichtig, dass ein Mittel wirk-
sam und sicher ist und für die richtige Indikation ver-
wendet wird. Die Aufgabe, dies sicherzustellen, hat die
Zulassungsbehörde, in der die Fachleute sitzen, die Stu-
dien in ihrer wissenschaftliche Tiefe beurteilen und alle
Informationen auch einordnen können. Dem bürokrati-
schen Aufwand stünde gerade bei Phase-I-Studien kei-
nerlei Nutzen gegenüber. Deshalb setzt übrigens auch
die amerikanische Food and Drug Administration, FDA,
den Filter bei Studien, die sich auf zugelassene Arznei-
mittel beziehen.

Darüber hinaus schüren Sie Ängste, es würden in gro-
ßem Stil gefährliche Medikamente, Hilfs-, Heilmittel und
Verfahren zugelassen. Dabei ignorieren Sie völlig die
gute Arbeit des Bundesinstituts für Arzneimittel und Me-
dizinprodukte, BfArM, des Instituts für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, der eu-
ropäischen Arzneimittelagentur, EMEA, des Paul-Ehr-
lich-Institutes, der Forschungsinstitute selbst, der wis-
senschaftlichen Fachzeitschriften, der medizinischen
Fachgesellschaften, der forschenden Pharmaunterneh-
men, der Krankenkassen, der Ärzte und Therapeuten.
Damit sind nur einige genannt, die einen international
extrem hohen Standard der Qualitätssicherung in
Deutschland sicherstellen.

Niemand wird in Abrede stellen, dass Untersuchungs-
ergebnisse wissenschaftlicher Studien in Ausnahmefäl-
len gefälscht oder auch zielorientiert erstellt werden.
Dass dies möglich ist, liegt vor allem daran, dass der
stetig wachsenden Masse von Publikationen – abgese-
hen von solchen, die Teil von Zulassungsverfahren sind,
kaum Ressourcen zur Überprüfung gegenüberstehen.
Aber was ändert Ihr Vorschlag daran? Wer die kriminelle
Energie aufbringt, Protokolle zu fälschen oder Mess-
werte zu schönen, der wird nicht dadurch abgeschreckt,
dass er seine Studie registriert hat und sie neben dem
Fachjournal noch in einer zusätzlichen Datenbank veröf-
fentlicht. Kommt es zu einem Zulassungsverfahren, müs-
sen die Daten spätestens den strengen Kriterien des Ver-
Zu Protokoll
fahrens standhalten. Und hier sind dann auch die
Ressourcen.

Wir befürworten eine bessere Verfügbarkeit wissen-
schaftlicher Daten aus medizinischen Studien. Deswe-
gen begrüßen wir die Selbstverpflichtung zur Registrie-
rung und Publikation sämtlicher Studien, die sich der
Verband Forschender Arzneimittelhersteller, vfa, auferlegt
hat. Diese ist so angelegt, dass ein vollständiger Überblick
über die in einem bestimmten Indikationsgebiet durchge-
führten Studien ermöglicht wird. Hier ist die europäische
Datenbank für klinische Studien, EUDRACT, eingebunden.
Aktivitäten auf europäischer Ebene, die eine Erweiterung
der Zugänglichkeit der EUDRACT-Daten anstreben,
halten wir für sinnvoll. Der Aufbau eines zusätzlichen
nationalen Registrierungs- und Publikationssystems
liegt aber eindeutig nicht im Interesse einer einfacheren
Zugänglichkeit von Daten.

Punktum: Ihr Antrag ignoriert die bestehenden Me-
chanismen und enthält nichts, was Sicherheit und Quali-
tät von Arzneimitteln erhöhen würde. Stattdessen wollen
Sie die Forschergemeinde durch kontraproduktive Büro-
kratie noch mehr belasten. Das schadet nicht nur der
Forschung, sondern schließlich auch den kranken Men-
schen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703435100

Gestern hat US-Präsident Obama das größte innen-

politische Projekt der Legislaturperiode, eine Gesund-
heitsreform samt Versicherungspflicht für alle Bürger,
auf den Weg gebracht. Das amerikanische Gesundheits-
system ist bekanntermaßen das teuerste der Welt, auch
die Arzneimittelkosten liegen an der globalen Spitze.
Obama hat mit der Versicherungspflicht einen ersten
richtigen Schritt getan. Nun folgen die Mühen der
Ebene: Das Versicherungssystem darf kein Selbstbedie-
nungsladen für die Leistungserbringer und Pharmafir-
men werden, sondern muss die bestmögliche Versorgung
zu vertretbaren Kosten im Blick haben. Ein Teil dieser
Debatte wird sich um die Kosten-Nutzen-Bewertung von
Arzneimitteln drehen. Während den USA viele Bewer-
tungsinstrumente fehlen, haben sie Deutschland jedoch
eines voraus: eine gesetzliche Pflicht zur Registrierung
und Veröffentlichung der Daten aus klinischen Studien.
Seit 2008 enthält der Food and Drug Administration
Amendment Act, FDAAA, die Vorschrift, dass alle Regis-
trationsdaten klinischer Studien, aber auch die Ergeb-
nisse der Untersuchungen im Internet zu veröffentlichen
sind.

Warum hat sich dieses industriefreundliche Land zu
solch einem radikalen Schritt entschlossen? Weil es der
Publikationspraxis industriegeführter Pharmaforschung
nachweislich an Transparenz mangelt. Dies verwundert
nicht. Schließlich sind positive Studienergebnisse ein
Push-up für Absatz und Börsenkurs, während die Nach-
richt von Unwirksamkeit oder gar Komplikationen und
Nebenwirkungen von Wirkstoffen Milliardenumsätze
verhindern können. Auch die Frage, ob ein neues Medi-
kament besser wirkt als ein bereits am Markt befindli-
ches, hat Auswirkungen auf den Umsatz der Pharmakon-
zerne. Wenn die Kassen das neue Medikament nicht



gegebene Reden

Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)

erstatten, dann entsteht unter Umständen gar kein Markt
dafür.

Aber nicht nur die sogenannten Sponsoren der Stu-
dien, also die Industrieunternehmen, haben ein Interesse
an positiven Ergebnissen. Auch der wissenschaftlichen
Reputation von Forscherinnen und Forschern und von
Redaktionen der Journales helfen Erfolge in der Wirk-
stoffentwicklung eher als deren Risiken und Nebenwir-
kungen. Es gibt also handfeste Interessenlagen, die den
sogenannten Publikations-Bias hervorrufen. Studiener-
gebnisse mit positivem Inhalt werden dreimal so häufig
publiziert wie solche mit negativem Inhalt. Viele Studien
bleiben nach Abschluss oder Abbruch in der Schublade
der Sponsoren, auch wenn sie vorher ordentlich bei den
europäischen Behörden registriert worden sind. Ver-
schiedene Untersuchungen haben festgestellt, dass zwi-
schen den angemeldeten Studien und den dann in der
Fachliteratur publizierten Ergebnissen häufig eine
große Lücke klafft. Eine 2008 erschienene Untersu-
chung verglich Studienergebnisse, die der amerikani-
schen Arzneimittelbehörde FDA gemeldet wurden, mit
denen, die dann in der Fachliteratur auftauchten. Er-
gebnis: Die Daten der FDA können keinen signifikanten
therapeutischen Nutzen der zwölf untersuchten Antide-
pressiva nachwiesen; lediglich 51 Prozent der Studien-
ergebnisse waren positiv. In der Fachliteratur hingegen
wurden Prüfungen mit 94 Prozent positivem Ergebnis
dargestellt. Der Rest fiel zumindest für die Augen von
Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten und
Krankenversicherungen einfach unter den Tisch.

Der Publikations-Bias ist kein amerikanisches Pro-
blem. Gerd Antes, Leiter des renommierten Cochrane-
Zentrums in Heidelberg, geht davon aus, dass etwa die
Hälfte der in Deutschland angekündigten Studien nie
veröffentlicht wird. Das Institut für Qualität und Wirt-
schaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG, das den
Nutzen neuer Medikamente bewerten soll, muss sich zum
Teil mit noch schlechterer Datenlage begnügen. So ver-
weigerte der Pharmahersteller Pfizer trotz gegenteiliger
Vereinbarung die Einsicht in die Patientendaten zum An-
tidepressivum Edronax, das bereits seit zwölf Jahren auf
dem Markt ist. Lediglich 1 600 Datensätze wurden dem
Institut zur Verfügung gestellt; die 3 000 weiteren seien
nicht zur Bewertung des Medikaments geeignet – so die
lapidare Aussage des Konzerns gegenüber dem IQWiG.
Von den 17 Studien, die zu Edronax durchgeführt worden
sind, tauchten nur sieben in wissenschaftlichen Publika-
tionen auf – natürlich die mit positivem Ergebnis.

Wir finden, dass dieser Zustand der Intransparenz
und Vertuschung ein Ende haben sollte. Erkenntnisse
aus klinischen Studien sind keine „Geschäftsgeheim-
nisse“ und auch keine Privatsache der Financiers. Zum
einen wurden diese Studien fast immer unter Nutzung öf-
fentlicher Infrastrukturen und öffentlicher Grundlagen-
forschung durchgeführt. Zum anderen haben viele Ak-
teure ein Recht auf diese Ergebnisse: zuerst die
Probandinnen und Probanden selbst, die sich der Wis-
senschaft zur Verfügung stellen. Aber auch die wissen-
schaftliche Community, deren Diskurs auf Transparenz
und Validität gründet. Und nicht zuletzt sind alle Akteure
in der Gesundheitsversorgung auf die Daten angewie-
Zu Protokoll
sen. Patientinnen und Patienten wollen die verschriebe-
nen Therapien überprüfen können, Ärztinnen und Ärzte
die wirksamsten Medikamente verschreiben und die
Selbstverwaltung des Gesundheitswesens auf effizienten
Mitteleinsatz der Versichertenbeiträge und Steuermittel
achten.

Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht nur auf
europäischer Ebene um eine Veröffentlichungspflicht zu
ringen, sondern hier in Deutschland mit gutem Beispiel
voranzugehen. In Heidelberg wird, unterstützt durch das
Bundesforschungsministerium, seit 2007 das Deutsche
Register für Klinische Studien – kurz DRKS – aufgebaut.
Obwohl einige namhafte Forschungszeitschriften die
Registrierung der Studie in einem zertifizierten Register
zur Voraussetzung einer Publikation machen, wächst
der Datenbestand auf freiwilliger Basis nur äußerst
schleppend. Mit Stand von gestern waren 203 Studien
registriert. 1 300 klinische Tests werden jedoch nach
Aussage der Bundesregierung pro Jahr durchgeführt.
Das zeigt: Freiwilligkeit löst das Problem nicht. Wir
brauchen eine gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung
aller Daten aus klinischen Studien. Das DRKS, offiziell
von der WHO anerkannt, bietet für solch ein Vorhaben
die passende Infrastruktur. Sie müssen nur den Mut ha-
ben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
dem renditestärksten Industriezweig Grenzen zu setzen
und die Interessen der Öffentlichkeit in den Vordergrund
zu rücken. Dass zu den ersten Amtshandlungen des Ge-
sundheitsministers der sanfte Druck zur Absetzung des
renommierten IQWiG-Leiters Peter Sawicki gehörte,
stimmt mich in dieser Hinsicht zwar pessimistisch. Wir
setzen jedoch auf den sanften Druck der öffentlichen De-
batte, die in den letzten Monaten immer deutlicher eine
Veröffentlichungspflicht für klinische Studien gefordert
hat. SPD und Grüne, selbst Herr Spahn von der Union
und der Staatssekretär im Gesundheitsministerium Herr
Bahr von der FDP zeigten sich einer solchen Regelung
gegenüber aufgeschlossen. Dann sollte sie doch auch
umzusetzen sein.

