Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! AufVorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der KollegeKlaus-Peter Willsch für eine weitere Amtszeit zumMitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszen-trums Berlin für Sozialforschung gewählt werden.Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das istoffenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Willsch er-neut zum Mitglied dieses Kuratoriums gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Haltung der Bundesregierung zur Ablehnungdes bayerischen Gesundheitsministers MarkusSöder, eine Kopfpauschale anstelle der bisheri-gen solidarischen Finanzierung der gesetzli-chen Krankenversicherung einzuführenZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:zur Antwort der Bundesregierung auf dieFrage 1 auf Drucksache 17/1107Rede
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 28a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENPartei-Sponsoring transparenter gestalten– Drucksache 17/1169 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Rechtsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Ulrich Maurer, Jan KoAbgeordneter und der Fraktion DIE LParteien-Sponsoring im Parteienge– Drucksache 17/892 –zung den 25. März 2010.00 UhrÜberweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 29a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht 2 BvG 1/10– Drucksache 17/1192 –Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Kauder
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 61 zu Petitionen– Drucksache 17/1180 –c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 62 zu Petitionentext– Drucksache 17/1181 –d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 63 zu Petitionen– Drucksache 17/1182 –e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 64 zu Petitionen– Drucksache 17/1183 –ng der Beschlussempfehlung des Petitions-usses
elübersicht 65 zu Petitionenrte, weitererINKEsetz regelnf) BeratuausschSamm– Drucksache 17/1184 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 66 zu Petitionen– Drucksache 17/1185 –h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 67 zu Petitionen– Drucksache 17/1186 –i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 68 zu Petitionen– Drucksache 17/1187 –j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 69 zu Petitionen– Drucksache 17/1188 –k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 70 zu Petitionen– Drucksache 17/1189 –ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Konsequenzen aus den zahlreichen bekanntgewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs inkirchlichen und weltlichen EinrichtungenZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAltschuldenentlastung für Wohnungsunter-nehmen in den neuen Ländern– Drucksache 17/1154 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnolgieHaushaltsausschussZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
, Cornelia Behm, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz– Drucksachen 17/792, 17/1208 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierHeinz PaulaDr. Christel Happach-KasanAlexander SüßmairUndine Kurth
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 13 und 17 sollen getauschtsowie die Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f und 28 g ab-gesetzt werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einvernehmenfeststellen? – Das ist offenkundig der Fall.Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU undder FDPWahl des Wehrbeauftragten des DeutschenBundestages– Drucksache 17/1160 –Bevor ich etwas zum Ablauf der Wahl sage, möchteich mich zunächst an unseren amtierenden Wehrbeauf-tragten, Reinhold Robbe, wenden.Lieber Kollege Robbe, Sie blicken auf eine bald fünf-jährige Amtszeit als Wehrbeauftragter des Bundestageszurück, so wie es das Grundgesetz vorsieht. In IhrerAmtszeit haben Sie als Wehrbeauftragter im Auftrag desBundestages einen wesentlichen Beitrag zur parlamenta-rischen Kontrolle der Bundeswehr als Parlamentsheergeleistet. Sie haben sich mit vielfältigen Aspekten derBundeswehr befasst, den besonderen Bedingungen derAuslandseinsätze die angemessene Bedeutung bei-gemessen und in Ihren Berichten erforderlichen Korrek-turbedarf bei von Ihnen festgestellten und moniertenFehlentwicklungen verdeutlicht.Sie waren ein wichtiger Ansprechpartner für die Mit-glieder des Deutschen Bundestages, insbesondere desVerteidigungsausschusses. Ansprechpartner waren Sieaber auch und ganz besonders für die Soldatinnen undSoldaten. Diese konnten sich in den vergangenen fünfJahren darauf verlassen, dass ihre Sorgen und Nöte ernstgenommen werden und der Wehrbeauftragte sich nichtscheut, berechtigte Anliegen vorzubringen und auf Ver-besserungen zu drängen. Bei einem gemeinsamen Trup-penbesuch konnte ich selber einen Eindruck von demhohen Ansehen gewinnen, das Sie sich bei den Soldatin-nen und Soldaten erworben haben.Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Robbe, im Namender Soldatinnen und Soldaten für Ihre Arbeit als Wehr-beauftragter danken, ganz besonders aber auch im Na-men des ganzen Hauses, aller Mitglieder des DeutschenBundestages.
Wir danken Ihnen für Ihre verdienstvolle Tätigkeit undwünschen Ihnen für den weiteren Lebensweg alles Gute!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nunzur Wahl. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDPhaben den Abgeordneten Hellmut Königshaus als Wehr-beauftragten des Bundestages vorgeschlagen.Ich darf Sie um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hin-weise zum Wahlverfahren bitten:
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragtendes Deutschen Bundestages sind zur Wahl die Stimmender Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißtmindestens 312 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauf-tragte wird mit verdeckten Stimmkarten, also geheim,gewählt. Sie benötigen für die Wahl Ihren Wahlausweis,den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkar-tenfach entnehmen können. Bitte kontrollieren Sie, obder Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahlgültige Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlagerhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern an den Ausgabetischen neben den Wahlkabinen.Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewähr-leisten, bitte ich Sie, von Ihren Plätzen aus über die seit-lichen Zugänge und nicht durch den Mittelgang zu denAusgabetischen zu gehen. Nachdem Sie Ihre Stimmkartein der Wahlkabine gekennzeichnet und in den Wahlum-schlag gelegt haben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnenvor dem Rednerpult.Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass SieIhre Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen dür-fen und die Stimmkarte ebenfalls noch in der Wahlka-bine in den Umschlag legen müssen. Die Schriftführe-rinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden, derseine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine kennzeich-net oder in den Umschlag legt, zurückzuweisen. Gegebe-nenfalls kann die Stimmabgabe vorschriftsmäßig wie-derholt werden.Dass die Stimmkarten nur mit einem Kreuz bei „Ja“,„Nein“ oder „enthalte mich“ gültig sind, setze ich als all-gemein bekannt voraus, weise aber ausdrücklich nocheinmal darauf hin. Ungültig sind Stimmen auf nicht amt-lichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als einKreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer-fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem derSchriftführer an der Wahlurne. Der Nachweis der Teil-nahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe desWahlausweises erbracht werden.Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist offenbarder Fall.Ich bitte, zum Empfang der Stimmkarte zu den Aus-gabetischen zu gehen. Der Wahlgang ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-glied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nichtabgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall zu sein.Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Für die Auszählung unterbreche ich die Sitzung füretwa 15 Minuten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff-
net.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das
Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten bekannt: ab-
gegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen keine. Mit
Ja haben gestimmt 375 Mitglieder des Bundestages,
mit Nein gestimmt haben 163 Kolleginnen und Kolle-
gen, Enthaltungen gab es 41.1)
Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stim-
men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also
312 Stimmen, auf sich vereinigt. Ich stelle fest, dass der
Abgeordnete Hellmut Königshaus mit der erforderlichen
Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Deutschen
Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist.
Ich frage Sie, Herr Kollege Königshaus: Nehmen Sie
die Wahl an?
Herr Präsident, ich nehme die Wahl gerne an und be-
danke mich.
Herr Abgeordneter Königshaus, ich gratuliere Ihnenpersönlich und im Namen des ganzen Hauses zu dieserWahl und wünsche Ihnen Kraft, Erfolg und eine guteHand bei der Führung Ihres Amtes.
Darf ich vorschlagen, dass wir im Interesse der zügi-gen weiteren Behandlung unserer Tagesordnung zumnächsten wichtigen Punkt kommen? Herr KollegeKönigshaus, könnten Sie freundlicherweise die bemer-kenswerte Reihe der Gratulanten entweder vertröstenoder an den Rand des Plenums geleiten?Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 4 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 25./26. März 2010in BrüsselHierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionder SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion DieLinke sowie ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Diese Debatte wird im Übrigen außer im Parlaments-fernsehen und in Phoenix auch im Hauptprogramm deröffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstaltenübertragen,
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
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was ich aus vielerlei Gründen ausdrücklich begrüße undmit Respekt registriere.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann können wir so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieschlimmste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahrendes letzten Jahrhunderts stellt die Europäische Unionund ihre Mitgliedstaaten weiter vor außerordentliche He-rausforderungen. Hinzu kommen für uns alle die Aufga-ben, die durch die zunehmende Alterung unserer Bevöl-kerung, den drohenden Klimawandel und einen sichzulasten Europas verschärfenden internationalen Wett-bewerb entstehen. Es kann kein Zweifel bestehen: Eu-ropa und die 27 Mitgliedstaaten müssen ihre Anstren-gungen weiter verstärken, um diese außerordentlichgroßen Herausforderungen meistern zu können. Es be-steht aber auch kein Zweifel: Deutschland ist bereitdazu. Ich bin überzeugt: Deutschland ist in der Lage, sei-nen Beitrag für ein erfolgreiches Europa zu leisten.
Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat der EuropäischenUnion kann diese Aufgaben unserer Zeit im Alleingangbewältigen. Wir brauchen einander. Wer das nicht er-kennt, der hat die einzigartige Erfolgsgeschichte der eu-ropäischen Einigungsidee nicht verstanden. Gemeinsamsind wir stärker.Deshalb begrüße ich die Bemühungen der Europäi-schen Präsidentschaft und der Europäischen Kommis-sion für eine neue europäische Wachstumsstrategie, diesogenannte Strategie EU 2020. Auf Eckpunkte dieserEU-2020-Strategie wollen wir uns heute und morgen inBrüssel einigen. Eine solche Strategie ist von großer Be-deutung, weil im Binnenmarkt die europäischen Volks-wirtschaften in einer unauflöslichen gegenseitigen Ab-hängigkeitsbeziehung stehen. Wir erleben gerade indiesen Tagen schmerzlich, dass Fehler in der Wirt-schaftspolitik einzelner Staaten zu beträchtlichen ökono-mischen Verwerfungen insgesamt führen können. Um-gekehrt haben wir in der Geschichte der EuropäischenUnion auch immer wieder erlebt, dass Strukturreformenin einzelnen Mitgliedstaaten sich gegenseitig bereichernkönnen. Damit wirkt die Zusammenarbeit der Mitglied-staaten zum Wohle aller in der ganzen EuropäischenUnion.Ich kenne die Einwände, die gegen die neue EU-2020-Strategie vorgebracht werden. Ich sage ausdrück-lich: Ich nehme diese Einwände ernst, und ich weiß auchum die Defizite, die schon die sogenannte Lissabon-Strategie hatte. Vorneweg war eines dieser Defizite diefehlende Prioritätensetzung und damit verbunden einemangelnde politische Verbindlichkeit. Wir haben in derLissabon-Strategie zum Schluss sage und schreibe25 quantitative Ziele gezählt. Hinzu kommt eine nochwesentlich größere Zahl an qualitativen Zielen. AmEnde sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.Genau das wollen wir ändern.
Deutschland hat deshalb gefordert, für die neue EU-2020-Strategie den Zielkatalog deutlich zu reduzieren.Ich freue mich, dass Präsident Van Rompuy jetzt einKonzept zur Reform der Lissabon-Strategie auf denTisch gelegt hat, das genau diesen Gedanken aufgreift.Dennoch: Wir dürfen trotz aller Unzulänglichkeiteneines nicht vergessen: Viele der Reformen, die die Mit-gliedstaaten in den Jahren vor der weltweiten Finanz-und Wirtschaftskrise zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfä-higkeit durchgeführt haben, waren auch das Ergebnis ei-nes Voneinander-Lernens, das Ergebnis genau dieserLissabon-Strategie, die das Benchmarking eingeführthatte und die uns immer wieder hat schauen lassen: Wiemachen es andere?Mit der neuen EU-2020-Strategie gehen wir zweierleian: Einerseits übernehmen wir die Stärken der Lissabon-Strategie, und wir versuchen gleichzeitig, ihre Defizitezu beseitigen:Erstens. Es werden nur noch einige wenige prioritäreZiele gesetzt.Zweitens – das ist vielleicht noch wichtiger –: Diesewenigen EU-Ziele sollen mit der Verbesserung der inter-nationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der För-derung eines nachhaltigen Wachstums in direktem Zu-sammenhang stehen. Die Ziele sind also ausgerichtet aufdie Zielstellung der Strategie.Drittens. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen dieStaats- und Regierungschefs konkret die Verantwortungübernehmen.Meine Damen und Herren, mit der EU-2020-Strategiewollen und werden wir die Innovationsfähigkeit Euro-pas stärken. Man muss ganz nüchtern sagen: Der An-spruch der Lissabon-Strategie, dass wir der wettbe-werbsfähigste und innovativste Kontinent schon bis2010 sind, hat sich nicht erfüllt. Trotzdem bleibt dasThema Innovationsfähigkeit natürlich auf der Tagesord-nung.Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlagvon Präsident Barroso, 3 Prozent des europäischen Brut-toinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus-zugeben. In aller Bescheidenheit können wir hinzufü-gen: Deutschland ist wie schon in anderen Bereichenauch hier einer der Vorreiter in Europa. Wir werden aufder Bundesseite das 3-Prozent-Ziel sehr schnell erfüllen.Wir werden auch gesamtstaatlich daran arbeiten und ha-ben uns vorgenommen, bis 2015 die Ausgaben für Bil-dung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlands-produkts zu steigern.Es reicht nicht aus, wenn sich die Europäische Uniondas Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozentsetzt, wie das jetzt geplant ist. Es müssen dazu natürlich
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auch die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Dasheißt, das 75-Prozent-Ziel können wir teilen. Aber wirmüssen das Erreichte – Deutschland hat dieses Ziel imWesentlichen erreicht – auch festigen und zukunftsfestmachen. Deshalb geht es neben Forschung und Entwick-lung auch darum, bestehende Beschäftigungshemm-nisse zu beseitigen, indem wir zum Beispiel die Auf-nahme einer regulären Arbeit für die Bezieher vonArbeitslosengeld II attraktiver ausgestalten wollen. Wirwerden das innenpolitisch anpacken und auch damit ei-nen Beitrag zur Stärkung Europas leisten.
Damit verbunden ist aber natürlich auch, dass dieseZielsetzungen – das zeigt sich an einem weiteren Ziel –auf die innere und spezifische Situation der Mitglied-staaten ausgerichtet sein müssen. Jeder weiß: Gute Bil-dung für alle, das ist die Voraussetzung für eine hoheRate qualifizierter Beschäftigung. Aber die Gegebenhei-ten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschied-lich. Ich kann und werde heute in Brüssel nicht einfachein pauschales EU-Ziel zur Quote der Hochschulabsol-venten unterstützen; denn wir müssen zum Beispiel da-rauf achten, dass die deutschen Berufsbildungsab-schlüsse bestimmten Hochschulabschlüssen in anderenMitgliedstaaten durchaus ebenbürtig sind. Das müssenwir miteinander vergleichen und dafür auch werben.
Deshalb teile ich an dieser Stelle ausdrücklich die Auf-fassung der Ministerpräsidenten der Länder: Hier gibt esnoch Beratungsbedarf, und die Zeit dafür werden wiruns nehmen.Dennoch bin ich optimistisch, dass wir uns auf euro-päischer Ebene auf ein vernünftiges Verfahren für einBildungsziel verständigen können, und zwar unter einerVoraussetzung: Es muss die spezifischen Gegebenheitender einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen.Meine Damen und Herren, ich habe es schon oft ge-sagt und wiederhole es heute, weil man es nicht oft ge-nug wiederholen kann: Niemals darf die große Heraus-forderung der Bewältigung der weltweiten Finanz- undWirtschaftskrise gleichsam als Ausrede dafür herhalten,andere große Herausforderungen in den Hintergrund tre-ten zu lassen. Das muss auch für den heutigen EU-Ratvermieden werden, weil etwa die Erfüllung der Klima-und Energieziele der Europäischen Union keinen Auf-schub duldet.
Der Strukturwandel in Richtung einer kohlenstoffar-men Wirtschaft muss konsequent vorangetrieben wer-den. Das hat dann natürlich auch einen ökonomischenMehrwert; denn wenn wir in Europa diesen Struktur-wandel frühzeitig einleiten und umsetzen, wird dies zuerheblichen Wettbewerbsvorteilen für unsere Industrieim globalen Wettbewerb führen. Wir müssen also – dasmuss uns leiten – unsere Chancen erkennen, und darüberhinaus gilt: Wir müssen diese Chancen dann auch konse-quent gemeinsam nutzen. Deshalb unterstütze ich aus-drücklich den Vorschlag der EU-Kommission, die Erfül-lung der vom Europäischen Rat unter deutscherPräsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimazieleauch im Rahmen der EU-2020-Strategie zu verankernund voranzubringen.Ich füge allerdings hinzu: Da die Wahrheit oft imKleingedruckten steckt, wird Deutschland ein wachesAuge auf die Diskussion haben, die in diesem Zusam-menhang in der Europäischen Kommission im An-schluss an den Europäischen Rat zum Thema Energie-effizienz geführt wird. Deutschland nimmt dieVerantwortung, die sich durch eine Vorreiterrolle für denKlimaschutz in Europa ergibt, weiterhin konsequentwahr. Einen wichtigen Impuls für Fortschritte in den in-ternationalen Verhandlungen werden wir auch noch ein-mal mit der Ministerkonferenz des Bundesumweltminis-ters für den Klimaschutz vom 2. bis 4. Mai in Bonnsetzen.Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass sichdie vereinbarten Maßnahmen in der Europäischen Unionnicht gegenseitig widersprechen, sondern dass sie in sichkonsistent sind. So kann man nach meiner Auffassung,wenn man sich zum Beispiel für den Zertifikatehandelentscheidet, nicht gleichzeitig Steuern und Ähnlicheseinführen. Das bringt kein konsistentes Bild in die ge-samte Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nichtverschweigen, dass es bei der Beratung der EU-2020-Strategie heute ein Thema geben wird, zu dem es vonmir für ein quantitatives Ziel keine Unterstützung gebenwird. Ich meine die Bekämpfung der Armut inEuropa. Natürlich: Alle wollen Armut bekämpfen, nie-mand von uns findet sich mit ihr ab. Wir als Bundesre-gierung verfolgen das gemeinsam mit den die Regierungtragenden Fraktionen ganz konsequent. Außerdem gilt:Soweit die Armutsbekämpfung über mehr Wachstum er-reicht werden kann, gehört sie in die neue europäischeStrategie 2020. Aber – darum geht es mir – Armutsbe-kämpfung ist viel mehr als wirtschaftliches Wachstum.Sie ist eine sozialpolitische Aufgabe. Diese ist – ich erin-nere an den Grundsatz der Subsidiarität – mit gutemGrund Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Da sollten wirsie auch belassen.
Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir nichtmehr alle Ziele aufnehmen können, die man für gut undrichtig hält, sondern dass man genau schauen muss: Wosind die Prioritäten? Wo muss man bestimmte Aufgabenan die Mitgliedstaaten verweisen?Die Ziele der neuen EU-2020-Strategie werden heuteund morgen im Rat beraten. Nach den Vorschriften desVertrages von Lissabon sind sie für die Mitgliedstaatenzwar rechtlich nicht bindend, dennoch – davon bin ichüberzeugt – werden sie eine nicht zu unterschätzendepolitische Bindungswirkung entfalten. Denn in Zukunftkommt gerade dem Rat bei dem Beschluss solcher Zieleeine ungleich größere Verantwortung als früher zu, weilwir auch für die Einhaltung dieser Ziele geradestehenmüssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn die Kom-
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mission regelmäßig überprüfen will, ob wir diese Zieleeinhalten, auch zu Hause miteinander – das bedeutet dieDiskussion im Deutschen Bundestag, das bedeutet auchdie Diskussion mit dem Bundesrat – intensiver als früherdiskutieren; denn nur wenn ein solches Ziel breit getra-gen wird von denen, die die parlamentarischen Entschei-dungen in Deutschland fällen, kann ich das Ziel fürDeutschland umsetzen. Nur dann können wir auch ak-zeptieren, dass die Kommission auf diese Einhaltungpocht. Das heißt also, wir vereinbaren Ziele nur dann,wenn wir gemeinsam, mehrheitlich in diesem Hause zuder Überzeugung kommen, dass es die richtigen undwichtige Ziele sind.
In der Debatte um die Strategie EU 2020 wurde inden vergangenen Wochen immer wieder die Verknüp-fung des Stabilitätspaktes mit der neuen Wachstums-strategie gefordert. Ich habe mich immer wieder konse-quent, wie auch die ganze Bundesregierung dies getanhat, dagegen gewendet. Ich hielte es für falsch, wenn wirWachstum gegen Stabilität ausspielen würden, wenn wirden Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen würden.Ich hielte es sogar für verhängnisvoll.
Deshalb bin ich froh, dass das verhindert werdenkonnte. Wir können uns eine Verwässerung des Stabili-tätspaktes nicht leisten. Mit der Bundesregierung – ichglaube, dafür auch die Unterstützung des Parlaments zuhaben – wird es sie nicht geben. Zur Rückkehr zu soli-den Staatsfinanzen gibt es nämlich keine vernünftigeAlternative.
Hier darf nicht getrickst werden. Sie brauchen sich auchgar keine Sorgen machen, dass wir nicht anfangen. Al-lein das Grundgesetz zwingt uns dazu.
Das ist der richtige Ort, an dem die Schuldenbremse ver-ankert ist.Alle Mitgliedstaaten müssen diesen Weg gehen. Nurmit der Rückführung der Defizite in jedem einzelnenMitgliedstaat kann Europa das Vertrauen in seine wirt-schaftliche Stärke, seine gemeinsame Währung undseine politische Handlungsfähigkeit sichern. Das ist un-verzichtbar für die Zukunft Europas.Aber wir spüren in diesen Wochen durchaus auch dieGrenzen des Stabilitätspaktes. Er war und ist nicht da-rauf ausgerichtet, strukturelle Fehlentwicklungen undden damit verbundenen Aufbau von erheblichen Un-gleichgewichten in der EU zu erkennen.
Um es klipp und klar zu sagen: Auf ein bewusstes Unter-laufen seiner Kriterien, wie wir das im Falle Griechen-lands erleben mussten, war und ist dieser Pakt nicht ein-gestellt. Deshalb sage ich: Ein solches Unterlaufen mussfür die Zukunft unterbunden werden. Wir dürfen nichtmit Europas Zukunft spielen.Ich werde das heute und morgen in Brüssel unmiss-verständlich deutlich machen. Deutschland ist sich hierseiner historischen Verantwortung bewusst. Die Wirt-schafts- und Währungsunion wurde seinerzeit maßgeb-lich von der deutschen Bundesregierung geprägt.Helmut Kohl und Theo Waigel haben für ein Regelwerkgekämpft, das die Stabilität des Euro dauerhaft garan-tiert. Das hat sich ausgezahlt: Der Euro ist heute stabiler,als die D-Mark es je war. Der Euro hat uns gerade beider Bewältigung der internationalen Finanzkrise sehr ge-holfen.
Als man die vertraglichen Grundlagen für die Einfüh-rung des Euro geschaffen hat, hat man sich eine außerge-wöhnliche Situation wie die schwerste Wirtschafts- undFinanzkrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhundertsallerdings nicht vorgestellt. Ich füge hinzu: vielleicht hatman es sich auch nicht vorstellen können; denn wir allesind mit Dingen konfrontiert worden, die außerhalb des-sen waren, was wir erwartet haben. Deshalb wurden inden europäischen Verträgen keine Vorkehrungen getrof-fen, um eine solche Situation beherrschen zu können.Würde ein Mitglied der Währungsunion in der gegen-wärtigen Situation zahlungsunfähig, bedeutete dies füruns alle in Europa gravierende Risiken, auch fürDeutschland als größte Volkswirtschaft Europas. Wieunkontrollierbare Kettenreaktionen entstehen und dieganze Weltwirtschaft erschüttern können, haben wir imHerbst 2008, nach dem Zusammenbruch von LehmanBrothers, erlebt. Es ist also sowohl im europäischen alsauch im wohlverstandenen deutschen Interesse, schwer-wiegende Störungen der Finanzstabilität in der Eurozoneoder der globalen Finanzmärkte zu vermeiden.So weit wollen und dürfen wir es nicht kommen las-sen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefsbeim letzten EU-Gipfel, am 11. Februar, klar vereinbart:Wenn es notwendig sein sollte, sind die Euromitglieds-länder bereit, entschlossen und koordiniert zu handeln,um die Finanzstabilität in der Eurozone insgesamt zu si-chern.
Diese Vereinbarung – Sie erinnern sich – wurde ganzwesentlich in einer Kooperation zwischen Deutschlandund Frankreich erreicht. Sie hat sich schon jetzt bewährt.Heute, sechs Wochen später, können wir eine erste Zwi-schenbilanz dieser Entscheidung ziehen. Wir stellen fest:Es ist noch kein Euro und kein Cent für die Unterstüt-zung Griechenlands ausgegeben worden. Bislang istGriechenland nicht zahlungsunfähig geworden. Auchsind düstere Vorhersagen über die Entwicklung in ande-ren Mitgliedstaaten nicht Realität geworden. Stattdessenhat Griechenland ein ambitioniertes Sparprogramm be-
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schlossen und erfolgreich eine Anleihe an den Märktenplatziert.Ich glaube, sagen zu können, dass sich Europa am11. Februar in einer Stunde der größten ökonomischenund politischen Herausforderung als gleichermaßen ent-schieden, aber auch besonnen gezeigt hat; das hat seineEffekte gezeitigt. Ich wiederhole: Deutschland undFrankreich haben dabei sehr eng zusammengearbeitet.
Wir wissen: Jede weitere Entscheidung über die kurz-fristige Stabilisierung eines Mitgliedstaats der Europäi-schen Union muss im Einklang mit der langfristigen Sta-bilität der Wirtschafts- und Währungsunion getroffenwerden. Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin deraußerordentlich großen Verantwortung in dieser Stundebewusst. Denn das deutsche Volk hat im Vertrauen aufeinen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben.Dieses Vertrauen – das eint die ganze Bundesregierung –darf unter keinen Umständen enttäuscht werden.
Deshalb sage ich: Ein guter Europäer ist nicht unbe-dingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, derdie europäischen Verträge und das jeweilige nationaleRecht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Euro-zone keinen Schaden nimmt.
Das war die Richtschnur des bisherigen Handelns desBundesfinanzministers, von mir und der gesamten Bun-desregierung. Das ist die Richtschnur aller Entscheidun-gen heute und morgen auf dem Rat und auch in Zukunft.Heute und morgen geht es darum, die Entscheidungendes Rats vom 11. Februar zu spezifizieren, also darum,fortzuschreiben, wie wir im äußersten Notfall als UltimaRatio – so haben wir es gesagt – agieren können, wenndie Stabilität gefährdet ist, wenn ein Eurostaat keinenZugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat,wenn dieser Zugang also erschöpft ist.Für einen solchen Notfall haben die FinanzministerGemeinschaftshilfen ausgeschlossen und sich für bilate-rale Hilfen ausgesprochen.Die Bundesregierung wird sich beim Rat heute undmorgen dafür einsetzen, dass im Notfall eine Kombina-tion von Hilfen des IWF und gemeinsamen bilateralenHilfen in der Eurozone gewährt werden müsste. Aberdies ist – ich sage es noch einmal – die Ultima Ratio. Ichwerde entschieden dafür eintreten, dass eine solche Ent-scheidung – IWF plus bilaterale Hilfen – gelingt. Dabeiwerden wir wieder sehr eng mit Frankreich zusammen-arbeiten. Ich wiederhole: Es geht nicht um konkrete Hil-fen, sondern um eine Spezifizierung und Fortschreibungder Entscheidung vom 11. Februar.Meine Damen und Herren, mit alldem dürfen wir un-sere Arbeiten keinesfalls beenden; das würde nicht aus-reichen. Denn eine Situation, wie wir sie nie vorausgese-hen haben, kann nicht einfach übergangen werden,sondern Europa muss daraus die richtigen Lehren für dieZukunft ziehen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, da-mit sich eine solche Situation nicht wiederholen kann.Wir haben gesehen, dass das aktuelle Instrumentariumder Währungsunion unzureichend ist. WolfgangSchäuble hat darauf hingewiesen und weiterführendeMaßnahmen vorgeschlagen, die ich ausdrücklich unter-stütze. Wir beraten schon heute eine Verordnung, dieEurostat das Recht gibt, kritische Fragen direkt vor Ortzu prüfen.
– Auch Sie waren daran beteiligt, als wir Eurostat dasverboten haben.
Tricksereien muss ein Riegel vorgeschoben werden.Aber mehr Eingriffsbefugnisse für Eurostat allein wer-den nicht ausreichen. Wir müssen mit Blick auf die Zu-kunft folgende Fragen beantworten: Was passiert, wenntrotz aller Vorkehrungen ein Eurostaat zahlungsunfähigwird? Welche Möglichkeiten gibt es, dies in ein geordne-tes Verfahren zu bringen, ohne dass die Stabilität derWährungsunion erschüttert wird, sondern dass sie ge-schützt wird?Deshalb werde ich mich auch für erforderliche Ver-tragsänderungen einsetzen, damit Fehlentwicklungendurch geeignete Sanktionen früher und effektiver be-kämpft werden können. Hier steht insbesondere dieStärkung des Defizitverfahrens auf der Agenda. Dasist eine Aufgabe, die weit über den heute beginnendenEU-Rat hinausreicht. Sie will wohl überlegt sein. Aberauf Dauer werden wir einer solchen Antwort nicht aus-weichen können.Eines möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen,wenn auch nur am Rande: Es ist geradezu absurd,Deutschland mit seiner wettbewerbsstarken Wirtschaftgleichsam zum Sündenbock für die Entwicklung zu ma-chen, die wir jetzt zu bewältigen haben.
Unsere Kritiker in Europa verkennen, dass unsere Ex-portgewinne zum Teil in die Defizitländer zurückflie-ßen und dass Deutschland auch das größte ImportlandEuropas ist. Deutsche Unternehmen haben 500 Milliar-den Euro in der EU investiert und beschäftigen dortmehr als 2,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zurStärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch aufden Weltmärkten. Darauf können wir zu Recht stolzsein.
Meine Damen und Herren, die Staats- und Regie-rungschefs werden auf ihrem heute beginnenden Gipfelein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftli-chen Zusammenarbeit Europas aufschlagen. Wir werdenin Europa noch stärker zusammenrücken. Wir werdendamit unsere Interessen in der Welt noch besser vertreten
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können. Unsere politische Generation wird auch in unse-rer Zeit der großen Verantwortung gerecht, die uns dieGründer der wunderbaren Idee der Einigung Europas vorüber 50 Jahren mit auf den Weg gegeben haben.Europa ist Friedensgemeinschaft, Europa ist Rechts-gemeinschaft, Europa ist Stabilitäts- und Wachstumsge-meinschaft, Europa ist unsere Zukunft. Diese Idee zuschützen und zu wahren, das war und das ist jede Müheund Anstrengung wert. Dafür setzt sich die Bundesregie-rung und dafür setze ich mich in den nächsten beiden Ta-gen ganz persönlich ein.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr enttäuscht überIhre Erklärung, Frau Bundeskanzlerin.
Sie haben angekündigt, dass beim heute beginnendenEuropäischen Rat ein neues und anspruchsvolles Kapitelder wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa aufge-schlagen werden soll. Frau Kanzlerin, ich vermisse denanspruchsvollen und leidenschaftlichen Beitrag der Bun-desregierung zu dieser Strategie, die uns in den nächstenzehn Jahren zu wirtschaftlichem, sozialem und ökologi-schem Erfolg führen soll.
Stattdessen, Frau Bundeskanzlerin, erklären Sie uns,welche von der Kommission vorgeschlagenen Ziele Siezwar gut finden, aber doch bitte nicht so genau festge-schrieben haben wollen. Man könnte die schwarz-gelbeKoalition sonst ja gegebenenfalls daran messen, ob sietatsächlich Entscheidendes getan hat, um die Chancen-gleichheit in der Bildung herzustellen oder die Armutabzubauen. Wo, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, istdenn der kräftige Pinselstrich dieser Regierung im Hin-blick auf die Strategie EU 2020, der unsere europäischenGesellschaften wirklich mit Innovationen voranbringt?
Sie sagen, Sie unterstützten die unter deutscher Präsi-dentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele derUnion. Aber Misstrauen ist angesagt. Denn gleichzeitighaben Sie dem Rats- und dem Kommissionspräsidentenbrieflich übermittelt, dass Sie auf dem März-Gipfel kei-nen quantifizierten Zielen zustimmen können, deren Er-füllung von der Kommission nicht belegt werden könne.
Hier schleicht sich die Klimakanzlerin davon.
Genauso haben Sie im Haushalt nicht die Mittel zur Ver-fügung gestellt, die zur Erreichung des Klimaschutzes inden Entwicklungsländern notwendig sind.Frau Kanzlerin, das passt zu den verheerenden Signa-len, die Ihre Regierung in Deutschland selbst setzt: DieFörderung der erneuerbaren Energien wird von heute aufmorgen reduziert, und die Investoren werden damit ver-unsichert. Die Markteinführungsprogramme für Effi-zienztechnologien und Wärmeerzeugung werden ge-kürzt und gesperrt. Die Wärmedämmung wird nur nochhalbherzig unterstützt. Wegen der anstehenden Entschei-dung über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwer-ken sind die Kraftwerkserneuerungsprogramme auf Eisgelegt. So kann schon Deutschland seine Klimazielenicht erreichen.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen uns,Europa müsse noch stärker zusammenrücken. Wie solldas denn geschehen? Die Staats- und Regierungschefs– so darf ich Sie zitieren – müssten dafür geradestehen,die gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen zu Hauseumzusetzen. – Wenn Sie sich nicht für eine stärkerewirtschaftspolitische Koordinierung einsetzen, dannbleibt Ihr Verweis auf eine Wirtschaftsregierung nur einleeres Zugeständnis an Staatspräsident Sarkozy und eineMogelpackung.
Der Europäische Rat bereitet auch den G-20-Gipfel inToronto vor. Das wichtigste Thema wird die Reform desFinanzsektors sein. Eine international vereinbarteSteuer auf den Handel von Finanzprodukten würde zueiner Entschleunigung des Finanzroulettes beitragen.Leider ist nicht klar, ob die Bundesregierung eine solcheSteuer weiterhin unterstützt.
Heute wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, den Deut-schen Bundestag darüber zu informieren.
Wenn wir von Verantwortung sprechen, dann, FrauBundeskanzlerin, muss ich Ihnen sagen: Sie sind IhrerVerantwortung in den letzten Wochen nicht gerecht ge-worden.
In diesen Wochen, in denen sich viele Menschen Sorgenum die Stabilität des Euro und um den Zusammenhaltder Währungsunion machen, betreiben Sie und Ihre Re-gierung eine unstete und unentschlossene Politik, einePolitik der Unentschiedenheit und des Attentismus. Siesagen heute: Griechenland wird nicht geholfen. – Mor-
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Dr. Angelica Schwall-Düren
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gen verkündet der Finanzminister, er setze sich für einenEWF ein. Und vom Außenminister ist dröhnendesSchweigen zu vernehmen. Das ist eine unehrliche undopportunistische Verhaltensweise.
Ja, Griechenland hat seine schwierige Lage überwie-gend selbst verursacht. Während der frühere griechischeMinisterpräsident Karamanlis mit Goldman Sachs ge-zockt hat, erweist sich der heutige MinisterpräsidentPapandreou aber als wahrer Patriot. Er – das sollten Siezur Kenntnis nehmen – und die aktuelle Regierung ha-ben mit der Politik der Vorgängerregierung gebrochen.Die jetzige Regierung bettelt nicht um Hilfe. Papandreouhat seiner Bevölkerung ein strenges Spar- und Reform-paket verordnet, das seinesgleichen sucht. Er nimmt einhohes persönliches, aber auch ökonomisches und sozia-les Risiko für sein Land auf sich.Heute ist übrigens griechischer Nationalfeiertag. Wirwünschen der griechischen Bevölkerung von hier ausMut, Kraft und Erfolg bei den Reformbemühungen.
Der Ministerpräsident will, dass Griechenland dieKrise aus eigener Kraft bewältigt. Aber Sie, FrauMerkel, fallen ihm in den Rücken.
Jedes Mal, wenn Sie sich äußern und verkünden, nein,über Hilfsprogramme spreche man nicht, ja, Griechen-land müsse seine Probleme allein lösen, nein, es gebekeinen Anlass, über Hilfen zu spekulieren, heizen Sie dieSpekulationen an.
Jedes Mal, wenn Sie sprechen, fallen die Kurse für Grie-chenland, und der Spread steigt; das heißt, die Griechenmüssen mehr als doppelt so hohe Zinsen wie Deutsch-land für Anleihen bezahlen.
Ich darf Ihnen hier ein unverdächtiges Blatt zeigen.Diese Grafik bildet die Kursschwankungen ab. DieFinancial Times Deutschland schreibt: Merkels riskantesSpiel mit den Märkten. Offensichtlich, Frau Bundes-kanzlerin, wollen Sie nach der Methode der Zeitung mitden vier großen Buchstaben das vermeintliche Bauchge-fühl potenzieller Wähler in NRW ansprechen.
In Wahrheit verunsichern Sie die Bevölkerung. Sie be-schädigen Ihren Finanzminister. Sie verprellen die euro-päischen Partner, indem Sie ihnen die kalte Schulter zei-gen. Mit Ihrem Verhalten kündigen Sie die europäischeSolidarität auf.
Sie brechen mit der Tradition der deutschen Europa-politik all Ihrer Vorgänger. Sie isolieren Deutschland inEuropa.Dies alles, Frau Bundeskanzlerin, sind keineswegsmoralisierende Vorhaltungen. Ökonomischer Sachver-stand müsste Ihnen klarmachen, dass Sie mit Ihrem Hinund Her die Spekulationsjongleure stärken. Der Devi-senmarkt interpretiert die von Ihnen genährten Spekula-tionen bereits als Schwäche des Euro. Wenn es so wei-tergeht, wird bald nicht nur Griechenland Hilfebenötigen.
Auch Portugal ist bereits im Visier der Spekulanten.Die Stabilität der Eurozone liegt im ureigenen deut-schen Interesse.
Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten beide, dassdas Wohlergehen der Europäischen Union auch Wohl-stand für Deutschland bedeutet. Deutschlands Interessenkönnen nicht gegen die Interessen der EU gestellt wer-den. Die wiederholt vorgetragene Forderung der Bun-desregierung, ein Mitgliedsland gegebenenfalls aus derEurozone auszuschließen, widerspricht dem EU-Vertrag.Die Diskussion über einen möglichen Rausschmiss mussso schnell wie möglich beendet werden, um Schlimme-res zu verhindern.
Statt zu spalten, sollte die Bundesregierung konstruktiveVorschläge machen, wie weiteren Wirtschafts- und Fi-nanzkrisen in der EU vorgebeugt werden kann und wiesolche Krisen gegebenenfalls gemanagt werden sollen.Das Ziel muss sein, Heterogenität zu verringern, Innova-tionen voranzubringen, die Produktivität nachhaltig zusteigern und die Kaufkraft zu stärken. Nur so können wirwirtschaftliche Ungleichgewichte verringern und ge-meinsam stark sein.Frau Bundeskanzlerin, wir sollten uns nicht vom Au-ßenminister von Luxemburg sagen lassen müssen, dassdie EU eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wer sollte diesbesser wissen als wir Deutschen? Frau Merkel, greifenSie die Initiative des Präsidenten des Europäischen Ra-tes, Van Rompuy, des spanischen MinisterpräsidentenZapatero und des Vorsitzenden der Eurogruppe, Juncker,auf und werden Sie Ihrer Verantwortung in und für Eu-ropa und Deutschland gerecht.Danke schön.
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburgerfür die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitder Diskussion über die Strategie Europa 2020 fürWachstum und Beschäftigung werden die Lehren aus dergescheiterten Lissabon-Strategie gezogen. Das ist gut so.Bei der Lissabon-Strategie hatte man sich zu viel auf zuvielen Gebieten vorgenommen, vor allen Dingen auf Ge-bieten, auf denen die EU keine eigene Kompetenz hat.Damit hat man der europäischen Integration keinen Ge-fallen getan.Deshalb ist es gut, dass der Schwerpunkt jetzt aufSchlüsselbereiche gelegt wird, dass weniger Ziele, dafüraber erreichbare Ziele definiert werden. Es ist auch gut,dass eine Koordinierung erfolgt. Genauso wichtig ist esaber, dass dort, wo die Mitgliedstaaten die Kompetenzund die Verantwortung haben, weiter die Mitgliedstaatenhandeln.
Mit Blick auf die Diskussion in den letzten Tagen istfestzustellen, dass das Ziel nicht die Konvergenz derMitgliedstaaten in Richtung des kleinsten gemeinsamenNenners sein kann. Die europäischen Volkswirtschaftenbilden kein nach außen abgeschlossenes Nullsummen-spiel, wo sich die Besten nur zurücklehnen müssten, da-mit es allen anderen besser geht. Wir befinden uns in ei-nem internationalen Wettbewerb. Deshalb ist es wichtig,dass wir deutlich machen: Niemandem in Europa ist ge-holfen, wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-lands verschlechtert.
Deshalb werden wir weiter daran arbeiten, die Wettbe-werbsfähigkeit dieses Landes zu stärken.Die Grundlage unseres Wohlstands sind gut ausgebil-dete und motivierte Menschen, die Produkte und Dienst-leistungen in hoher Qualität erfinden und erzeugen bzw.bereitstellen.Unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern au-ßerhalb der EU hängt wesentlich von Bildung, For-schung und Innovation ab. Deshalb ist es gut, dass hierZiele definiert werden, zum Beispiel, 3 Prozent desBruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklungaufzuwenden. Wir haben uns in Deutschland vorgenom-men, bis zum Jahr 2015 10 Prozent für Bildung und For-schung auszugeben.Wir sind der Überzeugung, dass es mehr Investitionenin die Köpfe von Menschen bedarf. Das haben wir schonjetzt im Haushalt 2010 umgesetzt, indem wir 750 Millio-nen Euro zusätzlich für Bildung und Forschung einge-stellt haben, und wir werden im Laufe dieser Legislatur-periode 12 Milliarden Euro zusätzlich in diesen Bereichinvestieren, weil wir überzeugt sind, dass das ein Schlüs-selbereich ist, und weil wir der Auffassung sind, dass wirauf dem Weg zu Innovationen in der Bildung einenSchwerpunkt setzen müssen.
Wir können es uns nicht erlauben, kreative Köpfe aufdem Bildungsweg zu verlieren. Deshalb setzen wir alsKoalition diese Schwerpunkte, und sie sind richtig.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: FrauBundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung,wenn Sie nicht dafür eintreten, dass ein pauschales EU-Ziel zur Quote von Hochschulabsolventen eingeführtwird. Ich sage das ganz ausdrücklich mit Blick beispiels-weise auf den sehr speziellen Studiengang der Berufs-akademien, der sehr praxisorientiert ist und eine exzel-lente Ausbildung darstellt. Das muss auch entsprechendgewertet werden.In der bildungspolitischen Werteskala ist das deutscheSystem der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Eu-ropa zu niedrig eingeordnet. Wir sind der Meinung, dasses eine Gleichwertigkeit der betrieblichen und der aka-demischen Ausbildung gibt. Wenn ich mir die hochwer-tige Meisterausbildung in Deutschland anschaue, dannwird klar, dass wir erwarten müssen, dass das auch inEuropa den entsprechenden Respekt und die entspre-chende Beachtung findet.
Zur Energie- und Klimapolitik will ich hier nur einekurze Bemerkung machen. Es ist gut, dass das in derStrategie EU 2020 erstmals aufgenommen worden istund vorangetrieben werden soll. Wir haben uns hier inDeutschland als Koalition sogar ehrgeizigere Ziele ge-setzt, Frau Schwall-Düren,
und wir werden die Erreichung dieser Ziele durch dasEnergiekonzept und die Überprüfung des integriertenEnergie- und Klimaprogramms in Deutschland entschie-den voranbringen.Wir haben in den letzten Tagen eine zentrale Diskus-sion über den Stabilitätspakt geführt; das ist jetzt auchin der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zuRecht angesprochen worden. Es ist ja gefordert worden,den Stabilitätspakt mit der EU-Strategie 2020 zu ver-knüpfen. Wir sind froh, dass es gelungen ist, das zu ver-hindern. Der Stabilitätspakt darf nicht aufgeweicht wer-den.
Wir haben bei der Einführung des Euro für diesenStabilitätspakt gekämpft, und wir werden ihn weiter mitaller Macht verteidigen. Ich denke, dass es richtig ist,dass alle Mitgliedstaaten zunächst einmal ihre Hausauf-gaben machen müssen. Der Kern dabei sind solideStaatsfinanzen. Diese Koalition hat sich genau das auchfür Deutschland vorgenommen.
Der Präsident der Europäischen Kommission,Barroso, hat geäußert: Ohne Solidarität gäbe es keineStabilität. – In dieser Woche fand der Besuch des Präsi-denten des Europäischen Parlaments, Herrn Buzek, statt,
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Birgit Homburger
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der in unserer Fraktion mit uns diskutiert und deutlichgemacht hat, dass Solidarität Verantwortung erfordert.Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Wirbegrüßen die Schritte, die Griechenland jetzt eingeleitethat.Ich sage aber auch sehr deutlich, dass es wichtig ist,dass Hilfen eben nicht „ins Schaufenster gestellt“ wor-den sind, sondern dass die Bundeskanzlerin und dieBundesregierung in den Verhandlungen auf europäischerEbene deutlich gemacht haben, dass wir erwarten, dassGriechenland eigene Anstrengungen unternimmt. DieseAnstrengungen wollen wir unterstützen, und wir begrü-ßen sie auch.
Frau Schwall-Düren, entgegen Ihrer Analyse ist esnämlich so, dass es durch die Art und Weise, in der dieBundesregierung agiert hat, wieder zu mehr Stabilitätgekommen ist. Die Bundesrepublik Deutschland spielteine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung der Krise.Das ist wichtig. Deshalb hat die Bundeskanzlerin beidieser Verhandlungsstrategie ganz ausdrücklich unsere
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sollte am Ende ein Ergebnis stehen, bei dem der IWF
und damit auch die spezifischen Kompetenzen und Fä-
higkeiten des IWF mit ins Boot geholt werden, dann fin-
det das ausdrücklich die Unterstützung unserer Fraktion
und – ich glaube – auch der gesamten Koalition.
Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, möchte ich noch eine Bemerkung machen: Ich bin
davon überzeugt, dass über das hinaus, was jetzt bespro-
chen worden ist, bei der Bewältigung der Finanz- und
Wirtschaftskrise auch europäisch gehandelt werden
muss. Wir als Koalition haben in dieser Woche eine be-
merkenswerte Initiative auf den Weg gebracht und deut-
lich gemacht, dass diejenigen, die die Krise verursacht
haben, auch dafür geradestehen und an den Kosten betei-
ligt werden müssen.
Wir sind der Auffassung, dass es weiterer Initiativen
bedarf. Es muss auf europäischer Ebene auch über die
Frage der Produktaufsicht und Produktregulierung ge-
sprochen werden. Da, wo wir europäisch handeln kön-
nen, sollten wir das auch tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist eine
neue Verantwortungsethik in der Wirtschaft. Das wollen
wir. Denjenigen, die die Verantwortung tragen und die
Entscheidungsmöglichkeiten haben, muss klar sein, dass
sie auch das Risiko tragen und die Verantwortung über-
nehmen müssen. Das durchzusetzen, ist eine ganz we-
sentliche Aufgabe, die sich diese Koalition vorgenom-
men hat.
Wir werden uns dabei nicht auf Deutschland beschrän-
ken, sondern auch auf europäischer Ebene Initiativen er-
greifen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Homburger, an Ihnen schätze ich am meisten, dass die-
ses Pult hochgefahren werden muss, wenn Sie vor mir
gesprochen haben. Das ist bei mir so selten der Fall.
Herr Gysi, wenn wir Ihnen damit eine besondere
Freude machen können, würde ich mich darum bemü-
hen, dass wir das vor Beginn einer Rede von Ihnen prin-
zipiell so einführen.
Dann machen Sie das öfter.
Aber bitte ziehen Sie mir das nicht von der Redezeit ab.Ich habe gehört, Frau Bundeskanzlerin, dass beimEU-Gipfel die Verabschiedung eines Programms mitdem Titel „Europa 2020 – eine Strategie für intelligen-tes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ vorgese-hen ist. Dann ist mir eingefallen, dass es seit demJahre 2000 schon eine Lissabon-Strategie gab. Laut Lis-sabon-Strategie sollte die Europäische Union bis 2010 –daran möchte ich erinnern – zum wettbewerbsfähigsten,dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum derWelt werden. Nun hat auch die EU-Kommission festge-stellt, dass von diesen Zielen keines erreicht ist. Es wa-ren mehr Arbeitsplätze und ein größerer sozialer Zusam-menhalt versprochen. Davon kann keine Rede sein.Dieser Zehnjahresplan ist gescheitert.
Nun kennen wir beide ja auch die Fünfjahrespläne ausstaatssozialistischen Ländern, die alle gescheitert sind.
Deshalb sage ich: Ihr Vorhaben, einen zweiten Zehnjah-resplan zu starten, wird ebenso scheitern.
Nun sind in dem Programm einige konkrete Zielefestgelegt – Sie haben sie genannt –: die Steigerung derAusgaben für Forschung und Entwicklung, mehr Ausga-ben für Bildung, eine wirksamere Armutsbekämpfung,eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent – diese Quoteliegt in Deutschland jetzt bei 69,4 Prozent, allerdingseinschließlich der gesamten prekären Beschäftigung –,außerdem sind Energie- und Klimaprogramme vorgese-hen.
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3102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Dr. Gregor Gysi
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Deutsch-land wird weder bei der Höhe der Bildungsausgabennoch bei der Armutsbekämpfung konkrete Ziele verfol-gen. – Das lehnen Sie einfach ab. Gleichzeitig sagen Sie,dass man sich auf Schwerpunkte konzentrieren muss.Darf ich das so verstehen, dass Armutsbekämpfungnicht Ihr Schwerpunkt ist? Es wird aber höchste Zeit,dass wir in Deutschland Armut sehr wirksam bekämp-fen.
Ich nenne Ihnen dazu einige Zahlen: In Deutschlandgibt es den größten Niedriglohnsektor aller Industrie-staaten: Er umfasst ein Viertel der Beschäftigten. Hinzukommen die prekären Jobs: die 400-Euro-Jobs und an-dere Minijobs, befristete Arbeitsverhältnisse und dieAufstockerinnen und Aufstocker, die eine Vollzeitbe-schäftigung haben, aber so wenig verdienen, dass siezum Sozialamt geschickt werden müssen. Es ist indisku-tabel, was wir diesbezüglich in Deutschland haben.
Der Niedriglohnsektor umfasst, wie gesagt, ein Vier-tel der Beschäftigten. Das betrifft 9 Millionen Menschenin Deutschland. Als prekär Beschäftigte haben wir5 Millionen in Teilzeit, 2,6 Millionen in Minijobs und500 000 in Leiharbeit. Das sind insgesamt fast 7,7 Mil-lionen Beschäftigte. 2,7 Millionen haben eine befristeteBeschäftigung. 2 Millionen unserer Kinder leben in Ar-mut. Und dann sagen Sie, Armutsbekämpfung sei nichtIhr Schwerpunkt. Ich finde, das muss der Schwerpunktder Politik einer Bundesregierung werden.
Im Übrigen hat die Armut von heute später Folgen – Siekennen doch die Studie –: Es ist festgestellt worden, dassdie Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundeslän-dern in wenigen Jahren im Durchschnitt unter demGrundsicherungsniveau liegen werden, weil es jetzt soviel prekäre Beschäftigung gibt.Es ist festgestellt worden, dass wir in Deutschland imVergleich zu allen anderen Euro-Staaten die niedrigstenLohnstückkosten haben. Das wird durch Lohndumpingerreicht, was übrigens auch den Handel der anderen Län-der deutlich erschwert.Kommen wir zur Bildung. Im Vergleich zu den ande-ren EU-Ländern geben wir in diesem Bereich jährlich40 Milliarden Euro zu wenig aus, Frau Bundeskanzlerin.Wieso wollen Sie sich hier nicht auf Zahlen festlegen?Wenn wir etwas brauchen, dann sind es höhere Ausga-ben für Bildung, eine bessere Ausbildung und vor allenDingen endlich Chancengleichheit in der Bildung. Da-von sind wir meilenweit entfernt.
Ich sage ganz deutlich, auch Ihnen von der FDP: Wirsind mit unserem Schulsystem im 19. Jahrhundert ste-cken geblieben.
Wir haben 16 Bundesländer und 16 verschiedene Schul-systeme. Das finden Sie toll und nennen es Wettbewerb.Ich sage Ihnen: Das ist eine Benachteiligung von Kin-dern je nach dem zufälligen Geburtsort. Das ist nichthinnehmbar.
– Sie können noch so viel herumbrüllen. – Ich möchteim Unterschied zu Ihnen, dass wir endlich ein Top-Bil-dungssystem bekommen, und zwar von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Ich möchte, dass alle Kinderdie gleiche Chance auf eine sehr gute Ausbildung haben,auch das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin, das Sie ausgrenzen.
Das ist der Punkt: Sie machen reine Elitebildung.Wir müssen die soziale Ausgrenzung in der Bildungüberwinden. Insofern hätten Sie sich durchaus auf einkonkretes Ziel einlassen sollen.Was ist wirtschaftspolitisch vorgesehen? Wirtschafts-politisch ist vorgesehen, mit der Lissabon-Strategie wei-terzukommen: Flexibilisierung, Deregulierung, Privati-sierung und Liberalisierung. Das alles hat uns in dieKrise geführt.
Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerung, sondern ma-chen einfach so weiter.Spannend finde ich auch, wie Sie Wachstum errei-chen wollen. Sie schlagen zwei Wege vor: erstens Aus-stieg aus dem Konjunktur- und Wachstumsprogrammund zweitens Schuldenabbau über strenges Sparen. Dasist aufregend. Was passiert denn da? Wenn wir aus denKonjunktur- und Wachstumsprogrammen aussteigen,gibt es keine staatlichen Investitionen. Wenn es keinestaatlichen Investitionen gibt, gibt es weniger Konjunk-tur und weniger Wachstum. Wie Sie damit Wachstumbeschleunigen wollen, ist ein Geheimnis, das Sie unsererBevölkerung noch verraten müssen.
Wenn Sie bei den Renten, bei Hartz IV und den ande-ren Sozialleistungen sparen wollen, dann reduzieren Siedie Kaufkraft. Wenn Sie die Kaufkraft reduzieren, wirdweniger eingekauft, und es werden weniger Dienstleis-tungen in Anspruch genommen. Dann gehen kleine undmittlere Unternehmen pleite, und die Zahl der Arbeitslo-sen steigt. Dann haben Sie wieder höhere Ausgaben undaußerdem viel weniger Steuereinnahmen.Die Unlogik ist nicht mehr zu bremsen.
Wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann brauchenSie Investitionen und mehr soziale Gerechtigkeit, also
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3103
Dr. Gregor Gysi
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genau das Gegenteil davon. Die gegenteiligen Pro-gramme sind schon alle gescheitert.
– Ja. – Ich sage Ihnen noch etwas: Die Reallöhne sind inDeutschland – und zwar nur in Deutschland – im Ver-gleich zu allen anderen Industrieländern um 8 Prozentgesunken. Glauben Sie, dass das unsere Wirtschaft vo-rangebracht hat? Überhaupt nicht. Im Gegenteil, es hatviele kleine und mittlere Unternehmen ruiniert. Sie ge-hen einen völlig falschen Weg.Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, fordern wir einegrundlegende Überarbeitung der Strategie Europa 2020.Es muss um die Schwerpunkte Armutsbekämpfung, Bil-dung, Beschäftigung und sozialer Ausgleich gehen. Andiesen Zielen sollte Europa unbedingt festhalten undendlich etwas in diese Richtung tun.
Jetzt komme ich zu Griechenland und damit auch zurEuro-Zone. Ich kann mich ja noch daran erinnern – HerrBundestagspräsident, das wollte ich Ihnen auch gerneeinmal erzählen –, dass wir hier saßen und Schilder hat-ten – damals flogen wir aber noch nicht raus –, auf denen„Euro – so nicht“ stand. „Euro – so nicht“ war eine klugeFormulierung; wir haben nämlich nicht „Euro – nein“gesagt, sondern wir haben gesagt: erst die politischenund ökonomischen Voraussetzungen schaffen und dannden Euro einführen. – Aber alle anderen waren jaschlauer, und jetzt haben wir mit Griechenland genaudas Beispiel, dass es so nicht geht und dass es nicht or-dentlich vereinbart war.Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie zu Recht daraufhinweisen, dass die griechische Regierung eine Mitver-antwortung trägt und dass sie in diesem Umfange selbst-verständlich auch verantwortlich gemacht werden muss.Aber jetzt sage ich Ihnen: Die wirklichen Gewinner derKrise um Griechenland sind wieder die Spekulanten.
Hierzu würde ich gern erklären – das muss man aucheinmal den Leuten erklären –, was es mit einer Kredit-ausfallversicherung auf sich hat. Es gibt Leute, die einenKredit gewähren und sich dann für den Fall versichern,dass sie den Kredit nicht zurückgezahlt bekommen; dannbekommen sie etwas von der Versicherung. Dies findeich ja noch nachvollziehbar. Dann gibt es aber noch einezweite Gruppe – das muss man auch erklären –, die Fol-gendes macht: Die geben gar keinen Kredit, sondernschließen mit der Versicherung eine Wette dergestalt ab,dass sie sagen: Ich glaube, der Kredit wird nicht zurück-gezahlt. – Wenn sie mit ihrem Wettangebot recht haben,bekommen sie dafür Geld. Das ist die absurdeste Speku-lation, die man sich vorstellen kann: ohne jede Wirt-schaftsleistung, nichts steckt dahinter.
Dies wird jetzt forciert. Das wäre so, als könnte einBrandstifter bei einer Versicherung eine Wette abschlie-ßen, die besagt: Das Haus wird in Kürze brennen. Dannzündet er es selber an und kriegt dafür 1 Million. SagenSie mal, wo leben wir denn hier eigentlich?
– Wenn wir Glück haben, kriegt er neben dem Geld auchnoch Knast; aber da müssen wir schon sehr viel Glückhaben. Herr Kauder, nehmen Sie dazu doch einmal Stel-lung.Leerverkäufe sind nichts anderes als eine Wette. Ichsage: „Die Kurse fallen“, oder: „Die Kurse steigen“, unddann bekomme ich Geld, wenn ich recht hatte. Sie hattendie Leerverkäufe verboten. Warum, Herr Schäuble, ha-ben Sie sie denn wieder erlaubt? Das war doch vernünf-tig. Jetzt haben Sie angekündigt, sie wieder zu verbieten.Ja, wann denn? Machen Sie es doch endlich mal! Wirmüssen raus aus der Spekulation, wenn wir aus den Kri-sen raus wollen.
Wie könnte man Griechenland helfen? Sie verweigernsich ja der Hilfe für Griechenland, was ich für völligfalsch halte, weil es auch Europa und uns mit nach untenzieht. Es gibt folgenden Weg: Wir müssen Griechenlandzinsgünstige Darlehen der EU anbieten. Machten wirdies, wäre der Weg für die Spekulanten schon versperrt,weil dann deren hohe Zinsen nicht mehr aufgehen wür-den. Dann müsste man einen Teil dieser Kredite auch garnicht mehr geben, weil die Spekulation beendet ist. So-weit man Kredite gibt, bekommt man das Geld mit Zin-sen wieder zurück. Was soll denn daran eine Katastrophesein? Warum fällt es Ihnen so schwer, diesen Weg zu ge-hen, um so schnell wie möglich aus dieser spezifischenKrise herauszukommen?Dann haben Sie gesagt: Jetzt sollen endlich einmaldie Verantwortlichen der Banken, die ja das Ganze ange-leiert haben, mit einer Bankenabgabe tatsächlich zurVerantwortung gezogen werden. – Wir haben Ihnen hiervorgeschlagen, den Weg von Obama zu gehen. Wenn Sieden Weg von Obama gehen würden, hätten wir eineMehreinnahme von 9 Milliarden Euro. Aber das trauenSie sich ja hinten und vorne nicht. Sie machen so einkleines „Abgäbelchen“ und wollen gerade einmal1 Milliarde einnehmen. Hinzu kommt, dass Sie dieseAbgabe auch noch von den Sparkassen und der genos-senschaftlichen Raiffeisenbank verlangen, was eine Un-verschämtheit ist; sie haben weder direkt noch indirektirgendetwas vom Staat erhalten, sie sind auch gar nichtdaran beteiligt. Nein, das müssen schon die DeutscheBank und die Commerzbank und die anderen Bankenbezahlen.
Aber ich sage Ihnen noch einmal: Ihr Weg ist nicht ein-mal ein Neuntel dessen wert, was Obama diesbezüglichvorgeschlagen hat.Die Obama-Regierung macht übrigens noch etwas– das haut mich ja schon fast um –: Sie hat jetzt bei119 Managern
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3104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Dr. Gregor Gysi
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– ja, hören Sie mal genau zu – vom Versicherungskon-zern AIG, von den Autobauern Chrysler und GeneralMotors die Vergütungen, also die normalen Einkünfte,um 15 Prozent und die Sondervergütungen um ein Drit-tel gesenkt. Sie hätten ja nicht einmal den Mumm, daranzu denken, Ackermanns Vergütung zu kürzen; lieber la-den Sie ihn viermal zum Essen ein. Aber ich sage Ihnen:Das andere ist der richtige Weg.
Nun weiß ich ja, Frau Bundeskanzlerin, dass Siekeine linke Regierung führen.
Herr Kollege.
Ich muss zum Ende kommen. Das ist sehr bedauer-
lich; ich mache es aber.
Insofern sind Sie nur sehr begrenzt zu vernünftiger
Politik fähig. Wenn wir Ihnen Obama-Politik vorschla-
gen, dann gehen wir doch schon sehr weit; wir nehmen
schon Rücksicht auf Ihre Situation. Obama ist nämlich
vieles, aber kein Linker.
Machen Sie es endlich: Helfen Sie in dieser Krise
ganz anders! Denken Sie an die Bekämpfung von Ar-
mut! Denken Sie endlich einmal an die Chancengleich-
heit im Bildungsbereich! Schaffen Sie mehr Beschäfti-
gung! Organisieren Sie nicht die Wiederholung der
Krise! Leider sind Sie dabei.
Danke.
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Agenda 2020, die heute im Rat besprochenwird, ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die euro-päischen Staaten im Wettbewerb mit anderen Ländernvorankommen. Dabei ist Bildung ein zentrales Thema.Länder, die rohstoffarm sind – davon gibt es viele in Eu-ropa –, die keine Bodenschätze haben, müssen dafür sor-gen, dass vor allem junge Menschen etwas in den Köp-fen haben. Deshalb ist diese Strategie genau richtig.
Herr Gysi, ich weiß, dass Sie meinen, zu allem und zujedem einen Beitrag abliefern zu müssen. Das ist Ihr gu-tes Recht. Sie sagen aber auch Dinge, die Sie entlarven,die nicht in Ordnung sind. Sie stellen sich hier an dasRednerpult und sagen, dass Sie für Chancengleichheitim Bildungswesen sind; aber die Linke trägt in Berlindie Mitverantwortung für eine der größten Unsinnigkei-ten, für die Verlosung von Plätzen an den Gymnasien.
Ich kann nur sagen: Wer das Schicksal von jungen Men-schen dem Los unterwirft, der hat jedes Recht verloren,von Chancengleichheit im Bildungswesen zu sprechen.
Ich bin der Bundeskanzlerin außerordentlich dankbar,dass sie darauf hingewiesen hat, dass Europa nur dannmit seinen Strategien vorankommt, wenn sich Europa– die Europäische Kommission und der Rat – auf zen-trale, wichtige Punkte konzentriert. Wir haben manch-mal den Eindruck, dass sich Europa darin verliert, mi-krokosmisch kleine Detailfragen regeln zu wollen. DieseFragen können wir schon selber regeln. Stattdessenbrauchen wir die große Linie, die große Ansage. FrauBundeskanzlerin, deswegen ist es richtig, wenn Sieheute im Rat dem Subsidiaritätsprinzip, auf das wir hierim Deutschen Bundestag großen Wert legen, zur Geltungverhelfen.
Ich unterstütze besonders, dass die EuropäischeUnion neben der Bildung bei einem anderen Thema Füh-rung zeigen will – es steht in den Papieren zurAgenda 2020 –: Wir müssen den Wettbewerb mit Chinaund Japan vor allem um die Vorreiterrolle bei der Elek-tromobilität aufnehmen.
Der Automobilbereich wird auch in Zukunft eineSchlüsseltechnologie sein. Wir müssen doch wollen,dass das Auto der Zukunft, das modernste Auto derWelt, dass die Elektromobilität aus Europa kommt, nichtaus Japan oder China. Deswegen ist es notwendig, dasswir alle Anstrengungen unternehmen, hier voranzukom-men.
Ein Blick in die Strategie Europa 2020 zeigt, dassdort der richtige Weg beschrieben wird. Der Rat wirdheute Abend den Vorschlag der Europäischen Kommis-sion verabschieden: Um voranzukommen – genau das istdas Thema –, muss die Europäische Union nicht be-stimmte Antriebe und Technologien vorschreiben. Mirhat sehr gefallen, was im Text steht. Wir werden in Eu-ropa die gemeinsamen Standards für Elektromobilitätentwickeln und damit den Marktzugang in ganz Europaöffnen. Das ist der richtige Weg, den Europa beschreitenmuss.
Gerade das Festsetzen der Standards wird für die Zu-kunft der Elektromobilität entscheidend sein. Wir müs-sen den Standard setzen; wir dürfen nicht zulassen, dasser von anderen gesetzt wird. Wenn sich Europa auf Stan-dards verständigt hat, muss es relativ schnell mit anderenLändern in der Welt, mit Japan und mit China, darüber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3105
Volker Kauder
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reden, wie einheitliche Standards erreicht werden kön-nen. Dafür hat Europa die Kompetenz. Ein einzelnesLand kann das nicht erreichen.Ein weiteres Thema, das in der EU-Strategie 2020sehr deutlich angesprochen wird, ist das Thema Energie.Energiesicherheit und Energieversorgung zu akzepta-blem Preis werden ganz entscheidend für das Wirt-schaftswachstum sein, das dieses Papier als Ziel enthält.Zum einen geht es um die Sicherheit, über die notwen-dige Energie verfügen zu können; zum anderen muss daszu einem wettbewerbsfähigen Preis möglich sein. Waswir uns in der Koalition vorgenommen haben, nämlichdieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der erneuerbaren Ener-gien zu machen, wird auch in diesem Bericht zugrundegelegt.Aber es geht beim Thema Energie immer auch darum,klimapolitische Ziele zu erreichen. Deswegen kann ichnur sagen: Wir wollen den Bereich der erneuerbarenEnergien ausbauen – das ist in dem Konzept richtig dar-gestellt –; wir wollen unsere Klimaziele erreichen – auchdas ist richtig –, und deswegen wird die Kernenergienoch eine Zeit lang als Brückentechnologie eingesetztwerden müssen.
Wer den Menschen etwas anderes erzählt, sagt ihnen et-was Falsches.
Deswegen werden wir über dieses Thema in der Koali-tion sprechen.Selbstverständlich ist es ein Thema, dass wir in Eu-ropa Armut bekämpfen wollen.
Ich bin der Meinung, dass das Aufgabe der Nationalstaa-ten ist. Was ich überhaupt nicht verstehe, Herr KollegeGysi, ist Folgendes: Wenn wir, Bund und Kommunen, indiesem Land Jahr für Jahr für die Grundsicherung, fürHartz IV über 50 Milliarden Euro einsetzen, dann istdies Teil der Armutsbekämpfung. Deshalb kann esdoch nicht sein, dass wir, wenn wir Menschen finanziellunterstützen und sie dadurch aus der Armut herausholen,mit dem Satz konfrontiert werden: Je mehr Geld in So-zialpolitik investiert wird, desto stärker steigt dieArmut. – Einen größeren Unsinn habe ich noch nie ge-hört, Herr Gysi, um das einmal klar und deutlich zu sa-gen.
Frau Bundeskanzlerin, wir unterstützen Sie auch – dieKollegin Homburger hat es gesagt – in Ihrem Bemühen,die Stabilität in Europa zu bewahren. Von zentraler Be-deutung ist, dass die Menschen in unserem Land sich da-rauf verlassen können, dass das, was wir bei Einführungdes Euro gesagt haben, auch heute noch gilt. Der Euro,war damals die Aussage, wird so stark und stabil seinwie die D-Mark. Ich kann nur sagen: Wir haben in jüngs-ter Zeit Entwicklungen erlebt, die sich so nicht wieder-holen dürfen. Deshalb bin ich dankbar für die Aussagendieser Regierung. Es war nicht in Ordnung – und hat deneinen oder anderen in der Europäischen Union vielleichtdazu bewegt, Dinge zu machen, die nicht hätten gemachtwerden dürfen –, dass ausschließlich aufgrund einerpolitischen Entscheidung der rot-grünen Regierung imJahr 2004 die instabilen Verhältnisse im deutschen Bun-deshaushalt nicht zu einer Rüge durch Europa geführthaben.
Man hat mit einer politischen Entscheidung gesagt: Wirlassen uns von Europa in Sachen Stabilität nichts vor-schreiben. – So etwas darf es nicht noch einmal geben.
Ich kann mich noch sehr genau an die Aussagen vonHerrn Eichel und dem damaligen BundeskanzlerGerhard Schröder erinnern. Deswegen ist es richtig, dasswir in Europa formulieren: Wir wollen eine unabhängigeZentralbank. Wir wollen die Stabilität des Euros. Wer indie Europäische Gemeinschaft und in die Euro-Zoneaufgenommen werden will, muss die Voraussetzungendafür zu 100 Prozent erfüllen.Jetzt zum Fall Griechenland. Allein die Tatsache,dass die Bundesregierung klar und deutlich gesagt hat,Griechenland müsse die Voraussetzungen dafür schaf-fen, dass es wieder zu einer wirtschaftlichen Gesundungkommt, hat dazu geführt, dass in Griechenland enormeSparanstrengungen unternommen wurden. Dies erken-nen wir ausdrücklich an.
Dieser Weg muss weitergegangen werden. Wir unterstüt-zen es, dass, solange Griechenland nicht konkret nach fi-nanzieller Unterstützung gefragt hat, auch keine Antwortdarauf gegeben werden muss. Wir sollten die Fragen be-antworten, die gestellt werden, nicht die, die möglicher-weise nie gestellt werden.
Wenn Griechenland in eine besonders schwierige Lagekommt, dann kann als Ultima Ratio mit dem Internatio-nalen Währungsfonds und mit bilateralen Hilfen Unter-stützung angeboten werden. So weit sind wir aber nochgar nicht. Deswegen rate ich uns allen dringend, dasThema nicht jeden Tag in Interviews zu befeuern, so-lange es nicht ansteht.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstüt-zung.Die Frage ist: Was soll in Zukunft für den Fall ge-schehen, dass Probleme auftauchen? Ich glaube, dass wirhierüber sehr gewissenhaft nachdenken müssen. Es istsicher richtig, ein Instrument für die Probleme zu schaf-
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Volker Kauder
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fen, die man beim Start der Euro-Gemeinschaft nochnicht gesehen hat, um in besonderen Fällen zu helfen.Mit der Schaffung eines solchen Instruments sind wireinverstanden. Aber eines möchte ich ausdrücklich sa-gen, damit dies bedacht wird, wenn darüber diskutiertwird: Wir möchten nicht, dass als Lösung solcher Pro-bleme das Instrument eines Finanzausgleichs auf euro-päischer Ebene geschaffen wird. Das wollen wir auf kei-nen Fall.
Dies würde nicht zu einer Stärkung der Stabilität führen.Vielmehr würden alle nach dem Motto handeln: Wirkönnen machen, was wir wollen. Einer wird uns schonhelfen. – Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen wiruns heute.Ich komme zum Schluss. Frau Schwall-Düren, Siehaben gesagt – das unterstütze ich ausdrücklich –: Wirsehen in Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sehenin Europa unsere Zukunft. Wir wissen, dass Europaschon Großes geleistet hat. Allein die Tatsache, dass esauf europäischem Boden keinen Krieg mehr gibt, istschon einen Dank an dieses gemeinsame Europa wert.
Jetzt geht es darum, diesem Europa die Kraft zu geben,in wirtschaftlicher, kultureller und auch sozialer Hinsichtdie notwendigen Veränderungen zu gestalten. Dabeikommt es darauf an, dass zunächst einmal die National-staaten ihre Hausaufgaben machen und dass Europa dieDinge regelt, die ein Einzelner nicht leisten kann.Wenn dieser Grundsatz – Europa ist für die großenDinge zuständig, alle anderen Dinge bleiben in der Ver-antwortung der Nationalstaaten – weiter Maßstab seinwird, dann hat dieses Europa eine gute Zukunft.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Gregor Gysi.
– Was stöhnen Sie denn gleich? Sie wissen doch noch
gar nicht, was ich sagen werde.
Herr Kauder, zunächst einmal möchte ich Ihnen wi-
dersprechen. Sie haben behauptet, den größten Unsinn in
Ihrem Leben hätten Sie von mir gehört. Das glaube ich
Ihnen nicht. Sie müssen in Ihrer Partei schon größeren
Unsinn gehört haben. Darauf würde ich sogar eine Wette
abschließen.
Jetzt zum Ernst. Sie haben etwas Falsches über die so-
genannte Losentscheidung bei der Vergabe von Gym-
nasialplätzen in Berlin gesagt, das ich richtig stellen
möchte. Die Situation ist eine völlig andere. Alle Schü-
ler, die für das Gymnasium geeignet sind, bekommen in
Berlin auch einen Platz an einem Gymnasium. Wir ha-
ben jedoch das Problem, dass bestimmte Schulen im Ge-
gensatz zu anderen Schulen überlaufen sind. Deshalb
können nicht alle Schülerinnen und Schüler das Gymna-
sium besuchen, das sie gern besuchen wollen. Der Senat
hat sich für ein Losverfahren entschieden und gesagt:
Wir mischen uns nicht ein. Dann gibt es keine Beste-
chung. Dann gibt es keine Beziehungsfragen. –
– Vielleicht werden wir es korrigieren. Dann wird es
aber schwieriger.
– Da gibt es gar keinen Grund, zu lachen. Hören Sie
doch erst einmal zu!
Wenn ein Schüler Pech beim Losverfahren hat, dann
geht er selbstverständlich an ein anderes Gymnasium
und bekommt dort seine gymnasiale Ausbildung und
kann das Abitur machen. Das müssen Sie bitte immer
dazusagen. Das machen Sie aber nicht.
Jetzt werden wir vielleicht wegen Ihrer Kritik einen
anderen Weg gehen und Kommissionen bilden. Ich sage
Ihnen aber, dass dann die Leute kommen und sagen wer-
den: Wieso ist gerade meine Tochter nicht dabei? Warum
die anderen? Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegan-
gen? – Ich weiß gar nicht, ob das wirklich gerechter ist.
Bitte sagen Sie das aber beim nächsten Mal dazu und er-
wecken Sie nicht den Eindruck, als ob Schülerinnen und
Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, in Berlin
keinen Platz an einem Gymnasium bekommen; denn das
ist nicht der Fall. Das Los entscheidet nur, ob sie zu die-
ser Schule gehen oder eventuell zu einer anderen Schule
gehen müssen. Das ist in Berlin durchaus machbar.
Ich wäre auch froh, wenn alle Schüler die Schule be-
suchen könnten, die sie besuchen wollen. Sie wissen
aber, dass wir noch nicht so weit sind, weil Sie zu wenig
Geld für Bildung zur Verfügung stellen.
Herr Kollege Kauder, bitte.
Herr Kollege Gysi, es ist bezeichnend für Ihre Einlas-sung zu diesem Thema, dass Sie nicht darüber sprechen,was die Ursache für dieses nicht akzeptable Losverfah-ren ist. Das ist nämlich eine Qualitätsfrage. Wenn dieSchulen in Berlin die Qualität hätten, die sie eigentlichhaben müssten, dann käme es überhaupt nicht zu diesemAusleseverfahren. Darüber sollten Sie einmal reden.
Sie liefern die Qualität nicht ab.
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Volker Kauder
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Herr Kollege Gysi, im Rahmen der Föderalismusre-form I haben wir klare Verabredungen getroffen. Dabeiist gesagt worden: Der Bund soll sich nicht um die Bil-dung kümmern. Das machen die Länder. – Deswegenhaben die Länder diese Aufgabe zu erfüllen, Herr Kol-lege Gysi.
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Trittin für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
jetzt gelernt, dass in Baden-Württemberg alle Schülerin-
nen und Schüler genau die Schule besuchen, die sie be-
suchen wollen.
Ich habe ein Weiteres gelernt, lieber Herr Kauder.
Wenn Sie über die Föderalismusreform I reden, dann
sollten Sie den Mut haben, zu sagen: Als wir damals das
Kooperationsverbot bei der Bildung in das Grundgesetz
geschrieben haben, haben wir einen großen Fehler ge-
macht. Das würden wir heute in dieser Form nicht wie-
der machen. – Das wäre ehrlich.
Frau Bundeskanzlerin, die Bild-Zeitung hat Sie in ih-
rer heutigen Ausgabe als Bismarck abgebildet. Nun kann
ich Sie nicht dafür in Haftung nehmen, wie andere Sie
porträtieren. Sie haben aber mit Ihrer Regierungserklä-
rung den ernsthaften Versuch unternommen, dieses Por-
trät argumentativ zu unterfüttern. Da sage ich Ihnen:
Bismarck steht für den organisierten Nationalstaat. Das
gemeinsame Europa war die Überwindung genau dieses
Gedankens des Nationalstaats Bismarck’scher Prägung.
Deswegen sollten Sie als Vorsitzende der Partei von
Konrad Adenauer und Helmut Kohl die Skizzierung als
Bismarck als Kritik und nicht als Ansporn für Ihre Poli-
tik nehmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Bitte.
Ich möchte Ihnen, Herr Trittin, bevor ich meine Frage
stelle, wirklich allerbeste Genesung wünschen. Wir alle
haben Ihre Erkrankung mitbekommen, und ich glaube,
das wünschen Ihnen alle hier.
Sie sind jetzt zwar beim Thema Europa; aber ich habe
mich schon zur Zwischenfrage gemeldet, als Sie beim
Thema Bildung waren. Ich habe dazu eine Frage: Kön-
nen Sie Herrn Kauder vielleicht einmal erklären, wie
groß der Anteil von Kindern, die ein Abitur machen, in
Berlin ist und wie groß der Anteil zum Beispiel in Bay-
ern und Baden-Württemberg ist? Vielleicht können Sie
ihm noch erklären, warum der Anteil in Bayern und Ba-
den-Württemberg so viel kleiner als in Berlin ist.
Lieber Herr Kollege Gysi, wir sind hier – das versteheich durchaus als Antwort auf Ihre Frage – an einem derPunkte der Regierungserklärung von Frau Merkel. Wasist der Grund, warum Sie, Frau Merkel, es verweigern,sich zusammen mit den Ministerpräsidenten in Europaauf quantifizierte und überprüfbare Bildungsziele zu ei-nigen?
Der Grund ist relativ einfach: weil Sie sich mit Ihrer aufSelektion, das heißt auf Ausschluss von Bildungschan-cen beruhenden Bildungspolitik nicht dem europäischenVergleich, zum Beispiel mit Finnland – da muss man garnicht nach Berlin schauen – und anderen Ländern, stel-len wollen. Das ist der Grund, warum Sie an dieser Stelledie EU-Strategie 2020 blockieren.
Das ist auch der Grund, warum die Bild-Zeitung zuRecht dieses Bismarck-Bild von Ihnen gezeichnet hat.Es war jahrelang gute Tradition, dass die Bundesrepu-blik Deutschland in Europa eine antreibende, eine ge-staltende, eine vorwärtstreibende, Europa stärkendeRolle spielte. Was tun Sie im Zusammenhang mit dieserRatssitzung? Sie sind es, die dafür gesorgt hat, dass bei-spielsweise die Aufnahme von Beitrittsverhandlungenmit Island auf Eis gelegt wird. Warum eigentlich? WeilIsland bilaterale Probleme mit den Niederlanden undGroßbritannien hat?
Das kann wohl für Europa und für Deutschland kein Ar-gument sein.
Sie sind es, die quantifizierte Bildungsziele in dieserStrategie verweigert.
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Jürgen Trittin
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Sie haben hier explizit erklärt: Die BundesrepublikDeutschland ist dagegen, das Ziel der Armutsbekämp-fung zum Bestandteil einer gemeinsamen europäischenStrategie zu machen. Ich sage Ihnen: Da kommen wirgenau an den Punkt, warum dieses Europa zurzeit in ei-ner existenziellen Krise ist, einer Krise, die weit über dashinausgeht, was wir im Zusammenhang mit der Aus-einandersetzung um den Verfassungsvertrag erlebt ha-ben. Was passiert denn in Griechenland? Da verbrennenLeute, die sich gegen diese Sparpolitik wehren, inzwi-schen die europäische Fahne. Das ist ungerecht gegen-über Europa; da sind wir wahrscheinlich einer Meinung.Besser wäre es, wenn diejenigen die Fahne der griechi-schen Konservativen verbrennen würden, weil die dergriechischen Bevölkerung die Suppe eingebrockt haben.
– Der Ministerpräsident hieß Karamanlis. Er war Mit-glied Ihrer Schwesterpartei, Herr Kauder. Das müssenSie schon aushalten.
Aber dahinter steckt doch ein viel ernsteres Problem. EinEuropa, das nach außen und gegenüber den Menschen inEuropa den Eindruck erweckt, man kümmere sich um al-les Mögliche, zum Beispiel um Stabilitätskriterien, abernicht begreift, dass die Überwindung von Armut ein ge-meinsames Ziel ist, muss sich doch nicht wundern, wenndie Akzeptanz für dieses Europa mehr und mehr in denKeller geht.
Bei dem, was in den letzten Wochen und Monaten ausIhren Reihen zur griechischen Krise zum Besten gege-ben worden ist, frage ich mich natürlich: Sind wir denneigentlich selber so weit von griechischen Verhältnis-sen entfernt? Ist es nicht so, dass die BundesrepublikDeutschland zur Erreichung des Maastricht-Stabilitäts-kriteriums ein Jahr länger Frist von der EU-Kommissionbekommen hat als Griechenland?
Ist es nicht so – ich schaue zu den Kolleginnen und Kol-legen von den Liberalen –, dass zum Beispiel in Grie-chenland gut verdienende Ärzte gerade einmal10 000 Euro versteuern, und das zu einem maximalenSteuersatz von 40 Prozent. Da muss Ihnen von der FDPdoch das Herz aufgehen.
Sie fordern doch für Deutschland genau die Verhältnisse,die Sie in Griechenland kritisieren. Ich warte jetzt nurnoch auf den Vorschlag aus Ihren Reihen, wir könntendoch Sylt und Helgoland verkaufen, um Ihre Steuerre-form zu finanzieren. Auf diesem Niveau lagen Ihre Vor-schläge zur Behebung der Krise in Griechenland.
Nun will ich gerne konzedieren, Frau Bundeskanzle-rin, dass Sie sich das nicht zu eigen gemacht haben.Aber auch Ihnen, Frau Merkel, kann ich den Vorwurfnicht ersparen, dass Sie die Stammtischmentalität, diesich da ausgetobt hat, mit Ihren Äußerungen verstärktund gestützt haben.
Schlimmer noch: Sie haben damit die Krise in Griechen-land verschärft.
– Nein, das ist eine Tatsache. Es war die deutsche Bun-deskanzlerin, die vorgeschlagen hat, die EU-Verträge sozu ändern, dass man ein Land wie Griechenland auch hi-nausschmeißen könnte. – Sie haben die Reaktion auf deninternationalen Finanzmärkten sehen können: WährendDeutschland für Anleihen heute nur eine Rendite von3 Prozent bieten muss, muss Griechenland 6,5 Prozent,also mehr als das Doppelte, zahlen. Ihre Äußerungen ha-ben den Kurs nach oben getrieben.
Jerzy Buzek hat in den Fraktionen gesagt, in Europa ge-hörten Verantwortung und Solidarität zusammen. Dazusage ich Ihnen: Mit vorsätzlichen, leichtfertigen Äuße-rungen die Kreditbedingungen für Griechenland zu ver-schlechtern, das ist weder verantwortlich noch soli-darisch. Es ist das Gegenteil einer vernünftigeneuropäischen Politik.
Übrigens, niemand aus dem Oppositionslager hat ge-fordert, Griechenland mit Steuergeldern zu unterstützen.
Wir haben ausschließlich gesagt, man müsse Griechen-land über Euro-Bonds die Möglichkeit geben, sich aufdem Kreditmarkt mit dem notwendigen Geld zu versor-gen.
Das tun wir übrigens gegenüber Osteuropa, gegenüberLettland und Ungarn, genauso. Das ist nichts Neues.Was Sie getan haben, ist schlicht und ergreifend, sich derselbstverständlichen Solidarität gegenüber Griechen-land zu entziehen.
Das ist kurzsichtig.
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Jürgen Trittin
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Wir haben übrigens lange von den überschießendenBinnenmarktentwicklungen in Spanien, Portugal undGriechenland profitiert. Auch das ist ein Teil der Wahr-heit. Wenn wir weiterhin in dieser Form exportieren wol-len, dann hat die Volkswirtschaft der BundesrepublikDeutschland ein massives Interesse daran, dass die Bin-nennachfrage im Süden der EU nicht völlig zusammen-bricht. Es ist zwar falsch, uns unsere Exportstärke vorzu-werfen; da stimme ich der Kanzlerin zu. Aber es istgenauso falsch, dazu beizutragen, die Märkte, auf diewir exportieren können, mit dieser Form unsolidarischenVerhaltens zu ruinieren. Auch das ist ökonomisch kurz-sichtig.
Es ist schon bezeichnend, dass der Einzige, der in die-sem Kabinett noch den Mut hat, zu Europa zu stehen,der Bundesfinanzminister ist. Man kann über WolfgangSchäubles Vorschlag eines EWF lange streiten; aber ei-nes bleibt wahr und Herr Schäubles richtiger Gedanke,Frau Bundeskanzlerin, ist doch: Europa muss seine Pro-bleme selber lösen. Europa kann sie nicht an Washingtonoder an den IWF delegieren. Deswegen ist Ihr Vorschlagfalsch.
Dieser Tage wird Helmut Kohl 80. Wir alle wün-schen ihm alles Gute. Die meiste Zeit meines Lebenshabe ich politisch in Opposition zu ihm gestanden,
aber eines, meine Damen und Herren, würde ich HelmutKohl immer bescheinigen: Helmut Kohl war ein großerEuropäer. Er hat selbst im Jubel der deutschen Einheitdaran festgehalten, dass es Deutschland nur in einemstarken, gemeinsamen Europa geben kann. Das war derGrund, warum er gesagt hat: Wir müssen Deutschland indas gemeinsame Europa einbinden. Das Instrument da-für war die Einführung des Euro. Das war für ihn – ichzitiere – „eine Frage von Krieg und Frieden“. Er hatterecht. Ich sage Ihnen: Zentrale Probleme dieses gemein-samen Europas müssen künftig europäisch gelöst wer-den. Das können Sie nicht an internationale Finanzinsti-tutionen delegieren. Wenn Sie das tun, liebe FrauMerkel, dann tun Sie nur eins: sich aus Wahlkampfgrün-den einer richtigen, europäischen Lösung verschließen.Damit treten Sie das Erbe Helmut Kohls mit Füßen undschaden deutschen Interessen.
Das Wort hat nun Kollege Michael Link für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Man star-tet mit der Regierungserklärung bei Europa und landet inder Berliner Landespolitik.