Zugleich, das soll hier zum Schluss angemerkt sein,
kann die Debatte um Transparenz und Freiheit der medi-
zinischen Forschung mit diesem Vorhaben nicht abge-
schlossen werden. Eine Studie hat im Auftrag des deut-
schen Ärztetages im vergangenen Jahr festgestellt:
„Veröffentlichte Arzneimittelstudien erzielen häufig ein
für pharmazeutische Unternehmen günstiges For-
schungsergebnis, wenn diese Studien vom Herstellerun-
ternehmen finanziert wurden oder sich ein Autor in ei-
nem ökonomischen Interessenkonflikt befindet.“ Ergo:
Es muss um die Ermöglichung von mehr industrieunab-
hängiger Forschung gehen. Wir brauchen objektives
Wissen über den Nutzen und Schaden der immer komple-
xer werdenden therapeutischen und diagnostischen
Möglichkeiten.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703435200

Die fehlende Transparenz über bestehende Studien

und der fehlende Zugang zu deren Ergebnissen sind
nicht hinnehmbar und schaden letztlich allen Beteiligten
im Gesundheitswesen. Seit Jahren setzen wir Grüne uns
für ein öffentlich zugängliches, verpflichtendes Arznei-



gegebene Reden





Birgitt Bender


(A) (C)



(D)(B)

mittelstudienregister und die Veröffentlichung aller Stu-
dienergebnisse ein. Daher stößt der Antrag der Linken,
der dieses Thema parlamentarisch aufgreift, auf unsere
ungeteilte Zustimmung.

Ein öffentlich zugängliches und verpflichtendes Stu-
dienregister ist notwendig, da es erstens Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer an Forschungsvorhaben vor unnöti-
gen und gegebenenfalls schädlichen Studien schützt, da
es zweitens Forschende unterstützt, sich tatsächlich
neuen, bisher noch nicht erforschten Gebieten zu wid-
men, statt Redundantes zu erforschen oder sich in den
gleichen Sackgassen zu verlaufen wie andere zuvor, da
es drittens Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit bietet,
auf einer möglichst sicheren Basis Therapieempfehlun-
gen und Leitlinien zu entwickeln, und da es viertens
Patientinnen und Patienten nicht – im Extremfall tödli-
chen – Nebenwirkungen aussetzt, die unter Umständen
den Herstellern bekannt waren, von ihnen aber ver-
schwiegen werden.

Wie notwendig ein solches Vorgehen ist, zeigen Arz-
neimittelskandale der letzten Jahre. Genannt seien aus
dem Jahr 2000 Vioxx, wo Hinweise auf ein erhöhtes kar-
diovaskuläres Risiko der Öffentlichkeit offenbar systema-
tisch vorenthalten wurden, und aus dem Jahr 2007 das
Antidepressivum Seroxat. Hier wurde dem Hersteller
vorgeworfen, Forschungsergebnisse, die eine erhöhte
Selbstmordgefahr bei Teenagern zeigten, zurückzuhalten.
Auf den aktuellen Fall, die Vorenthaltung von Studien ge-
genüber dem IQWiG – auch hier handelte es sich um An-
tidepressiva –, weist der Antrag ja bereits hin.

Seit Jahren bohren wir Grüne an diesem dicken Brett.
Dass dies nicht immer einfach ist, davon kann ich ein
Lied aus den letzten Wahlperioden im Bundestag singen.
2003/2004 stand die 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz
auf der Tagesordnung. Wir gingen damals mit zwei For-
derungen, die einen engen Bezug zur heutigen Debatte
haben, in die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner
SPD. Zum Ersten mit der Forderung nach einem natio-
nalen Register aller genehmigten klinischen Prüfungen,
das regelmäßig evaluiert werden sollte. Zum Zweiten mit
der Forderung nach expliziten Auskunftsrechten von
Probandinnen und Probanden zu den Ergebnissen der
Studie, an der sie selbst teilgenommen haben. Mit beiden
Anliegen sind wir gescheitert. Damals fehlte es an einer
Unterstützung aus der SPD-Fraktion. Immerhin ist ein
Teil der SPD kurz danach aufgewacht. Ende 2004 nach
einer Anhörung der Enquete-Kommission Ethik und
Recht in der modernen Medizin schrieben sie sich ein
verpflichtendes Studienregister plötzlich auf die Fahne.
Erreicht haben wir Grüne damals nur einen kleinen
Schritt in die richtige Richtung. Den Ethik-Kommissio-
nen wurde ein indirekter Zugang zur europäischen Da-
tenbank EudraCT ermöglicht. Mit § 42 Abs. 2 a AMG
wurde das BfArM oder PEI verpflichtet, die zuständigen
Ethikkommissionen zu unterrichten, wenn Informatio-
nen insbesondere zu abgebrochenen oder vorzeitig be-
endeten klinischen Prüfungen vorliegen, die für die Be-
wertung der beantragten Studie von Bedeutung sind.

In der letzen Wahlperiode forderten dann Abgeord-
nete der Regierungskoalition, versteckt im Antrag
„Nichtkommerzielle klinische Studien in Deutschland
voranbringen“, von ihrer eigenen Regierung ein natio-
nales Register und eine Erleichterung des öffentlichen
Zugangs zu nationalen und europäischen Registern für
klinische Studien. Der politische Wille einiger Koali-
tionsabgeordneten war da, aber es fehlte ihnen die poli-
tische Macht zur Durchsetzung.

Im Interesse der Patientinnen und Patienten, der Ärz-
tinnen und Ärzte und der Forscherinnen und Forscher
sollten wir als Parlament geschlossen fordern, dass
diese Bundesregierung endlich wirklich aktiv wird und
längst Überfälliges umsetzt. Sie sollte sich nicht mit dem
Verweis darauf, dass für Arzneimittel die europäische
Datenbank EudraCT in Zukunft in Teilen öffentlich zu-
gänglich ist, drücken. Denn EudraCT hat ein zentrales
Manko: Es fehlen Informationen zu den Studienergeb-
nissen. Für Medizinprodukte und alle anderen medizini-
schen Studien sieht die Situation viel düsterer aus. Ein
erster Silberstreifen am Horizont ist das freiwillige
Deutsche Register Klinischer Studien. Jedoch deuten die
ersten Zahlen der dort registrierten Studien darauf hin,
dass mit einer Freiwilligkeit, selbst wenn die Registrie-
rung eine Voraussetzung für eine Publikation in Fachor-
ganen ist, bei weitem keine Vollständigkeit erzielt wer-
den kann.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703435300

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/893 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Ge-
sundheit, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung.

Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Die Linke ab, das heißt Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Er ist damit
abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Ausschuss für Gesundheit.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-
schlag ist angenommen. Das heißt, die Federführung
liegt beim Ausschuss für Gesundheit.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Klaus Ernst, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent-
fristung der freiwilligen Weiterversicherung in
der Arbeitslosenversicherung

– Drucksache 17/1141 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Freiwillige Arbeitslosenversicherung für
Selbstständige entfristen und ausbauen

– Drucksache 17/1166 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, wer-
den die Reden von folgenden Kolleginnen und Kollegen
zu Protokoll gegeben: Paul Lehrieder, Gabriele
Lösekrug-Möller, Johannes Vogel, Sabine Zimmermann
und Brigitte Pothmer.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1703435400

Bevor ich auf den Gesetzentwurf der Linken und den

Antrag der Grünen eingehe, möchte ich kurz etwas zum
Gegenstand der Initiativen sagen, die wir heute hier de-
battieren, der freiwilligen Arbeitslosenversicherung.
Seit dem 1. Februar 2006 können sich bestimmte Grup-
pen von Selbstständigen nach § 28 a SGB III freiwillig
in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung weiterver-
sichern. Voraussetzung dafür ist, dass die selbstständige
Tätigkeit mehr als 15 Stunden wöchentlich umfasst, dass
der Antragsteller innerhalb der letzten 24 Monate vor
Beginn der Selbstständigkeit mindestens zwölf Monate
in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden oder
eine Entgeltersatzleistung bezogen hat. Wichtig ist auch,
dass unmittelbar vor Aufnahme der selbstständigen Tä-
tigkeit ein Versicherungspflichtverhältnis bestanden hat
oder eine Entgeltersatzleistung bezogen wurde und dass
der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung spätestens
innerhalb eines Monats nach Aufnahme der selbststän-
digen Tätigkeit gestellt wird. Für die einen erhöht sich
dadurch die Dauer eines möglichen Anspruchs auf Ar-
beitslosengeld. Für die anderen wird der Antrag auf
ALG II und die damit verbundene unangenehme Bedürf-
tigkeitsprüfung auf einen späteren Zeitpunkt verscho-
ben.

Zweck der freiwilligen Weiterversicherung ist es, Ar-
beitslosen, die sich selbstständig machen, um ihre Ar-
beitslosigkeit zu beenden, die Angst zu nehmen, bei ei-
nem Scheitern der Existenz sozial schlechter zu stehen
als zuvor. § 28 a SGB III stellt deshalb sicher, dass sie
den bereits erworbenen Versicherungsschutz durch eine
Weiterversicherung aufrechterhalten können.

Gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB III endet das Ver-
sicherungspflichtverhältnis von Selbstständigen und Ar-
beitnehmern, die vorübergehend im Ausland außerhalb
der EU oder EU-assoziierten Staaten tätig sind, spätes-
tens mit Ablauf des 31. Dezember 2010. Dann stünde ab
2011 nicht nur Neugründern die Möglichkeit der frei-
willigen Arbeitslosenversicherung nicht mehr zur Ver-
fügung, sondern auch bereits Versicherte nach § 28 a
SGB III könnten in der Folge die Arbeitslosenversiche-
rung nicht weiterführen. In ihrem Gesetzentwurf fordern
die Linken deshalb, die bestehende Möglichkeit zur frei-
willigen Weiterversicherung schnell zu entfristen und
diese auch für die langjährig Selbstständigen zu öffnen
und für solche, die vorher Leistungen nach dem SGB II
bezogen haben.