Daran wird zumindest eines deutlich: Die von der christ-lich-liberalen Koalition getragene Bundesregierung be-treibt europäische Politik, insbesondere Währungspoli-tik, nicht als Roulette, Lotto oder andere Dinge. Wirstellen fest: Sie brauchen, um Ihre Berliner Schulpro-bleme zu lösen – in Ihrer Kurzintervention haben Sieselbst entlarvend gesagt: um zum Beispiel Bestechungzu verhindern –, Instrumente wie Lotto und Roulette.Wir wollen bei der Währung ganz bewusst keine Risikeneingehen, um nicht mit das Wichtigste, was wir durchdie europäische Einigung erreicht haben, nämlich einenstabilen und harten Euro, zu gefährden. Deshalb unter-stützt die FDP-Fraktion den Kurs der Bundesregierungauf das Entschiedenste.
In unserer Generation wird entschieden, ob die Wirt-schafts- und Währungsunion ein Erfolg bleibt oder obsie daran zugrunde geht, dass einige Staaten über einenlängeren Zeitraum weit über ihre Verhältnisse leben, inBezug auf ihre Wirtschaftsleistung immer gewaltigereDefizite aufbauen und sich dann, wenn es nicht mehrweitergeht, hilfesuchend an Dritte wenden. Das kann sonicht funktionieren. Solidarität braucht und setzt Verant-wortung voraus.Es geht nicht darum: Wer ist der beste Europäer,sprich: wer ist am solidarischsten, wer hilft am schnells-ten? Das ist genau der falsche Reflex. Deshalb begrüßenwir auch in diesem Punkt das, was wir heute Morgenvon der Bundeskanzlerin gehört haben. Aus unsererSicht waren das Worte, die genau in die richtige Rich-tung gehen, weil sie zeigen, dass wir sehr wohl im Ex-tremfall als Ultima Ratio über die erwähnten Instru-mente – IWF und notfalls auch bilaterale Hilfen – helfenwerden. Frau Kollegin Schwall-Düren, damit wollen wirStabilität, Ruhe und Sicherheit in die Märkte hineinbrin-gen. Sie haben die Financial Times Deutschland hochge-halten. Wir haben Respekt vor der Pressefreiheit. Ichkann nur sagen: Meines Erachtens ist der Kurs, den Sievorschlagen, sowohl für den Euro als auch für dieMärkte riskant.
Wir haben in der Regierungserklärung der Frau Bun-deskanzlerin gehört, dass wir darauf reagieren müssen,wenn die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstums-paktes unterlaufen werden. An unsere gemeinsamenKriterien müssen wir in der Tat noch einmal heran.Wahrscheinlich wird es ohne eine Überarbeitung undPräzisierung unserer Kriterien nicht gehen. Bei diesemProzess müssen wir aber aufpassen – Rainer Brüderlehat es gesagt –, dass wir nicht in einen europäischen Fi-nanzausgleich hineinkommen. Ein europäischer Finanz-ausgleich wäre genau der falsche Weg. Wir brauchen
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Michael Link
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stattdessen Wege, die den Ländern, die sich in einer pro-blematischen Situation befinden, helfen, ohne die Stabi-lität der Währung aufzuweichen. Ich glaube, mit denVorschlägen, die jetzt gemacht worden sind, sind wir aufeinem guten Weg.Wenn wir allen Vorschlägen folgen würden, die Sie,Kollege Gysi, hier gemacht haben, die durch einige Aus-führungen des Kollegen Trittin ergänzt wurden, bei de-nen ich mich gefragt habe, ob er auch die Historie dergriechischen Kreditwürdigkeit studiert hat, dann kämenwir schnell in eine Situation, in der der Euro die Stabili-tät hätte wie am Schluss die Ostmark.
Vom Kollegen Trittin ist Island angesprochen wor-den. Ich vermute, dieses Thema wird auch später nocheine Rolle spielen; denn wir haben mehrere Anträgedazu vorliegen. Kollege Trittin, Sie haben gesagt, dieKanzlerin würde sich wie Bismarck verhalten. Ich willIhre Aufmerksamkeit jetzt einmal ganz bewusst auf ei-nen anderen Aspekt lenken, weil Island ein sehr schönesBeispiel ist. Im Fall Island handeln wir, wie ich finde,eben nicht genau wie Bismarck – nach dem Motto: Wirentscheiden und alle anderen müssen folgen –, sondernwir haben uns als Bundestag entschieden – auch imLichte der neuen Begleitgesetze und der EntscheidungKarlsruhes –, diesen Prozess in aller Ruhe durchzufüh-ren.
Erweiterungen funktionieren für uns nicht auf Knopf-druck. Erweiterung ist ein Prozess – die FDP-Fraktionsteht zur Fortsetzung des Erweiterungsprozesses –, derim Einzelfall kontrolliert, mit genauer Begleitung undvor allem unter parlamentarischer Kontrolle erfolgenmuss. Dies verbietet es, diesen Prozess übers Knie zubrechen.
Deshalb werden wir Ihren Anträgen, die Sie heutedazu vorgelegt haben, nicht zustimmen. Wir sind für dasganz normale parlamentarische Verfahren. Wir werdendas noch einmal ausführlich im Bundestag behandeln. Inder nächsten Sitzungswoche – wahrscheinlich sogar miteiner großen Debatte während der Kernzeit – werden wiruns des Themas Island noch einmal ganz besonders an-nehmen. Im Übrigen steht dieses Thema nicht auf derTagesordnung des Europäischen Rates. Auch deshalbwäre es falsch, schon heute darüber abzustimmen. BeiErweiterungsfragen ist genauso wie bei Währungsfragennicht die Schnelligkeit entscheidend. Nicht derjenige,der schnell hilft, ist der beste Europäer. Gründlichkeit istaus unserer Sicht ganz wichtig, um den Prozess der Er-weiterung auch weiterhin rechtfertigen zu können.
Für die FDP-Fraktion sind Verträge und Ver-tragstreue ein hohes Gut.
Das gilt aus unserer Sicht für alle Bereiche der europäi-schen Politik. Das gilt für Beitrittsverhandlungen. Ichhabe es erwähnt: Das gilt für Island, aber auch für alleanderen Fälle. Für uns gilt: Pacta sunt servanda. Das giltfür den Verfassungsvertrag und die strikten Regeln desStabilitäts- und Wachstumspaktes, die wir, wo nötig, er-gänzen und überarbeiten müssen. Das gilt für uns vor al-lem für den harten Euro. Deshalb gilt das auch für dieUnterstützung des hier vorgestellten Kurses der Bundes-regierung beim Europäischen Rat.Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort an unsselbst: Das gilt auch für die neue Begleitgesetzgebung.Das, was wir in der nächsten Sitzungswoche, aber auchschon heute aufgrund der Anträge der Kollegen von derOpposition bezogen auf Island machen, ist der erste Fall– das hört sich jetzt technisch an – einer Stellungnahmenach § 10 EUZBBG, dem Begleitgesetz, das die Zusam-menarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung re-gelt. Das ist der erste Fall, und wir müssen uns sehr vielZeit nehmen, um das genau durchzusprechen. Wir erin-nern uns selbst, aber auch die Bundesregierung daran,dass die Zeiten, in denen Europapolitik quasi an dieBundesregierung delegiert wurde, vorbei sind. Dasnimmt uns in die Pflicht und die Bundesregierung ge-nauso.
Wir wissen aber auch – deshalb waren wir über dieklaren Worte in der heutigen Regierungserklärung froh –,dass die deutschen und die europäischen Interessen beider Bundesregierung auf der Tagung des EuropäischenRates heute und morgen in guter Hand sind. Wir wün-schen erfolgreiche Verhandlungen.
Das Wort hat nun Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieRegierungserklärung der Bundeskanzlerin und diePositionierung der Koalitionsfraktionen zu dieser sowichtigen europapolitischen Frage in dieser Stunde kannman mit zwei Worten überschreiben: unberechenbar undunglaubwürdig.„Unberechenbar“ ist in diesem Zusammenhang keineErfindung der SPD, sondern das können Sie jeden Tag inIhnen nahestehenden Zeitungen lesen, von FAZ bis Fi-nancial Times, weil sich täglich die Position der Bundes-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3111
Axel Schäfer
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regierung, der Kanzlerin zu zentralen europäischen Fra-gen, wie jetzt zur Hilfe für Griechenland, ändert.Tagtäglich ändert sich das.
Das ist alles andere als eine verlässliche Europapoli-tik.
Mal gibt man Unterstützung, mal ist man dagegen. Manist für einen europäischen Währungsfonds, aber eigent-lich doch nicht. Jetzt geht es um Maßnahmen über denIWF. Wenn sich die Fraktionsvorsitzenden einmal an-schauen, was gestern in dem Entwurf zur Regierungser-klärung stand und was heute erklärt worden ist, dann se-hen sie, dass es selbst da Unterschiede gibt. So schnelländern sich Positionen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ja schon ge-nug, Sie für diese Europapolitik zu kritisieren. Es gehthier aber auch um die deutsche Rolle.
Durch dieses Wackeln, Schweigen oder auch zum TeilHinterherlaufen gibt es keine deutsche Führungspositionin Europa. Es gibt keine deutschen Vorstellungen, für dieman wirbt, sondern man wartet, wechselt oder läuft Posi-tionen hinterher. Genau das darf Deutschland als verant-wortungsvolles Land in Europa nicht machen.
Warum ist das alles unglaubwürdig? Die Kanzlerinhat heute ermahnt – ich zitiere aus dem Gedächtnis, aberfast wörtlich –, dass wir über die Themen, die auch beimEuropäischen Rat anstehen, mehr diskutieren müssen.Was ist die Praxis?
Wir haben gestern im Europaausschuss erlebt, dass einzentrales Thema, nämlich die Strategie EU 2020, für dasdie SPD Vorarbeiten geleistet hat und sich für die Dis-kussion positioniert hat, abgesetzt worden ist. Das heißt,die Kanzlerin fährt jetzt zum Gipfel, ohne dass es eineabgestimmte Position gibt, ohne dass der Bundestaggrundlegend darüber diskutiert hat. Das fehlt, und dashaben Sie verhindert.
Es geht noch weiter. Kollege Link hat natürlich völligrecht,
wenn er sagt, dass wir die Konsequenzen aus dem Lis-sabon-Vertrag und dem Lissabon-Urteil ernst nehmenmüssen. Ich zeige Ihnen konkret, wie ernst sie genom-men werden.Erstes Beispiel: europäische Bürgerinitiative. Es istein zentrales Anliegen Deutschlands und dieses Hausesinsgesamt, es Bürgerinnen und Bürgern möglich zu ma-chen, sich durch Unterschriften für ein europäisches Pro-jekt zu engagieren. Das muss dann zu einem Gesetzes-akt, zu einem Vorschlag der Kommission führen. Dazuist weder von der Bundesregierung noch von einer dersie tragenden Fraktionen etwas gesagt worden, wedervon CDU/CSU noch von FDP. Dort herrscht nur lautesSchweigen zu Europa.Zweites Beispiel: Europäischer Auswärtiger Dienst.Dazu gibt es Vorschläge und Positionen der SPD, abervon Ihnen ist kein Vorschlag gemacht worden, wie dieBundesregierung positioniert werden soll.Drittes Beispiel: Island. Dieses Beispiel ist besondersschön; denn da wird die Arbeitsteilung der Verhinderungeiner Positionierung deutlich. Die einen, nämlich dieBundesregierung, sagen, man müsse auf den Bundestagwarten, und die anderen, die Koalitionsfraktionen imBundestag, erweisen sich als unfähig, sich in ihren Ar-beitsgruppen abzustimmen, um rechtzeitig eine Positio-nierung zu Island zu erreichen.
Es wäre jetzt noch möglich, eine Positionierung rechtzei-tig zu erreichen. Bis zur letzten Woche war von der spani-schen Ratspräsidentschaft angekündigt worden – derBrief vom 18. März liegt vor –, das zu machen. Das istnicht gemacht worden. Wir sind jetzt in der Situation,dass wir nicht wissen, auf welchen Wegen bestimmteEntscheidungen, Vorentscheidungen oder Abstimmun-gen getroffen werden, ohne dass der Bundestag durcheine Debatte und einen Beschluss Einvernehmen her-stellt. Wir wollten das mit gutem Willen machen. Diesergute Wille hat bei Ihnen im Monat März gefehlt. Dasmuss hier offen kritisiert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um dieFrage: Sind wir als Bundestag, selbstverpflichtend überdie Fraktions- und Parteigrenzen hinweg, willens und inder Lage, tatsächlich europäische Politik zu gestalten?Das, was ich zurzeit von den geschätzten Kolleginnenund Kollegen der Regierungskoalition erlebe, ist mutlos.Es ist auch manchmal ratlos. Aber am Ende kann es auchdazu führen, dass man rückgratlos wird, wenn man alldas, was man vorher zur Stärkung der parlamentarischenRechte vereinbart hat, hier nicht wahrnimmt.Wir werden unsere Oppositionsrolle so wahrnehmen,dass wir Punkt für Punkt bei allen wichtigen europäi-schen Fragen die Diskussion im EU-Ausschuss, mög-lichst in allen Ausschüssen und im Plenum führen, damitdie Europäisierung des Bundestages gelingt. Dafürbraucht man nicht nur Überzeugung, sondern auch Ge-staltungswillen. Der Gestaltungswille fehlt auf der rech-ten Seite dieses Hauses.
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3112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Axel Schäfer
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Dass Sie anders können, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, haben Sie an zwei Stellen gezeigt:Sie haben den Mut gehabt – es gehört zu einer fairenund ehrlichen Debatte, auch das zu sagen –, dafür zu sor-gen, dass der Deutsche Bundestag – das wurde auf An-trag der SPD-Fraktion beschlossen und vom Bündnis 90/Die Grünen, von der Linken, der FDP und der CDU/CSU unterstützt – den deutschen Kommissar GüntherOettinger nach seiner Benennung eingeladen hat und wirihn befragt haben. Das war ein historisches Novum fürdas Parlament. Die Regierenden sollten sich schon ein-mal Gedanken machen, ob sie auch Minister in Zukunftvielleicht nicht nur ernennen, sondern ob sie solche An-lässe auch parlamentarisch nutzen. Minister könntensich hier im Parlament den Fragen der Abgeordnetenstellen und gewissermaßen auf den Prüfstand gestelltwerden. Die Befragung des deutschen KommissarsOettinger haben wir im Bundestag, wie gesagt, gemein-sam beschlossen. Das war ein guter Weg.Außerdem haben wir im Europaausschuss gemeinsamvereinbart, bei unseren Debatten die Öffentlichkeit zuzu-lassen; auch das ist richtig.Ich appelliere an Sie von CDU/CSU und FDP, der ge-meinsamen europäischen Verantwortung im Parlamentnachzukommen und nicht nur zu fragen, was die Regie-rung erlaubt. Die SPD wird sich nicht danach richten,was die Regierung ihr erlaubt, sondern wir werden un-sere Fragen stellen. Wir werden uns Punkt für Punkt an-schauen, wie Sie Europapolitik machen, und den Fingerdort in die Wunde legen, wo Sie keine gestaltende deut-sche Europapolitik machen. Die brauchen wir nämlich.Das ist eine gute Tradition. Für diese Tradition stehenFrank-Walter Steinmeier und die sozialdemokratischeBundestagsfraktion.
Das Wort hat nun Hans-Peter Friedrich für die CDU/
CSU-Fraktion
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn sich die Frau Bundeskanzlerin
schon auf den Weg zum Europäischen Rat machen
musste, will ich mit einem großen Kompliment begin-
nen. Sie hat in den letzten Tagen und Wochen die Inte-
ressen Deutschlands, aber auch die Interessen Europas
trotz der schwierigen Debattenlage auf europäischer
Ebene in hervorragender Weise vertreten, und zwar so-
wohl im Hinblick auf die Schuldenkrise Griechenlands
als auch hinsichtlich der EU-Strategie 2020.
Angela Merkel hat gezeigt, dass sie Hüterin der Ord-
nung in Europa ist, einer Ordnung, die sich Europa selbst
gegeben hat und die von Begriffen wie Subsidiarität und
Stabilität geprägt ist. Beide Begriffe dürfen nicht der Be-
liebigkeit geopfert werden; dafür hat sie gesorgt. Denn
sie sind die Spielregeln, die wir Europäer uns selbst ge-
geben haben und die eingehalten werden sollen.
Lieber Herr Kollege Schäfer, ich bin froh, dass wir
nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Mög-
lichkeit haben, uns mehr als in der Vergangenheit und
bei noch größerer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im
deutschen Parlament mit europäischen Themen zu be-
fassen. Ich bin der Meinung, dass diese wichtigen The-
men nicht in irgendeinen nichtöffentlich tagenden Aus-
schuss gehören, sondern in das Parlament. Insofern sind
diese Regierungserklärung und die heutige Debatte
wichtig und, wie ich hoffe, der Anfang einer ausführli-
chen europäischen Debatte, die wir gemeinsam führen
wollen.
Nur, ich halte es, auch wenn wir über die verschiede-
nen Fragen kontrovers diskutieren, für notwendig, dass
wir dann, wenn es darum geht, deutsche Interessen
wahrzunehmen, der Regierung und insbesondere, wie in
diesem Fall, der Bundeskanzlerin den Rücken stärken,
zusammenstehen und sagen: Wenn es um unser gemein-
sames deutsches Interesse geht, dann muss die Regie-
rung von allen unterstützt werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Nein, danke. Jetzt keine Zwischenfragen.Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt; ichglaube, das bestreitet auch niemand. Das Ergebnis ist,dass Griechenland heute eine Nettoneuverschuldung von13 Prozent zu verzeichnen hat; ich wiederhole: 13 Pro-zent. Das Ergebnis ist, dass die Schuldenstandsquote inGriechenland heute bei 120 Prozent liegt; das bedeutet,die Schulden betragen 120 Prozent dessen, was das Landin einem ganzen Jahr erwirtschaftet. Das ist eine unvor-stellbare Summe.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist deut-sches und europäisches Interesse, und zwar das Interessealler Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Grie-chenland aus dieser instabilen, schwierigen Lage heraus-kommt.
Das ist deswegen unser Interesse, weil wir eine gemein-same Währung haben und weil Europa, die EU eineSchicksalsgemeinschaft ist.
Es ist auch unser Interesse, zu verhindern, dass an dieBürgerinnen und Bürger Deutschlands und Europas dieBotschaft gesendet wird, dass derjenige, der sich an die
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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Spielregeln hält und fleißig ist, am Ende der Dumme istund die Zeche zahlen muss. Auch dies ist notwendig.
Ich begrüße es außerordentlich, dass die Frau Bundes-kanzlerin heute gesagt hat: Alles, was wir uns an Hilfenüberlegen, ist Ultima Ratio, das allerletzte Mittel. – Da-rum muss es gehen. Griechenland hat einen wichtigenund einen richtigen Kurs eingeschlagen. Dass der Kursrichtig ist, beweisen die Reaktionen der Finanzmärkteund die heutige Entscheidung der EZB, den Griechen einStück entgegenzukommen. Ich glaube, das ist ein glaub-würdiger und richtiger Kurs.Dieser Kurs kann nur gemeinsam mit der griechi-schen Bevölkerung in Angriff genommen werden. Esist notwendig, dass die Menschen in Griechenland denErnst der Lage ihres Landes erkennen. Sie müssen aberauch die Ursachen dafür erkennen. Deswegen ist es sehrungünstig – ich drücke mich vorsichtig aus –, dass manin Griechenland heute so tut, als seien die europäischenPartner nicht die Opfer der Tricks und Täuschungen, diefrühere Regierungen vorgenommen haben, sondern dieTäter; dies geht aus der veröffentlichten Meinung her-vor. Täter und Opfer auseinanderzuhalten, ist in dieserFrage sehr wichtig.
Herr Gysi, Sie haben letzte Woche – ich zitiere ausdem Protokoll – in der Haushaltsdebatte gesagt:Jetzt gehen die Menschen dort– also in Griechenland –auf die Straße, und zwar, wie ich finde, völlig zuRecht. … Da stehen wir an der Seite der Bevölke-rung Griechenlands.
Herr Gysi, Sie gehören zu denjenigen, die der griechi-schen Regierung in der Problematik, den Menschen denErnst der Lage ihres Landes zu erklären, in den Rückenfallen. Darum geht es.
Deswegen gehören Sie auch zu denjenigen, die eine Mit-schuld daran tragen, dass stattfindet, wovon Herr Trittingesprochen hat: Es werden europäische Flaggen ver-brannt. Wir jedenfalls stehen an der Seite derjenigen, dieeine verantwortliche Politik für Europa machen wollen.
Meine Damen und Herren, die Einhaltung der Stabili-tätskriterien und der Stabilitätsziele war eine wichtigeVoraussetzung für die Funktionsfähigkeit unserer Wäh-rung und eine wichtige Voraussetzung dafür, dass derEuro und Europa bis jetzt so hervorragend aus dieserWirtschaftskrise hervorgegangen sind. Ich glaube, dasses richtig war, von Anfang an klar und deutlich zu ma-chen: Es gibt keine Gemeinschaftshilfen. Es gibt keinegesamtschuldnerische Haftung aller Europäer für grie-chische Schulden. Das ginge nämlich gegen den Geistund gegen die Buchstaben von Maastricht. Deswegenmöchte ich an dieser Stelle der Frau Bundeskanzlerinherzlich dafür danken, dass sie dies von Anfang an klippund klar gemacht hat.Heute kommt die Idee, den IWF in die Verantwor-tung einzubeziehen, offiziell zum Tragen. Wer Mitgliedder Europäischen Union und Mitglied der EuropäischenWährungsunion ist, scheidet nicht automatisch aus ande-ren Organisationen aus. Er scheidet nicht automatischaus anderen Instrumentarien, auf die er einen Anspruchhat, aus, wenn es darum geht, ihm zu helfen. Weil dieGriechen gegenüber dem IWF einen Anspruch auf Hilfehaben, ist es richtig, den Weg der Einschaltung des IWFals Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen.
Dennoch zögert Griechenland, Hilfen von den euro-päischen Partnern oder vom IWF anzufordern. Grie-chenland zögert zu Recht. Denn jeder, der Hilfen vonDritten anfordert, beraubt sich gleichzeitig eines Stückesseiner Freiheiten und Möglichkeiten. Er muss akzeptie-ren, dass an diese Hilfen und Forderungen Bedingungengeknüpft sind. Deswegen zögert Griechenland zu Recht.Es geht um die Aufrechterhaltung seiner eigenen Souve-ränität. All diejenigen, die allzu schnell raten, den Grie-chen zur Seite zu stehen, haben oft überhaupt nicht dasgriechische Interesse im Blick, sondern eigene, vielleichtmanchmal auch sehr durchsichtige Interessen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die FrauBundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung ge-sagt: Wir müssen vermeiden, dass die Stabilitätskrite-rien in der Zukunft wieder unterlaufen werden können.Die Lehre, die aus der Krise zu ziehen ist, ist in allerers-ter Linie, dass wir Transparenz herstellen: Transparenzin technischer Hinsicht dadurch, dass wir eine einheitli-che Datengrundlage für alle Länder zur Verfügung stel-len, aber auch Transparenz in politischer Hinsicht – auchdas ist heute angesprochen worden – dadurch, dass wireuropäischen Aufsichtsbehörden die Möglichkeit ge-ben, die Einhaltung der Stabilitätskriterien vor Ort zuüberwachen.Mit der eindeutigen Haltung von Angela Merkel in alldiesen Fragen ist etwas korrigiert worden, was zu Zeitender rot-grünen Regierung 2005 allzu leicht und allzuleichtfertig über Bord geworfen worden ist. Damalswurde nach Europa ein falsches Signal gesandt,
nämlich das Signal, man könne über die Stabilitätskrite-rien, die Theo Waigel seinerzeit eingeführt hat, noch ein-mal reden. Nein, man kann darüber nicht reden. Die Sta-bilitätskriterien gelten und müssen eingehalten werdenund werden eingehalten werden. Das hat Angela Merkeldeutlich gemacht.
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3114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
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Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, hateine besondere Stabilitätsmentalität. Das liegt nicht nuran Traditionen, sondern auch an schlechten Erfahrungen,die dieses Land, dieses Volk gemacht hat. Deswegen warund ist es wichtig, das Vertrauen der Menschen in dieneue Währung Euro zu erhalten. Ich bin der Frau Bun-deskanzlerin und der Bundesregierung außerordentlichdankbar,
dass sie im Zusammenhang mit der EU-Strategie 2020deutlich gemacht haben, dass wir die Stabilitätskriteriennicht an politische, zweifelhafte Kriterien binden lassen.Frau Merkel hat in einem Brief an Herrn Van Rompuydeutlich gemacht, dass auch im Sinne der neuen Strate-gie Europa 2020 ein Aufweichen der Stabilitätskriteriennicht infrage kommt. Ich bin froh, dass so etwas aus denVorschlägen, die die Europäische Union macht, inzwi-schen verschwunden ist.Theo Waigel hat gestern in einem Artikel in der FAZetwas gefordert, was, glaube ich, identisch ist mit dem,was die Bundeskanzlerin heute in ihrer Regierungserklä-rung gesagt hat. Theo Waigel hat gesagt: Wir braucheneine neue Konsolidierungsstrategie für ganz Europa. –Ja. Und auch da ist Deutschland Vorreiter, und zwar weilwir im vergangenen Jahr gemeinsam – SPD, FDP, CDU/CSU – eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufge-nommen haben.
Das ist in Europa wie in der Welt ein bisher einmaligerVorgang. Diese Schuldenbremse wird unseren Kollegenaus dem Haushaltsausschuss noch sehr viel Arbeit ma-chen und die Bundesregierung – ich sage das voraus –noch viel Schweiß kosten, wenn es darum geht, dennächsten Haushalt und den übernächsten Haushalt auf-zustellen.
Sie wird auch der deutschen Bevölkerung das eine oderandere abverlangen. Diese Schuldenbremse ist aber al-ternativlos angesichts der Verantwortung, die wir für dieFinanzen, aber auch für die Zukunft künftiger Generatio-nen in diesem Land haben. Deswegen gibt es zu dieserKonsolidierungsstrategie in Deutschland, aber auch inEuropa keine Alternative.Es ist angesprochen worden, dass Deutschland von ei-nigen europäischen Partnern wegen seiner Wettbe-werbsfähigkeit angegriffen wird. Mit der Lissabon-Strategie ist damals ausgerufen worden, Europa solle zurwettbewerbsfähigsten Region der Erde werden. Leiderist daraus nichts geworden; aber das Land, das diesesZiel für sich erreicht hat, ist Deutschland. Deswegen istes falsch, gerade dieses Land an den Pranger zu stellen.Vielmehr sollten sich die anderen überlegen, warum siemit Deutschland nicht gleichziehen konnten, warum esihnen nicht gelungen ist, ebenfalls eine so gute Wettbe-werbsfähigkeit zu erreichen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Wett-bewerbsfähigkeit ist uns nicht geschenkt worden. Ich er-innere daran, dass wir in den 90er-Jahren ein Leistungs-bilanzdefizit hatten, nämlich als wir nach derWiedervereinigung, Herr Gysi, die Trümmer des Kom-munismus auf deutschem Boden aufräumen mussten.
Dieses Land hat gelitten unter diesem Defizit. Es warnicht einfach, dieses Defizit zu überwinden. Ich erinnerean die Konsolidierungsstrategie, die Mitte der 90er-Jahredafür gesorgt hat, dass die Produktivität in Deutschlandgestiegen ist, aber auch an die Agenda 2010. Auch durchsie wurde den Menschen viel abverlangt, aber sie hatdazu geführt, dass die Produktivität an jedem Arbeits-platz in Deutschland höher als bei den Wettbewerbern inder Welt ist. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähig-keit und für die Leistungsfähigkeit, und dafür brauchenwir uns nicht zu schämen, sondern darauf kann diesesLand stolz sein.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die eu-ropäische Leistungsbilanz insgesamt negativ wäre,wenn es den Überschuss in der Leistungsbilanz derDeutschen nicht gäbe. Insofern leisten wir auch in die-sem Punkt einen wichtigen Beitrag.Zur Lohnpolitik. Die zurückhaltende Lohnpolitik un-serer Tarifpartner, die ich an dieser Stelle ausdrücklichloben möchte, hat dazu geführt, dass Deutschland hin-sichtlich der Arbeitslosigkeit bis heute weit mehr Fort-schritte als seine Partner gemacht hat.
Wir liegen heute mit 7,5 Prozent um 2,5 Prozentpunkteunter der Arbeitslosenquote in Europa. Wenn man dasmit anderen Ländern vergleicht – 9 Prozent in Frank-reich, 13,8 Prozent in Irland –, dann kann man sehen,dass diese Lohnzurückhaltung, die unsere Tarifpartneran den Tag gelegt haben, der richtige Weg zu Beschäfti-gung und Arbeit für die Menschen in Deutschland ist.
Schließlich zur EU-Strategie 2020. Ich werfe einenBlick auf die Struktur Europas und der europäischenPartnerländer. Diese Struktur ist außerordentlich hetero-gen. Wir haben im Grunde folgende Möglichkeiten:Erstens. Wir, alle 27 Länder, einigen uns nur auf denkleinsten gemeinsamen Nenner. Das wäre zu wenig fürein gemeinsames Europa.Zweitens. Wir zwängen diese 27 Länder auf einen ge-meinsamen Kurs, durch den Kreativität verschwindetund der letzten Endes auch hinsichtlich der Akzeptanz inder Bevölkerung schwierig ist.
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Drittens. Diesen Weg wollen und sollten wir gehen:den Weg der Vielfalt der Systeme, der Gestaltungsfrei-heit und des Gestaltungswettbewerbs. Dieses Prinzip hatsich im deutschen Föderalismus hervorragend bewährt.Dieser Gestaltungswettbewerb muss auch in EuropaPlatz greifen. Der Beste muss derjenige sein, der dieMarken setzt und das Vorbild für andere ist.In diesem Sinne wird es gelingen, dass DeutschlandVorbild in Europa ist und dass Europa insgesamt voran-kommt. Wir wünschen der Bundeskanzlerin für ihre Ver-handlungen beim Europäischen Rat alles Gute.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichsehe überhaupt keinen Anlass, der Bundeskanzlerin ineiner Rede fünf Komplimente zu machen und 28-mal zudanken,
weil ich die Regierungserklärung der Kanzlerin enttäu-schend und erschreckend ideenlos fand.
Wir hätten hier im Bundestag gerne über ein Konzeptzu Europa 2020 diskutiert. Als Mitglied der SPD-Frak-tion und Opposition sage ich: Ich hätte mich gerne rich-tig kritisch mit den Vorstellungen und Ideen der Bun-desregierung auseinandergesetzt, aber ich habe keineKonzepte, keine Visionen und keine Strategie für Europagehört,
sondern ich habe ganz viel dazu gehört, was Sie allesnicht wollen. Das verstecken Sie hinter der Floskel„Vielfalt der Systeme“. Dabei bleiben Sie doch erschre-ckend vage und unverbindlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, dieCDU war einmal europaengagiert. Ich müsste mich garnicht um das europapolitische Profil der CDU sorgen,wenn es nicht um Deutschland und um die Zukunft Eu-ropas ginge. Das sorgt uns alle. Wir haben in Europanämlich zehn ganz entscheidende Jahre vor uns. Es gehtum die Stabilität und den Zusammenhalt Europas undum unsere Rolle in der Welt. Ich habe von der Bundesre-gierung bisher nichts dazu gehört, wie es da weitergehenkann.Die EU-Kommission unter Barroso macht Vorschlägezu fünf Kernzielen; mehr sind es gar nicht. Ich muss dieEU-Kommission und ihren Präsidenten Barroso über-haupt nicht verteidigen; denn das ist gar nicht meineKommission, und sie ist, wie Sie wissen, auch nichtmehrheitlich mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten besetzt. Die EU-Kommission legt also eineGrundlage mit fünf Zielen. Zwei davon lehnen Sie ab.Da fragen wir uns doch: Welche Strategie bleibt eigent-lich noch für Europa? Wohin soll der Weg gehen?Dass Sie das Armutsziel ablehnen, halte ich für einenunglaublichen Vorgang.
Beim Thema Armut dürfen wir uns nicht hinter Sonn-tagsreden und hinter halbherzigen Bekenntnissen ver-schanzen. Dafür ist das Thema Armut zu wichtig; esmuss auch auf der europäischen Ebene ausführlich dis-kutiert und engagiert angegangen werden.Wir erleben zurzeit die Bundesministerin von derLeyen – wortreich und durchaus mit Empathie – zumEuropäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-zung. Aber auch sie lehnt das Ziel der Armutsbekämp-fung in Europa ab. Dabei geht es nur um ein gemeinsa-mes Ziel in Europa – nicht um mehr, aber auch nicht umweniger.Dieses gemeinsame Ziel wäre ein wichtiges Signal andie Menschen in Deutschland und in Europa, dass wir esernst meinen mit der Bekämpfung von Armut, dass unsihre Sorgen ernsthaft interessieren und kümmern, dasswir Maßnahmen ergreifen und nicht nur reden, sondernauch handeln. Wenn dieses Signal vom EuropäischenRat ausgehen würde, wäre das sehr, sehr wichtig für dieMenschen in Europa.
Ich will auch etwas zum Thema Bildung sagen.
Man kann kritisch sein, und der Bundesrat hat zum Aus-druck gebracht, dass er für das Thema Bildung zuständigist. Aber ein gemeinsames Ziel in Europa, die Verständi-gung darauf, dass Bildung wichtig ist und wir in diesemBereich ambitioniert vorgehen müssen, stellt die Kom-petenz der Bundesländer überhaupt nicht infrage. Wennman will, dass in Europa Wachstum und Wettbewerbsfä-higkeit großgeschrieben werden und wir gut aufgestelltsind – das haben Sie betont –, dann müssen wir uns auchim Bereich der Bildung Ziele setzen. Dann geht es in Eu-ropa gar nicht ohne Bildung.Aber die schwarz-gelbe Regierung bleibt die Antwortauf die Frage schuldig, wie das mit der Bildung denn ge-hen soll. Denn Sie nehmen uns mit Ihrer Steuerpolitik je-den Spielraum, um in Deutschland sinnvolle und guteBildungspolitik zu machen. Ich würde mir wünschen,dass die Bildungspolitik durch ein engagiertes Ziel aufder europäischen Ebene befördert würde.
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Dr. Eva Högl
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Zwei Ziele lehnen Sie ab – darauf habe ich hingewie-sen –, bei einem dritten Ziel sind Sie unengagiert, unddas ist die Beschäftigungsquote. Es geht um die Weiter-entwicklung der Lissabon-Strategie. Wir dürfen dasThema Beschäftigungsquote nicht nur auf die Floskel„Hauptsache Arbeit, egal was für eine“ reduzieren. Wirbrauchen bei der neuen Strategie klare Aussagen zurQualität der Arbeit.
Es geht nämlich darum, wie die Menschen in unseremLand arbeiten. Wir brauchen eine Lösung für das Pro-blem, dass immer mehr Menschen von Löhnen leben,von denen sie sich und ihre Familien nicht ernähren kön-nen.Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass wir die neueStrategie ganz klar formulieren, im Bereich der Beschäf-tigungspolitik um einen qualitativen Aspekt ergänzenund feststellen: Wir sind gegen Ausbeutung. Wir sind fürgute Löhne auch auf der europäischen Ebene. – Ich hättemir auch gewünscht, dass wir uns ein engagiertes Zielmit Blick auf die gleiche Bezahlung von Männern undFrauen gesetzt hätten. Morgen findet der Equal PayDay statt. In diesem Zusammenhang hätte man dieseStrategie gut weiterentwickeln und ein gutes Ziel setzenkönnen. Das hätte dann den Namen „neue Strategie“auch verdient.
Eine letzte Bemerkung zum Parlament – der KollegeSchäfer hat es schon angesprochen –: Wir haben eineerste Debatte zum Thema Europa 2020 – und dabei gehtes nicht um mehr, aber auch nicht um weniger als um dieZukunft der Europäischen Union – am 4. März um21.30 Uhr für 30 Minuten geführt. Ansonsten ist dasParlament nicht beteiligt worden. Heute hat es zum ers-ten Mal die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, wel-che Position die Kanzlerin bei diesem wichtigen Euro-päischen Rat vertreten wird. Ich finde, das ist einegravierende Missachtung des Deutschen Bundestages.Das finde ich enttäuschend. Ich hätte mir im Vorfeld die-ses Europäischen Rates mehr gewünscht.
Das wäre insbesondere vor dem Hintergrund der Tat-sache wichtig gewesen, dass mit dem Lissabon-Vertragdie Parlamente gestärkt wurden. Man hätte auch hier eindeutliches Zeichen setzen können. Aber die Kanzlerinhat in ihrer Regierungserklärung die Parlamente nichtein einziges Mal erwähnt, weder den Deutschen Bundes-tag noch das Europäische Parlament.Ich kann nur hoffen, dass sie sich mit ihrer Zögerlich-keit und Ideenlosigkeit im Europäischen Rat nichtdurchsetzt und dass die anderen Kolleginnen und Kolle-gen ambitionierter sind und eine gute Strategie 2020 imSinne der Zukunft Europas, im Sinne der Menschen inDeutschland und Europa und auch im Sinne einer gutenPositionierung Deutschlands formulieren.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Euro-päischen Rat, der in wenigen Stunden in Brüssel beginnt,soll über die Ausgestaltung der sogenannten Europa-2020- oder Post-Lissabon-Strategie diskutiert werden. –Frau Högl, hören Sie einmal zu, was ich zu sagen habe.
Der neue Präsident Van Rompuy beabsichtigt, beim Eu-ropäischen Rat eine Grundverständigung über die Archi-tektur der neuen Wachstumsstrategie zu erreichen. Sosteht es auf der Einladung und in der Tagesordnung. Essoll eine Aussprache geben, um dann zu Vorarbeiten undkonkreten Beschlüssen zu kommen. Das passiert jetztbeim Europäischen Rat. Wenn Sie richtig zugehört ha-ben, dann wissen Sie, dass der Präsident des Europäi-schen Parlaments, Herr Buzek, diese Woche mehrfacherklärt hat, dass der Europäische Rat frühestens am17. Juni eine konkrete Strategie beschließen wird.Die Koalitionsfraktionen werden fundiert, und zwardurch Beratung in allen beteiligten Ausschüssen im Bun-destag, rechtzeitig zu diesem Termin eine detaillierteStellungnahme mit Bindewirkung für die Bundesregie-rung vorlegen. Das geschieht dann, wenn es nötig ist,und dies ist für eine allgemeine Diskussion nicht derFall. Wir beschließen doch im Bundestag keinen Sprech-zettel für die Kanzlerin, auf dem steht, was sie in derAussprache mit den Regierungschefs sagen darf.
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf Islandeingehen. Für jemanden, der das Thema nicht genaukennt, ist es nicht nachvollziehbar, worüber sich die SPDund die Grünen beschweren.
Wir haben von der Bundesregierung den Auftrag be-kommen, eine Stellungnahme zum Beschluss von Bei-trittsverhandlungen mit Island zu erarbeiten. Zunächstwar von der schwedischen und dann weiter verfolgt vonder spanischen Ratspräsidentschaft geplant, heute aufdem Europäischen Rat über die Beitrittsverhandlungenabzustimmen. Es zeichnete sich seit Januar ab, dass die-ser Termin von den europäischen Institutionen nicht ge-halten werden wird.Wir haben im Bundestag mit unseren Anträgen dafürgesorgt, dass wir schon in der nächsten Sitzungswocheeine fundierte Stellungnahme vorlegen können,
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Michael Stübgen
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die den Beginn von Beitrittsverhandlungen befürwortet,was wir aber mit dem konkreten Hinweis verbunden ha-ben, dass dann ein entsprechender Beschluss gefasstwerden soll. Wir werden am 22. April die zweite unddritte Lesung im Bundestag durchführen, rechtzeitig be-vor irgendein Rat irgendetwas in dieser Angelegenheitentscheiden wird. Genau das fordert die Begleitgesetz-gebung von uns. So werden wir das als Koalitionsfrak-tionen auch weiter handhaben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Bitte.
Herr Kollege Stübgen, Sie haben gesagt, Sie wüssten
nicht, worüber wir uns beschweren. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen darüber beschwert, dass die Koalition eine
Chance vergibt, Island ein deutliches Signal zu geben,
dass wir für einen Beitritt sind, dass wir zwar kritische
Fragen haben, aber in der Lage sind, schnell zu agieren,
um die Verhandlungen aufzunehmen? Das heißt, wir be-
schweren uns darüber, dass ein positives Signal ausge-
lassen wird. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu neh-
men?
Herr Kollege, bevor Sie antworten: Der Kollege
Liebich will auch eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie
sie zulassen? Dann können Sie zusammenhängend Ihre
Redezeit deutlich verlängern.
Danke schön.
Herr Kollege, ich möchte mich der Beschwerde mei-
nes Vorredners anschließen. Denn es gab Anträge von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion im
Europaausschuss, die die CDU/CSU und die FDP nicht
beschließen wollten, in denen wir uns dafür ausgespro-
chen haben, jetzt sehr frühzeitig das Signal auszusenden,
dass sich die Bundesregierung für Verhandlungen mit Is-
land einsetzt. Sind Sie auch bereit, zuzugestehen, dass
Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass das
nicht auf der Tagesordnung steht? Der Staatssekretär hat
nämlich gesagt, dass es noch nicht auf der Tagesordnung
steht bzw. dass man nicht wisse, ob es auf der Tagesord-
nung stehen werde.
Ist es nicht vielmehr so, dass Sie dort gesagt haben,
dass Sie, egal ob es auf der Tagesordnung steht oder
nicht, nicht wollen, dass es auf die Tagesordnung
kommt, weil Sie Beratungsbedarf haben, und demzu-
folge CDU/CSU und FDP auf der Bremse stehen, aber
nicht Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD?
Ich werde es im Protokoll nachlesen. Vielleicht ver-stehe ich dann Ihre Frage.
Aber ich glaube, es war so ziemlich dieselbe Frage wiedie von Herrn Sarrazin.Es war ganz einfach so, dass nach der ursprünglichenPlanung heute ein Beschluss gefasst werden sollte. Wirhaben uns im Ausschuss mit der Frage beschäftigt, wiewir es schaffen können, heute zu beschließen. Dabei istherausgekommen, dass wir es mit verkürzten Beratungs-zeiten der mitberatenden Ausschüsse, Fristverzicht unddergleichen gerade so hätten hinbekommen können. Alsdann vor drei Wochen deutlich wurde, dass dieser Ratdarüber nicht entscheiden kann, haben wir gesagt, dasswir es auch mit den mitberatenden Ausschüssen ausführ-lich beraten werden, was übrigens unsere Verantwortungals federführender Europaausschuss ist, um den Be-schluss dann zu fassen, wenn er notwendig ist. Dies wirdin der nächsten Sitzungswoche der Fall sein.Noch eines auf Ihre Frage, Herr Sarrazin: Die Frage,wer hier Chancen für Island verbaut, können wir in dernächsten Woche noch einmal intensiv diskutieren; dennSie als Grüne haben einen Antrag gestellt, in dem Sievon Island fordern, das angeblich absolute Walfangver-bot der Europäischen Union einzuhalten, bevor es Mit-glied in der Europäischen Union werden kann. Damitfordern Sie von Island die Einhaltung von Regeln, die esin der Europäischen Union gar nicht gibt. Dort gibt esnämlich Ausnahmen für wissenschaftliche Zwecke undzur Nutzung durch die indigene Bevölkerung. Wenn Siealso glauben, Sie setzten sich besonders für Island ein,dann schauen Sie sich doch erst einmal die rechtlichenGrundlagen der Europäischen Union an, anstatt von mit-gliedswilligen Ländern Dinge zu fordern, die wir in derEuropäischen Union selber nicht erfüllen. – Dankeschön.
In diesem Zusammenhang weise ich noch auf Folgen-des hin – das muss schon einmal gesagt werden –: Es istdoch kein Zufall, dass wir in diesem Bundestag erst seit2006 überhaupt substanzielle Mitbestimmungsrechtein europäischen Fragen haben. Ich kann Ihnen sagen,warum das so ist: weil während der Regierungszeit vonRot-Grün Schröder und Fischer kategorisch jede sub-stanzielle Mitberatungs- und Mitbestimmungsmöglich-keit des Bundestages verhindert haben.
Wenn Sie sich heute als Retter der Demokratie auf-spielen, dann sage ich Ihnen: Fassen Sie sich bitte an die
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3118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
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eigene Nase; denn wenn wir in der Großen Koalitionnicht mit nachhaltigem Druck im Koalitionsvertragdurchgesetzt hätten, dass wir substanzielle Rechte fürden Bundestag bekommen, dann gäbe es sie erst jetzt,weil wir nun eine vernünftige Koalition haben. Aber biszum vorigen Jahr hätte es sie noch nicht gegeben. Bitteseien Sie etwas zurückhaltender mit Ihren Vorwürfen.
Ich muss noch ein Thema ansprechen; ohne es anzu-sprechen, kann man nicht über den Europäischen Ratsprechen. Es geht um die Finanzhilfen an Griechenland.Ohne Zweifel befindet sich Griechenland in einer sehrschwierigen Haushaltssituation. Die Situation ist ernstund wird im Übrigen von der griechischen Regierungauch nicht beschönigt. Endlich, möchte ich sagen; dennleider mussten wir an der Verlässlichkeit griechischerZahlen in den letzten Jahren zweifeln. Wir wissen heute,dass die Zahlen viele Jahre bewusst gefälscht wurden.Das Reformprogramm der griechischen Regierung istambitioniert, aber nicht unerfüllbar. Darauf will ich aucheinmal hinweisen. Wenn ich sehe, dass das Rentenein-trittsalter in Griechenland auf 63 hochgesetzt wordenist, dann ist das gut. Aber wir sind bei 67 Jahren. Dieshaben wir nicht gemacht, weil es uns Spaß macht, son-dern deswegen, weil wir sonst die Rentenstruktur nichthinbekämen. Griechenland erhöht die Mehrwertsteuerum 2 Prozentpunkte. Das ist wichtig, um die eigenenStaatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Wir haben dieMehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, um dies zuerreichen. Das hat auch keinen Spaß gemacht, war abernotwendig. Griechenland hat das Ostergeld und dasWeihnachtsgeld für die Angestellten im öffentlichenDienst gestrichen. Die rot-grüne Bundesregierung hatdas sogenannte dreizehnte Monatsgehalt 2004 gestri-chen, übrigens ausnahmsweise ein richtiger Punkt. Wirsehen, die Reformen, die Griechenland in Angriffnimmt, sind richtig; sie müssen umgesetzt werden, undGriechenland braucht unsere Unterstützung dafür. Aberes sind durchweg Reformen, die in diesem Land sehrspät in Gang gesetzt werden und bei uns in den letztenzehn Jahren schon umgesetzt wurden. Deshalb ist eswichtig, dass Griechenland diese Arbeit in erster Liniealleine macht.
Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen: Bei dem,was wir eben nicht nur in Griechenland, sondern auch inPortugal und Spanien und anderen Mitgliedsländern se-hen, können wir, was den Stabilitäts- und Wachstums-pakt betrifft, nicht einfach weiter so machen, auch wennwir die kurzfristigen Probleme halbwegs gelöst haben.Es hat sich gezeigt, dass der Wachstums- und Stabilitäts-pakt gerade dann nicht funktioniert, wenn eine Krise be-sonders schwer ist. Deshalb müssen wir uns Gedankendarüber machen, wie wir den Stabilitäts- und Wachstums-pakt verändern und ihn krisenfester machen. Ich finde eszum Beispiel sehr richtig, dass der Europäische Ratwahrscheinlich schon heute darüber redet – ein Fachmi-nisterrat wird das umsetzen –, endlich die Kontrollbe-fugnisse von Eurostat erheblich auszuweiten. Eurostatsoll künftig die Möglichkeit haben, direkt in den Län-dern zu prüfen, ob die Zahlen, die sie öffentlich angebenoder nach Brüssel weitergeben, stimmen. Ich weiß: Rot-Grün hat das damals abgelehnt. Wir haben es damals,2004, auch abgelehnt; das war ein Fehler. Jetzt ist eswichtig, diesen Fehler so schnell wie möglich zu korri-gieren.Ich möchte noch eines sagen: Zukünftig können wirin den europäischen Verträgen, in der Euro-Gruppe nichtmehr ausschließlich auf finanzielle Sanktionen setzen.Wenn ein Land nämlich erst einmal kurz vor der Zah-lungsunfähigkeit steht, dann nützt es nicht mehr viel,Sanktionen in Form einer finanziellen Strafe zu erteilen.Wir müssen uns da etwas Intelligenteres einfallen lassen.Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die erwogen wer-den sollten. Zum einen könnte man im Rahmen einesVertragsverletzungsverfahrens wegen eines Verstoßesgegen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspak-tes die Stimmrechte eines Landes teilweise aussetzen.Darüber sollten wir nachdenken. Ich weiß, dass wir da-für die Verträge ändern müssen. Wir sollten zum anderenaber das, was ansatzweise im Lissabon-Vertrag schonangelegt ist, nämlich die Möglichkeit, Zahlungen – zumBeispiel Agrarsubventionen oder Mittel aus den Struk-turfonds – einzufrieren, ausbauen. Im Übrigen könnenschon jetzt Mittel aus dem Kohäsionsfonds eingefrorenwerden; das wurde aber noch nie gemacht.Eines möchte ich noch sagen: Ich finde es schonmerkwürdig, dass Herr Barroso, der auch schon vor fünfJahren Kommissionspräsident war, jetzt in Interviews er-klärt: Ich bin nicht schuld; ich konnte nichts machen,weil ich keine Möglichkeiten hatte.
Er sollte erklären, warum er die Möglichkeiten, die erhatte, nicht genutzt hat.Das Thema Europa wird auch in Zukunft wichtigsein. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünscheder Bundeskanzlerin für den Europäischen Rat allesGute.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den Entschließungsanträgen.Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/1191 soll überwiesen werden: zur feder-führenden Beratung an den Ausschuss für die Angele-genheiten der Europäischen Union und zur Mitberatungan den Auswärtigen Ausschuss, den Finanzausschussund den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz, den Ausschuss für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit und den Haushaltsaus-schuss. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3119
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/1170 soll zur federführenden Beratungan den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union und zur Mitberatung an den Ausschuss fürWirtschaft und Technologie überwiesen werden. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/1171 soll zur federführenden Beratungan den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union und zur Mitberatung an den AuswärtigenAusschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172. DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmungin der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDPwünschen Überweisung, und zwar zur federführendenBeratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union und zur Mitberatung an den Aus-wärtigen Ausschuss und den Finanzausschuss sowie anden Ernährungs- und den Umweltausschuss. Die Ab-stimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisunggeht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Werstimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Überweisung ist so be-schlossen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU,SPD, FDP und der Linken gegen die Stimmen der Grü-nen. Wir stimmen also heute nicht über den Entschlie-ßungsantrag ab.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDRettungsschirm für Kommunen – Strategiefür handlungsfähige Städte, Gemeinden undLandkreise– Drucksache 17/1152 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussSportausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVerbindliches Mitwirkungsrecht für Kommu-nen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfenund Verordnungen sowie im Gesetzgebungs-verfahren– Drucksache 17/1142 –Überweisungsvorschlag:Innenausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEZukunft der Kommunalfinanzen – Transpa-renz gewährleisten und Öffentlichkeit herstel-len– Drucksache 17/1143 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Innenausschussd) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteu-ergesetzes– Drucksache 17/520 –Beratung der Beschlussempfehlung und des
– Drucksache 17/869 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter AumerMartin GersterDr. Thomas Gambke
– Drucksache 17/872 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeDr. Gesine LötzschAlexander Bondee) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENUmsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zu-rücknehmen– Drucksachen 17/447, 17/869 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter AumerMartin GersterDr. Thomas GambkeÜber den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zurÄnderung des Umsatzsteuergesetzes, Tagesordnungs-punkt 5 d, werden wir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenBernd Scheelen für die SPD-Fraktion das Wort.
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3120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Im Herbst 2008 haben wir in diesem Hohen Hausden Rettungsschirm für Banken in einer sehr schnellenAktion gemeinsam aufgespannt. Er war erfolgreich undverbunden mit dem Namen des damaligen Finanzminis-ters Peer Steinbrück. Wir haben danach gemeinsam inder Großen Koalition einen Rettungsschirm für Arbeits-plätze aufgespannt, der mit dem Namen Olaf Scholz engverbunden war. Darüber hinaus haben wir zu Zeiten derGroßen Koalition gemeinsam Ansätze eines Rettungs-schirms für Kommunen beschlossen; ich erinnere an dasStichwort Konjunkturpaket II. Im Rahmen dieses Kon-junkturpaketes haben wir als Bund den Kommunen10 Milliarden Euro gegeben, damit sie vor Ort Arbeits-plätze sichern und die Wirtschaft am Laufen halten kön-nen. Das örtliche Handwerk wurde durch die Maßnah-men, die wir zur energetischen Gebäudesanierung aufden Weg gebracht haben, gefördert.Jetzt wäre es an der Zeit, über einen umfänglichenRettungsschirm für die Kommunen nachzudenken.
Eigentlich wäre es Aufgabe der Regierungskoalition,Aufgabe von Schwarz-Gelb, das Thema hier aufzuset-zen. Aber wir, die SPD-Fraktion, haben es aufgesetzt,weil wir dieses Thema für besonders wichtig erachten.Denn den Kommunen geht es schlecht.Landauf, landab wird diskutiert, wo man in kommu-nalen Haushalten einsparen kann und wie man eventuellan mehr Geld kommt. Es wird über die Schließung vonTheatern, Museen, Schwimmbädern und Ähnlichemnachgedacht. Städte wie Köln denken darüber nach, obsie eine Bettensteuer einführen.
– Ein Akt der Notwehr, Frau Kollegin Piltz, gegen dieMaßnahmen, die Sie hier schon beschlossen haben.
Es gibt Kommunen, Duisburg zum Beispiel, die da-rüber nachdenken, eine besondere Form der Gewerbe-steuer einzuführen: Sie wollen das älteste Gewerbe derWelt besteuern.Das alles sind Akte der reinen Verzweiflung, weil esden Kommunen schlecht geht und sie den Eindruck ha-ben, dass sich Schwarz-Gelb auf Bundesebene nicht umsie kümmert.
Die Kommunen leiden unter der Wirtschafts- und Fi-nanzkrise. Das gilt natürlich auch für Bund und Länder.Die Kommunen leiden zudem aber unter Schwarz-Gelb.
Sie leiden unter dem Katalog der Grausamkeiten, denSie Koalitionsvertrag nennen. Man bräuchte eineStunde, um all das aufzuzählen, was Sie den Kommunenantun wollen. „Privat vor Staat“ steht quasi über demKoalitionsvertrag. Sie wollen, dass der Staat den Kom-munen alles wegnimmt, was sie als Aufgaben sinnvol-lerweise für die Bürger erledigen, und es den Privatengibt, damit diese ihre Geschäfte machen können.Das ist nicht das, was wir wollen.
Sie wollen einen schwachen Staat. Wir wollen einenleistungsfähigen Staat und starke Kommunen. Denn inden Kommunen entscheidet sich das Schicksal der Men-schen. Vor Ort wird gelebt, gearbeitet, Kultur erlebt, ge-meinsam etwas getan. Vor Ort wird auch Politik hautnaherlebt, und vor Ort werden die Folgen von Politik unmit-telbar deutlich.Aber was macht Schwarz-Gelb? Was macht zum Bei-spiel die CDU in Nordrhein-Westfalen? Am Wochen-ende gab es einen Parteitag in Münster. Da haben sichdie Bundeskanzlerin und der Kollege Rüttgers für einenSatz feiern lassen, der sinngemäß lautete: Wir dürfen dieKommunen nicht ausbluten lassen, nur um Steuersen-kungen durchführen zu können. – Ja, richtig!
Für diesen Satz sollen die beiden auf diesem Parteitagjubelnd gefeiert worden sein.
Da kann man sich nur fragen: Leiden die Delegiertendort alle unter retrograder Amnesie?
Haben sie zum Beispiel Ihren Koalitionsvertrag nicht ge-lesen? Haben sie noch nicht mitbekommen, was Sie hierbisher getan haben, was Sie an Gesetzen beschlossen ha-ben? Sie sind jetzt fünf Monate an der Regierung. DieBilanz ist: drei Gesetze.
Das nennt man normalerweise Stillstand der Rechts-pflege.
Aber diese drei Gesetze gehen im Wesentlichen zulastender Kommunen. Als Erstes haben Sie im vorigen Jahrdie Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unter-kunft abgesenkt.
– Das ist doch völliger Unsinn, Herr Kollege; das wis-sen auch Sie. – Sie haben den Kommunen 3 Prozent-punkte – das sind 400 Millionen Euro – abgenommen,und das in einer Situation, wo die Kosten der Unterkunftin den Kommunen steigen.Spätestens jetzt muss auch Ihnen klar werden, dassder bestehende Abrechnungsmechanismus, so sinn-voll er im Einzelnen vielleicht sein mag, ein schwerwie-gendes Problem hat: Er kommt immer zwei Jahre zuspät. Den Kommunen wird jetzt Geld erstattet auf derBasis von vor zwei Jahren, als es den Kommunen gut
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Bernd Scheelen
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ging. Auf dieser Basis hatte man errechnet, sie bräuchtenweniger. Jetzt geht es ihnen aber schlecht. Das heißt, zu-mindest hier sollten Sie uns zustimmen, wenn wir sagen:Wir brauchen für die nächsten zwei Jahre eine Über-brückung, damit die Kommunen nicht prozyklisch be-straft werden. Das heißt, wenn es mit der Wirtschaft ab-wärtsgeht, bekommen sie weniger; wenn es mit derWirtschaft wieder aufwärtsgeht, dann erhalten sie mehr.Was Sie da machen, ist doch hirnrissig. Da muss eineÜberbrückung her.
– Die Kollegin Hagedorn weist zu Recht darauf hin, dassdie SPD-Fraktion einen entsprechenden Antrag in dervorigen Woche im Rahmen der Haushaltsberatungeneingebracht hat.
Wir haben beantragt, den Kommunen 400 MillionenEuro mehr für dieses und das nächste Jahr zur Verfügungzu stellen. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt. Zu denSchweinereien, die Sie hier veranstalten, sollten Sie auchstehen.
Die anderen beiden Gesetze, die Sie verabschiedet ha-ben, haben Steuergeschenke an Privilegierte zum Inhalt:an Hoteliers, an reiche Erben und an Unternehmen, dieihre Gewinne lieber im Ausland versteuern. Sie habenihnen das noch erleichtert. An den Verlusten, die alsFolge dieser Gesetze entstehen, sind die Kommunenüberproportional beteiligt: bei dem einen Gesetz mit40 Prozent, bei dem anderen mit 20 Prozent, obwohl siean den Gesamteinnahmen des Staates auf der Steuer-ebene mit nur 13 Prozent beteiligt sind. Das heißt: Siemachen konkret eine Politik gegen die Kommunen. DieKommunen leiden unter Ihnen.
Es muss Schluss sein mit Ihren weiteren Steuersen-kungsplänen. Sie müssen das, was den Kommunendurch Ihre Beschlüsse an Verlusten – sie belaufen sich inetwa auf 2,5 Milliarden Euro – entsteht, kompensieren.Die Kommunen brauchen dieses Geld; sonst können sieihre Aufgaben nicht erfüllen.
Sorgen Sie also für Kompensation für die Steuerausfälle.Hören Sie auf, Steuergeschenke zu verteilen.
Heben Sie die Beteiligung des Bundes an den Kosten derUnterkunft um 3 Prozentpunkte, um 400 MillionenEuro, an.Ganz wichtig: Lassen Sie die Finger von der Gewer-besteuer.
Das ist ein entscheidender Punkt.
Die Gewerbesteuer ist kein Thema, mit dem man dieMenschenmassen auf den Marktplätzen begeistern kann.Aber wenn man den Menschen sagt, dass die Einnahmenaus der Gewerbesteuer im Jahre 2008, als sie den höchs-ten Stand in der Nachkriegsgeschichte erreicht hatte,41 Milliarden Euro ausgemacht haben und die Sozial-ausgaben der Kommunen bei 40 Milliarden Euro liegen,dann wird ihnen klar, dass in vielen Kommunen das, wasan Gewerbesteuereinnahmen hereinkommt, für sozialeAufgaben benötigt wird. Lassen Sie deswegen die Fin-ger von der Gewerbesteuer. Das ist die wichtigste Ein-nahmequelle, die die Kommunen haben.
Im Zug der Krise sind natürlich auch die Einnahmenaus der Gewerbesteuer eingebrochen, und zwar um etwa18 Prozent – das ist schlimm genug –; aber auch die Ein-nahmen aus der Einkommensteuer sind eingebrochen,um 8 Prozent.
– Natürlich konjunkturell bedingt. – Die Einnahmen ausder Körperschaftsteuer, die Sie teilweise als Ersatz an-bieten, sind um 60 Prozent eingebrochen. Was ist dasdenn für die Kommunen für ein Ersatz, wenn sie die Ein-nahmen aus einer Steuer, die leicht konjunkturreagibelist, gegen die Einnahmen aus einer anderen Steuer tau-schen, die schwer konjunkturreagibel ist? Was Sie damachen wollen, ist doch hirnrissig.
Sie benutzen die Krise sozusagen als Alibi, um dieGewerbesteuer abzuschaffen. Insbesondere die FDPstellt sich hierhin und erklärt: Schaut doch einmal, dieEinnahmen aus der Gewerbesteuer sind eingebrochen.Eine solche Steuer muss abgeschafft werden; denn dieKommunen brauchen verlässliche Einnahmen. – DieKrise dient hier als reines Alibi.Was Sie als Ersatz anbieten, ist, die Einnahmen auseiner Steuer, die nur die Wirtschaft zahlt, durch die Ein-nahmen aus drei anderen Steuern zu ersetzen, von denennur noch eine von der Wirtschaft gezahlt wird, nämlichdie Körperschaftsteuer. Die Einnahmen aus dieser Steuerliegen manchmal bei null. Ich erinnere an das Jahr 2003:Da gab es überhaupt keine Zahlungsverpflichtungen.
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3122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Bernd Scheelen
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Die anderen beiden Steuern werden von den Menschengezahlt, nämlich die Mehrwertsteuer – von den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern – und die Einkommen-steuer, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.Das ist nicht unser Modell. Das werden wir auf keinenFall mitmachen.
Ein weiterer Punkt. Klopfen Sie bitte Ihren Ländernauf die Finger,
damit sie das Geld, das der Bund ihnen für die Kommu-nen zur Verfügung stellt, weitergeben. Stichwort „Be-treuung unter Dreijähriger“: Das Geld für die Kommu-nen, das der Bund zur Verfügung stellt, versickert in denmeisten Ländern mit einer CDU-geführten Regierung,bleibt also an den klebrigen Händen der dortigen Finanz-minister hängen.
Ein letztes Wort, und zwar zu der Einigung von letzterNacht zu den Jobcentern. Hier haben wir gemeinsameine gute Lösung gefunden. Aber diese hätten Sie schonvoriges Jahr haben können. Das hätten Sie mit uns ge-meinsam in der Großen Koalition beschließen können.Das haben Sie aus durchsichtigen Gründen nicht ge-wollt.
Ganz im Gegenteil: Sie haben in den schwarz-gelbenKoalitionsvertrag aufgenommen, dass Sie die bewährteZusammenarbeit der Jobcenter mit der Bundesagenturfür Arbeit und den Kommunen beenden wollen. Sie wol-len alles wieder auseinanderreißen. Das steht so in IhremKoalitionsvertrag. Gott sei Dank sind Sie klüger gewor-den. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass ich das gutfinde; denn jetzt können Millionen Langzeitarbeitslosenach wie vor Leistungen aus einer Hand bekommen.
Ich stelle fest, dass die Einigung im Wesentlicheneine sozialdemokratische Handschrift trägt. Wir wissen,wie man gute Politik macht. Wenn Sie gute Politik ma-chen wollen, fragen Sie uns. Wir wissen, wie es geht, Sienicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss auf den
vorherigen Tagesordnungspunkt zurückkommen. Bei der
Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1172 habe ich bei der Verle-
sung der vielen Ausschüsse, an die der Antrag überwie-
sen werden soll, den Haushaltsausschuss vergessen. Das
ist ein unverzeihlicher Fehler, den wir jetzt korrigieren
sollten. Ich bitte also um Ihre Zustimmung für die Über-
weisung des Antrags auch an den Haushaltsausschuss. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das ausdrücklich
so beschlossen.
Nun erteile ich der Kollegin Antje Tillmann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seiteiniger Zeit diskutieren wir in jeder Plenarwoche min-destens ein Mal über die Situation der Kommunen, heutesogar anhand von fünf verschiedenen Oppositionsanträ-gen. Das wäre gut und richtig, wenn wir mit dieser De-batte neue und problemlösende Ideen diskutierten; denndie Situation der Kommunen ist ernst. Leider steht inden Anträgen nichts, was nicht sowieso schon Gesetz istoder durch Bundesfinanzminister Dr. Schäuble nicht be-reits auf den Weg gebracht worden ist. Lieber KollegeScheelen, in Ihrem Antrag steht nichts, was in irgend-einer Weise gegenfinanziert ist.
Es ist kein Wunder, dass Sie Ihren Antrag genau inder Woche stellen, in der die Haushaltsberatungen vorbeisind. Alles, was Sie fordern, ist überhaupt nicht gegenfi-nanziert. Bei den Haushaltsberatungen haben Sie ver-säumt, entsprechende Anträge zu stellen.
Sie können das bei den nächsten Haushaltsberatungennachholen.Ich zähle einzeln auf: Sie fordern 1,6 Milliarden Euroals Kompensation für die Kommunen. Sie fordern, dieBeteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten um3 Prozent anzuheben. Sie fordern, bewährte Programmewie die Städtebauförderung zu verstärken. Sie fordernAltschuldenhilfe für Wohnungsunternehmen in denneuen Ländern. Sie fordern die Erweiterung der kulturel-len Projektförderung und die Unterstützung der kulturel-len Infrastruktur und, und, und. Die Umsetzung dieserForderungen macht ohne Weiteres bis zu 20 MilliardenEuro aus. Wo war Ihr entsprechender Antrag in denHaushaltsberatungen? Fehlanzeige! Sie haben sich vordieser Debatte bei den Haushaltsberatungen ganz be-wusst gedrückt, weil Sie nämlich nicht wussten, woherdieses Geld genommen werden soll.
– Herr Poß, ich freue mich immer, wenn Sie bei meinerRede anwesend sind; denn dann wird es lebhaft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3123
Antje Tillmann
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Herr Kollege Scheelen, Ihre Forderung, unseren Län-dern auf die Finger zu klopfen, sieht unsere Verfassungaufgrund unseres föderalen Staatsaufbaus nicht vor.
Machen Sie doch bitte konkrete Vorschläge, wie wir denFinanzausgleich zwischen Bund und Ländern verändernkönnen. Zu dieser Debatte sind wir mit Sicherheit bereit.Das von Ihnen gewählte Beispiel Jobcenter ist nunwirklich das schlechteste Beispiel. Es geht überhauptnicht darum, den Kommunen über viele Einzelpro-gramme – wie Sie sie fordern – immer dann Mittel zurVerfügung zu stellen, wenn wir uns dazu zwar bereit er-klären, diese Mittel aber an eine Zweckbindung ge-knüpft sind. Vielmehr geht es darum, dass die Kommu-nalparlamente freie Einnahmen brauchen, mit denen sieeigenverantwortlich Schwerpunkte in der jeweiligenKommune setzen können.
Die Entscheidung für Jobcenter zeigt, worauf es Ih-nen ankommt: Ihnen geht es darum, die Kommunen soweit wie möglich zu gängeln. Warum sonst sollte es voneiner Zweidrittelmehrheit im Kommunalparlament ab-hängen, ob sich eine Kommune entscheidet, zu optierenoder nicht? Wir haben Vertrauen in unsere kommunalpo-litischen Kollegen. Wir glauben, dass die Kommunen ei-gene Einnahmequellen brauchen, damit sie besser Ent-scheidungen treffen können.
Wir werden keineswegs die Finger davon lassen. Inder Kommission, die Finanzminister Schäuble einberu-fen hat, werden wir selbstverständlich den Finger aufjede Wunde legen, und wir werden jede Chance erörtern,die es den Kommunen ermöglicht, zukünftig über eigeneund sichere Einnahmequellen zu verfügen. Die Gewer-besteuer ist sehr konjunkturabhängig. Ich habe nicht ge-hört, welche Einnahmequelle Sie den Kommunen anbie-ten, die eine Alternative zu den Einnahmen aus derGewerbesteuer ist – abgesehen von Einzelprogrammen,bei denen wir als Bundestagsabgeordnete mit darüberentscheiden, was die Kommunen mit ihren Mitteln ma-chen.
– Sie können sich jetzt beruhigen!Neben den SPD-Anträgen gibt es auch Anträge derLinken. Diese fordern zum Beispiel ein verbindlichesMitwirkungsrecht der Kommunen. Sie kritisieren, dassdie institutionelle Garantie der Kommunen, verankert inArt. 28 des Grundgesetzes, nicht dazu führe, dass Kom-munen Debatten, die sie betreffen, mitgestalten dürften.Das ist völlig daneben. Selbstverständlich sieht dieserArtikel vor, dass die Kommunen gefragt werden, wennes um ihre Einnahmesituation geht. Das ist übrigens eineganz alte Tradition in diesem Haus.Sowohl in der Gemeinsamen Geschäftsordnung derBundesministerien als auch der Geschäftsordnung desDeutschen Bundestags sind das Beratungsrecht und dieFragepflicht der Kommunen ausdrücklich vorgesehen.Ich zitiere § 41 der Gemeinsamen Geschäftsordnung derBundesministerien:Zur Vorbereitung von Gesetzesvorlagen, die Be-lange der Länder oder der Kommunen berühren,soll vor Abfassung eines Entwurfs die Auffassungder Länder und der auf Bundesebene bestehendenkommunalen Spitzenverbände eingeholt werden.Was Sie fordern, ist also längst Tatsache. Das bewährtsich in der Praxis. Ob Sie die Unternehmensteuerreform,das Zukunftsinvestitionsgesetz oder die Föderalismus-kommission nehmen: Sie können selbstverständlich injedem Protokoll der Anhörungen sachkundige Äußerun-gen der kommunalen Spitzenverbände lesen. In die Be-schlüsse der Föderalismuskommission haben wir dieForderung der kommunalen Spitzenverbände, dass eskünftig keine Bundesaufgabe mehr gibt, die den Kom-munen direkt übertragen wird, sogar eins zu eins aufge-nommen. Es gibt also unendlich viele Beispiele, die zei-gen, dass diese Zusammenarbeit hervorragend ist.
Ich bin sicher – das ist Auftrag der Regierungskom-mission von Herrn Finanzminister Dr. Schäuble –, dassdiese Frage in der Kommission überprüft wird, dassnoch einmal überlegt wird, wie man kommunale Ver-bände noch besser in zusätzliche Entscheidungen einbe-ziehen kann.Nur eine Randbemerkung: Ihnen ist aufgefallen, dassin der Kommunalkommission der Bundesregierung diekommunalen Spitzenverbände mit Herrn ChristianSchramm und Herrn Jörg Duppré vertreten sind, wirBundestagsabgeordnete aber nicht.
Ich sehe nicht, dass die kommunalen Spitzenverbändenicht in dem erforderlichen Umfang auch in diese Kom-mission eingebunden sind, sodass ich glaube, dass dieserAntrag in dem Punkt völlig überflüssig ist.
Als reine Zeitverschwendung würde ich, liebe Kolle-gen von der Linken, Ihren Antrag „Zukunft der Kommu-nalfinanzen – Transparenz gewährleisten und Öffentlich-keit herstellen“ bewerten. Sie fordern, eine breite undergebnisoffene Debatte über Chancen der dauerhaft sta-bilen Einnahmesituation der Kommunen zu führen. Seit20 Jahren tun wir nichts anderes, als darüber zu diskutie-ren, ob es richtig ist, den Kommunen eine Einnahme-quelle neben der Gewerbesteuer und der Grundsteuer zuermöglichen. Diese Diskussion wird immer dann beson-ders laut, wenn die Gewerbesteuer nicht so gut fließt wiein guten Jahren, also wie es jetzt der Fall ist.
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3124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Antje Tillmann
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Dass diese Diskussion ergebnisoffen geführt wird, kön-nen Sie daran erkennen, dass wir in den letzten 20 Jahrenkeine Lösung gefunden haben.
Deshalb wäre mir sehr viel lieber, wir führten sie ein bis-schen weniger ergebnisoffen und dafür ein bisschen er-gebnisorientierter. Das werden wir tun, und das wirdauch die Gemeindefinanzkommission tun.
Sie fordern weiter, dass Vorschläge, die bisher vonkommunalen Vertretungen, Wahlbeamten, Gewerkschaf-ten und Wissenschaftlern gemacht wurden, in die Dis-kussion dieser Kommission einfließen. Entschuldigung,worum geht es denn sonst in dieser Kommission, außerüber die Modelle, die auf dem Tisch liegen, zu diskutie-ren und gemeinsam mit den kommunalen Spitzenver-bänden eine Lösung zu suchen?Sie fordern in demselben Antrag auch, dass die Re-gierungskommission regelmäßig über den Stand der Ar-beit öffentlich Bericht erstattet. Der federführende Aus-schuss ist gestern informiert worden, und ich bin sicher,dass er in den nächsten Monaten immer wieder infor-miert wird. Wie die Kommission es schaffen sollte, völ-lig geheim die Gewerbesteuer abzuschaffen, auszuwei-ten oder eine sonstige Kommunalsteuer einzuführen, istmir nicht klar. Also, die Öffentlichkeit wird selbstver-ständlich hergestellt. Ihres Antrags bedarf es deshalbnicht.Ich schlage vor, wir lassen die Kommission erst ein-mal arbeiten. Dann hat sie auch etwas zu berichten. Ichbin sicher, dass Finanzminister Schäuble seine Zusage,die er uns gegeben hat, nämlich über die Informationenzeitnah mit uns zu diskutieren, einhalten wird. Wir wer-den gemeinsam mit den Städten und Gemeinden eineLösung für das Problem der nicht vorhandenen Versteti-gung der Einnahmen finden. Selbstverständlich geht dasnicht gegen die kommunalen Verbände. Wir werden ge-meinsam nach einer Lösung suchen, und die Kommunenwerden eigenständig über eigene, konjunkturunabhän-gige Einnahmen beraten. Zu der Diskussion darüber ladeich Sie ein, und darauf freue ich mich.Danke schön.
Das Wort hat nun Gesine Lötzsch für die Fraktion Die
Linke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die schwäbische Stadt Nürtingenhat für dieses Jahr ihren Bürgern angekündigt, dass dieElternbeiträge für den Hort um 5 Prozent, für die Ferien-betreuung um 12 Prozent und für die Musikschulen um5 Prozent steigen werden. Die Stadt Wuppertal denkt da-rüber nach, das Schauspielhaus, Schulen und Bäder zuschließen.
Ich finde, das sind unhaltbare Zustände für eines derreichsten Länder der Erde.
Im Jahr 2009 fehlten den Kommunen 7,1 MilliardenEuro, und im Jahre 2010 werden es wohl 12 MilliardenEuro sein. Die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat wieimmer Verständnis für die Lage der Kommunen geäu-ßert. Verständnis ist immer gut. Doch woher soll dasGeld für die Kommunen kommen? Diese Frage muss be-antwortet werden.Nun plant die Bundesregierung eine Bankenabgabe.Das hört sich erst einmal gut an. Doch diese Bankenab-gabe soll lediglich 1 Milliarde Euro einbringen; das istlächerlich. Diese 1 Milliarde Euro ist nicht einmal fürdie Kommunen gedacht. Sie, meine Damen und Herrenvon der Bundesregierung, wollen nur die Banken vor dernächsten Krise schützen, nicht etwa die Kommunen unddie Bürgerinnen und Bürger. Für sie gibt es keinenSchutz, weder in der jetzigen Krise noch vor zukünftigenKrisen. Das müssen wir ändern.
Schauen wir in die Zukunft.
Ab dem Jahr 2011 wird Finanzminister Schäuble das Vo-lumen des Bundeshaushalts jedes Jahr um 10 MilliardenEuro kürzen müssen, um die Schuldenbremse, die imGrundgesetz festgeschrieben wurde, einzuhalten. Wie erdas machen will, hat er uns bisher nicht verraten.
Klar ist nur, dass angesichts der Schuldenbremse für dieUnterstützung der Kommunen kein Spielraum mehr seinwird. Im Gegenteil: Er wird die Kommunen mit denAuswirkungen der Gesetze allein lassen, wie es dieKommunen seit Jahren erleben. Dieser Zustand mussendlich beendet werden.
Aber das ist noch nicht alles. Die Koalition hat vor al-len Dingen auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertragfestgeschrieben, dass weitere Steuersenkungen von24 Milliarden Euro beschlossen werden sollen. Damitwollen Sie den Kommunen noch mehr Geld entziehen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es war ein schwerer Fehler,die Banken an der Finanzierung der Kosten, die im Rah-men der Krise angefallen sind, nicht zu beteiligen. Es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3125
Dr. Gesine Lötzsch
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war ein schwerer Fehler, Bund, Länder und Gemeindenmit einer Schuldenbremse zu knebeln. Es war ein weite-rer schwerer Fehler, in dieser Situation weitere Steuerge-schenke zu versprechen. Das ist die falsche Politik.
Eine Politik der Deregulierung der Märkte, der Privati-sierung öffentlichen Eigentums und der Zerstörung desArbeitsmarktes blutet die Kommunen aus.Wenn ich die Anträge der anderen Fraktionen lese,dann habe ich häufig den Eindruck, dass man dort denkt,die Finanz- und Wirtschaftskrise sei vom Himmel gefal-len bzw. habe uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel ge-troffen und die Welt sei vorher in Ordnung gewesen.Doch die Welt war auch vorher nicht in Ordnung. DieRegierungen Kohl, Schröder und Merkel haben dazubeigetragen, dass die Haushaltsnotlage der Kommunenimmer größer wurde.Ich kann es Ihnen, meine Damen und Herren von derSPD, nicht ersparen: Ihr Antrag ist zwar gut gemeint;doch es kommt nicht zum Ausdruck, wie Sie das struktu-relle Defizit von 12 Milliarden Euro jährlich beseitigenwollen. In Ihrem Antrag wird das Problem nicht an derWurzel gepackt. Das Problem ist die Agenda 2010, ins-besondere Hartz IV. Dies hat nämlich dazu geführt, dassdie Kommunen über 40 Milliarden Euro für sozialeLeistungen aufbringen müssen. Das können die Kom-munen nicht schultern; das wissen Sie genau.
Dies war die falsche Entscheidung. Die Agenda 2010und Hartz IV müssen abgewickelt werden.
Wenn das SPD-Präsidium nun vor der Wahl in Nord-rhein-Westfalen einen Rettungsschirm für die Kommu-nen beschließt, dann ist das gut. Aber Sie müssen natür-lich ganz genau erklären, wie Sie ihn finanzieren wollen;denn wir können nicht noch einmal einen Rettungs-schirm in Höhe von 480 Milliarden Euro aufspannen. Soviel Geld ist wirklich nicht vorhanden. Wir können denKommunen nur helfen, wenn die Kräfte der Vernunft indiesem Haus bereit sind, über die Stabilisierung der Ein-nahmen zu reden. Bundespräsident Horst Köhler habenwir erfreulicherweise schon auf unserer Seite. Er hatnämlich erklärt, es gebe keinen Spielraum für Steuersen-kungen. Ich finde, da Sie sich so gerne auf den Bundes-präsidenten berufen, sollten Sie diese Aussage von ihmernst nehmen.
Um die aktuellen und langfristigen Probleme in unse-rem Land zu lösen, müssen wir endlich diejenigen zurKasse bitten, die uns die Krise eingebrockt haben, an derKrise verdient haben und jetzt schon wieder im Kasinozocken. Wir von der Linken wollen Mehreinnahmen.Mit diesen Mehreinnahmen wollen wir eine stabile Fi-nanzausstattung der Kommunen schaffen und dieselangfristig sichern. Denn das Leben in den Kommunenist konkret: Es geht um Schulen, es geht um Schwimm-bäder, es geht um Bibliotheken, es geht um Theater. Ichkann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein reiches Landwie Deutschland auf all dies verzichten bzw. die kultu-relle Landschaft ausdünnen will.Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag enthältviele Forderungen, die wir von der Linken mittragenkönnen. Doch der Schirm, den Sie konzipiert haben, istleider ein bisschen zu klein. Wir brauchen einen wirklichverlässlichen Rettungsschirm für die Kommunen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LassenSie mich nach diesem Rundumschlag über die allge-meine Steuer- und Verteilungspolitik zum Thema kom-munale Finanzen zurückkehren.
Am Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundes-amt die aktuellen Zahlen zur Finanzsituation der Städteund Gemeinden vorgelegt. Die Finanzlage der Kommu-nen ist noch ernster als erwartet. Im Jahr 2009 klaffte inden Kassen der Kommunen ein Finanzloch in Höhe von7,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr sind dieEinnahmen im Krisenjahr um rund 2,7 Prozent eingebro-chen – die Konjunktur ist übrigens um 5 Prozent einge-brochen –; die Ausgaben der Kommunen stiegen dage-gen um 6 Prozent. Das macht deutlich: Wir haben einEinnahmeproblem und ein noch wesentlich größeresAusgabenproblem.Verursacht wurde dieses Problem einerseits durch denEinbruch der Gewerbesteuer – bundesweit um 18,4 Pro-zent, in einzelnen Kommunen um bis zu 40 Prozent –und andererseits durch die Explosion der Sozialausga-ben.
Diese stiegen um 4,9 Prozent auf insgesamt 40,3 Milliar-den Euro. Laufende Ausgaben müssen zunehmend überKassenkredite finanziert werden. Es ist richtig: Dadurchwerden die notwendigen Gestaltungsspielräume der ver-fassungsrechtlich geschützten kommunalen Selbstver-waltung immer geringer.
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3126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Dr. Birgit Reinemund
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Lassen Sie mich von diesen pauschalen Zahlen abse-hen; denn die Lage der einzelnen Kommunen stellt sichrecht unterschiedlich dar: Neben schuldenfreien Kom-munen gibt es solche mit einer Pro-Kopf-Verschuldungvon über 2 000 Euro, und das über alle Gemeindetypen,Gemeindegrößen und Regionen hinweg. Das heißt, man-che Kommune muss sich fragen lassen, inwieweit siekonsequent Ausgaben- und Aufgabenkritik betreibt.
Gleichzeitig gibt es durchaus positive Beispiele: Kom-munen, die trotz aller Widrigkeiten ihren Haushalt kon-solidieren konnten, zum Beispiel Dresden und Düssel-dorf. Die Analyse dieser Best-practice-Beispiele wäresicherlich lohnenswert.
Es besteht Konsens, dass die Kommunen eine solide,verlässlichere finanzielle Basis brauchen. Darunter ver-stehen wir allerdings keine plakativen Worthülsen. Wirstreben möglichst schnell eine nachhaltige und tragfä-hige Lösung an. „Solide“ bedeutet: verlässlich, konjunk-turunabhängig und weniger schwankungsanfällig auf derEinnahmeseite.Genauso wichtig ist es, die Ausgabenseite zu betrach-ten. In diesem Zusammenhang sollten wir überprüfen,ob die Zuweisungsschlüssel im Rahmen des kommuna-len Finanzausgleichs die Veränderungen der Bevölke-rungsstrukturen noch ausreichend abbilden.
Am 4. März hat die Regierungskommission, die sichmit diesen Themenkomplexen befasst, ihre Arbeit aufge-nommen. Staatssekretär Koschyk hat diese Woche im Fi-nanzausschuss bestätigt, dass alle Beteiligten zu einervorurteilsfreien und zielorientierten Zusammenarbeit be-reit sind. Das ist schon einmal ein guter Ausgangspunkt.
Drei Arbeitsgruppen werden sich mit den Themenkommunale Steuern, Standards und Rechtsetzung be-schäftigen. Damit sind die Weichen gestellt. Die vonSPD und Linken geforderte Transparenz und Beteili-gung der Kommunen sind durch die Mitwirkung derkommunalen Spitzenverbände seit Jahren längst gewähr-leistet.
Noch vor der Sommerpause wird es einen Zwischenbe-richt geben, und bis zum Herbst soll das Konzept stehen.Dieser Zeitplan ist sehr ambitioniert, realistisch unddringend notwendig.Die kurzfristigen Hauruck-Aktionen, die die SPD inihrem Antrag vorschlägt, verpuffen, wenn die strukturel-len Defizite nicht behoben werden. Wie fair und solida-risch ist es denn, schlecht wirtschaftenden Kommunenfinanziell unter die Arme zu greifen und die, die sichschmerzhaft konsolidieren, links liegen zu lassen?
Wir werden die Grundstrukturen des Systems verbes-sern. Sie doktern an den Symptomen herum.
Das ist populistisch und erzielt keine nachhaltige Wir-kung. Als kurzfristige Maßnahmen gab es die Konjunk-turpakete und die – seit langem höchsten – Zuweisungenan Kommunen. Wie Sie selbst erkannt haben, basierendie Finanzprobleme der Kommunen in erster Linie aufden strukturellen Fehlentwicklungen der letzten Jahre.Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass es die SPD war,die die letzten elf Jahre den Finanzminister gestellt hat
und die Kommunen jahrelang im Regen stehen ließ. DieKommunen leiden nicht unter Schwarz-Gelb, sie leidenan den Folgen von Rot-Grün.
Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag, und zwardurchaus richtig, die strukturelle Unterfinanzierung derKommunen und fordern, dass diese durch mittelfristigeund langfristige Maßnahmen beseitigt werden. Da sindwir ganz auf einer Linie. Dann stellen Sie fest, dass derUmfang der kommunalen Aufgaben und Ausgaben unddie zur Verfügung stehenden Einnahmen in Einklang ge-bracht werden müssen. Auch das ist absolut richtig.Doch ist der vorwurfsvolle Ton nicht ziemlich heuchle-risch? Es war schließlich die rot-grüne Regierung, dieden Kommunen mit der fortlaufenden Übertragung vonAufgaben finanziell die Luft abgeschnürt hat,
zum Beispiel mit dem Gesetz zum Krippenausbau ohnegleichzeitige Kostenübernahme
und mit dem Gesetz zu den Kosten der Unterkunft fürHartz-IV-Empfänger.
– Das habe ich sehr wohl nachgelesen, Herr Binding. –Soll Ihr gegenwärtiger Aktionismus eventuell die FehlerIhrer eigenen Regierungszeit kaschieren?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3127
Dr. Birgit Reinemund
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Das müssen Sie nicht tun. Wir gehen die Themen jetztan.
Strukturelle Probleme müssen mit Strukturreformengelöst werden. Ich lade Sie ein, konstruktiv, vorurteils-frei und offen mitzuarbeiten. Diskussionsgrundlage,auch der Kommission, ist die im Koalitionsvertrag ver-einbarte Strukturreform. Die in höchstem Maße kon-junkturabhängige Gewerbesteuer soll aufkommensneu-tral ersetzt werden durch eine stabile, verlässlichereEinnahmequelle, durch einen höheren Anteil an der Um-satzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Ein-kommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen He-besatzrecht für die Kommunen. Wir diskutierenergebnisoffen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Britta Haßelmann für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! MeinGott, Frau Reinemund, um Ihre Vorstellung von derkommunalen Wirklichkeit sind Sie wirklich nicht zu be-neiden. Ich rate Ihnen: Fahren Sie einfach einmal nachNordrhein-Westfalen und unterhalten Sie sich mit denMenschen, die in den Kommunen Politik machen.
In Ihrer Wirklichkeit kommt Kommunalpolitik nicht vor.Ihre latente Botschaft war: Es gibt Kommunen, diehaben es geschafft, die haben sich aus eigener Kraft sa-niert,
und es gibt welche, die haben das nicht getan, die habensich anscheinend nicht genug angestrengt. Meinen Sie,den Kommunen eine solche Botschaft übermitteln zumüssen? In den Kommunen gibt es 35 Milliarden EuroKassenkredite. 15 Milliarden Euro davon gibt es alleinin Nordrhein-Westfalen. Ich rate wirklich niemandem indiesem Haus, eine Botschaft nach dem Motto: „Wisstihr, ihr habt einfach nur eine falsche Politik vor Ort ge-macht, und daran liegt das Wohl und Wehe der Kommu-nen“ zu propagieren.
Ich finde das ungeheuerlich.
Vermitteln Sie das einmal Leuten, die jeden Tag Kom-munalpolitik machen, und das auch noch ehrenamtlich.
Genauso unangenehm fällt eine Bemerkung derKanzlerin auf. In Wahlkampfreden sagt sie dauernd – inNordrhein-Westfalen tritt sie zurzeit besonders häufigauf;
ob das hilft, sei einmal dahingestellt; der CDU geht es jaschlecht;
das wissen die CDUler hier vorne selber –: Wir müssenjetzt etwas für die Kommunen tun. Letzte Woche sagtesie noch, die Menschen müssten Spaß an Kommunalpo-litik haben.
Wie wahr, Frau Merkel. Nur, dann muss man hier in Ber-lin endlich einmal mit der kommunenfeindlichen Politikaufhören. Herr Dautzenberg, das wissen Sie doch ganzgenau.
Frau Reinemund, auch wenn Sie erst seit Beginn die-ser Legislaturperiode dabei sind: Es ist eine Mär, dassdie Situation, die heute in den Städten und Gemeindenherrscht, das Resultat von rot-grüner Politik ist. WissenSie eigentlich, wie lange hier schon eine andere Regie-rung existiert, wie lange in Nordrhein-WestfalenSchwarz-Gelb regiert und wie viele Klageverfahren dieKommunen dort gerade gegen diese schwarz-gelbe Lan-desregierung anstreben?
Ich glaube, Sie wissen es nicht. Aber ich will mich nichtzu lange damit aufhalten.Vielleicht nenne ich Ihnen einfach einmal ein paarFakten. Mindereinnahmen für die Kommunen seitEnde 2008 durch Bundesbeschlüsse – –
– Seien Sie doch erst einmal ganz ruhig. Das waren Bun-desbeschlüsse. Da haben Sie von der CDU mitregiert.Da können Sie nicht sagen: Rot-Grün war es!Mindereinnahmen für die Kommunen seit Ende2008 – da gab es noch Schwarz-Rot – durch Bundesbe-schlüsse: Die Mindereinnahmen durch die Konjunktur-
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Britta Haßelmann
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pakete I und II – sie brachten 10 Milliarden Euro zusätz-lich für die Kommunen für zwei Jahre; was haben wiruns alle auf die Schultern geklopft – betrugen 2,5 Mil-liarden Euro.
Bürgerentlastungsgesetz: 1,7 Milliarden Euro Minder-einnahmen.
Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz:1,6 Milliarden Euro Mindereinnahmen; dies wurde jetztunter Schwarz-Gelb beschlossen. Über die Änderungsteuerlicher Regelungen bei Funktionsverlagerungenwird ja Ende der Woche im Bundesrat entschieden.Jürgen Rüttgers reißt gerade den Mund ganz weit auf
nach dem Motto, er stimme keinem einzigen Gesetzmehr zu, das negative Auswirkungen, sprich Steuersen-kungen, für die Kommunen bedeutet. Am Freitag wer-den wir einmal sehen, wie Jürgen Rüttgers im Bundesratabstimmt.
Besteuerung von Funktionsverlagerungen: 0,65 Milliar-den Euro weniger für die Kommunen.
Sie wissen das alles. Das ergibt unter dem Strich – ichsage das für die, die nicht so schnell mitgerechnet haben –knapp 6,5 Milliarden Euro Mindereinnahmen seit Ende2008 nur durch Bundesbeschlüsse.Wie sollen die Städte und Gemeinden das verkraften?Erklären Sie uns das doch einmal!
Denn zu diesen Steuerbeschlüssen kommen noch diewahnsinnigen Auswirkungen der Krise und der aktuellenkonjunkturellen Situation. Die aktuellen Zahlen liegenvor: 14,8 Milliarden Euro weniger für die Kommunen;das ist Fakt. Wir haben bei den Gewerbesteuereinnah-men Einbrüche von 19,7 Prozent und bei den Steuern einMinus von 11,4 Prozent.
Kommen Sie doch hier nicht mit typischen Erklärungs-mustern wie „man werde schon helfen“ und „es werdeschon besser werden“, wenn die Kommunen Kritik ander Aufgabenzuweisung äußern. Wir müssen hier imBundestag systematisch auf Steuersenkungen verzich-ten. Geben Sie doch endlich einmal eine Garantie dafürab, dass Sie davon absehen, Ihre Steuersenkungspläneweiter zu verfolgen; denn Sie schaden den Kommunen.
Erklären Sie den Menschen doch einmal, wie Sie dieGewerbesteuer ersetzen wollen. Die Einnahmen durchdie Gewerbesteuer betragen 35 Milliarden Euro.
– In der Spitze, Herr Dautzenberg, okay. Aber Sie spre-chen doch dauernd vom Wachstum und sagen, dass esbesser wird.
Wenn Sie auf diese 35 Milliarden Euro verzichtenwollen,
was Sie ja anscheinend planen – die FDP erklärt dochdreimal pro Woche, sie wolle die Gewerbesteuer ab-schaffen –,
dann sagen Sie doch einmal, wer diese 35 MilliardenEuro dann zahlen soll.
Wenn die Kommunen dies über ihre Anteile an der Kör-perschaftsteuer, der Einkommensteuer, der Mehrwert-steuer und der Umsatzsteuer ausgleichen, bedeutet das,meine Damen und Herren – ich sage das auch an dieMenschen, die heute der Debatte zuhören –, dass nichtmehr die Unternehmen vor Ort durch die Gewerbesteuerin die Verantwortung genommen werden,
um auch ihren Beitrag zur Daseinsvorsorge zu leisten,sondern dass die Bürgerinnen und Bürger in die Haftunggenommen werden.
Das ist Fakt, wenn wir uns von der Gewerbesteuer ver-abschieden und eine Verlagerung in Richtung Einkom-mensteuer vornehmen. Körperschaftsteuer betrifft auchUnternehmen; darüber können wir gerne diskutieren.Aber eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuer-und Umsatzsteueranteile zahlen – das wissen Sie ganzgenau – am Ende die Bürgerinnen und Bürger. Deshalbstehen Sie in der Frage schlecht da.
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Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dautzenberg?
Ja, natürlich, Herr Dautzenberg.
Frau Kollegin Haßelmann, konstatieren Sie und stim-
men Sie mir zu, dass die Gewerbesteuer durch einen be-
trieblichen Teil der Einkommensteuer ersetzt wird und
dass die Körperschaftsteuer der klassische Teil der Un-
ternehmensbesteuerung ist?
Herr Dautzenberg, wir beide wissen sehr genau, wie
die Gewerbesteuer funktioniert. Deshalb glaube ich
auch, dass Sie wissen, dass die Pläne der FDP, die Ge-
werbesteuer komplett abzuschaffen, problematisch sind.
Ich weiß, dass Sie persönlich immer „ersetzen“ sagen.
Aber Ihre Koalition sagt: Wir schaffen das Ganze ab. Da
liegt der Unterschied. Wir beide wissen genau, wie es
funktioniert.
Ich sage Ihnen: Sie dürfen die Unternehmen nicht aus
der Verantwortung für die Daseinsvorsorge ihrer Stadt
und Gemeinde – sie müssen hier Verantwortung zeigen –
entlassen.
Herr Dautzenberg, möchten Sie eine zweite Frage
stellen?
Lassen Sie, Frau Haßelmann, eine zweite Frage zu?
Ich glaube, ich habe auf Ihre Frage hinreichend geant-
wortet.
Die Detailprobleme im Hinblick auf die Gewerbesteuer
werden wir in meinem Redebeitrag von noch einer Mi-
nute nicht lösen.
Ich muss korrigieren: Sie haben noch eine halbe Mi-
nute, wie Ihnen auch angezeigt wird.
Okay, gut.
Wir werden die Debatte über die Gewerbesteuer fort-
setzen.
– Nein. Wir wissen doch ganz genau, wovon die Rede
ist.
Sie arbeiten mit verteilten Rollen. Jürgen Rüttgers er-
klärt überall in Nordrhein-Westfalen: Es gibt keine wei-
teren Steuersenkungen zulasten der Kommunen, und die
Gewerbesteuer bleibt bestehen.
Gleichzeitig planen Sie hier etwas ganz anderes. Sie
wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Sie machen sich
aber einen schlanken Fuß,
indem Sie die Diskussion in die Kommission verlagern.
Sie wollen am liebsten außerhalb des Parlaments, näm-
lich in der Kommission, darüber diskutieren.
Wir werden erst beteiligt, wenn das Ganze beschlossen
ist. Dann darf auch das Parlament etwas dazu sagen.
Jetzt möchte ich noch einen Satz an die SPD richten.
Ich freue mich, dass Sie, wie auch wir, eine Weiterent-
wicklung der Gewerbesteuer wollen, zum Beispiel
durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
An dieser Stelle sage ich Ihnen: Für einen Teil der Steu-
erbeschlüsse tragen, wie ich gerade ausgeführt habe,
auch Sie Verantwortung.
Mich ärgert, dass Sie sich einen schlanken Fuß gemacht
haben, als wir in der letzten Woche im Bundestag über
die Kosten der Unterkunft gestritten haben.
Kollegin Haßelmann, das ist ein sehr langer letzterSatz.
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Ich komme zum Ende. – Wir haben ganz klar gesagt:
Die Kosten der Unterkunft müssen sich an den tatsächli-
chen Kosten orientieren; denn sonst zahlen die Städte
und Gemeinden die Zeche. Wir haben einen entspre-
chenden Antrag eingebracht, den Sie abgelehnt haben.
Eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte reicht an dieser
Stelle nicht aus.
Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer Fraktion.
Das wissen Sie.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wirmussten den größten Wirtschaftseinbruch seit den 30er-Jahren hinnehmen. 2009 sackte das Bruttoinlandspro-dukt in Deutschland um 5 Prozent ab. 2010 ist nur miteiner leichten Erholung auf niedrigem Niveau zu rech-nen. Die schwerste und gefährlichste Wirtschafts- undFinanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg schlägt auf alleGebietskörperschaften durch. Wir stehen vor einer Her-kulesaufgabe. Die Folgen der Finanzmarkt- und Wirt-schaftskrise, unter anderem die daraus resultierenden ge-waltigen Einnahmeeinbrüche der Kommunen, müssenwir möglichst schnell beseitigen.Dazu gibt es, wie diese Debatte zeigt, unterschiedli-che Ansätze. Wir wollen Finanzmarktstabilität, Wachs-tum und Konsolidierung. Das ist unser Ziel. Wir müssennatürlich zunächst einmal über die Ausgangslage reden:Wie sah die Ausgangslage aus? 2008 hatten wir nochhervorragende Verhältnisse. Die Kommunen verzeichne-ten einen Überschuss in Höhe von 7,7 Milliarden Euro;
das ist eine Tatsache.
2009 sanken die Steuereinnahmen auf 62,4 MilliardenEuro. Das war ein Rückgang gegenüber dem Vorjahres-betrag um 11,4 Prozent. Letzten Endes wurde durchdiese Entwicklung, die eindeutig mit der Finanzmarkt-und Wirtschaftskrise zu tun hat, ein großes Loch in dieHaushalte der Kommunen gerissen. Heute beträgt dasDefizit 7,1 Milliarden Euro. Das ist die Ausgangslage,die den akuten Handlungsbedarf aufzeigt.Das kommunale Handeln ist aufgrund der Finanzkrisezweifellos stark eingeschränkt. Die Situation der Kom-munen muss stabilisiert werden. Der politisch motivierteVersuch der Opposition, diese Probleme der heutigenBundesregierung anzulasten, ist jedoch unglaubwürdig,sachlich falsch und nicht zielführend.
Ihre Polemik, meine Damen und Herren, hilft unserenKommunen nicht. Nur Reformfähigkeit, Wirtschaftsför-derung und Entlastung helfen unseren Kommunen. Dasist der richtige Rettungsschirm, nicht aber Steuererhö-hungen, Mangelverwaltung und was Sie sonst noch aufIhrer Agenda haben. Wir wollen unseren Kommunenkonkret helfen, und zwar durch Finanzmarktstabilität,Konsolidierung und Wachstumsentwicklung.
Die Sicherung der Kommunalfinanzen ist für uns einwichtiges Anliegen. Die Bekämpfung der Auswirkungender Wirtschaftskrise auf die Kommunen wird offensivangegangen.
Wir haben das Konjunkturpaket II geschnürt. Es istein Erfolgsmodell. Maßnahmen im Umfang von 8,3 Mil-liarden Euro wurden in die Wege geleitet. Ich verstehenicht, dass es Länder in dieser Republik gibt – insbeson-dere die, die von Ihnen regiert werden –, die das Zusätz-lichkeitskriterium im Zukunftsinvestitionsgesetz aufwei-chen wollen. Das ist kontraproduktiv. Wir wollen keineFörderung mit der Gießkanne, sondern das Gegenteil:eine gezielte Förderung der Kommunen.
Wir haben die Einsetzung einer Gemeindefinanz-kommission beschlossen.
Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie dieUmsetzung des Koalitionsvertrages jetzt schon konkretangegangen ist. Herr Bundesfinanzminister, die Einset-zung einer Kommission zur Erarbeitung von Vorschlä-gen zur Verbesserung der Gemeindefinanzen ist in derjetzigen Zeit der richtige Weg. Dafür sind wir dankbar.Die Kommission wird auf der Basis einer Bestandsauf-nahme Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinan-zierung erarbeiten und bewerten. Im Rahmen dieser Be-standsaufnahme soll es auch um die Frage derGewerbesteuer sowie um die Frage der anderen Finanz-beziehungen zwischen Wirtschaft und Kommunen ge-hen.
Wir wollen ein stabiles Band zwischen Wirtschaft undKommunen. Wir wollen dieses Wellental bei der Gewer-besteuer nicht mehr. Wir wollen eine Verstetigung der
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Dr. h. c. Hans Michelbach
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Einnahmen der Kommunen. Das ist ein wesentlicherPunkt.Wir wollen deutlich machen, dass in einer Finanzver-fassung, wie wir sie haben, nicht nur im Falle von Steuer-mehreinnahmen, sondern auch im Falle von Steuermin-dereinnahmen alle Gebietskörperschaften beteiligt sind.Anders geht es nicht. Wir können doch keinen Verschie-bebahnhof organisieren. Das wäre völlig falsch.
Wir betreiben in dieser Frage eine konsequente undfachlich klare Haushalts- und Steuerpolitik gemäß unse-rer Finanzverfassung. Wenn Sie die Einnahmeseite stär-ken wollen, dann müssen Sie Leistungsanreize setzen.Diese Anreize setzen wir durch unsere steuerpolitischenMaßnahmen. Für die Kommunen bedeutet das zukünftigMehreinnahmen.
Es handelt sich dabei nicht um Steuergeschenke. Sub-stanzbesteuerung ist kontraproduktiv. Das, was wir imWachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben, istfür die Kommunen hilfreich.
Wir haben zum Beispiel die Verlustnutzung bei Sanie-rungen von Betrieben zugunsten des Erhalts von Betrie-ben und Arbeitsplätzen erst wieder möglich gemacht.Was nützt es unseren Kommunen, wenn die Betriebe vorOrt vor die Hunde und Arbeitsplätze verloren gehen? Esdarf keine Substanzbesteuerung geben.
Diese Korrektur war absolut zielführend für unsereKommunen. Das gilt auch für die Zinsschrankenände-rung und die Funktionsförderung in der Forschung. Dasalles sind ganz gezielte Maßnahmen, die uns in unsererAufgabe, die Kommunen zu stabilisieren und zu stärken,voranbringen.
Ganz fatal ist es, wenn Sie ausgerechnet die Förde-rung von Familien sowie Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern, also das Kindergeld und die Tarifentlas-tung, geißeln. Das ist doch eine verkehrte Welt. Auchdurch den Konsum entstehen Mehreinnahmen bei denKommunen.
Deswegen sage ich: Sie haben mit diesen Einnahmeaus-fällen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro für die Kommu-nen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Teu-fel an die Wand gemalt. Die Tatsachen sehen nämlichganz anders aus. Wir haben ein klares Konzept fürWachstum, Finanzmarktstabilität, Entlastung und Förde-rung der Kommunen. Das sind die richtigen Rettungs-schirme, und sie werden uns zum Erfolg führen. Deswe-gen sind Ihre Anträge für die Kommunen absolutkontraproduktiv. Wir haben ein klares ökonomischesKonzept, wie wir in die Zukunft gehen wollen. Das wirdden Kommunen letzten Endes helfen, so, wie es 2008zum Erfolg geführt hat.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir diskutieren heute auch über die Mehr-wertsteuerermäßigung für Hotelübernachtungen, dieuns diese Koalition eingebrockt hat,
mit der sie den Hotels Millionen geschenkt und denKommunen Millionen genommen hat.
Auch aus diesem Grund ist ein Rettungsschirm für Kom-munen notwendiger denn je.Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, solltenwir der Union und der FDP dankbar sein; denn derschwarz-gelben Koalition ist etwas gelungen, was mitGesetzen nicht immer gelingt: Sie hat unser Leben tiefund nachhaltig beeinflusst. Den Beweis halte ich hier inmeinen Händen. Ich darf aus einem Hinweis des Refera-tes PM 2 der Verwaltung des Deutschen Bundestages zurAbrechnung von Reisekosten zitieren:Die Kosten für das Frühstück können ab sofort nurerstattet werden, wenn eine Arbeitgeberveranlas-sung vorliegt.Danke, liebe Regierungskoalition! Wenn wir Sie und IhrWachstumsbeschleunigungsgesetz nicht gehabt hätten,hätten wir das nie erfahren.
Sie werden mir verzeihen, wenn ich etwas sarkastischbin; aber die Mehrwertsteuerermäßigung für Übernach-tungen – wir wollen sie mit unserem Gesetzentwurfheute rückgängig machen – bietet sich geradezu dafüran, sarkastisch zu sein. Ich habe mir in der Vorbereitungauf die heutige Debatte noch einmal angeschaut, wasmein Kollege Martin Gerster am 9. Februar im Finanz-ausschuss gesagt hat. Mein Kollege hat einfach die Äu-ßerungen verschiedener Politiker zu diesem Thema auf-gelistet. Ich sage Ihnen: Aus diesen Äußerungen könnteman ein ganzes Comedyprogramm gestalten. Kollegin-nen und Kollegen, we proudly present: HerrDr. Pinkwart von der nordrhein-westfälischen FDP willdas Gesetz aussetzen; man habe ein „bürokratischesMonster“ geschaffen. Herr Dr. Rüttgers findet das gut –
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3132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Sabine Bätzing
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nicht das mit dem bürokratischen Monster, sondern das,was Herr Dr. Pinkwart gesagt hat. Da frage ich mich:Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundesrat zu-gestimmt? Der Kollege von der CDU, Herr Kolbe, sagteam 25. Januar der Presse, dass die Mehrwertsteuerermä-ßigung der Koalition den Start vermasselt habe. Auchder Kollege Dr. Wissing von der FDP war mit dem Ent-wurf und der Bevorzugung von Sondergruppen nicht zu-frieden.
Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigent-lich im Finanzausschuss zugestimmt? Unser Bundes-tagspräsident, Herr Dr. Lammert, hielt die Mehrwert-steuerermäßigung für eine „nicht vertretbare Regelung“.Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigent-lich im Bundestag zugestimmt?
Es könnte trotzdem alles in Ordnung sein, wenn we-nigstens die Hotelbetreiber dankbar und zufrieden wä-ren. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Hotelshaben plötzlich einen erhöhten Verwaltungsaufwand.Genauso geht es den Reiseunternehmen, den Wirt-schaftsverbänden und den Finanzämtern. Wir halten alsofest: Die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels ist Mist.
Immerhin können wir durch die Mehrwertsteuerermä-ßigung für Hotels viel Neues lernen: Tierpensionen sindkeine Hotels; sie genießen keine Steuerermäßigung. Al-lerdings ist die Übernachtung des Tieres doch steuerer-mäßigt, wenn es mit einem Menschen in einem Hotelübernachtet. Wenn Kabinen auf Schiffen der Beförde-rung dienen, sind sie nicht steuerermäßigt, wenn sie demWohnaufenthalt dienen, schon. Der Handtuchwechsel imHotel ist steuerermäßigt. Bahnfahrten im Schlafwagensind es nicht. Plätze zum Abstellen von Fahrzeugen sind,selbst wenn es sich bei diesen Fahrzeugen um Camping-mobile handelt, nicht steuerermäßigt – es sei denn, eshandelt sich um Campingplätze.
Auch Tagungsräume und Stundenhotels sind nicht um-satzsteuerermäßigt – wenigstens etwas.
Was sagt die Finanzverwaltung dazu? Sie will bei derAnwendung des Gesetzes kulant sein. Gott sei Dank,was für eine Erleichterung für den Bürger!
Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachenund von unnötiger Bürokratie befreien.Wissen Sie, wer das gesagt hat? – Das waren die Kolle-ginnen und Kollegen von Union und FDP in ihrem Ko-alitionsvertrag.
Aus diesem Grund wollen wir eine Kommissioneinsetzen, die sich mit der Systemumstellung beider Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßig-ten Mehrwertsteuersätze befasst.Wissen Sie auch, wer das gesagt hat? – Genau: Auch dassteht in dem Koalitionsvertrag.
Zeit wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen von denKoalitionsfraktionen; denn das Einzige, was Sie zweiMonate nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes haben sinkensehen, sind nicht die Hotelpreise, sondern Ihre Umfrage-werte.
Die Hotelpreise sind im Gegensatz dazu gestiegen.
Ich frage mich: Was war denn eigentlich noch einmaldas Ziel, das mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetzverbunden war? Wachstum? Meinten Sie das Wachstumder Gewinnmarge der einzelnen Lobbygruppen oder dasWachstum der Branche durch mehr Übernachtungen?
Ob und wie viel investiert worden ist, ist eine schöneFrage, die wir uns aufheben, und Sie können sich sichersein, dass wir sie immer und immer wieder stellen wer-den, es sei denn, Sie machen heute dem Spuk ein Ende
und stimmen unserem Gesetzentwurf heute zu, mit demSie das Thema ein für alle Mal vom Tisch hätten. Außer-dem hätten Sie den großen Vorteil, politische Größe ge-zeigt zu haben. Das wird aber wahrscheinlich nicht pas-sieren.
Warum nicht? – Das wird deshalb nicht geschehen,weil es Ihrem Plan für Deutschland widersprechenwürde, wenn wir ein Land hätten, in dem die Politiknicht durch die Interessen einzelner Wirtschaftsteilneh-mer bestimmt wird,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3133
Sabine Bätzing
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und wenn wir ein Land hätten, in dem man einen Interes-senausgleich sucht, statt nur die Interessen einer be-stimmten Klientel zu vertreten. Manchmal wird von derFDP ja nicht nur das Interesse einer Branche, sondernsogar das Interesse eines einzelnen Wirtschaftsteilneh-mers höher als das Allgemeinwohl gewertet.
Herr Westerwelle hat uns ja immer wieder gesagt, wieer sich seine Welt vorstellt,
eine Welt mit Menschen, die ihren Lohn nicht mehr vonUnternehmen, sondern als ergänzende Sozialleistungvom Staat erhalten, eine Welt mit Unternehmen, die da-durch ihre Gewinne ins Unermessliche steigen lassen,darauf aber möglichst keine Steuern zahlen müssen,
eine Welt mit Kommunen, die nicht mehr für sich selbersorgen können und nach dem Willen der FDP dann wohlauch abgeschafft werden müssen.
Gott sei Dank regiert die FDP aber nicht alleine; siehat ja noch einen Koalitionspartner. Was macht der? –Nun, die CSU mosert zwar ständig gegen die FDP,
macht aber nichts richtig Eigenes. Die CDU lässt jeweilseine Seite gewähren und versucht im Erfolgsfalle, dasGanze als ihre Idee hinzustellen. Das kennen wir aberschon aus der Großen Koalition.Ich und mit mir Hunderte von Kommunen inDeutschland wollen endlich einmal eine Antwort auf dieFrage bekommen, wie die Regierung die finanzielle Zu-kunft der Kommunen sieht.
Die Antwort der Regierung lautet: Wir haben dafür eineKommission.
Meine Frage lautet: Was machen Sie denn inzwischen?Was machen Sie bis zur NRW-Wahl? Nichts?Sagen Sie den Kommunen, dass Ihnen das Wahl-ergebnis in NRW wichtiger ist, als es die Finanzen unddamit auch die soziale und kulturelle Ausstattung derKommunen sind?
Sagen Sie ihnen, dass Sie auch weiterhin Gelder, die dieKommunen wirklich brauchen, an Wirtschaftsunterneh-men verteilen wollen? Sagen Sie ihnen das wirklich?Mein üblicher Schlusssatz: Schaffen Sie die Klientel-politik ab, stimmen Sie unserem Antrag zu, und küm-mern Sie sich endlich um die Probleme in diesem Land!
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Bätzing, Sie haben sich heute hier eines ernsthafterworben, nämlich den Titel der Märchenerzählerin desTages.
Sie haben dabei nur eines vergessen: dass nämlich ge-rade Ihre SPD in Bayern die Mehrwertsteuersenkung fürHotels und Gastronomiebetriebe genauso gefordert hat.Weil an Ihrem Märchen etwas gefehlt hat, möchte ichdas ergänzen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dannreden sie als SPD in Bayern noch immer in der Opposi-tion. – Daran sollten Sie immer denken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabenstel-lung ist eindeutig: Der Schieflage in den kommunalenHaushalten muss jetzt entgegengewirkt werden. Wirmüssen jetzt handeln, um die immer deutlicher werdendeMisere – ich glaube, das sehen wir alle im Haus so – inden Griff zu bekommen. So gesehen finde ich es gut,wenn hier im Haus Konsens herrscht. Erstaunlich ist nur,dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der SPDhier so auftrumpfen. Sie haben die Kommunen elf Jahrelang mit drei Finanzministern gequält.
Das waren Herr Lafontaine – daran erinnern Sie sichnicht so gerne –, Herr Eichel und Herr Steinbrück. Aberkeiner Ihrer Minister hat es geschafft, eine wirklichgrundlegende Lösung zu finden. Von daher müssen Siesich erst einmal selbst fragen lassen, was Sie eigentlichgemacht haben.
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3134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Gisela Piltz
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Wenn ich von Ihnen höre: „Wir brauchen eine kom-munalfreundliche Politik“, dann sage ich Ihnen eines:Das machen wir jetzt, weil Sie es nicht hinbekommenhaben.
Herr Scheelen, Frau Haßelmann, Sie erzählen hier jaimmer von den Kommunen in Nordrhein-Westfalen.Ich kann Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Ich darfsie erzählen, weil ich ja gelernt habe, wie man dasmacht.
– Nein, das ist leider kein Märchen: Sie sind schuld da-ran, dass es Köln so schlecht geht. 1999 bei der Kom-munalwahl hat es in Köln und in Düsseldorf eine deutli-che Mehrheit für Schwarz-Gelb gegeben. Ich kann Ihnensagen, was in Düsseldorf passiert ist: Wir haben dortzehn Jahre lang die kommunalen Haushalte saniert.
Wir sind seit Jahren schuldenfrei. Wir haben über100 Millionen Euro in die Schulen investiert und jedeSteuer gesenkt. Den Unternehmen geht es gut und denBürgerinnen und Bürgern auch.
Was ist in Köln passiert?
Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Haßelmann?
Nein, im Moment nicht.
Sie kommt ja weder aus Köln noch aus Düsseldorf. Und
nach einer Kurzintervention, Frau Haßelmann, habe ich
drei Minuten Zeit zum Antworten; das ist noch schöner.
Es gibt kein Grundrecht auf Kurzinterventionen. Inso-
fern ist noch nicht klar, ob Sie diese drei Minuten zur
Antwort überhaupt erhalten.
Also: In Köln hat es Rot-Grün geschafft, dass dieseStadt wirklich am Ende ist.
Ich sage das nicht, weil ich Düsseldorferin bin. Ich leidewirklich mit Köln. Manchmal frage ich mich, ob wir alsDüsseldorfer nicht Entwicklungshilfe leisten müssten.
Daran sehen Sie, was eine Regierung unter Rot-Grün ka-puttmachen kann. Das sollten Sie sich einfach einmalklarmachen und nicht pauschal davon reden, dass die Si-tuation in Nordrhein-Westfalen so schlimm ist.
Frau Haßelmann, noch ein Wort zu Ihnen: Wenn Siesagen, dass die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorfdie Kommunen kaputtgespart hat, dann sage ich Ihnen:Das Land hat dieses Jahr trotz rückläufiger Steuerein-nahmen den zweithöchsten Betrag aller Zeiten, nämlich7,6 Milliarden Euro, an die Kommunen gegeben. Ichfrage Sie: Was hat denn Rot-Grün in Nordrhein-Westfa-len gemacht, solange es regiert hat? – Gar nichts! Sie ha-ben uns verfassungswidrige Haushalte beschert, mehrnicht!
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir uns mitder Verstetigung der Kommunalfinanzen beschäfti-gen. Sie haben eigentlich genau das Gegenteil gemacht:Sie haben über die Substanzbesteuerung auch noch dieLiquidität der Unternehmen gefährdet. Das heißt, Sie ha-ben die Einnahmenseite nur begrenzt verbessert, die Fi-nanzsituation der Unternehmen geschwächt und damitdie Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt.
Ich frage mich, ob es das ist, was Sie gewollt haben.Ich frage mich auch noch etwas anderes, wenn Siehier immer wieder mit dem Thema Hotels anfangen:Herr Scheelen, wo waren Sie eigentlich, als die soge-nannte Große Koalition 5 Milliarden Euro per Feder-strich in die Autoindustrie gesteckt hat? Wo sind Siedenn da gewesen? Wo waren Sie denn, als die Kommu-nalpolitiker der Grünen und insbesondere der SPD ge-jault haben: Warum gebt ihr der Autoindustrie 5 Milliar-den Euro und gebt diese Mittel nicht an die Kommunen?
Das habe ich bei Ihnen vermisst. Das ist unehrlich. Aberdas mag sicherlich daran liegen, dass Herr Gabriel unddie SPD ordentlich Geld mit der Autoindustrie verdienthaben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3135
Gisela Piltz
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Ich jedenfalls bin froh, Herr Schäuble – und deshalbmein Dank an Sie –, dass Sie sich der kommunalen Fi-nanzen so schnell annehmen. Es ist mir auch wichtig,dass wir nicht nur über die Einnahmenseite, sondernauch über die Ausgabenseite sprechen. Ich hoffe, dasssich alle Mitglieder dieser Kommission – das gilt insbe-sondere für die Opposition und die kommunalen Spit-zenverbände – endlich von dem Gedanken befreien, dassdie Gewerbesteuer, so wie sie jetzt angelegt ist, die besteSteuer in diesem Zusammenhang ist.
Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen das Gewerbenicht aus seiner steuerlichen Verantwortung entlassen.Aber das muss nicht über die Gewerbesteuer erfolgen.Das müssen Sie irgendwann einmal zur Kenntnis neh-men. Wenn Sie das immer wieder falsch zitieren, bringtuns das auch nicht weiter.
Zum Schluss noch einige Sätze zu dem Antrag derLinken: Recycling ist sicherlich in der Umweltpolitikschön und richtig, aber nicht bei Ihrem Antrag. Den ha-ben Sie schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt.
– Nicht immer; nur dann, wenn es sinnvoll war. Aber zudem Thema dieses Antrags hat es eine Anhörung gege-ben, aus der relativ deutlich geworden ist, dass das nichtder richtige Weg ist. Ich zitiere:Die Forderungen aus dem Antrag der Linken sindin der Sache bereits im geltenden Recht verankert.Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen dieKommunen beteiligen. Auch das wird Thema der Kom-mission sein. Kommunen sind aber – das ist schon ange-sprochen worden – nicht Sache des Bundes, sondern derLänder. Ihr Antrag ist leider nicht klug und bringt unsnicht weiter.
Kollegin Piltz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Wir glauben, dass die
Kommunen unsere Hilfe brauchen. Deshalb gibt es eine
Kommission, die handelt, statt nur zu reden. Das haben
wir elf Jahre und damit lange genug von Ihnen ertragen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin
Haßelmann das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Piltz, Sie
haben über NRW geredet und mich direkt angesprochen.
Ist Ihnen bewusst, dass die Stadt Düsseldorf in einer sol-
chen Situation ist – das müsste Ihnen klar sein, weil Sie
die Stadt gut kennen –, weil sie ihr gesamtes Tafelsilber
verscheuert hat?
Düsseldorf hat sämtliche Beteiligungen verkauft und
konnte damit seine massiven Haushaltsschulden sanie-
ren. Das kann man aber nur einmal tun. Das ist der erste
Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie suchen Beispiele für Ihre
kommunenfreundliche Politik. Ich hoffe, Sie wissen,
dass derzeit über 20 Kommunen vor dem Landesverfas-
sungsgericht in Nordrhein-Westfalen gegen Sie, die
schwarz-gelbe Landesregierung, klagen, weil Sie syste-
matisch den Kommunen Geld entziehen und Aufgaben
von der Landesebene auf die kommunale Ebene delegie-
ren, ohne die Finanzierung dieser Aufgaben sicherzu-
stellen. Über 20 Kommunen klagen gegen Sie.
Es gibt ein weiteres Beispiel für Ihre kommunen-
feindliche Politik. Sie haben unter großem Applaus Ihrer
selbst die Änderung der Gemeindeordnung in Nord-
rhein-Westfalen gefeiert, in der Sie versucht haben, den
Kommunen die wirtschaftliche Betätigung völlig zu ent-
ziehen.
Damit sind Sie jetzt absolut abgestürzt. Sie müssen die
Gesetzgebung korrigieren. Die Gemeindeordnung muss
geändert werden, weil die wirtschaftliche Betätigung,
die unter Schwarz-Gelb beschlossen worden ist, den ge-
richtlichen Prüfungen nicht standgehalten hat. Das ist
ein Beleg für kommunenfeindliche Politik im Land
Nordrhein-Westfalen.
Bitte, Kollegin Piltz.
Frau Haßelmann, ich will kurz antworten. Erstens. Ichwar Fraktionsvorsitzende im Rat einer Stadt. Sie warenLandtagsabgeordnete.
Ihr Problem ist, dass Sie hier im Bundestag Landespoli-tik diskutieren wollen. Das ist durchsichtig, und ichfinde, das gehört so nicht hierher.
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Zweitens. Wenn Sie davon sprechen, dass eine Stadtihr Tafelsilber verscheuert, dann muss ich Sie daraufhinweisen, dass ich in Düsseldorf noch nie mit silbernemBesteck gegessen habe.
Ein weiterer Punkt ist, dass das, was Sie so bedauern,der Stadt Düsseldorf jedes Jahr 50 Millionen Eurobringt, und zwar dauerhaft. Das, was Sie verscherbelnnennen, halte ich für eine gute Anlage, weil wir durchden einmaligen Verkauf von Anteilen jedes Jahr über50 Millionen Euro an Schuldentilgung sparen. Das istkluge Haushaltsführung und hat nichts mit dem zu tun,was Sie hier vorgetragen haben.Ich komme zum Schluss. Wenn ich das richtig sehe,ist die Klage, die Sie meinen, in dieser Woche entschie-den worden. Leider hat die Landesregierung gewonnen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Ingrid Remmers das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Der Regionalverband Rhein-Ruhr hat am Montag
eine Resolution gegen die Überschuldung der Kommu-
nen beschlossen. In dieser Sitzung sagte der CDU-Ober-
bürgermeister aus Hamm:
Ich bin seit elf Jahren Oberbürgermeister, beschis-
sen werden wir von beiden Landesregierungen.
– Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU
und SPD, sollte Sie tief erschüttern.
Nach Auffassung der Linken liegt die Hauptverant-
wortung für die chronische Unterfinanzierung der Kom-
munen in der Gesetzgebung des Bundes. Hier müssen
die notwendigen Weichenstellungen für die Anpassung
an den Finanzbedarf der Kommunen erfolgen. Hatte
aber bereits die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer
Steuer- und Finanzmarktreform den Grundstein für die
heutige Finanzmisere der Kommunen gelegt, sattelten
und satteln die Große Koalition und die jetzige Bundes-
regierung noch kräftig weitere Kosten für Städte und Ge-
meinden obendrauf.
Diese Entwicklung, noch einmal verschärft durch das
krisenbedingte Wegbrechen der Gewerbesteuer, führte
im letzten Jahr dazu, dass die Städte und Gemeinden ins-
gesamt 7,1 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben, als
sie im selben Zeitraum eingenommen haben. Für dieses
Jahr wird – die Genossin Gesine hat es eben schon ge-
sagt –
ein Rekorddefizit von 12 Milliarden Euro erwartet.
Für mein Bundesland NRW heißt dies ganz konkret,
dass sich die Haushaltspläne der Kommunen inzwischen
zu reinen Sparlisten entwickelt haben, dass in Hagen und
Oberhausen der Gesamtwert des städtischen Besitzes in-
zwischen geringer ist als ihre Verbindlichkeiten und in
Städten wie Duisburg, anders als etwa eben in Düssel-
dorf, die Entwicklung der Gewerbesteuer zur reinen
Glückssache geworden ist. Diese völlige Schieflage, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, ist aus Sicht der betrof-
fenen Kommunen nicht haltbar.
Aber erst jetzt, nachdem die Kommunen beginnen,
sich öffentlich zu wehren, und angesichts der anstehen-
den NRW-Landtagswahl sieht sich endlich auch unsere
Bundesregierung gezwungen, sich in dieser Frage zu be-
wegen. Dazu hat sie erst einmal eine Kommission zur
Erarbeitung von Reformvorschlägen eingesetzt. Wie
halbherzig dieser Ansatz ist, zeigt sich, anders als Kolle-
gin Tillmann es eben behauptet hat, darin, dass schon der
Einsetzungsbeschluss der Bundesregierung keine Ände-
rung der Finanzverteilung vorsieht. Dies führt doch, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, die ganze Angelegen-
heit ad absurdum.
Das bedeutet faktisch, dass eine echte Mitbestim-
mung der einbezogenen kommunalen Spitzenverbände
genauso wenig vorgesehen ist wie etwa die weiterer
kommunaler Verbände, Gewerkschaften oder gar der
Bürgerinnen und Bürger.
Auch der vorliegende Antrag der SPD geht hier völlig
ins Leere. Ein verbindliches Mitspracherecht der Kom-
munen taucht auch hier nicht auf. Sowohl Rot-Grün als
auch – –
Kollegin Remmers, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Tillmann?
Ungern.
Ja oder nein?
Sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Rot
waren in den vergangenen Jahren die Belange der Kom-munen augenscheinlich ziemlich egal. Die Linke fordert,
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Ingrid Remmers
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die Kommunen endlich in die Entscheidungen über ihreeigenen Angelegenheiten einzubeziehen und ihnen dabeiselbstverständlich reale Mitwirkungsrechte zuzugeste-hen.
Darüber hinaus fordern wir die Weiterentwicklungder Gewerbesteuer zur sogenannten Gemeindewirt-schaftsteuer. Dazu gehören unter anderem die Einbezie-hung der freien Berufe; alle Schuldzinsen und Finanzie-rungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten undLizenzgebühren sollen künftig in voller Höhe bei der Er-mittlung der Steuerbasis berücksichtigt werden und Ge-winne und Verluste dann steuerlich geltend gemachtwerden, wenn sie tatsächlich anfallen, um hier Steuer-schlupflöcher zu verhindern. Um kleinere Gewerbetrei-bende nicht zu stark zu belasten, soll der Freibetrag fürFreiberufler, kleine Unternehmen und Existenzgründervon derzeit 24 500 Euro auf 30 000 Euro erhöht werden.Nicht zuletzt muss man nach unseren Vorstellungennicht, wie es hier eben gesagt worden ist, die Gewerbe-steuer abschaffen, sondern die Gewerbesteuerumlage derKommunen an den Bund und die Länder schrittweise,aber schnell senken.
Diese Vorschläge, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, bieten einen praktikablen Weg, um die Eigenstän-digkeit der Kommunen endlich wieder herzustellen.Da, wo die Kommunen einsparen müssen, braucht esmeines Erachtens eine neue Debatte über die Frage, wasin Zukunft eigentlich Pflichtaufgabe und was freiwilligeLeistung sein soll.Zuletzt sage ich noch einmal klipp und klar, dass auchder Ausverkauf öffentlichen Eigentums – Beispiel Düs-seldorf – die faktische Handlungsunfähigkeit der Kom-munen mitverursacht hat.
Man kann es nicht oft genug sagen: Der Verkauf vonWohnungen, Stadtwerken und Öffentlichem Personen-nahverkehr sowie die Einführung von Public-PrivatePartnerships fanden aus akutem Geldmangel statt undverschlechtern auch noch die langfristigen Aussichten.Damit wird nicht nur die politische Kontrolle über dieInfrastruktur weitgehend ausgelagert; auch die mögli-chen Einnahmen öffentlicher Betriebe verschwindenvöllig. Da drängt sich doch schon fast der Eindruck auf,die gewollte Finanznot der Kommunen hätte Methode.
Die Linke hat mit ihren Anträgen, wie ich Ihnen ge-rade aufgezeigt habe, erfolgversprechende Vorschlägeauf den Tisch gelegt. Wir fordern nun die Bundesregie-rung auf, endlich dafür zu sorgen, dass die Kommunenwieder handlungsfähig werden, und dabei intelligenteVorschläge auch über Fraktionsgrenzen hinweg aufzu-nehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieLage der kommunalen Finanzen, der Kommunen istschwierig. Ich hatte bei manchen Beiträgen, die ich ebenin dieser Debatte gehört habe, fast das Gefühl, dass esschon ein bisschen aus dem Blick geraten ist: Die Lageist wirklich ungewöhnlich ernst. Wahr ist auch: 2008 ha-ben die kommunalen Gebietskörperschaften saldiert ei-nen deutlichen Überschuss erzielt.
Es ist also richtig, dass ein Teil der Probleme eine Folgeder tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist, dieuns in den letzten zwei Jahren ereilt hat. Wahr ist aberauch, dass wir bei den Kommunalfinanzen ein grund-sätzliches Problem haben, das sich über eine viel längereZeit hinweg entwickelt hat. Es kommen also beideDinge zusammen.
Ich glaube, es ist unstreitig – deswegen ist es gut, dasswir diese Debatte führen –, dass die Lebensfähigkeitund Leistungsfähigkeit der Kommunen die Grundlagefür die Nachhaltigkeit und Stabilität unserer freiheitli-chen demokratischen Grundordnung bildet. Wir dürfendas nicht aus dem Blick verlieren. Ich habe schon einpaar Mal an dieser Stelle gesagt: In einer Welt der Glo-balisierungen, in einer Zeit, in der Bindungen aufgrundvielfältiger Entwicklungen eher schwächer werden undes schwierig erscheint, die Menschen zu erreichen, ist esumso wichtiger, dass die kommunale Selbstverwaltung– die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die Ge-meinde, die Eigenverantwortung und die Gestaltungs-möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Ge-meinde – vital bleibt. Das ist die Grundlage für dieStabilität und Nachhaltigkeit unserer Freiheitsordnung.
Wir müssen diese Aufgabe in unserer föderalen Ord-nung erfüllen. Wir wissen spätestens seit den beiden Fö-deralismusreformen, dass diese Ordnung kompliziert ist.Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen. Ich be-grüße sehr, dass wir uns bei der Frage der Jobcenter da-rauf verständigt haben, eine gute Grundlage zu schaffen.Wir sehen an jedem dieser Punkte, welche Rahmen-bedingungen unsere förderale Ordnung für die Lösungdieser Probleme setzt. Ich füge hinzu – das muss mangelegentlich den Kommunalvertretern sagen –: UnserBundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland, bestehtaus den staatlichen Ebenen des Bundes und der Länder,nicht aus drei Ebenen. Die kommunale Selbstverwaltungbildet eine wichtige Grundlage; aber sie ist etwas ande-res als eine dritte staatliche Ebene. Das muss man sichgelegentlich ins Bewusstsein rufen.
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Ich finde es richtig – das muss ich entgegen manchkritischem Einwand sagen –, dass wir uns dafür ent-schieden haben, die Kommission, in der wir die Pro-bleme aufarbeiten und Lösungsvorschläge erarbeitenwollen – wir wollen und wir werden die Vorschläge nochin diesem Jahr dem Hohen Haus präsentieren –, mit Ver-tretern der Bundesländer und der Kommunen, der kom-munalen Spitzenverbände, zu führen. Deswegen habenwir die Kommission so gebildet. Sie hat ihre Arbeit mithoher Dringlichkeit aufgenommen. Daran liegt mir, weildas eine prioritäre Aufgabe ist, die wir erfüllen müssen.Ich will zwei Bemerkungen hinzufügen. Ich glaube,dass Ad-hoc-Zuweisungen an die Kommunen durchden Bund, durch Programme des Bundes bis hin zu Ret-tungsschirmen, wie man sie damals spannte – die aberauch nicht lange halten; sonst hätten Sie nicht so vieleRettungsschirme aus der Vergangenheit erwähnen kön-nen, und die Probleme bestehen trotzdem weiterhin –,generell allenfalls die zweitbeste Lösung sind
– wenn überhaupt –, und zwar im Wesentlichen aus zweiGründen: Zum einen führen sie nicht gerade zur Stär-kung der kommunalen Eigenverantwortung. Die Kom-munen können nicht selbst gestalten; denn auch der gol-dene Zügel ist ein Zügel. Zweitens befördern sienatürlich nicht gerade die optimale Ressourcenalloka-tion. Denn wenn man Zuweisungen, Zuschüsse be-kommt, wendet man in dem Bereich notfalls auch Eigen-mittel auf, auch wenn man das anderenfalls nichtmachen würde.Deswegen ist es besser – und das ist unser grundsätz-licher Ansatz –, die Grundlagen der kommunalen Fi-nanzen zu stärken, und zwar in zweierlei Hinsicht. Denersten Punkt habe ich in der bisherigen Debatte ein we-nig vermisst. Wir sollten gemeinsam mit den Ländernund Gemeinden überlegen, ob wir den Kommunen beider Erfüllung ihrer Aufgaben nicht größere Gestaltungs-und Entscheidungsspielräume geben können. Das heißt,wir müssen prüfen: Müssen in Bezug auf die Ausgaben-seite und die Leistungsstandards bundeseinheitliche Vor-gaben gemacht werden, oder können wir uns zu mehr Ei-genverantwortung, zu Regionalisierung, Benchmarking,Wettbewerb bekennen? Ich bin für das Zweite. Genaudafür muss diese Arbeitsgruppe Vorschläge machen.
Wenn wir das Problem nicht von der Ausgabenseite,sondern nur von der Einnahmeseite her angehen, werdenwir es nicht zureichend lösen können. Im Übrigen beför-dern wir auf diese Weise langfristig die Entwicklung,dass viele, die sich in der kommunalen Selbstverwaltungheute dankenswerterweise noch engagieren, keine Lustmehr dazu haben, weil sie nichts mehr entscheiden kön-nen. Das gilt übrigens auch im Zusammenhang mit derAuslagerung vieler Eigenbetriebe in manchen Kommu-nen; aber das ist ein anderes Thema. Wir werden diesenTrend nur stoppen, wenn wir der kommunalen Ebeneselbst wieder mehr Entscheidungsspielraum und Ent-scheidungsverantwortung geben. Diesen Aspekt dürfenwir nicht aus dem Auge verlieren.
Der zweite Punkt sind die kommunalen Finanzquel-len. Es ist ein altes Thema, dass die Gewerbesteuer einebesonders konjunkturanfällige Steuerquelle der Gemein-den ist. Das kann man nicht ernsthaft bestreiten.
– Aber Sie wissen genau, Herr Kollege Poß: In demMaße, in dem Sie sie verbessern, gehen Sie im Zweifelstärker
in Richtung Substanzbesteuerung.
Dadurch erreichen wir genau das Gegenteil. Wir habenim Zusammenhang mit dem Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz darüber diskutiert. Ich halte die Entschei-dung nach wie vor für zwingend notwendig und richtig,dass wir bei der gegebenen Lage etwa des Einzelhandelsin Großstädten und Mittelstädten die begrenzten Korrek-turen im Wachstumsbeschleunigungsgesetz festgeschrie-ben haben, die natürlich zulasten der Bemessungsgrund-lage für die Gewerbesteuer gehen.
Das ist wahr. Aber wenn die Unternehmen pleitegehenwürden, dann wäre die Bemessungsgrundlage null. Da-mit wäre auch nichts gewonnen.
Das zeigt doch nur die Reformbedürftigkeit.Das kann also nicht falsch, sondern muss richtig sein.Wir haben ja auch einen gewissen internationalen Ver-gleich. Wir haben uns mit dem Dualismus in der Besteue-rung in Deutschland lange beschäftigt, bis hin zur Anrech-nung im Rahmen der Einkommensteuer – auch darüberist schon gesprochen worden –, um das Problem zu mi-nimieren. Die Grundüberlegung, eine Verbreiterung derFinanzierungsgrundlage der Kommunen durch eine Ver-stetigung des Zuschlags – nicht nur durch die Beteili-gung an der Einkommensteuer, sondern auch durch einZuschlagsrecht einschließlich Hebesatzrecht bei Ein-kommen- und Körperschaftsteuer – herbeizuführen, istdoch nichts Schlimmes, sondern dient im Ergebnis derVerankerung der kommunalen Selbstverwaltung in derBreite der Bevölkerung.
Ich weiß schon, dass die Interessenlage und die Be-troffenheit der Kommunen unterschiedlich sind. Ichweiß auch, dass das alles andere als einfach ist. Aber ge-nau deswegen sagen wir: Wenn wir den Gesamtzusam-menhang, Beteiligung an der Umsatzsteuer, Revitalisie-rung der Grundsteuer – darüber ist noch gar nicht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3139
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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geredet worden –, Zuschlagsrecht auf Einkommen- undKörperschaftsteuer, sehen, dann hätten wir eine Chance,die Einnahmebasis der Kommunen im Sinne einer Stär-kung der kommunalen Selbstverwaltung zu festigen.Das ist des Schweißes aller Beteiligten wert. In genaudiese Richtung wollen wir arbeiten.
Wenn wir dies mit mehr Entscheidungsspielräumenfür die Kommunen bei den Ausgaben verbinden, dannerfüllen wir unsere Aufgabe, nämlich die Stärkung derkommunalen Selbstverwaltung. Dafür bitte ich um IhreMitwirkung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich kann es
Ihnen nicht ersparen:
Das Thema ist die Umsatzsteuer. Ich weiß, Sie können es
nicht mehr hören; denn die guten Argumente sind viel-
fach genannt
und von Ihnen, wie ich immer wieder merke, gehört, von
vielen auch verstanden und – das lese ich zwischen den
Zeilen – für richtig befunden. Nehmen Sie sich doch mal
zusammen. Der doch sehr lebendige Vortrag von Kolle-
gin Bätzing hat es vielleicht ein bisschen in den Hinter-
grund gerückt:
Wir reden immerhin von 1 Milliarde Euro, die dem Staat
nicht mehr zur Verfügung stehen, weil Sie dieses Geld
durch die Umsatzsteuerermäßigung für Hoteliers wegge-
ben. Erkennen Sie dies als Fehler an und nehmen Ihr Ge-
setz zurück. Stimmen Sie dem Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zu!
Lassen Sie mich in der knappen Redezeit, die ich
habe, eine grundsätzliche Bemerkung machen. Ich will
mit einem Zitat anfangen:
Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobby-
gruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung
ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den
berechtigten Belangen der Gesellschaft … gerecht
wird.
Würden Sie dem zustimmen? Das hat Kollege Wissing
2008 in der Diskussion zu einem Antrag gesagt, der den
Umsatzsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für
Kinder beinhaltete. Herr Wissing, Glückwunsch zu die-
ser Bemerkung und zu dieser klaren ordnungspolitischen
Aussage. Aber dann machen Sie doch das, was Sie ge-
sagt haben. Handeln Sie so, wie Sie sprechen.
Auch Herr Kolbe von der CDU hat im Übrigen durch
sein Abstimmungsverhalten beim Wachstumsbeschleu-
nigungsgesetz eine klare Aussage getroffen. Dabei ist
Herr Kolbe kein Geringerer als derjenige, der bei Ihnen
für die Umsatzsteuer verantwortlich ist. Beide Kollegen
wissen nämlich, dass die Umsatzsteuer eben kein Steue-
rungsinstrument ist. Sie eignet sich dafür nicht. Sie wis-
sen auch, dass es jetzt umso schwieriger sein wird, diese
Sündenfälle zu stoppen. Was 2008 die Schweineohren
waren, sind jetzt die Hoteliers.
Kehren Sie auf den Pfad der Ordnungspolitik zurück. Sie
wollen eine Kommission zur Reform der Umsatzsteuer
einsetzen. Sie verlieren doch hier Ihre Glaubwürdigkeit,
wenn Sie dieses Gesetz zur Umsatzsteuerermäßigung
nicht sofort stoppen.
Sie müssen doch die grundsätzlichen Probleme der
Umsatzsteuerermäßigung anerkennen. Sie wirkt nicht
zielgenau. Sie weist hohe Mitnahmeeffekte auf. Sie hat
kaum eine Verteilungswirkung, weil Einkommensmillio-
näre genauso wie Hartz-IV-Empfänger betroffen sind. In
vielen Fällen kommt sie gar nicht beim Verbraucher an.
Gehen Sie einmal zu McDonald’s. Kaufen Sie einen
Hamburger zum Mitnehmen, dann zahlen Sie 7 Prozent
Mehrwertsteuer. Kaufen Sie einen zum Verzehr vor Ort,
dann sind es 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wer profitiert
von dieser Differenz von 12 Prozentpunkten? Nicht der
Verbraucher, sondern McDonald’s. So ist die Wirklich-
keit. Die Einnahmeausfälle für den Fiskus sind enorm.
Wenn Sie etwas für eine nachhaltige Entwicklung tun
wollen, dann investieren Sie bitte in den Klimaschutz,
dann investieren Sie bitte in Bildung, aber bitte geben
Sie das Geld nicht einfach so den Hoteliers.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die finanzielle Situation der Gemeinden und Städte istschlecht, sie ist dramatisch schlecht. Die Wirtschafts-krise – das haben wir in der Debatte schon mehrfach ge-hört – ist auf der Ebene angekommen, auf der das realeLeben vor Ort stattfindet, nämlich bei unseren Kommu-
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Bernhard Kaster
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nen. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass dasBruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um 90 Mil-liarden Euro, also um 5 Prozent gesunken ist.Was ist nun zu tun? Die SPD beantragt einen Ret-tungsschirm. Ich sage: Nein, wir brauchen keinenSchirm. Wir brauchen für die Kommunen dauerhaft undnachhaltig gutes Wetter.
Sie fordern eine kurzfristige Stabilisierung, HerrScheelen. Sie wollen auf zwei Jahre befristete Hilfen beiden Kosten der Unterkunft. So steht es in Ihrem Antrag.Das heißt nichts anders als: Schirm auf, Schirm zu.Für uns, für die Union als Kommunalpartei ist diepolitische und finanzielle Handlungsfähigkeit unsererGemeinden und Städte niemals Thema für populistischeAnträge.
Die kommunale Ebene, die kommunale Selbstverwal-tungsgarantie und die Subsidiarität sind bei uns politi-sches Fundament. Deshalb werden wir diese Legislatur-periode nutzen, um die politische und finanzielleHandlungsfähigkeit unserer Kommunen nachhaltig zusichern.Die eingesetzte Regierungskommission unter Lei-tung von Finanzminister Dr. Schäuble und unter Beteili-gung unseres Innenministers de Maizière hat drei großeAufgabenstellungen: erstens die notwendige Versteti-gung der Einnahmeseite, zweitens die Begrenzung derAusgaben und Standards sowie die Schaffung von mehrFlexibilität und drittens die stärkere Beteiligung derKommunen bei den sie betreffenden politischen Ent-scheidungsprozessen.Auch auf der Einnahmeseite gehen wir im Hinblickauf nachhaltige Finanzstrukturen ohne Tabus an diesesThema heran. Das heißt, wir reden über die Ausgestal-tung der Gewerbesteuer und auch über Alternativen,über den Anteil am Umsatzsteueraufkommen und überden Anteil am Einkommensteueraufkommen.Als ehemaliger Bürgermeister sage ich Ihnen, dass esmir wichtig ist, bei der Gestaltung der kommunalen Fi-nanzen weiterhin an drei wichtigen Beziehungen, andrei wichtigen Bezugspunkten festzuhalten. Dies sindder Bezugspunkt Gemeinde und Bürger, der Bezugs-punkt Gemeinde und Grund und Boden sowie der Be-zugspunkt Gemeinde und Wirtschaft. Bei der Ausgestal-tung des dritten Bezugspunkts, bei der Ausgestaltungeiner wirtschaftsbezogenen Steuer, müssen wir uns Ge-danken machen.Aber auch auf der Ausgabenseite müssen wir zwin-gend über Standards nachdenken. Dies betrifft viele Be-reiche und erfordert mehr Flexibilität.Dazu fällt mir ein Beispiel aus meiner HeimatstadtTrier ein. Über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg befan-den sich dort französische Streitkräfte und deren franzö-sische Familien. Noch kurz vor dem Abzug der französi-schen Streitkräfte konnten wir uns damals als Stadträtedie französischen Schulen und die französischen Kinder-gärten ansehen. Wir haben gesehen, wie wohl sich dieKinder dort gefühlt haben.Als wir diese Schulen und Kindergärten jedoch über-nommen haben, waren plötzlich Millioneninvestitionennotwendig, weil es hieß, die Scheiben seien zu dünn, derBoden sei zu hart, die Fliesen seien zu glatt usw. Wirbrauchen also mehr Flexibilität.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist schon et-was dreist, wer sich heute hier als der Retter der Kom-munen aufspielen will. Das muss in dieser Debatte ein-mal gesagt werden.
Die Wirtschaftskrise – daran gibt es nichts herumzu-deuteln – hat die Kommunen in große finanzielleSchwierigkeiten gebracht. In den rot-grünen Jahren von1998 bis 2005 hat es einer solchen Wirtschaftskrise abernicht bedurft, um die Gemeinden finanziell abstürzen zulassen. Das hat Rot-Grün damals ganz allein geschafft.
5 Milliarden Euro Minus im Schnitt in dieser Zeit. Daswar damals so gewesen. Ich könnte mehrere Beispielenennen, wie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlageusw.Lassen Sie mich noch etwas als Rheinland-Pfälzer sa-gen. Ich finde es schon gewagt, dass Sie in Ihrem AntragVergleiche zu Rheinland-Pfalz anstellen. Ich bitte Sie!
– Herr Scheelen, Rheinland-Pfalz kümmert sich um dieKommunen in der Weise, dass in Rheinland-Pfalz diePro-Kopf-Verschuldung der Kommunen aufgrund einesganz miesen Finanzausgleichs um 30 Prozent höher istals in allen anderen westlichen Flächenländern. Ich willgar nicht davon sprechen, wofür in Rheinland-Pfalzsonst noch Geld ausgegeben wird. Nürburgring lässtgrüßen.
Ein Finanzminister ist schon zurückgetreten. Ich sageaber auch: In dieser Gemeindefinanzkommission wirdauch Rheinland-Pfalz vertreten sein. Der Finanzministerwird, solange er im Amt ist,
auch da mitwirken können.Noch ein Wort zu Ihrer doch sehr populistischen undfalschen Steuerdiskussion. Dass wir zum 1. Januar dasKindergeld, die Kinderfreibeträge und den Grundfreibe-trag erhöht und den Steuertarif um 330 Euro nach rechtsverschoben haben, das war richtig.
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Es war deswegen richtig, weil es nicht sein kann, dassdie Finanzmisere, in der sich Bund, Länder und Kommu-nen befinden, ausgerechnet von den Bürgern mit mittle-ren und kleineren Einkommen bezahlt werden soll, dieüber Jahre Steuern zahlen. Es kann nicht sein, dass siestill und heimlich über die Jahre inflationsbedingt in hö-here Steuersätze hineinrutschen und wir einfach zu-schauen. Das ist unfair gegenüber den Bürgern. Dasmuss man korrigieren, und das haben wir gemacht.
Wir brauchen Fairness gegenüber den Bürgern undFairness gegenüber den Kommunen. Die Koalition unddie Union als Kommunalpartei
werden auch in schwieriger Zeit diese Fairness gewähr-leisten; denn unser Grundsatz gilt: Geht es den Gemein-den gut, geht es dem ganzen Land gut. Deswegen wie-derhole ich: Wir brauchen keinen Schirm, sonderndauerhaft gutes Wetter für unsere Kommunen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kol-
legen Poß das Wort gebe, sei mir der Hinweis gestattet,
dass wir noch zwei Redner in dieser Debatte haben und
beiden ermöglichen sollten, hier zu reden. Allen, die im
Saale sind, sollten wir ermöglichen, sie zu hören und zu
verstehen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kolle-
gen, die zur namentlichen Abstimmung schon herbeige-
eilt sind, Platz zu nehmen, sodass wir die Debatte zu
Ende führen können.
Das Wort hat der Kollege Joachim Poß für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberKollege Kaster, die Kommunen brauchen jetzt keinenSchönwetterredner, sondern sie brauchen eine sofortigeHilfe,
weil sie mit den Folgen der Krise nicht mehr klarkom-men, weil sie die Einrichtungen der sozialen Infrastruk-tur wie Kindertagesstätten nicht mehr aufrechterhaltenkönnen. Die haben nichts von Ihren Sprüchen und vonden Ankündigungen von Herrn Schäuble, die er hier ge-macht hat. Denen muss jetzt und wirksam geholfen wer-den,
und zwar nicht, um abstrakt Kommunen zu helfen, son-dern um den wirklich Betroffenen, den Kindern und Ju-gendlichen in den Kommunen, zu helfen. Das ist dieAufgabe. Das müssen Sie doch erkennen.Diese Feststellung wird nicht einmal mit einem Vor-wurf garniert. Wir alle fühlen uns doch zu Recht nichtschuldig wegen der Krise. Wir haben nicht die schwersteWirtschafts- und Finanzkrise, die wir bisher in der Nach-kriegszeit erlebt haben, herbeigeführt, und zwar keinervon uns. Wir müssen uns nur der Realität stellen. Sie ha-ben einen Koalitionsvertrag gemacht, der die Realitätleugnet. Das ist doch das Problem. Deswegen kommenSie im Moment mit der Realität nicht klar.
Das dürfen nicht die Kommunen ausbaden, weil SieSchwierigkeiten haben, irgendetwas von Ihrem „Kolli-sionsvertrag“, wie meine Kollegin gesagt hat, überhauptumzusetzen, was kein Wunder ist. Alles, was Sie bisherdurchgesetzt haben, wirkte krisenverschärfend für dieKommunen. Das ist die Wahrheit. Da helfen die schönenReden von Frau Merkel auf dem CDU-Landesparteitagin Münster oder die von Herrn Rüttgers, der die Gemein-den beschwört, nichts. In der Realität machen Sie dasGegenteil von dem, worüber Sie reden. Bei Ihnen klaf-fen Reden und Handeln notorisch auseinander. Das gehtzulasten der Kommunen. Das zu ändern, ist die Aufgabe.
Sie, Herr Bundesfinanzminister, beginnen jetzt vonneuem, das durchzubuchstabieren, was schon 2003 in ei-ner großen Kommission unter Beteiligung aller Ebenenerörtert wurde, nämlich alle Modelle der letzten30 Jahre, die Sie so gut wie ich kennen. Die Wahrheit ist:Damals, im Jahr 2003, hat die rot-grüne Koalition – ichwar der Verhandlungsführer der SPD im Vermittlungs-ausschuss – im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben,die Gewerbesteuer gerettet; denn starke Kräfte in derUnion – ich erinnere an den Leipziger Parteitag – woll-ten die Gewerbesteuer abschaffen. Das ist die historischeWahrheit und nicht das, was Sie gesagt haben.
Es waren die Sozialdemokraten, die in der GroßenKoalition in der Koch-Steinbrück-Arbeitsgruppe dafürgesorgt haben, dass die Gewerbesteuer gefestigt wurde.Das ist die historische Wahrheit. Das war nicht dieUnion; von der FDP rede ich erst gar nicht.
Wenn es also eine Kommunalpartei in Deutschland gibt,dann können die Sozialdemokraten das für sich in An-spruch nehmen und niemand anderes. Das muss klarge-stellt werden.
Metadaten/Kopzeile:
3142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Joachim Poß
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Herr Schäuble, zu unserer gemeinsamen Vergangen-heit gehört, dass Sie als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU Mitte der 90er-Jahre die Aushöhlung der Gewerbe-steuer als Ihr wichtigstes Anliegen begriffen hatten. Siesind nämlich damals vehement für die Abschaffung derGewerbekapitalsteuer eingetreten.
Sie haben damals gesagt, dies führe zu einem enormenAufwuchs an Arbeitskräften. Die Gewerbekapitalsteuerwurde abgeschafft. Die Gewerbesteuer wurde dadurchinstabiler und konjunkturanfälliger. Ein Aufwuchs anArbeitskräften ist nicht eingetreten. Daraus sollten Sie,was Ihre Einschätzungsfähigkeit angeht, lernen, HerrSchäuble.
Sie sollten den Einbruch der Wirtschaftskraft um5 Prozent im vergangenen Jahr nicht als Alibi nutzen, umdie wichtigste Einnahmequelle der Kommunen – diesehaben wir damals in Verhandlungen mit Ihnen in Art. 28des Grundgesetzes gefestigt – zu beschädigen. Die FDPsagt es im Klartext: Wir wollen die Gewerbesteuer end-lich weghaben. – Das ist die schwarz-gelbe Zukunft fürdie Gemeinden. Da können die Gemeinden nur nochschwarzsehen. Es muss, auch nach dem 9. Mai – dennHerr Rüttgers macht, was Politik für die Gemeinden be-trifft, nur Sprüche –, eine stärkere Sozialdemokratie her,um das zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen geht esam 9. Mai auch um die Zukunft der Gemeinden.
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für
die Unionsfraktion.
Werter Herr Kollege Poß, wir hatten im Mittelteil un-serer Debatte eine sehr ernsthafte Auseinandersetzungüber die sehr ernsthafte finanzielle Lage der Kommunen.Insbesondere als unser Minister Dr. Schäuble dazu ge-sprochen hat, konnten Sie feststellen, wie ernsthaft wiruns mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir debattie-ren nicht nur darüber, sondern wir handeln. Wir setzenkonkret diese Kommission mit speziellen Untergruppenein. Wir veranstalten keine Wahlkampfshow, wie Sie dasin Ihrem Beitrag versucht haben.
Uns geht es nämlich nicht um Wahlkampf, sondern unsgeht es wirklich darum, ein schwieriges Thema in denGriff zu bekommen.
Es ist schon verwunderlich und ziemlich scheinheilig,wie Sie sich hier aufgeführt haben. Wer hat denn elfJahre lang den Finanzminister in der BundesrepublikDeutschland gestellt? Wer war denn elf Jahre verant-wortlich in diesem wesentlichen Ressort?
Diese Regierung ist jetzt seit fünf Monaten im Amt. Siewollen sie für das derzeitige Szenario in den Kommunenverantwortlich machen. Das ist schon ziemlich daneben.
Die Kommunen befinden sich aus zwei Gründen – Bun-desminister Schäuble hat sie eben deutlich gemacht – ineiner ernsthaften finanziellen Situation. Ein wesentlicherGesichtspunkt ist der starke Zusammenbruch bei der Ge-werbesteuer. Das ist auch logisch; denn die Gewerbe-steuer ist vor allen Dingen eine sehr wirtschaftsnahe undunternehmensnahe Steuer. Wir sehen bei den Bundes-steuern, auch bei der Körperschaftsteuer, mit einemRückgang des Aufkommens von über 50 Prozent diestärksten Einbrüche.Das deutet das Dilemma der Kommunen an. Wirmüssen die Finanzierung der Kommunen auf stabilereStandbeine stellen als bisher. Das heißt, dass es eine Mo-difikation bei der Gewerbesteuer geben muss. Deshalbist es richtig, diese Kommission, in die die Länder undauch die kommunalen Spitzenverbände einbezogen sind,jetzt einzusetzen.
Das ist jedenfalls weitaus intelligenter als die Schnell-schüsse, die Sie uns heute per Antrag vorlegen. Sie sindkein ernsthafter Beitrag zur Lösung.Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht: Wirbrauchen eine kommunale Steuer, die einen Bezug zurwirtschaftlichen Entwicklung in den Kommunen hat. Ichdenke, das sollte uns klar sein; denn sonst würden wir alldie Kommunen bestrafen, die sich in den letzten Jahrenund Jahrzehnten für die Ansiedlung von Unternehmenund damit für Arbeitsplätze engagiert haben. Das wollenwir nicht tun. Das wäre der falsche Anreiz.
Ich komme zum Thema Wachstumsbeschleunigungs-gesetz. Es ist Ihre Lieblingsbeschäftigung, das zu kriti-sieren. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz genau dasRichtige gemacht haben.
Für die jetzige Situation kann es nicht verantwortlichsein; denn es gilt erst seit drei Monaten. Wir haben in derTat auch bei der Besteuerung der Leasingunternehmenund bei der Frage der Funktionsverlagerung, die wir an-ders geklärt haben, richtig gehandelt. Das stärkt aufDauer unseren Investitionsstandort und auch die steuerli-che Basis. Das wird auf mittlere und längere Sicht dieEinnahmesituation der Kommunen verbessern.
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Dr. Mathias Middelberg
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Sie reden sich ein, Sie hätten durch allerlei Hinzu-rechnungen die Gewerbesteuer und damit die Einnahme-situation der Kommunen stabilisiert. Gerade die derzei-tige Krisensituation zeigt, dass das völliger Unsinn ist;
denn Sie besteuern damit die Substanz von Unterneh-men, denen das Wasser ohnehin schon bis zum Halssteht. Sie würden in dieser Situation die Unternehmenund damit die Arbeitsplätze wegsteuern
und die steuerliche Basis vieler Kommunen vernichten.Wir haben dem Mittelstand Luft verschafft.
Er braucht nämlich vor allen Dingen eines: Liquidität.Sie beschwören immer wieder die Kreditklemme. Indemwir Liquidität für den Mittelstand geschaffen haben, sindwir dieses Problem angegangen. Wir geben den mittel-ständischen Unternehmen mehr Möglichkeiten, über Ka-pital frei zu verfügen.
Interessanterweise hat die SPD im Kreistag des Land-kreises Emsland eine Resolution gegen das Wachstums-beschleunigungsgesetz einbringen wollen. Der dortigeLandrat hat sich dezidiert mit einzelnen Punkten diesesGesetzes auseinandergesetzt und sehr fundiert dargelegt,warum es für den Mittelstand in den Gemeinden imLandkreis Emsland nützlich ist. Letztendlich ist es näm-lich ein kommunalfreundliches Gesetz. Sie werden la-chen: Noch bevor es zur Debatte über diese Resolutionkam, hat die dortige SPD-Kreistagsfraktion ihren Reso-lutionsantrag zurückgezogen. So empfehlen wir Ihnendas mit Ihrem vorliegenden Antrag auch.
An uns – das unterscheidet uns von Ihnen – haben dieKommunen noch Erwartungen. Von Ihnen erwartet manbei diesem Thema nichts mehr. Das drückt sich auch inder Presseinformation des Deutschen Städte- und Ge-meindebundes aus, die Ende vergangener Woche heraus-gegeben wurde. Es ging um das Thema Hartz-IV-Ge-setze. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hatausgeführt, dass Ihre Korrekturvorschläge zum ThemaHartz IV unbezahlbar seien. Es gelte, die Eigenverant-wortung der Bürger zu stärken, statt immer wieder denEindruck zu vermitteln, der Staat könne weiterhin einRundum-sorglos-Paket finanzieren. Konkret heißt es:Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Ver-mögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nichtnoch zusätzliche Transferleistungen erhalten …Weiter heißt es:Das sei auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeitgegenüber Menschen, die mit ihren Steuern das So-zialsystem finanzieren.Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat recht.
Ich darf mit folgender Feststellung schließen. Sie – dasmachen Ihre Anträge deutlich – entfernen sich immerweiter von der Realität. Uns geht es nicht um Tamtam,sondern um einen ernsthaften Beitrag zur Lösung desProblems. Deswegen empfehle ich, dass wir Ihre An-träge ablehnen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1152, 17/1142 und 17/1143 an diean der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung überden Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderungdes Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/869, den Gesetzentwurf der Fraktion derSPD auf Drucksache 17/520 abzulehnen. Wir stimmennun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionder SPD namentlich ab. Vorher möchte ich noch daraufhinweisen, dass wir im Anschluss daran noch eine einfa-che Abstimmung durchführen werden.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze be-setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.1)Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zunehmen, damit wir die Abstimmungen zur Beschlussemp-fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/869fortsetzen können.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/447mit dem Titel „Umsatzsteuerermäßigung für Hotelleriezurücknehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der1) Ergebnis Seite 3148 D
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3144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Vizepräsidentin Petra Pau
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SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkt 28 a bis 28 e und28 h bis 28 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:28 a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Zukunftsreport – Ubiquitäres Computing– Drucksache 17/405 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenéRöspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDAdulte Stammzellforschung ausweiten, For-schung in der regenerativen Medizin voran-bringen und Deutschlands Spitzenpositionausbauen– Drucksache 17/908 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerbraucherfreundliche kostenfreie Warte-schleifen bei telefonischen Dienstleistungeneinführen– Drucksache 17/1029 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Federführung strittigd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, AndrejHunko, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEVerhandlungen über die Aufnahme Islands indie Europäische Union eröffnen– Drucksache 17/1059 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPEinvernehmensherstellung von Bundestag undBundesregierung zum Beitrittsantrag der Re-publik Island zur Europäischen Union und zurEmpfehlung der EU-Kommission vom 24. Fe-bruar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsver-handlungenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10des Gesetzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bundestagin Angelegenheiten der Europäischen Union– Drucksache 17/1190 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPÜbergangsmaßnahmen zur Zusammensetzungdes Europäischen Parlamentes nach dem In-krafttreten des Vertrages von Lissabon– Drucksache 17/1179 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussi) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPGewährleistung der Sicherheit der Eisenbah-nen in Deutschland– Drucksache 17/1162 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusj) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAngelika Krüger-Leißner, Martin Dörmann,Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Für eine Kinodigitalisierung, die den Erhaltunserer Kinolandschaft sichert– Drucksache 17/1156 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENPartei-Sponsoring transparenter gestalten– Drucksache 17/1169 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Rechtsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEParteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln– Drucksache 17/892 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei derdie Federführung strittig ist.Tagesordnungspunkt 28 c. Interfraktionell wird Über-weisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/1029 mit dem Titel „Ver-braucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei tele-fonischen Dienstleistungen einführen“ an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe-derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-logie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünschtFederführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-führung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-logie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über-weisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an-genommen.Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisun-gen.Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b, 28 d und 28 e,28 h bis 28 j sowie Zusatzpunkte 3 a und 3 b. Interfrak-tionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Die Vorlage auf Drucksache 17/1059, Tagesordnungs-punkt 28 d, soll abweichend von der Tagesordnung nichtan den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h sowiedie Zusatzpunkte 4 a bis 4 k auf. Es handelt sich um dieBeschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 29 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Abkommens vom15. Dezember 1950 über die Gründung einesRates für die Zusammenarbeit auf dem Ge-biete des Zollwesens– Drucksache 17/759 –Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses
– Drucksache 17/1207 –Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsNicolette KresslDr. Birgit ReinemundRichard PitterleLisa PausDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/1207, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/759 anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 29 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu den Änderungsurkunden vom 24. Novem-ber 2006 zur Konstitution und zur Konventionder Internationalen Fernmeldeunion vom22. Dezember 1992– Drucksache 17/760 –Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– Drucksache 17/1197 –Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. Lämmel
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3146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Vizepräsidentin Petra Pau
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Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1197,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/760 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmender Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktionund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist angenommen.Tagesordnungspunkt 29 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines AchtenGesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-sionsschutzgesetzes– Drucksache 17/800 –Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
– Drucksache 17/1198 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael PaulUte VogtDr. Lutz KnopekRalph LenkertDorothea SteinerDer Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/1198, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/800 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Frak-tion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-genommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen derUnionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stim-men der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 29 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBeschlagnahmung von Generika in Europastoppen – Versorgung von Entwicklungslän-dern mit Generika sichern– Drucksachen 17/448, 17/871 –Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss
Karin Roth
Helga DaubNiema MovassatUwe KekeritzDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/871, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/448 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion undder FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 29 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungAchtundachtzigste Verordnung zur Änderungder Außenwirtschaftsverordnung– Drucksachen 17/441, 17/1136 –Berichterstattung:Abgeordneter Paul K. FriedhoffDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/1136, die Aufhebung der Verord-nung auf Drucksache 17/441 nicht zu verlangen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-nommen.Tagesordnungspunkt 29 f:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungNeunundachtzigste Verordnung zur Änderungder Außenwirtschaftsverordnung– Drucksachen 17/442, 17/1136 –Berichterstattung:Abgeordneter Paul K. FriedhoffDer Ausschuss empfiehlt weiterhin in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhe-bung der Verordnung auf Drucksache 17/442 nicht zu ver-langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
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tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 29 g:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungEinhundertneunundfünfzigste Verordnung zurÄnderung der Einfuhrliste– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –– Drucksachen 17/443, 17/1136 –Berichterstattung:Abgeordneter Paul K. FriedhoffAuch hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhe-bung der Verordnung auf Drucksache 17/443 nicht zu ver-langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 29 h:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung zur Umsetzung der Dienstleis-tungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umwelt-rechts sowie zur Änderung umweltrechtlicherVorschriften– Drucksachen 17/862, 17/940 Nr. 2, 17/1212 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas GebhartDr. Matthias MierschJudith SkudelnyRalph LenkertDorothea SteinerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/1212, der Verordnung aufDrucksache 17/862 zuzustimmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltungder SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Zusatzpunkt 4 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht 2 BvG 1/10– Drucksache 17/1192 –Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Kauder
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Streitverfah-ren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten,Herrn Professor Dr. Christian Seiler als Prozessbevoll-mächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linkeangenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Zusatzpunkt 4 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 61 zu Petitionen– Drucksache 17/1180 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 61 ist einstimmig an-genommen.Zusatzpunkt 4 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 62 zu Petitionen– Drucksache 17/1181 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 62 ist mit den Stim-men der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Zusatzpunkt 4 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 63 zu Petitionen– Drucksache 17/1182 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 63 ist einstimmig an-genommen.Zusatzpunkt 4 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 64 zu Petitionen– Drucksache 17/1183 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 64 ist gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Zusatzpunkt 4 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 65 zu Petitionen– Drucksache 17/1184 –
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Vizepräsidentin Petra Pau
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– Drucksache 17/1186 – – Drucksache 17/1189 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 67 ist gegen die Stim-men der Fraktion der SPD angenommen.Zusatzpunkt 4 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 68 zu Petitionen– Drucksache 17/1187 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 68 ist gegen die Stim-men der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen bei Zustimmung der übrigen Fraktionen ange-nommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 556;davonja: 248nein: 308JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathySiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagPeter Friedrichhält sich? – Die Sammelübersicht 70 ist mit den Stim-men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen dieStimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen nundas von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung überden Gesetzentwurf der Fraktion der SPD „Entwurf eines… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes“,Drucksachen 17/520 und 17/869, bekannt: abgegebeneStimmen 557. Mit Ja haben 248 Kolleginnen und Kolle-gen gestimmt, mit Nein haben 309 Kolleginnen und Kol-legen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetz-entwurf ist damit abgelehnt.Michael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf
Michael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Dr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksWer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-Wer stimmt dafür? – Wer shält sich? – Die Sammelübeder Fraktion Bündnis 90/DieZusatzpunkt 4 g:Beratung der Beschlus
zu Petitionen –timmt dagegen? – Wer ent-rsicht 66 ist mit den Stim-PD-Fraktion und der FDP-der Fraktion Die Linke undGrünen angenommen.sempfehlung des Petitions-huss)zu PetitionenZusatzpunkt 4 j:Beratung der Beschlus
zu Petitionen –timmt dagegen? – Wer ent-icht 69 ist mit den Stimmen FDP-Fraktion gegen die und der Fraktion Bünd-tung der Fraktion Die Linkesempfehlung des Petitions-huss)zu Petitionen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3149
Vizepräsidentin Petra Pau
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Katja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenDr. Hermann ScheerMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Olaf ScholzOttmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzStefan SchwartzeDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichDr. Dagmar EnkelmannWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej Konstantin HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannCaren LayRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPriska Hinz
Ulrike HöfkenIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Anna Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausGitta ConnemannLeo DautzenbergAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnHolger HaibachDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael Hennrich
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3150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Vizepräsidentin Petra Pau
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Jürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenChristian HirteStefan Müller
Nadine Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Stephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Elke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampRobert HochbaumFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDr. Dieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker Kauder
Dr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangePaul LehriederIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandEckhard PolsLucia PuttrichDaniela RaabThomas RachelEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannLena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Sebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppSebastian KörberPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten Heiko StaffeldtDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3151
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKonsequenzen aus den zahlreichen bekanntgewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs inkirchlichen und weltlichen EinrichtungenIch eröffne die Aussprache.Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istgut, dass das Thema Kindesmissbrauch den DeutschenBundestag endlich im Rahmen eines ordentlichen Tages-ordnungspunktes beschäftigt. Es ist schlecht, dass, ob-wohl wir seit Ende Januar massiv von neuen Fällen hö-ren, die Bundesregierung sich bis heute an dieser Stellenicht erklärt hat. Ich hätte erwartet, dass die zuständigeBundesministerin längst eine Regierungserklärung abge-geben und uns dargelegt hätte, welche Maßnahmen er-griffen werden müssen, um die Vorfälle aufzuarbeitenund Kinder in Zukunft zu schützen.
Welche Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden,das ist die Frage. Stattdessen bietet uns diese Regierungeinen runden Tisch. Da gab es einen Vorschlag von FrauLeutheusser-Schnarrenberger, dem die anderen nicht fol-gen wollten. Dann hat Frau Schavan – bis vor kurzemMitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken –erklärt, sie wolle auch einen runden Tisch. Da waren esschon zwei. Die Bundesministerin, die eigentlich zustän-dig ist, kam auch irgendwann. Noch ein runder Tisch. AmEnde wurde ein runder Tisch mit zwei Untergruppen undeiner Beauftragten eingerichtet. Seit Ende Januar ist dassozusagen die erste Aussage der Bundesregierung. Dashilft den Kindern nicht.Meine Damen und Herren, ich erwarte, dass die fürFamilie und Kinder zuständige Ministerin jeden TagLeute vorlädt – ob aus dem Bereich Schule, ob aus demBereich Heimaufsicht, ob aus dem Bereich der Trägerdieser Internate oder Freizeiteinrichtungen –, nach Ber-lin einlädt und von ihnen jetzt und hier ganz konkreteSchritte fordert, zum Beispiel die klare Aussage: Ab so-fort wird bei jedem Gerücht und jedem Verdachtsfall dasan unabhängige Dritte gegeben, und das geht auch sofortan Polizei und Staatsanwaltschaft. – Republikweit so et-was zu organisieren, Frau Schröder, wäre Ihre Pflicht ge-wesen als Reaktion auf die Hunderte von Vorfällen, diewir sehen und die wahrscheinlich nur die Spitze des Eis-berges darstellen. Stattdessen wollen Sie es am rundenTisch diskutieren.
Ihre Aufgabe wäre gewesen, Vertreter der Länder vor-zuladen und dafür Sorge zu tragen, dass überall – in je-dem Bundesland, in jedem Regierungsbezirk – Anlauf-stellen eingerichtet werden, zum Beispiel dass es imJugendamt eine Person gibt mit getrennter Aktenführungund Schweigepflicht, an die sich Kinder, Jugendliche,Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter sofort wendenkönnen. Das muss man jetzt für alle Fälle, die noch pas-sieren können – und das wissen wir –, einrichten. Statt-dessen diskutieren Sie das an einem runden Tisch.Ich sage Ihnen eines ganz klar: Bei solchen Straftaten– den vergangenen und auch denen in der Zukunft – gibtes überhaupt keinen Grund, an einem runden Tisch zudiskutieren, weil es dort nichts zu erörtern gibt. Es gibtdie moralische Pflicht, innerhalb einer Schule über Ge-rüchte des sexuellen Missbrauchs nicht zu diskutieren,sondern den Kindern sofort zu helfen. Ich muss sagen:An der Stelle scheinen Sie mir überfordert.
Wollen Sie beispielsweise mit einem Vertreter der ka-tholischen Kirche, sozusagen dem Arbeitgeber eines Pa-ters, der sexuellen Missbrauch betrieben hat, an einemrunden Tisch diskutieren, wie die Meldepflichten sind?Das geht gar nicht.
– Doch, auch darum geht es bei diesem runden Tisch,und wenn es darum nicht geht, dann muss die Bundes-ministerin die Vertreter der Länder und Institutionenjetzt vorladen und ganz klar sagen, was sie will.An dieser Stelle sage ich: Die Ministerin ist überfor-dert, und Frau Merkel hat zugelassen, dass hier am Endemehr Rücksicht auf die Institutionen genommen wurde,als dass man tatsächlich etwas getan hat.
– Doch, das stimmt. – Es gab an dieser Stelle keinerleiGrund, irgendjemanden für seine Aufklärungsarbeit zuloben, und schon gar nicht den Papst. Lesen Sie einmal,wie viele neue Fälle bei uns bekannt geworden sind.
Wenn Sie die internationale Presse lesen, zum Beispieldie New York Times, dann sehen Sie, welche Problemeauch die Kirche aufzuarbeiten hat.Ich sage an dieser Stelle: Ich will, dass wir wirklichganz klare Linien ziehen. Wenn es um den aktuellenSchutz geht, dann gibt es nichts zu diskutieren. Sie kön-nen an einem runden Tisch oder in einem anderen Gre-mium über einen Entschädigungsfonds und über dieVeränderung der Verjährungsfristen zum Beispiel im Zi-vilrecht reden, aber Sie sind jetzt, nachdem Wochen ver-strichen sind, verpflichtet, endlich dafür Sorge zu tragen,dass das falsche Verhalten, diese Wagenburgmentalitätund dieses Bestreben, die Institutionen zu schützen– egal ob katholische Kirche oder Reformpädagogik –,
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3152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Renate Künast
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endlich ein Ende findet.
Wir wissen eines: Der Bundestag muss Position be-ziehen, und die Bundesregierung muss Position bezie-hen. Die Kinder und nicht der Papst oder andere öffentli-che Institutionen brauchen unseren Schutz und unsereUnterstützung. Die Kinder brauchen einen Anwalt.Die Opfer, die es schon gibt und die noch heute alsErwachsene leiden, brauchen einen öffentlichen Bericht,in dem ganz deutlich gesagt wird, was war. In den Fäl-len, in denen Verjährung eingetreten ist, erleben die Opfernicht mehr, dass sich eines Tages ein Richter erhebt undsagt: Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. – Un-sere Verpflichtung ist es, gegenüber diesen Opfern klar-zumachen, dass es einen öffentlichen Bericht gebenwird, in dem steht, was dort passiert ist, sodass die ge-samte Gesellschaft dies aufnimmt. Sie haben das Recht,dass sich solche Dinge ab heute nicht wiederholen kön-nen.Ich bitte Sie inständig: Regeln Sie die Dinge, dieheute zu regeln sind, und verschieben Sie sie nicht an ir-gendeinen runden Tisch oder an eine Kinderschutzbe-auftragte! Heute brauchen viele Kinder in diesem Landunseren Schutz und unsere schützende Hand. Dies istkein Delikt der Vergangenheit, sondern ein Delikt, dasnoch heute an Kindern begangen wird.Ich sage: Frau Ministerin, walten Sie endlich einmalIhres Amtes, statt sich nur zu verstecken!
Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Schockierendes war in den letzten Wochen über sexuel-len Missbrauch an Mädchen und Jungen in kirchlichen,in weltlichen und in pädagogischen Einrichtungen zu le-sen und zu hören. Nicht weniger schockierend ist dasSchweigen, das diese Verbrechen über viele Jahrzehntebegleitet hat; denn durch dieses Schweigen wurdenMauern zementiert, hinter denen viele Kinder und Ju-gendliche Pädophilen hilflos ausgeliefert waren und hin-ter denen manche der Betroffenen auch heute noch ge-fangen sind.Ich glaube, dass wir uns nicht im Geringsten vorstel-len können, welche Verletzungen Missbrauchserleb-nisse Kinderseelen zufügen und wie tief diese Narbensind, die ein Leben lang bleiben.Verantwortung zu übernehmen, bedeutet deshalb zu-nächst einmal, den Opfern Gehör zu schenken und dieFakten klar und schonungslos zu benennen, über die vielzu lange geschwiegen wurde.
Der nüchterne Begriff des sexuellen Kindesmiss-brauchs bringt nur vage auf den Punkt, worüber wir hierreden: In kirchlichen und weltlichen Einrichtungen sindKinder und Jugendliche über Jahre hinweg vergewaltigt,misshandelt und gedemütigt worden. Diese Verbrechenhaben Menschen begangen, denen die Kinder vertrauten,die sie respektierten und gern hatten und von denen siesich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung er-hofften. Zu den Tätern gehörten Priester, Lehrer und Er-zieher. Zu den Verantwortlichen gehörten aber auch die-jenigen, die die Mauern des Schweigens aufgebaut undaufrechterhalten haben: durch Wegsehen, durch Vertu-schen, durch Banalisieren, aber auch zum Beispiel durchdie Versetzung von Tätern in die nächste Schule, in dienächste Gemeinde, in den nächsten Verein, wo sie eswieder mit Kindern zu tun hatten.Es gab aber auch couragierte Frauen und Männer, dieihre Verantwortung ernst nahmen. Stellvertretend fürviele nenne ich zum einen Pater Klaus Mertes, den Rek-tor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg.Er hat im Januar Berichte über sexuelle Übergriffezweier Patres in den 70er- und 80er-Jahren öffentlich ge-macht und damit die aktuelle Debatte erst ausgelöst.
Zum anderen nenne ich Margarita Kaufmann, die Di-rektorin der Odenwaldschule in Hessen. Auch sie hat dieVorwürfe ehemaliger Schüler öffentlich gemacht undsich von Anfang an um Aufklärung und Aufarbeitungbemüht. Allen, die sich wie diese beiden in kirchlichenund weltlichen Einrichtungen um Wahrheit und Wahr-haftigkeit bemühen, gebührt unser Respekt, meine Da-men und Herren.
Jetzt geht es darum, so wie Margarita Kaufmann undKlaus Mertes Verantwortung zu übernehmen für das,was geschehen ist. Das sind wir den Opfern schuldig.Und es geht darum, alles in unseren Möglichkeiten Ste-hende zu tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zuverhindern. Das sind wir den Kindern schuldig, das sindwir aber auch den Eltern schuldig. Denn jede Mutter, je-der Vater wird sich doch jetzt fragen: Wie kann ichmeine Kinder vor solchen Erfahrungen schützen? Dieaufrichtige Antwort muss lauten: Einen hundertprozenti-gen Schutz gibt es nicht. Aber es gab in kirchlichen undweltlichen Einrichtungen offenbar Schutzräume für Pä-dophile, in denen Kindesmissbrauch lange unbemerktund ungestraft bleiben konnte. Solche Schutzräume dür-fen wir nicht länger zulassen.
Deshalb hat das Kabinett gestern die Einrichtung ei-nes runden Tisches beschlossen, der sich mit sexuellemMissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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befassen wird – auch in Familien. Wir wollen unsererdoppelten Verantwortung für Aufarbeitung und wirksa-men Kinderschutz gerecht werden: zum einen durch dieAnerkennung des Leidens der Opfer und möglicher-weise notwendige rechtspolitische Folgerungen, zum an-deren aber auch durch präventive Maßnahmen und ef-fektive Interventionsmöglichkeiten.Diese Aufgaben kann kein Ressort alleine bewältigen.Deshalb danke ich meinen Kolleginnen Frau Schavanund Frau Leutheusser-Schnarrenberger herzlich für diegute und enge Zusammenarbeit. Gemeinsam haben wirUmsetzungsvorschläge erarbeitet, die wir am rundenTisch unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftli-chen Institutionen und mit Unterstützung von Kinder-schutz- und Opferorganisationen zur Diskussion stellenund konkretisieren wollen.Zur Prävention schlagen wir unter anderem vor: Maß-nahmen zur behutsamen Sensibilisierung und zur Stär-kung von Jungen und Mädchen – sie sollen Missbraucherkennen und klar benennen können –, Maßnahmen zurSensibilisierung und Weiterbildung von Fachkräften undEltern – sie sollen Indizien sexualisierter Gewalt erken-nen und intervenieren können –, strukturelle Maßnah-men wie die Überprüfung von Aus- und Fortbildungen,aber auch Zulassungsbedingungen für pädagogisch täti-ges Personal.Wir müssen aber auch direkt bei den Neigungen pä-dophiler Männer ansetzen. Vorbildlich sind hier die Pro-jekte der Charité im Rahmen der Kampagne „Kein Täterwerden.“, die in den letzten Jahren – gemeinsam geför-dert von Bundesjustizministerium und Bundesfamilien-ministerium – entwickelt wurden. Hier können sichMänner konkret beraten und therapieren lassen, bevoraus ihren pädophilen Fantasien pädophile Handlungenwerden.Über diese präventiven Maßnahmen hinaus müssenwir aber auch zusätzlich zum Strafrecht wirksame Inter-ventionsstrategien erarbeiten. Dazu gehören zum Bei-spiel klare Verhaltensregeln, die wir in Form von Selbst-verpflichtungserklärungen festlegen wollen. All dasbetrifft den künftigen Schutz von Kindern und Jugendli-chen.Diejenigen aber, die in den letzten Jahren und Jahr-zehnten Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind,haben einen Anspruch auf umfassende Anerkennung ih-res Leids. Deshalb freue ich mich, dass wir mit FrauDr. Christine Bergmann eine erfahrene Fachfrau als un-abhängige Beauftragte gewinnen konnten. Sie bringt diefür dieses sensible Thema richtige Mischung aus Finger-spitzengefühl und Durchsetzungsvermögen mit. Da-durch kann sie zum einen Ansprechpartnerin für die Op-fer sexuellen Missbrauchs sein. Sie kann zum anderenaber auch Vorschläge erarbeiten, wie Opfern materiellund immateriell umfassend geholfen werden kann.Einen Beitrag zur Prävention wird schließlich auchdie geplante Reform des Kinderschutzgesetzes leisten,auf die ich hier nur am Rande eingehen kann. Unter an-derem geht es dabei um die Neuregelung der Befugnis-norm für Berufsgeheimnisträger, um zum Beispiel einebessere Zusammenarbeit zwischen Kinderärzten und Ju-gendämtern zu ermöglichen.Die Debatte über sexuellen Missbrauch, die wir hierführen, ist eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Wirsollten diese Debatte – darum bitte ich Sie – immer aufeine Art und Weise führen, die der Perspektive der Opfergerecht wird. Dazu gehört auch, dass wir uns bei allenMeinungsunterschieden über den richtigen Weg gegen-seitig ein aufrichtiges Interesse an Aufarbeitung, Aufklä-rung und Kinderschutz unterstellen. Dafür bitte ich Sieum Ihre Unterstützung.
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz für die SPD-
Fraktion.
Meine Damen und Herren! Mir geht es wie Ihnen undvielen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland: Wirverfolgen atemlos, was alles an neuen Berichten bekanntwird. Jeden Tag, wenn man die Zeitung aufschlägt,Nachrichten hört oder im Fernsehen sieht, was berichtetwird, denkt man: Das kann und darf in unserem Landdoch nicht sein. – Aber es ist so.Deshalb gehört, finde ich, zu den Feststellungen, dieuns leiten sollten, eine klare Aussage: Niemand darf des-halb, weil wir über lange zurückliegende Vorfälle disku-tieren, den Eindruck haben, es handele sich um ein Pro-blem der Vergangenheit. Sexueller Missbrauch vonKindern in Schulen und Einrichtungen kirchlicher oderweltlicher Art findet auch heute statt, und wahrschein-lich in viel größerem Umfang, als jeder von uns es wahr-haben will. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns um dieseFrage kümmern, und zwar nicht nur um gute Aufklärungder Vergangenheit, sondern auch um Handlungsstrate-gien, die jetzt notwendig sind. Ich glaube, wir solltendas, was jetzt neu herauskommt, zum Anlass nehmen,dafür zu sorgen, dass die Dunkelfeldforschung inDeutschland mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet wird,und zu versuchen, herauszufinden, wie groß das Ausmaßdes Missbrauchs ist, über das wir nichts wissen, weil nie-mand darüber redet. Das muss jetzt dringend geschehen.
Ich finde es gut, dass nach dem vielen Hin und Her,von dem wir gehört haben, jetzt in der Regierung Einig-keit über die Bildung eines gemeinsamen runden Tischesbesteht. Dabei muss eines klar sein – darin bin ich mirmit der Kollegin Künast einig –: Ein runder Tisch istkein Ersatz für eigenes Handeln und eigene Politik. DieRegierung ist jetzt nicht suspendiert und darf warten,was der runde Tisch macht; vielmehr muss sie jeden Taghandeln. Denn die Probleme sind drängend und könnennicht auf spätere Zeiten vertagt werden.
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3154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Olaf Scholz
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Selbstverständlich ist es richtig, dass man versucht,möglichst viele einzubeziehen. Dass Sie die frühere Mi-nisterin Bergmann als Beauftragte für diesen Prozess miteinbezogen haben, ist ein guter Schritt, und zwar des-halb, weil sie eine gute Ministerin war, von der wir allewissen, dass sie gerade auf dem Feld der Bekämpfungdes sexuellen Missbrauchs viele gesetzliche und staatli-che Initiativen auf den Weg gebracht hat.
Ich glaube aber, dass man dabei nicht stehen bleibensollte, und habe mir nun sehr sorgfältig angehört, wasbei Ihren verschiedenen Bemühungen, miteinander klar-zukommen, herausgekommen ist. Eine Frage scheint mirdarüber aber vergessen worden sein, und deshalb stelleich sie hier: Haben Sie auch an das Parlament gedacht?Selbstverständlich muss in diesem Kommunikationspro-zess nicht nur die Regierung mit irgendwem in der Weltreden, sondern eben auch mit dem Parlament. Deshalbfordere ich Sie an dieser Stelle auf: Sorgen Sie dafür,dass auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages – al-ler Fraktionen in diesem Parlament – an diesem rundenTischen teilnehmen können!
Ich habe gesagt: Wir müssen heute handeln. – Dieskönnen und müssen wir durchaus in einer Kontinuitätvon Gesetzgebung und Problembewältigung tun, die inden letzten Jahren, gerade in den Regierungen von Rot-Grün und der Großen Koalition, stattgefunden haben.Deshalb noch einmal zur Erinnerung: Da ist ganz schönviel passiert. Das Strafmaß ist massiv heraufgesetzt wor-den. Viele, die früher ganz harmlos davongekommensind, können dies heute nicht mehr, weil sich eben derStrafrahmen verändert hat. Wir haben auch dafür ge-sorgt, dass diese Taten nicht mehr so einfach verjährenkönnen, wie es in der Vergangenheit der Fall war, indemwir sowohl die zivilrechtliche als auch, was noch wichti-ger ist, die strafrechtliche Verjährung erst zu einem Zeit-punkt beginnen lassen, an dem ein erwachsener Menschdarüber entscheiden kann, was er mit den schrecklichenErlebnissen seiner Jugend in dieser Hinsicht machenwill.Aber wir lernen ja auch aus den jetzigen Berichten.Wir lernen, dass es sehr lange dauert, bis manche Debat-ten und manche Ereignisse öffentlich und breit diskutiertwerden. Das ist in einer bestimmten Hinsicht sehr be-merkenswert; denn es hat ja in großen Wellen immerwieder neue Diskussionen über sexuellen Missbrauchgegeben, die auch zu Konsequenzen sowie dazu geführthaben, dass sich flächendeckend viele melden und sa-gen: Ich bin ein Opfer dieser Taten gewesen und will,dass das jetzt endlich in Ordnung gebracht wird. – Aberimmer wieder gibt es neue Wellen. Deshalb glaube ich,dass dies ein fortschreitender Prozess von Aufklärung,von Problembewusstsein ist, der in der Gesellschaftstattfindet, dass dieser Prozess aber bestimmt noch langenicht abgeschlossen ist, und ich glaube auch, dass wirHandlungsinstrumente brauchen, die gerade für dieseStraftaten eine andere Form von Verjährung möglichmachen, als das heute schon der Fall ist.Deshalb sollte bei dem, was wir jetzt diskutieren, ge-schaut werden, ob wir – das wäre ein gewisser System-bruch zu dem Prinzip der Verjährung – in diesem Zu-sammenhang eine regelhafte zwanzigjährige Verjährungauch für solche Straftaten möglich machen, die eigent-lich schneller verjähren. Denn es muss möglich sein,dass sich jemand später noch ein Herz fasst und sagt: Ichwill, dass das jetzt diskutiert wird. – Auch muss für dieTäter klar sein, dass sie nicht nur kurze Zeit abwartenmüssen, bis Dinge nicht mehr verfolgt werden, die siefür harmlos halten, die für die Betroffenen aber eineschwere Demütigung darstellen, die sie möglicherweiseein ganzes Leben lang nicht vergessen. Deshalb solltenwir auch darüber diskutieren, speziell im Zusammen-hang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern undSchutzbefohlenen, eine zwanzigjährige Verjährung re-gelhaft zu machen, die sicherstellt, dass alle Straftatenmöglichst ans Tageslicht kommen und immer wiederneue Wellen dieses Prozesses dazu führen können, dasseines Tages die Dunkelziffer bei diesem Problem kleinergeworden und nicht mehr so groß ist wie heute.Schönen Dank.
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, SabineLeutheusser-Schnarrenberger.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs inAbhängigkeits- und Machtverhältnissen in Institutionenprivater und kirchlicher Art sowie im familiären Umfeldmuss man nicht nur sehr verantwortungsbewusst, son-dern auch sorgfältig und ernst umgehen. Da helfen keinevordergründigen Vorschläge, dass jetzt die Bundesregie-rung anfangen solle, dass halbe Land vorzuladen undzum Rapport zu bitten.Ich denke, Frau Künast, in Hamburg werden Sie sichdafür eingesetzt haben, dass entsprechende Angebotegemacht werden, wie es gerade auch in Bayern, in derBayerischen Staatsregierung geschieht. Es ist wichtig,dass nicht nur die Bundesregierung ihrer Verantwortunggerecht wird.
– Dann hätten Sie einmal von den guten Beispielen be-richten können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3155
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Wir sind froh über alle Anregungen und greifen siegerne auf.
Eines ist doch auch selbstverständlich, liebe Kollegin-nen und Kollegen: Der runde Tisch – es gibt ja gute Vor-bilder für die Wirkungskraft runder Tische; ich erinnerein diesem Zusammenhang an die deutsche Einheit – istdie Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Kräfte zu-sammenzubringen, um über zwei wichtige Bereiche zureden
und dort zu Empfehlungen und Vorschlägen zu kommen.Nie und nimmer kann dies aber die Arbeit der Regierungund die wichtige Aufgabe des Parlaments ersetzen.
Die Diskussion unter den Beteiligten kann aber wichtigeAnstöße geben. Man wird von den Vertretern der betrof-fenen Institutionen fordern, nicht nur alles zu tun, damitweiter aufgeklärt wird, sondern auch eine Untersuchungder Strukturen in den jeweiligen Einrichtungen vorzu-nehmen, damit es zu Verbesserungen kommt, damit frü-her aufgeklärt wird und Informationen früher an dieStaatsanwaltschaft vor Ort weitergegeben werden. Wenndie Informationen möglichst früh – sobald man Anhalts-punkte hat – weitergegeben werden, wenn nicht interneUntersuchungen eine frühe Weitergabe verhindern, dannhaben wir die Chance, die Verantwortlichen wirklich zurRechenschaft zu ziehen. Es muss ein Ergebnis des run-den Tisches sein, zu entsprechenden Veränderungen beiden jeweiligen internen Strukturen zu kommen.
Herr Scholz, Sie haben die Frage angesprochen: Wasist mit dem Parlament? Natürlich muss auch das Parla-ment am runden Tisch vertreten sein. Die Parlamentarierergänzen die Vertreter von Organisationen und gesell-schaftlich relevanten Einrichtungen, die eingeladen wer-den. Meine Kollegin, Frau Schröder, hat schon eine ent-sprechende Liste vorgelegt und den 23. April als Terminfestgelegt; eine Einladung ist bereits herausgegangen.Wir drei Ministerinnen, jeweils für einen Bereich zustän-dig, werden jetzt, nach dem Kabinettsbeschluss, denTeilnehmerkreis des runden Tisches erweitern, weil derrunde Tisch mehr Aufgaben bekommen hat. Er wirdüber die Aufarbeitung der Vergangenheit – ein wichtigeszweites Standbein –, die Durchsetzung des staatlichenStrafanspruchs, rechtspolitische Folgerungen und mögli-che Rechtsänderungen debattieren. Selbstverständlichmuss auch das Parlament bei diesem runden Tisch ver-treten sein.Wir werden hier unabhängig von dem, was der rundeTisch und die unabhängige Beauftragte zu leisten in derLage sind, Debatten zu diesem Thema führen; denn wirwollen, dass gerade durch die Diskussion eine öffentli-che Debatte erzeugt wird, die dazu führt, dass in den In-stitutionen selbst für Änderungen gesorgt wird.
Um an dieser Stelle die katholische Kirche anzuspre-chen: Hier geht es auch um interne Richtlinien, die bis-her nicht so klare Anweisungen enthalten haben; Vertre-ter der katholischen Kirche, gerade auch aus Bayern,haben jetzt aber Änderungen gefordert. Der runde Tischkann hier Unterstützung geben und diesen Prozess beför-dern. Weder der runde Tisch noch das Parlament könnenaber die notwendigen Entscheidungen ersetzen, die vonden Verantwortlichen in den Institutionen getroffen wer-den müssen.Wir können einen Beitrag leisten, indem wir Vor-schläge unterbreiten, wie Strukturen so verbessert wer-den können, dass sich Kinder und Jugendliche, die sichin Abhängigkeitssituationen befinden, trauen, zu denAnsprechpartnern und Anlaufstellen zu gehen. In welcheiner fürchterlichen Situation befinden sich diese jungenMenschen! Sie haben vielleicht Angst, sich an ihre El-tern zu wenden, weil sie befürchten, dort nicht ernst ge-nommen zu werden. Sie trauen sich nicht, sich an einenLehrer zu wenden, weil sie nicht wissen, wie das in derjeweiligen Einrichtung – in der Schule, im Internat, imKloster, wo auch immer – behandelt wird. Sie brauchenalso externe Ansprechpartner. Wir benötigen also ver-trauensbildende Maßnahmen dieser Institutionen, damitdie jungen Menschen sehen: Wenn es hier zu sexuellemMissbrauch kommt – er kann in unterschiedlichen For-men und mit unterschiedlicher Intensität stattfinden –,gibt es, wenn sich die Betroffenen nicht trauen, sichgleich an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft zuwenden, vertrauliche Ansprechpartner und -partnerin-nen, die mit den Informationen so umgehen, wie es derSituation angemessen ist. –
Hier eine Struktur aufzubrechen, die das bisher nicht er-möglicht hat, ist ein ganz wichtiges Anliegen des rundenTisches. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir damit wirk-lich etwas bewegen können.
Wir werden natürlich Debatten führen, die schon in derVergangenheit geführt worden sind. Ich war Anfang der90er-Jahre Justizministerin, als wir im Parlament die Re-gelung verabschiedet haben, dass die Verjährungsfristbei sexuellem Missbrauch erst mit dem 18. Lebensjahrdes Opfers beginnt und abgestuft nach der Höhe derStrafandrohung 10 und 20 Jahre beträgt.Ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche ge-führt, sowohl mit Beauftragten von betroffenen Institu-tionen, zum Beispiel des Jesuitenordens, als auch mitBeauftragten und Verantwortlichen außerhalb dieser In-stitutionen, die sich schon jetzt mit diesem Thema befas-sen. In diesen Gesprächen kam immer wieder zum Aus-
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3156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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druck, dass es für das Opfer am allerschlimmsten ist,wenn nach 20 oder 30 Jahren Informationen an dieStaatsanwaltschaft gehen, der mögliche Täter die Tatnicht zugibt, es zu einem Gerichtsverfahren und zur Be-weisaufnahme kommt, man sich auf konkrete Datennicht mehr einlassen kann, weil die Erinnerung einfachnicht mehr da ist, und dann der Sachverhalt nicht mehraufklärbar ist. Denn was bleibt dann? Es bleibt ein Op-fer, das zum zweiten Mal zum Opfer geworden ist, weiles das Gefühl hat, dass ihm trotz eines Gerichtsverfah-rens keine Gerechtigkeit widerfährt. Das muss bei derDebatte über die Länge und den Beginn von Verjäh-rungsfristen im strafrechtlichen Bereich immer mit be-rücksichtigt werden. Deshalb bin ich hier so zurückhal-tend. Ich glaube, wir müssen vor allem alles daransetzen,dass frühzeitiger aufgeklärt werden kann.
Aber es geht um sehr viel mehr. Es geht auch um dieFrage: Wie gehen wir mit den Taten um, die verjährtsind? Was können wir noch für die Opfer tun, wenn zi-vilrechtliche Ansprüche verjährt sind? Eine vertrauens-bildende Maßnahme könnte sein, dass die Verantwortli-chen laut und deutlich sagen, dass sie das Eintreten derVerjährung außer Acht lassen. Das könnte schon einwichtiger Schritt sein. Aber natürlich sind weitereSchritte notwendig. Diese müssen zusammen mit den In-stitutionen und den Verantwortlichen erörtert werden.Das kann einen Weg weisen und eine Perspektive eröff-nen.Ich bin fest davon überzeugt, dass mit dem rundenTisch und der Berufung einer unabhängigen Beauftrag-ten zwei gute Entscheidungen im Kabinett getroffenworden sind. Wenn wir hier ein gemeinsames Ziel ver-folgen, dann sollten wir uns darüber unterhalten, welcheMaßnahmen im Einzelnen getroffen werden müssen,aber nicht darüber streiten, ob ein runder Tisch richtig istoder nicht.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat Diana Golze das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Gewalt an Kindern, auch und geradesexuelle Gewalt, ist ein Straftatbestand, der nicht zu ent-schuldigen ist und der weder vertuscht noch verharmlostwerden darf. Es hat mich wütend gemacht, wenn ich inden letzten Tagen gehört habe, dass die Kirche nur bei ei-nem erhärteten Verdacht einen Staatsanwalt eingeschaltetoder irgendwie auf den Rechtsstaat zurückgegriffen hat.Das kann nicht sein. Ich sehe es so: Die Kirche ist Teil derGesellschaft; sie will Teil der Gesellschaft sein. Dannmüssen aber auch für ihre Mitglieder, für ihre Angestell-ten und für ihre Mitarbeiter dieselben Regeln gelten wiefür alle anderen. Dazu zählt, dass man sich rechtsstaatli-chen Verfahren stellt und dass Kindern und Jugendlichendie Möglichkeit gegeben wird, diesen Weg zu wählen.
Ich möchte, ebenso wie es die Frau Ministerin getanhat, meine Achtung vor den Menschen ausdrücken, dieein Tabu gebrochen haben, indem sie dieses Thema andie Öffentlichkeit gebracht und die ganze Gesellschaftzum Hinschauen und hoffentlich auch zum Handeln ge-zwungen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieviel Überwindung so etwas gekostet haben muss, wennbisher die oberste Priorität der Schutz der Institutionenwar. Jetzt endlich setzt ein Umdenken ein und der Schutzder Kinder und Jugendlichen wird zur obersten Priorität.Ich möchte diesen Menschen dafür meinen ausdrückli-chen Dank aussprechen.
Ich möchte aber nicht nur über die Kirche und diejetzt zutage getretenen Fälle sprechen; denn sexuelle Ge-walt an Kindern ist ein gesamtgesellschaftliches Pro-blem. Die jüngst bekannt gewordenen Fälle machendeutlich: Es sind Vergehen von Erziehenden gegenüberKindern und Jugendlichen, die mit einem Missbrauchvon Macht einhergehen. Hier werden Hierarchien undStrukturen genutzt, um diejenigen zu Opfern zu machen,die in einem Abhängigkeitsverhältnis, in einem Vertrau-ensverhältnis gestanden haben und die sich aus diesenStrukturen nicht befreien konnten. Je hierarchischer undautoritärer eine solche Struktur aufgebaut ist, umsoleichter fällt es den Tätern, Opfer zu finden und diese zujahrelangem Schweigen zu bringen; denn hier ist dieMacht ganz klar verteilt. Die Kinder sind die Ohnmäch-tigen. Sie haben in diesem Machtverhältnis die gerings-ten Möglichkeiten, sich zu wehren.Ich spreche ganz bewusst nicht vom „Missbrauch vonKindern“, sondern von Machtmissbrauch; denn der Wort-gebrauch „Missbrauch von Kindern“ legt nahe, es gäbeeinen richtigen „Gebrauch“ von Kindern. Das macht Kin-der wieder nur zu Objekten.
Deshalb bitte ich gerade die Grünen, die die AktuelleStunde mit diesem Titel beantragt haben, diesen Sprach-gebrauch zu ändern. Es geht nicht um den sexuellenMissbrauch von Kindern, sondern es geht um Macht-missbrauch und um Opfer. Mit einer solchen Formulie-rung werden Kinder wie Objekte behandelt, obwohl sieSubjekte sind. Das müssen wir als Gesetzgeber unter-streichen. Ich fordere an dieser Stelle noch einmal dieAufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Wirmüssen die Machtverhältnisse zugunsten der Kinder ver-ändern.
Kinder und Erwachsene müssen sich auf Augenhöheund dürfen sich nicht hierarchisiert begegnen. Kinder und
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Diana Golze
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Jugendliche müssen dann aber auch ihre Rechte kennen.Das ist schon gesagt worden; ich möchte es aber noch ein-mal unterstreichen. Sie müssen ihre eigenen Grenzen undihre Rechte kennen. Sie müssen damit umgehen lernen.Sie müssen wissen und darauf vertrauen können: Wanndarf und muss ich Nein sagen, wenn meine Grenzen über-schritten werden? Das muss diesen Kindern klar werden.Ganz egal, ob in der Familie, in der Schule oder im Sport-verein – wir hören regelmäßig von Vorfällen, in denenTrainer übergriffig werden –: Kinder müssen ihre Rechteund ihre Grenzen kennen.Um sich für ihre Rechte einzusetzen, brauchen sieschnell erreichbare Hilfen: Notrufnummern, möglichstbundesweit einheitlich, die überall bekannt sind undüberall veröffentlicht sind, wo am anderen Ende der Lei-tung gut geschultes Personal ist, wo man schnell Hilfe be-kommt. Dabei geht es auch um von den Institutionen un-abhängige Hilfen. Natürlich spreche ich mich für denverstärkten Einsatz von Schulsozialarbeitern aus. Aberwir brauchen auch Hilfe, die unabhängig von diesen In-stitutionen existiert. Stellen Sie sich folgende Situationvor: Das Kind sieht auf dem Schulhof den Lehrer, vondem es sich angefasst gefühlt hat, mit dem Schulsozialpä-dagogen sprechen. Diesen Schulsozialpädagogen sprichtes doch nicht an, um ihn um Hilfe zu bitten. – Es mussalso auch außerhalb der Institutionen verlässliche und be-kannte Hilfe für die Kinder und Jugendlichen geben.
Klar ist: Für das gesunde Aufwachsen von Kindernund Jugendlichen und ihren bestmöglichen Schutz müs-sen wir Ressourcen zur Verfügung stellen. Jugendämter– ich will es nur schlagwortartig ansprechen – dürfennicht mehr nur als Feuerwehr fungieren, sondern müssenwieder agieren können. Sie brauchen Personal. Wir brau-chen Jugendeinrichtungen mit geschultem pädagogi-schen Personal. Wir brauchen Beratungsstellen, die nichtdem kommunalen Sparzwang unterliegen. Wir brauchenschlicht und ergreifend eine Gesellschaft, die ihre Verant-wortung übernimmt – auf allen Ebenen und vor allemdort, wo die Kinder sind.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Aktuelle Stunde,beantragt von den Grünen, behandelt die Konsequenzenaus den zahlreich bekannt gewordenen Fällen sexuellenMissbrauchs.Ich finde, die Bundesregierung hat zügig gehandelt.Die erste Konsequenz ist dieser runde Tisch. Man kanndas kritisch sehen; man kann runde Tische im Allgemei-nen für unzureichend halten. In diesem speziellen Fall– das haben die Beiträge vorhin gezeigt – gibt es aberschon viele Vorschläge und viele Überlegungen, die imVorfeld eingebracht wurden. Ich halte es sogar für einekluge Entscheidung, dass wir uns angesichts der Ernst-haftigkeit dieses Themas ganz bewusst auf eine andereArt, als es sonst in Gesetzgebungsverfahren üblich ist,auf einen runden Tisch mit verschiedenen Arbeitsgrup-pen eingelassen haben, um so zu versuchen, Lösungs-vorschläge oder -ansätze dazu zu finden.Es beschäftigen sich vier starke Frauen mit diesemThema, drei amtierende Ministerinnen und eine ehema-lige Ministerin. Ich glaube, dass die Chance groß ist,dass in den Arbeitsgruppen, die vorwärtsgewandt straf-rechtliche Aspekte, aber auch rückwärtsgewandt As-pekte der Wiedergutmachung im Blick haben, gute Vor-schläge erarbeitet werden. Herr Kollege Scholz,natürlich bin auch ich der Auffassung, dass das Parla-ment dem nicht zusehen kann. Spätestens dann, wenn esdarum geht, Ergebnisse bzw. Vorschläge in Gesetzes-form zu gießen, muss das Parlament beteiligt werden.
– Wir werden es natürlich entscheiden. Wir werden unssinnvollerweise auch im Vorfeld an der Diskussion be-teiligen.
Die Rechtspolitiker der CDU/CSU und der FDP habensich schon den einen oder anderen Gedanken gemacht.Ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg, uns zueinigen und uns auch daran zu beteiligen.Die Bedeutsamkeit und die schwerwiegenden Fällevon Kindesmissbrauch muss man nicht besonders er-wähnen. Kindesmissbrauch findet überall statt, vorwie-gend im privaten Bereich. Es ist widerlich, was Kindernteilweise angetan wird. Selbst im sogenannten Arbeiter-und Bauernparadies – so schreibt Die Welt am 21. März –hat es allein in Thüringen über 160 ehemalige Insassenvon sogenannten Jugendwerkhöfen gegeben, die sichwegen sexueller Übergriffe zu ihren Lasten gemeldet ha-ben. Wir sehen also: Diese Taten finden überall und im-mer statt. Deswegen ist es richtig, zu versuchen, derenZahl zu minimieren, sie frühzeitig aufzudecken und einelangfristige Belastung der Opfer zu vermeiden.Es wurden schon gute Projekte genannt, zum Beispieldas Projekt „Kein Täter werden“ der Charité. Meines Er-achtens würde es sehr viel Sinn machen, dass sich nichtnur Berlin mit solchen Projekten beschäftigt, sondernauch Hamburg, Frankfurt, Köln und München. Es ist einrichtiger Ansatz, zu sagen: Wenn man Missbrauch ver-meiden kann, muss man sich gar nicht erst über Bestra-fung und Opferentschädigung unterhalten.
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Michael Grosse-Brömer
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Das muss man aber gleichwohl tun, wenn Missbrauchstattgefunden hat. Deswegen sind wir der Auffassung– das ist mittlerweile unstreitig –, dass es sinnvoll ist, diezivilrechtliche Verjährungsfrist zu verlängern. Es istnicht nur sinnvoll zu wissen, dass der Täter bestraft wird,sondern es ist auch sinnvoll zu wissen, dass man eineEntschädigung für das erlittene Leid bekommt. So be-kommt man vielleicht die Kosten der Therapie erstattetoder – was meines Erachtens noch wichtiger ist – sogarSchmerzensgeld aufgrund dieser massiven Eingriffe indie körperliche und seelische Integrität.Die CDU/CSU-Fraktion ist der Auffassung, dass manden Täter in genügendem Maße abschrecken muss. An-gesichts dieser abscheulichen Form der Kriminalität hal-ten wir es zudem für sinnvoll, diese Form des Miss-brauchs endlich als das zu bewerten, was es ist, nämlichals ein Verbrechen. Das ist ein Teil der Gesamtstrategie;aber auch über den strafrechtlichen Aspekt der Abschre-ckung sollte nachgedacht werden.
Aus meiner Sicht muss man über eine Verlängerungvon Fristen auch im strafrechtlichen Bereich nachden-ken; Herr Kollege Scholz hat das auch angesprochen.Dabei gibt es eine gewisse Diskrepanz, vielleicht aucheine gewisse Problematik, die darin besteht, dass sichmanche nicht offenbaren können. Strafrechtlich gesehengibt es das Problem der Aufklärung nach langer Zeit.Persönlich beim Opfer besteht das Problem, dass mannicht sofort in der Lage ist, sich zu offenbaren, erst rechtnicht, wenn man noch ein Kind ist und missbrauchtwurde.Da wir in der vergangenen Woche auch über diesesThema diskutiert haben und die Grünen Antragstellerdieser Aktuellen Stunde sind, möchte ich abschließendFolgendes sagen: Herr Kollege Montag hat erwähnt,dass Rot-Grün nach dem Regierungswechsel 1998 nichtsEiligeres zu tun gehabt habe, als ein veraltetes und täter-freundliches Sexualstrafrecht zu verschärfen. Im An-schluss an die vergangene Sitzung habe ich mich schlau-gemacht: In Wahrheit war es so, dass die Reform ersteinmal gar nicht stattfand, sondern fünf Jahre nach demRegierungswechsel, nämlich im Jahr 2003, und zwarauch deshalb, weil der Bundesrat und die CDU/CSU-Fraktion über Jahre hinweg eigene, zum Teil wesentlichschärfere Gesetzentwürfe vorgelegt haben, die zum Bei-spiel von den Grünen abgelehnt wurden. Ich zitiere ab-schließend aus der Beschlussempfehlung des Rechtsaus-schusses dazu:Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hob hervor,dass die parlamentarischen Debatten um die Re-form des Sexualstrafrechts als ein offener Dialoggeführt worden seien. Es stimme, dass sich die Ko-alition in einigen Punkten nach der Anhörung undder notwendigen Abwägung der juristischen … Ar-gumente der Position der Union angenähert habe.Im Laufe dieser Diskussion habe es auch Positionengegeben, die man nicht mehr vertrete.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Das war in diesem Fall sicherlich sehr sinnvoll. Viel-
leicht können wir uns darauf verständigen, dass wir uns
auch diesmal annähern und für die Opfer gute Lösungen
finden. In diesem Fall freue ich mich auf die Zusammen-
arbeit.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist Marlene Rupprecht für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „sexu-eller Missbrauch“ oder „sexualisierte Gewalt gegen Kin-der“ eignet sich wirklich nicht für Parteipolitik, nicht fürPopulismus und auch nicht für kurzfristige Schlagzeilen.Das Thema bedarf ganz großer Ernsthaftigkeit und Hart-näckigkeit; denn es geht um die Zerstörung von Kindern –ihrer Körper, ihrer Seelen und ihres ganzen Lebens. Da-rum geht es. Deshalb erwarte ich große Ernsthaftigkeit.Die Menschenrechte gelten überall – so sind sie fest-gelegt – und für jeden Menschen, auch für unsere Kin-der. Niemand auf dieser Welt – das muss man sich täg-lich sagen – hat das Recht, die Rechte eines Kindes zumissachten. Weder in Familien noch im Bekanntenkreis,in Vereinen oder in irgendeiner Institution duldet die De-mokratie Menschenrechtsverletzungen, weder in Kir-chen und kirchlichen Einrichtungen noch in Reform-pädagogikschulen oder sonst irgendwo. Die Straftaten,über die wir derzeit öffentlich reden, wurden in Institu-tionen begangen, in Schulen und Internaten. Diese bilde-ten mit ihrem geschlossenen System den Schutzraumund den Nährboden für die Täter, die hier ihren Neigun-gen nachgehen und diese ausleben konnten, ohne Konse-quenzen befürchten zu müssen. Das ist das System, nachinnen abgeschottet.Wir alle können hier nicht versprechen, dass es niemehr Kinderschänder geben wird. – Ich benutze bewusstdieses Wort und nicht ein griechisches oder ein sonstigesFremdwort, weil ich denke, dass es eindeutig und klarist. Das sind Kinderschänder, und da gibt es kein Pardon. –Was wir aber versprechen müssen, ist, dass wir alles tunwerden, um den Tätern den Schutzraum zu nehmen, da-mit sie nicht unentdeckt bleiben.Was muss also getan werden? Wir fangen bei der Be-kämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuali-sierten Gewalt nicht bei null an. Das sollten wir sehen.Wir haben Aktionspläne geschrieben; wir haben eineBund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet, die immernoch existiert und in der Vertreter des Bundes, der Län-
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Marlene Rupprecht
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der und von Nichtregierungsorganisationen sind. Wirbrauchen eine rückhaltlose Aufklärung aller Fälle.Ich erwarte von den Tätern und den Institutionen,dass sie sich klar und eindeutig zu ihrer Schuld bekennenund dass sie sich für dieses Unrecht entschuldigen. Inder Bibel heißt es:Eure Rede aber sei: ja ja; nein nein. Was darüber ist,das ist von Übel.Diese Klarheit erwarte ich von den Institutionen, egalvon welcher. Ich erwarte auch, dass sie alles unterneh-men, die geschlossenen Systeme aufzubrechen, um dieihnen anvertrauten Kinder vor Gewalt zu schützen. Und:Alle Opfer brauchen die notwendige Unterstützung, umihre Traumatisierungen zu verarbeiten. Das gilt auch fürdiejenigen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Auchdiese Opfer haben ein Recht darauf.Wir müssen die seit Jahren begonnene Arbeit zumSchutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und Miss-brauch fortsetzen. Hier ist wirklich viel getan worden.Dabei geht es nicht um Parteipolitik, nicht darum, werwas mehr gemacht hat. Das Thema ist schon lange in derPolitik angekommen. Wir haben sowohl im Strafrechtund im Jugendhilferecht als auch in der Öffentlichkeitsehr viel dafür getan. Wenn der runde Tisch dazu bei-trägt, die Aufgaben der Aufarbeitung und der Hilfe fürdie Opfer, soweit möglich, zu erfüllen – wir können dieTaten nicht ungeschehen machen –, wenn wir für die Zu-kunft lernen, dann hat der runde Tisch einen Sinn, abernur dann.Was wir nicht machen dürfen, sind leere Versprechun-gen und großes Getöse. Ich verspreche, mich im parla-mentarischen Raum und außerhalb im Sinne der Betrof-fenen und aller Kinder ernsthaft, ehrlich und offen dafüreinzusetzen, dass wir an diesem Thema arbeiten und ih-nen Schutz gewähren. Das erwarte ich übrigens vomganzen Haus. Das erwarte ich von jedem Mitglied dieserGesellschaft. Wenn wir sehen, dass ein Kind von Gewaltbetroffen bzw. Gewalt ausgesetzt ist, dann müssen wir– ich, Sie, wir alle – hinsehen, handeln und helfen. So– „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ – hieß übrigens imApril 2004 die erste Kampagne in diesem Bereich. Mil-lionen Menschen haben sie mitbekommen. Ich hoffe,dass wir sie fortsetzen können. Ich mache mich dafürstark.Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Siemich, sehr verehrte Ministerinnen, an Ihrer Seite. Ichkämpfe gern dafür, dass wir einen Riesenschritt im Sinneder Kinder und der Betroffenen vorwärts machen.Danke schön.
Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, ich glaube,dass wir alle in dieser Stunde versuchen, uns diesemThema sehr ernsthaft zu nähern, und dass das in dieserAktuellen Stunde gut gelungen ist. Sie weisen zu Rechtdarauf hin, dass dieses Thema parteiübergreifend ange-gangen werden muss und dass es für dieses Thema keineschnellen Lösungen gibt.Als ich mich gestern Nachmittag auf diese AktuelleStunde vorbereitet habe, ist mir eine dpa-Meldung in dieHände gekommen, aus der ich kurz zitieren will:Die Mutter der Mädchen hatte ihren Bekannten öf-ter auf die Kinder aufpassen lassen. Als sie denMissbrauch bemerkte, ließ sie den Mann nicht mehrin die Wohnung, zeigte ihn aber nicht an.Das ist die Situation. – Wenn wir versuchen, nach Ant-worten zu suchen, dann kommt es darauf an, dass wiruns die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen müssenuns auch im Zusammenhang mit der katholischen Kirchebeschäftigen. Sie erschrecken uns. Die Fragen lauten:Wie lange dauert es, bis ein Opfer den Weg nach drau-ßen findet? Warum liegen die Fälle des Missbrauchs 10,20 und mehr Jahre zurück, bevor die Opfer den Mut fin-den, sich zu öffnen und die Tat, die an ihnen verübt wor-den ist, bekannt zu machen?Wenn man sich die Fragen so stellt, wird man eineAntwort in erster Linie im Bereich der Prävention su-chen müssen. Das Projekt „Kein Täter werden“ der Cha-rité in Berlin ist schon angesprochen worden. Es gibt einvergleichbares Projekt an der Universität Kiel und einähnliches an der Universität Regensburg. Die Projektewenden sich an potenzielle Täter, also an Pädophile, dienoch keine Tat verübt haben, um sie zu therapieren. Ichhalte es deswegen für wichtig, dass sich der runde Tischmit der Frage beschäftigt, wie wir dieses Projekt auch ananderen Universitäten, die ähnliche Lehrstühle haben,etablieren können, um ein Angebot zu schaffen; denndas Besondere an dem Angebot ist die Anonymität.Wenn wir in diese Richtung denken, dann müssen wirauch in Richtung der Opfer denken. Wir müssen – das isteine Aufgabe, die wir als Parlament an den runden Tischbringen müssen – uns die Frage stellen, ob wir nichtauch ein Projekt mit der Überschrift „Kein Opfer wer-den“ brauchen. Das ist sicherlich etwas unglücklich for-muliert; denn wenn ein Mensch, ob Junge oder Mäd-chen, in die Situation kommt, missbraucht zu werden,dann ist er schon ein Opfer. Aber die Opfer müssen ei-nen Ausgang finden, weil sie sich in der Situation befin-den – das wurde bereits angesprochen –, dass der Täteraus demselben sozialen Netzwerk kommt: Er kommt ausder Familie, er ist, wie ich es eben vorgelesen habe, derBekannte der Mutter, er ist der Lehrer, in der Kirche derPriester oder möglicherweise auch der Lehrer.Tatsache ist auch, dass Dritte, die diese Taten be-obachten, nicht unmittelbar die Kraft und den Mut fin-den, sich dieser Situation zu stellen. Deswegen müssenwir nach geeigneten Stellen suchen – ähnlich wie bei denProjekten der Charité, in Kiel oder in Regensburg –, andie sie sich wenden können, um ihre Beobachtungenoder möglicherweise ihren eigenen Missbrauch vortra-gen zu können, um Hilfe und Beratung zu erhalten. Da-
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Christian Ahrendt
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mit öffnen wir eine Tür, damit die Menschen aus diesemProblembereich herauskommen.Wir müssen uns auch die Frage stellen: Was müssenwir im Strafrecht tun, um die vorhandenen Instrumentestärker auf Prävention auszurichten? Es kann doch nichtsein, dass jemand, der zum ersten Mal mit 1,6 Promilleim Verkehr unterwegs ist, nach einem Jahr seinen Füh-rerschein nicht wiederbekommt, ohne eine sogenannteMPU, eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung,gemacht zu haben, während wir im Strafrecht die Situa-tion haben, dass – wenn niedrige Freiheitsstrafen, nied-rige Geldstrafen, überhaupt Strafen unter zwei Jahrenverhängt werden – die Maßregeln, die wir im Strafrechtzur Verfügung haben, um den Täter zu einer Therapie zubewegen, nicht genügend angewendet werden. DasStrafrecht bietet gerade bei Tätern, die im Bereich derKinderpornografie ihre „Täterkarriere“ beginnen, einendurchaus sinnvollen Ansatz – eine Ordnung in der Struk-tur in der Maßregel, was eine therapeutische Behandlungals Auflage in einem Urteil angeht –, um zu Ergebnissenzu kommen und weiterhin einen präventiven Schutz zugewährleisten.Ausgehend von der Frage, die ich aufgeworfen habe,sind das mögliche Antworten. Viele andere Ansätze sindheute genannt worden. Es liegt eine Diskussion vor uns,die von den Ergebnissen des runden Tisches wesentlichbeeinflusst werden wird. Ich glaube, wir alle haben dieErnsthaftigkeit, um am Ende die richtigen Entscheidun-gen zu treffen, um auf die Frage, wie wir den Miss-brauch von Kindern erfolgreich bekämpfen, eine guteAntwort zu geben.Danke schön.
Ekin Deligöz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Missbrauch von Kindern, insbesondere in Institutio-nen, ist ein abscheuliches Verbrechen. Darin sind wir unseinig. Wir dürfen das nicht bagatellisieren. Wir dürfendas nicht verharmlosen, indem wir sagen: Das gab esschon immer und wird es auch immer geben. Ich glaube,auch darin sind wir einer Meinung. Das Parlament stehtin der Mitverantwortung, wenn es darum geht, Kinder zuschützen. Auch darin wäre ich gerne mit Ihnen einerMeinung.
Wenn man in den vergangenen Tagen und Wochen dieBerichterstattung der Medien verfolgt hat, konnte mandas nicht wirklich herauslesen. Was haben die zuständi-gen Ministerinnen dazu beigetragen? An dem Punkt, andem man geradezu erpicht darauf war, zu handeln, dieDinge beim Namen zu nennen, nichts zu vertuschen undschonungslos aufzuklären, haben uns die Medien einSchauspiel von drei Ministerinnen, von drei – Zitat –„starken Frauen“ geliefert. Das war ein Schauspiel, indem sie sich gezankt haben, in dem sie Zwistigkeitenhatten und in dem nicht klar war, wer welche Kompeten-zen hat. Sie haben Parteipolitik gemacht. Sie haben Res-sortinteressen vertreten. Sie haben einzelne Interessen-gruppen geschützt und gedeckt. Sie haben uns einSchauspiel geliefert, und Sie haben sich nicht den drän-genden Fragen gestellt. Das müssen Sie sich vorwerfenlassen.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, vieles von dem,was Sie gesagt haben, habe ich sehr geschätzt. Aberwenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: „Wir ho-len uns Anregungen vom runden Tisch“, dann sage ichIhnen: Sie waren doch schon einmal viel weiter. Sie wa-ren auch bei Ihren Forderungen schon viel weiter. Wa-rum stehen Sie nicht dazu? Sie haben doch schon einmalgenau das Richtige gefordert. Sie haben gesagt: Wirbrauchen eine Aufarbeitung der Verbrechen. Das brau-chen wir. Dafür reicht ein runder Tisch aber nicht aus.Wir brauchen unabhängige Stellen. Auch das haben Sieeinmal gefordert. Stehen Sie doch dazu. Das ist richtig.Wie soll denn der runde Tisch funktionieren? An einemrunden Tisch, ohne klare Kompetenzen, sollen sich dieBetroffenen selbst analysieren und sich selbst kritisie-ren? Sie sollen selbst schauen, was bei ihnen in die Brü-che gegangen ist, was bei ihnen falschgelaufen ist? Daswissen Sie doch. Sie waren doch schon viel weiter. Set-zen Sie sich doch durch. Lassen Sie sich doch nicht ein-lullen von Ihren Kollegen, und lassen Sie sich auch nichteinreden, ein runder Tisch sei der richtige Ort, um so et-was aufzuarbeiten.
Wir brauchen diese Anregungen nicht. Wir braucheneine schonungslose Aufklärung. Wir müssen herausbe-kommen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dassso etwas passiert ist, welche Umstände dazu geführt ha-ben, welche Rahmenbedingungen das ermöglicht habenund was wir tun können, damit so etwas in Zukunft indieser Form nicht wieder vorkommt; denn wir brauchenmehr als Aufklärung.Es ist immer noch nicht ganz klar, was Sie mit demrunden Tisch erreichen wollen. Einen Rechercheauftraggibt es nicht. Einen Analyseauftrag, einen Ermittlungs-auftrag gibt es nicht. Es ist überhaupt nicht klar, wer waswie veröffentlichen soll oder wird.Noch eines ist anzumerken, wenn man nach vorneschaut – das sage ich gerade der CDU/CSU-Fraktion, dieimmer gesagt hat: „Kinderrechte sind in der Verfassungschon verankert. Deshalb brauchen wir sie nicht nocheinmal aufzunehmen“ –: Nehmen Sie diesen Auftragernst, und sagen Sie, dass es hier auch um Kinderrechtegeht, dass wir das in den Vordergrund stellen.
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Ekin Deligöz
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Dann agieren Sie doch auch so. Nehmen Sie sich selbstbeim Wort. Davon ist leider nichts, aber auch gar nichtszu spüren.Frau Schröder, Sie sagen, dass es keine Schutzräumefür Pädophile geben soll. Konkretisieren Sie das: Wasmeinen Sie damit? Wie soll das aussehen? Wie wollenSie das verhindern? Was sind Ihre Antworten? Sagen Sieuns nicht Sachen, die sowieso jeder weiß und jederkennt. Sagen Sie uns, wie Ihre Vorstellung aussieht, wieSie handeln wollen. Wir wollen Sie handeln sehen. Wirwollen Sie nicht nur reden hören. Wir wollen auch nicht,dass Sie lavieren. An diesem Punkt haben wir die Ver-antwortung, im Parlament und in der Regierung.Wir lassen viele Opferverbände alleine. Wir könnennicht nur die Charité unterstützen, sondern müssen auchWildwasser und Zartbitter unterstützen. Das sind vieleFrauen, die Tag für Tag mit den Opfern arbeiten. Auchsie kommen in unseren Debatten nicht vor.
Auch Kinderschutzbund und Kinderschutzhäuser müs-sen Sie einbeziehen. Sie fühlen sich im Moment allein-gelassen. Sie fühlen sich im Stich gelassen.
Unser Auftrag lautet: schonungslose Aufklärung undkonsequenter Schutz von Kindern, und das ohne Wennund Aber, ohne Lavieren, nicht mit unverbindlichen run-den Tischen, sondern mit einem klaren Handlungsauf-trag. Das fordern wir von Ihnen ein.
Die Kollegin Dorothee Bär hat jetzt das Wort für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heuteeine Aktuelle Stunde, der es meines Erachtens nicht anErnsthaftigkeit gefehlt hat – egal wer ans Rednerpult ge-treten ist, ob Herr Scholz, Frau Golze oder FrauRupprecht. Auch die Beiträge der Kolleginnen und Kol-legen von den Oppositionsfraktionen waren sehr kon-struktiv.Deswegen verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warumSie, Frau Künast und Frau Deligöz, so viel Redezeit da-für verwenden, zu sagen, was Sie alles nicht in Ordnungfinden, warum Sie meinen, die Ministerinnen an dieserStelle vorführen zu müssen.
Die Debatte ist dafür viel zu ernst. Ich würde michfreuen, wenn die Grünen bei diesem Thema gemeinsammit allen Fraktionen im Bundestag an einem Strang zie-hen würden.
Seitdem der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin andie Öffentlichkeit gegangen ist – das ist auch von Minis-terin Schröder angesprochen worden –, vergeht keinTag, an dem nicht weitere Fälle bekannt werden, in de-nen Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Esist wichtig, in dieser Debatte anzusprechen, dass nichteine einzelne Gruppierung dafür verantwortlich ist.Diese Misshandlungen, dieser Missbrauch, diese unter-lassene Hilfe für die Opfer findet nicht nur in kirchlichenEinrichtungen statt, sondern auch in weltlichen, in Inter-naten, in Schulen, in Sportvereinen, und leider Gotteseben auch in Familien.Es ist auch angesprochen worden, dass diese Taten,die hier jetzt ans Tageslicht kommen, schon sehr vieleJahre zurückliegen, weil die meisten Opfer aus Schamgeschwiegen haben. Diejenigen, die gesprochen haben,haben oft sehr schnell wieder geschwiegen, weil ihnen invielen Fällen nicht geglaubt wurde. Durch diesesSchweigen und Wegsehen wurde großes menschlichesLeid verursacht. Aus falsch verstandener Sorge um denRuf der Schule, des Vereins, der Kirche, aber auch ausAngst vor Skandalen hat man die Opfer alleingelassen.Ich bin sehr dankbar, dass das Verschweigen undWegsehen ein Ende hat und dass eine Enttabuisierungstattfindet, und zwar so, dass sich jedes Opfer meldenund sagen kann, dass es ihm passiert ist, ohne damitrechnen zu müssen, in eine Ecke gestellt und mit komi-schen Begriffen tituliert zu werden, leider Gottes auchvor Gericht. Diese Enttabuisierung findet endlich statt.Frau Künast, wenn Sie die Ministerin kritisieren undsagen, sie hätte hier eine eigene Regierungserklärung ab-geben müssen, dann müssen Sie doch feststellen, dasssogar die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärungauf das Thema Bezug genommen und zum Thema Miss-brauch Stellung genommen hat. Ich denke, höher ange-siedelt als bei der Bundeskanzlerin ist das in diesemLand nicht möglich.
Die Bundeskanzlerin hat gesagt – ich zitiere –: Klarheitund Wahrheit sind das, was die Opfer, aber auch die Ge-sellschaft als Ganzes brauchen. – Nur so können Über-griffe in der Zukunft verhindert werden.Wir alle wissen, dass es besonders perfide ist, dass esin der Regel Vertraute sind, die die Opfer angreifen. Essind Lehrer, es sind Sporttrainer, es sind Chorleiter, naheVerwandte und Bekannte. Mit dieser Tat werden nichtnur die Körper zerstört, sondern auch das Vertrauen, dieUnbeschwertheit, die Unbefangenheit und das ganze Le-ben dieser Kinder. Deswegen bin ich froh, dass wir jetztdiese Transparenz und Offenheit haben. Die Idee derBundesregierung – die drei Ministerinnen wurden ange-
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Dorothee Bär
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sprochen –, einen runden Tisch zu installieren, ist gut.Ich begrüße das sehr.Wir müssen den Opfern natürlich auch materiell hel-fen – Schmerzensgeld ist angesprochen worden –, aberGeld ist nicht das Einzige, und mit Geld kann kein Leidaufgewogen werden. Aber oft ist es so – auch das mussman hier feststellen –, dass die Berufsbiografien von Op-fern, die sich nach Jahren oder Jahrzehnten melden, sozerstört sind, dass Geld wichtig ist, damit sie sich bei-spielsweise durch Fortbildungen oder Weiterbildungendie Möglichkeit schaffen können, eine neue beruflicheExistenz aufzubauen. Das erleben wir sehr oft.Wir müssen natürlich die Kinder sehr starkmachen;das ist klar. Die Verbesserung der Möglichkeiten für Op-fer, sich jemandem anzuvertrauen, ist angesprochenworden. An dieser Stelle muss eine stärkere Sensibilisie-rung stattfinden, sodass hauptamtliche und ehrenamtli-che Mitarbeiter fortgebildet werden und dass über Stra-tegien gesprochen wird. Wir brauchen natürlich auchRahmenbedingungen, die es den Tätern erschweren,neue Opfer zu finden. Deswegen müssen zunächst dieBerufe, aber auch die Ehrenämter identifiziert werden,bei denen potenzielle Täter sehr nah an Opfer herankom-men. Wir haben schon über das erweiterte Führungs-zeugnis für den Bereich Jugend- und Bildungsarbeit ge-sprochen, das künftig zur Pflicht werden soll, damit einauffällig gewordener Lehrer, Übungsleiter oder Trainerkeine weitere Anstellung bekommt, bei der er mit Kin-dern und Jugendlichen arbeitet.Dass die Taten jetzt öffentlich werden, hat den positi-ven Nebeneffekt, dass jetzt mehr Opfer den Mut fassen– deswegen werden jetzt jeden Tag neue Fälle bekannt –,sich zu melden. Alle haben realisiert, dass es sich nichtum Einzelfälle handelt, sondern um ein Kartell des Weg-schauens, des Schweigens und des Bagatellisierens, dasdiesen Missbrauch über viele Jahre erst ermöglicht hat.Der runde Tisch ist wichtig und richtig, auch auf-grund der aktuellen Debatte. Meiner Kollegin MiriamGruß und mir ist es auch ganz wichtig – an dieser Stellesind wir Koalitionsfraktionen uns einig –, dass wir paral-lel dazu weiter mit Hochdruck, wie versprochen, amKinderschutzgesetz arbeiten. Auch das ist zum Teil deraktuellen Debatte geschuldet. Nichts darf unversuchtbleiben, um im Vorfeld präventiv so tätig zu sein, dasswir in Zukunft nicht mehr so viel mit Aufarbeitung zutun haben werden. Wir wollen verhindern, dass so vieleFälle überhaupt stattfinden können. Das ist ein ganzwichtiger Schritt.Herr Scholz hat bereits das Thema Verjährungsfristenangesprochen.
Frau Kollegin.
Ich weiß; das ist der letzte Satz. – Herr Scholz, über
die Verjährungsfristen sollten wir uns wirklich in Ruhe
unterhalten, weil bei vielen Betroffenen oft noch nach
20 Jahren keine Bereitschaft besteht, etwas aus ihrer
Kindheit preiszugeben. Oft kommt der Missbrauch erst
wesentlich später als nach 20 Jahren heraus. Ich habe in
meinem eigenen Wahlkreis erlebt, dass manche Opfer
erst nach 30 Jahren in der Lage sind, –
Frau Kollegin!
– über den Missbrauch zu sprechen. Ich finde es gut,
dass wir alle Fraktionen an unserer Seite haben, wenn
wir uns dieses Themas annehmen.
Danke schön.
Die Kollegin Sonja Amalie Steffen hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Eine ungeheure, jaeine ungeheuerliche Zahl von Missbrauchsfällen in ka-tholischen Einrichtungen, Klöstern, Schulen, Chören istbekannt geworden, der Strom der schlechten Nachrich-ten reißt nicht ab, und auch ehemalige Schüler einer re-formpädagogischen Schule sind betroffen.Hinter den nun aufgedeckten Missbrauchsfällen ste-hen Einzelschicksale, die alle eines gemeinsam haben– das ist vorhin schon angesprochen worden –: Alle Tä-ter kamen über die Strenge und die Autorität zu ihren Ta-ten. Zuerst wurde die hierarchische Stellung benutzt, umdie Integrität der Kinderkörper durch Schlagen undZüchtigen zu verletzen, dann durch sexuellen Miss-brauch. Die Hand, die schlug, wurde zur Hand, die strei-chelte, wo sie wollte, und sich griff, was ihr beliebte.Schließlich wurde sie zur Hand, die Jahre, oft sogar Jahr-zehnte Vorwürfe abwehrte.In der Vergangenheit haben wir gerade im Sexual-strafrecht bedeutende Erfolge erzielt. Diese Erfolge sindzum größten Teil der rot-grünen Regierung zu verdan-ken. Mit der 2004 in Kraft getretenen Gesetzesnovellewurden bereits erhebliche Strafverschärfungen im Be-reich der sexuellen Gewalt gegen Kinder und gegen wi-derstandsunfähige Personen beschlossen.Aus der Praxis wissen wir jedoch, dass es oft sehrlange dauert, bis Missbrauchsopfer in der Lage sind, dieStraftat anzuzeigen; die aktuellen Fälle machen dies er-neut auf schockierende Art und Weise deutlich. Erstwenn die Opfer über das Geschehene reden, in Therapiegehen und verdrängte Bilder zulassen, kommen viele zudem Schluss, dass der Missbrauch geahndet werdenmuss.In Ländern wie Kanada oder Großbritannien müssenSexualstraftäter mit lebenslanger Strafverfolgung rech-nen. Rechtsanwälte und Opferschutzorganisationen indiesen Ländern stellen eine erhebliche Verbesserung der
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Sonja Steffen
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Strafverfolgung fest, auch deshalb, weil der Zeitdruckbei der Beweisbeschaffung wegfällt.Auch im deutschen Strafrecht ist eine Korrektur derregelmäßigen Verjährungsfrist bei sexuellem Miss-brauch geboten. Nach unserem gegenwärtigen Rechtruht die Verjährung bei Sexualstraftaten, bis das Opfer18 Jahre alt geworden ist; das ist, wie ich denke, eineReform, die wirklich sehr gut war. Jedoch ist die Zeit,die dem Opfer dann bleibt, um die Straftat zur Anzeigezu bringen, zu kurz; das haben wir in den aktuellen Fäl-len erneut feststellen müssen. Sie beträgt bei Missbrauchvon Jugendlichen nur fünf Jahre und bei Missbrauch vonKindern unter 14 Jahren zehn Jahre. Das bedeutet, dassdie jugendlichen Opfer mit ihrer Anzeige schon im Altervon 24 Jahren zu spät kommen, die Opfer, die als Kindermissbraucht wurden, bereits mit 29 Jahren. Hier ist eineVerlängerung der Verjährungsfrist angezeigt.Jedoch ist dieser Schritt allein nicht ausreichend. Be-sonders wichtig ist es, den Opfern professionelle Hilfean die Hand zu geben, wenn sie sich nach Jahren derVerzweiflung und des Verdrängens zur Anzeige ent-schließen. Für zahlreiche Missbrauchsopfer werden dielangwierigen Verfahren mit Vernehmungen bei Gerich-ten, bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft undmit Glaubwürdigkeitsgutachten zur Tortur. Den Opfernmuss eine juristische und vor allem eine intensive psy-chologische Unterstützung gewährt werden.Der runde Tisch, der am 23. April seine Arbeit auf-nehmen wird, ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Auf-deckung von sexuellem Missbrauch und zur Verstärkungder Präventionsmaßnahmen. Es wird sich jedoch nichtam runden Tisch allein entscheiden, wie Deutschlandkünftig mit Missbrauch umgeht. Die Tische, auf die esankommt, sind eckig. Sie stehen in Schulen, in Vereins-büros, in Jugendklubs, in Esszimmern, in Küchen und inKneipen. Wie oft an diesen Tischen den Kindern zuge-hört und den Tätern Nein gesagt wird, davon hängt allesab. Dass die Dunkelziffer bei Taten, die sich zu90 Prozent im sozialen Nahbereich der Opfer abspielen,besonders hoch ist, verwundert nicht; das wissen wiralle.Die Hamburger Initiative gegen sexuelle Gewalt anKindern hat ermittelt, dass ein Kind bis zu sieben Perso-nen ansprechen muss, bevor ihm geholfen wird. Es mussdaher auch darüber nachgedacht werden, ob die Mittä-terschaft derjenigen, die wissen, schweigen und die Tä-ter oftmals sogar noch decken, nicht stärker unter denstrafrechtlichen Fokus genommen werden soll.Im Kampf gegen Gewalt und sexuellen Missbrauchvon Kindern und Jugendlichen kommt es darüber hinausentscheidend darauf an, den Kindern auf breiter Ebeneneutrale Vertrauenspersonen in den Schulen, Internatenund Vereinen, aber auch als neutrale Anlaufstelle außer-halb dieser Einrichtungen zur Seite zu stellen, die ihreSprache sprechen, ihnen zuhören und helfen.Besonders begrüße ich an dieser Stelle, dass mitChristine Bergmann eine im Kampf gegen den Miss-brauch sehr erfahrene Sozialdemokratin von der Bundes-regierung zur Missbrauchsbeauftragten bestimmt wurde.
Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder stark zu machen.Wir müssen alles dafür tun, dass dieses Engagement aufeine breite gesellschaftliche Basis gestellt wird. Denn esist zu bedenken: Die Opfer sexueller Gewalt bekommenimmer lebenslänglich.Vielen Dank.
Frau Steffen, für Sie war das die erste Rede hier im
Plenum. Dazu gratulieren wir Ihnen alle ganz herzlich
und wünschen viel Erfolg für die weitere Arbeit.
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Taten,über die wir heute sprechen, sind wirklich erschütternd.Die Fallzahlen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen,machen uns sehr betroffen. Solche Taten verletzen dieWürde, die Integrität, die körperliche und seelische Ge-sundheit der Opfer. Sie bekommen in der Tat lebensläng-lich. Die Verarbeitung solcher Taten dauert Jahre, undoft hört das Leid, das dadurch verursacht wurde, niemalsauf.Deshalb müssen wir uns hier die Frage stellen, wiewir damit umgehen und welche Konsequenzen wir zie-hen. Mir ist wichtig, an den Anfang zu stellen, dass beider Erarbeitung möglicher Konsequenzen die Perspek-tive der Opfer in den Vordergrund gestellt werden muss.Die möglichen Konsequenzen müssen außerdem auf ihreWirksamkeit geprüft werden. Es geht nicht vorrangig da-rum, Täter zu schützen und sie zu therapieren. Man mussdie Sicht der Opfer berücksichtigen, wenn es darumgeht, herauszufinden, was nötig ist.Es geht um Aufarbeitung, um Aufklärung, um Bestra-fung der Täter. Es geht aber auch um Schadensersatznach dem Zivilrecht. Einerseits geht es um Geld, das hel-fen kann, Therapien zu finanzieren. Andererseits ist da-mit auch eine Genugtuungswirkung verbunden, da derTäter an dieser Stelle noch einmal zur Verantwortung ge-zogen wird. Wir brauchen darüber hinaus Veränderun-gen in den Einrichtungen, bei den Trägern. Wir brauchenHilfe für Menschen mit pädophilen Neigungen; das isthier bereits erwähnt worden. Wir müssen bei den Kin-dern ansetzen, sie sensibilisieren und sie starkmachen,sodass sie sich trauen, Nein zu sagen, und sich wehrenkönnen, aber auch sich äußern können, wenn etwas pas-siert ist, und sich gegen weitere Übergriffe wehren kön-nen.Ich empfehle, bei den Dingen anzusetzen, die in unse-rem Handlungsbereich liegen. Bereits angesprochenwurden die Änderungen im strafrechtlichen Bereich.
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Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Sinnvoll ist zum Beispiel die Verlängerung der Verjäh-rungsfrist; denn eine dreijährige Verjährung ab dem21. Geburtstag bei zivilrechtlichen Ansprüchen ist zukurz. Wir erleben aufgrund der bekannt gewordenenFälle gerade jetzt, dass das Bewusstsein, dass einemmassives Unrecht angetan worden ist, und die Fähigkeit,darüber zu reden, manchmal erst später eintreten. DieOpfer können meist erst in einem fortgeschritteneren Al-ter darüber sprechen, da die Verletzung so tief liegt. Diessoll nicht den Täter vor Strafe oder vor zivilrechtlicherVerfolgung schützen. Wir brauchen vielmehr einenSchutzraum für die Opfer. Deshalb müssen wir prüfen,was wir in Bezug auf die Verjährungsfristen tun können.Auch hinsichtlich der Straftatbestände gibt es Wer-tungswidersprüche. Selbst wenn man das flüchtige Be-rühren über der Kleidung nicht dramatisieren muss, kannman Wertungswidersprüche nicht stehen lassen. Sexu-elle Nötigung bei Erwachsenen stellt ein Verbrechen dar.Eine vergleichbare Tat kann im Grundtatbestand beiKindern nicht nur als Vergehen bewertet werden.Wir müssen näher an die Kinder herankommen. Wirmüssen ihnen Ansprechpartner in ihrem Umfeld zur Ver-fügung stellen, zu denen sie Vertrauen aufbauen können.Das geht aber natürlich nicht per Dekret. Gerade dies istAufgabe des runden Tisches. Er ist unter anderem sinn-voll, weil man dort mit den betroffenen Institutionen da-rüber sprechen kann, welche strukturellen Veränderun-gen helfen, damit Kinder genau dieses Angebotvorfinden können.Meine Damen und Herren, es sind schon viele As-pekte angesprochen worden. Ich möchte nicht alles wie-derholen, aber noch einmal darauf eingehen, welcheStrukturen wir vielleicht verändern müssen, wie wir daherangehen müssen, und da beginnen mit einer Einschät-zung von Zartbitter Köln, nämlich dass es tatsächlich ei-nen Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit vonsexuellem Missbrauch und der Struktur einer Organisa-tion.Offene, klar organisierte Strukturen, ein Mitsprache-recht, Möglichkeiten, sich zu beschweren, helfen gegenMissbrauchsanfälligkeit. Wenn die Persönlichkeit desKindes ernst genommen wird, wenn – das ist nicht wirk-lich überraschend – nicht zu viel Autorität herrscht, aberauch kein diffuses Laisser-faire – damit zitiere ich dieLeiterin von Zartbitter Köln –, wird Missbrauch nichtbegünstigt. In beiden Extremen ist den Kindern nicht ge-holfen. Demokratische, offene, klare Strukturen sinddas, was hilft. Das muss der Maßstab sein für alle Struk-turveränderungen, die in Institutionen diskutiert und inAngriff genommen werden.Erschreckend ist, dass anscheinend auch ein hohermoralischer Anspruch nicht davor schützt, dass Miss-brauch passiert, sondern ihn sogar noch schlimmer ma-chen kann. Ich möchte aber auch betonen, dass es beidem moralischen Anspruch, mit dem die Institutionen– die Reformpädagogen, aber auch die Kirchen – wir-ken, gerade darum geht, das Wohl des Menschen, dasWohl des Kindes in den Mittelpunkt zu rücken. Die An-liegen dieser Institutionen, auch die Glaubensbotschaft,dürfen nicht insgesamt dadurch diskreditiert werden,dass in ihren Einrichtungen Taten begangen wordensind, die Missbrauch darstellen.Ich schließe mich hier Heiner Geißler an, der mit sei-ner Kritik an den Strukturen ja nicht gerade zimperlichist. Er hat aber auch ganz klar gesagt: Aus seiner Erfah-rung als Jesuitenschüler sind die Vorfälle in den Ordenkeine typischen Vorfälle. Die kirchliche Botschaft besagtganz klar: Wer einem Kind etwas antut, der wäre bessermit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenktworden.Deshalb glaube ich der Kirche und nehme es ernst,wenn sie jetzt sagt, dass sie neue Leitlinien entwickelnwill, die verhindern, dass es zu Missbrauch kommt, dieverhindern, dass verdeckt wird, die verhindern, dass derTäter geschützt wird. Genau das ist der Sinn des rundenTisches.
Frau Kollegin.
Ich wünsche den drei Ministerinnen viel Glück. Ich
denke, dieser runde Tisch ist der richtige Rahmen, um
darüber zu sprechen, wie man die inneren Strukturen so
verändern kann, dass man den Kindern tatsächlich hel-
fen kann.
Vielen Dank.
Die Kollegin Michaela Noll hat jetzt das Wort für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Die Kollegin Künast ist gegan-gen, und das ist auch nicht schlimm; man hat sie entspre-chend entschuldigt. Ich will dennoch sagen, dass ich ih-ren Vorwurf, wir reagierten mit Schnellschüssen, nichtangebracht fand.Ich bin sehr dankbar, dass wir heute diese Debatteführen. Ich mache den Grünen an dieser Stelle aber denVorwurf, dass sie das Thema einengen auf sexuellenMissbrauch in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen.Es ist zwar richtig, dass gerade vermehrt Fälle von Miss-brauch in solchen Einrichtungen ans Licht kommen;aber es gibt jährlich circa 20 000 Fälle von Missbrauch.Missbrauch findet überall statt.Was glauben Sie, was Opfer von sexuellem Miss-brauch denken, die diese Aktuelle Stunde verfolgen?Viele Opfer werden sich fragen: Warum wird nicht auchüber Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie ge-sprochen?Ich finde es wichtig, zu betonen, dass es uns darumgehen muss, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Wir
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Michaela Noll
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haben auch im Familienausschuss darüber gesprochen:94 Prozent der Täter kommen aus dem unmittelbaren so-zialen Nahfeld, das heißt, aus dem Familien-, Bekann-ten-, Verwandtenkreis. Nur 6 Prozent der Täter sindFremde. Ich glaube, es wäre hilfreicher gewesen, wennSie das Thema weitergefasst hätten.Wir müssen Lösungen finden, um Missbrauch zu ver-hindern, egal wann und wo er stattfindet. Meiner Mei-nung nach wäre es wichtig, die Opfer in den Fokus zunehmen. Deswegen bin ich den Ministerinnen dankbar,dass sie diesen runden Tisch eingerichtet haben. Daszeigt, dass sie einen breiten Lösungsansatz suchen.Viele Kollegen haben schon von Veränderungen imStrafrecht gesprochen. Dafür werden wir sorgen. Esmüssen aber vielleicht auch die zivilrechtlichen Vor-schriften geändert werden. Ich bin hier relativ nah auchbei Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger; denn wirhaben doch eben davon gesprochen: Opfer schaffen esoft nicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie brauchen Jahre,um sich zu öffnen und zu sagen, was passiert ist. DieVerjährungsfrist beträgt aber nur drei Jahre.Es gibt Momente, in denen man sich freut, wenn manmorgens die Zeitung liest. Der Fuldaer Bischof hat ge-sagt, er rege an, dass die Kirche über eine freiwilligeEntschädigung nachdenkt. Ich glaube, das wäre wirklicheinmal eine vertrauensbildende Maßnahme für die Kin-der, die in den Einrichtungen zu Schaden gekommensind. Ich würde das begrüßen.
Genauso sollten wir darüber nachdenken, wie wir dasSchweigen der Täter und der Opfer durchbrechen kön-nen. Es ist hier mittlerweile meine dritte Legislaturperi-ode. Schon in der ersten habe ich mich vehement für„Opferschutz vor Täterschutz“ eingesetzt und von demMainzer Modell gesprochen. Das Mainzer Modell be-sagt, dass ein Kind dann, wenn es zum Strafprozesskommt, dem Täter im Verfahren nicht noch einmal ge-genübersitzen muss, sondern über eine Videokameravernommen werden kann. Dadurch wird das Kind ent-lastet, und das Kind wird nicht erneut zum Opfer.Sie haben das damals unter Rot-Grün zulasten derKinder aber abgelehnt. Das fand ich bitter. In der GroßenKoalition haben wir die Videovernehmung dann zuge-lassen und das 2. Opferrechtsreformgesetz auf den Weggebracht. Ich glaube, das war ein ausgesprochen wichti-ger Schritt.Wir müssen – vor allem als Familienpolitiker – dieKinder starkmachen, sodass die Kinder selbstbewusstsind; denn die Täter suchen keine Gegner, die Täter su-chen Opfer. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Kin-der dahin gehend stärken, dass sie vielleicht auch bei ih-ren eigenen Eltern „nein“ sagen.Ich nenne auch das Projekt, das der Kollege Ahrendtvorgeschlagen hat, „Kein Opfer werden“. Genauso ha-ben Sie auch in der Presse angesprochen, dass die Thera-pieplätze in der Charité weiter ausgebaut werden müs-sen. Hier bin ich ganz bei Ihnen. Das halte ich fürausgesprochen wichtig. Man sollte vielleicht auch übereine Therapiepflicht von Sexualverbrechern nachden-ken. Auch das halte ich für wichtig.Jetzt muss ich aber leider einmal mit den Grünen ab-rechnen.
– Nein, die habe ich schon, nämlich 1 Minute und17 Sekunden. – Kollegin Künast sprach: Die Kinderbrauchen Schutz, aber nicht der Papst. Frau Künastappellierte an die moralische Pflicht. Sie sagte auchnoch – –
– Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen verstecken;denn ich hatte das Glück, vor zwei Tagen das Morgen-magazin zu sehen. Ihre Kollegin war dort zu Gast undwurde auf den Programmparteitag 1985 angesprochen.Das machte mich neugierig. Also habe ich angefangenzu forschen.Jetzt kurz zur Erinnerung: Die Grünen sagten damals,Sex mit Kindern sei für beide Teile – so wörtlich – ange-nehm, produktiv, entwicklungsfördernd, kurz: positiv.
Es sei nicht hinzunehmen, dass Erwachsene, die sexuelleWünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmenund liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten, mitGefängnis von bis zu zehn Jahren bedroht werden.
– Nein, das hat nichts mit Propaganda zu tun. Ich findeeinfach nur im Ganzen, Sie hätten das gar nicht themati-sieren müssen.
Sie werfen uns vor, dass wir keine Schnellschüssemachen. Ich bitte Sie um eines: Bevor Sie uns und dieRegierung auffordern, aufzuklären, klären Sie die Wäh-ler in NRW darüber auf, was Sie tatsächlich wollen.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich schließe die Aus-sprache.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 bauf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes– Drucksache 17/1147 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter, RalphLenkert, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKESolarstromförderung wirksam ausgestalten– Drucksache 17/1144 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzHaushaltsausschussHierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. –Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen. – Vielleicht kann die Fortsetzung der vorheri-gen Debatte woanders stattfinden.Ich eröffne die Aussprache und gebe der KolleginDr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bundesumweltminister Röttgen hat gestern neue Zahlenüber die Entwicklung der erneuerbaren Energien vorge-legt. 2009 machten die Erneuerbaren 10 Prozent des Ge-samtenergieverbrauchs aus. Der Anteil am Stromver-brauch steigerte sich auf 16 Prozent, und es ließ sich eindeutlicher Zuwachs des Zubaus im Bereich Biogas-, Fo-tovoltaik- und Windenergieanlagen verzeichnen.
Die Investitionssumme ist auf insgesamt 17,7 MilliardenEuro angestiegen. Die Zahl der Beschäftigten stieg auf300 000 an. Das sind 8 Prozent mehr als im Vorjahr.Man kann tatsächlich zu Recht sagen: Die Erneuerbarenhaben sich als der Stabilitätsanker in Zeiten der Krise er-wiesen.
Damit ist das, was im Koalitionsvertrag beschriebenwird, nämlich der Weg in das regenerative Zeitalter,nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern er bie-tet vielmehr gewaltige Potenziale für Innovation, Wachs-tum und Beschäftigung beim Umbau unseres Energie-systems.Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun Aufträgeerteilt hat, die Grundlagen für das Energiekonzept durchForschungsinstitute errechnen zu lassen, damit wir eineGrundlage für die politische Entscheidung haben, wieder dynamische Energiemix der Zukunft aussehen soll,in dem die konventionellen Energieträger mehr undmehr durch regenerative Energien ersetzt werden sollen.Im Energiemix der Zukunft wird Fotovoltaik einesehr, sehr wichtige Rolle spielen. Wir wollen Fotovoltaikweiter ausbauen. Das zeigt sich auch daran, dass wir denZielkorridor für den jährlichen Zuwachs nahezu verdop-pelt haben, nämlich auf 3 000 Megawatt im Jahr. Das istein echtes Wort.Aber jetzt ist es wichtig, die Akzeptanz für die Foto-voltaik in der Bevölkerung auf dem hohen Niveau zu er-halten, auf dem sie schon jetzt besteht.
Denn von nichts kommt nichts: Natürlich fallen Kos-ten für den Ausbau der Erneuerbaren an. 2009 betrugensie 1,1 Cent pro Kilowattstunde. In 2010, in diesem Jahr,werden sie vermutlich 2 Cent pro Kilowattstunde errei-chen. Das sind immerhin 6 Euro pro Monat für einenDurchschnittshaushalt – ein Betrag, dessen Höhe ohneZweifel erträglich ist, der aber erklärt werden muss. Undes ist schwierig zu erklären, dass im Jahr 2008 der Stromaus Fotovoltaik, deren Anteil am Stromverbrauch5 Prozent beträgt, letztendlich 45 Prozent der Umlageverursacht hat. Zweistellige Renditeerwartungen müssenzumindest erklärt werden. Deshalb musste die Bundesre-gierung und muss dieses Haus auf den Umstand reagie-ren, dass in 2009 die Systempreise – das heißt, die Preisefür die Module plus Installationskosten – insgesamtdurchschnittlich um 30 Prozent gesunken sind. Für die-ses Jahr erwartet man noch einmal einen Preisrückgangvon 10 Prozent. Das liegt daran, dass der spanischeMarkt nahezu zusammengebrochen ist. Das liegt auchdaran, dass es einen gewaltigen Zubau an Produktions-kapazitäten gegeben hat. Deshalb müssen wir jetzt mo-derat umsteuern. Genau das wollen wir mit der Novelletun.
Wir wollen die Vergütung der Preisentwicklung anpas-sen, und zwar durch zusätzliche Degressionsschrittezwischen 11 und 16 Prozent.In der Fotovoltaiknovelle wollen wir einen weiterenKomplex angehen, und zwar das Thema der Flächen-konkurrenz. Darüber haben wir schon in ganz anderenZusammenhängen gesprochen, zum Beispiel im Zusam-menhang mit Biokraftstoffen. Flächen, gerade Ackerflä-chen, werden zur Produktion von Nahrungsmitteln undFuttermitteln, aber eben auch von Rohstoffen zur ener-getischen oder stofflichen Nutzung gebraucht. Wenndazu noch eine Nutzung durch Fotovoltaik kommt– dazu ist es im letzten Jahr vermehrt gekommen –, dann
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Dr. Maria Flachsbarth
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haben wir tatsächlich ein Problem, zu erklären, wie wirdiese unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten unterein Dach bekommen und dazu noch den Flächenver-brauch, der im Moment bei 100 Hektar pro Tag liegt,realistisch und schnell zurückfahren wollen. Deshalbwollen wir die Nutzung auf Ackerflächen einschränkenund stattdessen viel stärker als bislang noch Konver-sionsflächen in den Mittelpunkt der Nutzung durch Foto-voltaik stellen.
Ein dritter Punkt ist uns ganz wichtig, nämlich dieFörderung des Eigenverbrauchs: Wie bekommen wir eshin, die Nachfrage dem volatilen Angebot anzupassen?Das ist durch intelligente Haushaltsgeräte möglich, zumBeispiel durch eine Waschmaschine oder Kühltruhe, diezu laufen beginnen, wenn der Fotovoltaikstrom entspre-chend produziert wird.Wir hoffen aber auch, dadurch, dass wir den Eigen-verbrauch so viel besserstellen als die Einspeisung insNetz, einen besonderen Anreiz für Innovationen im Be-reich der Speichertechnologie zu schaffen und damit dasEEG nicht nur quantitativ auszubauen, sondern letztend-lich auch qualitativ zu verändern. Ich glaube, dass wirdamit einen sehr interessanten und ausgesprochen not-wendigen Weg einschlagen.
Wir werden im Rahmen der Diskussionen im Aus-schuss insbesondere darauf Wert legen, Planungssicher-heit zu gewährleisten, und zwar für die Investoren, diebereits investiert haben und auf der Grundlage der beste-henden gesetzlichen Regelung in finanzielle Vorleistunggegangen sind, gerade wenn sie sich in längeren Pla-nungsphasen befinden, weil für die Realisierung ihresProjektes zum Beispiel Bebauungspläne erforderlichsind. Das wird ein Hauptteil unserer Arbeit sein und si-cherlich auch im Rahmen der Anhörung eine Rolle spie-len.Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen Sie mitauf den Weg, das EEG qualitativ weiterzuentwickeln!Ich freue mich auf unsere Diskussionen im Ausschuss.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Das alles heute als qualita-tive Weiterentwicklung zu verkaufen, ist ein netter Ver-such. Für die qualitative Weiterentwicklung des EEG istzwar einiges zu tun, was Sie auch erwähnt haben, wasaber nicht Gegenstand der von Ihnen vorgesehenen Ge-setzesänderung ist, um die es heute geht.Einen Punkt will ich für die SPD-Fraktion ganz deut-lich machen: Wir haben zu jeder Zeit gesagt, dass wirauch die Akzeptanz dieses Gesetzes im Blick habenmüssen. Überförderungen dürfen nicht eintreten. Wirmüssen auf Überförderungen reagieren.Wir haben 2009 – Frau Dr. Flachsbarth hat das ange-sprochen – die Marktdynamik gerade beim Thema Foto-voltaik aufgegriffen. In der Begründung zum Gesetzheißt es, dass mit sinkenden Produktions- und Stromge-stehungskosten zu rechnen ist. Deshalb wurden sowohldie Degressionsschritte erhöht als auch der flexible Kor-ridor oder atmende Deckel, wie er auch genannt wird,eingeführt.Das zeigt, dass wir schon darauf achten, wie sich derMarkt entwickelt. An der Marktentwicklung machen wirfest, ob weitere Kürzungsschritte nötig sind oder ob dieKürzungen geringer ausfallen können.Entscheidend ist für mich eine einzige Frage: Wie er-mittelt man verlässlich, was im Markt geht, und wie be-gründet man das? An diese Frage will ich anknüpfen;denn es ist der Hauptpunkt unserer Kritik. Die Vergü-tungssätze werden immer wieder mit der schlechtenPreisentwicklung in Verbindung gebracht. Doch ange-sichts der Preisentwicklung muss man zur Kenntnis neh-men, dass Preisentwicklungen nicht nur von Kostensen-kungspotenzialen abhängen, sondern dass insbesondereim letzten Jahr auch der Zusammenbruch des spanischenMarktes und die Wirtschaftskrise zu einem Absinken derModulpreise geführt haben. Das hing nicht nur mit demKostensenkungspotenzial zusammen.Wenn man das weiß und zur Kenntnis nimmt, dannmuss man sehr sorgfältig analysieren, wie viel künftigim Markt möglich ist. An dieser Stelle gehen die Mei-nungen weit auseinander. Sie, die Regierungsfraktionen,schlagen uns 16 Prozent vor. Der Fachverband hat 5 Pro-zent genannt.
Die SPD hat bisher bewusst noch keine Zahl in die Weltgesetzt, weil es uns wichtig ist, dass die Höhe nicht nachGemüt oder nach Stimmung, sondern so sachverständigwie möglich ermittelt wird. Deshalb haben wir eineSachverständigenanhörung gefordert und werden nachder Sachverständigenanhörung einen Vorschlag unter-breiten, was geht.Ich sage nur eine Hausnummer: Die Landesbank Ba-den-Württemberg, die nicht im Verdacht steht, der SPDnahezustehen, hat gesagt, dass sie alles über 10 Prozentals gefährlich für die Branche ansieht, was den deut-schen Markt angeht.Wir haben versucht, beim Bundesminister in Erfah-rung zu bringen, auf welcher Grundlage diese 16 Prozententstehen. Wir haben, wie gesagt, die Sachverständigen-anhörung beantragt. Mittlerweile hat der Kollege Kelbernach mehrfacher Rückfrage ein Gutachten bekommen,das an mehreren Punkten bemerkenswert ist.Erstens. Bisher haben Sie argumentiert, sie wolltenPreisentwicklungen der Vergangenheit aufnehmen, um
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Dirk Becker
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dann zu einer einmaligen zusätzlichen Absenkung zukommen. Das Zitat in dem Gutachten sagt etwas ande-res. Da geht man davon aus, dass Erhebungen zufolgefür 2010 Preissenkungen von 10 bis 15 Prozent zu er-warten sind. Dass man aufgrund einer Prognose für daslaufende Jahr bereits in das Gesetz eingreifen will, wi-derspricht dem bisherigen Grundsatz der Degression,wie wir ihn im Gesetz verankert haben.