Wie schade, dass Sie nicht gründlich recherchiert ha-
ben, bevor Sie Ihren Entwurf zu Papier brachten! Dann
würden Sie nämlich die Antwort der Bundesregierung
vom 18. Februar dieses Jahres auf eine Kleine Anfrage
der Grünen kennen, Drucksache 17/749. Dort teilte die
Bundesregierung mit, dass sie „prüft, ob die freiwillige
Weiterversicherung über den 31. Dezember 2010 hinaus
fortgeführt werden soll. Bei dieser Prüfung wird sie
auch die bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen
Weiterversicherung berücksichtigen. Die Beratung in-
nerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlos-
sen.“ „… Vor dem Hintergrund der Veränderung in den
Erwerbsbiographien beurteilt die Bundesregierung die
bisherige Wirkung der freiwilligen Arbeitslosenversi-
cherung positiv.“ Allerdings sei auch zu berücksichti-
gen, dass „die Förderung und Absicherung selbständig
Tätiger … eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und
nicht nur der Beitragszahler zur Bundesagentur für Ar-
beit“ sei. Meine Damen und Herren von den Linken, ich
denke, diese Aussage spricht für sich. Sie hätten sich
also wirklich viel Arbeit sparen können.

Die Grünen wiederum haben einen reinen Schaufens-
terantrag abgeliefert. Die Antwort der Bundesregie-
rung, datiert vom 18. Februar 2010, ist deutlich genug
und zufriedenstellend. Trotzdem preschen die Grünen
vor und unterstellen der Bundesregierung gewisserma-
ßen Untätigkeit. Redlich ist das nicht. Ein einfacher An-
ruf im Bundesarbeitsministerium oder in unserer Frak-
tion hätte ausgereicht. Dann hätten wir Ihnen gerne
noch einmal bestätigt, dass innerhalb des Ministeriums
in Abstimmung mit anderen Ressorts an einer schnellst-
möglichen Lösung gearbeitet wird. Im Laufe des norma-
len Gesetzgebungsverfahrens können Sie dort dann Ihre
Vorstellungen einbringen. Ihrem Vorwurf, die Bundesre-
gierung versäume es, die Versicherungsoption zu ver-
längern, und nehme so die Verunsicherung der betroffe-
nen Bevölkerung in Kauf, widerspreche ich entschieden.
Er ist durch nichts belegt. Im Gegenteil: Am 1. März die-
ses Jahres teilte das Bundesarbeitsministerium dem On-
linewirtschaftsportal „ad-hoc-news“ auf Anfrage mit:
„Die entsprechenden Rechtsänderungen, die auch die
bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen Weiterversi-
cherung berücksichtigen, werden zurzeit erarbeitet“.
Eine Leserin hat diese Nachricht daraufhin wie folgt
kommentiert: „Das sind wirklich gute Neuigkeiten …
aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass diese
Möglichkeit der Weiterversicherung ein wichtiger un-
terstützender Faktor bei der Entscheidung ist, die Ar-
beitslosigkeit durch den Schritt in die Selbständigkeit zu
beenden – vor allem, wenn es Familienväter und -mütter
sind, die eine Gründung erwägen. Das ist ein wichtiges
Stück Basis-Absicherung für Selbständige!“ Eine wei-
tere Leserin schreibt: „Auch ich bin erleichtert, dies zu
hören! Die Arbeitslosenversicherung gibt mir die nötige
Sicherheit, mir keine Sorgen machen zu müssen, was
passiert, wenn das Geschäft einmal am Ende sein sollte
und man darüber nachdenken muss, aufzugeben.“ Ver-
unsicherung sieht anders aus.

Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Wie Sie alle wissen, messen wir, misst die Bundes-
regierung der unternehmerischen Selbstständigkeit und
der Gründung von Unternehmen einen sehr hohen Stel-
lenwert für unsere Volkswirtschaft bei. Es ist deshalb
auch unser Ziel, die steuerlichen und investiven Rah-
menbedingungen für Selbstständige und mittelständi-
sche Unternehmen zu verbessern, deren Finanzierungs-
möglichkeiten zu erweitern, bürokratische Hemmnisse
systematisch und nachhaltig abzubauen und eine neue
Gründerdynamik anzustoßen. Deshalb hat die Bundes-
regierung am 25. Januar 2010 die Initiative „Gründer-
land Deutschland“ gestartet, um einen Mentalitätswan-
del und ein gesellschaftliches Klima zu fördern, das
Unternehmergeist und die Lust auf Selbstständigkeit för-
dert. Gründungen stehen für die Schaffung von Neuem,
für Kreativität und unternehmerische Freiheit. Sie tra-
gen wesentlich zum Innovationsgeschehen und zum
Strukturwandel unserer Volkswirtschaft bei.

Lassen Sie mich dazu aus dem Koalitionsvertrag zi-
tieren:„Wir werden die Förderprogramme für Gründun-
gen und Gründungsfonds sowie für die Betriebsnachfol-
gen zusammen mit der Wirtschaft stark ausbauen,
bessere Rahmenbedingungen für Chancen- und Beteili-
gungskapital schaffen und für ein Leitbild der unterneh-
merischen Selbständigkeit werben.

Wir wollen junge, innovative Unternehmen von unnö-
tigen Bürokratielasten befreien, um Gründungen zu er-
leichtern und intensiv zu fördern.

Wir werden einen High-Tech-Gründerfonds II als Pu-
blic-Private Partnership auflegen, der auf den Erfah-
rungen des ersten Fonds aufbaut. Darüber hinaus wol-
len wir dringend benötigtes privates Kapital für
deutsche Venture Capital Fonds mobilisieren, indem wir
institutionellen Investoren eine anteilige Garantiemög-
lichkeit zur Risikoabsicherung ihrer Fondseinlagen an-
bieten.

Wir werden das Umfeld für die Tätigkeiten von Busi-
ness Angels in Deutschland verbessern. Wir wollen das
Angebot von Mikrokrediten ausweiten, insbesondere für
Gründer und Kleinunternehmer.

Wir wollen Gründern nach einem Fehlstart eine
zweite Chance eröffnen. Dazu wird die Zeit der Rest-
schuldbefreiung auf drei Jahre halbiert. Der Pfändungs-
schutz für die private Altersvorsorge im Insolvenzfall
verringert das Risiko der Altersarmut für Selbständige
deutlich. Wir werden deshalb die Pfändungsfreigrenzen
für die Altersvorsorge Selbständiger regelmäßig anpas-
sen.“

Last, but not least werden wir die Aufgeschlossenheit
der Schulen für Projektarbeit zum Thema „Selbststän-
digkeit“ und zum Üben des „Gründens und Führens“ ei-
nes Unternehmens erhöhen. Hierfür werden wir unter
Federführung des BMWi die Initiative „Unternehmer-
geist in die Schulen“ weiter stärken. Wir werden die
BMWi-unterstützten Maßnahmen JUNIOR und Deut-
scher Gründerpreis für Schüler zusammen mit den Pro-
jektverantwortlichen weiter ausbauen. Beschäftigungs-
politisch tritt eine Sologründung an die Stelle einer
abhängigen Beschäftigung oder bietet einen Weg aus
Zu Protokoll
der Arbeitslosigkeit. Damit trägt sie zur Entlastung des
Arbeitsmarktes bei und bietet mittelfristig die Chance
auf das Angebot zusätzlicher Arbeitsplätze. Vor allem
innovative Gründungen schaffen zahlreiche neue und
nachhaltige Arbeitsplätze.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzkrise
und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Wirt-
schaft und den Arbeitsmarkt ist eine verstärkte Nach-
frage nach dem Gründungszuschuss, der Mitte 2006 den
Existenzgründungszuschuss und das Überbrückungs-
geld abgelöst hat, nicht unwahrscheinlich. Die Grün-
dung einer selbstständigen Existenz ist als Alternative
zur Arbeitslosigkeit nach bisherigen Erfahrungen
durchaus attraktiv. Aus der Perspektive der Sozialversi-
cherungsträger ist es wünschenswert, dass Gründerin-
nen und Gründer auch als Arbeitgeber tätig werden –
dies gilt besonders für Gründungen, die mit Mitteln der
Arbeitslosenversicherung unterstützt werden.

Von Ludwig Erhard stammen die Worte: „Ich will
mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des
Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst ver-
antwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, daß ich dazu in
der Lage bin.“

In diesem Sinne hat meine Fraktion immer Politik im
Sinne der Selbstständigen gemacht. Darin bleiben wir
uns treu. Deshalb lehnen wir Ihre Initiativen, liebe Kol-
legen von den Grünen und den Linken, guten Gewissens
ab.


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1703435500

„Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige

gab es bisher nicht. Ab dem 1. Februar 2006 können
Existenzgründer einen freiwilligen Beitrag zur Arbeits-
losenversicherung zahlen. Somit besteht die Möglich-
keit, im Falle der Aufgabe des Unternehmens einen
Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erhalten oder aufzu-
bauen,“ so können es Gründungswillige auf der Home-
page www.gruenderlexikon.de lesen.

Ja, vor dem 1. Februar 2006 gab es diese Möglichkeit
gar nicht! Also schon vor fünf Jahren haben die Sozial-
demokraten erkannt, dass wir Selbstständigen vom Start
an ein solidarisches Angebot zu Risikoabsicherungen
machen müssen. Und wir haben entsprechend gehan-
delt. Wenn Gelb-Schwarz heute das Lied „Deutschland
muss wieder ein Gründerland werden“ intoniert, dann
wissen die Kundigen: Neu ist weder die Melodie noch
der Text.

Warum ist die Weiterentwicklung dieses Grundgedan-
kens der solidarischen Risikoabdeckung für Gründer
und Selbstständige uns Sozialdemokraten so wichtig?
Für abhängig Beschäftigte kämpfen wir für einen ge-
setzlichen Mindestlohn. Für Frauen streiten wir für
„equal pay“. Für Leiharbeit fordern wir das Ende des
Missbrauchs. Und für jene, die den Schritt in die Selbst-
ständigkeit wagen, brauchen wir das Angebot eines um-
fassenden Konzeptes der solidarischen Absicherung.
Daran arbeiten wir Sozialdemokraten. Vier Fallbei-
spiele zeigen die Notwendigkeit: Beispiel eins: der junge
Freelancer! Kreativ, engagiert und in der Zukunft zu



gegebene Reden

Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)

Hause. Kurze Zeit war er angestellt, und dann wurde
ihm der Rahmen zu eng. Dank unserer Initiative kann er
freiwillig die Arbeitslosenversicherung nutzen. Das ist
gut, und deshalb sind auch wir Sozialdemokraten, wie
Grüne und Linke, für die Entfristung dieser Regelung.

Beispiel zwei: Die junge Soloselbstständige! Mutig
und erfolgreich. Sie geht in die Selbstständigkeit, nach-
dem mit Ablauf der Elterngeldzeit faktisch keine Per-
spektive für angestellte Tätigkeit und Familienarbeit be-
stand. Auch für sie besteht die Möglichkeit der
freiwilligen Versicherung in der Arbeitslosenversiche-
rung. Auch für sie wird es richtig sein, wenn wir die Be-
fristung dieser Regelung aufheben.

Beispiel drei: Der Langzeitarbeitslose! Viele Jahre
hart gearbeitet. Dann ging die Firma baden. Jahrelang
beworben und abgelehnt, qualifiziert und doch fünf
Jahre lang keinen Job bekommen, will er nicht länger
Grundsicherungsempfänger sein und hat sich für Selbst-
ständigkeit entschieden. Mit guter Beratung, solidem
Businessplan und viel Tatkraft legt er los – und hat kei-
nen Anspruch auf freiwillige Versicherung in der Ar-
beitslosenversicherung. Seine Pflichtversicherungszei-
ten liegen zu lange zurück!

Beispiel vier: Hochschulabsolventin Umwelttechno-
logie, möchte sich als Beraterin selbstständig machen,
Gründerin, wie wir das alle möchten. Sie hat derzeit
keine Möglichkeit, Beitragszahlerin in der Arbeitslosen-
versicherung zu werden; denn sie hat noch nie in einem
„Pflichtversicherungsverhältnis nach SGB III“ gestan-
den, wie es § 28 a SGB III verlangt. Wie auch?

Diese gegriffenen vier Beispiele zeigen, dass es um
mehr gehen muss als um die Entfristung des § 28 a
SGB III. Wir wissen, die Bundesregierung „prüft“. Das
könnte eine gute Nachricht sein, wüssten wir nicht, wie
viele Prüfaufträge bei Gelb-Schwarz auf dem Tisch lie-
gen. Allein bei der Frau Ministerin für Arbeit und Sozia-
les stapeln sie sich in gefährlicher Höhe. Deshalb
begrüßen die Sozialdemokraten Antrag und Gesetzes-
entwurf als Merkposten für die Regierung, den Prüfauf-
trag unten aus dem Stapel zu ziehen und zu handeln.
Also nicht über das Gründerland Deutschland philoso-
phieren, sondern konkret Verbesserungen erarbeiten.
Dann würde zügig aus der „Nichtregierungsorganisa-
tion Merkel“ ein handlungsfähiges Kabinett. Ich höre
allerdings den berechtigten Einwand: Würde denn die
FDP mitmachen? Wir wissen es nicht. Zumindest lässt
sich feststellen, dass der „Kollisionsvertrag“ hier keine
Kommission ins Leben gerufen hat. Es könnte also klap-
pen.

Zurück zur freiwilligen Weiterversicherung Selbst-
ständiger in der Arbeitslosenversicherung. Nicht nur
dank der minutiösen Vorarbeit der Grünen zu ihrem An-
trag – sie haben sich die Details dafür über die Antwort
der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage geholt –
wissen wir, dass seit 2006 die Zahl der Anträge – und
Bewilligungen – stetig gestiegen ist: Waren es 2006 erst
88 000 Anträge, so sind es 2009 schon über 94 000. Die-
ser Aufwuchs spiegelt sich auch in den Einnahmen der
Arbeitslosenversicherung wider: Waren es 2006 circa 18
Zu Protokoll
Millionen Euro, so flossen 2009 bereits mehr als
33 Millionen Euro.

Ich lade Sie von den Grünen und Linken ebenso wie
Sie als Mitglieder der Mehrheit zu mehr Mut ein, mehr
Mut, so wie wir es von jenen „Gründern“ erwarten. Un-
ser Mut kann sich entfalten an einem umfassenden An-
gebot solidarischer Risikoabdeckung. Über Arbeitslo-
sigkeit hinaus müssen unsere Angebote an diesen immer
größer werdenden Personenkreis besser werden. Gebro-
chene Erwerbsbiografien, Wechsel zwischen selbststän-
diger und abhängiger Beschäftigung, Phasen von Quali-
fizierung und Weiterbildung, Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, Absicherung von Übergängen: Von uns for-
dert das, Brücken über Lücken zu bauen. Wir arbeiten
deshalb an einem umfassenden Konzept, das Gründerin-
nen und Soloselbstständige in Alterssicherung, Kran-
kenversicherung und Arbeitsversicherung einbezieht.

„Nur wer verlässliche Perspektiven in seinem Leben
hat, kann seine Talente und seine Leistungsfähigkeit voll
entfalten.“ So haben wir Sozialdemokraten in unserem
Hamburger Programm die von uns gewollte Sicherheit
im Wandel beschrieben, daran richten wir unsere Politik
aus.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1703435600

Wir debattieren heute zwei so gut wie inhaltsgleiche

Vorlagen, einen Antrag der Fraktion der Grünen und ei-
nen Gesetzentwurf der Linken. Sie beziehen sich jeweils
auf den § 28 a SGB III, also auf die Möglichkeit der frei-
willigen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige.
Das ist gerade für uns Liberale ein wichtiges Thema,
weil wir stärker als alle anderen im freien, unternehme-
rischen Handeln einen Stützpfeiler unseres Wohlstands
sehen und einen wichtigen Ausdruck der freien Persön-
lichkeitsentfaltung. Ich bin froh, dass es FDP und CDU/
CSU seit dem Regierungsantritt gelungen ist, bereits ei-
nige wichtige gesetzliche Erleichterungen für Selbst-
ständige und mittelständische Unternehmen vorzuneh-
men. Allerdings sind wir hier noch nicht am Ziel.
Steuerliche Rahmenbedingungen und bürokratische Be-
hinderungen erschweren nach wie vor den Eintritt in die
Selbstständigkeit. Das Ziel, Deutschlands Gründerkul-
tur mit neuen Impulsen zu versehen, verlieren wir nicht
aus den Augen. Gerade in der Jahrhundertkrise, in der
wir uns befinden, müssen wir uns Gedanken machen, die
auch den Wandel am Arbeitsmarkt reflektieren. Dabei
steht völlig außer Frage, dass der Schritt in die Selbst-
ständigkeit ein individuelles Risiko beinhaltet, das wir
als Gesetzgeber achten sollten.

Die bestehende Regelung zur freiwilligen Arbeitslo-
senversicherung läuft nun Ende des Jahres aus, sodass
zweifellos ein gewisser Handlungsdruck gegeben ist. Al-
lerdings befinden wir uns im März, und da stellt sich
schon die Frage, ob der Alarmismus, der mitunter aus
ihren Anträgen spricht, wirklich angezeigt ist. Schauen
wir uns die Gesetzeslage doch einmal etwas genauer an.
Momentan muss der Antrag auf Aufnahme in die Ar-
beitslosenversicherung binnen Monatsfrist nach Beginn
der Selbstständigkeit erfolgen. Mit Interesse nehme ich
zur Kenntnis, dass weder die Linke noch die Grünen an



gegebene Reden

Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

dieser bestehenden Fristenregelung etwas ändern wol-
len. Ja, da frage ich Sie doch: Warum müssen wir dann
jetzt, also im ersten Quartal des Jahres 2010, etwas an
einer Regelung ändern, die ohnehin immer nur im Fol-
gemonat Wirkung entfaltet. Es besteht doch überhaupt
kein Grund zur Hast. Niemand, der jetzt oder auch noch
im nächsten halben Jahr in die Selbstständigkeit geht,
muss dies in Rechtsunsicherheit tun.

Ebenfalls ist es wichtig, nicht leichtfertig den Zeit-
raum zu beschränken, in dem wir als Gesetzgeber Erfah-
rungen mit der jetzigen Regelung machen können. Erst
seit Februar 2006 besteht überhaupt die Möglichkeit der
freiwilligen Arbeitslosenversicherung. Handelten wir
schon jetzt, würden wir – ich betone es noch einmal – die
aktuelle Situation der Bürgerinnen und Bürger über-
haupt nicht verbessern oder verschlechtern. Wir würden
uns aber die Möglichkeit nehmen, im Verlauf des Jahres
weitere Erfahrungen mit der Regelung zu sammeln, und
wir würden uns die Möglichkeit nehmen, die bisherigen
Erfahrungen mit der nötigen Sorgfalt aufzuarbeiten.
Zum Beispiel sollte man abwarten, ob die zwischen 2008
und 2009 nach oben geschnellte Zahl der Antragsteller
im Jahresverlauf wieder abnehmen wird oder nicht und
die Ursachen der Schwankungen analysieren. Ein zen-
trales Element der aktuellen Regelung ist in meinen Au-
gen jedoch die Freiwilligkeit. Es kann nämlich gerade
nicht darum gehen, ein neues Zwangsinstitut zu begrün-
den. Genau dies scheinen aber Sie, verehrte Mitglieder
der Linksfraktion, im Sinn zu haben. Beinahe unschuldig
schildern Sie in der Problemanalyse Ihres Gesetzent-
wurfs, dass „die vorhandene Regelung ein erster Schritt
hin zu einer Einbeziehung der Selbstständigen in die ge-
setzliche Arbeitslosenversicherung“ sei. Nein, genau
das ist es nicht. Um es ehrlich zu sagen: Bei Ihnen habe
ich so meine Zweifel, ob es Ihnen mehr um die spezifi-
sche Situation der Selbstständigen geht oder ausschließ-
lich um die Arbeitslosenversicherung an sich.

Der Antrag der Grünen wiederum geht über die Ini-
tiative der Linken hinaus. Während die Linke allein eine
Entfristung vorsieht, also das Gesetz in seiner beste-
hende Form unverändert lässt, schlagen Sie eine inhalt-
liche Änderung vor. Zugang zur freiwilligen Arbeitslo-
senversicherung sollen auch diejenigen Selbstständigen
erhalten, die sich unmittelbar nach Ende ihrer Ausbil-
dung oder ihres Studiums unternehmerisch betätigen,
wie auch alle die, die aus der Grundsicherung heraus
ihr Unternehmen gründen. Gerade Ihnen müsste es also
einsichtig sein, dass eine genaue Evaluation des Geset-
zes und seiner Folgen unablässig ist, wollte man den
Kreis der Anspruchsberechtigten so weit ausdehnen, wie
sie es vorhaben.

Um es abzukürzen: Die FDP-Fraktion hält wenig von
Ihrem Gesetzentwurf bzw. Ihrem Antrag. Das heißt
nicht, dass wir nicht grundsätzliche Sympathie für das
Instrument der freiwilligen Arbeitslosenversicherung
hegen würden. Gerade weil dies aber so ist, verbieten
sich Schnellschüsse. Es ist noch ausreichend Zeit vor-
handen, um die Entfristung oder auch eine Modifikation
vorzunehmen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass
die jetzige Regelung stark an den alten Ich-AGs orien-
tiert war und dass wir auch hier prüfen müssen, ob sie
Zu Protokoll
sich auch unter gewandelten Bedingungen einfach so
fortführen lässt.

Abschließend möchte ich aber noch einmal ausdrück-
lich festhalten, dass wir die freiwillige Arbeitslosenver-
sicherung positiv bewerten. Für uns geht es darum, den
Menschen den Schritt in die eigene Existenzsicherung so
leicht wie möglich zu machen. Die freiwillige Arbeitslo-
senversicherung kann hierzu einen wichtigen Beitrag
leisten. Deshalb prüft die Koalition äußerst wohlwol-
lend ihre Fortführung und wird rechtzeitig handeln.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703435700

Um es Zehntausenden Selbstständigen zu ermögli-

chen, sich weiterhin freiwillig in der Arbeitslosenversi-
cherung zu versichern, bringt die Linke heute den vorlie-
genden Gesetzentwurf ein; denn die geltende Regelung
läuft zum Jahresende aus. Worum geht es? Wer heute
den Schritt in die Selbstständigkeit macht, kann sich un-
ter bestimmten Bedingungen freiwillig in der gesetzli-
chen Arbeitslosenversicherung weiter versichern. Diese
Regelung gilt für diejenigen, die zuvor einen bestimmten
Zeitraum in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt
oder eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosen-
geld I bezogen haben. Um es gleich zu sagen: Die Linke
könnte sich eine weitergehende Lösung vorstellen, etwa
dass auch langjährige Selbstständige Zugang zur Ar-
beitslosenversicherung bekommen, Menschen, die sich
nach dem Studium selbstständig machen, oder Men-
schen, die zuvor Leistungen nach dem SGB II bezogen
haben. Dennoch: Die vorhandene Regelung ist ein ers-
ter Schritt hin zu einer Einbeziehung der Selbstständi-
gen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Allein
im letzten Jahr sind Anträge von fast 90 000 Selbststän-
digen zur freiwilligen Weiterversicherung bewilligt wor-
den.