Zweitens. Entscheidend ist aber auch die Frage, wo-her diese 10 bis 15 Prozent kommen. Da unterstellt man,dass in einer so wichtigen Frage Wissenschaftler, Wirt-schaftsinstitute und wer auch immer gefragt wurden.Wenn man dann liest, woher das kommt, staunt man: Esist eine Umfrage einer Zeitung. Auf der Grundlage vonDaten einer Zeitung kommt diese Regierung zu diesen16 Prozent. Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, in ei-ner so wichtigen Frage Ihre Entscheidung von Mei-nungsumfragen einer Zeitung abhängig zu machen.
– Photon. – Wir erwarten einfach, dass in diesen Fragen,bei denen es auch um 50 000 Arbeitsplätze in diesemLand geht, in der Tat eine breite wissenschaftliche BasisGegenstand der Kürzungsschritte ist.Drittens. Diese Studie arbeitet, wie ich finde, nichtganz fair mit anderen Studien. Man sucht ganz geschicktaus verschiedensten Studien Zahlen zusammen und ver-mengt sie ein wenig, um dann zu dem Ergebnis zu kom-men, das man – das behaupte ich – erreichen wollte. Sowird die BP-Studie zitiert. Man greift Modulkosten ausdieser BP-Studie auf, argumentiert dann aber nicht imSinne dieser Studie zu Ende. Man sagt nur: BP sagt;1 600 Euro bis 1 700 Euro sind zu erwarten; davon ge-hen wir jetzt einmal aus. Unter dem Strich heißt das,dass wir um 16 Prozent kürzen können. BP kommt zu ei-nem ganz anderen Ende. BP sagt, wie ich vorhin ausge-führt habe, dass die Preissenkungen des vergangenenJahres noch nicht durch Maßnahmen in den Unterneh-men in dem Sinne umgesetzt werden konnten, dass sieauch zu Kostensenkungen wurden, und kommt zu demErgebnis, dass eine Kürzung über 10 Prozent den deut-schen Markt nachhaltig beeinflussen würde. Das heißt,dass deutsche Unternehmen massenhaft große Problemebekommen und wahrscheinlich sogar nicht mehr imWeltmarkt konkurrenzfähig sind. Meine Damen undHerren, ich habe einfach die Bitte: Wenn Sie solche Gut-achten vorlegen, dann zitieren Sie fair und gehen Sieauch auf die Ergebnisse und Argumente der anderen Stu-dien ein.
Ich will noch kurz auf Folgendes eingehen: Das Wirt-schaftsministerium hat zu Recht festgestellt, dass dieBranche, also die PV-Industrie, ihre Rolle als weltweiterTechnologieführer sichern muss, indem sie an der Spitzeder Bewegung steht. Das heißt technologischer Fort-schritt made in Germany als besonderes Aushänge-schild, was zugleich einen Wettbewerbsvorteil bedeutet.Nur sage ich noch einmal: Dazu braucht es Zeit. Dasgeht nicht in einem solchen Hauruckverfahren mit derar-tigen Kürzungen innerhalb eines Jahres.Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal auf die Regie-rung des Freistaates Bayern Bezug nehmen muss. Ichmache dies aber gerne.
– „Gott sei Dank“, sagt Herr Kauch.
– Ach so, dann kam es aus Thüringen. Es heißt hier ganzklar: Die kurzfristige Umsetzung dieser Pläne überfor-dert die Anpassungsfähigkeit der deutschen Solarwirt-schaft. Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt dieGefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet denVerlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hochmodernenBranche.
Ich habe gehört, dass sich Frau Gönner in einem heuteerschienenen Interview ähnlich geäußert hat und sichdieser Auffassung anschließt.Ich habe nur die Bitte: Seien Sie so fair, offen in dieseAnhörung zu gehen, sodass wir mit einem gemeinsamenErgebnis herausgehen! Beteiligen Sie die Branche inGänze! Verwenden Sie nicht nur die Meinungsumfrageeines Magazins als Entscheidungsgrundlage! Das Themaist dafür zu wichtig, sowohl im Hinblick auf den Ausbauder erneuerbaren Energien als auch die vielen Arbeits-plätze in unserem Land.
Herr Kollege.
Herr Bundesminister, ich habe die herzliche Bitte:
Werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst und gehen
Sie auf unsere Argumente ein!
Vielen Dank.
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrBecker hat einen richtigen Punkt angesprochen: Es ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3169
Michael Kauch
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für die Politik sehr schwer, im Bereich des EEG die rich-tigen Preise zu finden. Man stellt sich nur die Frage, wa-rum es die SPD in elf Jahren Regierungszeit, davon zehnnach Verabschiedung des EEG, nicht geschafft hat, einestaatliche, unabhängige Marktbeobachtungsstelle aneine der vorhandenen Behörden anzuhängen.
Wir sind in dieser Diskussion immer wieder auf inte-ressengeleitete Informationen angewiesen. Man musssich auch bei einer Bank wie der LBBW fragen: Was ha-ben die in ihren Investmentportfolios? Dass uns dieBranche andere Zahlen nennt als die Verbraucherschüt-zer, ist möglicherweise auch nicht überraschend. Ichziehe eine erste Lehre aus diesem Gesetzgebungsverfah-ren – erstmals nicht in der Opposition, sondern als Ver-treter einer Regierungsfraktion –: Wir müssen uns beiden Beratungen zum Haushalt 2011 darüber unterhalten,ob wir hier nicht eine unabhängige staatliche Beobach-tung der Marktentwicklung einführen sollten.
– Das sind Fehler, die Sie gemacht haben. Das FDP-ge-führte Wirtschaftsministerium hat die einzige unabhän-gige Studie, das Prognos-Gutachten, eingeholt, die die-sen Beratungen zugrunde liegt. Wir sind noch hinter denVorschlägen geblieben, die dieses Gutachten zur Degres-sion macht.Lassen Sie mich, um dieses Thema abzuschließen, et-was aus dem Bauernblatt-Sonderdruck zitieren. Dortschreibt der Bundesverband Solarwirtschaft, vertretendurch Kai Lippert:Selbst nach einer zusätzlichen Kürzung der Ein-speisevergütung zum Halbjahreswechsel werdenPhotovoltaikanlagen weiterhin eine attraktive undüberdurchschnittlich rentable Geldanlage für Haus-besitzer und sicherheitsorientierte Investoren sein.Was gilt denn nun? Einerseits sagt der BSW, dass eineDegression um mehr als 5 Prozent die Branche ruiniert;andererseits empfiehlt er im Bauernblatt-Sonderdruck,in die Solarenergie zu investieren, weil dies eine „über-durchschnittlich rentable Geldanlage“ sei. Nur eineskann richtig sein. Man muss das im Lichte dessen beur-teilen.
Die FDP will, dass wir den Weg in das regenerativeZeitalter beschreiten. Die Solarbranche ist eine Zu-kunftsbranche, die wir am Standort Deutschland aus-bauen wollen. Klar ist aber auch: Die ganze Förderungwird am Schluss von den Verbraucherinnen und Ver-brauchern bezahlt. Wir haben als Gesetzgeber eine Ver-antwortung gegenüber den Bürgern, die die Rechnungzahlen. Wir sind dafür, eine Förderung zu betreiben, umdie Solarenergie auszubauen, wir erhöhen sogar die Aus-bauziele; aber es kann doch nicht sein, dass Anleger aufKosten der Stromverbraucher Traumrenditen erwirt-schaften. Familien mit Kindern müssen hier die größteZeche zahlen. Die SPD redet hier einer Umverteilungvon unten nach oben das Wort.
Der Solarkompromiss gefährdet nicht das Wachstumim Bereich der Solarenergie. Wir senken zwar die Vergü-tungen ab; aber wir erweitern den Ausbaukorridor. Zu-gleich hat die FDP in den Verhandlungen erreicht, dassdie Degression im Jahr 2011 im Vergleich zum BMU-Vorschlag abgemildert wurde. Ich glaube, wir müssenuns auf diesen Punkt konzentrieren.Jetzt geht es darum, die Kostensenkungen der vergan-genen Jahre nachzuvollziehen. Aber es geht in der Ent-wicklung der Branche auch darum, was nach dem Jahr2010 geschieht. Ein Punkt in der Anhörung, auf den wirnoch etwas Sachverstand verwenden sollten, wird sein:Was ist für die Zukunft das richtige Maß, und vor allenDingen was ist der richtige Beobachtungszeitraum fürunsere Berechnungen in Bezug auf das nächste Jahr?Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einThema ansprechen, das für die FDP von herausragenderBedeutung war und ist, nämlich das Thema Vertrauens-schutz. Wir haben erreicht, auch vor dem Hintergrunddes harten vergangenen Winters, dass die Fristen bei denDachanlagen verschoben wurden und dass die Degres-sion nicht zum 1. April, sondern erst zum 1. Juli wirk-sam wird.
Unser Anliegen ist auch, dass Investoren, die im Ver-trauen auf das EEG schon deutlich vor der Bundestags-wahl in Freiflächenanlagen investiert haben, nicht plötz-lich vor den Trümmern ihrer Investitionsentscheidungstehen. Auch hier haben wir Verbesserungen erreicht.Aber wir müssen in der Anhörung herausfinden, ob dasin allen Fällen ausreichenden Vertrauensschutz bietet.Das ist die Offenheit, mit der wir in die Anhörung gehen.Offen sind wir beispielsweise auch in der Frage desEigenverbrauchs. Auf die Frage, inwieweit der Eigen-verbrauch vorangebracht werden kann, ohne dass es zuMitnahmeeffekten kommt, wird die Anhörung ebenfallseine Antwort bringen müssen. Die Diskussion darübermüssen wir ergebnisoffen führen.
Eine Frage, die wir bereits in den vergangenen Wo-chen intensiv diskutiert haben und bei der die Emotionensehr stark sind, ist mir noch wichtig: Sollen Solaranlagenauf Äckern installiert werden oder nicht? Es kann ausunserer Sicht keine sinnvolle Lösung sein, wenn mangroßflächig auf besten Böden Solaranlagen installiert.Aber wir haben in der Koalition einen Kompromissschließen müssen, zu dem wir auch stehen. Die FDP haterreicht, dass im Gegenzug zum Ausschluss der Äckerdie Konversionsflächen in ihrer wirtschaftlichen Nut-zung deutlich ausgeweitet wurden. Aber sollte die CSUihre Position jetzt ändern, wie es der bayerische Minis-terpräsident angedeutet hat, dann wird dies an der FDPnicht scheitern. Auch das werden wir in den nächstenWochen miteinander diskutieren müssen, um bei denFreiflächenanlagen, die der Billigmacher der Solarbran-che sind, zu einem guten Ergebnis zu kommen.Vielen Dank.
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3170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
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Ich erteile das Wort der Kollegin Eva Bulling-
Schröter für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem die Bundesregierung seit Monaten mit Ver-lautbarungen Unruhe, Ängste und Chaos in der Brancheder erneuerbaren Energien schürt und wöchentlich eineneue energiepolitische Sau durchs Dorf treibt, liegt nunein Gesetzentwurf der Koalition dazu vor. Ich halte ihnfür einen Salto rückwärts. Der Antrag, den wir vorgelegthaben, will da einiges ausbügeln.Deutschland steht vor einer Systementscheidung. Dernotwendige Ausbau der erneuerbaren Energien ist miteiner Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerkenund dem Neubau von Kernkraftwerken nicht vereinbar.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundes-regierung spricht von einem grundlegenden Systemkon-flikt zwischen einem hohen Anteil von Strom ausGrundlastkraftwerken auf der Basis von Kohle und Uranund einem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Dassind klare Worte. Ich frage mich: Warum ignorieren Sieeine solche Aussage? Wenn Sie die Aussagen des Sach-verständigenrates immer ignorieren, bräuchten Sie sicheigentlich keinen zu leisten.
Seit Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzesist – das wurde schon dargelegt – der Anteil der erneuer-baren Energien an der Stromversorgung auf über16 Prozent angestiegen. Bei jährlichen Minderungen vongegenwärtig etwa 110 Millionen Tonnen Kohlendioxidleisten erneuerbare Energien damit einen wichtigenBeitrag zum Klimaschutz. Also müssen sie ausgebautwerden. Wesentliche Ursache dieser dynamischen Ent-wicklung ist die durch das EEG garantierte Einspeise-vergütung für Strom aus erneuerbaren Energien. Dieebenfalls dort verankerte jährliche Absenkung der Ein-speisevergütung – das ist die Degression – hat sich alsAnreiz für technische Innovationen und die Optimierungin der Anlagenproduktion bewährt.Für Investoren und auch für die produzierenden Un-ternehmen brauchen wir Planungssicherheit durch mit-telfristig festgelegte Vergütungssätze und Degressions-schritte. Das ist von zentraler Bedeutung.
Unter dem Motto „Wenn es am schönsten ist, sollman aufhören“ legt uns die Koalition einen Gesetzesent-wurf auf den Tisch, der die positive Entwicklung im Be-reich Solarstrom beenden soll;
zumindest – so schätzen wir das ein – besteht die großeGefahr. Eigentlich könnte es uns, den Linken, egal sein,wenn Schwarz-Gelb wieder einmal Fehler macht undsich ein ums andere Mal als verlängerter Arm der Kon-zerne profiliert.
– Hören Sie doch zu! – Es ist uns aber nicht egal, wennSie Tausende Arbeitsplätze in Gefahr bringen und zu-gleich energie- und klimapolitisch zur Rolle rückwärtsansetzen. Wir halten Ihren Gesetzesentwurf für kontra-produktiv. Ich sage es noch einmal: Seine Verabschie-dung gefährdet viele heimische Produzenten. Bereitsjetzt mussten einige Kommunen und Privatanleger ihreSolarprojekte auf Eis legen oder absagen, weil sie dieKostenfrage nicht mehr klären können.
Von der Koalition kamen im Januar nebulöse Ankün-digungen. Zuerst hieß es, dass zum 1. April gekürzt wer-den soll. Jetzt soll die Kürzung zum 1. Juli erfolgen. Je-des Mal stehen andere Zahlen im Raum. Jede Wochegibt es einen anderen Sachverhalt. Niemand weiß mehr,wie es eigentlich weitergehen soll. Das ist unverantwort-lich gegenüber der ganzen Branche.
Sie kommen mit Entwürfen, die sämtlichen Solar-unternehmen die Haare zu Berge stehen lassen und denBeschäftigten den Angstschweiß auf die Stirn treiben.Sie sind in diesen Fragen ziemlich beratungsresistent.Sie agieren in Rambo-Manier und gefährden – ich sagees noch einmal – Tausende Arbeitsplätze, insbesonderean Solarstandorten mit vielen kleineren Unternehmen inden strukturschwachen Regionen Sachsen, Sachsen-An-halt und Thüringen.
Aber auch in Bayern gibt es Widerstand. Auch HerrSeehofer hat sich dazu geäußert. Mich würde interessie-ren, ob er die Sonderausgabe des Bauernblatts gelesenhat. Sie zerstören auch international Vertrauen in dieVerlässlichkeit deutscher Umwelt- und Energiepolitik –mit unabsehbaren Folgen.Nur noch einmal als Merkposten: 300 000 Menschenarbeiten hierzulande in der Branche der erneuerbarenEnergien – Tendenz stark steigend. Das sind zehnmal soviele wie in der konventionellen Energieerzeugung. Al-lein 60 000 Beschäftigte entfallen auf die Fotovoltaik-branche, vor allem im produzierenden Gewerbe und imHandwerk.Jetzt behauptet die Regierungskoalition, die konkre-ten Zahlen und Vorhaben in engem Kontakt mit Solar-wirtschaft und Interessenverbänden abgesprochen zu ha-ben. Ich weiß nicht, mit wem Sie da gesprochen haben.Wir haben viele Mails und Briefe erhalten. Wir habenauch mit dem Bundesverband Erneuerbare Energie ge-sprochen. Da sind uns andere Zahlen vorgelegt worden;
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3171
Eva Bulling-Schröter
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das wurde vorher schon angedeutet. Ich meine, dass wirdas in der Anhörung sehr intensiv diskutieren müssen.Wir fordern einen Austausch mit den Betroffenen al-ler Ebenen. Den werden wir führen. Wir fordern in unse-rem Antrag, die Einspeisevergütung
im einstelligen Prozentbereich zu kürzen, keine Decke-lung des jährlichen Leistungsausbaus vorzunehmen undvor allem keinen Axthieb auszuführen, sondern eineschrittweise Anpassung vorzusehen.
Sowohl die Branche als auch die Verbraucher müssensich so auf die Anpassung einstellen können. Dazu benö-tigt man natürlich auch Zeit. Unser Antrag wird dieserTatsache gerecht.Die von der Koalition vorgesehene flexible Markt-anpassung der Einspeisevergütung, nach der die Degres-sion um weitere 3 Prozentpunkte angehoben wird, wennzu viele Solaranlagen gebaut werden, widerspricht unse-rer Meinung nach dem eigentlichen Förderzweck desEEG. Marktwachstum ist kein Maß für die Kostenent-wicklung bei der Herstellung von Solarmodulen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken zulassen?
Nein, will ich nicht. – Im Übrigen verschweigt die
Koalition elegant, dass zur Einmalabsenkung mit dem
Jahreswechsel 2011 noch eine Sonderabsenkung um
2 Prozent dazukommt.
Bereits in Ihrem eigenen Gesetzentwurf wird davon
ausgegangen. Sie versuchen, als Leistung zu verkaufen,
dass die Zielmarke des Solarausbaus hochgesetzt wird.
Ich frage Sie: Was ist das für eine Zielmarke, von der Sie
bereits jetzt wissen, dass sie überschritten wird? Das ist
keine Zielmarke, sondern eine Schranke.
Wem nützt es letztendlich, wenn der Ausbau der
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gebremst
wird? Das nützt denjenigen, die aus abgeschriebenen
Kernkraftwerken Milliardenprofite machen, und den
politischen Akteuren, die als Lobbyisten der Energie-
konzerne auftreten und sich für Laufzeitverlängerungen
starkmachen.
– Sie haben über Profite gesprochen, die abgeschöpft
werden. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. In den ver-
gangenen Jahren haben wir dafür gekämpft, die Profite
der großen Konzerne abzuschöpfen, um endlich Mittel
für die Menschen zu haben, die weniger Geld verdienen.
Das haben Sie aber nicht getan.
Sie verfolgen Ihre Ziele jetzt in der Solarbranche, die
schwach ist.
Frau Kollegin!
Die großen Konzerne hingegen fassen Sie nicht an.
Mit denen gehen Sie – wie es Gregor Gysi heute Vormit-
tag schon gesagt hat – lieber zum Essen.
Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Gestern hat Umwelt-minister Röttgen die aktuelle Erfolgsbilanz der erneuer-baren Energien vorgestellt: Gegen den Trend derWirtschaftskrise sind sie – Frau Kollegin Flachsbarth hatschon darauf hingewiesen – weiter gewachsen. Die In-vestitionen in dieser Branche sind im vergangenen Jahrauf knapp 18 Milliarden Euro gestiegen. Sie bieten be-reits 300 000 Arbeitsplätze, allein 60 000 davon in derSolarwirtschaft. Kein anderer Industriezweig in Deutsch-land hatte in den letzten zehn Jahren eine solche Bilanzvorzuweisen. Das ist eine hervorragende rot-grüne Er-folgsgeschichte, die von Union und FDP nicht initiiert,sondern anfänglich sogar bekämpft wurde.
Sehr geehrter Herr Röttgen, Sie reden viel von erneu-erbaren Energien. Wir glauben Ihren schönen Wortenaber nicht mehr, weil Sie mit Ihren Handlungen offen-sichtlich auf die Beendigung dieser Erfolgsgeschichteabzielen. Ihr Plan einer achtjährigen Laufzeitverlänge-rung und Ihre Unterstützung für den Neubau von Kohle-kraftwerken werden eine massive Mauer gegen den Aus-bau der erneuerbaren Energien aufbauen.
Gleichzeitig greifen Sie heute mit der Vorlage der No-velle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz massiv in dieErfolgsgeschichte der Solarwirtschaft ein. Sie wollennach der zum Jahreswechsel erfolgten Senkung der So-larvergütung um etwa 10 Prozent nun zum Juli erneutum bis zu 16 Prozent senken und zu Beginn des nächstenJahres noch einmal um circa 10 Prozent zulangen. Ein-nahmeverluste von mehr als 30 Prozent innerhalb einesJahres kann keine Branche schadlos überstehen.
Zusätzlich wollen Sie mit den besonders kostengünsti-gen Freiflächen auf den Äckern sogar ein ganzes Markt-segment völlig zum Erliegen bringen.
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3172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Hans-Josef Fell
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Alle diese Vorschläge sind hochgefährlich für diedeutsche Solarwirtschaft. Das sieht neben den Minister-präsidenten der Ostbundesländer nun sogar die baden-württembergische Umweltministerin Gönner so.
Herr Fell, Herr Kollege Hinsken würde Ihnen gern
eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, Herr Hinsken.
Herr Hinsken, bitte schön.
Herr Kollege Fell, zunächst einmal herzlichen Dank,
dass Sie meine Frage zulassen.
Vorweg möchte ich bemerken, dass ich grundsätzlich
für Solarenergie bin. Ich sage das, damit hier kein fal-
scher Eindruck entsteht.
Halten Sie es für gerechtfertigt, dass jemand im son-
nigen Regierungsbezirk Niederbayern mit 100 000 Euro
Bargeld in der Tasche zu einer Bank gehen und einen
Kredit in Höhe von 15 Millionen Euro beantragen kann,
um sich 10 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zu
kaufen und darauf eine Solaranlage zu errichten? Das
heißt, es wäre möglich, mit einem Einsatz von 0,6 Pro-
zent Eigenkapital 15 Millionen Euro zu investieren und
so in den folgenden 20 Jahren letztlich Millionen heraus-
zuholen. Ist das nicht ein bisschen überzogen? Ist das
noch nachvollziehbar? Ist das gerechtfertigt? Sind Sie
nicht ebenfalls der Meinung, dass diese Förderung voll-
kommen überzogen ist und dass deshalb dringend Kor-
rekturen erforderlich sind?
Herr Kollege Hinsken, ich würde Ihr Bekenntnis zurSolarenergie ernster nehmen, wenn Sie dieselben Maß-stäbe, die Sie hier in Bezug auf die hohen Renditen andie Solarwirtschaft anlegen, auch an die Atomwirtschaftund die Kohlewirtschaft, die überzogene Gewinne erzie-len, anlegen würden. Ich habe noch nie gehört, dass Siediese kritisiert haben.
Es sind Milliardengewinne, die in Unternehmen dieserBranche durch Strompreiserhöhungen, die unsere Kun-den immer mehr belasten, erwirtschaftet werden; ichwerde in dieser Rede noch darauf eingehen. Diese Ge-winne thematisieren Sie nicht.In der Tat bin ich in einem Punkt ganz bei Ihnen:Auch überzogene Gewinne der Solarwirtschaft müssengecancelt werden; dazu stehen wir. Wir reden aber erstdann ehrlich miteinander, wenn Sie endlich auch dieüberzogenen, weitaus höheren Milliardengewinne derUnternehmen, die mit konventionellen, klimaschädli-chen Technologien produzieren, kritisieren. Genau dashabe ich von Ihnen aber noch nie gehört.
Viele der jungen deutschen Solarfabriken haben be-reits 2009 rote Zahlen geschrieben. Vielfältige Ursachenstehen hinter dem Preisverfall. Der politisch verordneteZusammenbruch des spanischen Marktes, die massiveUnterstützung Chinas für den Aufbau neuer Solarfabri-ken, die Probleme mit einem unterbewerteten Yuan, alldas sind Randbedingungen, die die deutschen Solarfabri-ken aus eigener Kraft nicht ändern können. Was die Un-ternehmen hier brauchen, ist eine klare Innovationsun-terstützung. Aber auch hier machen Sie von der Uniondas glatte Gegenteil, indem Sie, statt die Fotovoltaikfor-schungsmittel im Haushalt zu erhöhen, diese sogar nochum 4 Millionen Euro kürzen. Viele Experten befürchten,dass mit Ihren Vorschlägen zur Solarvergütung und zurKürzung der Fotovoltaikforschungsmittel ZehntausendeJobs in den deutschen Solarfabriken gefährdet sind.Symbolische Werksschließungen und Protestkundge-bungen der Belegschaften lassen Sie einfach kalt.Als Jobverluste in der Automobilwirtschaft drohten,haben Sie von der Union zusammen mit den Sozialde-mokraten über die Abwrackprämie gleich 6 MilliardenEuro neue Schulden gemacht, um den Kauf von sprit-fressenden Autos zu unterstützen, die sogar das Klimaschädigen. Doch in der Branche mit der Klimaschutz-technologie Fotovoltaik produzieren Sie Arbeitslose.Wie passt das zusammen? Es gelten bei Ihnen offen-sichtlich unterschiedliche Gesetze.Sie folgen aufgebauschten, überzogen hochgerechne-ten Belastungsszenarien, die vor allem von Atom- undKohlekonzernen vorgelegt werden oder in von ihnen fi-nanzierten wissenschaftlichen Studien erscheinen. Siefürchten Dutzende Milliarden Euro Markteinführungs-hilfen für die Fotovoltaik in den nächsten 20 Jahren. Ge-flissentlich verschweigen Sie in der Debatte, dass dieAtomwirtschaft in Deutschland rund 165 MilliardenEuro staatliche Förderung erhalten hat, weit mehr, alsdie Fotovoltaik jemals benötigen wird. Sie verschweigenauch die Folgekosten der Atomwirtschaft: Mindestens40 Milliarden Euro kostet den Steuerzahler die Entsor-gung der Atomforschungseinrichtungen. Niemals wirddie Fotovoltaik solche Schäden verursachen können.
Sie verschweigen auch, dass für die Atomkraft da-mals der Strompreis massiv erhöht wurde. Sie ver-schweigen zudem, dass die Steinkohlewirtschaft rund180 Milliarden Euro an Beihilfen erhalten hat und dasssogar im schwarz-gelben Haushalt wieder 2 MilliardenEuro für Kohlesubventionen bereitgestellt werden. Wo
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3173
Hans-Josef Fell
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ist die Gleichwertigkeit der Betrachtung, wenn Sie dieüberzogenen Kosten für die Fotovoltaik thematisieren?Ich höre nichts davon, dass Sie selber konventionelleTechnologien immer noch zu stark unterstützen. Klima-schutz und Zukunftsinvestitionen sehen wahrhaftig an-ders aus. Sie von der Union und der FDP beklagen sichauch über die angeblich hohe Belastung durch dieStrompreise und verschweigen, dass die erneuerbarenEnergien schon heute zur Senkung der Strompreise überden sogenannten Merit-Order-Effekt beitragen. Scham-los streichen die Stromkonzerne die darüber erzielbarenGewinne ein und erhöhen mit ihrer Monopolmacht dieStrompreise. Allein 6 Milliarden Euro haben die Kon-zerne im letzten Jahr den Stromverbrauchern zusätzlichabgeknöpft, ohne dass irgendeine Gegenleistung er-bracht wurde. Der Gipfel der Frechheit ist, dass sie dieseStrompreiserhöhungen mit den Mehrkosten für erneuer-bare Energien begründen. Herr Kauch, auch Sie habendie hohen Strompreise kritisiert. Ich habe von Ihnen bis-her nichts über diese überzogenen Milliardengewinneder Konzerne gehört. Mit dem Kampf dagegen könnenSie Verbraucherschutz praktizieren und nicht mit derKürzung der Solarvergütung.
Sie von Union und FDP verschweigen zudem wich-tige positive volkswirtschaftliche Effekte, die die Strom-preiserhöhungen sogar überkompensieren. Obwohl dieFotovoltaik erst in den Anfängen steckt, wurden durchsie 2009 bereits 3,6 Millionen Tonnen CO2 eingespart.Steuereinnahmen in Höhe von über 3 Milliarden Eurowurden in der Solarstrombranche erwirtschaftet, undKosten in Höhe von rund 400 Millionen Euro für Ener-gieimporte, vor allem von Kohle und Erdgas, wurdendurch die Fotovoltaik letztes Jahr vermieden.All diese ökologischen und volkswirtschaftlichenVorteile spielen für Sie aber keine Rolle. Sie wollen diewichtigste Energiequelle der Zukunft, mit der die Bürge-rinnen und Bürger bald kostengünstig selbst Strom er-zeugen können, zum Schutz der Atom- und Kohlekon-zerne ausbremsen.Längst haben wir Grüne vielfältige Vorschläge ge-macht, wie die Balance zwischen Vermeidung überzoge-ner Gewinne und einem weiteren Ausbau der Fotovol-taik gelingen kann. Wir haben Ihnen aufgezeigt, dass dieVergütung in diesem Jahr in drei gestaffelten Schrittenum jeweils 3 Prozent gesenkt werden kann. Dies vermei-det überhöhte Gewinne und gleichzeitig abrupte Markt-verwerfungen. Lösen Sie doch einfach den Konflikt umdie Ackerflächen, indem Sie eine agrarische Nutzungder Freiflächen zulassen. Es wird keinen Konflikt zwi-schen Lebensmittelerzeugung und Solarstrom geben, daselbst bei einer Vollversorgung mit erneuerbaren Ener-gien nicht mehr als 0,5 Prozent der deutschen Ackerflä-chen für Freiflächenanlagen gebraucht würden.
Mit dem Aufgreifen der grünen Vorschläge im parla-mentarischen Verfahren würde auch der skurrile Streitinnerhalb der CSU endlich beendet werden. In Bayernlacht man Sie doch inzwischen aus. Nur eine Stundenach der Kabinettsentscheidung in Berlin hat Minis-terpräsident Seehofer die CSU-Minister Guttenberg,Aigner und Ramsauer heftig kritisiert, indem er sagte,dieser Beschluss sei das Ende der bayerischen Solarwirt-schaft. Herr Seehofer hat recht. Nur, warum hat er seineMinister nicht vorher zurückgepfiffen?
Herr Kollege Fell, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das Spiel wird immer klarer. Sie reden zwar viel von
erneuerbaren Energien; in Wirklichkeit geht es Ihnen
aber um den Schutz der Atom- und Kohlekonzerne.
Sie greifen so massiv ein, um den Ausbau erneuerbarer
Energien auszubremsen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Norbert
Röttgen.
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Nach den relativ aufgeregten Reden der Opposi-
tion will ich mich dem Versuch zuwenden, die Debatte
auf ihren Kern zurückzuführen, in dem wir in diesem
Hause, so glaube ich, weitgehend übereinstimmen. Ich
möchte die Frage stellen: Was folgt aus der Übereinstim-
mung in diesem Haus für die Förderung der Fotovoltaik,
der Solarenergie?
Die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien
– auch die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: 300 000 Ar-
beitsplätze –
ist geschildert worden. Sie ist nicht nur schön, sondern
sie ist auch notwendig als energiepolitische Schlussfol-
gerung: Es bedarf eines Strukturwandels, den der Bun-
despräsident in dieser Woche beschrieben hat. Ich bin
außerordentlich dankbar dafür und nutze diese Debatte
bewusst, um das entscheidende und aus meiner Sicht
wichtigste Zitat aus einem Interview des Bundespräsi-
denten in diese Debatte einzuführen, weil das der Ge-
samtkontext der Strategie zur Förderung der erneuerba-
ren Energien ist. Ich zitiere aus einem Interview des
Rede von: Unbekanntinfo_outline
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3174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
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Wir müssen jetzt den Paradigmenwechsel hin zu ei-ner Wirtschaftsweise einleiten, die unser Planet ver-kraftet und die letztlich auch mehr Sinn stiftet.
Der Befund ist doch eindeutig: Die Rohstoffe wer-den knapper, die Energie wird knapper, die Um-weltschäden werden größer. Für mich gibt es kei-nen Zweifel: Die Nation, die sich am schnellsten,am intelligentesten auf diese Situation einstellt,wird Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen.Genau so ist es. Ich finde, wir können dem Bundespräsi-denten dankbar sein, dass er das in dieser Klarheit for-muliert hat. Das darf eine Würdigung in diesem Hausefinden.
– Ich weiß nicht, warum Sie sich selbst dann empören,wenn der Bundespräsident etwas Richtiges sagt, vondem ich unterstelle, dass auch Sie es für richtig halten. –
Daran sollten wir uns orientieren. Der Bundespräsidenthat die entscheidende Orientierung gesetzt.Die erneuerbaren Energien sind die Strategie im Kon-text des allgemeinen wirtschaftlichen Strukturwandels,den wir angehen müssen. Darum setzen wir auf die er-neuerbaren Energien, übrigens auch als Teil eines globa-len Trends. Heute kam die Meldung, dass China erstmalsweltweit an der Spitze der Länder liegt, die am meistenin die erneuerbaren Energien investieren.Das zeigt: Wir befinden uns auf einem globalen Markt,der rund 5 000 Milliarden Dollar umfasst, und in einemglobalen Wettbewerb.
Es geht um die Frage, welche Strategie wir verfolgen,um die Nutzung der erneuerbaren Energien voranzutrei-ben. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein erfolgrei-ches Instrument. Ich habe übrigens keine Schwierigkei-ten damit, zu erkennen, dass gelegentlich auch andereetwas richtig machen.
Vielleicht könnten Sie sich in dieser Hinsicht etwas fort-entwickeln.
Die Frage ist: Was ist die Philosophie des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes? Messen wir die Qualität diesesGesetzes daran, dass Subventionen, die die Stromkundenfinanzieren, möglichst lange und in möglichst großemUmfang fließen? Oder ist die Philosophie des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes die eines Gesetzes zur Markt-einführung erneuerbarer Energien, zur Technologieför-derung, die umso erfolgreicher ist, je früher und jeschneller sie nicht mehr der Subventionierung bedarf?Denn die erneuerbaren Energien werden entweder aufdem Markt erfolgreich sein, oder sie werden gar nicht er-folgreich sein.
Nebenbei bemerkt: Das ist eine Investition in die er-neuerbaren Energien. Aber das betrifft nur ein Bruchteilder Strompreiserhöhungen, die in den letzten Jahrenstattgefunden haben.
Es ist wissenschaftlich völlig unbestritten, dass dieStrompreiserhöhungen der letzten Jahre auf den fehlen-den Wettbewerb auf dem Strommarkt zurückzuführensind. Es ist die oligopolistische Struktur dieses Marktes,die Wettbewerb verhindert.
Auch in diesem Zusammenhang sind die erneuerbarenEnergien von strategischer Bedeutung, weil sie Wettbe-werb in diesen Markt bringen, der in Wahrheit noch vielzu wenig ein Markt ist.
Weil das so ist, wollen und werden wir die Solarener-gie ausbauen. Auch das ist mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf beabsichtigt. Die Solarenergie hat bislangeine Nischenfunktion. Ich weise darauf hin: Die Koali-tion wird durch Verabschiedung des vorliegenden Ge-setzentwurfs die Solarenergie aus ihrer Nische heraus-holen und für einen relevanten Anteil der Solarenergiean der Stromversorgung sorgen. Das ist eine zentraleAussage, die mit diesem Gesetz verbunden ist.Wenn in den letzten Jahren die Systempreise, von de-nen hier gesprochen worden ist, im Verhältnis zu demZeitpunkt, als die staatliche Vergütung festgesetzt wurde,um 30 Prozent gesunken sind und wenn wir nun für die-ses Jahr erneut mit einem Preisrückgang von 10 bis15 Prozent rechnen, also am Ende des Jahres einenPreisrückgang von 40 bis 45 Prozent im Vergleich zudem haben, was die Stromkunden derzeit zahlen müssen,dann muss der Gesetzgeber reagieren,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3175
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
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wenn es bei der Markteinführung bleiben und nicht zueiner Subventionierung von Investmentfonds kommensoll.
Das ist nicht das Ziel, das wir verfolgen. Wir wollen dieMarkteinführung.Nebenbei bemerkt: Auf den Preiswettbewerb zwi-schen den Herstellern von Modulen – ob es sich um ei-nen deutschen oder um einen chinesischen Herstellerhandelt – hat die Einspeisevergütung von vornhereinkeine Auswirkungen. Sie wirkt sich darauf schlicht undergreifend nicht aus.
Ihr Argument ist in ökonomischer Hinsicht definitivfalsch. Wir haben diesen Preiswettbewerb übrigensschon bei der heutigen Vergütung. Die Einspeisevergü-tung hat dabei keinerlei Auswirkungen.Herr Kollege Fell, bei aller Wertschätzung: Auch dieAussage, dass wir nicht auf Forschung setzen, ist falsch.In diesem Haushalt setzen wir vermehrt auf Forschung.Mit diesem Haushalt, der ein Spar- und Konsolidie-rungshaushalt ist, werden gegen die Notwendigkeit, zusparen, zusätzlich 10 Millionen Euro in die Forschunginvestiert. Natürlich setzen wir auf die Forschung, weiles um die Zukunft geht.
Wir führen ein System ein, das Verlässlichkeit in dieFinanzierung bringt.
Wir schaffen dadurch Verlässlichkeit, dass wir in Zu-kunft die Vergütung an die Marktentwicklung koppeln.Im Gesetzentwurf ist keine fixe Vergütung vorgesehen,die immer wieder angepasst werden muss, je nachdem,wie sich der Markt entwickelt. Wir führen vielmehr ei-nen flexiblen Vergütungsmechanismus ein, der an dieMarktentwicklung gekoppelt wird und Verlässlichkeitfür Finanzierung und Planung bringt. Damit vermittelnwir Investitionssicherheit.
Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell zulassen?
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Ja.
Herr Minister Röttgen, wenn ich Sie richtig verstan-den habe, haben Sie gerade behauptet, die Mittel für dieFotovoltaikforschung würden in diesem Bundeshaushaltgegenüber dem letzten Haushalt erhöht. Ich habe gesagt– das war meine Kritik –, dass das nicht richtig ist, dassdie Mittel vielmehr gesenkt werden. Die heutige Ant-wort der Bundesregierung auf eine Anfrage von mir hatklar bestätigt, dass die Mittel in diesem Haushalt für dieFotovoltaikforschung von 32,9 Millionen Euro auf28 Millionen Euro gesenkt werden. Wer hat nun recht?Ist die Antwort der Bundesregierung an mich richtigoder Ihre Aussage, die Mittel würden erhöht werden?Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit:Ich habe gesagt, dass wir in diesem Haushalt die Mit-tel für die Förderung der erneuerbaren Energien von110 Millionen Euro auf 120 Millionen Euro gesteigerthaben.
– Wir haben die Forschungsmittel für den Bereich dererneuerbaren Energien von 110 Millionen Euro auf120 Millionen Euro erhöht. Damit setzen wir auf For-schung. Das war meine Aussage. So einfach ist das.
Ich komme zu einem weiteren Element – ich will dasin aller Kürze vortragen –, das diese Novelle prägt. Waswir tun, ist mehr als eine Reaktion auf den Preisrück-gang; an einer Stelle fördern wir sogar stärker als bisher.Es geht um den Bereich, in dem die Solarenergie nichteingespeist, sondern vom Haushalt selber genutzt wird.Das ist in hohem Maße sinnvoll, weil wir damit einenAnreiz für Verhaltensänderungen bieten. Wir geben ei-nen wirtschaftlichen Anreiz, den Verbrauch nach der Er-zeugung auszurichten. Wir geben einen Anreiz für Ent-wicklungen im Bereich Batterietechnologie. Es soll sichlohnen, diese Installationen im Privathaushalt vorzuneh-men. Außerdem ist das ein Angebot an die Bürger, mit-zumachen. Sie haben die Chance, sich selber zu versor-gen. Das ist ein Anreiz, davon Gebrauch zu machen.Eine letzte Bemerkung: Es geht bei diesem Vorschlagauch um die Kürzung von Subventionen. Was ist derKern? Es geht um Geld und um Interessen. Ich finde,dass das nicht die Orientierung dieser Debatte und dieserGesetzgebung sein darf. Ich meine, wir müssen uns andem strategischen Ziel orientieren, die Nutzung der er-neuerbaren Energien durch eine verlässliche Rahmenset-zung zu fördern, damit der in unserem Land eingeschla-gene Weg der Energiegewinnung erfolgreich wird.Die einen sagen: Es ist viel zu viel gekürzt worden.Die anderen sagen: Es ist noch viel zu wenig gekürztworden. Ich glaube, dass wir mit Augenmaß und einerkonzeptionellen Klugheit einen Rahmen setzen, wasdazu führen wird, dass die erneuerbaren Energien undspeziell die Solarenergie in Deutschland weiter eine Er-folgsgeschichte schreiben. Unser Gesetz ist nicht nur gutgemeint, sondern auch richtig gut gemacht. Die Solar-energie erhält somit eine wirkliche Förderung.Danke sehr.
Metadaten/Kopzeile:
3176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
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Waltraud Wolff hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Erneuerbare Ener-gien über den grünen Klee loben, Anerkennung für300 000 Arbeitsplätze zollen, Visionen für die Zukunftder erneuerbaren Energien haben und die Zukunft schönausmalen, das ist das eine, Herr Minister Röttgen. Abergleichzeitig verlängern Sie die Laufzeit der Atomkraft-werke um acht Jahre. Das nenne ich wirklich konse-quent!In der letzten Woche, in der Haushaltsdebatte, habeich von einem CDU-Kollegen zum Haushalt eine Fragegestellt bekommen, nämlich: Ist es gerecht und richtig,dass die kleinen Stromkunden jemanden für seine Foto-voltaikanlage 10 Prozent Rendite zahlen sollen? Ich willheute noch einmal Bezug auf diese Frage nehmen undmit einer Gegenfrage antworten: Ist es eigentlich okay,dass Union und FDP genau diesen Stromkunden mehrals 46 Milliarden Euro Zusatzgewinne für die Atom-kraftbetreiber abverlangen?
2009 betrugen die Kosten für Strom aus erneuerbarenEnergien 4,6 Milliarden Euro.
Auf mindestens 46 Milliarden Euro beziffert eine Studiedes Öko-Instituts vom Oktober letzten Jahres die Ge-winnmitnahme der Betreiber von Atomkraftwerken beieiner zusätzlichen Laufzeit von acht Jahren – 46 Milliar-den Euro zusätzliche Gewinne, die Union und FDP aus-lösen wollen.
Es ist richtig: Weder Verbraucher noch Steuerzahlersollen die Melkkuh der Nation sein.
Aber können Sie mir bitte schön erklären, wie es kommt,dass die kleinen Leute bei Ihren Entscheidungen über-haupt keine Rolle spielen,
wenn es zum Beispiel um Milliarden für Hotelbesitzergeht,
wenn es zum Beispiel um Milliarden für die Betreibervon Atomkraftwerken geht und wenn es um Zusatzbei-träge bei der Krankenversicherung geht?
Ganz einfach – ich kann Ihnen die Frage beantworten –:Es geht Ihnen nicht um die kleinen Leute. Ihnen geht esnur um billige Begründungen und um nichts anderes.
Fakt ist: Die Strompreise werden immer mehr zur Be-lastung. Aber: Während die durchschnittlichen Strom-preise für Haushalte in den letzten zehn Jahren um9,3 Cent auf 23,2 Cent pro Kilowattstunde gestiegensind, hat sich der Anteil der EEG-Umlage im gleichenZeitraum lediglich von 0,2 auf 1,1 Cent pro Kilowatt-stunde erhöht;
einer von fünfzehn durch das EEG. Geht es der Regie-rungskoalition wirklich um die Verbraucherinnen undVerbraucher,
geht es der Regierungskoalition um eine Senkung vonKosten? Nein, die Regierungskoalition setzt auf Dino-sauriertechnologie statt auf Zukunft. Sie wissen dochganz genau, dass die Investitionen in die erneuerbarenEnergien heute für bezahlbare Strompreise morgen sor-gen.
Sie wissen auch ganz genau, dass sinkende Preise nurdurch einen funktionierenden Wettbewerb erreichbarsind. Das alles wissen Sie. Also hören Sie doch auf, hierNebelkerzen zu werfen.
Im Oktober letzten Jahres hat der damalige Kartell-amtspräsident Bernhard Heitzer auf einen wichtigenPunkt hingewiesen – ich zitiere –:Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird diehohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten ze-mentiert …Gemeint sind die vier Energieriesen in Deutschland.
Auf dem Strommarkt – das wissen wir alle – herrschtkein Wettbewerb. Wir müssen die Strukturen ändern,wenn wir Wettbewerb wollen. Laufzeitverlängerungenbewirken das Gegenteil.
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Waltraud Wolff
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Sie zementieren die Strukturen, die seit Jahren privateund gewerbliche Energiekunden mehr und mehr Geldkosten. Sie verhindern, dass in Zukunftstechnologien in-vestiert wird.Ein großes Problem – darauf haben andere schon hin-gewiesen – ist, dass Sie die Fotovoltaik auf Ackerflä-chen beenden wollen. Wieder ist Ihre Argumentationeinfach nur unehrlich. Richtig ist: Es gibt Flächenkon-kurrenz. Richtig ist auch: Der Ackerboden ist begrenzt.Aber ich frage mich: Warum gehen Sie hier wieder aufden kleinsten Mitspieler los? Der Sachverständigenratfür Umweltfragen hat zu Ihrer Biomassestrategie festge-stellt, dass bei der Biomasse die Nutzungskonkurrenzennicht ausreichend berücksichtigt sind. Die Produktionvon Biomasse – das wissen wir alle; ich komme aus demLandwirtschaftsbereich und beschäftige mich hiermitschon seit zwölf Jahren – hat auf Ackerflächen eine we-sentlich größere Bedeutung als Fotovoltaik. Das heißt,Biomasse zur Energieerzeugung hat einen vielfach grö-ßeren Flächenbedarf als Fotovoltaik.Zusammengefasst: Auch hier stimmen Ihre Begrün-dungen vorne und hinten nicht. Im Übrigen ist die SPDexplizit der Meinung, dass wir nicht in die Hoheitsrechteder kommunalen Verwaltungen eingreifen sollten. DieKommunen haben selber genug Sachverstand, um zuentscheiden, ob sie auf ihren Äckern Fotovoltaikanlageninstallieren lassen oder nicht. Das können Sie denen zu-trauen.
Am 12. März 2010 hat Ministerpräsident Seehoferverlauten lassen: „Die von der Bundesregierung ange-strebten Senkungen der Solarförderung sind zu hoch.“Ihre eigenen Ministerpräsidenten – hier sind schon an-dere angeführt worden – haben die wesentlichen Pro-bleme schon benannt und Vorschläge gemacht. HörenSie doch wenigstens denen zu! Der Ministerpräsidentmeines Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Herr ProfessorBöhmer, ist sicherlich kein Ministerpräsident der lautenWorte. Aber selbst er hat Sie aufgefordert, „die Folgender beschlossenen Kürzung zu überdenken.“
Ich glaube, dass er nur aus Gründen der Parteiräson nichtdie Rücknahme Ihrer Vorschläge, sondern lediglich Er-satzlösungen durch eine stärkere Unterstützung der So-larzellenhersteller gefordert hat. Es geht um Arbeits-plätze, nur falls es Sie interessiert.Meine Damen und Herren, das Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz – Kollege Fell hat das vorhin deutlich ge-macht – ist eine Erfolgsgeschichte. Diese Erfolgsge-schichte erkennen auch Sie an. Die Fotovoltaik ist einsehr wichtiger Teil der Zukunft unserer Energieversor-gung. Dafür steht die SPD. Ich fordere allerdings auchdie Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, diesich als Freunde der Sonnenenergie betiteln, auf: HelfenSie mit! Lehnen Sie die strengen Kürzungen, die vorge-nommen werden sollen, gemeinsam mit der Oppositionab!Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Horst Meierhofer für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe wirklich ein Problem mit dem Politikverständ-nis, das der eine oder andere hier hat.
Herr Fell kommt auf die Idee, zu sagen: Die Kohlewurde im Laufe der Jahre zu stark subventioniert. Des-wegen dürfen wir jetzt keine Übersubventionierungenbei der Fotovoltaik verhindern. – Welche Logik liegtdem zugrunde?
Weil das eine gewollt und das andere ungewollt ist?
Es geht nicht darum, dass wir in diesem Bereich Arbeits-plätze schaffen oder gefährden wollen, sondern es gehtum nicht mehr und nicht weniger als darum, dass staat-lich garantierte Traumrenditen nicht auf Kosten des klei-nen Mannes finanziert werden sollen;
das ist das Entscheidende.
Frau Wolff, es ist eine absurde Vorstellung, zu glau-ben, dass, wenn wir die Förderung pro Kilowattstundefür die Fotovoltaikindustrie in Deutschland nicht kürzenwürden, Arbeitsplätze gerettet würden. Ganz im Gegen-teil, das würde nämlich den Wettbewerb im Ausland ver-schärfen. Dort profitiert man von unserer Unterstützungnämlich genauso wie in Deutschland. Wir müssen dafürsorgen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt,dass sie forscht und selbst in Forschung investiert. Dannist sie anderen einen Schritt voraus, nicht dann, wenn sieviel Unterstützung bekommt.
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Ein solches Verständnis führt mit Sicherheit nicht dazu,dass in Deutschland mehr Arbeitsplätze entstehen. DieseArbeitsplätze werden in China entstehen.Es gibt ein grundsätzliches Verständnisproblem. Werglaubt, dass es ökologisch ist, Investoren möglichst hoheRenditen zu versprechen, der denkt überhaupt nicht lo-gisch, ökologisch schon gar nicht. Der denkt nur im Inte-resse derer, die es sich leisten können und genug Geldhaben, um in großem Umfang zu investieren. Der denktaber nicht im Interesse des kleinen Mannes.
Mir ist vollkommen unverständlich, wie es sein kann,dass gerade die Linkspartei auf die Idee kommt, zu sa-gen: Wer bei der Fotovoltaik kürzt, denkt nicht an denkleinen Mann. – Das genaue Gegenteil ist der Fall.
Für dieses Jahr werden Ausbauziele von 4 bis6 Gigawatt erwartet. Das ist toll und erfreulich. Dasheißt, dass die Fotovoltaikbranche auf einem sehr gutenWeg ist. Das heißt aber auch, dass sie die Kürzungen, dievorgesehen sind, gut verkraften kann.Sie haben davon gesprochen, dass der eine oder an-dere Vertreter eines Verbandes der Fotovoltaik- oder So-larwirtschaft gesagt hat, die Förderung sei zu hoch. Viel-leicht wollen Sie ja, gerade wenn Ihnen der kleine Mannso wichtig ist, auch hören, was der Chef des Verbrau-cherzentrale Bundesverbandes gesagt hat. Er sagte:Wenn die Absenkung nicht noch deutlich höher erfolgenwird, werden die Kosten in Zukunft in nicht tragbare Di-mensionen vorstoßen. – Vielleicht sollten Sie sich auchdiese Aussage einmal zu Herzen nehmen.
Das ist nämlich das Entscheidende. Darüber müssen wiruns Gedanken machen.
Ich meine, dass wir damit begonnen haben, einenwirklich guten Weg einzuschlagen.
Ich bin mir sicher, dass wir in die richtige Richtung ge-hen. Diejenigen Unternehmen, die aufgrund dieser Kür-zung nicht wettbewerbsfähig sind, müssen sich in Zu-kunft besonders anstrengen; das ist das Entscheidende.Wir können keinen Arbeitsplatz garantieren. Wir könnennur die Rahmenbedingungen schaffen, und das passiertgerade.
Ein Thema möchte ich noch ganz kurz ansprechen.Heute haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf einge-bracht. Nun folgt ein offenes parlamentarisches Verfah-ren. Wir werden zu diesem Thema auch eine Anhörungdurchführen. Ich bin überzeugt, dass es noch die eineoder andere Änderung geben kann. Frau Dr. Flachsbarthhat bereits darauf hingewiesen, dass die Vergütung fürAnlagen auf Ackerflächen eingeschränkt werden muss.Hier sind wir uns absolut einig, und das ist auch vernünf-tig. Über die Frage, ob ein Förderstopp für Anlagen aufAckerflächen vernünftig ist, kann man durchaus disku-tieren, weil Fotovoltaik dort natürlich deutlich günstigerist als auf dem Dach.
Gleichzeitig müssen aber die Bedürfnisse der Land-wirtschaft befriedigt werden, indem man sagt: Wir wol-len keine riesigen Parks. Wir wollen keine Investoren-modelle, die von auswärts oder sonst woher kommen.Das ist klar. Die Größen zu begrenzen oder nach Boden-punkten des Werbers zu gehen, könnte beispielsweiseein Kompromiss sein.
Das Gleiche gilt für den Eigenverbraucher. Wir müs-sen aufpassen, dass wir keinen zusätzlichen Subven-tionstatbestand schaffen. Wenn uns das gelingt, wird esim Rahmen des Verfahrens zu einer für alle befriedigen-den Lösung kommen. Die Fotovoltaikindustrie wirdweiterhin wachsen. Erneuerbare Energien sind die Zu-kunft.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Scheer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben eben gehört, dass auch seitens der Koalitions-fraktionen und der Regierung noch Überlegungsspiel-raum vorhanden sein soll. Außerdem wird es ein Hea-ring geben.Am Schluss der Debatte möchte ich aber eine Sachezu bedenken geben: Wir haben erst vor kurzem eine De-batte anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes geführt. Im Rahmen dieserDebatte ist gelegentlich zitiert worden, welche schwer-wiegenden Bedenken und Warnungen es vor diesem Ge-setz vonseiten der CDU/CSU und der FDP gegeben hat.All diese negativen Voraussagen sind nicht eingetreten,
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Dr. Hermann Scheer
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und all die positiven Voraussagen bezüglich der Wirkungdes Gesetzes sind eingetreten und werden heute bestä-tigt. Deswegen wundert mich die Selbstsicherheit, mitder all diejenigen, die sich nachweislich geirrt haben– das haben sie selbst zugegeben –, jetzt meinen, dass ihrAnsatz, wie es mit dieser Schlüsseltechnologie weiterge-hen soll, richtig ist.Ich möchte Sie bitten, bei der jetzt anstehenden De-batte und dem Hearing das eigene Wort ernst zu nehmen.Schauen Sie sich die Dinge ganz genau an, damit imHinblick auf diese Frage kein wesentlicher Fehler pas-siert. Was von Deutschland aus aufgebaut worden ist, bishin zu den Produktionen in China, ist eine Weltindustriefür Fotovoltaik, die es ohne das Erneuerbare-Energien-Gesetz so nicht gäbe. Ein wesentlicher Fehler wäre also,wenn ausgerechnet Deutschland auf einmal einen sol-chen Einbruch erleidet, dass das, was wir angestoßen ha-ben, am Ende von anderen gemacht wird. Das kann dochwohl nicht in unserem Interesse liegen.Danke schön.
Herr Kollege Meierhofer, bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Scheer, die
Angst kann ich Ihnen nehmen. Für die Anhörung wur-
den Experten geladen. Das haben übrigens auch der Herr
Minister und die FDP-Fraktion getan. Es werden die un-
terschiedlichsten Interessenvertreter gehört, mit denen
dann besprochen wird, worum es geht.
Das Wichtigste an dieser Novellierung ist, dass man
die Zukunft der erneuerbaren Energien nicht gefährdet.
Wir haben vorher gehört, welche Verwicklungen es bei-
spielsweise in Spanien gegeben hat. Dort war man ir-
gendwann nicht mehr bereit, die Subventionen zu redu-
zieren, obwohl man rechtzeitig gemerkt hat, dass
entsprechend große Profite gemacht werden, sodass zu-
sätzliche Unterstützung gar nicht nötig war, um die Wirt-
schaft anzutreiben. Irgendwann kommen dann Politiker
und sagen: Um Himmels willen, so viele Milliarden
Euro, wie ihr sie hier an Steuergeldern ausgebt, können
und wollen wir uns nicht mehr leisten. Deswegen ist
jetzt Schluss mit diesem Wahnsinn.
Genau das wollen wir verhindern. Genau das werden
wir dadurch verhindern, dass wir vernünftige Kürzungen
vornehmen, die die Branche nicht gefährden, die aber
dafür sorgen, dass es für den Verbraucher bezahlbar
bleibt. Wir werden damit den Ausbaupfad der erneuerba-
ren Energien, insbesondere der Fotovoltaik, immer wei-
ter vorantreiben. Sie ist zwar im Moment noch teuer, hat
aber das Potenzial, günstig zu werden. Dann wird sie oh-
nehin nicht mehr aufzuhalten sein.
Nun hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir füh-ren diese Debatte über Fotovoltaik nun seit Wochen,wenn nicht seit Monaten, mit einer Emotionalität, wieich sie in diesem Bundestag noch nie erlebt habe.
Die SPD hat heute die bayerische Staatsregierung zi-tiert. Die FDP hat das Bauernblatt zitiert. Dies zeigt, wieschwierig die Gefechtslage an dieser Stelle ist. Deshalbwill ich einleitend versuchen, zwei grundsätzliche Dingefestzuhalten, über die es in diesem Hause einen Konsensgeben sollte: Erstens. Wir wollen mit dem EEG Techno-logien fördern und nicht Investmentfonds.
Zweitens. Die Fotovoltaikbranche hat eine besondereVerantwortung für das EEG. 45, wenn nicht 50 Prozentder Differenzkosten gehen zulasten der Fotovoltaik. DieFotovoltaik produziert aber nur gut 6 Prozent des aus er-neuerbaren Energien erzeugten Stromes. Wir haben daalso noch immer ein großes Missverhältnis. Nun ist daserklärbar, weil es sich bei der Fotovoltaik um eine jungeTechnologie handelt, die man in den Markt einführenmöchte. Aber es muss doch unser gemeinsames Anlie-gen sein, meine Damen und Herren, das möglichst raschzu tun, um nicht Kritiker auf den Plan zu rufen, die amBeispiel der Fotovoltaikförderung das EEG insgesamtdiskreditieren. Dieses Potenzial bietet die Fotovoltaik-förderung, weil sie sehr hoch ausfällt.Der Meilenstein, den wir erreichen müssen, ist, dassder Strom, der vom Dach kommt, vergütet wird wie derStrom, der aus der Steckdose kommt. Da sind wir auf ei-nem guten Weg. Eigentlich sollte die Branche die Vor-schläge von Minister Röttgen aufgreifen, ihn unterstüt-zen und sagen: Yes, we can; wir können das. Das wäreein Ansatzpunkt, der die entsprechende Begeisterung fürdie erneuerbaren Energien unterstreichen würde.
Wir sind dabei, die entsprechenden Konsequenzen zuziehen mit Sonderabschlägen, über die man natürlichdiskutieren muss. Wir führen eine Anhörung dazu durch,die ergebnisoffen sein wird, aber natürlich das Ziel hat,das, was bei der Fotovoltaik zu viel gefördert wird, abzu-schöpfen. Wer wie Herr Becker von der enormen Preis-entwicklung spricht, die sich deutlich abzeichnet, dermuss dafür sein, übermäßige Förderung abzuschöpfen.Wie der Minister es richtig ausgeführt hat: Es hilft dochder Branche nicht, wenn man das nicht tut. Am Endeblieben nur überhöhte Renditen stehen.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Angesichts meiner kurzen Redezeit gern.
Bitte sehr.
Die Absicht meiner Fragestellung, Herr Kollege
Nüßlein, war auch, Ihnen mehr Redezeit zu verschaffen;
Sie sind ja der vorletzte Redner insgesamt und auch Ihrer
Fraktion.
Wären Sie bereit, die zusätzliche Redezeit zu nutzen,
um nicht mehr abstrakt über die Frage der Vergütung zu
sprechen? Die Koalitionsfraktionen haben einen konkre-
ten Gesetzentwurf eingebracht, mit dem sie die Förde-
rung der Fotovoltaik kürzen wollen. Legen Sie einmal
dar, wie ein Qualitätsprodukt wie Solarmodule unter die-
sen Bedingungen noch in Deutschland produziert wer-
den und seinen Markt finden kann. Nutzen Sie die zwei
Minuten, die Ihnen die Präsidentin bestimmt dafür ein-
räumen wird.
Ich nutze die Gelegenheit, das im Rahmen der Beant-
wortung Ihrer Frage außerhalb meiner Redezeit zu dis-
kutieren.
Ich möchte noch einmal unterstreichen, was Minister
Röttgen vorhin ökonomisch präzise analysiert hat: Die
Einspeisevergütung hat mit der Entwicklung der Modul-
preise nichts zu tun.
Am Markt spielt die entscheidende Rolle nicht die Kos-
tensituation der Unternehmen, sondern der Preis. Wenn,
obwohl die Preise sinken, die Einspeisevergütung gleich
hoch bleibt, wem wird die Differenz zugutekommen?
Müssen wir nicht davon ausgehen, dass der Investor
seine Rendite maximieren will?
Er wird die hohe Einspeisevergütung gerne kassieren,
den Strom aber trotzdem mit asiatischen Modulen erzeu-
gen, weil so seine Gewinnspanne am höchsten ausfällt.
Das ist ein Problem, das wir mit dem EEG nicht lösen
können. Insofern haben all diejenigen Kolleginnen und
Kollegen recht, die sagen: Das EEG ist kein Instrument
zur Subventionierung, das heißt, kein Instrument dazu,
zielorientiert bestimmte Unternehmen der deutschen
Wirtschaft zu fördern. Jemand hat vorhin gesagt, es gehe
um den Weltmarkt. Meine Damen und Herren, glauben
Sie denn ernsthaft, dass wir über das EEG den Welt-
markt beeinflussen können? Das glauben Sie doch sicher
auch nicht, sehr geehrter Herr Kollege.
– Da Sie es konkret haben wollen, nenne ich Ihnen die
Abschläge, um die es hier geht: 15 Prozent bei Freiflä-
chen, 16 Prozent bei Dachflächen und 11 Prozent bei
Konversionsflächen, also entsprechend weniger, sind die
Vorschläge, die wir an dieser Stelle jetzt gemacht haben,
über die wir in der Anhörung aber durchaus noch disku-
tieren werden. Ich gehöre zu denen, die nicht sagen:
„Das ist zementiert, das ist betoniert“, sondern wir wol-
len das auch dort noch einmal verifiziert bekommen.
Das Umweltministerium hat eine Rechnung vorge-
legt, die ich für plausibel halte, und diese Rechnung wird
man im Rahmen der Anhörung dann auch weiter verifi-
zieren.
Herr Kollege, es gibt noch einen Kollegen, nämlich
den Herrn Becker, der Ihnen die Redezeit verlängern
möchte.
Das kann der Kollege Becker auch noch tun.
– Sie können doch 15 Prozent von der Einspeisevergü-
tung berechnen. Ich erwarte, dass Sie das können. Das
traue ich Ihnen zu.
Herr Kollege Nüßlein, ich habe nur eine ganz kurze
Nachfrage.
Sie haben ja gerade ausgeführt, dass Sie den Berech-
nungen des Bundesumweltministers vollumfänglich fol-
gen können. Sie haben auch seine wirtschafts- und
marktpolitische Logik herausgestellt und ihm in dem,
was er vorgelegt hat, recht gegeben.
Da Sie ja derselben Partei wie der bayerische Minis-
terpräsident angehören, heißt das für mich, dass Herr
Seehofer diese Voraussetzung logischerweise nicht er-
füllt, weil er etwas anderes fordert. Stimmen Sie mir in
dieser Deutung zu?
Das ist eine wunderschöne Frage. Wir können bei Be-wertungen natürlich durchaus zu anderen Ergebnissenkommen, weil insbesondere die Branche, die bestimmteInteressen verfolgt, etwas anderes behauptet. Der Minis-ter steht zwischen dem Verbraucherschutz auf der einenSeite und den Brancheninteressen auf der anderen Seite.
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Dr. Georg Nüßlein
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Ich habe nicht gesagt, dass das, was der Minister hiervorschlägt, bereits der endgültige Vorschlag ist, sondernich habe gesagt: Wir haben jetzt einen Vorschlag aufdem Tisch, der im Rahmen dieser Anhörung, zu der auchentsprechende Experten geladen werden, noch einmalverifiziert wird und von dem wir aber glauben, dass wirdamit grundsätzlich richtig liegen. Wenn wir zu einemanderen Ergebnis kommen, dann bitte gern, aber dasmuss an der Stelle dann auch entsprechend fundamen-tiert erfolgen.
Was für mich an diesem Punkt ganz wesentlich undwichtig ist, ist das Thema Vertrauensschutz. Das ist nichtein Anliegen der FDP allein. Wir werden uns noch ein-mal gemeinsam darüber unterhalten, ob das, was jetzt imVorschlag steht, ausreicht. Das ist das eine.Das andere ist das Thema Ackerland. Hier muss ichdie Kollegen von der FDP nun auch klar enttäuschen.Die Ackerlandauflage macht keinen Sinn. Sie hat schonzu rot-grüner Zeit keinen Sinn gemacht. Wie erklärenSie denn, dass es die Fotovoltaik auf Ackerland gebensoll – neben Konversionsflächen und vorbelasteten Flä-chen? Damit hat sich Rot-Grün damals vor der Verant-wortung gegenüber dem Natur- und Landschaftsschutzdrücken wollen. Ich nehme an, dass Sie das deshalb ge-macht haben. Das muss gestrichen werden, weil es nichtkonsequent und nicht sinnvoll ist.
Wir werden dann auch noch einmal darüber diskutieren,ob die Alternativen, die Flächen, die jetzt im Gesetzent-wurf vorgeschlagen sind, ausreichen, um das ganzeThema entsprechend voranzubringen.Ich möchte auch noch einmal betonen: Ich hätte mirgewünscht, dass auch der Kollege Fell die flexible Ver-gütung – das, was Minister Röttgen mit Blick auf dieVerlässlichkeit gesagt hat – in ganz besonderer Weisegewürdigt hätte. Lieber Kollege Fell, wenn ich michrecht entsinne, war das nämlich bei der letzten EEG-No-vellierung ein Vorschlag der Grünen. Ich würde mirwünschen, auch einmal ein bisschen für das gewürdigtzu werden, was wir hier an der Stelle umsetzen. Dasmacht mehr Sinn als der Versuch, das Ganze politisch zuinstrumentalisieren, die alte Leier „Kernenergie gegenerneuerbare Energien“ zu spielen und so zu tun, als ob esda eine Konkurrenz gibt. Diese gibt es nicht.
Wir stehen für den Einspeisevorrang erneuerbarerEnergien. Deshalb hat die Laufzeitverlängerung fürAtomkraftwerke nichts, aber auch gar nichts mit demThema erneuerbare Energien und Fotovoltaik und derenAusbau zu tun.Vielen herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach denHorrorszenarien, die gerade von der Opposition gezeich-net wurden, möchte ich die Diskussion noch einmal et-was versachlichen und betonen, dass das Gegenteil vondem der Fall ist, was Sie derzeit behaupten: Wir werdenin den Bereich der Fotovoltaik nach wie vor enorm vielinvestieren; die Förderung wird enorm hoch sein. KeinTräger erneuerbarer Energien wird in den nächsten Jah-ren so stark gefördert wie die Fotovoltaik.
Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren auch zu ei-nem enormen Ausbau in diesem Bereich führen. DieZahlen zeigen ganz deutlich, dass es in diesem Jahr eineSteigerung um 3 000 bis 5 000 Megawatt geben wird.Das heißt, allein in diesem Jahr gibt es einen Aufwuchsum 30 bis 50 Prozent. Der deutsche Anteil am Welt-markt in diesem Bereich wird nach wie vor 50 Prozentbetragen, obwohl der deutsche Markt nicht gerade derMarkt ist, auf dem die Sonne am meisten scheint. Auchdas muss man sicherlich in der Diskussion berücksichti-gen.Herr Kauch hat mir ein Zitat vorweggenommen, aberich muss das doch noch einmal sagen, weil ich glaube,dass es in dieser Debatte enorm wichtig ist, die Positio-nen klarzustellen. Der Bundesverband Solarwirtschafthat vor wenigen Tagen ganz klar gesagt: Bei einer ge-zielten Eigennutzung des erzeugten Stroms besteht ab2010 durchaus Potenzial, die Vorjahresrendite noch ein-mal zu übertreffen. – Meine Damen und Herren, alleindiese Aussage sagt doch alles. Ich glaube, sie zeigt, dasseine Anpassung dringend notwendig ist.Ich meine, wir sollten in dieser Debatte unsere Zielenoch einmal in den Mittelpunkt stellen.
Das erste Ziel ist, die Träger erneuerbarer Energienschrittweise auszubauen, wo es nur geht. Dann müssenwir prüfen, an welchen Stellen wir das tun. Wir werdendas im Bereich der Fotovoltaik massiv tun, aber wirmüssen die Diskussion auch ehrlich führen und anerken-nen, dass wir im Bereich der Fotovoltaik und Solarener-gie nur ein begrenztes Potenzial haben. Selbst die größ-ten Optimisten sagen, dass wir in den nächsten Jahrennur 5, 6, 7 oder 8 Prozent der Stromerzeugung durch Fo-tovoltaik erzielen können.
Trotzdem werden wir in den nächsten zehn Jahren80 Milliarden Euro in diesen Bereich investieren. Ich
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3182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Thomas Bareiß
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glaube, es ist richtig, dass wir das tun. Denn die Exper-ten sagen uns, dass es in den nächsten zwei bis drei Jah-ren gerade in diesem Bereich noch Technologiesprüngegeben wird. Ich glaube deshalb, es ist richtig, in die Fo-tovoltaik zu investieren.Aber wir müssen auch das zweite Ziel verfolgen – daswurde schon angesprochen –, nämlich die Solarbranchewettbewerbsfähig zu machen, damit sie auf dem interna-tionalen Markt bestehen kann.
Denn nur so können langfristig sichere Arbeitsplätzeentstehen; und nur so können wir eine Branche auf-bauen, die zukunftssicher ist.Bei aller Diskussion dürfen wir nicht vergessen – esist mir wichtig, das noch zu erwähnen –, dass wir mitgleichem Druck dafür sorgen müssen, die Energie, diewir durch Fotovoltaik erzeugen, auch speichern zu kön-nen. Die ganz große Herausforderung für die nächstenJahre ist, Speichertechnologien zu entwickeln. Ichglaube, neben dem Netzausbau wird die große Heraus-forderung im Bereich der erneuerbaren Energien sein,Speichertechnologien zu entwickeln, um die Solarbran-che zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist,glaube ich, der Ansatz richtig, die Eigenförderung erheb-lich auszubauen und zu versuchen, neue Innovationen zuermöglichen.Meine Damen und Herren, ich meine, durch die An-passung, die wir jetzt vornehmen – und es ist eine An-passung und keine Kürzung –, werden wir der wettbe-werbsfähigen Solarbranche eher den Rücken stärken, alsdass wir sie abwürgen. In diesem Sinne freue ich michauf die kommende Anhörung und die kommenden Bera-tungen in den Ausschüssen. Ich glaube, wir sind in die-sem Bereich auf dem richtigen Weg.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/1147 und 17/1144 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Eurozone reformieren – Staatsbankrotte ver-
hindern
– Drucksache 17/1058 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke das
Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Griechenland ist durch massiven Druck aus Brüssel bzw.aus der EU mitten in der Wirtschaftskrise gedrängt undverpflichtet worden, ein massives Sparprogramm aufzu-legen, zum Beispiel durch Lohnkürzungen und Einspa-rungen im öffentlichen Dienst, eine Mehrwertsteuer-erhöhung und dergleichen mehr. Das wird das Problemin Griechenland nicht lösen. Im Gegenteil: Diese von au-ßen aufgezwungene Politik des Sparens wird die Wirt-schaftskrise in Griechenland nur noch weiter verschärfenund letzten Endes die Staatsverschuldung tendenziellweiter erhöhen.Der britische Schatzkanzler hat zu Recht darauf hin-gewiesen, dass dies eine Verrücktheit ist. Ich sage deut-lich: Für Verrücktheiten steht die Linke nicht zur Verfü-gung. Das lehnen wir ab.
Die Verrücktheit wird sich möglicherweise noch stei-gern, wenn auf Intervention der deutschen Regierung derIWF auf Griechenland losgelassen wird. Was für verhee-rende Folgen die IWF-Politik für die Binnenstruktur vonLändern hat, konnte man in den letzten Jahrzehnten indiversen Ländern der Dritten Welt verfolgen.
Das griechische Volk wehrt sich zu Recht gegen diemassiven Verschlechterungen. Es bleibt aus unsererSicht nur zu hoffen, dass sich das griechische Volk mög-lichst erfolgreich gegen diese Verschlechterungen wehrt;denn es ist im Interesse des Landes und letztlich auch imInteresse Europas, dass diese Politik nicht aufgeht. Es istdeswegen völlig klar, dass die Linke diese Auseinander-setzung unterstützt.
Überhaupt ist festzuhalten, dass andere Bereiche, indenen man in der Tat einsparen könnte, bisher nicht insBlickfeld geraten sind. Die Militärausgaben zum Bei-spiel belaufen sich in Griechenland auf mehr als 4 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ungefähr dreimalso viel wie in Deutschland. Es ist mir jedenfalls bisheraber nicht bekannt, dass ein einziger Politiker der deut-schen Bundesregierung den Griechen vorgeschlagen hat,ihren Rüstungshaushalt herunterzufahren. Nein, man mussim Gegenteil immer wieder feststellen, dass gerade auchdeutsche Minister eher darauf hinwirken, die Griechenzur Steigerung der Rüstungsausgaben zu animieren undsich zu Lobbyisten deutscher Rüstungsunternehmen zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3183
Michael Schlecht
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machen. Auch das geht im Grunde nicht so weiter. Wirsind ganz klar dagegen.
Man sieht an diesem Beispiel, dass das eigentlicheProblem in Griechenland auch sehr viel mit Deutschlandzu tun hat. Das eigentliche Problem ist die Entwicklungder deutschen Wirtschaftspolitik, und zwar die Politikdes deutschen Lohndumpings in Europa und in der Welt.Die Lohnstückkosten sind in den letzten zehn Jahrenin der Eurozone um 27 Prozent und in Griechenland um28 Prozent angestiegen. Nur in Deutschland sind sie umgerade einmal 7 Prozent angestiegen. Dahinter steht,dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die Real-löhne in den letzten zehn Jahren gesunken sind.Insofern kann man der französischen Finanzministe-rin Lagarde nur zustimmen, die letzte Woche das deut-sche Lohndumping sehr stark kritisiert hat. Mir ist nachwie vor völlig unverständlich, weshalb in diesem Hauseauch von Vertretern der Bundesregierung diese Kritik re-lativ läppisch abgetan worden ist, ohne sich damit aus-einanderzusetzen.Deutschland hat von 2000 bis 2008 einen Außenhan-delsüberschuss von 1,3 Billionen Euro erzielt. Interessan-terweise deckt sich das Defizit der Euro-Südländer genaumit dieser Zahl. Die Euro-Südländer haben in diesen achtJahren ein Defizit von 1,3 Billionen Euro aufgehäuft. Die-ser Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit inden Euro-Südländern ist auch der entscheidende Grundfür das Desaster ihrer Staatshaushalte.Wenn es nicht gelingt, diese Politik umzukehren – si-cherlich neben einer Reihe von Hausaufgaben, die in denLändern selbst zu erledigen sein wird – und in Deutsch-land eine andere Politik durchzusetzen, die viel stärkerauf die Kräftigung und den Ausbau des Binnenmarktessetzt und dadurch zu fairen Außenhandelsbeziehungenführt, dann werden diese Probleme in Europa nicht gelöstwerden. Dann werden nach Griechenland noch Spanien,Portugal und weitere Länder folgen. Ich sage voraus:Dann ist die Gefahr, dass der Euro auseinanderfliegt, ex-trem groß, und dann könnten die Erfolge von 60 Jahreneuropäischer Integration am Ende in hohem Maße gefähr-det sein.
Außerdem besteht die Gefahr, dass wir in Europa wiederzu einer verhängnisvollen Entwicklung gelangen.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Aumer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Der Antrag, den die Fraktion Die Linke heute hier ein-bringt, trägt die falsche Überschrift. Nicht „Euro-Zonereformieren – Staatsbankrotte verhindern“ ist das Zieldieses Antrags, sondern damit soll der Weg zu einer so-zialistischen Staatswirtschaft in Europa geöffnet werden.
Dieser Antrag, meine sehr geehrten Damen und Her-ren der Linken, ist wohl Ausfluss des in dieser Wochevorgestellten Entwurfs Ihres neuen Parteiprogramms.Die Financial Times Deutschland bewertet die dort auf-geführten Ziele als naive Utopien. Wenn man diesen An-trag liest, dann kommt es einem zum Teil so vor, alswollten Sie die Kräfte des Marktes außer Kraft setzen,als hätte die Utopie wieder einmal Einzug in die Real-politik gehalten.
Weiter schreibt die Financial Times Deutschland:Die Linke denkt nur in Schwarz-Weiß.
Für sie gibt es nur die da unten und die da oben, dieLinkspartei und alle anderen.– Welch treffende Einschätzung, wenn man den vorlie-genden Antrag liest!Wer ist schuld an der Krise Griechenlands? Da holenSie zum Rundumschlag aus, wie wir gerade gehört haben:natürlich die EU und der Internationale Währungsfonds,weil sie von Griechenland Lohnkürzungen im öffentli-chen Dienst und Sozialabbau verlangen, Deutschland,weil wir für das Leistungsbilanzdefizit von Mitgliedstaa-ten der Euro-Zone verantwortlich sind und Steuerdum-ping bei Unternehmensteuern betreiben, die Ratingagen-turen und wahrscheinlich viele andere mehr.Meine sehr geehrten Damen und Herren Antragstel-ler, hätten Sie doch einmal in die Stellungnahme des Ra-tes zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Griechen-lands für 2010 bis 2013 geschaut, die uns in der letztenSitzung des Finanzausschusses vorgelegen hat. Ein paarZitate daraus zeigen, wie falsch Sie in Ihrer Einschät-zung liegen: deutlich über dem Produktionswachstumliegender Anstieg der Reallöhne, Abkopplung der Löhnevon Arbeitsmarktbedingungen und Produktivitätsent-wicklung. Die Kerninflation wird den Prognosen zufolgerascher zunehmen als im Durchschnitt des Euro-Raums.Die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands muss auch imnichtpreislichen Bereich verbessert werden; Forschungs-und Entwicklungsinvestitionen müssen gefördert wer-den. Außerdem werden die Reform der öffentlichen Ver-waltung, Qualität der Bildung und Reformen bei denRenten gefordert. All diese Dinge haben Sie in IhremAntrag ganz verquer dargestellt. Ich kann nicht nach-vollziehen, wie Sie auf diese Einschätzung gekommensind.
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3184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Peter Aumer
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Mit Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen undHerren der Linken, würden Sie die Krise in Griechen-land verschärfen. Sie vergeben die Chance, die in dieserKrise steckt, eine zukunftsfähige Entscheidung für denStabilitäts- und Wachstumspakt zu treffen.Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzministerhaben in dieser außerordentlich schwierigen Situationdas einzig Richtige getan. Sie haben durch ihre konse-quente Politik dazu beigetragen, dass Griechenland inkurzer Zeit ein ambitioniertes Sparprogramm vorgelegthat. Das ist der einzige Weg von Griechenland aus derKrise und in eine stabile Zukunft.Die Krise in Griechenland ist keine Krise des Euros,wie gestern der frühere Bundesfinanzminister TheoWaigel in einem Artikel der Frankfurter AllgemeinenZeitung feststellte; vielmehr habe die nationale Finanz-,Wirtschafts- und Lohnpolitik einiger Mitgliedstaaten dieseProbleme geschaffen. Aus diesem Grund ist der deutscheWeg, der Weg von Bundeskanzlerin Merkel, der einzigrichtige. Der nötige Reformdruck auf Griechenland mussaufrechterhalten werden. Hier passt sehr gut der Satz:Hilf dir selbst, dann ist dir geholfen!
Erst wenn es gar nicht mehr anders geht – das hat dieBundeskanzlerin heute dargestellt –, muss man helfen,muss die Bundesrepublik Deutschland als Ultima Ratiogemeinsam mit anderen Mitgliedsländern der Europäi-schen Union und dem Internationalen Währungsfondseingreifen und so ihrer Verantwortung gerecht werden.In der ganzen Debatte dürfen wir nicht vergessen,dass Deutschland den höchsten Nettobeitrag zum Haus-halt der EU leistet
– Bayern selbstverständlich auch – und somit den Auf-hol- und Transformationsprozess jüngerer EU-Mitglied-staaten fördert.Ein zentraler Punkt bei der Bekämpfung der aktuellenKrise in Griechenland ist es, die Kontrolle der Staatenauszubauen und den Stabilitäts- und Wachstumspakt mitNachdruck durchzusetzen. Die Pflicht aller Euro-Staatenzur Einhaltung dieses Paktes muss oberstes Gebot blei-ben. Es ist wichtig, in Zukunft Tricksereien in der Haus-haltspolitik, wie sie in Griechenland stattgefunden ha-ben, zu unterbinden,
Kontrollen zu verstärken und wirkungsvolle Instrumenteder Prävention und Sanktion zu schaffen.
Die von den Linken eingebrachten Vorschläge sind nichtzielführend.Es ist wichtig und richtig – Minister Schäuble hat esgesagt –, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erwei-tern und zu überlegen, was hier der richtige Weg ist. DieWirtschaftsweise Weder di Mauro sagte: „Wir müssendem Stabilitätspakt Zähne geben.“Ich komme zum Schluss. Der ehemalige Finanzminis-ter Waigel hat im vorhin angesprochenen Artikel ein Ge-dicht von Reiner Kunze zitiert:Wort istwährungJe wahrer,desto härterDas ist richtig. Die Worte Ihres Antrags sind nicht unter-stützenswert.Danke.
Manfred Zöllmer ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Wirtschafts- und Währungsunion hat viele Väter:Giscard d'Estaing, Helmut Schmidt, Helmut Kohl,François Mitterrand, um nur einige zu nennen. Sie hatdie Idee verbunden, die wirtschaftliche Integration inEuropa mit einem einheitlichen Währungsraum zu voll-enden. Dahinter stand die Vision einer politischenUnion, einer gemeinsamen Währung als Ausdruck einerkollektiven europäischen Identität. Die währungspoliti-sche Integration in Europa ist Schritt für Schritt vorange-kommen. Die Einführung des Euro war ein Glücksfall,auch für Deutschland;
denn der Euro war und ist ein Hort der Stabilität. Ohneihn müssten wir jetzt über völlig andere Krisenszenarienin Europa sprechen, als wir es jetzt tun. All dies – Inte-gration, Einführung des Euro – ist von den Linken, da-mals noch PDS, konsequent bekämpft und abgelehntworden. Gilt das jetzt eigentlich noch? Sie formulierenin Ihrem Antrag: „Die Europäische Währungsunion istbedroht.“ Jetzt wollen Sie offenkundig das, was Sie vor-her vehement bekämpft haben, retten, nach dem Motto:Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit ganzerKraft.
Griechenland hat über einen sehr langen Zeitraummassiv über seine Verhältnisse gelebt. Es gibt eine großeWettbewerbsschwäche des Landes. Griechenland stehtvor dem Problem, sein exorbitantes Haushaltsdefizit zufinanzieren. Griechenland hat ein fiskalisches Problem.Lieber Kollege Schlecht, es ist im Übrigen wirklichaberwitzig, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf demWeltmarkt als Ursache dieser Probleme zu bezeichnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3185
Manfred Zöllmer
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Liest man den Antrag der Linken, so findet man über-haupt nichts zu der Verantwortung Griechenlands, seineProbleme zuerst selbst zu lösen. In Ihrem Antrag fordernSie des Weiteren, die EZB, also die Europäische Zentral-bank, solle Staatsschuldtitel entsprechend der Praxis inden USA erwerben dürfen, um damit Haushaltsfinanzie-rung zu betreiben. Ich sage Ihnen ganz klar: Das geht garnicht.
Wir wollen aus der Stabilitäts- keine Inflationsunion ma-chen.
Wir müssen Defizite abbauen – das sage ich auch inRichtung CDU/CSU und FDP –, im Übrigen auch inDeutschland. Schauen Sie sich das einfach einmal an.Die griechische Krise zeigt, dass das System desEuropäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes über-prüft werden muss. Was ist zu tun? Griechenland hat ei-nen glaubwürdigen Haushaltsplan vorgelegt, der schnellumgesetzt werden muss. Griechenland braucht dringendein funktionierendes und gerechteres Steuersystem,
ein System, das sicherstellt, dass auch die Besserverdie-nenden sich an der Finanzierung des Gemeinwesens be-teiligen.Griechenland braucht dringend entschiedene Maß-nahmen gegen die grassierende Korruption. Wir brau-chen Wahrheit und Klarheit über die Zahlen. Es darfnicht wieder passieren, dass Eurostat sozusagen herein-gelegt wird, dass Entscheidungen auf einer völlig fal-schen Datengrundlage getroffen werden. Wir brauchendarüber hinaus ein entschiedenes Vorgehen gegen dieSpekulanten, die in dieser Situation Griechenland undauch andere Länder weiter destabilisieren wollen.Wir brauchen im Euro-Raum eine stärkere Koordina-tion der Wirtschaftspolitiken; denn eine nationale Zins-und Wechselkurspolitik steht nicht mehr zur Verfügung.Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wirein System der Bereitstellung von Notfallliquiditätschaffen, das den strikten Grundsatz des No-bail-out– Artikel 125 des EU-Vertrages – nicht außer Kraft setzt,sondern durch ein Notfallsystem ergänzt wird. Das istentscheidend.
Nun schauen wir uns einmal an, wie die Bundesregie-rung in dieser Situation agiert hat. Statt beruhigend zuwirken, wurde Öl ins Feuer gegossen.
– Nein, das ist völlig richtig. – Uns wurde ein besonde-res Schauspiel der Regierungskunst vorgeführt. Es kamder Vorschlag der Kanzlerin, man möge unbotmäßigeMitglieder der Währungsunion einfach hinauswerfen.
Gut, darüber kann man nachdenken, aber nicht laut,wenn man deutsche Bundeskanzlerin ist. Mit wem istdieser Vorschlag eigentlich abgestimmt worden? Wiesoll das durchgesetzt werden? Welche Verbündeten gibtes? Viele Fragen, auf die die Regierung keine Antworthatte. In der Süddeutschen Zeitung hieß es nur: „Abfuhrfür Merkel“. Jean-Claude Trichet von der EZB sagte, erwerde solche „absurden Hypothesen“ nicht kommentie-ren.Dann gab es den nächsten Akt, den man überschrei-ben kann mit „Schäuble gegen Merkel“ oder „Merkelgegen Schäuble“, wie auch immer. Der Bundesfinanz-minister hielt es für „blamabel“, wenn der Eindruck ent-stünde, die EU könne sich nicht selbst helfen. Er war derMeinung, der IWF sei zu stark amerikanisch dominiertund bei Hilfe durch den IWF könnten die Amerikaner indie Haushaltspolitik der EU-Länder eingreifen. Danngab es die Befürchtung, dass die Unabhängigkeit derEZB möglicherweise beeinträchtigt sei. Das waren sub-stanzielle, fundamentale Bedenken, und der Bundes-finanzminister hatte deshalb einen anderen Vorschlaggemacht, nämlich den eines EWF.Auf einmal kam die Kehrtwende um 180 Grad,Motto: Was kümmert mich mein Geschwätz von ges-tern? Nun soll es doch der IWF sein. Ich sage sehr deut-lich: Das wäre eine Möglichkeit; denn der IWF hat inLettland, Ungarn und anderen Ländern bereits geholfen.Lieber Kollege Schlecht, die Linke lebt ja größtenteils inden 80er-Jahren – auch Sie; das haben Sie hier deutlichgemacht –; aber Sie müssen einfach einmal zur Kenntnisnehmen, dass sich der IWF unter Strauss-Kahn deutlichverändert hat. Er ist nicht mehr der neoliberale Teufel,der er früher in der Tat einmal war.Liebe Bundesregierung, was war das für ein blamab-les Schauspiel, das insgesamt hier gegeben wurde!„Merkel brüskiert EU-Partner“, titelte die FinancialTimes Deutschland. Dieses Agieren der Bundesregie-rung ist der Situation nicht angemessen, passt aber naht-los in die bisherige Performance, die die Bundesregie-rung hier abgegeben hat.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-
Fraktion das Wort.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, Sie haben viel
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3186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Dr. Volker Wissing
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Richtiges gesagt. Sie haben am Ende krampfhaft ver-sucht, noch Schuldzuweisungen gegenüber der Bundes-regierung zu tätigen.