Es ist umso schlimmer, dass die Bundesregierung kein
klares Signal für die Verlängerung dieser Regelung gibt.
Wenn die Politik nicht handelt, läuft nach vorliegender
Rechtslage die derzeitige Regelung zum 31. Dezember
dieses Jahres aus. Im letzten Monat hat die Arbeitsmi-
nisterin Frau von der Leyen eine Verlängerung in Aus-
sicht gestellt. Nun heißt es von der Bundesregierung le-
diglich, sie prüfe eine Verlängerung, keine Aussage
darüber, wann sie ihre Entscheidung treffen will, ge-
schweige denn nach welchen Kriterien. Offensichtlich
gibt es Teile dieser Regierung, die es nicht gerne sehen,
dass die Arbeitslosenversicherung ausgebaut wird.

Menschen machen sich aus sehr unterschiedlichen
Motiven selbstständig. Wenn die Politik sie dazu ermun-
tert, kann sie die Frage nach ihrer sozialen Absicherung
nicht unbeantwortet lassen. Eine Arbeitslosenversiche-
rung für Selbstständige ist hier zentral. Denn Selbst-
ständigkeit ist auch geprägt von unterbrochener Er-
werbstätigkeit. Wenn es nicht möglich ist, sich gegen
Arbeitslosigkeit zu versichern, droht der sofortige Ab-
sturz in Hartz IV. Nicht allen Selbstständigen ist es mög-
lich, für den Fall der Arbeitslosigkeit finanzielle Rückla-
gen zu bilden. Nicht wenige Soloselbstständige, also
Selbstständige ohne Beschäftigte, arbeiten zu prekären
Bedingungen, unsicher und mit Einkünften an der Ar-



gegebene Reden





Sabine Zimmermann


(A) (C)



(B)

mutsgrenze. Seit Jahren wächst die Zahl der Selbststän-
digen, die auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind.

Die Linke bringt den vorliegenden Gesetzentwurf ein,
weil es gilt, schnell zu handeln. Die Betroffenen brau-
chen Planungssicherheit. Menschen rufen bei mir im
Büro an, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Ich
weiß, dass Gleiches für die Bundesagentur für Arbeit
gilt. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung ist
nicht vertretbar. Die Linke plädiert darüber hinaus, in
einem nächsten Schritt zu prüfen, wie der Kreis der An-
spruchsberechtigten ausgeweitet werden kann. Nun ist
die Bundesregierung gefragt.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703435800

Ein Unternehmen zu gründen, sich selbstständig zu

machen, das erfordert Mut, Kreativität und Tatkraft.
Trotz der Krise haben 2009 wieder mehr Menschen in
Deutschland den Sprung in die Selbstständigkeit ge-
wagt. Das ist auch gut so; denn so können neue Ge-
schäftsfelder und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
Aber der Gründungsboom in Deutschland erfolgte vor
allem durch die wachsende Zahl der Soloselbstständi-
gen. Von den über 4 Millionen Selbstständigen beschäf-
tigen mehr als zwei Millionen keine Angestellten. Im
letzten Jahr wurden 293 000 solcher Kleinunternehmen
gegründet. Diese neuen Selbstständigen sind meist keine
Ärzte oder Juristen, sondern es sind Medien- und Kul-
turschaffende, Hausmeister oder Raumpflegerinnen.
Auch im Bausektor nimmt der Trend zur Soloselbststän-
digkeit rasant zu, seitdem es in etlichen Handwerksberu-
fen auch für Gesellen möglich wurde, als Einzelunter-
nehmer zu arbeiten. Viele dieser neuen Selbstständigen
sind nach den Kriterien des Statistischen Bundesamtes
armutsgefährdet. Während 2008 circa 6 Prozent aller
Erwerbstätigen von Armut bedroht waren, lag die Ar-
mutsgefährdung der Soloselbstständigen mit 10,4 Pro-
zent deutlich darüber. Diese Zahlen müssen uns ein An-
sporn dafür sein, die soziale Absicherung all derjenigen,
die den Weg in die Selbstständigkeit wählen, zu verbes-
sern und sie bei ihrem Wagnis so gut wie möglich zu
schützen.

Sie schreiben sich immer ganz groß auf die Fahnen,
dass Sie die Gründerinnen und Gründer in Deutschland
unterstützen wollen. „Deutschland muss wieder zum
Gründerland werden“, so lautet Ihr Slogan. Wenn man
Ihre Politik für die neuen Unternehmerinnen und Unter-
nehmer aber nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren
Taten misst, dann ist das Ergebnis mehr als dürftig. Sie
wissen doch genau, dass die Option für die Selbstständi-
gen, sich in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung
freiwillig weiterzuversichern, am 31. Dezember dieses
Jahres endet. Und Sie wissen doch auch, dass es diese
Option bisher nur für einen bestimmten Kreis von Grün-
derinnen und Gründern gibt. Für diejenigen, die nach
ihrem Hochschulabschluss oder aus dem Grundsiche-
rungsbezug heraus gründen, gibt es diese Möglichkeit
nicht. Zwar erklärt das Arbeitsministerium auf Presse-
anfragen seit neuestem, dass etwas getan werden soll,
um den Selbstständigen auch über 2010 hinaus einen
Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung zu
ermöglichen. Aber wo bleiben die Initiativen, dies recht-
zeitig gesetzlich neu zu regeln?

Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage zur freiwilligen Weiterversicherung für Selbst-
ständige in der Arbeitslosenversicherung macht doch
klar: Die Arbeitslosenversicherung für Selbstständige
ist ein voller Erfolg. Hunderttausende Selbstständige
zahlen inzwischen in die Arbeitslosenversicherung ein.
Das Beitragsvolumen der Selbstständigen lag 2009 bei
nahezu 33 Millionen Euro. Lediglich 4 968 Menschen
haben im November 2009 Leistungen aus der Arbeitslo-
senversicherung für Selbstständige in Anspruch genom-
men. Angesichts dieser Zahlen kommt sogar die Bundes-
regierung selbst nicht umhin, die bisherige Wirkung der
freiwilligen Arbeitslosenversicherung positiv zu bewer-
ten. Positiv bewerten reicht nicht. Sie müssen dazu auch
Beschlüsse fassen.

Wir Grüne jedenfalls fordern Sie auf, diese Arbeitslo-
senversicherungsoption für Selbstständige zu entfristen
und auch für diejenigen zu öffnen, die nach einem Hoch-
schulabschluss oder aus der Grundsicherung heraus ein
Unternehmen gründen. Das ist ein wirksamer Beitrag,
um die neuen Selbstständigen besser vor Armut zu
schützen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703435900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/1141 und 17/1166 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Sind Sie damit einverstanden? – Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für die Demokratisierung des Gewerkschafts-
rechts in der Türkei

– Drucksache 17/1101 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen und
Kolleginnen Dr. Wolfgang Götzer, Uta Zapf, Serkan
Tören, Sevim Dağdelen und Claudia Roth.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1703436000

Bereits in der letzten Wahlperiode hat die Linkspartei

einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Auch wenn der
heute zur Debatte stehende Antrag demgegenüber
leichte Änderungen aufweist, hat auch dieser einen gra-
vierenden Mangel: Er greift bewusst nur ein einzelnes
Problem der Türkei auf und blendet weiterhin gezielt an-
dere aus. Auch der jetzige Antrag ist deshalb zu einseitig
und zu kurzsichtig – so wie es schon der Antrag der
Linkspartei in der letzten Wahlperiode war.

(D)


Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

Es ist zwar zutreffend, dass in der Türkei die Rechte
der Gewerkschaften unzureichend und die gewerk-
schaftliche Betätigung von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern nach wie vor eingeschränkt sind. So gibt es
für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer prak-
tisch keine Vereinigungsfreiheit. Streikrecht und Tarif-
verhandlungsrecht sind für zahlreiche Arbeitnehmer-
gruppen stark beschnitten, insbesondere für Angestellte
im öffentlichen Dienst. Zudem wird die Mitgliedschaft in
einer türkischen Gewerkschaft gegenüber vielen Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern als Kündigungsgrund
seitens des Arbeitgebers benutzt.

Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist aber
kein isoliertes Problem. Vielmehr müssen wir konstatie-
ren, dass in der Türkei noch immer große Demokratie-
defizite auf vielen Gebieten auch nach fast 5-jährigen
Beitrittsverhandlungen bestehen. Deshalb möchte ich an
dieser Stelle noch einmal betonen, dass die Vorausset-
zungen für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU
nach wie vor nicht gegeben sind und wir diese deshalb
unverändert ablehnen.

Die politischen Bedingungen, die nach dem Be-
schluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993 ei-
gentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
erfüllt sein müssten, liegen im Falle der Türkei noch im-
mer nicht vor. So ist in der Türkei nicht nur das Gewerk-
schaftsrecht unterentwickelt, sondern es gibt gravie-
rende Defizite in der Gewährung von Grundrechten,
insbesondere im Bereich der Meinungs-, Presse- und Re-
ligionsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz.

Ich möchte noch einmal betonen: Die Antragsteller
greifen ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage der
Türkei insgesamt zu beleuchten. Eine isolierte Behand-
lung eines Aspektes greift aber zu kurz. Dass in der Tür-
kei nach wie vor in vielen Bereichen gravierende Demo-
kratiedefizite bestehen, möchten die Linken aber nicht
klar beim Namen nennen. Ich habe allerdings auch nicht
erwartet, dass ausgerechnet die Partei, in der nach wie
vor ehemalige SED-Mitglieder tonangebend sind, für
die umfassende Durchsetzung demokratischer Rechte
eintreten würde.

Dabei könnte der Zeitpunkt dafür kaum besser sein.
Denn derzeit ringen die Türken um eine Verfassungsre-
form. Die Verfassung von 1980 wurde zwar seit ihrem
Inkrafttreten 1982 mehrfach überarbeitet, ist aber noch
immer in ihrem Rechts- und Freiheitsverständnis von
europäischen Normen weit entfernt. Zwar finden sich in
dem aus 177 Artikeln bestehenden Werk alle üblichen
Grundrechte, wie etwa die Meinungs- und Pressefrei-
heit, die Religionsfreiheit oder der Schutz des Privatle-
bens. Doch viele dieser Grundrechte werden im Text ein-
geschränkt oder in widersprüchliche Zusammenhänge
gestellt.