Das sei Ihnen als Opposition zugestanden. Wer heute dieRegierungserklärung verfolgt hat, hat aber eine Regie-rungschefin erlebt, die sich mit einem hohen Maß anVerantwortungsbewusstsein dieser großen Aufgabestellt,
die einen ganz klaren Blick hat für die Verantwortung fürdie Gelder der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler, aber auch für unsere gemeinsame europäischeWährung, für die Stabilität dieser europäischen Wäh-rung. Diese Entschlossenheit, die heute in diesem HohenHause zum Ausdruck gekommen ist, ist ein wichtigesSignal gewesen. Dafür sind wir der Bundeskanzlerinsehr dankbar.
Der Euro erlebt eine historische Bewährungsprobe.Es gibt zahlreiche Mitgliedsländer, die vor gewaltigenwirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungenstehen. Das ist wahrhaftig keine einfache Stunde. Wirsind gut beraten – das will ich der Linken sagen –, in die-ser Situation nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen,sondern die europäischen Länder als Partner zu sehen.Wir haben ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Inte-resse, und deswegen müssen wir auch gemeinsam nachLösungen suchen.
Der Euro ist nicht nur eine Währungsgemeinschaft; erist auch eine Schicksalsgemeinschaft für uns Europäer.Derzeit wird viel über griechische Probleme geredet. Sietun das in Ihrem Antrag. Sie machen Schuldzuweisun-gen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere und sagen,was die alles falsch machen und wie schlimm da allesist. Ich will einmal daran erinnern, dass es nicht dieGriechen waren, die eine Aufweichung des Stabilitäts-und Wachstumspaktes betrieben haben.
Es waren nämlich der deutsche Bundeskanzler GerhardSchröder
und sein Finanzminister Hans Eichel, die das getan ha-ben.
Herr Kollege Zöllmer, ich erinnere mich noch gut andie scheinheilige Begründung der Sozialdemokraten.Damals haben sie gesagt, Maastricht sei nicht nur einStabilitäts-, sondern auch ein Wachstumspakt, und esdürfe nicht immer nur um Stabilität gehen. Das war dieBegründung, mit der Gerhard Schröder damals mit Un-terstützung der Sozialdemokraten eine Aufweichung derMaastricht-Kriterien betrieben hat.
Wir haben Ihnen damals gesagt, dass es falsch ist, undheute werden wir darin bestätigt. Das war ein histori-scher Fehler sozialdemokratischer Finanzpolitik.
Lassen Sie mich auf die Situation Griechenlands zu-rückkommen. Wir wollen das im Geiste einer Partner-schaft und im Miteinander regeln. Wir wollen keine Bes-serwisserei gegenüber Griechenland betreiben. Arroganzund Überheblichkeit, wie sie in dem Antrag der Linkenzum Ausdruck kommen, sind schwer erträglich und soll-ten in diesem Haus keine Mehrheit finden.
Die Griechen haben Probleme. Die Linken kennen dieUrsache. Sie kennen die Problemlösung. Sie wissen al-les. Sie wissen, dass Steuerhinterziehung an der Situa-tion schuld ist, dass Steuerdumping daran schuld ist,dass eine ungenügende Besteuerung von Kapital für dieLage verantwortlich ist. All das wissen die Linken. Manfragt sich manchmal, warum sich der griechische Minis-terpräsident nicht mit Gregor Gysi, sondern mit der Bun-deskanzlerin trifft.In Wahrheit ist es eben die Bundeskanzlerin, die denAusweg aufzeigt und die in Partnerschaft eine Lösungfür Griechenlands Probleme sucht. Sie hat klar erkannt– sie hat das auch zum Ausdruck gebracht –, dass Hilfezur Selbsthilfe das Gebot der Stunde ist. Das unterschei-det die Bundesregierung von der Opposition: Die einensuchen nach einem Weg, wie man Hilfe zur Selbsthilfeleisten kann, und die anderen – Sie nämlich – zeigen mitdem Finger auf andere.Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzministerhaben es von Anfang an abgelehnt, Griechenland mitdeutschen Steuergeldern zu helfen, und sie haben gut da-ran getan. Es war ein wichtiges Zeichen, dass deutlichgemacht wurde: Griechische Schulden müssen griechi-sche Schulden bleiben. – Deutschland kann vieles leisten– wir sind eine große Volkswirtschaft –, aber es gibtauch für uns Grenzen. Man kann den Euro nicht stärken,indem man die stärksten Volkswirtschaften des Euro-Raums schwächt.
Die Probleme Griechenlands haben ihren Ursprung inGriechenland. Sie haben eine nationale Ursache, unddeswegen können sie nachhaltig auch nur auf nationalerEbene gelöst werden.Deutschland ist sicher ein wirtschaftlich starkes Land,aber auch starke Länder können sich übernehmen. Des-wegen finde ich es verantwortungslos, wie bereitwilligSie das Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler europaweit zur Verfügung stellen wollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3187
Dr. Volker Wissing
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Die Vorschläge in Ihrem Antrag sind nicht Ausdruckeuropäischer Solidarität; sie sind Ausdruck nationalerVerantwortungslosigkeit.Nehmen Sie nur Ihre Forderung nach einer Euro-An-leihe. Allein das zeigt doch, wie wenig Sie die Problemedes eigenen Landes im Blick haben. Wenn Sie eineEuro-Anleihe fordern, sollten Sie auch dazu sagen, dassdas mit einer jährlichen Mehrbelastung in Milliarden-höhe für die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzah-ler verbunden wäre. Deutschland müsste höhere Zinsenbezahlen, wenn wir uns auf so etwas einlassen würden.Damit führen Sie die Opfer, die die Bürgerinnen undBürger bei uns erbracht haben, ad absurdum. Deutsch-land ist deshalb kreditwürdiger als andere Länder, weilDeutschland bereit ist, sich ernsthaft der Konsolidie-rungsaufgabe zu stellen. Deutschland profitiert aufgrundder Sparopfer der Bürgerinnen und Bürger von günstige-ren Kreditkonditionen.Sie wollen diese Früchte nationaler Anstrengung zu-gunsten einer Euro-Anleihe opfern. Ihre Idee ist nichteuropäisch, sie ist entsetzlich, meine Damen und Herren.
Ihre Forderungen führen nicht etwa zu einer verant-wortungsbewussteren Haushalts- und Finanzpolitik inEuropa, nein, Sie zementieren Verantwortungslosigkeitmit Ihren Vorschlägen. Sie fordern tatsächlich einenFonds, um längerfristige Defizite der Mitgliedstaaten zufinanzieren.Das wäre ein Blankoscheck für unsolide Haushalts-und Finanzpolitik nach dem Motto: Die Staaten ver-schulden sich, und wenn die Schulden hoch genug sind,dann werden sie aus einem großen Topf beglichen.Meine Damen und Herren, das funktioniert in keinerFamilie, das funktioniert in keinem kleinen und in kei-nem großen Unternehmen, und das funktioniert schongar nicht in Europa.
Sie verlieren auch kein Wort darüber, wer diesenWunderfonds bestücken soll, wer die Zeche bezahlensoll. Sie tun immer so, als seien Sie diejenigen, die dieInteressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerwahrnehmen. Tatsächlich wollen Sie aber die Menschenzur Kasse bitten für Ihren europäischen Fonds. Wir ma-chen Ihre Idee des Schuldentransfers auf dem Rückender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-land aber nicht mit. Wir werden die Interessen der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrnehmen, indemwir Ihren wirklich nicht zu verantwortenden Antrag ab-lehnen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Viola von Cramon-Taubadel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich denke, Herr Wissing hat recht. Der Euro befindetsich in einer historischen Bewährungsprobe. Die Quali-tät von Bündnissen zeigt sich aber in Krisen. In Krisen-situationen wird deutlich, ob sich nur Vorteilssucherzusammengefunden haben oder ob man gewillt ist, ge-meinsam Probleme zu lösen.
Ein weiteres Merkmal von Krisensituationen ist sicher-lich der Auftritt ungewöhnlicher Ratgeber. Wenn eineeuropaskeptische Partei wie Die Linke sich plötzlich umdie EU sorgt, dann stellt sich die Frage: Sind die Linkenklüger geworden, oder ist die Lage in Europa bedrohli-cher geworden?
Den zweiten Teil der Frage beantworte ich mit einemeindeutigen Ja. Allerdings – und das muss im Zentrumdieser Auseinandersetzung stehen – hat die Politik derBundesregierung erheblich dazu beigetragen, dass wiruns in einer derart schwierigen Situation in Europa be-finden.Es ist doch offensichtlich: Wer auch immer in der aktu-ellen Europadebatte das Sagen hat – der Finanzminister,die Kanzlerin oder sogar einmal der Außenminister –, siereden über Europa, aber sie denken an den Wahlkampf inNordrhein-Westfalen.
Ich hoffe, dass diese durchsichtigen Manöver irgend-wann einmal aufhören; denn das hat Europa nicht ver-dient.
Wir brauchen jetzt eine starke Europapolitik. Diejeni-gen, die von einem gemeinsamen Europa und insbeson-dere von der Währungsunion stark profitieren – und da-bei ist Deutschland nun einmal die Nummer 1 –, müssenauch die größte Solidarität zeigen. Solidarität heißt abernicht Blindheit. Gute Partner müssen es ertragen, dassman sich kritisch über bestimmte Verhaltensweisen aus-lässt.Die Regierung Griechenlands und die BevölkerungGriechenlands haben sicher schon erkannt: Jahrzehnte-lange Klientelpolitik, mangelhafte Bekämpfung vonKorruption, eine weit verbreitete laxe Steuermoral undein überdimensionierter öffentlicher Sektor, eine solchePolitik hält kein Staatshaushalt der Welt lange aus.Allerdings hat die Welt, haben insbesondere die Part-ner in der EU viel zu lange tatenlos zugeschaut. Grie-chenland hat bereits am 21. Oktober des vergangenenJahres sein Haushaltsdefizit von 12,7 Prozent offiziellbekannt gegeben. Damit hätte die Bundesregierung ge-nügend Zeit gehabt, um ein Konzept mit den Partnern in
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3188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Viola von Cramon-Taubadel
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der Euro-Zone abzustimmen und die Währungsunionmit neuen Instrumenten für die Zukunft zu stärken. Weg-schauen ist keine kluge Politik. Die Bedienung nationa-ler Ressentiments ist sogar eine sehr dumme Politik.Aber genau so handelt diese Bundesregierung.
Was die Euro-Zone und Griechenland betrifft, mussgenau hingeschaut werden. Dort hat die Regierung einambitioniertes Sparpaket vorgelegt. Das sollte man aner-kennen. Genau hinschauen muss man aber auch auf dieRüstungsausgaben des Landes. Den Griechen sollte klarsein: Der vermeintlichen finanziellen Bedrohung, der sieausgesetzt sind, kann man nicht mit Waffen begegnen.Sie müssen alle Möglichkeiten nutzen, ihren Militär-haushalt zu reduzieren.
Dabei dürfen wir nicht übersehen: 35 Prozent der Rüs-tungsgüter Griechenlands werden aus Deutschland impor-tiert. Dennoch konnte es Außenminister Westerwelle beiseinem Staatsbesuch am 3. Februar nicht unterlassen, fürdie deutsche Rüstungsindustrie zu werben. Der Außen-minister hilft bei Exporten, und die Bundeskanzlerindenkt offen über einen Ausschluss aus der Währungsu-nion nach und blockiert anschließend auf dem Frühjahrs-gipfel auch noch den dringend erforderlichen Hilfsme-chanismus zur Unterstützung Griechenlands. Das isteine kalte Verweigerungshaltung, das ist unsolidarisch,das ist im Kern antieuropäisch. Es ist antieuropäisch,weil nicht auf eine europäische Lösung gesetzt wird.Natürlich heißt europäische Solidarität nicht, Geldnach Athen zu tragen.
Ich habe in Griechenland mit Vertretern des Parlaments,der Gewerkschaften und der Zentralbank gesprochen.Dabei hat mich überrascht, dort nicht eine einzige Forde-rung nach Finanztransfers erhalten zu haben. Die Grie-chen erwarten lediglich ein Bekenntnis der Bundesregie-rung zu einer europäischen Solidarität.
Nein, es geht wirklich darum, Griechenland nichtdem Spiel der Spekulanten zu überlassen. Der Haushaltmuss konsolidiert werden, aber die Zinsen dürfen auf-grund von Spekulationen an den Finanzmärkten nichtweiter hochgetrieben werden. Deshalb brauchen wir– das sehen Sie anders; das weiß ich – eine europäischeAnleihe, die Griechenland einen niedrigen, einen tragba-ren Zinssatz ermöglicht.
Die Krise muss und sie kann auch nur innerhalb derEuropäischen Währungsunion gelöst werden. Sie kannaber nur gelöst werden, wenn sich die Bundesregierungkonstruktiv verhält. Schon jetzt sollte man die richtigenLehren aus dieser Krise ziehen: Auch langfristig darf dieBundesregierung einer verbesserten wirtschaftspoliti-schen Koordination in der Euro-Zone und in der Euro-päischen Union nicht weiter im Wege stehen.Die EU, aber auch die Mitgliedstaaten der Euro-Zonemüssen diese Krise nutzen, um die jetzt offen zutage ge-tretenen fundamentalen Schwächen zu beseitigen. Dafürmuss der Stabilitätspakt weiterentwickelt und auch dasaußenwirtschaftliche Gleichgewicht als Ziel mit aufge-nommen werden. Anders als im vorliegenden Antrag derLinken müssen neben den Mitgliedstaaten mit hohenÜberschüssen, wie Deutschland, auch jene mit hohenDefiziten verbindliche Empfehlungen zur Reduktion vonUngleichgewichten bekommen. Hier brauchen wir si-cherlich mehr Kontrolle durch die EU-Kommission oderin diesem Fall Eurostat.Wir brauchen in der Wirtschafts- und Finanzpolitikmehr Gemeinsamkeit. Bei der Herstellung der Gemein-samkeit hat diese Bundesregierung bisher versagt, zumSchaden für die EU, für die Währungsunion und letztlichauch für unser Land.Vielen Dank.
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und wünsche Ih-
nen weiterhin viel Erfolg und Freude bei der Arbeit.
Nun hat der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn man einige der Forde-rungen aus dem Antrag der Fraktion Die Linke mit demTitel „Euro-Zone reformieren – Staatsbankrotte verhin-dern“ liest und die Überschrift wirken lässt, könnte mansagen: Euro-Zone reformieren – Staatsbankrotte herbei-führen. Damit haben Sie ja in der Vergangenheit durch-aus Erfahrungen gemacht.
Ich möchte mich auf einige Punkte konzentrieren unddarstellen, was die Regierung gerade in Bezug auf Grie-chenland getan hat. Ich nehme an, dass Sie Ihren Antragnicht nur aufgrund des Tatbestandes Griechenland einge-bracht haben, sondern dass sich Ihr Antrag auch auf eineallgemeine Reform der Euro-Zone bezieht. Es ist festzu-stellen, dass diese Bundesregierung handlungsfähig ist,dass sie auf europäischer Ebene Verantwortung für dieStabilität des Euros übernommen hat und den Nachweisdafür bisher immer wieder erbracht hat. Es wäre näm-lich, noch in der letzten Woche, ein Leichtes gewesen,auf den Vorschlag des Kommissionspräsidenten Barroso
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3189
Leo Dautzenberg
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positiv einzugehen, der dazu geführt hätte, dass wir mitHilfen für Griechenland den Euro geschwächt und nichtgestärkt hätten. Dass das nicht so gekommen ist, wurdedurch den Einsatz unserer Regierung, der KanzlerinMerkel und des Finanzministers, auf europäischer Ebenegewährleistet.
Man muss natürlich auch feststellen, dass die Hand-lungsanweisungen, die wir teilweise von der europäi-schen Ebene bzw. von europäischen Partnern aus derEuro-Zone bekommen, nicht nur Beiträge zur Stabilisie-rung des Euros und des Euro-Verbundes, unseres Wäh-rungssystems auf europäischer Ebene, sind, sondernauch eine interessengeleitete Politik darstellen. Wennman sich manche Vorstellungen unserer Freunde inFrankreich und in anderen Ländern vor Augen führt,dann kommt man zu dem Ergebnis, dass sie teilweise da-nach ausgerichtet sind, wie sehr man in diesen Ländernin der griechischen Wirtschaft, zum Beispiel bei Banken,engagiert ist. Das spiegelt sich in manchen französischenVorschlägen wider.Wenn man darüber hinaus den südeuropäischen Be-reich betrachtet, sieht man, dass man sich dort andersverhält und sich für Hilfen einsetzt und sogar danachschreit. Dies entspricht zum Teil durchaus auch dem In-teresse des Kommissionspräsidenten Barroso. Daswürde nichts anderes bewirken, als dass weitere LänderHilfen beanspruchen würden und damit innerhalb desEuro-Verbundes ein Trend hervorgerufen würde, den wirnicht verantworten können. Denn die BundesrepublikDeutschland wäre bei diesen vorschnellen Hilfen derHauptzahler.
Aber in den jeweiligen Ländern würden in der Zwi-schenzeit nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen,sich selber zu helfen und auf den Weg der Stabilität zu-rückzukehren. Auch das gehört zur jüngsten Geschichtebei der Betrachtung von Stabilisierungsmaßnahmen aufeuropäischer Ebene.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben von den Inte-
ressen gesprochen, die hinter manchen Vorschlägen,
manchen Aktivitäten stecken. Ich bin weit davon ent-
fernt, beispielsweise der konservativen französischen
Regierung nicht unterstellen zu wollen, dass auch sie In-
teressen hat, die sie zum Teil in ihren Vorschlägen unter-
gebracht hat. Aber ich finde, es gehört zur Ehrlichkeit,
dass Sie eine Antwort auf folgende Frage geben: Ist es
eine nicht interessengeleitete Politik, wenn der Außen-
minister –
Welcher Außenminister?
– Außenminister Westerwelle –, wie von der Kollegin
von Cramon-Taubadel dargestellt, nach Griechenland
fährt und dafür sorgen will, dass dort eine unglaublich
hohe Rüstungsquote durch den Export von Rüstungsgü-
tern durch deutsche Unternehmen aufrechterhalten wird,
anstatt dafür zu sorgen, dass im Interesse des Euros ge-
spart wird? Halten nicht auch Sie das für eine schlechte,
von rein nationalen Interessen getragene Politik?
Ich glaube, jedes Land in Europa sollte so souverän
sein, im Rahmen seiner Sicherheitspolitik seine Interes-
sen wahrzunehmen und seinen Teil zur Sicherheit beizu-
tragen. Da sollten wir auch unserem Partner Griechen-
land keine Vorschriften machen und sollten keine
Ratschläge erteilen, sondern wir sollten, wenn unsere
Wirtschaft Chancen hat, dort Produkte abzusetzen, diese
auch nutzen. Da brauchen wir uns nichts vorhalten zu
lassen. Wenn Sie das aus einer Ideologie der Abrüstung
heraus zum Nachteil unserer Wirtschaft interpretieren,
ist das Ihre Sache. Meine Fraktion und ich sehen das an-
ders. Man sollte das politische Selbstbestimmungsrecht
der jeweiligen Länder akzeptieren und sie nicht bevor-
munden, weil das in die falsche Richtung führt.
Herr Kollege Dautzenberg, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Schick?
Wenn es der Sache dient, ja.
Das wird sich zeigen.
Nein, nicht zu wenig Redezeit, aber es gibt einen An-lass, noch eine weitere Frage zu stellen. – Sie sprechensich dafür aus, dass wir es den griechischen Politikernund Politikerinnen überlassen sollten, die Probleme inihrem Land selbst zu lösen, und dass wir uns nicht be-vormundend einmischen sollten. Wie bewerten Sie danndie Stellungnahmen aus Ihrer Fraktion, dass man viel-leicht auch griechische Inseln verkaufen könnte? Es gibtnoch weitere wohlgemeinte Vorschläge, die gerade dassind: Sie sind bevormundend und tragen massiv zu einerVerschlechterung der Beziehungen bei.
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3190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Dr. Gerhard Schick
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– Es waren Herr Schlarmann und Herr Wanderwitz,wenn Sie es genau wissen wollen.
Sehr geehrter Herr Kollege Schick, wir sind hier im
Parlament, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass
ein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion einen solchen
Vorschlag unterbreitet hat.
Ich glaube, dass auch Sie genauso wenig die Verantwor-
tung für eine Aussage eines Mitglieds der Grünen über-
nehmen können wie ich für ein Mitglied meiner Partei.
Vielmehr geht es darum, was von den Abgeordneten im
Plenum gesagt wird. Das sollte man ernst nehmen und
nicht das, was Sie zitieren.
Herr Kollege Dautzenberg, ich muss Sie noch einmal
unterbrechen. Auch die Frau Kollegin Hendricks möchte
mit Ihnen diskutieren.
Ja.
Herr Kollege Dautzenberg, ich wollte im Prinzip die-
selbe Frage stellen wie Herr Kollege Schick. Herr
Schlarmann ist der Vorsitzende des Wirtschaftsrates der
CDU.
Nein, er ist Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung.
Ja gut, dann eben der Mittelstandsvereinigung. – Sie
sind stolz darauf, dass mehr Mitglieder von Ihnen in der
Mittelstandsvereinigung sind, als wir Mitglieder in der
ganzen Fraktion haben. Demnach müssten auch Sie alle
in der Mittelstandsvereinigung sein. Das nehmen wir zur
Kenntnis. Außerdem ist Herr Kollege Wanderwitz auch
Mitglied Ihrer Fraktion. Zu erwähnen ist auch der Kol-
lege Schäffler aus der FDP-Fraktion, der besonders
sachkundig ist.
Ich habe diesbezüglich eine Frage an die Bundesre-
gierung gestellt. Die Bundesregierung hat immerhin da-
rauf geantwortet, dass sie sich diese Vorschläge nicht zu
eigen macht. Aber dass Bevormundung enthalten war,
wollen Sie doch nicht in Abrede stellen?
Wieso ist das eine Bevormundung? Aus Ihrer Tätig-keit als Parlamentarische Staatssekretärin im Finanz-ministerium wissen Sie, dass jeder für seine Aussageverantwortlich ist. Dabei sollten wir es auch belassen.
Es wurde bereits richtigerweise angesprochen, dasswir uns als Vertreter der Bundesrepublik Deutschlandnicht dazu aufschwingen sollten – ich sage salopp: dieBacken dick aufzublasen –, Griechenland zu erzählen,wie es sich verhalten solle. Dass wir erwarten, dass siedie angekündigten Reformmaßnahmen im eigenen Landdurchsetzen, ist völlig klar. Darauf setzen wir. Griechen-land ist am besten zu helfen, indem man hilft, dass essich selber helfen kann. Aber wir sollten uns nicht – dasklang schon an – aufspielen, sondern daran erinnern,dass von Herrn Schröder und von Herrn Eichel als ver-antwortlichem Finanzminister in der Zeit der rot-grünenKoalition das 3-Prozent-Kriterium des Stabilitätspaktesnicht eingehalten werden konnte. Gegen uns wurde einVerfahren eröffnet, das zwischenzeitlich aufgeweichtworden ist. Da muss man sich nicht wundern, wenn die-ses Handeln Schule macht und andere Länder für sich inAnspruch nehmen, ähnlich zu verfahren.
Man sollte behutsam mit diesem Thema umgehen undden Griechen klarmachen, dass wir erwarten, dass sieihre Maßnahmen fortsetzen. Wir haben keine aktuelleÄußerung des griechischen Ministerpräsidenten vorlie-gen, die besagt, dass er finanzielle Hilfe in Anspruchnehmen will. Die Griechen werden auch dieses Jahr gutihre Schwierigkeiten meistern, wenn sie ihre Refinanzie-rungen für die fälligen Anleihen im April und im Mai tä-tigen. Wir sollten Griechenland dahin gehend unterstüt-zen, dass diese Leistungen am Finanzmarkt möglichwerden.Wenn man die Forderungen der Linken sieht, mussman fragen: Wollen Sie das Verbot von Bail-out aufhe-ben? Wollen Sie im Grunde Finanzierungshilfen der Na-tionalstaaten für den Haushalt Griechenlands? WollenSie vielleicht sogar Anleihen auf europäischer Ebeneauflegen, um damit Griechenland zu helfen? Wo wollenSie die Einnahmen generieren, um die Anleihen bedie-nen zu können, wenn sie fällig werden? Wer soll dasübernehmen? Die Partner, die an der Finanzierung deseuropäischen Haushalts beteiligt sind? Ich wünsche Ih-nen viel Erfolg bei Ihrem Versuch, den deutschen Steu-erzahler dazu zu bringen, dass er Ihre Auffassung teilt,dass dies ein Weg ist, um Griechenland in dieser akutenSituation zu helfen.Was noch wichtiger ist: Sie wollen das zur Grundlageeiner Reform der Euro-Zone machen. Wir brauchen abergenau das Gegenteil.
Aufgrund der Erfahrungen, die wir bei den jetzigen Vor-gängen gemacht haben, wissen wir das. Man sollte denSchöpfern des Euros nicht vorhalten, dass sie das 1998/1999 und bei den Maastrichter Verträgen nicht berück-sichtigt haben; denn es war damals nicht erkennbar, dassEuro-Länder in eine Situation kommen können, in dersie die Vorgaben der Stabilitätskriterien nicht einhalten
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Leo Dautzenberg
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können. Aber die Lehre daraus muss sein, dass wir dieseVerträge weiterentwickeln. Bevor wir sie öffnen, müssenwir aber sicher sein, dass wir mit den Staaten, die das be-trifft, eine Reform durchbringen können, die dafür sorgt,dass am Ende engere Maßstäbe hinsichtlich des Stabili-tätskriteriums angelegt werden. Bevor man beginnt, da-rüber zu diskutieren, bevor man dieses Fass aufmacht,muss man sicher sein, dass es nicht dazu kommt, dassandere Länder in genau die andere Richtung gehen. Des-halb sollte man sich genau überlegen, wann man damitbeginnt. Es darf keine weitere Aufweichung stattfinden,sondern es müssen Kriterien entwickelt werden, die dazubeitragen, dass der Euro stabilisiert, dass diese Währungim Grunde weiterentwickelt wird.Eines ist doch wohl klar: Wenn wir die Währung Euronicht seit 1998 – in physischer Ausführung seit 2001 –hätten, dann hätten wir all die Krisen, die wir seitdem er-lebt haben – angefangen mit 9/11 – so nicht überstanden,
dann wäre in Europa gegen jede einzelne Währung spe-kuliert worden, auch gegen die dominierende Währungin Europa, die D-Mark. Mit dem Euro haben wir schonviele Krisen überstanden. Es wäre fatal, wenn wir dieseWährung jetzt nicht weiterentwickeln würden, sondernElemente zulassen würden, die ein Aushöhlen möglichmachen. Damit würden wir das Gegenteil von dem errei-chen, was wir eigentlich erreichen wollen.Deshalb ist das, was bisher vonseiten der Regierungauch auf europäischer Ebene unternommen worden ist,richtig. Der Beitrag unseres Finanzministers WolfgangSchäuble war so zu verstehen, dass auch er einen Instru-mentenkasten haben will, um die Stabilität des Eurosweiter festigen zu können. Ihm geht es nicht darum, un-ter dem Stichwort „Europäischer Währungsfonds“ einenZahlungsausgleich, im Grunde ein Funding für schwä-chere Länder, in Europa zu entwickeln. Diesen Ansatzsollten wir als Grundlage nehmen und uns nicht dieEmpfehlungen der Fraktion Die Linke zu eigen machen;denn dann würden wir in der Tat beim Staatsbankrottlanden.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Leo Dautzenberg hateben Hans Eichel ins Gespräch gebracht. Ich will an et-was erinnern: Wir denken bei 13 Ländern an ein Defizit-verfahren, 13 von 16 Ländern in der Euro-Zone.
– Das macht es nicht besser, erklärt aber ein bisschen,dass es eine eingeschränkte Sicht ist, wenn man ein Landhervorhebt. Nur Finnland, Luxemburg und Zypern sindbisher nicht davon betroffen.Herr Aumer hat vorhin einen wichtigen Satz gesagt:„Sparen ist für die Griechen der einzig richtige Weg.“Das zeigt einen falschen Denkansatz. Es gibt nicht deneinzig richtigen Weg. Es gibt nicht den einen Parameter,den man nur ändern muss, und dann wird alles gut.Manfred Zöllmer hat einen ganzen Strauß von notwendi-gen Dingen aufgezählt, über die Griechenland selbstnachdenkt und möglicherweise anstoßen will. Vielleichtkönnte Griechenland auch wieder auf Vertrauen setzen,vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, um zumBeispiel den – verglichen mit deutschen Staatsanleihen –hohen Spread zu vermindern, um so die eigene Situationzu verbessern.Kollege Wissing hat vorhin ein Wort genannt; dashabe ich nicht verstanden. Er hat von Konsolidierungs-anstrengungen in Deutschland gesprochen. Diese müss-ten ja irgendwo zu finden sein. Im Moment sind sie abernirgends zu finden. Die Staatsverschuldung ging vielstärker als nötig in die Höhe.
Es gab eine Reihe von Klientelgesetzen, die nicht demSparen geschuldet waren, sondern anderen Zielen. Es isterschreckend, wie wenig eine Regierung in fünf Mona-ten hinsichtlich der Konsolidierung schaffen kann.
Es gibt keine Perspektive für die Kommunen, keinePerspektive für die Länder, es gibt auch keine Perspek-tive für den Bundeshaushalt, geschweige denn eine Per-spektive für Europa. Ich glaube, es gibt außer dem „Kol-lisionsvertrag“, wie wir heute von Sabine Bätzinggelernt haben, jetzt auch Kommissionen; diese sind abernicht zielführend.Ähnlich reduziert ist dieser Antrag zu betrachten. Erfängt mächtig an. Die Überschrift lautet: „Euro-Zone re-formieren – Staatsbankrotte verhindern“. Dann kommenzwei magere Seiten, die viele Denkfehler und Oberfläch-lichkeiten enthalten und dieser Überschrift überhauptnicht gerecht werden. Der mächtigste Satz steht gleicham Anfang:Die Europäische Währungsunion ist bedroht.Einmal angenommen, der Bundestag würde so etwasbeschließen – manche Länder sind ja besonders be-droht –: Was ist eigentlich wichtig, wenn man eine Boni-tätseinschätzung eines Landes vornimmt, Fundamentalda-ten oder auch die Stimmung? Die subjektive Erwartungund die Stimmung sind extrem wichtig. Wenn wir das ma-chen würden, was Sie jetzt vorschlagen, könnte es zumBeispiel sein, dass der Preis für CDS, Credit DefaultSwaps, Kreditausfallversicherungen, plötzlich ansteigt.Das Maß der Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsunfähig-
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Lothar Binding
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keit von Griechenland würde ansteigen. Was würde dasbedeuten? Der Preis für die CDS würde ansteigen. Waswürde das wiederum bedeuten? Die Wahrscheinlichkeit,dass Griechenland schlecht eingestuft wird, würde stei-gen. Was würde das bedeuten? In der Erwartung der stei-genden Kosten für CDS würden viele gekauft, und wennviele gekauft würden, würden die Kosten für die CDSweiter ansteigen. Was würde dann mit Griechenland pas-sieren? Es würde in gigantische Probleme geraten. Des-halb ist diese Art von Sätzen extrem gefährlich.Aber wie einfältig – so will ich es nennen – dieserAntrag vorgeht, erkennt man an einem weiteren Satz:Die Probleme Spaniens … gehen auf unzurei-chende Steuereinnahmen sowie die staatlichen Ret-tungsmaßnahmen für Banken zurück.Als ob es in Spanien keine anderen Probleme gegebenhat! Ich will nur eines nennen: Wer sich den Bauboom –er ist künstlich erzeugt – und den Wohnungsmarkt inSpanien ansieht, der bekommt eine Ahnung davon, dasses möglicherweise noch andere Ursachen gibt als die,die in diesem so mächtig daherkommenden Antrag ge-nannt werden.In dem Antrag steht auch:Deutschland betreibt … Steuerdumping bei denUnternehmensteuern.Jetzt frage ich mich: Warum haben wir uns eigentlich soangestrengt, die Gewinnverlagerung zu verhindern? Dashaben Unternehmen in einem Steuerdumpingland dochgar nicht nötig. Warum sollten sie Gewinne verlagern,wenn es ihnen hier so gut geht? Das alles hat keinenSinn. Das zeigt, warum wir diesem Antrag nicht folgenkönnen.Ich will noch eine monokausale Ableitung, die derAntrag nahelegt, ansprechen. Es ist richtig: Die Real-löhne in Deutschland sollten steigen. Aber folgendeMaßnahmen sind eine zu einfache Ableitung: Reallöhneerhöhen, Exportüberschuss senken, Leistungsbilanzdefi-zit in Griechenland ausgleichen, Verschuldung in Grie-chenland senken, Wohlstand in Griechenland steigernund mit den Reallöhnen auch den Wohlstand in Deutsch-land steigern. Dies soll nach Ihrer Vorstellung einenWundereffekt bewirken, durch den es Europa plötzlichbesser geht.
– So einfach ist es leider nicht.Dabei wird vergessen, was die anderen Staaten ma-chen. Was machen eigentlich Unternehmen? SaniertGriechenland? Sparen die Deutschen oder investierensie?
– Ihr habt es leider nicht kapiert, sonst hättet ihr euch garnicht getraut, den Antrag vorzulegen.
Man muss darauf hinweisen, dass Griechenland – dasweiß es natürlich selbst am Besten – sehr viel mehr überdie Lösung der eigenen Probleme nachdenken muss, alses bisher der Fall war.Ich will noch einen Satz sagen zur Idee gemeinsamerEuro-Anleihen und der Idee, einen EWF einzurichten.Man muss sich darüber im Klaren sein, dass solche Maß-nahmen – wenn man nur wenig neben dem liegt, wasman machen müsste; Ihrem Antrag kann man allerdingsnicht entnehmen, was genau das sein könnte – auch In-strumente sein können, um Schulden zu verteilen. Daskann auch dazu führen, dass Verantwortung sinkt. Wa-rum gilt das dann nicht auch für andere Länder? Manmuss sich überlegen, was man damit erzeugt. Man min-dert die Eigenverantwortung, und letztendlich werdendie Schulden in allen Ländern steigen. In der Vergangen-heit hat sich gezeigt, dass es so ist.Die Summe der Argumente macht es notwendig, dasswir Ihren Antrag ablehnen müssen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1058 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derFDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, dieFraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie.Ich lasse nun zuerst über den Überweisungsvorschlagder Fraktion Die Linke abstimmen, das heißt Federfüh-rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-schlag ist abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, dasheißt Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen?– Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist ange-nommen. Das heißt, die Federführung liegt beim Finanz-ausschuss.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausRiegert, Holger Haibach, Peter Altmaier, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-wie der Abgeordneten Harald Leibrecht, HelgaDaub, Joachim Günther , weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der FDPHaiti eine langfristige Wiederaufbauperspek-tive geben– Drucksache 17/1157 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha
der SPDZukunft für Haiti – Nachhaltigen Wiederauf-bau unterstützen– Drucksachen 17/885, 17/1214 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtHeike HänselThilo Hoppec) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten HeikeHänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKENachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldungjetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENHaiti entschulden und langfristig beim Wie-deraufbau unterstützen– Drucksachen 17/774, 17/791, 17/1099 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtHeike HänselThilo HoppeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichsehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann könnenwir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Harald Leibrecht für die FDP-Frak-tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Für jedes Land wäre ein Erdbeben in demAusmaß, wie es in Haiti geschehen ist, verheerend. Fürein Land, das zum Zeitpunkt des Erdbebens bereits einsogenannter Failed State, also ein gescheiterter Staat,war und das bereits vor der Katastrophe zu 60 Prozentauf Nahrungsmittelimporte angewiesen war, gilt das na-türlich in ganz besonderem Maße. Es hat die Ärmstender Armen getroffen. Darum müssen wir dem Wieder-aufbau des Landes eine Chance geben.Wir müssen die Menschen und das Land jetzt so un-terstützen, dass ein neuer, moderner und vor allem de-mokratisch fester Staat entstehen kann, ein Staat, der dieMenschenrechte und den Rechtsstaat achtet, der aberauch auf wirtschaftlich festen Beinen steht und seine Zu-kunft wieder selbst in die Hand nehmen kann.
Es ist wichtig, dass sich die vielen Hilfsorganisatio-nen und vor allem die Geber auf der Wiederaufbaukon-ferenz in New York bei ihren Hilfsmaßnahmen eng ab-stimmen, damit der bestmögliche Effekt und somit diegrößtmögliche Hilfe für die Menschen in Haiti erzieltwerden. Deutschland und seine europäischen Partnermüssen auf der Konferenz geschlossen auftreten, und dieEU muss mit einer Stimme sprechen.Meine Damen und Herren, wir debattieren heute dreiAnträge, in denen es um die Frage geht, wie die deutscheHilfe für Haiti aussehen sollte. Die Linken meinen lei-der, das Schicksal Haitis dafür nutzen zu müssen, umeinmal mehr antiamerikanische Ressentiments zu schü-ren und dieses Thema damit unnötigerweise zu ideologi-sieren. Der Antrag der Linken impliziert, dass es sichbeim amerikanischen Engagement um eine BesatzungHaitis handelt. Dabei war es die Regierung von Haitiselbst, die nach dem Beben die USA um Hilfe gebetenhat. Wir Liberale jedenfalls begrüßen das Engagementder USA in Haiti, ohne das die umfangreiche humanitäreHilfe und die Sicherheit im Land nicht so schnell hättengewährleistet werden können.
Ein Land, das schätzungsweise 300 000 Tote zu be-klagen hat, braucht dringend Hilfe und keinen ideologi-schen Streit. Haiti braucht jetzt eine langfristige Wieder-aufbauperspektive. Hilfe für die Betroffenen kommtderzeit nur von außen und kann auch nur von außen lo-gistisch koordiniert werden. Daher begrüßen wir auchdas Engagement der Vereinten Nationen.Im gestrigen Expertengespräch im Ausschuss wurdenvon allen Fachleuten zwei Punkte besonders unterstri-chen: erstens die Notwendigkeit einer langfristigen Un-terstützung für Haiti und zweitens die Zusammenarbeitmit der Regierung bei gleichzeitiger Einbeziehung derZivilgesellschaft. Wenn die Hilfe von außen nicht im In-neren des Staates und in seiner Gesellschaft verankertwird, schaffen wir nur neue Abhängigkeiten und nichtden so dringend benötigen Neuaufbau.Die Bundesregierung hat nach der Katastropheschnell gehandelt und zunächst 17 Millionen Euro fürMaßnahmen der humanitären Hilfe bereitgestellt. Unteranderem setzte die GTZ mit diesem Geld den Bau von1 400 Einfachhäusern für etwa 7 000 Menschen um. Ins-gesamt unterstützt Deutschland die Maßnahmen zur un-mittelbaren Nothilfe und zum Wiederaufbau mit insge-samt 179 Millionen Euro. Das ist sehr viel Geld. Auch dieMenschen hierzulande haben mit ihrer HilfsbereitschaftFantastisches geleistet und annähernd 200 Millionen Eurogespendet. Das ist das höchste Spendenvolumen in ganzEuropa. Hierfür danke ich meinen Landsleuten.
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3194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Harald Leibrecht
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Wichtig ist jetzt, in Haiti kein Vakuum zwischen derhumanitären Soforthilfe, der Nothilfe, dem Wiederauf-bau und der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeitentstehen zu lassen. Einige wichtige Aspekte müssenbeim Wiederaufbau des Landes beachtet werden. Diesemöchte ich hier kurz unterstreichen: Das Wichtigste ist,die Infrastruktur wiederherzustellen. Dazu zählen dieHäfen, die Flughäfen, die Hauptstraßen und die Wasser-versorgung. Außerdem muss die Basis für ein funktio-nierendes Staatswesen gelegt werden. Dazu gehören einegute Regierungsführung, Eigenverantwortung und dieStärkung der Zivilgesellschaft.Zu den wichtigen Aspekten gehört aber auch, Haiti zuentschulden. Deutschland hat es bereits getan. Zusam-men mit den G-7-Staaten muss sich die Bundesregierungbemühen, so schnell wie möglich eine Lösung zum Er-lass der noch ausstehenden Schulden beim Internationa-len Währungsfonds, bei der Weltbank und bei der Inter-amerikanischen Entwicklungsbank zu finden.Ich bin überzeugt, dass wir mit den soeben genanntenSchritten den richtigen Weg einschlagen hin zu einemnachhaltigen Wiederaufbau Haitis, zu einem Haiti, dasin die Weltgemeinschaft zurückfindet, zu einem Land, indem die Menschen wieder Perspektiven haben und vonihrer Not befreit werden. Hierzu können Deutschlandund Europa einen ganz wichtigen Beitrag leisten. DieBundesregierung ist bereit, diesen Beitrag zu leisten, undhat bereits erste Schritte in diese Richtung unternom-men. Dafür möchte ich mich bei dieser Gelegenheit be-danken.
Derzeit hören wir immer wieder von illegalen Adop-tionen in Haiti. Das ist ein sehr dunkles Thema, das ge-rade in schwierigen Zeiten, in Zeiten der Not immer wie-der aktuell wird. Ich möchte an dieser Stelle dieBundesregierung auffordern, in diesem Punkt gemein-sam mit Hilfsorganisationen tätig zu werden und nichtzuzusehen, wie Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld he-rausgerissen werden, was oft auf falsch verstandenen gu-ten Willen und falsch verstandene Hilfsbereitschaft zu-rückzuführen ist. Wenn wir hier eine Milderung odervielleicht sogar den Stopp dieser illegalen Adoptionenerreichen könnten, wäre viel getan.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! In Haiti, einem Land mit einer Bevölkerung von10 Millionen Menschen, gab es 230 000, vielleicht sogar300 000 Tote. Das sind 3 Prozent der Bevölkerung. AufDeutschland umgerechnet wären das 2,4 Millionen Tote.Das ist ein unfassbares Leid und eine Tragödie, die wiruns kaum vorstellen können, und das in einem der ärms-ten Länder der Erde. Deswegen geht in der heutigen De-batte das Mitgefühl aller Fraktionen an die Angehörigender Opfer.
Ich glaube, dass sich die Entwicklungspolitiker allerParteien in diesem Haus einig in der Feststellung sind,dass das eine Tragödie ist. Normalerweise eignet sich einsolches Unglück auch nicht für eine parteipolitischeAuseinandersetzung. Aber der Bundestag ist kein Kir-chentag, und es reicht auch nicht aus, wenn wir uns indiesem Hohen Hause gegenseitig unserer Betroffenheitversichern – wir müssen handeln.Ich habe persönlich lange gezögert mit Kritik an derBundesregierung, weil ich mir gewünscht hätte, dass ichals Oppositionspolitiker gemeinsam mit den Politikernder anderen Parteien ein Lob hätte aussprechen können,wie es Politiker aller Parteien gemacht haben in einervergleichbaren Situation: als 2004 bei dem Tsunami inSüdostasien 220 000 Menschen ums Leben gekommenwaren. Da hat die rot-grüne Bundesregierung 500 Mil-liarden Euro zugesagt.
– 500 Millionen Euro.Nach dem Erdbeben auf Haiti waren es zunächst7 Millionen Euro, dann 9 Millionen Euro, dann 17 Mil-lionen Euro. Das sind lediglich 3,4 Prozent des Geldes,das damals bei einer vergleichbaren Katastrophe zuge-sagt wurde. Auch wenn zu den genannten 17 MillionenEuro noch deutsche Anteile aus multilateralen Beiträgenwie der EU-Soforthilfe kommen, ist das angesichts desAusmaßes der Katastrophe viel zu wenig. Bei der Anhö-rung im Ausschuss, die am Mittwoch stattfand, habendie Vertreter der zivilen Hilfsorganisationen dies kriti-siert und gesagt, dass die Bundesregierung auf diesenBeitrag nicht stolz sein kann.
Stolz sein können wir hingegen auf unsere Bürgerin-nen und Bürger, auf die Kinder, auf die Schülerinnenund Schüler, die insgesamt 200 Millionen Euro gespen-det haben. Dieses Geld haben die Menschen von ihremzum Teil kleinen Einkommen abgezwackt. Darauf kön-nen wir stolz sein, meine sehr verehrten Damen und Her-ren.
Wenn man das vergleicht, sieht man, wie gering dasEngagement der Bundesregierung ist. Darauf könnenwir leider – ich sage wirklich: leider – nicht stolz sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3195
Dr. Sascha Raabe
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Die SPD-Bundestagsfraktion hat bei den Haushalts-beratungen einen Sonderfonds für den WiederaufbauHaitis beantragt mit Barmitteln in Höhe von 150 Millio-nen Euro und Verpflichtungsermächtigungen in Höhevon 130 Millionen Euro. Leider wurde dieser Sonder-fonds von der Regierungskoalition, von CDU/CSU undFDP, abgelehnt.Nachdem wir diesen Antrag gestellt hatten, hat Ent-wicklungsminister Niebel selbst erkannt, dass die bisherzur Verfügung gestellten Mittel nicht ausreichen. Er hatin einem Brief an die Haushälter der Fraktionen um dieEinrichtung eines Sonderfonds, wie wir ihn gefordert ha-ben, gebeten, wenngleich nur ausgestattet mit Barmittelnin Höhe von 25 Millionen Euro und Verpflichtungser-mächtigungen in Höhe von 91 Millionen Euro – aber im-merhin. Ich zitiere aus dem Brief von Minister DirkNiebel:Mit möglicherweise bis zu 300 000 Toten,250 000 Verletzten und rd. 1,2 Mio. Obdachlosenhaben die Folgen dieses Erdbebens das Ausmaß derTsunamikatastrophe des Jahres 2004 erreicht.Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit undHilfsbereitschaft werden an unserer Reaktion aufdieses Unglück gemessen werden.Weiter heißt es:Um sich angemessen an der internationalen Hilfe fürHaiti beteiligen zu können, ist die Ausbringung zu-sätzlicher Verpflichtungsermächtigungen in Höhevon 91 Mio. € sowie die Erhöhung der Baransätzeum 24 Mio. € erforderlich.Minister Niebel schließt mit den Worten:Um die notwendige Flexibilität im Rahmen desnoch laufenden Abstimmungsprozesses in der EUund im sonstigen internationalen Geberkreis zu si-chern und entsprechend der sehr guten Erfahrungenmit dem „Tsunami-Titel“ empfiehlt sich die Schaf-fung eines eigenen „Haiti-Wiederaufbautitels“.Richtig, Herr Minister.Doch was ist mit Ihrem Antrag passiert? Die Kolle-gen von FDP und CDU/CSU haben ihn abgelehnt. Siesind mit Ihrem guten Vorhaben kläglich gescheitert. Ichsage an die Kollegen von CDU/CSU und FDP gerichtet:Damit haben Sie nicht nur Ihrem Minister einen Bären-dienst erwiesen, da haben Sie auch den Ärmsten der Ar-men in Haiti einen Bärendienst erwiesen. Das war falschund schändlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Ich frage mich auch: Wo war die Kanzlerin? Immerwieder hat sie sich bei Fernseh-Spendengalas für Haitifeiern lassen, schon immer hat sie auf Kirchentagen oderbei anderen Anlässen betont, wie wichtig ihr die Ärms-ten der Armen seien. Aber wenn es darauf ankommt, zuhandeln, dann taucht sie ab.Selbst wenn die Bundesregierung auf der internatio-nalen Geberkonferenz Ende des Monats neue Zusagenfür den internationalen Hilfsfonds für Haiti geben sollte,wären diese nicht mehr zusätzlich – das hätten wir nur imRahmen der Haushaltsberatungen erreichen können –,sondern gingen zulasten der Zusagen gegenüber anderenStaaten, zum Beispiel afrikanischen Staaten. Wir dürfendie Ärmsten der Armen nicht gegeneinander ausspielen,meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Jeden Tag sterben 24 000 Menschen, vor allem Kin-der, an den Folgen von Hunger und Armut. Das ist allezehn Tage ein stiller Tsunami oder ein Erdbeben vomAusmaß des Erdbebens auf Haiti.Um diesen Menschen ein selbstbestimmtes Lebenohne Hunger und Armut zu ermöglichen, müssen wirinsgesamt mehr Mittel und Hilfe geben. Die Kanzlerinhatte sich ja auch dazu verpflichtet, 0,51 Prozent desBruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammen-arbeit zur Verfügung zu stellen. Ich mache gerne einenWerbeblock für die Regierung in dem Sinne, dass ichaus einer Rede der Kanzlerin zitiere. In der Regierungs-erklärung 2005 sagte die Kanzlerin:Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis2010 mindestens 0,51 Prozent … des Brutto-inlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungs-zusammenarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich dasage.Das hat sie damals gesagt. Offensichtlich wusste sienicht, was sie sagt; denn sie hat ihr Versprechen bei dendiesjährigen Haushaltsberatungen eiskalt gebrochen.Wir werden mit 0,4 Prozent weit unter dem Ziel liegen.Die Steigerungen sind geringer, nämlich nur ein Vierteldessen, was in den Jahren zuvor unter unserer Ministerinzur Verfügung gestellt worden ist, und das in einem Jahr,in dem die ärmsten Länder besonders hart von der Wirt-schafts- und Finanzkrise getroffen sind. Selbst das un-fassbare Unglück in Haiti hat die Kanzlerin nicht zurEinhaltung ihres Versprechens bewegen können. Wasmuss denn noch passieren?Dazu, dass man so kaltblütig ein Versprechen bricht,sage ich: Ich bin enttäuscht von Frau Merkel. Gemessenan der Zahl der ärmsten Menschen, denen sie das Ver-sprechen gegeben hat, nämlich 1 Milliarde hungernderMenschen, ist das für mich persönlich der größte Wort-bruch einer Kanzlerin, den es je gegeben hat.
Herr Fischer, es hat konkrete Auswirkungen, dassdiese Mittel fehlen. Das gilt nicht nur bezogen auf dieNothilfe, sondern auch bezogen auf die Zukunft Haitis;denn wir reden hier nicht nur von irgendwelchen Zahlen.Vielmehr hat uns im Ausschuss auch der Vertreter derKfW-Entwicklungsbank gesagt, dass aufgrund der Tatsa-che, dass die Regierung nur so klägliche Mittel zur Ver-fügung stellt – zum Beispiel für die Zukunft Haitis –,Aufforstungsprogramme, die man geplant hat, jetzt ge-
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3196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Dr. Sascha Raabe
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stoppt wurden, weil man das Geld für die Nothilfe ge-braucht hat.
Herr Kollege.
Wer sich Haiti von oben angeguckt hat, der wird fest-
gestellt haben, dass in Haiti alles abgeforstet ist. Nur
noch 1 Prozent des Landes ist Wald, während in der Do-
minikanischen Republik noch viele Wälder sind. Dort ist
quasi fast eine Mondlandschaft. Deswegen wäre es ganz
wichtig, dass wir den Menschen vor Ort auch mit deut-
schen Hilfsmitteln – zum Beispiel mit „Cash for Work“ –
die Möglichkeit geben, dort Aufforstung zu betreiben.
Dann würden sie – bei 80 Prozent Arbeitslosigkeit in
diesem Land – auch ein Einkommen haben, und wir
würden einen Beitrag für die Zukunft leisten.
Deswegen sage ich: Wir müssen hier endlich mehr
tun; wir müssen vorangehen.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr
Günther möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Kollege Raabe, Sie hinterlassen hier den Ein-
druck, Deutschland stelle zu wenig Mittel zur Verfü-
gung.
Ich muss Sie fragen: Waren Sie nicht in der Aus-
schusssitzung dabei, in der alle Fachexperten erklärt ha-
ben, dass, international gesehen, genügend Mittel für
Haiti zur Verfügung stehen, dass es dort eine korrupte
Regierung gibt, dass deshalb versucht werden sollte,
diese Mittel effektiv einzusetzen, und dass in dieser
Phase mit Sicherheit dann auch von Deutschland die
Chance wahrgenommen wird, wenn es notwendig ist,
weitere Mittel bereitzustellen?
Etwas anderes stand nie zur Debatte, und ich glaube,
dass die Mittel, die Deutschland zur Verfügung gestellt
hat, in der jetzigen Situation völlig ausreichend sind.
Herr Kollege, es tut mir leid, dass ich Ihnen sagen
muss – Sie sind ja von der FDP –, dass Ihr Minister Ih-
nen da weit voraus ist. Ihr Minister hat das genauso wie
wir erkannt. Es geht nicht in erster Linie um die Mittel
der Nothilfe. Es geht darum, dass wir für den langfristi-
gen Wiederaufbau Mittel brauchen. Deswegen haben wir
damals nach dem Tsunami ja auch nicht gesagt, dass wir
500 Millionen Euro in zwei Monaten irgendwo „verbra-
ten“ wollen, sondern wir haben damals gesagt: Wir brau-
chen nach so einer Katastrophe mehrere Jahre, um die
Region wieder aufzubauen.
Deswegen haben wir als SPD-Fraktion gesagt – da-
rum geht es mir mit Blick auf die Mittel, die fehlen –,
dass wir für die nächsten Jahre einen ähnlich hohen Be-
trag zur Verfügung stellen müssen. Das hat ja sogar auch
Ihr Minister erkannt. Jetzt widersprechen Sie ihm; Sie
fallen ihm in den Rücken. Er hat ja selbst gesagt: Es ist
zu wenig Geld für die nächsten Jahre zugesagt worden.
Herr Kollege, wir müssen doch jetzt die Weichen für
die Zukunft stellen, und wir müssen gerade jetzt dafür
sorgen, dass zum Beispiel wieder Bäume gepflanzt wer-
den, weil wir so etwas gegen die Erosion tun können,
weil Häuser ansonsten wegrutschen und weil auch die
Auswirkungen eines Sturmes anderenfalls viel größer
sind.
Deswegen brauchen wir jetzt auch für die gute Regie-
rungsführung, die Sie angesprochen haben, Mittel, damit
man einen Rechtsstaat aufbauen kann, damit Flächen in
ein Kataster aufgenommen werden können, damit es
Landtitel gibt und damit wir auch die Zivilgesellschaft
und die Kommunen dort mit Dezentralisierungsprojek-
ten einbinden können. Dafür brauchen wir einen lang-
fristigen Plan und langfristige Mittel. Darum geht es mir
hier.
Auch Ihr Minister sagt: Da hat die Bundesregierung
zu wenig getan. – Hier stimme ich ihm ausnahmsweise
zu. Das heißt aber nicht, dass sich die Regierung aus der
Verantwortung dafür stehlen kann, dass sie hier bisher so
kläglich versagt hat.
Herr Kollege Raabe, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, dieses Mal vom Kollegen Fischer?
Gerne.
Herr Kollege Raabe, Sie haben darauf hingewiesen,
wie sich die entwicklungspolitische Situation in Haiti
bereits vor dem Erdbeben dargestellt hat und dass bereits
zu diesem Zeitpunkt zu wenig getan worden ist. Können
Sie mir erklären, warum Sie in der Großen Koalition
nicht den Antrag gestellt haben, Haiti in die Länderliste
des BMZ aufzunehmen, damit dort ganz spezielle Pro-
gramme aufgelegt werden können?
Herr Fischer, das erkläre ich Ihnen gerne. Ich möchteSie auch daran erinnern,
dass es Ihre Fraktion war, die bei der Aushandlung desKoalitionsvertrags darauf gedrungen hat, die Liste derPartnerländer stark zu verkleinern und in diesem Zusam-menhang immer darauf zu achten, dass eine gute Regie-rungsführung gegeben ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3197
Dr. Sascha Raabe
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Im Fall Haiti war der Staat in den Jahren vor demErdbeben leider unstrittig fragil; es gab kaum funktionie-rende Verwaltungsstrukturen. Wir hatten auch keine An-sprechpartner, um eine normale staatliche Entwicklungs-zusammenarbeit durchzuführen. Deswegen haben wiruns dort über die zivilen Organisationen und im Rahmenunserer multilateralen Beteiligung weiter engagiert.Aber wir haben immer gesagt: Wenn eine Regierung ge-bildet wird, der wir vertrauen können,
bei der wir das Gefühl haben, dass sie die Mittel für dieMenschen einsetzt, dann werden wir die entsprechendenMittel auch zur Verfügung stellen.Herr Kollege Fischer, Sie sind ja auch ein langjähri-ger Experte, Sie erinnern sich sicherlich: Nach dem Tsu-nami gab es in Indonesien zum Beispiel in der RegionBanda Aceh große Konflikte zwischen verschiedenenBevölkerungsgruppen. Diese Katastrophe damals hataber auch die Chance eröffnet, die Konfliktparteien wie-der ein Stück weit zu versöhnen. Zumindest in dieserRegion wurde ein positiver Versöhnungsprozess einge-leitet. Ich wünsche mir, dass wir es gemeinsam schaffen,Herr Kollege, die Regierung in Haiti vor dem Hinter-grund der Katastrophe zu der Einsicht zu bewegen, dasssie mehr für die Menschen tun muss. Ich wünsche mir,dass wir es schaffen, eine Zivilgesellschaft mit einer Op-position aufzubauen, sodass nach freien Wahlen einebessere Regierungsführung möglich ist.Deswegen widerspreche ich ausdrücklich der Aus-sage des Entwicklungsministers, der in seinem Briefschreibt, Haiti solle kein Partnerland mehr werden. Wirwollen, dass die Liste unserer Partnerländer alle zwei bisdrei Jahre überprüft wird. Da wir uns nach der Katastro-phe in Haiti dort mindestens vier bis fünf Jahre engagie-ren müssen, Herr Kollege Fischer, müssen wir Haitiauch wieder als Partnerland aufnehmen. Wir müssen da-für sorgen, dass dort in Zukunft demokratische Struktu-ren vorherrschen.
Zu der alten Regierung, Herr Fischer, muss man sa-gen: Der Präsident ist nach dem Erdbeben erst einmal fürzwei bis drei Monate abgetaucht.
Einer solchen Regierung sollten wir als Partnerlandkeine staatlichen Mittel zur Verfügung stellen. Deswe-gen müssen wir jetzt gemeinsam versuchen, die Ziele zuerreichen. Denn wir wollen ja nicht einer Regierung hel-fen, sondern den Menschen. Deswegen glaube ich, HerrKollege, dass wir Haiti in Zukunft wieder als Partner-land in die Liste aufnehmen sollten – allerdings nur unterder Bedingung, dass dort faire und demokratische Ver-hältnisse vorherrschen und unsere Mittel auch bei denÄrmsten der Armen ankommen.
In diesem Sinne legt unser Antrag sehr viel Wert aufDezentralisierung, Demokratisierung und den Aufbaurechtsstaatlicher Strukturen. Wir fordern ganz ausdrück-lich, dass die Zivilgesellschaft an der Verteilung der Mit-tel, die der Internationale Währungsfonds verwaltenwird, beteiligt wird. Nicht nur die haitianische Regie-rung und die Geberländer sollen beteiligt werden, son-dern die Zivilgesellschaft sollte diese Mittel mitverwal-ten und in einem Beirat oder anderen Gremiummitbestimmen können, wohin die Mittel fließen. Das istein sehr wichtiger Punkt unseres Antrags.Wir fordern eine langfristige Perspektive. Dazu ge-hört es übrigens auch, die Landwirtschaft in Haiti zu för-dern, sodass die Menschen von ihren eigenen Agrarpro-dukten leben können. Wie war denn die Situation inHaiti? – Vor noch ungefähr 20 Jahren hat sich Haiti mitLebensmitteln vollständig selbst versorgt. Dann kamenhochsubventionierte Importe aus den USA, und derReisanbau und die Hühnerzucht sind zusammengebro-chen. Es kam zu Abrodungen, sodass die landwirtschaft-lichen Flächen schlechter geworden sind.
Diese beiden Faktoren haben dazu geführt, dass Haitizurzeit von Lebensmittelimporten abhängig ist, obwohles von den klimatischen Verhältnissen her durchausmöglich wäre, alle Menschen mit dort angebauten Le-bensmitteln zu versorgen.Deswegen sage ich – auch an die Bundesregierunggerichtet –: Wir brauchen eine kohärente Entwicklungs-politik. Das bedeutet, dass mit den Agrarexportsubven-tionen und den internen handelsverzerrenden Unterstüt-zungen Schluss sein muss. Wenn ich daran denke, dassdie Landwirtschaftsministerin Aigner im letzten JahrAgrarexportsubventionen bei Milchpulver zugestimmthat
und wir die gleichen Fehler, die in Haiti gemacht wur-den, in anderen Ländern dieser Welt wiederholen, mussich sagen: Es muss Schluss sein mit Agrarexportdum-ping. Wir brauchen endlich faire Handelsbedingungenfür Haiti und alle Entwicklungsländer.
Ich möchte abschließend festhalten, dass wir aus mei-ner Sicht zum einen eine schlechte Regierungsführung inHaiti genauso wie in Afrika nicht zum Vorwand nehmendürfen, keine Mittel zu vergeben, zum anderen aber auch– das sage ich mit Blick auf die Anträge der anderen Par-teien – Anreize setzen müssen, dass dort Demokratieund Rechtsstaatlichkeit Einzug halten.Ich glaube, wir haben einen umfassenden Antrag vor-gelegt, der sehr stark auf Demokratisierung und Dezen-tralisierung, aber auch auf einen langfristigen Wieder-aufbau setzt, damit künftig Katastrophen wie in Haiti
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Dr. Sascha Raabe
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kein so schlimmes Ausmaß mehr annehmen können. Wirwerden Erdbeben nicht verhindern können, aber dass inChile ein vergleichbar starkes Erdbeben ein paar Hun-dert Todesopfer gefordert hat, während es in Haiti zu300 000 Toten geführt hat, zeigt, dass ein Großteil derKatastrophe von Menschen gemacht ist. Wir alle in die-sem Hause sollten ein gemeinsames Interesse daran ha-ben, dass das in Zukunft verhindert wird. Ich lade Siealle dazu ein, dass wir gemeinsam daran mitwirken, dieZukunft Haitis in eine gute Richtung zu lenken.Vielen Dank.
Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion ist nun der
nächste Redner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haitiwurde einmal die „Perle der Karibik“ genannt. Im18. Jahrhundert hat Haiti 60 Prozent des Kaffees und40 Prozent des Zuckers für Europa angebaut und gelie-fert. Allerdings haben einige wenige Weiße die Schwar-zen versklavt. Die Lebenserwartung der versklavten Be-völkerung betrug im Durchschnitt etwa 21 Jahre.Zwischen 1825 und 1947 wurden Haiti von der Kolo-nialmacht Frankreich Entschädigungszahlungen im Wertvon umgerechnet 22 Milliarden Dollar aufgezwungen.Zwischen 1957 und 1986 haben die Duvaliers, bekanntals „Papa Doc“ und „Baby Doc“, ihr Unwesen getriebenund das Land geknechtet und unterdrückt. Danach ka-men Wirren, Putsche, blutige Unruhen, das militärischeEingreifen der USA und regelmäßig Naturkatastrophenwie Wirbelstürme und Überschwemmungen hinzu.Dieses Land wurde im Januar von einem schrecklichenErdbeben mit bis zu 300 000 Toten heimgesucht – die ge-naue Zahl der Toten konnte nicht festgestellt werden –,mit über 310 000 Verletzten und 1 Million Obdachlosen.Wir stehen in der Tat in dem Zielkonflikt, dass es inHaiti auf der einen Seite nur eine schwache bis gar nichtvorhandene Regierung und keine Zivilgesellschaft in un-serem Sinne gibt, aber auf der anderen Seite die Geber-gemeinschaft nicht gegen die Interessen der Menschenhandeln soll. Damit haben wir ein riesengroßes Problem,das man sicherlich nur behutsam angehen kann. Dasbraucht seine Zeit.Der Wiederaufbauplan, der erstellt worden ist, bezif-fert die Kosten in den nächsten drei Jahren mit 8,3 Mil-liarden Euro. Ich zitiere aus der Zeit vom 21. Januar:Staatsaufbau heißt nicht, einem schwer traumati-sierten Land innerhalb kurzer Zeit ein Mehrpartei-ensystem samt parlamentarischer Geschäftsord-nung hinzustellen. Staatsaufbau bedeutet, Straßenund Krankenhäuser zu bauen, Polizisten und Rich-ter auszubilden. Also ein Minimum an Sicherheitzu schaffen, damit eine Bevölkerung von 10 Millio-nen Überlebenskünstlern, Haitis einzige Ressource,sich möglichst schnell selbst helfen kann.
So weit das Zitat aus der Zeit.Die Bundesregierung hat mit 17 Millionen Euro fürhumanitäre Soforthilfe schnell geholfen. Ich bin schonetwas enttäuscht, lieber Kollege Raabe, dass Sie die mit-tel- und langfristigen EU-Zusagen in Höhe von 84 Mil-lionen Euro, die wir gegeben haben, nicht erwähnt ha-ben,
sondern mit Blick auf die 17 Millionen Euro so getan ha-ben, als hätten wir nichts gegeben. Wir sind auch für dieprivate Hilfe in Höhe von fast 200 Millionen Euro dank-bar. Das wurde schon erwähnt; für dieses Engagementkann man unseren Bürgern nur herzlich danken.
Ebenso vorbildlich haben wir die Entschuldung vo-rangetrieben. Bilateral hat Deutschland die Schulden er-lassen. Wir fordern die anderen Länder auf, es unsgleichzutun, und wir sind der Meinung, dass der Interna-tionale Währungsfonds, die Interamerikanische Ent-wicklungsbank und die Weltbank ebenfalls über entspre-chende Schuldenerlasse nachdenken sollten.Wie sieht jetzt die Zukunftsperspektive aus? Ichdenke, mit „build back better“ ist gut beschrieben, wievorher der Zustand war und vor welcher riesigen Auf-gabe wir hier stehen. Dies bedeutet zum einen eine Ko-ordinierung der Hilfen. Deswegen setzen wir auf dieWiederaufbaukonferenz am 31. März in New York. Wirwollen, dass verlässliche Strukturen geschaffen werden.Auf der anderen Seite muss der Demokratisierungspro-zess mit den Menschen und der dortigen Regierung vo-rangebracht werden. An dieser Stelle war Ihre Redereichlich naiv, lieber Kollege Raabe, weil es im Hinblickauf ein Land, das bisher Unterdrückung und Diktatur er-lebt hat, naiv ist, zu glauben, aus den Trümmern entsteheplötzlich eine demokratische Kultur. Auch da werdenwir langen Atem brauchen.
– Das Ziel habe ich gerade so formuliert; da sind wir unsdann wieder einig.Initiativen wie „Cash for Work“, Mikrokreditpro-gramme und Investitionen, auch private, brauchen wir inHaiti. Außerdem sollten wir schon klar sagen, dass wirdie Chancen ergreifen müssen, und zwar vom Tourismusbis zum UNO-Sonderbeauftragten Bill Clinton. Es gibt,glaube ich, keine professionelleren Spendensammler alsehemalige amerikanische Präsidenten. Da sollten wir dieChancen ergreifen.
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Klaus Riegert
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Den Dank an die UNO hat der Kollege Leibrechtschon ausgesprochen. Die UNO-Hilfsmission wurde beidem Erdbeben stark betroffen und hat deswegen einigeTage gebraucht, um die Lage in den Griff zu bekommen.Deshalb gilt der UNO erst recht der Dank für die Hilfe,die dort geleistet wird.Ich zitiere noch einmal die Zeit vom 28. Januar:Haiti könnte als positives Beispiel für Staatsaufbauin die Geschichte eingehen, wenn die Lehren ausvergangenen Fehlern beherzigt werden. Zu denwichtigsten gehören: Kurzfristige Nothilfe undlangfristiger Wiederaufbau müssen gemeinsam ge-plant werden. Und: Nichts geht ohne die Bevölke-rung …Wenn die Zusammenarbeit zwischen Geberländern,Hilfsorganisationen, Staat und Zivilgesellschaftnicht funktioniert, dann zementiert internationaleHilfe ebenjene soziale Ungleichheit, die schon vorder Naturkatastrophe herrschte.Viel Spielraum für Irrtümer bleibt nicht – auchnicht bei der Nothilfe. Im Mai beginnt die Hurri-kan-Saison.So weit die Zeit.Deshalb sind wir froh, dass es einen Wiederaufbau-plan gibt, den 150 haitianische Regierungsbeamte und90 internationale Experten gemeinsam entworfen haben.Er stellt eine gute Arbeitsgrundlage dar.So grundlegend wie jetzt in Haiti ist ein Staatsaufbaunoch nie versucht worden. Aber er kann gelingen, wenndie internationale Gemeinschaft genügend langen Atembeweist. Hierzu wollen wir die Bundesregierung mit un-serem Antrag ermuntern.Lieber Sascha Raabe, wenn das keine parteipolitischeRede war, die Sie gerade gehalten haben, dann bin ichgespannt, wie es sein wird, wenn Sie hier einmal eineparteipolitische Rede halten.
– Ja, Sie sind nicht in der Kirche; aber wir haben vierAnträge vorliegen. Ich habe im Ausschuss schon gesagt,dass ich es nicht verstehe, dass es uns bei den geringfü-gigen Unterschieden, um die es da geht – sie machensich nur an einem Sondertitel fest; ansonsten muss mandie Unterschiede ja krampfhaft suchen –,
nicht gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag vorzule-gen, zumal wir auf der einen Seite in der letzten Wochebeim Haushalt über 80 Milliarden Euro Neuverschul-dung diskutiert haben – das haben Sie in der General-debatte kritisiert und trotzdem für jeden Einzelhaushaltneue Mittel gefordert – und auf der anderen Seite am31. März die Wiederaufbaukonferenz haben werden. Dawird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass dieEU mit einer Stimme spricht. Wir werden im Rahmender internationalen Gemeinschaft unseren Beitrag leistenund die auf uns entfallenden Mittel zusätzlich zu den bisjetzt zugesagten Mitteln bereitstellen.Ich verstehe nicht, dass wir uns bei einer solch wichti-gen Sache immer wieder auseinandersetzen, obwohl wirgemeinsam der Meinung sind, dass man bei einem ge-beutelten Land wie Haiti einen langen Atem haben mussund man die Menschen dort nicht vergessen darf, wenndas Fernsehen, die Medien nach vier Wochen nicht mehrhinschauen. Sie können das aber noch heute heilen, in-dem Sie unserem guten Antrag zustimmen. Dazu darfich Sie herzlich auffordern.In diesem Sinne danke ich.
Für die Fraktion Die Linke hat Heike Hänsel das
Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Bei dem schweren Erdbeben in Haiti am 12. Januar sindwahrscheinlich bis zu 300 000 Menschen ums Leben ge-kommen; meine Vorredner haben das erwähnt. Das isteine unvorstellbare Zahl; damit ist unvorstellbares Leidverbunden. Mehr als 350 000 Menschen wurden zumTeil schwer verletzt. Große Teile der Infrastruktur desKaribik-Staats wurden durch die Erdstöße zerstört.Mittlerweile sind die meisten Journalisten wieder wegund die Kameras abgeschaltet, doch in Haiti beginnt einneuer Albtraum: die Regenzeit. Ganze Landstriche ha-ben sich bereits in Teiche verwandelt, andere Regionensind mit aufgeweichter Erde überzogen, Erdrutsche dro-hen. Auch ohne Kameras und Berichterstattung stehtfest: Die Menschen in Haiti brauchen noch für lange Zeitunsere Solidarität.
Herr Kollege Riegert, hier unterscheiden sich unsere An-träge: Wir fordern mehr Geld für Haiti und einen Son-dertitel, um eine langfristige Hilfe zu gewähren. Dassteht in Ihrem Antrag eben nicht.
Experten schätzen die Schäden auf bis zu 14 Milliar-den Dollar. Die Bundesregierung hat bisher die Bereit-stellung von 17 Millionen Euro für Haiti beschlossen.Zudem gibt es im gerade verabschiedeten Haushalt kei-nen Sondertitel, um eine mittel- und langfristige Hilfefür Haiti zu gewährleisten. Herr Niebel, ich muss es wie-
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Heike Hänsel
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derholen: Das ist ein Armutszeugnis für diese Regie-rung.
Geld gäbe es genug; die Linke hat viele Vorschläge fürmögliche Einsparungen gemacht. Allein der Afghanis-tan-Einsatz der Bundeswehr kostet mittlerweile mehr als1 Milliarde Euro pro Jahr. Damit könnte man in Haitimehr als 2 000 Schulen und 250 000 Lehrer und Lehre-rinnen finanzieren. Am kommenden Mittwoch findet inNew York eine internationale Geberkonferenz für Haitistatt. Herr Niebel, ich frage mich natürlich, welche kon-krete, langfristige Hilfe Sie dort eigentlich im Namender Bundesregierung anbieten wollen. Ich sehe nichtsdavon.Für die Fraktion Die Linke ist auch entscheidend – dashaben wir in unserem Antrag formuliert –, dass der Auf-bau Haitis in den Händen der haitianischen Regierungund der haitianischen Zivilgesellschaft liegt.
Es gibt dort viele demokratische Initiativen, selbstorga-nisierte Basisgruppen, Frauengruppen und Nachbar-schaftshilfe, über die hier nicht berichtet wird, die abermaßgeblich zur stabilen Sicherheitslage in Haiti beitra-gen. Ein Protektorat Haiti, wie es sich manche vorstel-len, lehnen wir ab.
Wir setzen uns auch für die Stärkung der Süd-Süd-Kooperation ein. Es gibt nämlich bereits eine langjäh-rige, vorbildliche Entwicklungszusammenarbeit vielerlateinamerikanischer Staaten. Ich nenne als BeispielKuba: Mehr als 400 kubanische Ärzte und Ärztinnen ar-beiten seit Jahren vor allem in ländlichen RegionenHaitis; jetzt sind über 200 Ärzte hinzugekommen. –Diese Erfahrungen und die bereits bestehende Infra-struktur wären gute Voraussetzungen für eine trilateraleZusammenarbeit zwischen Kuba, Haiti und Deutschlandoder auch der EU. Folgen Sie deshalb, Herr Niebel, demBeispiel der norwegischen Regierung, die ein solchesAbkommen mit Kuba nach dem Erdbeben unterzeichnethat.
Während das Geld für den zivilen Aufbau bei weitemnicht ausreicht, wird allerdings sehr viel Geld für diePräsenz von Militär in dem kleinen Land ausgegeben.Die US-Regierung hatte mehr als 20 000 Soldaten statio-niert. Jetzt werden einige abgezogen; aber nach wie vorplant die US-Regierung, langfristig ein Kontingent vonmehreren Tausend Soldaten in Haiti zu halten. Auch dieUN-Mission MINUSTAH wurde auf jetzt über 9 000 Sol-daten aufgestockt. Sie kostet über 400 Millionen Euroim Jahr. Wir lehnen diese Militarisierung von Aufbau-hilfe ab, die in unseren Augen einer neuen BesatzungHaitis gleichkommt. Wir fordern den Abzug aller Trup-pen und eine rein zivile Aufbaumission.
Das fordern auch über 100 Organisationen weltweit, un-ter anderem La Via Campesina, oder der argentinischeFriedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel; sie allewenden sich gegen die Militarisierung der Aufbauhilfe.Für uns ist ganz klar die Armut das Hauptproblem Haitisund nicht die Sicherheit. Deshalb braucht Haiti nichtmehr Soldaten, sondern mehr Ärztinnen und Ärzte undmehr Lehrerinnen und Lehrer.
Die kanadische Globalisierungskritikerin NaomiKlein bringt es auf den Punkt: Haiti ist eigentlich keinSchuldnerland, sondern ein Gläubigerland. Wir müssenhier endlich einmal über Wiedergutmachung für Haitisprechen, Wiedergutmachung für die verheerenden Fol-gen von Sklaverei, US-Besatzung, von außen unterstütz-ter blutiger Diktatur, von aufgezwungenem Freihandel,Schuldendienst und jetzt des Klimawandels. – Haiti ge-hört zu den am meisten vom Klimawandel betroffenenLändern, obwohl es ihn nicht verursacht hat. Neue ver-heerende Hurrikans werden in diesem Jahr erwartet. Da-für sind wir in den Industriestaaten verantwortlich, unddeshalb hat Haiti einen Anspruch auf unsere Unterstüt-zung.
Das ist keine Frage von Goodwill.
Frau Kollegin!
Vielmehr besteht ein Anspruch auf diese Unterstüt-
zung. Dafür setzen wir uns ein.
Der Kollege Thilo Hoppe hat das Wort für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Viele haben, als sie die Nachricht gehört haben, dassHaiti von einem verheerenden Erdbeben erschüttert wor-den ist, gestöhnt und gefragt: Warum wieder Haiti, aus-gerechnet Haiti, ein Land, das vom Schicksal schwer ge-prüft ist? Klaus Riegert und Heike Hänsel haben schoneiniges zur Geschichte Haitis gesagt.Ich stelle fest: In dieser Debatte gibt es einerseits sehrviele Gemeinsamkeiten. Wir alle sind tief betroffen vondem schrecklichen Leid, das den Menschen in Haitiwiderfahren ist. Wir haben in vielen Reden gehört, wieschlimm die Verhältnisse sind und wie groß die Heraus-forderung ist. In der Tat könnte man fragen: Können wiruns nicht auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifen-den Antrag einigen?Aber leider gibt es bei all den Gemeinsamkeiten dochauch Unterschiede, die nicht so klein sind.
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Thilo Hoppe
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Der Streit fängt meistens dann an, wenn es ums Geldgeht. Viele Experten haben gestern in der Anhörung ge-sagt, dass es bei solchen Katastrophen oft Wellenbewe-gungen gibt. Wenn die Fernsehbilder, schreckliche,furchtbare Bilder, um die Welt gehen, dann ist die Spen-denbereitschaft groß. Alle möglichen Hilfsorganisatio-nen und Hilfswerke werden mobilisiert. Manchmalschwappt sogar so viel Geld ins Land, dass es gar nichtsofort sinnvoll eingesetzt werden kann. Aber wenn dieScheinwerfer wieder ausgeschaltet sind, geht die Hilfs-bereitschaft massiv zurück. Diese Wellenbewegungensind – das haben uns viele Experten gesagt – sehrschlecht für eine nachhaltige Entwicklung, für den Auf-bau von Institutionen und Strukturen, die auch über dieKrisenzeit hinaus tragfähig sind.Gerade aus diesem Grund ist es so wichtig, langfris-tig, mit sehr langem Atem, zu helfen und einen Sonder-titel einzustellen, wie ihn die drei Oppositionsfraktionengefordert haben. Auch der Entwicklungsminister hatdies gefordert – einige Redner haben es schon gesagt –,ebenso, wie ich glaube, die meisten Kollegen aus demEntwicklungsausschuss. Dennoch ist der Sondertitel lei-der nicht durchgekommen. Er ist an den Haushältern vonCDU/CSU und FDP gescheitert. Da besteht die größteDifferenz. Ich glaube, im Entwicklungsausschuss hättenwir größere Chancen, zu einem gemeinsamen Antrag zukommen.Ich denke, einiges kann aber noch geheilt werden.Wir wünschen uns sehr, dass die Bundesregierung dieKnauserei endlich ablegt, ermutigt durch die Debatte zuder Wiederaufbaukonferenz nach New York fährt, dortdeutlich mehr Geld in die Hand nimmt und sich dabeiwirklich eher an dem orientiert, was Deutschland nachder Tsunami-Katastrophe geleistet hat. Eines ist nämlichschon klar: Die Zahl der Opfer ist höher als damals, undauch die Schäden sind größer; sie übersteigen bei wei-tem das, was die verheerende Tsunami-Katastrophe an-gerichtet hat. Also muss die Antwort entsprechend sein.Ich hoffe, dass es einen gemeinsamen Appell an dieBundesregierung gibt, dort wirklich mehr zu leisten undambitionierter aufzutreten.
Vielleicht kann sogar noch im nächsten Haushalt einSondertitel eingerichtet werden.Bei der Aufbauhilfe – das Wort „Wiederaufbau“ passteigentlich nicht, weil man zu einem neuen Status kom-men muss; man soll nicht den Status wiederherstellen,den es vor dem Erdbeben gegeben hat – sind drei As-pekte wichtig, die hier auch schon benannt worden sind.Zwei möchte ich ganz dick unterstreichen.Erstens: keine Entwicklung an den Menschen in Haitivorbei!
Die Aufbaupläne dürfen nicht am Reißbrett von Ent-wicklungsagenturen entstehen. Wir haben da einen ge-wissen Zielkonflikt. Humanitäre Hilfe muss sofort grei-fen, um Menschenleben zu retten. Aber jetzt geht es umden Aufbau, und da muss ein schwieriger Prozess orga-nisiert werden: mit der Regierung in Haiti, so schwer esauch ist. Wir haben gestern gehört, dass die Regierungdas Vertrauen eigentlich verspielt hat. Trotzdem führtkein Weg daran vorbei, auch dort Bildungsprogramme,Capacity-Building zu machen, damit man zumindestmittelfristig auch zu tragfähigen staatlichen Strukturenkommt. Die Bevölkerung muss einbezogen werden. Esgibt sehr aktive Nachbarschaftskomitees und eine sehraktive Zivilgesellschaft. Gebergemeinschaft, Regierungund Zivilgesellschaft müssen zusammenkommen.Dann ist ein zweiter Aspekt ganz wichtig – neben derEntschuldung; darüber sind wir uns, glaube ich, alle ei-nig –, nämlich dass der ländliche Raum endlich in denFokus gerückt werden muss.
Sascha Raabe hat es gesagt: Haiti ist ein Land, das sichfrüher selbst versorgen konnte, das Lebensmittel sogarexportieren konnte, und zwar nicht nur in der Zeit derSklaverei. Es ist in den 80er-Jahren durch IWF und Welt-bank gezwungen worden – das ist kein Geheimnis –,Strukturanpassungsmaßnahmen durchzuführen und denAußenschutz abzubauen. Daraufhin ist es von hochsub-ventioniertem Reis und anderen Agrarprodukten aus denUSA überschwemmt worden. Die Landwirtschaft istdurch diese verfehlte Handelspolitik und durch dieseauch verfehlte Liberalisierungspolitik völlig zerstört wor-den.Auch dabei muss es jetzt zwei Stufen geben: Sofort-hilfe in Form von Nahrungsmittelhilfe, dann aber unbe-dingt Saatguthilfe, damit die Regenzeit für die Aussaatgenutzt werden kann. Wir brauchen eine Unterstützungfür den ländlichen Raum in Haiti, damit vor allem dieKleinbauern in die Lage versetzt werden, die eigeneBevölkerung auf nachhaltige Weise zu ernähren. Mittel-fristig muss dann auch an einen besseren Außenschutzgedacht werden, also an eine Rücknahme von Liberali-sierungsschritten.
Wir haben jetzt über vier Anträge abzustimmen, dieviele Gemeinsamkeiten haben.
Herr Kollege, ich glaube, Sie können jetzt nicht mehr
über alle vier Anträge sprechen.
Dann sage ich das jetzt ganz schnell. – Wir haben denwirklich umfassenden Antrag vorgelegt,
in dem auch der größte Sondertitel gefordert wird. Eswäre natürlich ein tolles Zeichen, wenn jetzt alle demGrünen-Antrag zustimmen würden.
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Thilo Hoppe
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Wir werden auch dem SPD-Antrag zustimmen. Darinsteht nichts Falsches, aber er bleibt ziemlich vage.
Herr Kollege!
Beim Antrag der Linken kann ich eines nicht verste-
hen, nämlich dass die Sicherheitsfrage völlig außer Acht
gelassen wird. Dafür, dass Sie Skepsis gegenüber den
amerikanischen Truppen haben, habe ich ein bisschen
Verständnis.
Nein.
Aber dass selbst das UN-Mandat abgelehnt wird, kön-
nen wir nicht mittragen. Deshalb leider eine Ablehnung.
Der Koalitionsantrag –
Herr Kollege!
– enthält nur Allgemeinplätze.
Das wird nicht funktionieren, weil mein Verständnis
jetzt ganz am Ende ist.
Deshalb bestenfalls eine Enthaltung.
Danke.
Der Kollege Frank Heinrich hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Jetzt noch etwas Neues zu sagen, wäre einesehr große Herausforderung. Das maße ich mir nicht un-bedingt an. Ich möchte noch einmal die Bilder in Erinne-rung rufen, die dem einen oder anderen vielleicht mehrpräsent sind. Ich selbst habe Freunde, die davon direktbetroffen sind, und auch Freunde in NGOs. Wir alle ha-ben aber noch die Bilder aus den Medien vor Augen. Ichhabe aber nicht nur dieses Bild des Leides in Erinnerung.Ich habe auch das Bild in Erinnerung, das Herr Leibrechtganz am Anfang aufgezeigt hat, das Dank bei mir her-vorruft, und zwar das Bild von Deutschland, wie es rea-giert hat, wie die Bürger in Deutschland reagiert haben.Vor vier Jahren standen wenige Hundert Meter von hierentfernt unsere Kicker – wir haben den dritten Platz be-legt – und haben ein T-Shirt mit der Aufschrift getragen:Danke, Deutschland. – Ich möchte hier anknüpfen und„Danke, Deutschland“ sagen, und zwar gerichtet an un-sere Bürgerinnen und Bürger sowie an die Helferinnenund Helfer, die sich aufgemacht haben, um in die Tatumzusetzen, was viele nur bei Worten belassen haben.
Die Klage, wie wenig wir aufgebracht hätten, hörtsich manchmal wie eine Leier an. Dabei haben Sie viel-leicht mehr die Regierung in den Fokus genommen. Ichdanke aber auch der Bundesregierung. Ich danke auchden Vertretern des Auswärtigen Amtes, die koordinierthaben. Ich habe selbst an solchen Sitzungen teilgenom-men und weiß, wie gut die Zusammenarbeit zwischenTechnischem Hilfswerk, Welternährungsprogramm, derGTZ usw. war. Ich war begeistert, dabei sein zu können,wie das entwickelt wurde. Die gute Zusammenarbeit unddie Hilfe sind einen großen Dank wert.Das heißt aber nicht – die Gefahr wurde hier realis-tisch festgestellt –, dass jetzt aufgehört werden darf. Dasmachen wir auch nicht. Vieles war gut, und vieles kannman vielleicht noch besser machen. Wir dürfen abernicht aufhören. Wir dürfen uns jetzt nicht aus der Affärestehlen. Das machen wir auch nicht. Das haben wir imÜbrigen mit allen Anträgen auf unterschiedliche Weisebewiesen. Auch den Bürgern rufe ich zu, jetzt bitte nichtaufzuhören, sondern bei den Organisationen, bei denensie gespendet haben, nachzuhaken: Seid ihr noch dort?Seid ihr noch dran? Braucht ihr noch weitere Hilfe? – Sokönnen wir beweisen, dass wir nicht nur kurzfristig, son-dern langfristig Herz haben.
In der heutigen Debatte geht es darum, Haiti einelangfristige Wiederaufbauperspektive zu geben. Fürmich als Novize in diesem Haus ist es schön, zu erleben,dass unsere Grundsätze und auch unsere Anträge in die-sem Haus eine große Schnittmenge aufweisen. Das istnicht in allen Politikbereichen der Fall. Manchmal wärees wünschenswert, wenn sich das übertragen wurde.Schon vor dem Erdbeben war Haiti eines der ärmstenLänder, das ärmste Land Lateinamerikas. Nach demErdbeben, das nach dem Tsunami die größte Katastrophedieses Jahrhunderts ist, haben wir jetzt die Chance – un-abhängig davon, ob die Medien davon berichten –, dasThema nach einigen Wochen noch einmal aufzugreifen.Noch nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti wahr. Teilweisenimmt die Weltöffentlichkeit Haiti deshalb noch wahr,weil sich Amerika in diesem Prozess so stark engagierthat.Die Hilfe ist aber auch mit einem politischen Auftragverbunden. Dem kommen wir heute ein Stück weit nach.Wir wollen – das steht auch in unserem Antrag – neueStrukturen schaffen, und zwar sowohl im politischen Be-reich als auch in den Bereichen der Gerichte, der Polizei
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Frank Heinrich
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und im militärischen Bereich, aber auch in anderen Be-reichen der Gesellschaft bis hin zur Infrastruktur.Ich denke, politische Fehler und gegenseitige Vor-würfe sind genügend ausgetauscht worden. Die vierpolitischen Notwendigkeiten, die wir auch in unseremAntrag beschrieben haben, betreffen unter anderem dieKoordinierung des Wiederaufbaus. Deshalb verstehe ichnicht, weshalb Sie unsere Forderung hinsichtlich derUNO ablehnen. Wir wollen abwarten – deshalb gibt esdiesen Titel bei uns noch nicht explizit –, was zum Bei-spiel die Geberkonferenz beschließt und was die Recher-chen ergeben, die dann zusammenfließen. Wir wollenauch abwarten, welchen Bedarf die Geberkonferenz imJuni zusammenträgt. Jetzt Schnellschüsse zu machen, istdie Sache meines Erachtens nicht wert. Dafür ist dasProblem zu groß.