Faktisch ist es auch heute noch in der Türkei so, dass
– falls türkische Journalisten beispielsweise über den
Völkermord an den Armeniern oder kritisch über den
Ministerpräsidenten berichten – sie mit harten Konse-
quenzen rechnen müssen.
Zu Protokoll
Laut Art. 2 der türkischen Verfassung ist die Türkei
zwar ein demokratischer Rechtsstaat. De facto sind aber
beispielsweise einige Gruppen von Staatsbürgern nicht
einmal wahlberechtigt.

Darüber hinaus liegt die Sperrklausel bei Wahlen bei
10 Prozent. Auch Direktmandate können nur wahrge-
nommen werden, wenn eine Partei insgesamt 10 Prozent
der Stimmen erhält. Darunter leidet insbesondere die
kurdische Minderheit. Grundsätzlich herrscht in der
Türkei Wahlpflicht, die jedoch gegen eine Strafgebühr
von circa 13 Euro umgangen werden kann.

All diese Regelungen widersprechen grundlegend un-
serem Demokratieverständnis.

Ein weiterer Punkt: Rein rechtstheoretisch gesehen
herrscht in der Türkei Gleichberechtigung. Doch auch
die Geschlechtergleichheit findet sich in der türkischen
Verfassung in einem ungewöhnlichen Zusammenhang:
„Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesell-
schaft und beruht auf der Gleichheit von Mann und
Frau“.

Die Gleichheit von Mann und Frau wird also primär
als Teil des türkischen Familienverständnisses und nicht
als eigenständige Rechtnorm betrachtet. Solche Formu-
lierungen sind nicht mit unserem europäischen Rechts-
verständnis in Einklang zu bringen. Vor allem aber
rechtstatsächlich kann man kaum von einer Gleichstel-
lung von Mann und Frau sprechen. In vielen Regionen
gibt es eine eklatante Benachteiligung, ja teilweise Un-
terdrückung von Frauen.

Einen weiteren wichtigen Punkt möchte ich nennen:
In der Türkei ist bis heute das Recht auf freie Religions-
ausübung nicht gewährleistet. Nach wie vor haben
Christen und andere religiöse Minderheiten mit äußerst
schwierigen Bedingungen zu kämpfen. Nicht nur, dass
man sie allein aufgrund ihrer Religion oft als Feinde der
Türkei und des Türkentums betrachtet, die AKP verwei-
gert den Kirchen weiterhin die Anerkennung eines öf-
fentlich-rechtlichen Status. Christliche Kirchen bangen
in der Türkei um ihre Existenz. Ministerpräsident
Erdoğan fordert mehr Rechte für Muslime in Deutsch-
land – Christen in der Türkei aber können ihre Religion
nicht frei und ohne Furcht vor Repressalien ausüben.

Schon nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 hatte die
AKP unter Erdoğan eine neue Verfassung versprochen.
In diesem Zusammenhang erklärte der Ministerpräsi-
dent wiederholt, dass die Bewerbung um die Mitglied-
schaft in der EU nur mit einer modernen Verfassung zum
Erfolg führen könne. Es wurden daraufhin zwar rasch
auf dem Papier Reformen des Zivil- und Strafgesetzbu-
ches durchgeführt, eine neue Verfassung gab es jedoch
nicht. Eine von der Regierung bei Staatsrechtlern in Auf-
trag gegebene liberale Neufassung verschwand 2007 in
den Schreibtischen der Regierung. Stattdessen versan-
dete die Verfassungsreform 2008 in einem Streit über
das islamische Kopftuch.

Zurzeit ringt man in Ankara erneut um eine liberalere
Verfassung. Die beiden Oppositionsparteien haben je-
doch schon angedeutet, dass sie auf keinen Fall der
neuen Verfassung zustimmen werden – und die AKP ver-



gegebene Reden

Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

fügt mit ihren 337 Sitzen im Parlament nicht über die er-
forderliche Zweidrittelmehrheit. Deshalb soll die Ver-
fassungsänderung nun mit einer Dreifünftelmehrheit
verabschiedet und anschließend per Volksabstimmung
gebilligt werden.

Ich möchte nicht verhehlen, dass ich Zweifel habe, ob
die Regierung wirklich einen grundsätzlichen Wandel
anstrebt oder ob es sich vielmehr nur um „Kosmetik“
handelt, um bei der EU den Eindruck zu erwecken, die
Türkei habe den ernsthaften Willen, eine Demokratie zu
werden so wie wir sie haben und verstehen. Fest steht:
Die Regierung Erdogan hat keines ihrer vielen Reform-
versprechen eingehalten.

Bei aller Kritik an der innenpolitischen Situation der
Türkei möchte ich an dieser Stelle aber nicht versäumen
zu erwähnen, dass die Türkei für die gesamte Europäi-
sche Union ein wichtiger Partner ist. Die Türkei ist nicht
nur ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstand-
ort, sondern sie ist auch unverzichtbar als Bindeglied
zwischen den europäischen Märkten und den Energie
exportierenden Ländern im Mittleren und Nahen Osten.
Darüber hinaus ist die Türkei ein wichtiges NATO-Mit-
glied und unverzichtbarer Mittler zwischen der westli-
chen und der islamischen Welt.

Mit dem heutigen Antrag hat Die Linke wieder einmal
bewiesen, dass sie keinerlei Interesse an einer seriösen
Europa- und Außenpolitik hat. Schon in der letzten Le-
gislaturperiode haben wir den Antrag abgelehnt, weil er
zu einseitig war und nicht auf die Lage in der Türkei ins-
gesamt, so wie ich sie eben angesprochen habe, einging.
Der neue Antrag weist die selben Mängel auf. Haben die
Antragsteller nichts dazugelernt? Verschließen sie ein-
fach die Augen vor der Gesamtlage in der Türkei?

Ganz verborgen geblieben sind aber auch der Linken
die Probleme in der Türkei nicht, denn in dieser Woche
hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die
Linke einen Reisebericht vorgelegt, in dem sie zu dem
Ergebnis kommt, dass sich die Menschenrechtslage in
der Türkei 2009 im Vergleich zum Jahr 2008 verschlech-
tert habe. Dennoch sieht sich Die Linke nicht in der
Lage, dies auch in ihrem Antrag klar und deutlich anzu-
sprechen.

Deshalb lehnen wir den Antrag ab.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1703436100

Der Antrag der Linken spricht einen sensiblen Punkt

der türkischen Gesetzgebung bei den Gewerkschafts-
rechten an. Dass es um die Gewerkschaftsrechte und die
Erfüllung der ILO-Standards, also die Einhaltung der
Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, in
der Türkei nicht zum Besten steht, ist zwar bekannt, ge-
rät aber immer mehr außerhalb der Aufmerksamkeit der
EU. Hatte noch im Oktober 2006 der damalige EU-Er-
weiterungskommissar Olli Rehn kräftige Worte gewählt,
herrscht heute eher kleinmütiges Schweigen. Rehn da-
mals: „Die Türkei muss sicherstellen, dass die vollen
Gewerkschaftsrechte respektiert werden und im Ein-
klang stehen mit EU-Standards und der ILO-Konven-
tion, insbesondere in Bezug auf das Recht, sich zu orga-
Zu Protokoll
nisieren, zu streiken und kollektive Verhandlungen zu
führen. Deshalb muss die Türkei bestehende Einschrän-
kungen beseitigen und eine völlig revidierte Gesetzge-
bung in diesem Bereich für den öffentlichen und privaten
Sektor vorlegen.“ Rehn forderte die Türkei in diesem
Zusammenhang auf, die entsprechende Gesetzgebung
unverzüglich einzuleiten. Das ist bis heute nicht gesche-
hen. Die Türkei erfüllt in diesem Bereich die Kopenha-
gener Kriterien nicht.

Die türkischen Gewerkschaften haben nur einen sehr
geringen Handlungsspielraum. Die Rechte der Interes-
senvertreter der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
sind äußerst begrenzt. In der Verfassung von 1982 und in
den Gewerkschaftsgesetzen von 1983 wurde eine Viel-
zahl von Hürden für die gewerkschaftliche Organisation
gesetzt, die weder mit den Standards der EU noch mit
der Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation
kompatibel sind. Das Recht, Gewerkschaften und Ar-
beitgeberverbände zu gründen, ist geregelt. Aber Ge-
werkschaften können nur auf Branchenebene gegründet
werden. Von den 93 existierenden Gewerkschaften sind
nur 53 tariffähig. Sie sind stark kontrolliert. Streiks kön-
nen nur im Zuge von Tarifverhandlungen angewendet
werden; Warn- und Unterstützungsstreiks sind unzuläs-
sig.

Für das Recht zum Abschluss eines Tarifvertrages
müssen 50 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehme-
rinnen eines Betriebes in derselben Gewerkschaft sein.
Mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeit-
nehmerinnen eines Wirtschaftssektors müssen der be-
treffenden Gewerkschaft angehören. Mitglieder müssen
ihre Mitgliedschaft notariell beglaubigen lassen, was
Kosten verursacht – ebenso bei Austritt aus der Gewerk-
schaft. Mitbestimmung in den Betrieben gibt es nicht;
Betriebsräte stellen eher die Ausnahme dar.

Die ILO-Kernarbeitsnormen – Vereinigungsfreiheit,
Beseitigung von Zwangsarbeit, Abschaffung von Kin-
derarbeit – werden nur rudimentär erfüllt. Insbesondere
die mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
ist ein großes Hindernis. Es gibt keine nennenswerten
Fortschritte bei den Arbeitnehmerrechten. Die Fort-
schrittsberichte der EU zur Türkei haben dies immer
wieder beklagt, aber mit abnehmender Lautstärke. Die
Eröffnung des Verhandlungskapitels 19 zu Sozialpolitik
und Beschäftigung stagniert, weil die türkische Regie-
rung die Befassung des Parlaments mit den schwierigen
Fragen von Streikrecht in Privatwirtschaft und öffentli-
chem Dienst sowie Zugangshürden für neue Gewerk-
schaften scheut. Die Verabschiedung ILO-konformer
Gesetze ist allerdings Voraussetzung für die Eröffnung
des Kapitels.

Nun wird der Türkei zwar eine funktionierende
Marktwirtschaft bescheinigt, aber das Gleichgewicht,
das in einer sozialen Marktwirtschaft erforderlich ist,
wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf gleicher Augen-
höhe verhandeln können, fehlt. Dies ist umso bedenkli-
cher, als die Privatisierung fortschreitet. Fehlende
Rechte der Arbeitnehmer führen zu sozialen Spannun-
gen, zu Auseinandersetzung und zu Gewalt.



gegebene Reden

Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

Der Antrag der Linken zielt auf den konkreten Fall
der ehemals staatlichen Monopolfirma Tekel ab. Mit er-
presserischen Dumpingforderungen sollten die Arbeit-
nehmer unter Fristsetzung das Angebot der neuen priva-
ten Besitzer annehmen oder ihren Arbeitsplatz verlieren.
Ein Gericht hat jetzt die Frist für ungültig erklärt. Aber
es geht eben nicht nur um diesen Fall, sondern um ein
gravierendes soziales Problem. Eine weitgehend recht-
lose Arbeitnehmervertretung steht einem Prozess gegen-
über, der von sinkenden Löhnen und einem wachsenden
informellen Sektor gekennzeichnet ist. Über die Hälfte
der Arbeitnehmer arbeitet nicht in einem registrierten
Arbeitsverhältnis.