Die Entschuldung ist vergessen worden. Deutschlandhat im vergangenen Jahr entschuldet. In unserem Antraghaben wir die Forderung aufgenommen, andere aufzu-fordern – insbesondere die Inter-American DevelopmentBank und die Europäische Bank für Wiederaufbau undEntwicklung –, diesem Beispiel zu folgen. Das wäre derzweite Bereich.Der dritte Bereich bezieht sich auf den Finanzbedarf,bei dem wir uns noch nicht hundertprozentig festlegen,wie viel das am Schluss sein wird. Da kursieren vieleZahlen. Wir sind uns einig, dass es sich um viel Geldund um eine langfristige Investition über mehrere Jahrehandelt.Der vierte Bereich betrifft den Aufbau eines Rechts-staates. Die Verwaltung soll bei der UNO bleiben. DieSofortmaßnahmen zu Beginn waren positiv. Die Neu-ausrichtung der Mission MINUSTAH ist ebenfalls posi-tiv. Es soll innerhalb der EU konzertiert gearbeitet wer-den. Die NGOs sollen selbstverständlich wie auch dievor Ort arbeitenden Bürgerbewegungen – das geschahschon bei der Soforthilfe – einbezogen werden. Natür-lich sollen auch die Wahlen, die Ende des Jahres stattfin-den sollen und ganz entscheidend sein werden, begleitetund kontrolliert werden.Maßnahmen gegen Kinderhandel und illegale Adop-tion habe ich in dem einen oder anderen Antrag ver-misst. Ich denke, es steht uns an, darauf ein Auge zuwerfen.Lassen Sie uns die Medien und die Bürger auffordern,weiterhin den Fokus auf Haiti zu richten. Stimmen Sieauch für den Antrag der CDU/CSU und der FDP, damitdas Signal, das mehrfach angesprochen wurde, ausge-sendet werden kann.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck-sache 17/1157 mit dem Titel „Haiti eine langfristigeWiederaufbauperspektive geben“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Antrag bei Zustimmung der Koalitions-fraktionen angenommen. Dagegen haben die SPD unddie Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen hat sich enthalten.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu demAntrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Zukunft fürHaiti – Nachhaltigen Wiederaufbau unterstützen“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/1214, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/885 abzulehnen. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-mung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke an-genommen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen habendagegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung auf Drucksache 17/1099. Der Ausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung dieAblehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/774 mit dem Titel „Nachhaltige Hilfe fürHaiti: Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Kooperation stär-ken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist bei Ablehnung durch die Fraktion Die Linkeangenommen. Zugestimmt haben alle anderen Fraktio-nen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/791 mit dem Titel „Haiti ent-schulden und langfristig beim Wiederaufbauunterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damitist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch dieKoalitionsfraktionen und die Linke angenommen. Dage-gen hat das Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Frak-tion der SPD hat sich enthalten.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Dr. Hermann Ott, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFinanzmärkte ökologisch, ethisch und sozialneu ausrichten– Drucksache 17/795 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Das Wort als erster Redner hat der KollegeDr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gehtin dem Antrag, den wir vorlegen, um ein Thema, das mirpersönlich sehr wichtig ist, weil ich davon überzeugt bin,dass Menschen nicht nur nach ihrem wirtschaftlichenVorteil streben, sondern durchaus bereit sind, auch öko-logische, soziale und ethische Erwägungen zu berück-sichtigen, und wir deswegen unser Finanzwesen nichtnur auf die Rendite ausrichten dürfen.
Wenn man von diesem Menschenbild ausgeht, dannsieht man, dass in der bisherigen Diskussion darüber,was an den Finanzmärkten neu gemacht und verändertwerden muss, eine Dimension völlig fehlt. Das ist dieDimension: Wie schaffen wir es, dass die Menschen Ver-antwortung für das übernehmen können, was mit ihremGeld geschieht? Wir sollten nicht nur die Frage beant-worten, warum Banken pleitegegangen sind und Anlegerviel Geld verloren haben, sondern auch die Frage: Wa-rum fließt so viel Geld in Investitionen, die volkswirt-schaftlich wertlos oder sogar schädlich sind? Denken Sienur an die vielen Gelder, die zur Zerstörung des Regen-waldes beitragen, oder an andere umweltschädliche In-vestitionen. Deutsche Anleger haben über Fonds – indem Film Let’s make Money ist deutlich geworden, dassdie Anleger nicht wissen, wohin ihr Geld fließt – völligsinnlose Immobilienprojekte in Spanien mitfinanziert,die dort auch noch in Umweltschutzgebieten gesetzes-widrig durchgeführt worden sind. Wir wollen eine Neu-ausrichtung an den Finanzmärkten. Die Menschen unddie Märkte sind weiter als der Gesetzgeber. Deswegenmüssen wir nachlegen. Dies fordern wir in unserem An-trag.
Nach einer Studie der DZ Bank vom Herbst 2009 sa-gen 55 Prozent der Menschen, dass sie bei ihrer Anlage-entscheidung ökologische Aspekte berücksichtigen wol-len, das sei ein wichtiges Kriterium. 74 Prozent derMenschen sagen, es gebe zu wenige Informationen, vie-les sei intransparent. Es ist ja auch wenig erklärlich, wa-rum in Großbritannien bei über 20 Prozent der Anlage-gelder solche Kriterien mitberücksichtigt werden unddarüber informiert wird, in Deutschland aber nur bei ei-nem Prozent der Anlagegelder. Ich glaube nicht, dass dieDeutschen weniger ethisch denken als die Briten, son-dern ich glaube, dass es hier einen Mangel in der deut-schen Gesetzgebung gibt, den wir korrigieren müssen.
Nehmen Sie ein weiteres Beispiel, das Carbon Disclo-sure Project. An diesem Projekt sind 475 institutionelleInvestoren beteiligt. Sie fragen bei den Unternehmen ab,in welcher Höhe sie CO2-Emissionen ausstoßen und wiesie in Bezug auf den Klimawandel dastehen. Das Projektkrankt daran, dass es keine vergleichbaren standardisier-ten Informationen aus den Unternehmen gibt. Wir müs-sen jetzt die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, dassInvestoren, die Klimarisiken berücksichtigen wollen,dies auch tun können.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Dieevangelische Kirche hat ein Projekt gestartet, das ichsehr gut finde. Man hat gesagt: Wir legen unsere Gelderzusammen und werden in Zukunft schauen, dass die Kri-terien, die wir auch sonst anlegen, nämlich ethische undsoziale Aspekte, auch bei unseren Investitionen berück-sichtigt werden. Wir werden unsere Stimmrechte bün-deln und als aktive Aktionäre dafür sorgen, dass sich inden Unternehmen etwas ändert. –
Die katholische Kirche will sich dem anschließen. DerVorsitzende der Bischofskonferenz sagt, es sei für Anle-ger außerordentlich schwierig, erfolgreiche und ethischzuverlässige Unternehmen von anderen mit zweifelhaf-tem Ruf zu unterscheiden. Es ist daher die Aufgabe desGesetzgebers, dafür zu sorgen, dass die Menschen, dieethisch handeln wollen, dies auch tun können und diedafür notwendigen Informationsgrundlagen haben.
Ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es nicht darumgeht, etwas völlig Neues zu machen, sondern dass wirals Gesetzgeber im Rückstand sind und aufholen müs-sen: Die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse undAsset Management, DVFA, sagt, dass es notwendig ist,dass der Gesetzgeber Standardisierungen im Bereich dernichtfinanziellen Indikatoren der Unternehmensleistungvornimmt. Auch das sollten wir aufgreifen.Meine Bitte ist: Greifen Sie dieses Anliegen, diesefehlende Dimension in unserer bisherigen Finanzmarkt-diskussion, auf. Lassen Sie uns die gesetzlichen Voraus-setzungen dafür schaffen, dass Menschen in dieser Hin-sicht Verantwortung übernehmen können, zumindestdiejenigen, die das schon heute wollen. Da sind wir alsGesetzgeber in der Pflicht.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Klaus-Peter Flosbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Nachfrage nach Geldanlagen, die ethi-sche, soziale und ökologische Dimensionen berücksich-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3205
Klaus-Peter Flosbach
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tigen, nimmt zu. Das begrüßen und unterstützen wir aus-drücklich.
Herr Schick, ich frage Sie: Warum werben Sie nicht stär-ker für nachhaltige Anlagen und legen uns stattdessendiesen unausgereiften Antrag vor?
Ihr Antrag schießt weit über das Ziel hinaus. Er ist einSammelsurium von Vorschriften und Berichtspflichten,das nicht das Bewusstsein für nachhaltige Anlagenschärft, sondern eine Bürokratie ungeahnten Ausmaßesverursacht.
Lassen Sie mich verschiedene Punkte ansprechen.Erstens. Sie fordern, dass bei allen Altersvorsorgepro-dukten und Investmentfonds – ich bitte, zuzuhören –jährlich von allen Aktien, Unternehmensanteilen, Unter-nehmensfinanzierungen und Unternehmensanleihen diedirekten Treibhausemissionen im Verhältnis zum Port-foliowert ausgewiesen werden müssen.
Wer macht das? Mit welchem Aufwand? Mit welchenKosten? Mit welchem Effekt? Wo ist die Bemessungs-grundlage? Wie kann man dieses wichtige Thema dernachhaltigen Geldanlage so ins Abseits führen?
Meine Damen und Herren, die Konsequenz wäre eineBürokratie ungeahnten Ausmaßes. Bei der letzten großenDebatte zum Investmentänderungsgesetz am 13. Juni2007 sagte Herr Kollege Dr. Schick im Deutschen Bun-destag – ich zitiere –:Wenn also durch den Gesetzentwurf bürokratischeHemmnisse abgebaut werden und die Investment-branche dadurch entlastet sowie im Wettbewerb ge-stärkt wird, dann ist dies auch ein Anliegen derGrünen.Warum halten Sie sich nicht daran?
Herr Kollege Schick, Die Wirtschaftswoche schriebam 24. Juli 2009 zu Ihrem achtseitigen Wahlkampf-papier, das nahezu identisch mit dem vorliegenden An-trag ist:
„Die Grünen entdecken die Finanzkrise“ und setzen „dieordnungspolitischen Daumenschrauben an“. – In der Tatwaren Sie 2003 bei der Deregulierung der Finanzmärktedabei.
Jetzt suchen Sie den Platz an der Sonne und sind für al-les Nachhaltige, aber nicht, weil Sie für Windkraftanla-gen sind, sondern weil Sie Ihr Fähnchen nach dem Windrichten.
Wir begrüßen es, dass sich das Angebot an nachhalti-gen Anlageformen erweitert. In Deutschland gab es2008 76 Publikumsfonds, deren Anlagepolitik dem Prin-zip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Allerdings sankdas Volumen von 6,6 Milliarden Euro in 2007 mit demAusbruch der Finanzkrise und dem Einbruch der Wert-papierbörsen auf 3,9 Milliarden Euro. Viele Anlagensind also nicht unabhängig von den sonstigen Marktent-wicklungen.Zweitens. Es ist sehr problematisch, wenn Sie bei Ka-pitallebensversicherungen oder RentenversicherungenIhren Blick einseitig auf die Verwendung der Versiche-rungsbeiträge unter ökologischen, sozialen und ethi-schen Gesichtspunkten richten. Die aufsichtsrechtlichenZiele lauten: Sicherheit, Rendite, Liquidität und Streu-ung. Selbstverständlich kann die Nachhaltigkeit ein wei-teres Kriterium sein, aber es darf nicht im Widerspruchzu den anderen Zielen stehen. In diesem Zusammenhangsollten wir uns die Riester-Rente noch einmal genaueranschauen. Es gibt bereits Berichtspflichten, aber siesind in der jetzigen Form wirkungslos, wie Sie selbst inder Begründung Ihres Antrages schreiben. Sie könntenIhre Auffassung zu diesem Thema noch einmal überden-ken; denn wer fördert, kann auch Auflagen machen.Drittens. Sie wollen die Vertriebsvorschriften für alleFinanzdienstleistungsprodukte so ändern, dass nicht nurschriftlich auf die ethische Dimension der Kapitalanlagehingewiesen wird; vielmehr soll in jedem Beratungsge-spräch auch die sozial-ökologische Interessenlage desKunden abgefragt werden. Meine Güte! Offensichtlichhalten Sie die Bürgerinnen und Bürger für unmündig. IhrAntrag entfacht in der Tat eine wahre Regulierungswutund bevormundet den Bürger in seiner freien Entschei-dung, wie er sein Geld anlegen will. Das machen wirnicht mit.
Versuchen Sie nicht, mit der Keule nachhaltige Geld-anlagen unters Volk zu bringen. Die Nachfrage und dasBewusstsein für solche Geldanlagen steigen, und dassollten wir unterstützen.
Herr Dr. Schick, entscheidend ist doch, dass ausreichendProdukte zum Verkauf und zum Kauf zur Verfügung ste-hen. Ihr Hinweis auf Großbritannien ist nicht in Ord-nung, Herr Dr. Schick. Bei den 20 Prozent handelt es sichausschließlich um institutionelle Anleger bei Pensions-
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3206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Klaus-Peter Flosbach
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fonds. Das sind nicht private Anleger. Da sollten Sienoch einmal genau nachsehen.
In 2007 haben wir das Investmentgesetz geändert undunter dem Begriff „sonstige Sondervermögen“ die Mög-lichkeit eröffnet, in Deutschland Mikrofinanzfonds auf-zulegen;
darüber wurde auch in der vorangegangenen Debattediskutiert. Wir können also auch in Deutschland Mikro-finanzfonds auflegen, Fonds für Kleinkredite zur Be-kämpfung weltweiter Armut. Ein Hinweis: HerrDr. Schick und die Grünen haben das abgelehnt, als wirdas vor drei Jahren hier vorgeschlagen haben.
Leider wurden die Bedingungen im Gesetz durch un-seren damaligen Koalitionspartner, die SPD, so einge-schränkt, dass in Deutschland nicht ein einziger Fondsaufgelegt wurde und das Geld nach wie vor ganz offi-ziell nach Luxemburg und in die Schweiz fließt, FrauDr. Hendricks.
Diese Anlagen waren übrigens, sofern sie im Auslandwaren, nicht von der Finanzkrise betroffen.Ich fordere Sie auf – die Grünen, aber auch die SPD –:Unterstützen Sie uns, wenn wir im Sommer vor demHintergrund der Erfahrungen im Bereich Entwicklungs-hilfe und der Erfahrungen der kirchlichen Banken undInvestmentgesellschaften – um die geht es vor allem –einen neuen Vorschlag zum Thema Mikrofinanzfondsvorlegen.Die Bereitschaft der Anleger, hier Geld zu investie-ren, ist da. Versuchen Sie es ganz einfach einmal mit so-zialer Marktwirtschaft. Das ist und bleibt unser Erfolgs-rezept. Ihr Antrag ist vielleicht gut gemeint, aber sehrschlecht gemacht.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Finanzmärkte nachhaltig auszurichten, ist unseraller Anliegen; das ist ganz selbstverständlich. Die heu-tige Debatte bietet aber auch die Chance, noch einmalinsgesamt über nachhaltige Maßnahmen infolge der Fi-nanzkrise zu reden.Wenn es um Nachhaltigkeit auf den Finanzmärktengeht, dann geht es nicht nur um die ökologische, ethischeund soziale Ausrichtung von Produkten, sondern es gehtinsbesondere auch um die Frage, welchen Schutz wirVerbraucherinnen und Verbrauchern auf dem Finanz-markt bieten. Auch das ist ein Aspekt von Nachhaltig-keit und Teil einer nachhaltigen Strategie und muss be-rücksichtigt werden, wenn wir über Auswirkungen aufden Finanzmarkt reden wollen.
Im Juli des letzten Jahres wurde im Deutschen Bun-destag ein umfangreicher Katalog mit Maßnahmen vor-gelegt. Die CDU/CSU, die damals gemeinsam mit derSPD Antragsteller war, will heute kaum bis gar nichtmehr wissen, welchen Antrag sie damals beschlossenhat. Deshalb will ich darauf hinweisen, dass diese Bun-desregierung die Umsetzung einiger bereits beschlosse-ner Maßnahmen noch schuldig ist. Das ist selbstver-ständlich nachzuholen; denn es geht explizit um dieVerbraucherinnen und Verbraucher, wenn wir über dieFrage reden, welche Form an Beratung und welche An-gebotspalette ihnen in Zukunft zur Verfügung stehenwerden.Welche Vorlagen erwarten wir also? Welche Lehrensollen bezüglich des Schutzes von Verbraucherinnen undVerbrauchern aus der Krise gezogen werden? Alleswurde beschlossen von der Großen Koalition – die FDPhat sich damals enthalten –:Erstens. Die Bundesregierung wollte und will sich aufeuropäischer Ebene dafür einsetzen, dass Regelungen imFinanzmarktbereich getroffen werden, die eine deutlichstärkere Regulierung zur Folge haben. Wo stehen wirheute? Nichts ist passiert.
Zweitens. Nationale Maßnahmen sind zu ergreifen,um alle Finanzprodukte einer Regelung und einer Kon-trolle zu unterziehen, was selbstverständlich auch für dieFinanzberaterinnen und -berater gilt. Was ist geschehen?Nichts.
Das Eckpunktepapier von Herrn Schäuble ist in diesemPunkt völlig unzureichend.
Drittens: Mindeststandards für alle Finanzvermittlerund Finanzvermittlerinnen sowie Finanzberater und Fi-nanzberaterinnen. Es geht dabei um Berufsqualifikation,um Weiterbildung, um Registrierung und um die Frageeiner Berufshaftpflicht. Was ist bis heute passiert?Nichts.Viertens. Es geht um die Unabhängigkeit von Bera-tung für Verbraucherinnen und Verbraucher, und zwarauch zu alternativen Produkten und deren Wirkungsgrad.Damals ist beschlossen worden, dass man den Verbrau-cherzentrale Bundesverband personell und finanziell
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3207
Kerstin Tack
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ausbaut und verstärkt und dass man die Verbraucherzen-tralen der Länder beim Ausbau unterstützt. Eine Finan-zierung über vier Jahre wollte man ihnen zubilligen. Wasist passiert? Nichts. Kein einziger Cent ist geflossen.Verbraucherschutzministerin Aigner hatte vor Weih-nachten großspurig angekündigt, man wolle im Verbrau-cherschutz Kartellstrafen einführen. Sie ist erbärmlichgescheitert. Nichts ist passiert. Die Verbraucherzentralengucken weiter in die Röhre. Das wäre eine Maßnahmegewesen, um auch Finanzprodukte nachhaltig in die Be-ratung aufzunehmen.
Fünftens. Eine Aufklärungskampagne für die Ver-braucherinnen und Verbraucher sollte es geben. Was istgeschehen? Nichts.
– Ehrenamtlich muss man das machen? Also wirklich!
Sechstens. Zusammen mit den Ländern, mit Verbän-den und Organisationen sollte ein Forum initiiert werden,um gemeinsam Konzepte und Maßnahmen zur Verbesse-rung der ökonomischen Bildung und der Finanzkompe-tenz zu erarbeiten. Diverse Regierungskommissionensind eingerichtet worden, damit die Koalition darüber re-den kann, was sie überhaupt will. Aber dieses Forumkonnte bisher nicht eingerichtet werden. Das Thema waranscheinend nicht wichtig genug. Nichts ist passiert.
Zusammenfassend lässt sich die Tätigkeit der Bun-desregierung bei der Nachhaltigkeit und der Regulierungder Finanzmärkte folgendermaßen beschreiben: nichts,nichts und noch mal nichts.
Stattdessen soll es eine Bankenabgabe geben, wodurchletztendlich die Verbraucherinnen und Verbraucher indie Pflicht genommen werden. Das kann es nicht sein.Deswegen sagen wir: Ziehen Sie die richtigen Konse-quenzen. Sorgen Sie dafür, dass eine Aufsicht für alle Fi-nanzprodukte gewährleistet wird. Sorgen Sie dafür, dassVermittlerinnen und Vermittler erstens eine vernünftigeBerufsqualifikation haben
und zweitens eine Berufshaftpflicht.
Sorgen Sie dafür, dass Kostentransparenz für alle Berei-che besteht
und den Verbrauchern deutlich signalisiert werden kann.
Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherverbände eine Be-schwerdemöglichkeit erhalten und Musterklagen durch-führen können.
Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherinnen und Ver-braucher Zugang zu einer unabhängigen Beratung ha-ben, zu Menschen, die beraten und nicht verkaufen wol-len. Sorgen Sie dafür, dass die beschlossenenProduktinformationsblätter einheitlich und insbesondereverständlich sind.
Sorgen Sie dafür, dass auch in Europa einheitliche Fi-nanzregeln gelten. Sorgen Sie dafür, dass Leerverkäufeverboten werden. Für diese nachhaltigen Maßnahmenhaben Sie alle Zeit der Welt gehabt. Legen Sie endlichlos!Herzlichen Dank.
Frau Tack, das war Ihre erste Rede hier im Haus.
Dazu gratulieren wir Ihnen und wünschen alles Gute.
Für die FDP hat der Kollege Frank Schäffler das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Lieber Kollege Schick, Sie haben hier einenSchönwetterantrag vorgelegt. Er passt zum heutigenWetter, aber er löst nicht die Probleme, die wir auf denFinanzmärkten und bei der Vermittlung von Finanzpro-dukten in Deutschland haben. Vielmehr bedient er grüneKlientel. Das mag auch der aktuellen Situation geschul-det sein; aber ich glaube, wirkliche Probleme löst IhrAntrag nicht.Was ist in Deutschland wie in allen modernen Volks-wirtschaften das Problem bei der Altersvorsorge und derGeldanlage?
Das Problem ist, dass es immer mehr ältere Menschengibt – glücklicherweise werden wir immer älter – unddass es immer weniger junge Menschen gibt.
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Frank Schäffler
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Das heißt, der Altersquotient, also das Verhältnis derüber 65-Jährigen zu Personen im erwerbsfähigen Alter,wird in den nächsten 25 Jahren von 35 Prozent auf65 Prozent ansteigen.
Deshalb müssen wir uns Gedanken über die Frage ma-chen: Wie kann man die junge Generation in die Lageversetzen, sich eine eigene Altersvorsorge aufzubauen?Es wäre gut, wenn Sie sich einmal angeschaut hätten,was Sie selbst in der Vergangenheit, nämlich in der rot-grünen Koalition, auf diesem Gebiet getan haben. Da-mals war – das muss man sagen – nicht alles schlecht.Das, was Sie mit der Riester-Rente geschaffen haben,war sicherlich ein Paradigmenwechsel in Deutschland.Es wäre gut, wenn Sie auf diese Grundlage zurückkeh-ren würden. Diesen Bereich müssen wir weiter aus-bauen.
Das wollen wir tun. Beispielsweise wollen wir Riester-Verträge auch für Selbstständige öffnen.
Denn auch die Altersarmut von Selbstständigen ist einThema, mit dem wir uns beschäftigen müssen.Außerdem wollen wir zum Bürokratieabbau beitra-gen; auch dies ist ein zentrales Thema. Die Durchfüh-rungswege im Bereich der betrieblichen Altersvorsorgesind sehr undurchsichtig. Sie müssen entschlackt undvereinfacht werden, damit sie für Arbeitnehmer und Ar-beitgeber verständlicher werden.Auch die Regelungen der sogenannten Rürup-Rentemüssen flexibilisiert werden. Unter anderem muss daswichtige Thema Berufsunfähigkeit im Rahmen vonRürup- und Riester-Rente stärker berücksichtigt werden.Ich glaube, dass der Antrag, den Sie vorgelegt haben,zwar gut gemeint ist, dass er unter dem Strich aber nichthilft.Die Praxis, die Sie beschreiben, macht deutlich,welch „nachhaltige“ Wirkung Ihre Konzepte haben. Sieweisen in Ihrem Antrag darauf hin, dass bei Riester-Ren-ten eine Prüfung sozialer, ethischer und ökologischerGesichtspunkte erfolgt. Gleichzeitig stellen Sie fest, dassnur 1 Prozent der Riester-Verträge tatsächlich nach so-zialen, ethischen oder ökologischen Gesichtspunkten ab-geschlossen wird. Man muss sich fragen: Wenn das amMarkt nicht nachgefragt wird, wieso sollte man es er-zwingen? Wer soll am Ende die Kriterien festlegen: einparitätisch besetzter Beirat aus Arbeitnehmervertretern,also Gewerkschaften, und Arbeitgebervertretern? EinBeamter im Ministerium oder bei der BaFin? Wer solldas letztlich machen?
Entscheidend ist, dass wir auf die Altersvorsorge set-zen und Anreize schaffen, damit die Menschen für ihreAltersvorsorge sparen. Dafür brauchen wir eine nachhal-tige wirtschaftliche Dynamik. Sie ist die Grundvoraus-setzung dafür, dass die Menschen in die Lage versetztwerden, für ihre Altersvorsorge zu sparen.Die Steuerreform ist für die christlich-liberale Koali-tion die Mutter ihrer Reformen. Wir haben uns die ZieleSteuersenkung und Steuervereinfachung auf die Fahnengeschrieben.
Es ist zu einfach, wenn Sie auf der letzten Seite IhresAntrags schreiben – das passt allerdings zu diesem An-trag –:Grüne Rhetorik allein wird den Klimawandel nichtaufhalten können.
Sie sollten sich, statt solche Anträge in den Bundestageinzubringen, um die wirklichen Probleme in diesemLand kümmern.
Die Menschen müssen wieder mehr Geld in der Taschehaben, um für ihre Altersvorsorge sparen zu können. DerStaat darf ihnen nicht immer mehr Geld aus der Tascheziehen.Vielen Dank.
Barbara Höll hat für die Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was sagt Ihr Antrag aus? Sie wollen durchmehr Berichte und klare Kriterien Klarheit in die Finanz-märkte bringen. Sie wollen nicht mehr und nicht weni-ger, als sie neu auszurichten. Herr Schick, Ihr Anliegenin allen Ehren. Aber glauben Sie allen Ernstes, dassdurch veränderte Kriterien in alten Strukturen ein erneu-tes Marktversagen verhindert werden kann? Ich sage Ih-nen ganz klar: Sie setzen an der falschen Stelle an. Siebehalten Ihre Marktgläubigkeit bei und handeln nachdem Motto: Der Markt wird es schon richten.Der Markt macht, was er will. Das Profitstreben stehtüber allem anderen. Dass Sie in Ihrem Antrag Schwe-den, Frankreich und Großbritannien als Beispiel für Län-der nennen, in denen entsprechende Maßnahmen bereitsfunktionieren, spricht eine beredte Sprache. Denn diese
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Dr. Barbara Höll
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Länder sind genauso von der Finanzkrise betroffen wiewir.Wir müssen endlich die Spielregeln auf den Finanz-märkten ändern. Die Finanzmärkte tatsächlich neu aus-zurichten, bedeutet nach Meinung der Linken unter an-derem
eine Stärkung ihrer Funktion,
die Absicherung der unternehmerischen Tätigkeit, dieAbsicherung von Krediten und ihren Risiken, Anlage-funktionen für Sparerinnen und Sparer sowie die Absi-cherung des Zahlungsverkehrs. Das sind die entschei-denden und eigentlichen Funktionen der Finanzmärkte.Die Märkte sind nur Mittel zum Zweck.
Wenn die Mittel nicht dem öffentlichen Interesse,sondern den Interessen Einzelner dienen, und zwar aufKosten der Mehrheit, muss die Politik eingreifen und re-gulieren. Das könnten Sie endlich einmal tun.
Wir fordern deshalb ein Verbot von Spekulationen.
Wir fordern zum Beispiel ein Verbot der Leerverkäufe.Wir fordern die Einführung einer Finanztransak-tionsteuer. Diese Maßnahmen würden nämlich dafür sor-gen, die Märkte zu entschleunigen und tatsächlich regu-lierend einzugreifen.
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich ver-misse bei Ihrem Anliegen leider einen wichtigen Punkt:Es muss doch darum gehen, die Finanzmärkte in ihremVolumen zu verringern. Denn die Masse frei schweben-den Kapitals auf den Finanzmärkten führt automatischzu Spekulationsblasen. Es gab bereits eine Dotcom-Blase. Damals suchten zahlreiche Anleger nach Rendite-möglichkeiten. Wir erinnern uns noch daran, dass An-fang dieses Jahrtausends die Technologieblase geplatztist.
Frau Höll, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Schick zu?
Ja.
Bitte schön.
Frau Höll, damit wir nicht in die Gefahr kommen, an-
einander vorbeizureden, wäre es vielleicht gut – daher
meine Nachfrage –, wenn Sie Folgendes zur Kenntnis
nähmen: Wir Grünen sind für eine Finanzumsatzsteuer,
die natürlich auch eine Volumenreduktion beinhaltet.
Wir haben in den letzten Debatten zahlreiche Beiträge
geliefert. Wir haben auch Anträge vorgelegt, in denen
wir uns für eine Regulierung aussprechen, damit die Fi-
nanzmärkte stabiler werden.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es hier
um eine andere Dimension geht, die wir in dieser De-
batte zusätzlich brauchen? Der vorliegende Antrag sagt
also nicht aus, dass wir die gesamte Regulierungsdiskus-
sion ersetzen wollen. Wir wollen vielmehr eine zusätzli-
che Dimension schaffen. Wenn man in seinem Men-
schenbild den Menschen als ethisches und soziales
Wesen wahrnimmt, muss man an den Finanzmärkten die
entsprechenden Voraussetzungen für Wahlmöglichkeiten
schaffen. Denn viele Menschen interessieren sich nicht
nur für die Rendite; das geht aus Umfragen hervor. Sie
wollen auch anderes berücksichtigen. Sie bekommen
aber die dafür notwendigen Informationen nicht. Darum
geht es in dem Antrag. Er soll nicht anstelle einer
Finanzumsatzsteuer oder anderer regulatorischer Maß-
nahmen treten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das
klarstellen könnten.
Herr Schick, ich danke Ihnen für die Frage. Ich hoffe,dass wir im Bundestag gemeinsam – sogar gemeinsammit der SPD – Vorschläge für die Regulierung der Fi-nanzmärkte erarbeiten werden.
Ich finde es schade, dass sich die Koalitionsfraktionenweigern, zeitnah darüber zu diskutieren, wie wir künftigmit der Frage der Besteuerung des Kapitalverkehrs um-gehen.
Das ist diese Woche nämlich passiert: Sie von der CDU/CSU haben eine zeitnahe Anhörung zur Transak-tionsteuer abgelehnt.Da sind wir uns einig. So, wie Ihr Antrag formuliertist, erwecken Sie aber den Anschein – das steht aufSeite 1 Ihres Antrages –, die Finanzmärkte könnten derzentrale Hebel für eine Neuausrichtung werden. Das istMarktgläubigkeit, die Bände spricht. Die Kriterien, dieSie formuliert haben, sind gut, und wir werden uns si-cherlich an etlichen Stellen einigen können.Das Grundproblem – dass die Finanzmärkte diesenenormen Umfang haben – haben Sie jedoch nicht er-
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Dr. Barbara Höll
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kannt. Das liegt natürlich auch ein bisschen an den poli-tischen Entscheidungen, die Sie in der rot-grünen Regie-rung getroffen haben.Die Grünen haben gemeinsam mit der SPD eine abso-lute Ausweitung der privaten Altersvorsorge verabschie-det. Das steht in einem scharfen Gegensatz dazu, dassdas Umlageverfahren gestärkt werden müsste. Wenn dasGeld, das heute eingezahlt wird, gleich morgen ausgege-ben wird – die Rücklage ist ja sehr gering –, dann mussgar nicht erst nach Anlagemöglichkeiten gesucht wer-den.Die ganzen Alterssicherungsfonds weltweit sind einwesentlicher Motor des Aufblähens der Finanzmärktegewesen, weil natürlich all diese Fonds mit möglichsthohen Renditen geworben haben. Deshalb ist es eineentscheidende Frage, wie man es erreicht, dass das Kapi-talvolumen insgesamt wieder geringer wird.Das bedeutet für die Linke – wir haben die Auswei-tung der privaten Altersvorsorge von Anfang an abge-lehnt –: Wir müssen das solidarische Rentensystem stär-ken, indem wir zurückkommen zu einer tatsächlichparitätischen Finanzierung, zu einem System, in das alleeinzahlen und bei dem die Beitragsbemessungsgrenzeaufgehoben wird.
Dann hätten die wirklich Vermögenden in diesem Landewesentlich weniger Geld, für das sie nach ökologisch,ethisch und sozial sauberen Anlagemöglichkeiten su-chen könnten.Wenn Sie für niedrige Steuersätze kämpfen – derSpitzensteuersatz soll, wenn es nach Ihnen geht, ganzweit unten liegen –, führt das dazu, dass Spitzenverdie-ner nach Anlagemöglichkeiten suchen. Jemand, der überein sehr hohes Einkommen verfügt, kann dann für einruhiges Gewissen leicht auf 1 oder 2 Prozent Renditeverzichten. Wir fordern – Sie wissen das – einen wesent-lich höheren Spitzensteuersatz. 53 Prozent halten wir fürangemessen.
Wir halten es auch für angemessen, dass bei der Renten-versicherung die Beitragsbemessungsgrenze aufgehobenwird.
Dann hätten die Millionäre wesentlich weniger Geld, fürdas sie nach sauberen Anlagemöglichkeiten suchenkönnten.Wenn ich den Antrag der Grünen im Gesamtzusam-menhang betrachte, muss ich angesichts des Anspruchs,der ausgedrückt wird, leider sagen: Das ist ein Tarnmän-telchen. Der Antrag ist nett und unschädlich; aber erwird das Grundproblem nicht ändern. Bei den einzelnenPunkten werden wir mit Ihnen gemeinsam schauen, aufwelche Kriterien wir uns einigen können. Das Grundpro-blem wird nicht geändert; da müssen wir noch streiten.Ich hoffe, dass sich das im Plenum auf andere Fraktio-nen ausweitet.Danke.
Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zur Abwechslung zum Thema, nämlich zu demAntrag, reden.
Ich halte diesen Antrag für wichtig, Herr Dr. Schick.Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der Er-halt unserer Umwelt ist ohne Zweifel die große Heraus-forderung unserer politischen Generation. Umso bedau-erlicher ist es, dass diese Frage anscheinend in denHintergrund gerückt ist. Wir reden sehr viel über die Be-wältigung der Finanzkrise und über Arbeitsplätze, aberzu wenig über die Umwelt und über ethische Fragen. In-sofern ist es richtig, wenn wir gerade jetzt prüfen, wiewir an die großen ökologischen Herausforderungen he-rangehen. Genau in diesem Kontext sehe ich Ihren An-trag und nehme ihn durchaus ernst.Trotzdem hatte ich beim Lesen dieses Antrags einStörgefühl. Ich musste lange überlegen, warum ich die-ses Störgefühl hatte. Eine erste schnelle Antwort war:Die Grundidee ist gut; aber muss es dieses riesige büro-kratische Paket von zwölf Maßnahmen, Regulierungenund Bestimmungen sein? Das hat mich an unser Steuer-system erinnert: Genau durch eine solche Regelungswuthaben wir unser Steuersystem nachhaltig verwüstet unddadurch bei den Bürgerinnen und Bürgern diskreditiert.Das hat mein Unbehagen aber noch nicht ganz erklärt.Ich habe mich dann gefragt: Wer soll eigentlich festle-gen, was ökologisch, ethisch oder sozial richtig und wasfalsch ist? Ich denke, bei der Produktion von Landminensind wir uns schnell einig. Bei der Kernkraft – Sie sehendas an den Diskussionen in der einen oder anderenPartei – wird das schon schwieriger. Bei Mindestlöhnenwird es recht kontrovers. Ich will damit sagen, dass dieBewertungen, die Sie fordern, immer subjektiv sind, vonden Kriterien des jeweiligen Bewertenden abhängen. Ichhalte es für sehr gefährlich, ein Unternehmen, das sichim Rahmen der geltenden Gesetze bewegt, nach densubjektiven moralischen Vorstellungen derjenigen, dieaktuell über die politische Deutungshoheit verfügen, ingut und schlecht einzuteilen.
Aber das war es ehrlich gesagt auch noch nicht, wasmich an Ihrem Antrag letztlich besonders irritiert hat.
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Ralph Brinkhaus
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Ich glaube, das war vielmehr der Geist, den ich hinter Ih-ren Formulierungen vermute,
ein Geist, der geprägt ist von mangelndem Zutrauen indie Urteilsfähigkeit der Menschen in diesem Land, einGeist – und dies ist jetzt bei allem Respekt vor IhremAntrag meine subjektive Deutung – der Bevormundung.Ich möchte das auch erläutern. Wir haben in Deutsch-land eine Bevölkerung, die für ökologische und ethischeFragen hochsensibel ist – niemand trennt so viel Müllwie wir Deutschen, und es gab, das haben wir gerade inder Diskussion vorher gehört, eine unglaubliche Spen-denbereitschaft für Haiti –, eine Bevölkerung, der ichalso sehr wohl zutraue, die Entscheidung zu treffen,mehr in nachhaltige Finanzprodukte zu investieren. DieWachstumszahlen bei derartigen Produkten zeigen diesauch.Wir sollten diese Menschen für die ethische und vorallem ökologische Weiterentwicklung unserer Gesell-schaft gewinnen und vielleicht sogar begeistern. Begeis-tern, Herr Schick, funktioniert aber weder durch ein Pa-ket aus zwölf neuen Vorschriften noch durch jährlicheschriftliche Berichte und auch nicht durch Stimmrechts-übertragungen bei Hauptversammlungen.
Das ist es, was mich an der Vorlage wirklich stört: Esist neben der Kleinteiligkeit der ein bisschen über allemschwebende erhobene Zeigefinger. Wir sollten uns wirk-lich überlegen, ob das der richtige Weg ist, um für dieMenschen in Deutschland, die an den von Ihnen aufge-worfenen Fragen, glaube ich, wirklich interessiert sind,eine innovative, motivierende Politik zu machen, einePolitik, die dazu führt, dass die Verbraucher aus eigenerEntscheidung und aus eigener Überzeugung mehr ökolo-gische und ethische Produkte nachfragen.Wir haben hier im Übrigen nicht nur im Finanz-bereich einen erheblichen Nachholbedarf. In unserer so-zialen Marktwirtschaft hat es eigentlich immer ganz gutgeklappt, durch Nachfrage, also durch den Verbraucher-willen, auch das entsprechende Angebot zu generieren.Warum soll das also nicht auch bei nachhaltigen Finanz-produkten funktionieren?
Begeisterung und den Willen, etwas zu ändern, kön-nen wir aber nur befördern, wenn wir als Politiker dieDinge beim Namen nennen und die Menschen für unsereIdeen gewinnen. Genau das ist unsere Aufgabe. Insofernist Ihr Antrag nicht ganz falsch; denn ausbeuterischeKinderarbeit ist genauso ein Skandal wie die Produktionvon Streumunition.
Den Raubbau an unseren Ressourcen und den Klima-wandel dürfen wir nicht mit einem Achselzucken zurKenntnis nehmen. Herr Schick, es ist richtig: Viele die-ser Dinge würden nicht passieren, wenn sich nicht je-mand finden würde, der das finanziert.Insofern bin ich Ihnen grundsätzlich sehr dankbar,dass Sie das Thema der ökologischen und ethischenAusrichtung der Finanzmärkte auf die Agenda gesetzthaben. Wir haben vielleicht unterschiedliche Ansätze,aber wir sollten gerade in dieser Zeit gemeinsam weiteran diesem Projekt arbeiten.Danke schön.
Für die SPD hat der Kollege Dr. Carsten Sieling das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In dem letzten Beitrag ist in der Tat ein bisschen stärkerauf den Geist und die Grundidee, die hinter diesem An-trag stehen, eingegangen worden. Dass wir im Rahmenunserer vielen Diskussionen über die notwendige Regu-lierung der Finanzmärkte, über viele Bestimmungen undüber quantitative Steuerungen reden müssen, ist die eineSache. Ich glaube, das ist auch das Vorrangige.Ich finde es aber ganz angenehm – das muss ich wirk-lich sagen –, hier auch einmal eine Debatte zu führen,die sich auch darum rankt, wie die qualitativen Orientie-rungen und Prozesse eigentlich gesteuert werden könnenund wohin wir mit unserer Gesellschaft gehen wollen.Das ist doch ein klarer Punkt.Ich teile natürlich die Auffassung, dass wir einenüberschäumenden Reichtum auch durch Besteuerungund andere Dinge sicherlich in stärkerer Weise als bishergemeinwohlorientierten Finanzierungen zuführen müs-sen. Wir müssen aber auch immer im Kopf haben – dashabe ich in dem Redebeitrag von Frau Höll von den Lin-ken nicht verstanden –, dass wir Gott sei Dank ein wohl-habendes Land sind und dass wir natürlich dafür sorgenmüssen, dass in dieser sozialen Marktwirtschaft, die na-türlich ökologische und ethische Komponenten brauchtund auch hat, auch das Nachfrageverhalten entsprechendgesteuert wird, sodass nachhaltige, vertretbare und gutgestaltbare Produkte und Anlageformen nachgefragtwerden.Das ist das, was der Antrag thematisiert und was so-zusagen als Idee dahintersteht. Ich wäre froh, wenn wiralle sagen würden: In diese Richtung müssen wir weiter-denken.
Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe, der wir uns in Deutsch-land stellen müssen.An dieser Stelle möchte ich sagen: Die Finanzkrise istentstanden, weil kurzfristiges Denken und profitorien-tiertes Handeln im Vordergrund standen. Ich kann nie-
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Dr. Carsten Sieling
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manden verstehen, der sagt – Kollege Flosbach und Kol-lege Schäffler haben das gemacht –: Es gibt zu vieleRegularien, hier werden zu viele Leitplanken gezogen.
Wir brauchen eine langfristige Orientierung, einelangfristige Ausrichtung, eine langfristige Politik. Dashat viel mit Nachhaltigkeit zu tun.
Diese Kriterien gehen dann auch in den sozialen, ökolo-gischen und ethischen Bereich hinein. Dabei gibt es Ver-bindungen, die auch unterstützt werden müssen.
Ich weiß ja, warum sich die Regierungskoalition im-mer so aufregt.
Denn wenn man den Nachhaltigkeitstest einmal bei denMaßnahmen, die Sie in den Raum stellen, durchführt,dann wird man feststellen, wie wenig davon vorhandenist.
Wir haben in diesem Hause viel darüber diskutiert– auch die Regierung hat lange darüber geredet –, dassdie Verbraucherseite durch Produktinformationen, Ver-triebsvorschriften und viele andere wichtige Dinge, diein dem Antrag auch genannt werden, gestärkt werdenmuss. Aber außer Papier kommt nichts dabei heraus; esfolgt kein Handeln. Dazu kann ich nur sagen: beimNachhaltigkeitstest durchgefallen.
Ebenso sind doch die Maßnahmen zur Regulierung– wir haben es jüngst diskutiert – von Ratingagenturen,Hedgefonds und anderen Dingen nicht auf Nachhaltig-keit und Langfristigkeit ausgerichtet.
Genau das, Herr Dautzenberg, brauchen wir aber.Zum Schluss möchte ich gerne sagen: Ihr Paradepferdist ja ganz plötzlich die Bankenabgabe. Auch dabei mussman vielleicht einmal den Nachhaltigkeitstest machen.Man muss sich einmal fragen, ob die Bankenabgabe ei-gentlich geeignet ist, die gewaltige Belastung der öffent-lichen Haushalte und der Steuerzahler zu mindern.
Herr Kollege!
Ich komme zum Ende. – 100 Milliarden Euro für die
HRE, 18 Milliarden Euro allein für die Commerzbank –
und Sie kommen mit einer Abgabe, die 1 Milliarde Euro
erbringen soll.
Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kom-
men.
Das ist Symbolik, das ist wirkungslos. Wir brauchen
erheblich weiter reichende Maßnahmen. Ich finde, der
Antrag spricht diese Punkte an.
Herr Kollege!
Ich teile nicht alle Aspekte des Antrags, halte das aber
für eine unterstützenswerte und richtige Diskussion. Ich
bedanke mich bei der Präsidentin für ihre Geduld und
bei Ihnen, meine Damen und Herren, fürs Zuhören.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 17/795 an die Ausschüsse zu überwei-
sen, die in der Tagesordnung vorgeschlagen sind. – Da-
mit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freie und faire Wahlen im Sudan sicherstellen,
den Friedensprozess über das Referendum
2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre
und menschenrechtliche Situation verbessern
– Drucksache 17/1158 –
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Johannes Selle für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieseninterfraktionellen Antrag zum Sudan gibt es, weil diesesLand vor einer historischen Chance steht. Nach überzwei Millionen Toten und vier Millionen Vertriebenenim Süden des Sudan – der Sudan hat insgesamt
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38 Millionen Einwohner – und einem mühevollen Pro-zess von 2002 bis 2005 in Naivasha überwanden dieBürgerkriegsparteien Feindseligkeit und Misstrauen undschlossen einen Friedensvertrag: das ComprehensivePeace Agreement.Dieser Vertrag hat es in sich; denn es geht um verab-redete Machtteilung, um Ressourcenteilung, um Grenz-ziehung in ölreichen Gebieten, um Entmilitarisierungund gesetzliche Grundlagen zur Vorbereitung der Wah-len. Dabei waren circa 40 Kommissionen und Überwa-chungsgremien zu bilden.Nach der kurzen Übergangszeit von fünf Jahren fin-den im April dieses Jahres Wahlen auf allen parlamenta-rischen Ebenen statt. Das sind acht Wahlvorgänge in ei-nem Jahr. In unserem Superwahljahr 2009 hatten wirvier Wahlen zu drei Terminen.Die Menschen stehen vor einer großen Herausforde-rung, und die Analphabetenquote ist hoch. Es wird zuRecht hinterfragt, ob die Vorbereitungen umfassend undausreichend sind. Aber ich kann Ihnen aus eigener An-schauung versichern, dass die erste Wahl nach 20 JahrenAufbruchstimmung erzeugt. Die Parteien wollen jetztdie Erfahrung einer freien Wahl machen, auch wenn dieregierenden Parteien ungleich mehr finanzielle und pu-blizistische Vorteile haben.Unser Antrag richtet sich an die Bundesregierung mitdem Ansinnen, in dieser entscheidenden Phase zusam-men mit der internationalen Gemeinschaft alles zu tun,dass diese Wahlen frei von Gewalt, unter Wahrung derVersammlungs- und Pressefreiheit und mit entsprechen-der logistischer Unterstützung stattfinden können unddas Ergebnis von den Parteien akzeptiert wird. Dennschon in einem Jahr soll in einem Referendum darüberentschieden werden, ob sich Südsudan abtrennt und ausdem Sudan zwei Staaten entstehen.Das wichtigste Überwachungsgremium ist die As-sessment and Evaluation Commission. Die Kommissionist aus Vertretern der beiden Konfliktparteien, der Unter-zeichnerstaaten und weiteren internationalen Vertreternzusammengesetzt. Sie soll die Implementierung überwa-chen und nach der Hälfte der Interimsperiode den Pro-zess evaluieren.Die Kommission hat sich entschieden, entsprechendder Bedeutung der Situation im Januar dieses Jahres eineausführliche Bewertung des CPA-Prozesses durchzufüh-ren. Der Bericht zeigt auf, was alles erreicht wurde – derFrieden hat gehalten –, aber auch, welche Mängel beste-hen.Sorgen machen die nicht abgeschlossene Grenzzie-hung, die fehlende Friedensdividende für den kleinenMann, die Vervollständigung der Entmilitarisierung, dieVorbereitung des Referendums und der Maßnahmeplanfür die Zeit nach dem Referendum.Trotz allem macht der Bericht der Kommission Hoff-nung, und er macht deutlich, dass die Zeit knapp und dieinternationale Gemeinschaft gefordert ist. Auch deshalbhaben wir diesen Antrag vorgelegt. Ein Scheitern würdedie Konflikte wieder aufflammen lassen und wahr-scheinlich ganz Afrika destabilisieren.Es ist großartig, dass dieser Vertrag geschlossen wer-den konnte, und es ist großartig, dass er bis heute gehal-ten hat. Mit dem CPA wird aber nur ein Konflikt ange-sprochen. Ungelöst sind die Krisenherde in Darfur undim Ostsudan. Mit unserem Antrag wollen wir einfordern,dass eine gesamtsudanesische Strategie notwendig ist.Das CPA könnte dabei das Modell werden, wie es auchMohamed Adam, der Generalsekretär der Übergangsbe-hörde in Darfur, vorschlägt.Ziel dieses Antrags ist außerdem, die Beachtung derMenschenrechte im Sudan zu fördern. Insbesondere Or-ganisationen, deren Ziel es ist, eine Verbesserung der Le-bensbedingungen von Minderheiten und die Einhaltungvon Menschenrechten in Darfur, aber auch im Südsudanzu bewirken, erhalten unsere volle Unterstützung.Es gilt, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein ko-härentes Konzept für den Umgang mit dem Sudan zuentwickeln, das die unterschiedlichen Rollen und Inte-ressen der Nachbarländer Sudans beachtet und die De-mokratiedefizite sowie die schwachen staatlichen Struk-turen im Sudan selbst berücksichtigt.Der Sudan ist eigentlich reich. Das größte Land Afri-kas ist neunmal so groß wie die Bundesrepublik. Es gibtWasser, Sonne, Bodenschätze und Öl. Die Chinesen ha-ben das erkannt. Sie sind präsent und nutzen die Res-sourcen des Landes. Am 1. März übergaben sie1 Million von insgesamt 10 Millionen Dollar für demo-kratische Wahlen. Der chinesische Beauftragte für denSudan erklärte, dass China mit zehn Wahlbeobachternund weiterer technischer Hilfe die Wahlen unterstützenwird.Deutschland und Europa sollten sich in Sachen De-mokratie nicht von China übertreffen lassen.
Deutschland sollte auch die Chancen einer wirtschaftli-chen Zusammenarbeit in den Blick nehmen. Deutsch-land wird zugetraut, den Aufbau fair, partnerschaftlichund ökologisch zu unterstützen.Hilfsorganisationen tragen seit Jahren dafür Sorge,dass diese für den Sudan historische Situation erfolg-reich bewältigt wird. Ich erinnere an den Appell vomJuni letzten Jahres. Im Januar 2010 hatten Amnesty In-ternational, World Vision, das Bonn International Centerfor Conversion, die Gesellschaft für bedrohte Völker,Media in Cooperation and Transition und Oxfam zu ei-ner Podiumsdiskussion zum fünften Jahrestag des CPAeingeladen. Dafür möchte ich danken. Denn der vorlie-gende gemeinsame Antrag ist auch ein Ergebnis dieserVeranstaltung. Die Fraktionen haben lange daran gefeiltund Gedanken ausgetauscht.
Ein gemeinsamer Antrag ist der sudanesischen Situa-tion angemessen. Wir haben das gemeinsame Ziel eines
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dauerhaften Friedens im Blick, und das erwarten wirauch von den Konfliktparteien.Man kann den Fortschritten misstrauen; man kann diezweifellos vorhandenen Gefahren immer wieder vor-schieben. Ich plädiere dafür, die Parteien beim Wort zunehmen und zu den noch fehlenden Vertragselementenzu ermutigen.
Wir sollten das tatkräftig unterstützen, was wir gewollthaben. Heute brauchen Afrika und der Sudan unsere Un-terstützung. Bei all den globalen Problemen, vor denenwir stehen, werden wir ziemlich bald Afrika und den Su-dan brauchen.
Für die SPD spricht der Kollege Christoph Strässer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Zunächst schließe ich michdem Dank an, den der Kollege Selle zum Ausdruck ge-bracht hat. Ich glaube, die Initialzündung für diesen An-trag ist der Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationenzu verdanken. Dass vier Fraktionen es hingekriegt ha-ben, sich fraktionsübergreifend zu verständigen, ist auchein gutes Signal. Deshalb beginne ich meine Rede auchmit einem Zitat aus einer Schrift von zehn Nichtregie-rungsorganisationen aus dem Januar:Die nächsten zwölf Monate werden für die Zukunftdes Sudans entscheidend sein. Während das Landden fünften Jahrestag der Unterzeichnung desNord-Süd-Friedensabkommens von 2005 begeht,das einen mörderischen Bürgerkrieg beendete, hatim Südsudan die Gewalt erheblich zugenommen.Im Jahr 2009 wurden rund 2 500 Menschen getötet,und 350 000 mussten fliehen. Bevorstehende histo-rische Wahlen und ein späteres Referendum werdendas brüchige Friedensabkommen auf eine harteProbe stellen. Es ist zu befürchten, dass die Gewalteskaliert – es sei denn, die dringend benötigte inter-nationale Unterstützung wird gewährt.Wegen des letzten Satzes habe ich dieses Zitat vorge-lesen; denn wir alle wissen, dass die Lage im Sudan– nicht nur im Sudan, sondern in der kompletten Region –außerordentlich fragil ist. Es gibt die eine oder anderepositive Nachricht, beispielsweise über eine angeblicheAnnährung zwischen der Zentralregierung des Sudansund dem Tschad. Es gibt Meldungen über Friedensab-kommen, die in Darfur, einer der großen Krisenregionen,zwischen der größten Rebellenorganisation und der Re-gierung geschlossen worden sind. Aber all dies ist mitVorsicht zu genießen; das wissen wir. Meldungen überFriedensabkommen aus dieser Region haben selten dieZeit überlebt, in der man in diesem Hohen Hause über-haupt darüber diskutieren konnte.Deshalb ist in dieser fragilen Situation natürlich auchdie Frage zu stellen, ob es gut und richtig ist, Wahlen an-zuberaumen. Das ist aber auch die Wahrheit, die hinterdiesem Wahlprozess steht: Wir haben über das CPA,über das Friedensabkommen zwischen Nord und Süd,gesprochen, und wir haben auch festzustellen, dass dieWahlen und das anschließende Referendum im Jahr2011 tragende Elemente und wichtige Pfeiler diesesFriedensabkommens sind. Deshalb müssen wir trotz derschwierigen Situation in den Krisenherden in Darfur, imOsten des Sudans und insbesondere im Süden klarma-chen, dass wir, der Westen, die Staatengemeinschaft, dieAfrikanische Union und alle anderen, hinter diesem Pro-zess stehen. Wir müssen die Menschen ermutigen unddürfen sie nicht erneut enttäuschen und ihnen die Frie-densdividende, die sie erwarten, nicht länger vorenthal-ten. Das ist, glaube ich, die Kernbotschaft unseres heuti-gen Antrages. Ich bin wirklich der Meinung, dass dieserAntrag eine breite Unterstützung in diesem HohenHause verdient hätte.
Wir wissen auch, wenn wir über Friedensdividendereden, was im Land wirklich los ist. In den letzten fünfJahren bin ich sechsmal im Südsudan gewesen. Wir ha-ben einfach festzustellen: Der Fortschritt ist dort langsa-mer als eine Schnecke. Wir wissen, dass fast jederzweite Mensch im Südsudan keinen Zugang zu Wasserhat. Es gibt dort keine funktionierende Infrastruktur.Hunger, Elend und Gewalt bestimmen nach wie vor denAlltag. Deshalb mehren sich ja nun auch die Stimmen,die die Frage stellen, ob es unter diesen Umständenwirklich sinnvoll ist und einen Fortschritt bedeutet, hierWahlen abzuhalten.Ich habe es eben schon gesagt: Eine Botschaft vonhier, von den Vereinten Nationen und anderen Institutio-nen, diese Wahl jetzt, wenige Wochen, bevor sie stattfin-den soll, abzubrechen, wäre trotz all der Schwierigkeitendas absolut falsche Signal. Es gibt dort viele Menschen,gerade junge Leute, die noch nie in ihrem Leben wählenkonnten, die noch nie über ihre eigene Zukunft mitbe-stimmen konnten. Sagten wir ihnen, weil es schwierigist, helfen wir euch nicht, enttäuschten wir diese jungenLeute und verspielten ihre Zukunft. Das kann und darfan dieser Stelle nicht sein.Wir haben – das ist der einzige Punkt, bei dem ichauch etwas größere Kritik an den Formulierungen imAntrag habe – mittlerweile gehört, dass der amtierendePräsident des Sudans, Herr Baschir, Wahlbeobachterndie Einreise verweigern und sie des Landes verweisenwill. Das muss man hier zur Kenntnis nehmen. Ich bindefinitiv der Meinung – ich kritisiere die Nachgiebigkeitan diesem Punkt –, dass die internationale Staatenge-meinschaft, die im Weltsicherheitsrat den Auftrag erteilthat, zum Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts-hofs gegen Herrn Baschir stehen muss.
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Christoph Strässer
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So schwierig das außenpolitisch ist – ich weiß, dass dieGespräche sehr schwierig sind –: Es kann nicht sein,dass Herr Baschir – er leugnet alles, weist alles von sichund schiebt anderen die Schuld zu – bei der ersten Be-währungsprobe des Internationalen Strafgerichtshofes –zum ersten Mal gibt es einen Haftbefehl gegen einen am-tierenden Staatspräsidenten – ungeschoren davonkommt.Das wäre eine Niederlage für den internationalenRechtsschutz; das kann sich die internationale Staaten-gemeinschaft nicht leisten. Deshalb geht es darum, wei-terhin den Wahlprozess zu forcieren, aber auch alle Mit-tel und Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit dasinternationale Recht bei Herrn Baschir angewendet wer-den kann.
Wir sollten an dieser Stelle der Auseinandersetzungauf das CPA zurückkommen, das Abkommen, das die-sen Konflikt regelt. Viele von uns – Kollege Fischer warauch dabei – waren im Jahr 2004 im Sudan. Damals wa-ren wir der Meinung, in jenem Jahr würde in Naivashader Prozess beendet und das Abkommen unterschrieben.Wir waren bereit, einen Bus zu chartern und dorthin zufahren, um das zu feiern und die Menschen zu beglück-wünschen. 2004 hat es nicht geklappt; aber das machtnichts. 2005 ist es dann zum Abschluss des Vertrages ge-kommen.Man sollte zwei Feststellungen machen:Erstens. CPA, das umfassende Friedensabkommen,hat seine Mängel. Es hat strukturelle Mängel: Beispiels-weise haben nur zwei große Konfliktparteien verhandelt,auf der einen Seite die herrschende Partei NCP im Nor-den, auf der anderen Seite die Befreiungsbewegung desSüdens. Viele kleinere Gruppen, zivile Gruppen, warennicht daran beteiligt.Zweitens. In der Konsequenz handelte es sich nur umeine Befriedung des Nord-Süd-Konflikts; der Konflikt inDarfur wurde nicht geregelt, nicht gelöst, der Zustand imOsten ist sehr fragil.Man muss also bei der Bewertung dieses Friedensab-kommens vorsichtig sein. Viele Menschen, die dortarbeiten, vertrauen aber auf die Wirkung dieses Vertrags-werkes. Ich möchte etwas überspitzt zum Friedenspro-zess im Sudan, insbesondere zum Konflikt zwischen Südund Nord, sagen – in Abänderung eines Zitats von WillyBrandt; irgendwie finde ich den Vergleich zutreffend –:Dieser Friedensschluss, dieses umfassende Friedensab-kommen ist nicht alles; aber ohne diesen Friedenschlusswäre alles nichts. Das sollten wir bedenken. Wir müssendie Sudanesen unterstützen, damit der Friedensprozessgelingt. Ich finde es ganz wichtig, dass sich die interna-tionale Staatengemeinschaft einmischt, dass sie insbe-sondere – das hat Gerhart Baum in einem Interview inder heutigen Financial Times Deutschland bekräftigt –die Forderung nach einer UN-Konferenz zum Sudanendlich umsetzt, um einen umfassenden Friedensprozesszu gewährleisten.Ich schließe mit einem Zitat derselben Nichtregie-rungsorganisation, die ich schon zu Beginn meiner Redezitiert habe:Die Bevölkerung im Südsudan hat außergewöhnli-che Ausdauer bewiesen, als es darum ging, nachden Kriegsjahrzehnten neu anzufangen. Wenn dieMenschen Hoffnung auf eine Zukunft haben sollen,benötigen sie dringend spürbare Entwicklungsfort-schritte und Schutz vor Gewalt. Der Sudan steht vorvielen miteinander verknüpften Herausforderungen,die jedoch gemeistert werden können, wenn die in-ternationale Gemeinschaft jetzt handelt.Ich hoffe und wünsche, dass heute vom Bundestag fürdiese Handlungsfähigkeit ein deutliches Signal ausgeht.Herzlichen Dank.
Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst einmal möchte auch ich einen Dankvorausschicken. Ich denke, wir haben sehr konstruktiveAntragsberatungen erlebt. Dafür gilt mein Dank den be-teiligten Fraktionen. Ich danke aber auch den NGOs– manche sind heute auf der Tribüne vertreten –, die sichso engagiert beteiligt haben und wichtige Informations-geber waren.
Außerdem freue ich mich, dass ich gestern im Aus-wärtigen Ausschuss vernommen habe: Auch die Bun-desregierung begrüßt diesen Antrag vollumfänglich. Ichfreue mich noch mehr, wenn ich sehen kann, dass unsereBundesregierung die Forderungen dieses AntragesSchritt für Schritt umsetzt. Da setze ich große Hoffnun-gen auf Staatsministerin Cornelia Pieper, Dirk Niebelund natürlich auch den Außenminister.
Mit dem interfraktionellen Antrag senden wir ein sehrstarkes Signal, was die Wahlen betrifft; das ist heuteschon angesprochen worden. Es geht darum, dass freieund faire Wahlen stattfinden. Diesbezüglich haben wir inunseren Antrag verschiedene Forderungen aufgenom-men: Es muss Wahlbeobachter geben. Bei der Vorberei-tung der Wahlen ist logistische Unterstützung erforder-lich. Wichtig ist auch, dass sowohl die Konfliktparteienals auch die politischen Parteien alles in ihrer Macht Ste-hende tun, vor Ort für gewaltfreie und faire Wahlen zusorgen.Der Antrag legt den Fokus aber auch auf die kritischePhase danach und auf die Abstimmungen, die 2011 beim
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Marina Schuster
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Referendum stattfinden werden. Das ist sozusagen dasHerzstück des Antrages. Wir wissen nicht, wie das Refe-rendum ausgehen wird, wie sich die Bürgerinnen undBürger entscheiden werden. Aber eines ist klar: DieKonfliktparteien müssen mit Unterstützung der interna-tionalen Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass es nichtzu einem neuen Krieg kommt. Das heißt, es muss klareVorgaben für den Fall geben, dass sich der Südsudan füreine Abspaltung entscheidet. Es muss geregelt werden,wie es dann in Bezug auf die Staatsangehörigkeit und dieAufteilung der Öleinnahmen weitergeht. Ich denke, esist eine ganz, ganz wichtige Forderung, dass das im Rah-men der Konferenz umgesetzt wird.Der Antrag nimmt sich aber nicht nur des Konflikteszwischen Nord und Süd an, sondern auch der anderenRegionen. Denn vieles ist miteinander verwoben undhängt voneinander ab. Die entscheidende Frage ist: Sinddie jeweiligen Regionen und die jeweiligen Stämme ge-nügend eingebunden? Haben sie ihren Anteil an der poli-tischen Mitwirkung und an der Wirtschaftsentwicklung?Ohne die Einbindung der Zivilgesellschaft vor Ort istkein tragfähiger Frieden möglich.
Auch dürfen wir nicht die unterschiedlichen Rollender Nachbarstaaten außer Acht lassen, die mit sehr ver-schiedenen Agenden ihre eigenen Interessen in den Vor-dergrund stellen. Nach wie vor sehe ich die Gefahr einesFlächenbrandes. Deshalb ist auch die Berücksichtigungder Interessen der Nachbarländer als Forderung in unse-rem Antrag enthalten. Denn man kann den Sudan nichtlosgelöst von den Problemen der Nachbarn sehen.Zwei Punkte möchte ich noch erwähnen. Wir werdennatürlich Debatten zu den Mandaten UNAMID undUNMIS führen; sie werden im Sommer kommen. Ichhabe bei der ersten Mandatierung von UNAMID schondavor gewarnt, die Gegebenheiten vor Ort falsch einzu-schätzen. Erst wurde laut nach dem UN-Hybrid-Mandatgerufen, und dann standen die Truppen auf verlorenemPosten, ohne volle Truppenstärke und ohne ausreichendeTransportkapazitäten. Ich denke, wir tun gut daran, wennwir uns im Rahmen der Vereinten Nationen wirklich füreine Anpassung der Mandate an die Gegebenheiten vorOrt einsetzen.
Das Gleiche betrifft das UNMIS-Mandat. Wir legenden Fokus auf die Konfliktprävention. Ein Schlüsseldazu ist die Polizeiausbildung im Rahmen des Mandates,die wir verstärken möchten.Ich komme zum letzten Punkt des Antrages, zu denMenschenrechten. In einer wegweisenden Entscheidunghat der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafge-richtshof mandatiert, Kriegsverbrechen im Sudan zu ver-folgen. Für mich ist vollkommen klar, dass es – das ha-ben wir auch im Koalitionsvertrag niedergeschrieben –keine Kultur der Straflosigkeit geben darf. Die massivenMenschenrechtsverletzungen müssen geahndet werden,und deswegen unterstützen wir die Haftbefehle gegenBaschir, Kony und Weitere, die angeklagt sind.
Baschir hat in einem Interview im Spiegel erklärt,dass der Haftbefehl seine Popularität gesteigert habe.Diese persönliche Schlussfolgerung darf uns nicht be-irren.
Wir dürfen nicht zulassen, dass der Internationale Straf-gerichtshof belächelt oder seine Autorität untergrabenwird. Es ist an uns, geschlossen gegen Kriegsverbrechenund Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzutretenund die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Ich komme zum Schluss. Mit dem Antrag, der heutevorliegt, halten wir Wort. Wir haben bei der Podiumsdis-kussion am 7. Januar das Versprechen gegeben, uns zueinem interfraktionellen Antrag zusammenzufinden, undwir haben unser Versprechen gehalten. Wir tun mit die-sem Antrag aber noch viel mehr: Wir beweisen den hoff-nungsvollen Menschen im Sudan, dass wir ihre Unter-stützer sind auf einem Weg zu einem Leben in Frieden,Freiheit und Menschenwürde.Vielen Dank.
Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Es ist heute schon deutlich geworden: Bei dem Sudanhandelt es sich um eines der ärmsten Länder der Erde.Laut einem Bericht von Nichtregierungsorganisationenhat im Südsudan weniger als die Hälfte der BevölkerungZugang zu Trinkwasser; jedes siebte Kind stirbt vor demsechsten Lebensjahr. Es ist also dringend notwendig, inGesundheit, in Bildung und in den Zugang zu sauberemWasser zu investieren,
und zwar nachhaltig; denn die häufig geleistete Nothilfeist selten entwicklungsorientiert. Sie trägt vielmehr dazubei, die lokale Selbstversorgung zu behindern.Allerdings ist die Art, wie man sich hierzulande mitdem Sudan beschäftigt, höchst bedenklich; denn dabeigeht es weniger um die Herstellung von sozialer Sicher-heit als vielmehr um die Vorbereitung auf die Abspal-tung des ölreichen Südsudan vom Norden.
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Niema Movassat
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Das Friedensabkommen sieht zwar ein Referendum überdie Frage „Abtrennung oder Autonomie?“ vor, betontaber ausdrücklich, dass die Einheit des Sudan attraktivgemacht werden soll, auch weil eine Abtrennung die Ge-fahr eines neuen Krieges um die Ölressourcen birgt.In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren nichts ge-schehen. Im Gegenteil: Wenn die GTZ im Südsudan einProgramm zum Staatsaufbau durchführt, wenn sie Stra-ßen baut, die den Südsudan vor allem mit Kenia anstattmit der Hauptstadt Khartoum verbindet, und wenngleichzeitig der Nordsudan in der Entwicklungszusam-menarbeit vernachlässigt wird, dann trägt Deutschlanddazu bei, dass die Abspaltung vorangetrieben wird.
Wozu das alles? Damit Deutschland und die EU besteKontakte zur zukünftigen südsudanesischen Regierungaufbauen und damit das notwendige Klima dafür ge-schaffen wird, dass deutsche und europäische Firmenbeim künftigen Poker um Aufbauverträge und Erdöl aufder Gewinnerseite stehen.
So hat heute in Berlin ein Planspiel des Afrika-Vereinsder deutschen Wirtschaft stattgefunden – und zwar in ei-ner Einrichtung des Verteidigungsministeriums –, Titel:„The Day After – Planspiel für Unternehmer in Konflikt-regionen“. Ziel des Planspiels ist es, am Beispiel des– Sie ahnen es – Südsudan die Handlungsmöglichkeitendeutscher Unternehmen bei kriegerischen Auseinander-setzungen zu diskutieren.
Deutschland trägt also zur Abtrennung bei und plantschon jetzt die Beteiligung deutscher Firmen an sich er-gebenden zukünftigen Geschäftsmöglichkeiten.
Das ist geschmacklos und kommt Naomi Kleins Schock-strategie gefährlich nahe.
Diese neokolonialistische Herangehensweise schlägtsich auch in Ihrem Antrag nieder;
denn Sie schreiben, dass im Rahmen einer Sudan-Konfe-renz ein größtmöglicher Konsens zwischen der EU, denUSA, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga undChina über die zentralen politischen Ziele hergestelltwerden soll. Dreimal dürfen Sie raten, wer bei dieserAufzählung fehlt: Die dann neugewählte sudanesischeRegierung und damit die sudanesische Bevölkerung.Wie wäre es, sie zu fragen, was ihre zentralen politi-schen Ziele sind?
Ich finde in Ihrem Antrag auch keinerlei Kritik an derAufrüstung und Ausbildung südsudanesischer Milizendurch Kenia und Äthiopien, obwohl diese Aufrüstungdem Friedensabkommen widerspricht und obwohl – odergerade weil – Äthiopien wichtigster Partner Deutschlandsin der Region ist.
Herr Movassat, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schuster zulassen?
Nein, ich möchte meine Rede gern zu Ende führen.
Ein letzter Punkt. Im Rahmen von UNMIS wollen Sie
die Polizeiausbildung personell und materiell intensivie-
ren. Sie waren doch bei dem Treffen mit den Nichtregie-
rungsorganisationen hier im Bundestag und haben ihre
Kritik an diesem Programm gehört: Die Polizeiausbil-
dung stärkt vor allem eine bestimmte Bevölkerungs-
gruppe im Südsudan und stellt somit ein Potenzial für
zukünftige Spannungen dar. Die Mehrzahl der Polizisten
in spe kann außerdem weder lesen noch schreiben. Hier
muss man ansetzen; sonst hat man schlechte Vorausset-
zungen für eine an Rechtsstaatlichkeit gebundene Poli-
zei.
Alles in allem haben wir es mit einem Antrag zu tun,
der wieder einmal vorgibt, Frieden und Entwicklung
durch Militärmissionen zu erreichen, und durch den der
deutsche Einfluss im Südsudan sichergestellt werden
soll. So einem Antrag wird die Linke auf keinen Fall zu-
stimmen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Kerstin Müller für Bündnis 90/Die Grü-nen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich will zunächst einmal sagen, dass ich es sehr be-grüße und mich freue, dass es gelungen ist, einen inter-fraktionellen Antrag einzubringen; denn dieses Themaist wichtig. Dieser Antrag beinhaltet einen klaren Ar-beitsauftrag an die Bundesregierung. Die Sudankrise istnicht irgendeine Krise; ihre Überwindung stellt eine dergrößten außenpolitischen und menschenrechtlichen He-rausforderungen dar. Das muss in der künftigen Außen-politik stärker deutlich werden.Ich finde es bedauerlich, dass die Linke nicht einge-bunden war. Ich fände es gut, wenn die Union ihre Posi-tion an dieser Stelle überdenken würde. So vorzugehen,wie sie es tut, ist politisch einfach nicht klug.
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Kerstin Müller
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Herr Kollege Movassat, anhand Ihres Beitrags undauch im Ausschuss durch Herrn van Aken ist klar ge-worden, dass Sie an einer bestimmten Stelle ausgestie-gen wären, nicht zuletzt wegen UNMIS und UNAMID.Das, was Sie hier deutlich gemacht haben, zeigt, dassIhre Position zu den Mandaten außenpolitisch schlicht-weg abenteuerlich ist.
Wenn Sie einen Einsatz, der nachweislich zur Stabili-sierung der Lage im Südsudan entscheidend beigetragenhat und zu dem Deutschland Beobachter und zivile Mit-arbeiter, die unter größten Anstrengungen ihren Beitragleisten, entsendet, als Kampfeinsatz bezeichnen, dann istdas einfach nur abenteuerlich und außenpolitisch nichtseriös. Sie stellen sich damit ins Abseits. Ich glaube, dieKlugen bei Ihnen wissen das. Sie werden da sicherlichzu einer Veränderung ihrer Position kommen; denn sonstbrauchen Sie sich an dieser Stelle gar nicht mehr einzu-mischen.
Gerade jetzt, im letzten Jahr der Umsetzung des CPA,muss deutlich werden, dass wir es ernst meinen mit derKrisenprävention und der internationalen Schutzverant-wortung, der R2P, gegenüber den Menschen im Sudan.Ein solches Signal ist bitter nötig; denn der Sudan stehtam Scheideweg, zum einen wegen der Wahlen im April,zum anderen wegen des Referendums im nächsten Jahr.Der Friedensprozess ist ins Stocken geraten. Wenn dasCPA auf den letzten Metern scheitert, dann könnte derSudan erneut zum größten Katastrophenfall Afrikas wer-den, und zwar mit einem neuen Krieg, der das gesamteHorn von Afrika mit in den Abgrund zieht und der Fol-gen für Europa und Deutschland hätte.Die Wahlen im April sind in Gefahr, weil die al-Ba-schir-Partei durch Tricksereien, falsche Wahlregister undrepressive Sicherheitsgesetze keinen fairen Wahlkampfund keine freie Wahlen zulässt. Wer diese Problemebeim Namen nennt, dem droht al-Baschir mit Raus-schmiss. Sie haben alle das Zitat gelesen: „Wenn sichandere in unsere Angelegenheiten einmischen, dannwerden wir ihnen die Finger abschneiden und sie unterunseren Schuhen zerquetschen.“ Das ist eine unakzep-table Äußerung des Präsidenten al-Baschir. Wir werdennicht zulassen, dass die Wahlen eine Wahlshow für al-Baschir werden, aus der er wieder Legitimation ziehenwill. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts-hofs gegen ihn bleibt bestehen. Er muss sich Den Haagstellen. Das machen wir alle gemeinsam mit diesem An-trag noch einmal deutlich.
Die Wahlen sind aber nur der Auftakt. Die eigentlicheZäsur, und zwar für ganz Afrika, steht mit dem Referen-dum bevor. Es wird wahrscheinlich zum ersten Mal pas-sieren, dass sich die postkolonialen Grenzen durchAbstimmung verändern. Die Frage ist, ob das die Ge-burtsstunde eines neuen Failing State ist, und zwar mitdramatischen Folgen, oder ob es die Chance auf einefriedliche Abspaltung gibt.Ich glaube, nichts wird gut sein im Sudan, wenn wiruns jetzt nicht intensiv engagieren, wenn es nicht einegroße internationale Kraftanstrengung gibt. Genau des-halb fordern wir eine UNO-Konferenz zum Thema Su-dan, bei der alle an einem Strang ziehen. Die Europäi-sche Union, die UNO, China, aber auch die ArabischeLiga und die AU müssen eingebunden werden; das istdie Lehre aus dem CPA. Das CPA kam nach mehr als25 Jahren Bürgerkrieg zustande, weil alle an einemStrang gezogen haben, weil man Druck auf die Konflikt-parteien ausgeübt hat. Es müssen jetzt genauso großeAnstrengungen unternommen werden, eine Sudan-Kon-ferenz durchzuführen, damit dort ein Fahrplan zur Bear-beitung der strittigen Fragen ausgearbeitet werden kann,und zwar für die Zeit vor und nach dem Referendum.Wenn diese Konferenz nicht zustande kommt, dann be-steht die große Gefahr, dass ein Krieg ausbricht, und denmüssen wir unbedingt verhindern.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende bitte.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich komme zum Schluss. – Bei der Sudan-Krise reicht
es nicht aus, bloß mitzuschwimmen, sondern wir müssen
zeigen, dass wir es mit der Krisenprävention ernst mei-
nen. Das ist der wichtige Arbeitsauftrag an die Bundes-
regierung. Sie können sicher sein, dass wir Sie an diesem
Auftrag messen und dieses Thema immer wieder auf die
Tagesordnung setzen werden.
Frau Kollegin.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Wir haben ein großes außenpolitisches Interesse da-
ran, einen neuen Krieg im Sudan zu verhindern.
Vielen Dank.
Hartwig Fischer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-tion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3219
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein herzliches Dankeschön an alle, die durch die Mitar-
beit an diesem Antrag gezeigt haben, dass sie es mit dem
Frieden für den Sudan ernst meinen.
Wir haben eine Chance. Ob diese Chance aber Reali-
tät wird, hängt auch davon ab, wie man sich als Parla-
ment international präsentiert, ob man diese Chance
ernst nehmen will und was man aus dieser Chance
macht. Die Menschen dort sind geschunden. Ich kann
nur sagen: Herr Movassat, was Sie hier gesagt haben,
grenzt an Realitätsverweigerung. Hier sind Kollegen,
auch aus Ihrer Fraktion, die Menschen haben sterben se-
hen. Herr Leutert war mit in Darfur und hat miterlebt,
was dort mit den Menschen vorgeht. Herr Leutert aus Ih-
rer Fraktion weiß, dass die Helfer ohne UNAMID und
ohne UNMIS überhaupt keine Chance hätten, den Men-
schen dort zu helfen. Ich finde es deprimierend, wenn
dennoch von Neokolonialismus gesprochen wird.
Sie zeigen hier auf, dass die Hälfte der Menschen im
Südsudan keinen Zugang zu Wasser hat, verweigern sich
aber der Realität, dass über 400 000 südsudanesische
Flüchtlinge in den vergangenen anderthalb Jahren aus
Kenia und aus Uganda in den Südsudan zurückgekehrt
sind. Unter anderem hat dies die GTZ möglich gemacht,
weil sie eine Infrastruktur für diese Rückkehrer aufgebaut
hat, weil sie Wasserlöcher gebohrt und den Menschen
eine Chance gegeben hat, aus den Flüchtlingslagern in
ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Auch das wäre ohne
eine entsprechende Hilfestellung der UN nicht möglich
gewesen.
Auch bei dem Wahlprozess stehen wir in der Verant-
wortung, auch wenn wir das in den Antrag nicht expres-
sis verbis aufgenommen haben; denn es muss auch di-
plomatische Auseinandersetzungen geben. Al-Baschir
ist ein Straftäter, auf den ein internationaler Haftbefehl
ausgestellt ist. Dies muss man in einer Debatte offen sa-
gen. Das muss auch für die Zukunft gelten; sonst glau-
ben Machthaber, einen Freibrief für Völkermord zu ha-
ben, wie wir ihn an vielen Stellen auf dieser Erde immer
wieder erlebt haben.
Wenn wir diesen Friedensprozess und auch den Wahl-
prozess im Sudan vorantreiben wollen, dann dürfen wir,
die Weltgemeinschaft, nicht zulassen, dass Wahlbeob-
achter aus diesem Land vertrieben werden. Wir wissen,
dass die Wahlvorbereitungen einigermaßen anständig
abgelaufen sind. Aber die letzten Tage müssen genutzt
werden, um die deutliche Aufbruchstimmung, die es in
der Bevölkerung gibt, zu unterstützen und dafür zu sor-
gen, dass die Menschen über diese Wahlen eine Chance
bekommen.
Unser Außenministerium und unser Entwicklungs-
ministerium müssen sich darauf vorbereiten, dass wir,
wenn dieser Wahlprozess in einer vernünftigen Form ab-
läuft und sich dann eine Regierung bildet, dazu beitra-
gen, dass dort in Zukunft ein Aufbau erfolgt. Das heißt,
Herr Movassat, dass wir den Aufbau nicht nur über Ent-
wicklungszusammenarbeit organisieren; vielmehr müs-
sen wir als Deutsche ein Interesse daran haben, dass es
Unternehmen gibt, die bereit sind, dort partnerschaftlich
aufzubauen. Man muss diesem Land beim Übergang
vom informellen zum formellen Sektor helfen, um den
Menschen im Sudan eine nachhaltige Teilhabe zu er-
möglichen.
Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen im
Südsudan, in Darfur oder in anderen Regionen handelt.
Der nächste Schritt wird dann sein, dass sich dieses
Volk eigenständig auf der Grundlage von Regeln, die
man getroffen hat, entscheidet, ob es sich teilt oder ob es
sich nicht teilt. Diese Entscheidung wird nicht in interna-
tionalen Gremien getroffen,
sondern durch ein Referendum. Wenn diese Entschei-
dung getroffen ist, geht es darum, entweder einem oder
zwei sudanesischen Staaten eine Friedensdividende zu
geben. In diesem Sinne bitte ich Sie alle – ich fordere die
Linke auf, dem Appell von Herrn Movassat nicht zu fol-
gen –, für Frieden und Gerechtigkeit im Sudan zu stim-
men.
Ich beende die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/1158 mit dem Titel „Freieund faire Wahlen im Sudan sicherstellen, den Friedens-prozess über das Referendum 2011 hinaus begleiten so-wie die humanitäre und menschenrechtliche Situationverbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag ange-nommen bei Zustimmung durch die einbringenden Frak-tionen. Die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt.Enthaltungen gab es keine.Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a und bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBeckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDMobilität nachhaltig gestalten – ErfolgreichenAnsatz der integrierten Verkehrspolitik fort-entwickeln– Drucksache 17/1060 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss
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3220 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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b) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedHermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMit grüner Elektromobilität ins postfossileZeitalterDrucksache 17/1164 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusZwischen den Fraktionen ist verabredet, eine halbeStunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Bald istes so weit: Die Osterferien kommen auch für uns näherund mit ihnen zahlreiche Staus auf unseren Straßen. Ki-lometerlang rollen gewaltige Blechlawinen – meist genSüden –, und so mancher Urlaub beginnt mit Stress. Vonder erhofften Erholung sind die, die im Stau stehen, imwahrsten Sinne des Wortes kilometerweit entfernt.Was wir wollen, ist, schnell, bequem und sicher sowiepreisgünstig von A nach B zu kommen. Unsere Wirt-schaft braucht für eine immer spezialisiertere, hoch-arbeitsteilige Produktion Rohstoffe und Fertigteile justin time in ganz Europa. Eine gut ausgebaute Infrastruk-tur ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für einefunktionierende Wirtschaft.
Die Globalisierung hat die Fahrstrecken verlängert.Diese von uns allen gewollte Mobilität aber hat ihrenPreis, nicht nur in Form von Tarifen und Treibstoffkos-ten, sondern auch in Form von Verkehrslärm, Luftver-schmutzung, Flächenverbrauch und Zerschneidung vonStädten und Landschaften. Der Energieverbrauch, dermit der Verkehrsleistung verbunden ist, verursacht er-hebliche Umweltbelastungen. So geht ein Fünftel allerCO2-Emissionen auf das Konto des Verkehrs.Wir stehen vor der Herausforderung, Mobilität zu er-möglichen, gleichzeitig aber die Belastung für Men-schen und Umwelt zu senken. Die Bewältigung derkünftig noch wachsenden Verkehrsprobleme setzt eineintegrierte Verkehrspolitik voraus.
Teillösungen und das Fokussieren auf einzelne Verkehrs-träger sind der falsche Weg. Nötig ist eine zukunftsfä-hige Verkehrspolitik aus einem Guss.
Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen ha-ben dies bereits früh erkannt und haben schon im Jahr1999 im SPD-geführten Bundesministerium für Verkehr,Bau und Wohnungswesen eine Arbeitsgruppe „Inte-grierte Verkehrspolitik“ einberufen, die das damals nochneuartige Konzept in einem breiten Dialog weiterentwi-ckeln sollte. Im Verkehrsbericht 2000 und im Rahmender Mobilitätsoffensive des damaligen BundeskanzlersGerhard Schröder im Jahr 2002 wurde diese Integra-tionsidee aufgegriffen und zur Grundlage unseres Regie-rungsarbeitens in den vergangenen Jahren gemacht.Die zentrale Aufgabe einer nachhaltigen, integriertenVerkehrspolitik ist es, die gesellschaftlich notwendigeMobilität möglichst umweltverträglich zu gestalten. Die-ser Ansatz hat nicht nur eine bessere Vernetzung der ein-zelnen Verkehrsträger zum Ziel, sondern muss auch diestädtebauliche Entwicklung berücksichtigen.Meine Herren und Damen von der Regierungs-koalition, Sie können froh sein, dass Sie mit dernationalen Stadtentwicklungspolitik, dem Programm derStädtebauförderung, dem Investitionspaket und demProgramm zur energetischen Gebäudesanierung wir-kungsvolle Instrumentarien zur Gestaltung der Zukunfts-aufgaben in unseren Städten und Gemeinden von IhremVorgänger übernehmen konnten.
Ich hoffe, Sie wissen dies auch zu schätzen. Zumindesthaben Sie den Haushaltsentwurf von Herrn Tiefensee beider Städtebauförderung fast – aber leider eben nur fast –unverändert übernommen.Dennoch frage ich mich: Wo sind Ihre neuen Im-pulse? Sie schreiben in Ihrem Koalitionsvertrag, dass dieHinterlassenschaften von Rot-Grün in der Verkehrspoli-tik endgültig der Vergangenheit angehören.
Wie sieht Ihre neue Verkehrspolitik aus? Das würde ichgerne wissen. Ein planvolles Handeln kann ich nicht er-kennen.
Wir fordern Sie auf, endlich ein Gesamtkonzept vor-zulegen. Wie zum Beispiel wollen Sie die Herausforde-rungen eines wachsenden Güterverkehrs bewältigen?Wir hören immer, dass Sie die Verlagerung auf dieSchiene wollen. Aber wie? Indem Sie die Bahn aushun-gern? Um die Maßnahmen umzusetzen, die bereits imvordringlichen Bedarf stehen, werden jährlich 1,8 Mil-liarden Euro benötigt. Tatsächlich stehen der Bahn nachden Planungen des Bundesverkehrsministers in denkommenden Jahren jährlich 600 Millionen Euro wenigerzur Verfügung.Der Bahnchef persönlich ist mit Mitgliedern des Ver-kehrsausschusses die sogenannte Streichliste durchge-gangen und hat erklärt, was kommt, was vielleichtkommt und was mit der Politik der schwarz-gelben Bun-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3221
Kirsten Lühmann
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desregierung gar nicht kommen kann. Dabei konnte manfeststellen, dass zum Beispiel die Y-Trasse nicht finan-ziert ist und bei den geplanten Transaktionsvoluminaauch nicht finanzierbar ist. Wie soll da der Güterverkehrauf die Schiene gebracht werden? Das müssen Sie mirbitte erklären.