Auch die Gewerkschaften haben einen Anteil an der
desolaten Situation. Untereinander zerstritten und miss-
trauisch, ziehen sie nicht an einem Strang. Ihre Kontakte
zur internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bleiben
zwiespältig und oberflächlich. DISK, eine eher linke Ge-
werkschaft, zum Beispiel unterstützt offiziell den EU-
Beitritt, ist aber 2006 aus dem tripartistischen Dialog
der ILO ausgestiegen und hat sich aus Gremien wie dem
Europäischen Wirtschafts- und Sozialrat zurückgezo-
gen. Die Kooperationsbereitschaft der verschiedenen
Gewerkschaften untereinander und mit der Regierung
ist durch ideologische Unterschiede und Konkurrenz-
denken extrem erschwert. Auch die Kommunikation mit
anderen, neuen EU-Ländern zu diesen Fragen kommt
nicht in Gang.

Infolge eines zunehmend durch andere politische
Fragen gekennzeichneten Diskurses wird die EU nicht
als Anwalt von Arbeitnehmerrechten wahrgenommen.
Die EU wird als „Europa des Kapitals“ angesehen, was
nationalistischen Ressentiments Auftrieb gibt. Auch die
Wirtschafts- und Finanzkrise und ihre Folgen tragen
dazu bei. Die EU sollte sich auf ihren Anspruch als „Eu-
ropa der Bürger“ besinnen und ihre Verantwortung für
die Arbeitnehmerschaft ernst nehmen.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1703436200

Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der

Fraktion die Linke „Für die Demokratisierung des Ge-
werkschaftsrechts in der Türkei“ ab. In diesem Antrag
wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die De-
mokratisierung des Gewerkschaftsrechts, die Versamm-
lungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei einzuset-
zen und die Einhaltung der ILO-Konventionen für den
EU-Beitrittsprozess einzufordern. Konkret wird die Bun-
desregierung dazu angehalten, sich gegen eine angebli-
che Kriminalisierung der Tekel-Arbeiter einzusetzen, die
seit geraumer Zeit gegen Massenentlassungen, Privati-
sierungen und für existenzsichernde Mindestlöhne pro-
testieren. So sollen rund 12 000 Beschäftigte des staatli-
chen türkischen Tabak-Monopols Tekel gegen ihre
betriebsbedingte Entlassung als Folge der Privatisie-
rung protestieren. So sollen, nachdem die Tekel-Produk-
tionsstätten an British American Tobacco verkauft wur-
den, landesweit 40 Lagerhäuser geschlossen werden.
Hierbei seien gemäß dem Antrag geltende Gesetze und
ILO-Bestimmungen über Betriebsübernahme missachtet
worden. Ferner wird in dem Antrag betont, dass am
15. Dezember aus vielen Teilen des Landes Tausende Te-
Zu Protokoll
kel-Arbeiter mit Bussen nach Ankara angereist seien.
Die Tekel-Mitarbeiter würden ihre Rechte als Beamte
verlieren, weil der ehemals staatliche Tabakkonzern Bri-
tish American Tobacco verkauft werde. Die Beschäftig-
ten hätten dann keinen Kündigungsschutz mehr und
müssten mit der Hälfte des bisherigen Lohnes auskom-
men. Die Beschäftigten müssten nun innerhalb einer
Frist beantragen, in ein Angestelltenverhältnis über-
nommen zu werden. Täten sie das nicht, drohe die Ent-
lassung. Der Großteil der Tekel-Arbeiter lehne den An-
gestelltenstatus weiterhin ab, so der Antrag der Linken.

Aus folgenden Gründen wird von der FDP der Antrag
der Linken abgelehnt: Der Deutsche Bundestag ist nicht
der verlängerte Arm dafür, das Gewerkschaftsrecht in
der Türkei zu reformieren. Schon allein der sprachliche
Duktus, in dem eine Verstaatlichung gegen eine Privati-
sierung von Unternehmen vorzuziehen ist, kann für die
FDP-Bundestagsfraktion nicht gelten. Der Antrag ist
von einem Gedankengut getragen, der sich fundamental
vom dem der FDP unterscheidet. Dem Deutschen Bun-
destag steht es nicht zu, Wertungen über die Gewerk-
schaftsfunktion und die demokratischen Reifeprozesse
im Gewerkschaftsrecht der Türkei vorzunehmen. Es
kann auch nicht sein, dass der Deutsche Bundestag die
türkische Regierung auffordert, wie sie ihre sozial- und
arbeitsrechtlichen Normen anzuwenden hat, so wie es in
dem Antrag gefordert wird. Auch auf EU-Ebene steht es
dem Deutschen Bundestag nicht an, der Europäischen
Kommission reinzureden, wie sie Ihren EU-Fortschritts-
bericht bezüglich der Türkei zu gestalten und welche
Punkte die EU-Kommission in den Mittelpunkt zu stellen
hat.

Aus Sicht der FDP ist es sicherlich nicht das alleinige
Gewerkschaftsrecht, was in den Mittelpunkt der EU-
Fortschrittsberichte über die Türkei zu stehen hat. Der
Antrag der Linken ist aus Sicht der FDP völlig überflüs-
sig und wird daher abgelehnt.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703436300

Nachdem die SPD zu fast allen Forderungen, die sie

in der letzten Wahlperiode abgelehnt hat, jetzt plötzlich
eigene Anträge einbringt, habe ich schon fast damit ge-
rechnet, dass sie auch zur Stärkung der Gewerkschafts-
rechte in der Türkei einen Antrag vorlegen wird. Ver-
wunderlich waren die Gründe, die zur Ablehnung
unseres ähnlichen Antrages in der 16. Wahlperiode führ-
ten. So hätten wir die Zersplitterung der Gewerkschaf-
ten nicht hinreichend berücksichtigt. Aber wobei eigent-
lich und weshalb hätten wir das tun sollen? Auch in
unserem neuen Antrag kritisieren wir, dass die türki-
schen Gewerkschaften, egal ob nun staatsnah, islamisch
oder revolutionär, aufgrund restriktiver gesetzlicher Re-
gelungen nur über einen sehr eingeschränkten bzw.
kaum vorhandenen legalen Handlungsspielraum verfü-
gen. Hinzu kommen institutionelle und rechtliche Hür-
den wie kostenverursachende Beglaubigungs- und
Registrierungspflichten von Gewerkschaftsmitgliedern
oder strenge Voraussetzungen für die Zulassung der Ta-
riffähigkeit. Die Kritik, dass weder die Standards in der
EU noch die Übereinkommen der Internationalen Ar-
beitsorganisation, ILO, in Bezug auf die uneinge-



gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
schränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte erfüllt sind,
gilt formal für alle diese Gewerkschaften und deren Mit-
glieder. Die Einschränkungen und Verbote beim Organi-
sations- und Streikrecht und beim Recht auf Tarifver-
handlungen gelten rechtlich erst einmal für alle
Gewerkschaften.

Nach Angaben des Internationalen Gewerkschafts-
bundes, ITUC, ist rund einer halben Million Beschäftig-
ten in der Türkei aufgrund gesetzlicher Beschränkungen
der Eintritt in Gewerkschaften untersagt. ITUC stellt in
seinem Jahresbericht 2009 über die Türkei fest: „Das
Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Tarifverhand-
lungsrecht müssen an die EU-Standards und ILO-Über-
einkommen angepasst werden. Die Bemühungen der Ge-
werkschaften, sich zu organisieren, werden noch immer
vereitelt bzw. sind von massiven Entlassungen der Mit-
glieder und dubiosen Gerichtsverhandlungen und Ver-
haftungen der Gewerkschaftsführer begleitet. Streikende
und friedliche Demonstranten sahen sich exzessiver Po-
lizeigewalt ausgesetzt.“ Eine ähnliche Bilanz zog auch
die Europäische Kommission im Fortschrittsbericht
über den Beitritt der Türkei vom November 2008. Darin
wird die Lage hinsichtlich der umfassenden Garantie
der Gewerkschaftsrechte als „problematisch“ bezeich-
net. Und das betrifft nicht nur nichtstaatliche Gewerk-
schaften.

Bestes Beispiel sind die Tekel-Beschäftigten. Ihre Ge-
werkschaft Tekgida-Is ist nämlich Mitglied im Dachver-
band Türk-Is, die die SPD für offensichtlich weniger un-
terstützenswert hält. Wir solidarisieren uns mit den
Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und ihrem Kampf um gewerkschaftliche Rechte unab-
hängig von ihrer Mitgliedschaft in einer genehmen Ge-
werkschaft. Deshalb hat die Linke auch den Arbeits-
kampf der Tekel-Beschäftigten unterstützt. Im Rahmen
einer Auslandsdienstreise besuchte ich die streikenden
Tekel-Arbeiter in der türkischen Hauptstadt. Auch wäh-
rend des Generalstreiks am 4. Februar 2010 stand ich
an der Seite der Tekel-Beschäftigten. Der Fall Tekel ist
exemplarisch für die Notwendigkeit der Stärkung ge-
werkschaftlicher Rechte in der Türkei. Die türkische Re-
gierung versucht nämlich, nachdem im Jahr 2006 das
staatliche türkische Tabak- und Alkoholmonopol Tekel
an den Lucky-Strike-Produzenten British American To-
bacco verkauft wurde, die Arbeiterinnen und Arbeiter im
Rahmen eines sogenannten Sozialplans zum Verzicht auf
tarifliche Rechte wie Anspruch auf Urlaub und Lohn-
fortzahlung im Krankheitsfall zu zwingen, und bietet auf
zehn Monate befristete Arbeitsverträge an, die eine
Lohnkürzung um mehr als die Hälfte vorsehen. Und um
organisierten Widerstand möglichst von vornherein aus-
zuschließen, sieht das türkische Recht vor, Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgebern das Recht auf Entlassung von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund einer Ge-
werkschaftsmitgliedschaft bei Zahlung von Entschädi-
gungen einzuräumen. Das verstößt klar und eindeutig
gegen das Übereinkommen der Internationalen Arbeits-
organisation, Nr. 98, Art. 1, Abs. 2, Satz b.

Und das geht auch die Bundesrepublik an. Denn die
deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen und ihre
Entwicklung bilden eine tragende Säule der bilateralen
Zu Protokoll
Beziehungen. In den letzten Jahren nahm das bilaterale
Handelsvolumen in beide Richtungen deutlich zu. 2008
blieb es trotz der internationalen Finanzkrise mit 24,8 Mil-
liarden Euro nur geringfügig unter dem Rekordwert von
2007 mit 24,9 Milliarden Euro. Deutschland stellt die
größte Zahl der ausländischen Firmen, die in der Türkei
Direktinvestitionen getätigt haben. Die Zahl deutscher
Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deut-
scher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist in den vergan-
genen Jahren auf knapp 3 955 gestiegen. Die Betäti-
gungsfelder deutscher Unternehmen reichen von der
industriellen Erzeugung und dem Vertrieb sämtlicher
Produkte bis zu Dienstleistungsangeboten aller Art. Da-
rüber hinaus wird die Türkei auch für Deutschland im-
mer wichtiger als Energiekorridor. Das betrifft zum Bei-
spiel die RWE-Beteiligung am Konsortium für den Bau
der Nabucco-Pipeline. Damit hat die Bundesrepublik
nicht nur große Verantwortung, sondern auch eine ent-
sprechende Pflicht hinsichtlich der Einforderung von
Arbeits- und Einkommensbedingungen sowie die Rah-
menbedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit ge-
mäß den in den EU-Staaten gültigen Standards und de-
nen der ILO.

So gehört zu den zahlreichen deutschen Unternehmen
das Motorenwerk Mahle, das in seinem Betrieb im west-
türkischen Izmir rund 500 Mitarbeiter beschäftigt. Diese
Beschäftigten führen seit Wochen einen erbitterten Ar-
beitskampf gegen die Firmenleitung, die Druck auf sie
ausübt und mit Betriebsschließung droht, wenn sie nicht
aus der dort organisierten Gewerkschaft aus- und in
eine andere, als unternehmerfreundlich bekannte Ge-
werkschaft, eintreten. Kein Einzelfall! Nach Informatio-
nen von türkischen Gewerkschaften und auch der IG
Metall versuchen deutsche Firmen, in der Türkei mit al-
len Mitteln beschäftigtenfeindliche Möglichkeiten, die
ihnen das türkische Arbeitsrecht bietet, um gewerk-
schaftliche Aktivitäten in Betrieben zu verhindern, wei-
testmöglich auszunutzen

Die Linke fordert von der Bundesregierung nicht nur,
auf die türkische Regierung hinsichtlich der Einhaltung
bzw. Einführung international verpflichtender gewerk-
schaftlicher Standards einzuwirken. Es gilt auch, den
Einfluss auf deutsche Unternehmen auszuüben, die im
Ausland investieren und/oder produzieren. Angesichts
der zahlreichen Beispiele, die wir aus Deutschland ken-
nen, in denen aufgrund ihres gewerkschaftlichen Enga-
gements „unbequeme“ Beschäftigte kurzerhand vor die
Tür gesetzt werden, hat man jedenfalls keinen Grund zu
der Annahme, dass die deutschen Unternehmen dies
freiwillig machen würden. Dies scheint aber bei einem
Trio infernale aus einem FDP-Außenminister, einem
FDP-Wirtschaftsminister und einem FDP-Minister für
Entwicklungszusammenarbeit wie die Quadratur des
Kreises. Kein Wunder! Denn Außenminister Westerwelle
reist offenbar besonders nicht nur lieber mit solchen, die
der FDP viel Geld gespendet haben, sondern vertritt
auch lieber deren Interessen. Gewerkschafterinnen und
Gewerkschafter gehören da wohl weniger zum Reisetross.
Und so hat der Außenminister auf seiner Antrittsreise in
die Türkei Anfang Januar 2010 auch nicht die Gelegen-
heit gefunden, sich entsprechend für die seit Mitte De-



gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
zember 2009 protestierenden Tekel-Beschäftigten inso-
weit einzusetzen, dass er die Einhaltung international
verankerter gewerkschaftlicher Rechte als Grundlage
für wirtschaftliche Kooperationen zur Voraussetzung
machte.

Die Linke fordert, im Rahmen der bilateralen Bezie-
hungen mit der Türkei und auf EU-Ebene die Demokra-
tisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventio-
nen der Internationalen Arbeitsorganisation als
Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern. Uns
geht es auch darum, sich auf EU-Ebene dafür einzuset-
zen, dass die Probleme der Gewerkschaften in der Tür-
kei in künftigen Fortschrittsberichten ausführlicher the-
matisiert und noch deutlicher in den Mittelpunkt gestellt
werden. Insbesondere die mangelnde Versammlungs-
bzw. Vereinigungsfreiheit sollte hierbei im Vordergrund
stehen. Im bilateralen Rahmen muss darauf hingewirkt
werden, dass die türkische Regierung gemeinsam mit
den Gewerkschaften eine Lösung findet, die gewährleis-
tet, dass die Versammlungsfreiheit respektiert wird. Und
das sollte bereits zum 1. Mai durchgesetzt werden, damit
auf dem Taksim-Platz in Istanbul friedliche Demonstra-
tionen stattfinden. Die Polizeigewalt gegen Gewerk-
schafterinnen und Gewerkschafter und andere Demon-
strantinnen und Demonstranten im Rahmen von Streiks
muss die Bundesregierung deutlich kritisieren und klar-
machen, dass diese ganz erheblich Einfluss auf wirt-
schaftliche Kooperationsprojekte haben kann. Die beste
Gelegenheit, um auf die große Bedeutung gewerkschaft-
licher Rechte aufmerksam zu machen, ist die Reise der
Bundeskanzlerin in die Türkei. Auf dem Programm ste-
hen politische und Wirtschaftsgespräche. Ich jedenfalls
werde namens der Linken sowohl gegenüber den türki-
schen Regierungsvertretern als auch gegenüber den in
Begleitung mitreisenden deutschen Unternehmerinnen
und Unternehmern diese Themen ansprechen. Ich hoffe
Sie auch!

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

In Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerk-
schaften im NATO-Land Türkei unter einem fortwähren-
den Generalverdacht. Dies führte zu lähmenden Restrik-
tionen und Einschränkungen von selbstverständlichen
und fundamentalen Rechten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Die Entrechtung und Kriminalisierung
von Arbeitnehmervertretungen fanden ihre traurigen
Höhepunkte in der brutalen Unterdrückung und dem
blutigen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Aktivis-
tinnen und Aktivisten der Gewerkschaften. Mittlerweile
hat sich die Lage zum Besseren verändert. Seit fast fünf
Jahren führt die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der
EU. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regierung
auffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte einzuräu-
men und Reformen fortzusetzen, die das Gewerkschafts-
recht in der Türkei an die Konventionen der Internatio-
nalen Arbeitsorganisation und die Standards der EU
angleichen. Es ist nicht nur im Interesse der EU, son-
dern vor allem im Interesse der Türkei und der türki-
schen Demokratie, dass die Türkei ein modernes
Gewerkschaftsrecht bekommt. Denn Demokratie und
Zu Protokoll
Rechtsstaatlichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe und
Partizipationsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türki-
sche Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationa-
len und europäischen Konzerne und die EU müssen in
ihren Wirkungsbereichen, ihren Einrichtungen und Be-
trieben die Einhaltung moderner Arbeits- und Sozial-
standards garantieren.

Nach dem hoffnungsvollen Beginn der Beitrittsver-
handlungen mit der EU hat die Reformdynamik in der
Türkei stark nachgelassen. Aus unserer Sicht gab und
gibt es keine Entschuldigung für den anhaltenden Re-
formstau, der in den letzten drei Jahren so viel politi-
schen Schaden angerichtet hat. Hinzu kommt aber auch
eine EU-Politik, die ihrer Verantwortung gegenüber der
Türkei nicht gerecht wird. In drei Tagen besucht die
Bundeskanzlerin die Türkei. Für ihre Gespräche in
Istanbul und Ankara könnte sie einige Anregungen aus
dieser Debatte im Parlament gut gebrauchen. Denn die
Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei laufen
weiterhin sehr schleppend und unbefriedigend. Seit fast
fünf Jahren sind Verhandlungen insgesamt in zwölf
Kapiteln eröffnet. Wir beobachten ein großes Des-
interesse der Bundesregierung an den Beitrittsver-
handlungen mit der Türkei – und folglich auch an der
Demokratisierung des Landes. Das weiterhin nebulöse
Konzept der Kanzlerin von einer „privilegierten Part-
nerschaft“ der Türkei paralysiert das Denken und Han-
deln der Bundesregierung.

Das Haupthindernis bei den Verhandlungen ist offi-
ziell die Nicht-Umsetzung des sogenannten Ankara-Pro-
tokolls durch die Türkei gegenüber Zypern. Die alten
Konflikte aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen der
Türkei und Zypern wirken in die Gegenwart hinein und
lähmen wichtige Entwicklungen in Europa. Bei aller be-
rechtigten Kritik an der türkischen Haltung im Zypern-
konflikt ist es nicht hinnehmbar, wie Zypern als Mitglied
im EU-Klub alle Register zieht, um die Beitrittsverhand-
lungen mit der Türkei – eine Frage von enormer strate-
gischer Bedeutung – zu blockieren. Die EU hat eine ab-
wartende Haltung eingenommen, anstelle selbst aktiv zu
werden und eine gestaltende Rolle zu spielen. Eine Nor-
malisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und
Zypern wird ohne eine aktive und glaubwürdig vermit-
telnde Rolle der EU nicht gelingen.

Deutschland hat maßgeblichen Anteil an der passi-
ven Rolle der EU. Die Bundesregierung sollte ihre
Bremserrolle in den Beitrittsverhandlungen der EU mit
der Türkei dringend korrigieren. In bilateralen Gesprä-
chen und Beziehungen kann sie auch wesentlich dazu
beitragen, eine Modernisierung des Gewerkschafts-
rechts in der Türkei voranzutreiben. Denn die Rechte
der Gewerkschaften in der Türkei entsprechen weder
den EU- noch den ILO-Standards. Dies betrifft insbe-
sondere die Rechte, Gewerkschaften zu gründen, zu
streiken oder Tarifverträge abzuschließen. Gerade diese
Rechte sind ein Schwerpunkt der Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei. Die Bundesregierung kann sich im Sinne
der europäischen Politik und der in der EU geltenden
Rechtsnormen für die Anpassung und Weiterentwicklung
des türkischen Gewerkschaftsrechts einsetzen.



gegebene Reden





Claudia Roth (Augsburg)



(A) (C)



(D)(B)


Angesichts der Bedeutung von deutsch-türkischen
Wirtschaftsbeziehungen und der Rolle der deutschen
Wirtschaft in der Türkei dürfen wir auch die Wirtschaft
aus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Denn Gewerk-
schaftsrechte und die Verankerung von demokratischen
Mit- und Selbstbestimmungsrechten sind wichtige Vo-
raussetzungen für eine nachhaltige und produktive Wirt-
schaftspolitik. Im vorliegenden Antrag sind viele rich-
tige Forderungen formuliert. Dennoch werden viele
weitere Reformen außerhalb des Gewerkschaftsrechtes
außer Acht gelassen, die auf dem Weg der Türkei in die
EU wichtig sind. Dazu gehören Erneuerungen und An-
passungen im Sozialbereich, im Bereich der Minderhei-
tenrechte oder bei den Rechten der Frauen. Ein moder-
nes und fortschrittliches Gewerkschaftsrecht kann seine
Wirkung nur im Zusammenspiel mit weiteren Rechten im
sozialen und gesellschaftspolitischen Bereich entfalten.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703436400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1101 an die in der Tagesordnung aufge-

führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist auch diese
Überweisung so beschlossen.

Wir sind bereits am Schluss unserer Tagesordnung
angelangt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke Ihnen, dass Sie so lange an diesen Beratungen
teilgenommen haben.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. März 2010, 9 Uhr,
ein.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.