Gleichzeitig kürzen Sie die Mittel für den kombinier-ten Verkehr um 64 Millionen Euro. Das bedeutet, dass indiesem Bereich mehr als die Hälfte der Zuschüsse für In-vestitionen privater Unternehmen gestrichen wird, unddies in einem Jahr, in dem die Branche nach der Wirt-schaftskrise wieder Fuß fassen will. Damit lassen SieUnternehmen mit ihren Logistikproblemen im Stich. Sieenthalten der Bahn wichtige Neukunden für den Güter-verkehr vor.Ihr Vorhaben, verkehrsträgerbezogene Finanzkreis-läufe zu stärken, bedeutet konkret, dass die Lkw-Mautnur noch in den Erhalt und den Ausbau der Straße flie-ßen soll und dass damit die Weiterentwicklung derSchienen- und Wasserwege geschwächt wird. Das heißtdoch, dass Sie vorne Löcher stopfen, indem Sie hintenneue, größere Löcher aufreißen. Meine Frage ist: Wobleibt der Blick auf das Ganze?
Wir möchten, dass der unter der rot-grünen Bundesre-gierung angestoßene Prozess zur Entwicklung eines Ge-samtkonzepts für eine integrierte Verkehrspolitik konse-quent fortgeführt und weiterentwickelt wird.
Nur damit werden wir einem zukunftsfähigen Verkehrs-system gerecht. Damit befasst sich unser Antrag, in demwir unsere Forderungen an die Bundesregierung in elfPunkten zusammengefasst haben.Wir fordern Sie auf, der zentralen Rolle des Ausbausund der Optimierung des umweltfreundlichen Verkehrs-trägers Schiene gerecht zu werden. Dazu bedarf es einesumfassenden, transparenten und langfristig stabilen Fi-nanzierungskonzeptes. Außerdem beantragen wir, dassSie für die ehemalige Gemeindeverkehrsfinanzierungein Konzept für die Förderung des ÖPNV vorlegen.In Ihrer Koalitionsvereinbarung bekennen Sie sichzum öffentlichen Personennahverkehr als unverzichtba-rem Bestandteil der Daseinsvorsorge auch in der Fläche.Dann sagen Sie aber bitte auch, was Sie dafür tun wol-len. Ihr Bekenntnis wird zur leeren Sprechblase, wennSie zugleich ankündigen, dass Sie den kommerziellenVerkehr vorrangig bedienen wollen. Sorgen Sie dafür,dass die Wettbewerbsbedingungen im öffentlichen Nah-verkehr und vor allem die Gestaltungsspielräume derKommunen so ausgestaltet werden, dass sich Mobilitätnicht zu einem Exklusivprodukt entwickelt.
Mobilität muss bezahlbar bleiben, auch im ländlichenRaum. Nur auf diese Weise können sich Menschen wirk-lich an der Arbeitswelt, an Bildung und Kultur sowie amGesellschaftsleben insgesamt beteiligen. Wir forderndazu auch barrierefreie Mobilität. Bedürfnisse von be-hinderten Menschen, von Familien und von älteren Bür-gern und Bürgerinnen müssen Bestandteil der Stadtent-wicklung und der Verkehrspolitik sein.Wir wollen ein Konzept für die aussterbenden Städteim Osten wie im Westen. Der demografische Wandelsitzt uns im Nacken, und alles, was Sie machen, ist ab-warten und an den falschen Stellen sparen.
Sie machen Klientelpolitik zulasten der Menschen,zulasten einer zukunftsorientierten Mobilität, zulastenvon Umwelt und Natur und zulasten von Arbeitnehmen-den in wichtigen Bereichen von Transport und Logistik.Das lehnen wir ab. Ich hoffe, dass Sie in den Beratungendes Antrages den nötigen Mut aufbringen und sich unse-ren Vorschlägen anschließen, damit Mobilität inDeutschland nachhaltig gestaltet wird und der erforderli-che Ansatz der integrierten Verkehrspolitik weiterentwi-ckelt werden kann.Herzlichen Dank.
Frau Lühmann, hier im Haus war das Ihre erste Rede.
Dazu gratulieren wir Ihnen alle herzlich und wünschen
für Ihre Arbeit Erfolg.
Der nächste Redner ist der Kollege Gero Storjohann
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Sozialdemokraten vollführen mit ihrem An-trag heute einen verkehrspolitischen Rundumschlag.
Bei der Lektüre stößt man auf viele schöne Worte undeine Vielzahl von Allgemeinplätzen.
Zur Verdeutlichung möchte ich gerne einiges zitieren:„Mobilität … hat einen sehr hohen Stellenwert in unse-rer Gesellschaft“, heißt es dort. Dem stimmen wir allehier sicherlich uneingeschränkt zu. Sie machen weiter-hin aufmerksam auf negative Folgewirkungen des Ver-kehrs: auf Lärm, Luftverschmutzung, Benzinkosten fürden Einzelnen, Flächenverbrauch.
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3222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Gero Storjohann
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Auch hier sind wir Verkehrspolitiker uns eigentlich alleeinig.
Schließlich leiten Sie daraus eine Schlussfolgerung ab:Die strategische Ausrichtung einer zukunftsfähigenVerkehrspolitik muss „aus einem Guss“ erfolgen.Das nennen Sie dann integrierte Verkehrspolitik.Wir brauchen in der Tat ein verbessertes Gesamtver-kehrssystem. Dafür zu sorgen, ist die ständige Aufgabevon uns Verkehrspolitikern und der Politik allgemein.Ich nehme stark an, dass darüber in allen Fraktionen Ei-nigkeit besteht. Was soll mit diesem Antrag also erreichtwerden? Sie bleiben im Allgemeinen; Sie verweisenwiederholt auf längst bekannte Handlungsfelder; Sie bie-ten nicht unbedingt Lösungen an, sondern fordern dieRegierung auf, Lösungen zu bieten. Nichts an Ihrem An-trag ist wirklich neu, nichts ist innovativ. Schon der Titelentlarvt Sie:
Den „… Erfolgreichen Ansatz der integrierten Verkehrs-politik fortentwickeln“. Das machen wir doch. VerlassenSie sich darauf!
Dazu hätte es dieses Antrages der SPD nicht bedurft.
Eines ist ganz klar: Dieser Antrag kommt viel zu spät.Sozialdemokratische Verkehrspolitiker hatten elf JahreZeit, all das umzusetzen, was Sie hier aufgeschrieben ha-ben.
In Oppositionszeiten formulieren Sie schöne Anträge.Sie hätten handeln und agieren können. Dieser Antragüberrascht mich doch sehr.
Ihr Antrag kommt also zu spät.Die Verkehrspolitik der christlich-liberalen Koalitionenteilt Ihnen.
Union, FDP und der neue Bundesverkehrsminister, PeterRamsauer, haben für eine neue Dynamik und Vitalität inder Bundesverkehrspolitik gesorgt.
– Es ist erstaunlich, dass Sie das noch nicht merken. –
Der Mief der sozialdemokratischen Führung im Ver-kehrsministerium ist jetzt weg. Wir können nach vorneschauen.
CDU/CSU und FDP haben die angesprochenenHandlungsfelder selbstverständlich angenommen. Wirentwickeln eine zukunftsfähige, ökologische und sozialausgewogene Verkehrspolitik. Für uns in der CDU/CSU-Fraktion gilt: Mobilität besitzt eine Schlüsselfunktion inunserer Gesellschaft. Mobilität schafft die Voraussetzun-gen für Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Frei-heit. Wir wollen mit einer effizienten Verkehrspolitik dieMobilität für die Zukunft sichern. Das ist unser eigenesvitales Interesse. Unsere Verkehrspolitik wird den An-forderungen des Klima-, Umwelt- und Lärmschutzes ge-recht.Aus diesem Grund hat der Bundesminister in seinemHaus eine eigene umweltpolitische Abteilung geschaf-fen. Es geht darum, zwei Bedürfnisse der Bürgerinnenund Bürger in Einklang zu bringen: auf der einen Seitedas Bedürfnis nach Mobilität und Verkehr – die Men-schen wollen mobil sein –, auf der anderen Seite das Be-dürfnis nach Klimaschutz, nach Lärmschutz und nachverantwortungsvoller Verkehrspolitik mit Blick auf dienachfolgenden Generationen. Die Abteilung für Um-weltfragen bringt diese Bedürfnisse in Einklang. Es warkeine rot-grüne Bundesregierung, kein sozialdemokrati-scher Bundesverkehrsminister, der diese Abteilung ein-gerichtet hat. Das heißt, Umweltfragen haben ihren fes-ten Platz in unserem Bundesverkehrsministerium. Dasist schön, und das können Sie nur begrüßen.
Ein weiterer Punkt Ihres Antrages betrifft die sozialeAusgestaltung der Bundesverkehrspolitik. Mobilität sollein Gemeingut bleiben. Sie fordern die besondere Be-rücksichtigung der Interessen von Menschen mit Behin-derung, von Familien und älteren Bürgerinnen und Bür-gern. Auch hier rennen Sie bei uns offene Türen ein; daswissen Sie. Wir sagen: Mobilität sichert die Teilhabe desEinzelnen am gesellschaftlichen Leben. Deshalb muss esunser Ziel sein, Mobilität für alle Bevölkerungsgruppenzu garantieren.Um dieses Ziel zu erreichen, orientieren wir uns anfolgenden Grundsätzen: Mobilität muss bezahlbar sein,sie muss vielfältig angeboten werden, und sie muss flä-chendeckend angeboten werden. Wir bekennen uns zumöffentlichen Personennahverkehr. Der ÖPNV ist ein fes-ter Bestandteil der Daseinsvorsorge.
Wir setzen uns für die Verbesserung des ÖPNV ein. Dasist eine Daueraufgabe. Wenn der ÖPNV attraktiv ist undeine durchgängige Reisekette möglich ist, wird er auchvermehrt von den Bürgerinnen und Bürgern angenom-
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Gero Storjohann
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men. Hierdurch wird die soziale Aufgabe von Verkehrs-politik gewahrt. Wir leisten auch einen Beitrag zum Kli-maschutz, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürgerdie Vorteile des ÖPNV für sich persönlich erkennen.Mobilität in Deutschland wird immer vielfältiger.Dies hat auch die Bundesregierung erkannt. Wie Sie inIhrem Antrag richtig festgestellt haben – jetzt kommt einLob –, ändert sich das Mobilitätsverhalten der Bürgerin-nen und Bürger. Um auf diese Entwicklung zu reagieren,setzen wir in einem vernetzten Verkehrssystem auf diespezifischen Stärken eines jeden einzelnen Verkehrsträ-gers.
Die Vielfalt der Mobilität ist unser Leitprinzip. Zur Viel-falt der Mobilität gehört, dass wir innovative Verkehrs-konzepte fördern und neue Mobilitätsoptionen schaffen.
Elektrofahrzeuge, Carsharing und öffentliche Fahrrad-verleihsysteme sind die Stichworte, mit denen wir unsjetzt beschäftigen. Das wollen wir voranbringen.
In vielfältigen Initiativen wie dem Nationalen Ent-wicklungsplan Elektromobilität oder dem Nationalen In-novationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellen-technologie wirkt die Bundesregierung aktiv an derzukünftigen Verkehrsgestaltung mit. Die Verkehrspolitikder Koalition ist modern, nachhaltig, vielfältig undorientiert sich an den Bedürfnissen der Bürgerinnen undBürger. Wir arbeiten mit aller Kraft daran, die Verkehrs-politik für Deutschland und Europa optimal zu gestalten.Sie sind aufgefordert, sich aktiv daran zu beteiligen.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Herbert Behrens.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir hörten eben einen Bericht der Großen Koalition, dieihre vierjährige gemeinsame Verkehrspolitik kurz hatRevue passieren lassen. Ich meine, diese müsste mannoch ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen. Indem Antrag der SPD geht es darum, dass der erfolgrei-che Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwi-ckelt werden soll. Das setzt erstens voraus, dass es die-sen erfolgreichen Ansatz gibt,
und zweitens, dass man ihn wirklich fortsetzen will. Bei-des kann ich im Unterschied zu Ihnen, Frau Lühmann, sonicht erkennen.Sie haben eben dargestellt, welche konkreten Aussa-gen dieser Antrag beinhaltet. Ich erkenne diese inhaltli-chen Forderungen nicht.
Ich finde vielmehr, Herr Beckmeyer, Ihr Antrag ist eineAnsammlung von verkehrspolitischen Phrasen und Wi-dersprüchen.
Sie schreiben, die CO2-Belastung habe, bedingt durchden Autoverkehr, seit 1990 zugenommen. Hier von er-folgreicher Verkehrspolitik zu sprechen, das geht nunwirklich nicht.Mobilität habe ihren Preis, heißt es an anderer Stellein Ihrem Antrag. Dazu gehöre Verkehrslärm, Luftver-schmutzung und Flächenverbrauch. Sie führen aber auchan, dass im Straßenverkehr in Deutschland jährlich4 000 Menschen getötet und 70 000 schwer verletzt wer-den. Das ist eine Bilanz. Das ist aber keine Bilanz einererfolgreichen Verkehrspolitik, sondern, im Gegenteil,die Bilanz einer erfolglosen und kontraproduktiven Ver-kehrspolitik.
Das ist auf jeden Fall kein erfolgreicher Ansatz.
– Wenn Sie sagen, dass das Hohn ist, sollten Sie Ihreneigenen Antrag lesen. Das steht nämlich so in diesemAntrag drin.
Sie machen in Ihrem Antrag Ausführungen zur sozia-len Dimension der Verkehrspolitik. Doch auch hier ma-chen Sie keine konkreten Lösungsvorschläge. Sie blei-ben bei der Beschreibung und vermeiden beispielsweisedie Aussage, dass ärmere Menschen durch Fahrpreiser-höhungen beim ÖPNV ausgeschlossen werden. Sie kön-nen nicht spontan eine Fahrt unternehmen und habenSchwierigkeiten, mit dem öffentlichen Personennahver-kehr zu ihrer schlecht bezahlten Arbeitsstelle zu kom-men. Wenn Sie das jetzt so sehen, frage ich mich: Wa-rum haben Sie unseren Anträgen, beispielsweise zurEinführung einer Sozial-Bahncard, nicht zugestimmt?
Sie haben es auch abgelehnt, Sozialticketinitiativen vorOrt zu unterstützen. Immer dann, wenn es konkret wird,
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3224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Herbert Behrens
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entziehen Sie sich der Verantwortung. Das werden wirnicht akzeptieren.
– Herr Kollege Beckmeyer, da Sie gerade „Schwätzerei“gesagt haben,
nenne ich Ihnen einige Beispiele. Ein Vorschlag, den wireingebracht haben, um für mehr Verkehrssicherheit zusorgen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren, ist die Ein-führung eines Tempolimits von 130 Stundenkilometernauf deutschen Autobahnen.Diesen Antrag haben wir vor zweieinhalb Jahren ein-gebracht. Sie haben ihn abgelehnt, obwohl der Parteitagder SPD nur zwei Wochen zuvor festgestellt hat: Wirbrauchen ein Tempolimit, und die Bundestagsfraktionsoll diese Forderung aufgreifen.
Ein weiteres Beispiel ist die Umstellung der Kfz-Steuer hin zu einer Bemessung nach dem CO2-Ausstoß.Auch diese Forderung haben Sie nicht vernünftig umge-setzt.
Im Gegenteil, Ihr damaliger Umweltminister SigmarGabriel hat diese Umstellung blockiert. Umweltver-bände haben ihn deshalb schon damals als Autoministerbezeichnet; ich meine, zu Recht.
Es wurde schon erwähnt: Sie hatten als Regierungs-partei elf Jahre Zeit, vier davon in der Großen Koalition.Sie haben es aber nicht geschafft, die Konzepte, die Sieheute fordern, umzusetzen.
Jetzt wollen Sie Ihre Versäumnisse erneut auf die Ta-gesordnung setzen. Sie bringen einen Antrag ein, in demSie formulieren, was Sie in den vergangenen elf Jahrennicht durchsetzen konnten. So darf man mit innovativenVerkehrskonzepten nicht umgehen. Ich denke, mit die-sem Antrag tun Sie sich selbst keinen Gefallen.
Sie müssen konkreter werden. Denn integrierte Ver-kehrspolitik ist eigentlich intelligente Verkehrspolitik,und die erwarten wir von Ihnen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Werner Simmling für
die FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnenund Kollegen! In den vorliegenden Anträgen geht es da-rum, wie ein Industrieland wie Deutschland seine wirt-schaftliche und gesellschaftspolitische Zukunft im Be-reich der integrierten Mobilität gestalten kann: mitFriktionen oder ohne Friktionen. Auf die vielen Selbst-verständlichkeiten, die Sie in den vorliegenden Anträgenformuliert haben, möchte ich jetzt gar nicht eingehen.Mobilität hat in unserer Gesellschaft eine Schlüsselfunk-tion – das wurde vorhin schon gesagt –: Sie schafft dieVoraussetzungen für Beschäftigung, Wohlstand und per-sönliche Freiheit.
Das soll nach unserem Willen auch in Zukunft so sein.Uns geht es darum, langfristig für jedermann – das be-tone ich ausdrücklich – eine umweltfreundliche und inte-grierte Mobilität zu ermöglichen.
Wo es sinnvoll ist, wollen wir die Verlagerung vonder Straße auf die Schiene fördern.
Gleichzeitig müssen wir den Verkehrssektor auf den Ab-schied vom Zeitalter der fossilen Energien vorbereiten.Zur kurzfristigen Verbesserung der Klimabilanz werdenwir die Optimierung von fossilen Antriebstechnologienverstärken. An dieser Stelle können wir noch sehrschnell Einsparungen von bis zu 30 Prozent realisieren,und zwar ohne Einbußen bei Komfort, Sicherheit undBenutzerfreundlichkeit.
Parallel dazu wollen wir hin zur Elektromobilität. DieWeichen für diesen Strategiewechsel stellen wir jetzt.Wir wollen Deutschland zu einem Leitmarkt und Leitan-bieter für Elektromobilität machen. Bis zum Jahr 2020wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge auf die Straßenbringen. Das ist eine Anstrengung bzw. ein Versuch – jenachdem, wie Sie wollen – in einer Größenordnung, diees in Deutschland bisher noch nicht gegeben hat.Wir handeln schnell.
Aber wir werden uns trotzdem die nötige Zeit nehmen,um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten.
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Werner Simmling
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Dieser Strategiewechsel hat Konsequenzen. Er bedeu-tet nicht nur völlig neuartige Mobilitätssysteme, sondernauch eine vollkommen neue Wirtschaftsstruktur, undzwar weltweit; das muss Ihnen einmal klar werden. Die-ser Systemwechsel muss zukunftsfest sein. Die Stabilitätunserer Wirtschaft darf dabei zu keinem Zeitpunkt inGefahr geraten.
Wenn er zum Erfolg führen soll, müssen wir in die-sem Prozess alle Beteiligten rechtzeitig mitnehmen, umdie Zukunft verantwortungsvoll gestalten zu können.Dabei sollen aber nicht ein Strukturbruch in Wirtschaftund Gesellschaft mit vielen Tausenden Arbeitslosen oderein Zusammenbruch von unzähligen mittelständischenUnternehmen riskiert werden. Das gilt besonders für dieAutomobilindustrie und die Zulieferer, die derzeit750 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Es gilt,diese Arbeitsplätze zu erhalten und sogar noch auszu-bauen.Unter Berücksichtigung des eben Gesagten ist dieStrategie der christlich-liberalen Koalition nur folgerich-tig.
Am 3. Mai 2010 wird im Kanzleramt ein Elektrogipfelstattfinden, der gleichzeitig den Startschuss für die natio-nale Plattform zukünftiger Elektromobilität darstellt.
Elektromobilität ist für uns das Zukunftsthema. Es isteine nationale Herausforderung. Wir brauchen dazu un-sere besten Wissenschaftler und Forscher. Wir brauchenein enges Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Wissen-schaft und Politik. Unser Ziel muss es sein, unseren Bür-gerinnen und Bürgern in der Zukunft ein integriertesMobilitätsangebot zu unterbreiten, welches ihren Anfor-derungen und Wünschen gerecht wird und ihnen diefreie Entscheidung lässt.
Das zukünftige Mobilitätsangebot muss mehr bieten.Es muss umweltfreundlicher, sicherer und komfortablersein als heutige Lösungen. Dabei muss es für alle be-zahlbar und jederzeit verfügbar sein.
– Schön, dass Sie mir da zustimmen. – Der Fortschrittmuss sichtbar werden. Nur dann werden wir weltweitweiter an der Spitze bleiben und den gewünschten Erfolghaben. Ein führendes Industrieland wie Deutschland lebteben nun einmal von seinen technischen Innovationen.
Die hier zur Debatte stehenden Anträge vom Bünd-nis 90/Die Grünen und von der SPD beinhalten leiderEingriffe in den Markt und setzen nicht nur Rahmenda-ten. Sie geben keine zukunftsfähigen Antworten im Hin-blick auf die vor uns liegenden Herausforderungen,
sondern wiederholen nur Altbekanntes. Es wurde vorherbereits auf Verkehrstote und anderes eingegangen. Daswissen wir alles. Heute schon über finanzielle Anreizebeim Kauf oder die Größe von Kraftfahrzeugen zu spe-kulieren, ist absolut verfrüht.Der Elektrogipfel am 3. Mai 2010 wird ein wichtigerMeilenstein
unserer durchdachten, verantwortungsvollen und damitüberzeugenden Strategie auf dem Weg zur Zukunft derElektromobilität sein. Sie können sich gerne daran betei-ligen und den Erfolg dann mit uns gemeinsam feiern.In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerk-samkeit.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Zu dem Antrag der SPD ist fast alles gesagt wor-den; dem brauche ich eigentlich nichts hinzuzufügen.Von einer Partei, die elf Jahre die für die Verkehrspolitikverantwortlichen Minister gestellt hat, muss mehr kom-men, als nach dem großen Gesamtentwurf zu verlangen.
Die Menschen in unserem Land wollen Antworten,sie wollen von uns ganz konkret wissen, mit welchenVorschlägen wir unser Land voranbringen wollen, zumBeispiel bei dem wichtigen Zukunftsthema Elektromobi-lität.
Noch enttäuschender als der Antrag der SPD ist nurdie Regierung: Sie macht ihre Arbeit schlecht.
Erinnert sei nur an das Gutachten der Expertenkommis-sion „Forschung und Innovation“. Es besagt ganz deut-
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Dr. Valerie Wilms
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lich: Deutschland ist kein Leitmarkt für Elektromobilität.Jetzt bestätigt Ihnen auch noch der Bundesrechnungshof– Sie bekommen es schriftlich –: Die vorhandenen Mit-tel für Elektromobilität werden „zu langsam, zu bürokra-tisch und zu unkoordiniert“ eingesetzt. Das kennen wirschon von der Hotelbesteuerung: Eine schlechte Ideewurde auch noch bürokratisch umgesetzt.
Ist das der Maßstab der neuen Regierung?Wir Grüne halten dagegen: Mit unserem Antrag zurElektromobilität zeigen wir, dass Politik aus einem Gussmöglich ist. Vier Punkte sind für uns entscheidend: Ers-tens sorgen wir langfristig dafür, dass der CO2-Ausstoßdes Verkehrs endlich reduziert wird. Bislang kennt derVerkehr nur eine Steigerung des Ausstoßes klimaschäd-licher Gase. Zweitens können wir Deutschland auf ei-nem wichtigen Zukunftsmarkt nach vorne bringen unddafür sorgen, dass wir bei Forschung und Entwicklungnicht den Anschluss verlieren. Mit einem umfassendenForschungs- und Entwicklungsprogramm wollen wirden technologischen Rückstand aufholen. Drittensschaffen wir die Voraussetzungen für eine neue Mobili-tät, die unabhängig von den zur Neige gehenden fossilenRessourcen ist. Viertens können wir mit intelligentenSystemen zur Stabilität des Stromnetzes beitragen.
Klar ist jedoch: Von allein wird hier wenig passieren.Wenn wir jetzt untätig bleiben, werden Elektrofahrzeugein Deutschland wie in den letzten 20 Jahren neugierigbestaunte Prototypen auf Automobilmessen bleiben. Eswäre der absolut falsche Weg, wenn wir bei dieser An-kündigungspolitik blieben. Die Menschen würden sichvon der Politik immer mehr abwenden, und die Arbeits-plätze würden dorthin abwandern, wo heute Milliardenin die Elektromobilität fließen: nach China, Korea undJapan. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
Deswegen müssen wir heute investieren. Mit einemMarktanreizprogramm wollen wir besonders saubereFahrzeuge wie Elektromobile oder Plug-in-Hybride miteiner Barprämie von 5 000 Euro fördern, und zwar kos-tenneutral; wir müssen nur die Kfz-Steuer endlich refor-mieren und zu einem Bonus-Malus-System umgestalten.Werte Kolleginnen und Kollegen, im postfossilenZeitalter wird sich unsere Mobilität ändern. Es wird da-rauf ankommen, die Stärken der einzelnen Verkehrsträ-ger aufeinander abzustimmen. Elektromobilität bedeutetnicht einfach ein paar neue Autos mit anderem Antrieb,Elektromobilität muss in ein umfassendes grünes Mobi-litätskonzept integriert sein. Müssen wir denn immer alleStrecken mit dem eigenen Auto fahren? Die junge Gene-ration macht es uns vor, Sie ist nicht mehr so autofixiert:Die Bahn für die Langstrecke, ÖPNV oder Carsharingvor Ort.Auf eines will ich explizit hinweisen: Das alles ist nursinnvoll, wenn erneuerbare Energien zum Einsatz kom-men.Unser Antrag zeigt deutlich, an welchen Stellschrau-ben wir drehen müssen, um einer Zukunftstechnologiezum Durchbruch zu verhelfen. Hier werden nicht – wiebei der Abwrackprämie – für veraltete und umwelt-schädliche Ideen Milliarden verplempert, sondern Öko-nomie und Ökologie sinnvoll verbunden. Die Bundesre-gierung hat eine nationale Plattform für Elektromobilitätbisher nur angekündigt. Geschehen ist nichts. Wir for-dern Sie auf, endlich zu handeln und breite gesellschaft-liche Gruppen einzubeziehen;
denn eines ist doch klar: Nur mit einem breiten Bündnisist der Rückstand aufzuholen, und die Zukunft des Ver-kehrs ist grün.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Antriebsart für den motorisierten Individualverkehrder Zukunft ist der Elektromotor. In dieser Form derFortbewegung stecken viele Chancen für die Lebensqua-lität der Bevölkerung, für die deutsche Wirtschaft undinsbesondere auch für die Umwelt.
Mit der Nutzung von erneuerbaren Energien für dieElektromobilität – und hierfür stehen wir als Union –werden Luftverschmutzung, Lärmbelastung, CO2-Emis-sionen, Treibstoffkosten und die Abhängigkeit vom Ölverringert.
Das Thema Elektromobilität ist eines der großen Zu-kunftsthemen, wie auch heute Morgen im Plenum in Be-zug auf die europäische Agenda 2020 noch einmal ver-deutlicht wurde. Weil die Elektromobilität so vieleChancen bietet, dürfen wir dieses Thema nicht verschla-fen, und das tun wir auch nicht.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Nationalen Ent-wicklungsplan Elektromobilität und mit ihrem klarenBekenntnis im Koalitionsvertrag die Weichen gestellt.Kollege Simmling hat darauf hingewiesen: Deutschlandsoll Leitmarkt für Elektromobilität werden. – Es ist rich-
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Steffen Bilger
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tig, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Elektromo-bilität zur Chefsache erklärt hat.
Dass im Grünen-Antrag ausdrücklich ein Programm„Anwendbare nächste Generation von Energiespeichernund Leistungselektronik in Automobilen“ – kurz:ANGELA – gefordert wird, habe ich durchaus erfreutzur Kenntnis genommen.
Dadurch wird doch unterstrichen, dass auch die Grünendas Engagement der Bundeskanzlerin anerkennen. Am3. Mai 2010 findet jedenfalls der Kanzlergipfel zur Elek-tromobilität statt. Wir begrüßen diese Initiative der Bun-desregierung ausdrücklich.Wenn ich mir den SPD-Antrag anschaue, dann muss ichschon sagen: Die Bedeutung des Themas Elektromobili-tät ist zwar unbestritten – alle reden davon –, nichtsdes-totrotz kommt die Elektromobilität in Ihrem Antrag we-der inhaltlich noch vom Wort her vor; Frau Dr. Wilmshat bereits darauf hingewiesen.
Dabei geht es Ihnen doch angeblich um nachhaltigeMobilität. Dass Nachhaltigkeit gerade bei der Mobilitätwichtig ist, wird hier im Hause wahrscheinlich keinerbestreiten. Wer von Nachhaltigkeit in der Verkehrspoli-tik spricht, der darf die Elektromobilität nicht verschwei-gen. Wir als Union reden über beides und handeln auch.
Weil wir nachhaltige Mobilität wollen, haben wir imKoalitionsvertrag mit der FDP festgelegt, ein umfassen-des Entwicklungsprogramm aufzustellen. Außerdemhaben wir das Ziel, bis zum Jahr 2020 1 Million Elektro-fahrzeuge auf die Straßen zu bringen. Ein zukunftswei-sendes, ganzheitliches Verkehrskonzept steht ebenfallsauf dem Programm, von der Weiterentwicklung derBrennstoffzelle und der Wasserstofftechnologie und vomAufbau eines Ladestellennetzes für Elektrofahrzeuge inBallungsräumen ganz zu schweigen.
Dabei ist unser Ziel von 1 Million Elektrofahrzeugenauf deutschen Straßen bis 2020 bereits ambitioniert.Eine glatte Verdopplung auf 2 Millionen, wie es die Grü-nen in ihrem Antrag fordern, ist nach allem, was uns Ex-perten sagen, unrealistisch und lehnen wir daher ab.Auch die Grünen-Forderung der direkten Marktan-reize durch eine 5 000-Euro-Barprämie beim Kauf einesElektroautos ist für uns nicht tragbar,
zumal derzeit nicht erkennbar ist, dass die Prämie dendeutschen Unternehmen zugutekommen würde. Vielsinnvoller wäre beispielsweise eine direkte Förderungbei Taxis, Fahrzeugen des öffentlichen Personennahver-kehrs, Carsharing-Wagen, öffentlichen Fuhrparks oderbei Kurierdiensten im Innenstadtbereich,
sobald eben die nötigen Kapazitäten vorhanden sind.
Investiertes Geld ist besser in Forschung und Ent-wicklung angelegt. Hier gilt es, besonders die Spei-chertechnologie und Batterieproduktion weiter voran-zutreiben. Wir müssen hier an die Weltmarktspitzeaufschließen.Jetzt aber bereiten wir uns auf den Kanzlergipfel am3. Mai vor und warten seine Ergebnisse ab. Nach demGipfel müssen und werden wir die Diskussion im Ver-kehrsausschuss und im Parlament weiterführen.Vielen Dank.
Herr Kollege Bilger, das war Ihre erste Rede im Deut-schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich undwünsche Ihnen weiterhin viel Freude und Erfolg.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1060 und 17/1164 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 cauf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zu dem Antragder Fraktionen der CDU/CSU und der FDPMenschenrechte weltweit schützen– Drucksachen 17/257, 17/1135 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothVolker Beck
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristoph Strässer, Angelika Graf ,Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDMenschenrechtsverteidiger brauchen denSchutz der Europäischen Union– Drucksache 17/1048 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Marieluise Beck (Bremen), Violavon Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Schutz für Menschenrechtsverteidige-rinnen und Menschenrechtsverteidiger– Drucksache 17/1165 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZu der Beschlussempfehlung des Ausschusses fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antragder Fraktionen der CDU/CSU und der FDP liegen sechsÄnderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir soverfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Serkan Tören für die Fraktion derFDP das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, wiesehr ich mich über die Ernennung von Markus Löningzum neuen Beauftragten der Bundesregierung für Men-schenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe freue. Geradefür meine Kollegen war Markus Löning immer ein sehrgeschätzter Parlamentarier in persönlicher wie fachlicherHinsicht.
– Deshalb habe ich auch „war“ gesagt, Herr Beck. Kon-zentrieren Sie sich doch bitte!
Kommen wir nun zu den Anträgen. Zur Bewertungder Anträge der Opposition ist zu sagen, dass der EU-Ministerrat Leitlinien zum Schutz von Menschenrechts-verteidigern verabschiedet hat, um das langfristige Han-deln der EU gegenüber Drittstaaten zu verbessern. Dievon Deutschland nachdrücklich unterstützten Leitliniensehen zum Beispiel den Aufbau und die Pflege systema-tischer Kontakte zu Menschenrechtsverteidigern durchdie EU-Auslandsvertretungen vor.Deutschland setzte sich während der Dauer der deut-schen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007für die konsequente Umsetzung der Leitlinien zu Men-schenrechtsverteidigern ein und ergriff die Initiative zurweltweiten Erarbeitung lokaler Implementierungsstrate-gien der EU.Die derzeitige Bundesregierung fördert die Arbeitvon Menschenrechtsverteidigern weltweit nach Kräften.Sie setzt sich insbesondere für ihren verbesserten Schutzund die umfassende Anerkennung ihrer Tätigkeit immenschenrechtlichen Sinne ein. Die christlich-liberaleKoalition ist sich dessen bewusst, dass ohne das mutigeWirken von Menschenrechtsverteidigern die weltweitekonsequente Durchsetzung der Menschenrechte undenk-bar wäre.
Die Unterstützung der Arbeit von Menschenrechtsvertei-digern stellt daher auch einen Schwerpunkt der Projekt-förderung des Auswärtigen Amtes im Bereich der Men-schenrechte dar.Insgesamt ist zu konstatieren, dass die meisten Forde-rungen in dem SPD-Antrag als überflüssig gelten kön-nen, da sie bereits Bestandteil der Leitlinien der aktuel-len Bundesregierung sind und, insbesondere was dieForderung in Punkt 7 des SPD-Antrages angeht, durchunseren Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ ab-gedeckt werden.
Wir lehnen daher die Anträge der Opposition ab.Ich bitte hier im Hohen Hause um Zustimmung zu un-serem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“. Diechristlich-liberale Koalition hat einen sehr ausgewoge-nen und in sich stimmigen Antrag eingebracht. Punkt fürPunkt werden in diesem Antrag Vorgaben aus dem Ko-alitionsvertrag umgesetzt. Für uns als FDP ist klar, dassalle Menschen schon allein aufgrund ihres „Mensch-seins“ die gleichen universellen, unveräußerlichen undunteilbaren Grundrechte besitzen. Nicht zuletzt steht dieGlaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland in di-rektem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintretenfür die Menschenrechte in der Innen- und Außenpolitik.
Auch setzen wir uns für die weltweite Abschaffungder Todesstrafe sowie für das absolute Folterverbot ein.
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Serkan Tören
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Regime, die ihre Bürger steinigen und ihren KindernBildung verweigern, die das Internet zensieren und Jour-nalisten ermorden lassen und die Glaubensfreiheit mitFüßen treten, müssen unseren Druck spüren. All dies istin unserem Antrag eindrucksvoll dargelegt und wird dasFundament unserer Menschenrechtspolitik für die nächs-ten vier Jahre sein.Lassen Sie mich abschließend auf zwei konkrete Bei-spiele eingehen, die die Wichtigkeit unseres Antrages„Menschenrechte weltweit schützen“ noch einmal doku-mentieren, nämlich zum einen die Menschenrechtslageim Iran und zum anderen die Menschenrechtslage inKuba. Deutschland und seine Partner stehen hinsichtlichdes Irans vor der doppelten Herausforderung, einerseitseine konstruktive Lösung im Streit um das iranische Nu-klearprogramm zu finden und gleichzeitig einen Beitragzur Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran zuleisten.Mit wachsender Sorge verfolgen wir als FDP die Ent-wicklungen der letzten Wochen und Monate im Iran. Ichmöchte ausdrücklich die schweren Menschenrechtsver-letzungen im Iran scharf verurteilen. Die blutige Nieder-schlagung von Demonstrationen, die Unterdrückung vonMeinungen und die unerträgliche Missachtung weitererelementarer Menschenrechte können und dürfen wirnicht ignorieren.
Auch vor dem Hintergrund des iranischen Nuklear-programms muss die internationale Gemeinschaft eindeutliches Signal an Teheran senden. Dabei wird ent-scheidend sein, dass sich Sanktionen nicht gegen die Be-völkerung, sondern gezielt gegen die das Regime tragen-den Kräfte richten.
Es bleibt zu hoffen, dass die iranische Regierung balderkennt, dass sie durch ihre provokative Außenpolitiknicht von ihrer Unfähigkeit, die materiellen und freiheit-lichen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, ab-lenken kann. Der Mut der Opposition in den Monatenseit der Präsidentschaftswahl hat gezeigt, dass der Willezur Veränderung ungebrochen ist. Die Menschen im Iransollten wissen: Wir sind fest an ihrer Seite.Auch in Kuba ist die Menschenrechtslage mehr alsprekär. Als FDP-Bundestagsfraktion möchten wir unsereBestürzung über die Nachricht vom Tod des kubanischenMenschenrechtsaktivisten Orlando Zapata Tamayo zumAusdruck bringen. Als Mitglied der OppositionsgruppeRepublikanische Alternative starb Zapata Tamayo nach85-tägiger Leidenszeit aufgrund eines Hungerstreiks ineinem kubanischen Gefängnis.Die Vorstellung, dass Herrn Tamayo vorsätzlich zulange ärztliche Hilfe vorenthalten wurde, ist unerträg-lich. Als FDP protestieren wir ausdrücklich gegen diesemenschenverachtende Unterlassung von lebenserhalten-den Maßnahmen und fordern die rückhaltlose Aufklä-rung der Geschehnisse um den tragischen Tod.
– Dass Sie das stört, ist mir klar.Ferner sind wir tief besorgt über den körperlichenZustand des unabhängigen kubanischen JournalistenGuillermo Fariñas, den wir als FDP in seiner Forderung,alle kranken politischen Häftlinge aus kubanischen Ge-fängnissen freizulassen, ausdrücklich unterstützen. Wirgehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern vonder Republik Kuba, alle politischen Gefangenen unver-züglich und bedingungslos freizulassen.
Ich möchte die kubanische Regierung mit Nachdruck da-ran erinnern, dass die Inhaftierung von politischen Geg-nern sowie die Vorenthaltung von deren medizinischerVersorgung schwerwiegende Menschenrechtsverstößesind, die die politische Glaubwürdigkeit der RepublikKuba schwer erschüttern.Lassen Sie Fariñas nicht dasselbe Schicksal erleidenwie Tamayo und beenden Sie die menschenrechtswid-rige Inhaftierung von politischen Oppositionellen!
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!An einer Stelle schließe ich mich Ihren Ausführungenan, Herr Tören.
– Ja, schon das ist eigentlich übertrieben, aber ich machees trotzdem. – Dem Glückwunsch an den neuen Men-schenrechtsbeauftragten schließe ich mich ausdrücklichan. Ich weiß zwar noch nicht, welche Politik er in die-sem Bereich verfolgen wird, weil ich bisher noch nichtsvon ihm dazu gehört habe, aber das muss nicht schlechtsein. Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn es zu einerguten und konstruktiven Zusammenarbeit kommenwürde.
Allem anderen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege,muss ich ernsthaft widersprechen, zumindest Ihrer Aus-sage, Sie hätten einen guten Menschenrechtsantrag vor-gelegt, mit dem Sie etwas umgesetzt hätten, das Sie ir-gendwo anders niedergeschrieben haben.
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Christoph Strässer
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Das, was ich in Ihrem Antrag lese, ähnelt Ihrem Ko-alitionsvertrag: erstens nichts Neues, zweitens alte Ka-mellen, und drittens wird nichts umgesetzt.
Umgesetzt wird gar nichts. Er enthält eine Reihe vonmassiven Ankündigungen, aber damit ist es auch gut. Ichwerde noch auf einzelne Punkte eingehen. Denn in IhrerÜberschrift über diesem Antrag fehlt ein entscheidenderSatz. Der Titel lautet „Menschenrechte weltweit schüt-zen“, und wenn man Ihren Antrag weiterliest, dann wirdklar: aber nicht in Deutschland.
– Ja, darauf können Sie gespannt sein.Auch wir haben einen Antrag vorgelegt. Sie habenvöllig recht. Der Antrag ist gut, und er ist richtig. Wir ha-ben ihn deshalb formuliert, weil Sie bei Ihren Ausfüh-rungen etwas vergessen haben, nämlich dass es eine spa-nische EU-Ratspräsidentschaft gibt, die festgestellt hat,dass das, was die EU-Richtlinie zu diesem Thema um-fasst, nicht ausreicht. Sie hat dafür eine Kommission ein-gesetzt. COHOM hat die Arbeit bereits aufgenommen.Die aktuellen Schlussfolgerungen des Rates zur Än-derung der EU-Richtlinie über Menschenrechtsverteidi-ger enthalten 64 Empfehlungen. Die Schlüsselrolle beidiesen Empfehlungen spielen Punkte, die gerade auch inDeutschland in den Umsetzungsrichtlinien noch nichtausreichend verwirklicht worden sind. Sie enthalten zumBeispiel so etwas wie Koordinierungsstellen oder Kon-taktstellen in allen EU-Botschaften, in den Botschaftenaller Länder. Da geht es nicht, wie Sie es ganz verschämtin Punkt 17 Ihres Antrags schreiben, darum, dass es dagute Beziehungen gibt, dass man das unterschreibt undgegebenenfalls unter den Bedingungen des Ausländer-rechtes auch bedrohten Menschenrechtsverteidigern Zu-gang zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschlandgewährt. Dies, meine Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ist pure Ankündigungspolitik. Dashat noch nicht einmal etwas mit den Richtlinien derOSZE zu tun, sondern das ist schlicht und ergreifend vielzu wenig und entspricht nicht dem Stand in vielen ande-ren EU-Ländern, die uns in diesem Bereich etwas vor-machen.
Noch zwei Anmerkungen zu den Menschenrechtsver-teidigern, die mir wichtig sind und die mich dann auchdazu bringen, noch einmal zu Ihrem Antrag Stellung zunehmen: Ich will jetzt gar nicht abstrakt darüber reden,was in den entsprechenden Beschlüssen der VN-Gene-ralversammlung von 1998 steht, sondern nur einmalzwei Namen nennen, die Menschenrechtsverteidiger imMoment aktuell betreffen und auch bei uns diskutiertwerden.Der eine ist Kamal al-Labwani; er wird Ihnen wahr-scheinlich aus den menschenrechtlichen Debatten be-kannt sein. Herr Labwani ist 53 Jahre alt, er ist Arzt undKünstler, er ist mehrfacher Familienvater. Er ist wegen„Schwächung des Nationalgefühls“, wegen „Kommuni-kation mit einem ausländischen Staat zur Anstachelungeines Angriffs auf Syrien“ und wegen Verleumdung ei-nes Staatsoberhauptes verurteilt. Herr Labwani sitzt seit2005 im Adra-Gefängnis in Damaskus im Flügel Nr. 5;auch er ist unter Menschenrechtlern bekannt, weil dortdie Gewaltkriminellen sitzen, weil dort gefoltert wirdund weil dort medizinische Behandlung für die Gefan-gen nicht stattfindet.Ich nenne Anwar el-Bunni; ihn kennen Sie wahr-scheinlich auch. Er hat im Dezember 2009 den Men-schenrechtspreis des Deutschen Richterbundes verliehenbekommen. Er ist seit 2007 inhaftiert. Der Vorwurf: Ver-breitung staatsgefährdender Falschinformationen. SeineTat: Anprangerung systematischer Folter in syrischenGefängnissen.Das ist jetzt der Übergang zu dem, was aus meinerSicht in Ihrem Antrag fehlt: die komplette innenpoliti-schen Dimension der Menschenrechtsfrage. Deshalbhabe ich Syrien genannt. Wir haben ja nun mit großerVerbitterung und Empörung vernommen, dass das, wasIhre Bundesregierung im Dezember noch für richtig be-funden hat, nämlich die Aussetzung des Rückführungs-abkommens mit Syrien, jetzt wieder eingeführt wordenist. Meine Damen und Herren, ich kenne die Argumentemit Einzelfallprüfung und allem, was damit zusammen-hängt. Aber wenn selbst die Bundesregierung, wennselbst der Innenminister, wenn ein Völkerrechtler wieHerr Tomuschat bei der Verleihung des Preises an Herrnal-Bunni sagt, Syrien sei ein Folterstaat, dann kann ichdoch bitte schön nur darauf hinweisen, dass es der Men-schenwürde widerspricht, wenn man in einen solchenStaat, in dem systematisch gefoltert wird, Menschen zu-rückführt.
Das heißt aus meiner Sicht völlig klar und eindeutig: Indiesem Fall geht es nicht um Einzelfallprüfung, sondernin diesem Fall geht es um das Verbot der Rückführung ineinen solchen Staat. – Das ist ein Punkt, um den wir unszu kümmern haben.Ein zweiter Punkt ist dann, wie ich finde, schon einesehr bemerkenswerte Geschichte: An keiner Stelle desAntrags „Menschenrechte weltweit schützen“ befassenSie sich mit der Situation von Flüchtlingen, an keinerStelle! Ich kann Ihnen nur sagen – wir haben das in unse-rem Ausschuss und in anderen Ausschüssen massiv dis-kutiert –: Was an den Grenzen der Europäischen Unionmit Unterstützung der Bundesregierung abläuft, ist einmenschenrechtlicher Skandal. Diesen Skandal in einemsolchen Antrag nicht zu benennen, ist ein weiterer Skan-dal. Diesen Skandal werden wir auch immer und immerwieder benennen.
– Da können Sie empört sein, wie Sie wollen, da könnenSie auch sagen, wer das früher alles gemacht hat. Sie be-haupten in diesem Antrag, Sie machten eine konse-
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Christoph Strässer
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quente und kohärente Menschenrechtspolitik. Aber Sietun es an dieser Stelle nicht nur nicht, sondern machensogar noch das genaue Gegenteil. Dafür werden wir Sieauch in allen öffentlichen Diskussionen stellen; das istvöllig klar.
Es gibt noch eine andere Geschichte, die aus meinerSicht sehr wichtig ist: Sie fordern in Ihrem Antrag – wieich finde: zu Recht – die Einhaltung, die Umsetzung unddie Ratifizierung völkerrechtlicher Abkommen durchandere Staaten, die dies noch nicht getan haben. Auf deranderen Seite tun Sie aber so, als hätten wir das allesschon erledigt. Ich frage Sie: Wo sind denn die Feststel-lungen zum Beispiel zum Zusatzprotokoll zum WSK-Abkommen? Wenn es darum geht, einmal exakt zu sa-gen, dass es in diesem Bereich ein Beschwerderecht gibt,kneifen Sie. Nichts kommt, nichts steht in Ihrem Antrag.Ich halte dies für ein eklatantes Versagen, nicht zuletztim Hinblick auf die Gespräche, in denen Sie anderenLändern vorhalten, etwas zu tun oder zu unterlassen. Sieselber tun nichts, und das ist Doppelstandard in der Men-schenrechtspolitik. Das ist gefährlich, und das halten unsandere Länder zu Recht vor.
Aber es gibt nicht nur diesen Part. Es geht auch nochum ein paar andere Dinge. Ich will darauf hinweisen, woin Ihrem Antrag nach meiner Meinung ebenfalls einDoppelstandard zum Ausdruck kommt – Frau Steinbach,Sie werden das wahrscheinlich relativieren –: bei der Re-ligionsfreiheit. Ich kann nur sagen: Jeder Satz zur welt-weiten, universellen Religionsfreiheit ist richtig. HerrTören, Sie haben gerade die Situation im Iran angespro-chen.
Die am meisten gefährdeten Menschen im Iran sind we-gen ihrer Glaubenszugehörigkeit angeklagt und von derTodesstrafe bedroht: die Bahai. Jetzt sagen Sie einmalden Bahai: Die Menschenrechtspolitik in Deutschland istdarauf ausgerichtet, die Religionsfreiheit unter besonde-rer Berücksichtigung des Christentums durchzusetzen.Das ist ein doppelter Standard; das geht nicht. Die Reli-gionsfreiheit muss für alle Religionen auf dieser Weltgleichermaßen gelten, nicht besonders für bestimmteReligionen. Wenn Sie das nicht vertreten, verabschiedenSie sich von einer glaubwürdigen Menschenrechtspoli-tik. Deshalb können wir Ihrem Antrag auf keinen Fallzustimmen.
Erika Steinbach ist nun die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Menschenrechte sind universell, unteilbarund unveräußerlich.
Herr Strässer, für Sie mögen das olle Kamellen sein;aber man kann das nicht oft genug wiederholen. Nur ste-ter Tropfen höhlt den Stein; das möchte ich deutlich hin-zufügen.
Ich möchte etwas zu Ihren Ausführungen sagen. Ichwar doch schon ein wenig verblüfft:
Bis vor kurzem haben Sie all das, was zu den EU-Au-ßengrenzen geregelt wurde, als Regierungsfraktion mit-getragen.
Heute, ein paar Monate später, stellen Sie das an denPranger und klagen es an. Da ist irgendwo etwas Schizo-phrenie im Spiel. Sie sind da zu sich selber nicht ganzehrlich.
Die Menschenrechte sind leider in vielen Teilen derWelt nicht einmal ansatzweise Realität. Wir können dasbeklagen, wir wollen das beklagen.
Wir müssen alles tun, damit es sich bessert. In einigenRegionen befinden sich Menschenrechte sogar auf demRückzug; das kann man leider nicht verkennen. Die Ein-forderung des besonderen Schutzes von Minderheitenund der Einsatz gegen jegliche Benachteiligung auf-grund von Religion und ethnischer Herkunft sind aktuel-ler denn je. Herr Strässer, da haben Sie recht: Im Iransind die Bahai die am intensivsten verfolgte Religions-gruppe. Wir haben erst vor wenigen Tagen mit dem Vor-sitzenden der Bahai hier in Deutschland gesprochen; daswissen Sie genauso gut wie ich. Natürlich gehört es beider Religionsfreiheit dazu, dass wir uns hinter die Bahaistellen; das ist doch selbstverständlich.
In der vergangenen Woche drohte der türkische Mi-nisterpräsident Erdoğan, bis zu 100 000 im Lande le-bende Armenier auszuweisen. Das sind Drohgebärden,die den Umgang der Türkei mit ihren christlichen Min-derheiten schlaglichtartig und massiv erhellen. Sie be-wirken noch etwas anderes: Sie erinnern beklemmendan den Genozid des Osmanischen Reiches an den Ar-
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Erika Steinbach
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meniern und den anderen Christen damals in den Jahren1915 und 1916. So nimmt es auch nicht Wunder, dassder türkische Staat bis zum heutigen Tage nicht bereit ist,diese traurige Erblast auch nur ansatzweise aufzuarbei-ten. Das halte ich bei einem Land, das Mitglied der Eu-ropäischen Union werden will, schon für einen Skandal.
Es ist gut und richtig, dass sich der Deutsche Bundes-tag für Menschenrechte weltweit einsetzt. Ich halte esfür genauso unverzichtbar, dass wir – Herr KollegeSträsser, da gebe ich Ihnen recht – auch vor unserer eige-nen Tür kehren, dass wir uns mit Defiziten im eigenenLande auseinandersetzen. Da muss ich schon sagen: Diebundesweiten Berichte der letzten Wochen und Monateüber sexuellen Missbrauch von Kindern schrecken zu-tiefst auf. Es ist gut, dass seitens der Bundesregierung in-tensiv über weitergehende Prävention nachgedacht wird.Es ist gut, dass dabei alle gesellschaftlichen Gruppeneingebunden werden sollen.Allerdings registriere ich in den Debatten der letztenWochen über die Vergehen mit tiefem Befremden eineFokussierung auf die katholische Kirche. Hier ist die Ge-wichtung, bezogen auf die Anzahl der Täter, inzwischenschlicht und ergreifend vollständig verschoben. Auch inkatholischen Einrichtungen hat es Missbrauchsfälle ge-geben. Auch dort sind nicht in jedem Einzelfall die rich-tigen Maßnahmen getroffen worden. Aber der katholi-schen Kirche den Willen zur Aufklärung und dasMitgefühl für die Opfer abzusprechen, das halte ich fürschlichtweg infam. Dahinter steckt Methode. Als Nicht-katholikin sage ich das in aller Deutlichkeit.
Tatsache ist: Die überwiegende Zahl, nämlich rund99 Prozent dieser scheußlichen Vergehen spielen sich inanderen gesellschaftlichen Bereichen ab. Der prozen-tuale Anteil aus dem Bereich katholischer Einrichtungenliegt bei nicht einmal einem Prozent.
Wenn ich nun die Stimmen aus dem Bereich der Grü-nen in Richtung katholische Kirche vernehme, so erin-nert mich das sehr drastisch an den Täter, der anderen indie Hosentasche greift und ruft: „Haltet den Dieb!“ DieÄußerungen der Grünen sind pures Ablenkungsmanövervon sich selbst.
Es waren Grüne in der Bundesarbeitsgemeinschaft„Schwule und Päderasten“ – so hieß diese Bundes-arbeitsgemeinschaft –, die 1985 den Schutz Minderjähri-ger, den Schutz von Kindern, vor sexuellem Missbrauchinsgesamt aufheben wollten.
– Es ist eine Menschenrechtsfrage. – Es waren Sie, HerrKollege Beck, der 1988 eine Entkriminalisierung der Pä-dosexualität als nächsten Schritt nach der Mobilisierungder Schwulenbewegung einforderte.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ich will den Gedanken nur zu Ende führen; dann kann
er gerne eine Frage stellen. –
Ihre strategischen Überlegungen, Herr Beck, sind nach-
lesbar als Beitrag in dem Buch „Der pädosexuelle Kom-
plex“, das übrigens bis zur Stunde in der Bundestags-
bibliothek vorhanden und ausleihbar ist. Es ist gut, Herr
Beck, dass Sie sich inzwischen davon distanziert haben.
Vielleicht erübrigt sich damit Ihre Frage.
Ich mache mir große Sorgen um Ihr Erinnerungsver-mögen,
da Sie die gleiche Schote schon in der letzten Menschen-rechtsdebatte gebracht haben. Da habe ich Ihnen erklärt,dass das damals ein verfälschter, nichtautorisierter Arti-kel von einem unter Pseudonym veröffentlichten He-rausgeber war. Angelika Graf hat unseren Schlagab-tausch damals korrekt bewertet. Hätten Sie Anstand,würden Sie sich für Ihre Äußerung entschuldigen.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass we-der ein Verband der Bundespartei der Grünen noch dieBundespartei der Grünen sich jemals die Forderung, dieSie gerade zitiert haben, zu eigen gemacht hat? WärenSie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass auf mei-nen Antrag hin der Bundeshauptausschuss, meiner Erin-nerung nach im Jahre 1986, die Nichtanerkennung dieserBundesarbeitsgemeinschaft beschlossen hat und darauf-hin eine neue Arbeitsgemeinschaft gegründet wurde?Wenn Sie aus Ihren Political-incorrect-Seiten hier solcheFalschbehauptungen zusammenkramen, finde ich daswirklich unanständig, und wenn Sie es zum zweiten Maltun, dann zeigt das, dass Sie nicht bereit sind, dazuzuler-nen. Das ist nicht mehr Kollegialität unter Demokraten,und das ist Ihrer nicht würdig, Frau Kollegin.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3233
Volker Beck
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Sie sollten sich vielleicht einmal mit der Vergangen-heit Ihres Verbandes auseinandersetzen, wenn Sie schonmeinen, für die katholische Kirche hier Entlastungsvor-würfe vorbringen zu müssen. Ich habe das Gefühl, dieDeutsche Bischofskonferenz ist da wesentlich weiter alsSie. Sie setzt sich nämlich an die Aufarbeitung, und dasist auch gut so, wenn auch nicht alle Bischöfe gleicher-maßen die richtige Tonlage gefunden haben.
Herr Beck, ich habe eben gesagt, es ist gut, dass Sie
sich von diesem Beitrag distanziert haben.
Allerdings muss ich hinzufügen: Wie ich Sie kenne, Herr
Beck – Sie sind ein guter Jurist –,
hätten Sie, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, die-
ses Buch längst verboten, wenn es so gewesen wäre, wie
Sie hier behaupten.
Ich glaube, es ist nötig, zu schauen: Wer hat damals
die grüne Bundesarbeitsgemeinschaft „Schwule und Pä-
derasten“, Schwup, mitgetragen und ist heute noch bei
den Grünen aktiv? Den Vorstellungen auch Grüner ent-
sprach doch das pädosexuelle Binnenleben in der Re-
formschule im Odenwald. Dieses Eldorado für Kinder-
schänder unter dem Deckmantel von Fortschritt und
moderner Erziehung galt doch als erstrebenswertes Mo-
dell.
Es ist heute nötig, dass die Grünen einmal in sich ge-
hen, in ihren eigenen Reihen forschen und ihre eigene
Vergangenheit aufarbeiten, ehe sie mit dem Finger auf
andere zeigen. Ich habe die jüngsten Presseerklärungen
gelesen, die vonseiten Ihrer Fraktion dazu abgegeben
worden sind. Aber bei der Vergangenheitsbewältigung,
so scheint mir, ist Ihnen wohl ein bisschen mulmig zu-
mute.
Anders kann ich die Äußerungen Ihres Kollegen Jerzy
Montag, der gerade eingetroffen ist,
nicht interpretieren. Herr Montag, Sie haben zur Frage
der Verlängerung der strafrechtlichen Verjährung gesagt,
das sei fundamentalistische Rachsucht. Das kann ich nun
wirklich nicht nachvollziehen. Fundamentalistische
Rachsucht ist das mit Sicherheit nicht.
Frau Kollegin, der Herr Montag würde gern eine Zwi-
schenfrage stellen.
Ja, aber gern.
Sehr geehrte Frau Kollegin, wenn Sie schon zitieren,
wozu Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, –
Aber selbstverständlich!
– dann benennen Sie bitte die Fundstelle und zitieren
Sie richtig und vollständig.
Ich habe mich in dem in der Zeitung veröffentlichten
Artikel ganz konkret und sachlich mit der Frage ausei-
nandergesetzt, was für und was gegen die Verlängerung
von Verjährungsfristen in bestimmten Bereichen des Zi-
vilrechts und des Strafrechts spricht. Dabei habe ich
auch ausgeführt, was nach meiner Überzeugung hinter
bestimmten Forderungen steht. Dazu stehe ich und sage
es heute noch einmal: Hinter dem, der die Forderung
aufstellt, für bestimmte Straftaten – außer Völkermord
und Mord – jegliche Verjährungsfristen aufzuheben, ver-
mute ich tatsächlich statt einer rationalen Kriminalitäts-
politik eine Strafsucht, die in einem demokratischen
Rechtsstaat nichts zu suchen hat.
Benennen Sie also bitte die Fundstelle genau und zi-
tieren Sie mich richtig, statt hier solche Verfälschungen
vorzutragen!
Aber Herr Montag, Sie haben das doch im Grunde ge-nommen gerade bestätigt. Ich bin der festen Überzeu-gung, dass Kinder über Vorfälle gerade in diesem Be-reich häufig nicht reden können, sondern erst darüberreden können, wenn sie erwachsen sind. Deshalb brauchtman eine längere Spanne.
Das als eine bestimmte Art zu qualifizieren, macht schondeutlich, dass man das eigentlich wegschieben möchte.
– Das habe ich gerade heute in der Hand gehabt; das warin einem Bericht.
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3234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Erika Steinbach
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Wenn die Grünen sich seinerzeit mit dem durchge-setzt hätten, was sie im Bereich Pädophilie angedachthaben – in Teilen, natürlich nicht alle –, dann hätten wirheute diese Debatte nicht, weil all das, was wir heute de-battieren, überwiegend straffrei gewesen wäre – zulastenvon Kindern. Das, meine Damen und Herren, ist massivgegen Menschenrechte gerichtet.Ich bedanke mich.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seltenhat man solch unseriöse Reden hier gehört, FrauSteinbach.
Dabei haben Sie auch noch auf falschen Behauptungenbeharrt, etwa bezüglich Herrn Beck. Er ist ein guter undengagierter Abgeordneter. Das sage ich, auch wenn ichpolitisch nicht alle seine Positionen teile. Er ist kein Ju-rist. Das muss man schon sehen.Selten ist mehr Heuchelei im Deutschen Bundestagzu hören als dann, wenn es um das Thema Menschen-rechte geht. Die kurzfristig zeitweilige Aufnahme vonMenschenrechtsverteidigern ziehen Sie aus der Koali-tion in Ihrem Antrag unter den entsprechenden Vor-schriften des geltenden Ausländerrechts gegebenenfallsin Erwägung. Angesichts der Tatsache, dass das Auslän-derrecht kaum noch Schutz für politisch Verfolgte bietet,ist das eigentlich zynisch.
Jahr für Jahr erreichen weniger Flüchtlinge überhauptden Geltungsbereich dieses Ausländerrechts, weil sievon der Europäischen Union und auch von der Bundes-regierung mit martialischen Mitteln wie der Grenz-schutzagentur FRONTEX an der Flucht und an der Ein-reise gehindert werden und im Mittelmeer sterbenmüssen. Ein wertvoller Beitrag zum Schutz der Men-schenrechte ist für die Linke ein freier Zugang fürFlüchtlinge und ein umfassendes Asylrecht.
Doch davon ist in den vorliegenden Anträgen natür-lich keine Rede; denn Menschenrechtsverletzungen fin-det man leider immer nur bei anderen. Glaubwürdig istman bei Menschenrechten aber nur dann, wenn man beisich selbst beginnt.
Beim Rüstungsexport haben Sie eine Politik zu ver-antworten, die Sie unglaubwürdig macht. Wie sonst er-klären Sie es sich, staatlich finanzierte Ausstattungshilfefür die Armeen in Georgien, in Nigeria, im Jemen und inMarokko zu leisten? Wie sonst ist zu erklären, dass diedeutsche Rüstungsindustrie mittlerweile im internationa-len Vergleich auf Platz drei liegt und das weltweite Ge-schäft mit dem Tod in Deutschland derart boomt? Wiesonst ist es zu erklären, dass Sie zu der monarchistischenDiktatur in Saudi-Arabien einfach immer nur schweigen,aber exzellente Handelsbeziehungen zu ihr pflegen?
Wie ist die Partnerschaft mit Marokko menschen-rechtlich für Sie vereinbar, zumal die Westsahara weiter-hin völkerrechtswidrig besetzt ist und ständig Men-schenrechte der Saharauis verletzt werden, wie jüngstdie Verhaftung von sieben Menschenrechtsaktivisten,die im Hungerstreik sind? Wie sieht es mit Ihrer Men-schenrechtspolitik hinsichtlich der Menschenrechtsver-teidiger aus Honduras aus? Jesús Garza und BerthaOliva waren hier im Bundestag und haben über die Men-schenrechtssituation in Honduras gesprochen. Der Leiterder FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung denunziertdiese Menschen in der honduranischen Zeitung undnennt sie Spalter. Das ist ein Skandal, meine Damen undHerren.
Ist es mit Menschenrechten vereinbar, dass deutscheKonzerne wie ThyssenKrupp – unterstützt durch Zu-schüsse und Steuererleichterungen durch die Regierung –Milizen als Werkschutz anheuern, die mit Morddrohun-gen gegen protestierende Fischer vorgehen?Warum schweigen Sie dazu, dass alle fünf Sekundenin der Welt ein Kind unter zehn Jahren verhungert,50 000 Menschen täglich an Hunger sterben
und eine Milliarde Menschen permanent unterernährt ist,während Nahrungsmittel zur Gewinnung von Treibstof-fen für Industrieländer verbrannt werden? Was sagen Siedazu, dass Ende 2008 allein in Europa in wenigen Tagen1,7 Billionen Euro für Banken und Konzerne bereitge-stellt wurden und gleichzeitig das Welternährungspro-gramm von 6 Milliarden auf 3,8 Milliarden Euro redu-ziert wurde, weil Industriestaaten die Mittel fürhumanitäre Soforthilfe gekürzt haben?Das hat nichts mehr mit Menschenrechten zu tun. WerMenschenrechte sagt und Rohstoffe wie im Südsudanmeint, wer politische Rechte für Bürger in anderen Staa-ten einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in de-nen ihnen Folter droht, wer Meinungsfreiheit anderswoeinklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder vorbe-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3235
Sevim Daðdelen
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Sevim Dağdelenreitet, wer öffentliche Dienstleistungen, das Rentensys-tem und die Gesundheitsvorsorge privatisiert, derverwandelt den Kampf um Menschenrechte in ein In-strument von Sozialraub, Krieg und imperialer Politik.
Wir, die Linke, verstehen Menschenrechte als Wider-standsrechte gegen Neoliberalismus, entfesselten Kapi-talismus und Krieg.
– Es ist klar, dass das von der FDP kommt.Menschenrechte sind nur dann von Dauer, wenn sieauf einer Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, diedie strukturellen Ursachen der andauernden Menschen-rechtsverletzungen beseitigt.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Deshalb treten wir für eine neue, für eine gerechte
Wirtschafts- und Sozialordnung ein. Deshalb setzen wir
uns für ein Exportverbot von Rüstungsgütern ein.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Siein der Menschenrechtsdebatte in diesem Hohen Hausnoch einmal ernst genommen werden wollen, dann zie-hen Sie bitte nach dem heutigen Auftritt die menschen-rechtspolitische Sprecherin Steinbach aus dem Aus-schuss zurück.
Diese Art, mit Falschbehauptungen die Menschen-rechtsdebatte zu bestreiten, obwohl man es besser weiß,ist angesichts der Vorlagen, die hier auf dem Tisch lie-gen, unglaublich.Wir haben uns um sexuellen Missbrauch von Kindernschon 1984 mit einer Großen Anfrage hier im Bundestaggekümmert. Damals waren wir erst ein Jahr im Parla-ment. Wir brauchen uns bei diesem Thema nichts vor-werfen zu lassen. Dass es bestimmte Diskussionen gab,die abwegig waren, sei dahingestellt. Das war nie Be-schlusslage.
– Sie hatten Diskussionen mit Leuten, die Sie ausge-schlossen hatten. Das waren jede Menge Personen.Wenn ich Sie mit den Positionen dieser Leute identifizie-ren würde, würden Sie sich das zu Recht verbitten. Alsobitte, lassen Sie die Kirche im Dorf.
Ich möchte jetzt zu den Menschenrechten sprechenund mich nicht von Ihren Nebenkriegsschauplätzen ab-lenken lassen. Es liegen Anträge vor, die die spanischeRatspräsidentschaft unterstützen und das Ziel haben,Menschenrechtsverteidigern besser zu helfen. Die spani-sche Präsidentschaft schlägt vor, einen Liaison-Offizier,also einen Verbindungsbeamten, für die Menschen-rechtsverteidiger einzusetzen, wie ihn die Spanier bereitshaben. In Spanien ist es Praxis, dass gefährdete Men-schenrechtsverteidiger von Spanien, ohne dass ein Asyl-antrag gestellt werden muss, für zwölf Monate aufge-nommen und anständig mit 1 200 Euro im Monatfinanziell unterstützt werden. Wer es mit der Unterstüt-zung von Menschenrechten und Menschenrechtsvertei-digern im Ausland ernst meint, muss Konsequenzen zie-hen und ihnen Schutz gewähren, wenn sie ernsthaftgefährdet sind.
Dazu steht in Ihrem Antrag kein Sterbenswörtchen.Wenn Sie jetzt schon wissen, dass Sie das alles ablehnen,und wenn Sie sich gegen die Ratspräsidentschaft wen-den, dann ist das europapolitisch und außenpolitisch einArmutszeugnis.Lassen Sie mich zu Ihrem Antrag kommen. Wir ha-ben uns zum Erstaunen der SPD ernsthaft Mühe gemachtund gedacht, dass wir, auch wenn die Themenzusam-menstellung ein bisschen nach „copy and paste“ aus-sieht, versuchen sollten, das Beste daraus zu machen;denn am Ende wird es womöglich beschlossen. Aber mitdem Antrag verhält es sich wie mit dem Anfang IhrerRede: allgemeine Worte, ein Blick ins Ausland; aberKonsequenzen sucht man in diesem Antrag bei jedemPunkt vergebens. Bei Ihnen ist es wie im Kino: Je weiterdie Menschenrechtsverletzungen weg sind, desto bessersehen Sie sie. Wenn sie direkt vor Ihnen stattfinden oderda, wo man etwas tun könnte, dann können Sie sie nichtmehr erkennen.
Stichwort Guantánamo. Wer Guantánamo kritisiertund auflösen will, muss dazu bereit sein, auch hier Men-schen aufzunehmen, die offensichtlich unschuldig sind.
Wenn Sie den uigurischen Gefangenen sagen, sie solltennach Amerika gehen, in das Land, das sie zu Unrecht ge-fangen gehalten hat, dann ist das genauso, als wenn wir1945 zu den deutschen Vertriebenen gesagt hätten, siesollten sich in Sibirien ansiedeln. Das ist einfach eine
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3236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Volker Beck
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Unverschämtheit. So kann mit Menschen in Not nichtumgehen.
Wenn Sie über Menschenhandel schimpfen und Frauen-handel kritisieren, dann müssen Sie schauen, wie esfunktioniert. Wir stellen hier einen Antrag, dass SieKonsequenzen aus Ihren großen Worten ziehen. DieseOpfer brauchen ein Bleiberecht.
– Herr Grindel, Sie müssen ertragen, dass im Momentüberwiegend ich das Wort habe. – Den Opfern des Men-schenhandels kann man nur dadurch helfen, dass sie,wenn sie in Deutschland zur Polizei gehen, aussagen undStrafanzeige erstatten, nicht in das Land abgeschobenwerden, in dem die Banden sitzen, die sie verschleppthaben. Jeder, der hier aussagt und nach dem Prozess zu-rück muss, muss um Leib und Leben fürchten; er mussnicht den Staat fürchten, sondern die kriminellen Ban-den, die so etwas machen.
Im heutigen Zeitalter, in dem Wirtschaftskonzerne in-ternational eine immer stärkere Bedeutung bekommenund mächtiger als manche Staaten sind, müssen wir unsauch über das Thema „Menschenrechte und Wirtschaft“unterhalten. Wir wissen, dass gerade in Afrika viele Bür-gerkriege und Menschenrechtsverletzungen nur wegendes Rohstoffhungers in der Welt stattfinden. Es mussklar sein: Wer Opfer von Menschenrechtsverletzungenwird, auch unter Beteiligung von Firmen, die hier Töch-ter oder Muttergesellschaften haben, dem muss es auchnoch nach Jahren möglich sein, unabhängig von den en-gen Verjährungsregelungen des jetzigen Zivilrechts, hierSchadensersatz von diesen Firmen einzuklagen. Ansons-ten ist das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ mitall den wunderbaren freiwilligen Vereinbarungen, dieSie in Ihrem Antrag aufgezählt haben, leeres Geschwätz;denn sie helfen den Opfern nicht, sie wirken nicht gene-ralpräventiv, und Menschenrechtsverletzungen zahlensich weiter aus. Es fehlt Ihnen in allen Punkten an der Konsequenz.Deshalb ist dies eine in Antragsform gegossene Schön-wetter- und Sonntagsrede zum Thema Menschenrechte.Mehr ist aber notwendig, wenn man ernsthafte Men-schenrechtspolitik machen will.
Der Kollege Dr. Egon Jüttner hat seine Rede zu Pro-tokoll gegeben.1)1) Anlage 8
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.Zunächst zum Tagesordnungspunkt 12 a. Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Hu-manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Menschenrechte weltweitschützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/1135, den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache17/ 257 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Nun liegen dazu sechs Änderungsanträge der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst ab-stimmen. Zunächst zum Änderungsantrag aufDrucksache 17/1227. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist damitabgelehnt. – Besteht Einverständnis darüber, dass wir ab22 Uhr bei den Änderungsanträgen pauschal Ablehnungund Zustimmung signalisieren, oder möchten Sie imProtokoll die genauen Abstimmungsvoten der Fraktio-nen haben?
– Dann stelle ich das Ergebnis fest: Der Änderungsan-trag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und derFraktion Die Linke.Änderungsantrag auf Drucksache 17/1228. Werstimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt mit dem gleichen Stim-menverhältnis.Änderungsantrag auf Drucksache 17/1229. Wer istdafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-rungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undEnthaltung der SPD-Fraktion.Wir kommen zum Änderungsantrag aufDrucksache 17/1230. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist abge-lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Frak-tion.Änderungsantrag auf Drucksache 17/1231. Werstimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak-tion und der Fraktion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3237
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache17/1232. Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FraktionDie Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion.Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-genstimmen der Oppositionsfraktionen.Tagesordnungspunkte 12 b und 12 c. Hier wird inter-fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 17/1048 und 17/1165 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da-mit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 cauf:a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
– Drucksache 17/1047 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Rechtsausschussb) Erste Beratung des von den Abgeordneten MemetKilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Hönlinger,weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
– Drucksache 17/1150 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der Abgeordneten SevimDağdelen, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEKommunales Wahlrecht für Drittstaatsange-hörige einführen– Drucksache 17/1146 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die SPD-Fraktion möchte sich heute Abend mit einem– aus ihrer Sicht jedenfalls – alten und lieben Bekanntenbefassen. Es handelt sich um die Grundgesetzänderungim Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 3. Es geht darum, dieMöglichkeit zu schaffen, dass Länderparlamente darüberentscheiden können, dass ausländische Mitbürger, dieaus Drittstaaten kommen, an Kommunalwahlen teilneh-men können. Das hat der Bundesrat übrigens schon 1997auf Antrag der SPD beschlossen. In diesem Haus hat erbisher noch keine Mehrheit gefunden. Ich sage ganz of-fen: Ich war wenig begeistert davon, dass wir im vorletz-ten Jahr nach einer Anhörung im Parlament dem Antrag,der von anderer Seite gestellt worden war, aus Gründender Koalitionsräson nicht zustimmen konnten.Ich halte zunächst einmal zufrieden fest, dass wirheute einen Antrag beraten, der aus unserer Federstammt, der identisch mit dem Wortlaut des Bundesrats-beschlusses ist und der auch wortgleich von der FraktionBündnis 90/Die Grünen und sinngemäß, jedenfalls in derBegründung, von der Fraktion Die Linke eingebrachtworden ist.Weil das alles schon recht bekannt ist und die Diskus-sion schon viele Jahre geführt wurde,
kann ich verstehen, dass der eine oder andere es nichtgerade als sensationell empfindet,
dass er sich heute Abend noch damit befassen muss,Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Mayer.
Ich kann Ihnen das aber nicht ersparen;
denn wir sprechen von ungefähr 4 Millionen Menschen,die in Deutschland leben und die weder den deutschenPass noch einen Pass aus einem Mitgliedstaat der Euro-päischen Union haben. Es handelt sich um Ausländerin-nen und Ausländer aus sogenannten Drittstaaten, alsoaus Staaten außerhalb der Europäischen Union. Um de-ren Mitwirkungsmöglichkeit im kommunalen Bereich– wir wollen ihre Teilhabe an der Gesellschaft, wir wol-len eine Mitmachgesellschaft – geht es.
Die genannte Zahl ist nicht klein. Berlin hat, wie ichheute gelesen habe, aufgrund des Bevölkerungswachs-tums derzeit 3,4 Millionen Einwohner zu verzeichnen.Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn eine solche Zahlan Deutschen auf diese Art und Weise von der Wahl aus-geschlossen ist.
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3238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Rüdiger Veit
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Im Übrigen: Wenn wir uns die Situation bei kommu-nalen Wahlen genau anschauen, dann stellt man fest,dass es praktisch drei Gruppen gibt. Es gibt dort, woviele Menschen mit ausländischem Pass leben, ungefährein Drittel, das nicht wählen darf, ein Drittel, das nichtwählen will, und ein Drittel, das wählen geht. Sie sindes, die über die Zusammensetzung der Kommunalparla-mente entscheiden. Man kann nicht sagen, dass das einezufriedenstellende demokratische Legitimation ist. Wirwünschen uns mehr Beteiligung von allen, die hier le-ben. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt.
– Herr Kollege, das will ich Ihnen gleich erklären.Vorher will ich Ihnen aber eine Frage stellen – dazuist die Stunde nun doch noch nicht zu spät –: Was habender Freiherr vom Stein, die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP und die CDU-Oberbürger-meisterin der Stadt Frankfurt gemeinsam? Alle drei sindfür das kommunale Ausländerwahlrecht: Der Freiherrvom Stein schon 1808 im Bereich seiner Städteordnung,die er damals geschaffen hat. Frau Roth hat damals an-lässlich der Oberbürgermeisterwahlen geäußert: Wir hat-ten bis jetzt etwa 50 000 wahlberechtigte EU-Ausländer.Wenn alle Ausländer wählen dürften, hätten wir rund140 000 Wahlberechtigte. Ich hätte gerne, dass diese üb-rigen 90 000 Frankfurter ebenfalls wählen dürften. – Dasfinde ich richtig.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat am 21. August2009 gesagt, dass sie die Kampagne „Demokratiebraucht jede Stimme“ für ein kommunales Ausländer-wahlrecht in Bayern unterstütze. Die Arbeitsgemein-schaft der Ausländerbeiräte Bayerns hat sie dafür aus-drücklich gelobt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Koali-tion, fassen Sie sich ein Herz und überlegen Sie, ob Siedieser Verfassungsänderung nicht doch zustimmen soll-ten.Was spricht denn dagegen? Gerade aus Ihrem Bereichwird immer wieder geäußert: Wahlrecht setzt Staatsbür-gerschaft voraus. Sie sind aber nicht konsequent undehrlich genug, um zu sagen: Dann lassen Sie uns bitteeinmal die Voraussetzungen für die Einbürgerung er-leichtern, damit wir wenigstens annähernd solche Zahlenhaben wie beispielsweise Schweden oder die Nieder-lande.
Deutschland hinkt bei den Einbürgerungszahlen im EU-Vergleich weit hinterher.
Wenn, dann seien Sie bitte auch konsequent: StimmenSie den Veränderungen im Bereich des Staatsbürger-schaftsrechtes zu. Dann kann ich Ihr Argument ernstnehmen, sonst nicht.Ich vermag nicht einzusehen, warum jemand die deut-sche Staatsbürgerschaft braucht, um auf kommunalerEbene beispielsweise zu entscheiden, ob in einem Be-bauungsplan genügend Freiraum für Spielflächen fürKinder vorgesehen ist. Ich vermag nicht zu erkennen,warum man die deutsche Staatsbürgerschaft braucht, umverantwortungsvoll entscheiden zu können, in welcherWeise und mit welchen Finanzmitteln Kindergärten oderSchulen gebaut werden sollen. Man braucht die deutscheStaatsbürgerschaft auch nicht, um auf kommunalerEbene zu entscheiden, dass man ein städtisches Kran-kenhaus nicht an irgendjemanden verhökert und ver-kauft. So ließe sich die Reihe der Beispiele ohne weite-res fortsetzen.Wir haben – dieses Argument von Ihnen kenne ichschon – anlässlich der Expertenanhörung im Innenaus-schuss des Bundestages sieben Experten gehört. Sechsdavon waren Juristen. Nun gibt es ja das böse Sprich-wort: Zwei Juristen, drei Meinungen. Ich sage Ihnenaber einmal: Unter diesen sieben Sachverständigen – wiegesagt, sechs Juristen darunter – gab es nur zwei mit ei-ner abweichenden Meinung.
Sie haben gesagt: Es gibt verfassungsrechtliche Beden-ken, Ausländern, die aus Drittstaaten kommen, das kom-munale Wahlrecht einzuräumen.Kollege Mayer, die ganze Diskussion knüpft an dieRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu denLändergesetzen von Schleswig-Holstein und Hamburgaus dem Jahr 1990 an. Damals gab es noch nicht, wasdann zum 31. Dezember 1992 beschlossen worden ist,nämlich die Bestimmung, dass alle EU-Ausländer beiKommunalwahlen wahlberechtigt sind. Nun weiß ichauch, dass man nicht jeden Sachverhalt über einenKamm scheren kann. Es gibt sicherlich Unterschiede– das verkenne ich nicht –, aber ich bestreite entschieden– so hat es auch die Mehrheit der Sachverständigen ge-tan –, dass es eine unüberwindbare verfassungsrechtli-che Hürde für die Einführung des Kommunalwahlrechtsfür ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt.Das setzt eine Verfassungsänderung voraus. Wir Sozial-demokraten wollen das schon sehr lange. Wir wollen dasauch weiterhin. Wir werben bei Ihnen allen um entspre-chende Unterstützung.Ich darf meinen Appell wiederholen: Nehmen Siesich ein Beispiel an Frau Roth, der Oberbürgermeisterinvon Frankfurt. Sie hat Erfahrung im Umgang mit Mi-grantinnen und Migranten. Frankfurt hat einen sehr ho-hen Ausländeranteil. Nehmen Sie sich auch ein Beispielan unserer jetzigen Justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3239
Rüdiger Veit
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Dann bekommen wir in diesem Haus und in der zweitenKammer vielleicht eine Verfassungsänderung hin. Daswürde ich mir wünschen. Wir wollen das. Wir wolltendas schon immer. Es bleibt dabei. Wir werden diesesProjekt weiter intensiv verfolgen.Danke sehr.
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die letzte Debatte über das Thema „Kommunalwahl-recht für Ausländer“ haben wir, Herr Veit, vor zehn Mo-naten, am 28. Mai 2009, geführt. An der Sachlage hatsich seitdem nichts geändert. Ihre Argumente haben sichauch nicht geändert. Insofern werden Sie nicht böse sein,dass sich an der Position der CDU/CSU-Fraktion auchnichts geändert hat.Ich würde mich aber freuen, Herr Kollege Veit, wenndie Opposition hier einmal mit neuen, weiterführendenIdeen kommen würde, wie man die Integration der Men-schen mit Migrationshintergrund weiter verbessernkann, anstatt hier immer wieder die gleichen Anträge zustellen, mit denen Sie den Menschen tatsächlich in ihrerkonkreten Lebenssituation überhaupt nicht helfen.
Sie werden doch nicht ernsthaft behaupten, dass dieIntegration von Migranten in den Ländern, in denen esein Kommunalwahlrecht für Ausländer gibt, signifikantbesser gelungen ist. Nein, unsere ausländischen Mitbür-ger wollen Angebote zur Verbesserung ihrer Sprachkom-petenz. Sie wollen gute Perspektiven für ihre Kinder imKindergarten und in der Schule. Außerdem wollen sie,dass die Arbeitslosigkeit bei Ausländern nicht immerdeutlich höher ist als bei den deutschen Arbeitnehmern.In all diesen Feldern echter Integrationspolitik sind wirunter der Verantwortung von Bundeskanzlerin AngelaMerkel und der im Kanzleramt angesiedelten Staatsmi-nisterin für Integration, Maria Böhmer, gut vorangekom-men. Das ist konkrete Integrationspolitik. Davon habenunsere ausländischen Mitbürger etwas, aber nicht vonIhren relativ sinnentleerten Anträgen.
Die Vertreter der Oppositionsparteien wissen ganz ge-nau, dass es gravierende verfassungsrechtliche Gründegibt, die gegen ein Kommunalwahlrecht für Ausländersprechen. Diese Bedenken können, wie uns Verfassungs-rechtler bei der bereits angesprochenen öffentlichen An-hörung im Jahre 2008 erklärt haben, auch nicht durcheine Verfassungsänderung ausgeräumt werden. Eine Er-weiterung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsange-hörige über den Kreis der EU-Bürger hinaus wird von ei-ner Reihe von Verfassungsrechtlern als Verstoß gegendie verfassungsrechtliche Ordnung schlechthin betrach-tet.Der Grundsatz, wonach alle Staatsgewalt vom Volkeausgeht, unterliegt der Ewigkeitsgarantie des Art. 20Grundgesetz und kann selbst durch eine Verfassungsän-derung nicht außer Kraft gesetzt werden. Nach ständigerRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dasStaatsvolk in der Bundesrepublik Deutschland das deut-sche Volk und wird von den deutschen Staatsangehöri-gen gebildet. Eine Ausnahme – das ist wahr – kann es in-soweit nur für die Staatsangehörigen anderer Länder derEuropäischen Union geben, weil ihnen nach dem Vertragvon Maastricht die Unionsbürgerschaft zukommt, dieauch das kommunale Wahlrecht umfasst.
Bei den Kommunalwahlen regeln die Bürger einerGemeinde, einer Stadt oder eines Landkreises ihre örtli-chen Angelegenheiten. Es geht um das Wohl der Kom-mune, die die Menschen im Blick haben.
Die Frage ist, Herr Kollege Veit, ob ein ausländischerMitbürger, der nicht der Unentrinnbarkeit der deutschenStaatsgewalt unterliegt, weil er nicht zum deutschenStaatsvolk gehört und sich dementsprechend jederzeitder Wirkung der Staatsgewalt entziehen könnte, bei sei-ner Wahlentscheidung auch nur das Wohl der Kommuneim Blick hat.Daran – das sage ich Ihnen ganz offen – wird manZweifel haben dürfen, wenn man die jüngsten Reden destürkischen Ministerpräsidenten Erdoğan nachliest.Erdoğan hat seine Landsleute in Deutschland aufge-rufen, die deutsche Staatsbürgerschaft in Form der dop-pelten Staatsbürgerschaft zu erwerben, um mehr Einflussfür türkische Interessen ausüben zu können. Wenn alsoschon bei doppelten Staatsbürgern zu befürchten ist, dassaus dem Loyalitätskonflikt ein Loyalitätsverzicht gegen-über dem deutschen Staat wird, dann ist eine solche Be-fürchtung erst recht angebracht, wenn es sich um Perso-nen handelt, die ausschließlich nur die türkischeStaatsbürgerschaft besitzen, obwohl sie zum Teil vieleJahre in unserem Land leben.Herr Veit, Sie haben gesagt: Lass sie doch entschei-den, ob Schulen gebaut werden. – Ich will, dass sie da-rüber entscheiden, wie die Schulen für die Schüler in-haltlich gut gemacht werden. Ich will nicht, dass sie übertürkische Gymnasien entscheiden, um das ganz klar zusagen.
Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk sind die dreiSäulen, auf denen die Staatlichkeit eines Gemeinwesensruht. Unklarheiten führen dabei – das lehrt uns die Ge-schichte in vielen Ländern – nur zu Konflikten. Deshalbbin ich für Klarheit: Wer als Ausländer sich gut integrierthat, auf Dauer bei uns leben möchte und wer auf die Ge-staltung seines Gemeinwesens, von der Gemeinde bis
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3240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Reinhard Grindel
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hin zur Bundesebene, Einfluss nehmen will, der ist herz-lich eingeladen, die deutsche Staatsbürgerschaft unterVerzicht auf seine bisherige Staatsangehörigkeit zu er-werben. Dann kann er auf allen staatlichen Ebenen durchein aktives und passives Wahlrecht Einfluss nehmen.Es bleibt bei unserem Grundsatz: Die Verleihung derdeutschen Staatsbürgerschaft und der Erwerb des akti-ven und passiven Wahlrechts stehen am Ende eines ge-lungenen Integrationsprozesses und sind keine Eintritts-karte.
Ein Wahlrecht für alle staatlichen Ebenen macht auchinsoweit Sinn, als viele Fragen, die die Menschen mitMigrationshintergrund in besonderer Weise betreffen,eben im Landtag oder Bundestag entschieden werden.Ein Kommunalwahlrecht für Ausländer würde den An-trieb, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, wei-ter erlahmen lassen. Im Ergebnis würde es die Integra-tion also nicht befördern, sondern behindern.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberHerr Grindel, ich frage mich wirklich, von wo Sie immerIhre Argumente hervorzaubern.
Sie sagen, Drittstaatsangehörigen oder ausländischenMitbürgerinnen und Mitbürgern könne man kein kom-munales Wahlrecht geben. Diese Menschen sind nachIhrer Auffassung offenbar nicht in der Lage, im Interessebzw. zum Wohle der Kommune zu entscheiden.
Seit 1992 gibt es das kommunale Wahlrecht für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die nicht deutsche Staats-angehörige sind. Wollen Sie jetzt behaupten, dass Mil-lionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die in Deutsch-land das kommunale Wahlrecht haben, nicht zum Wohlder Kommune entscheiden, sondern für irgendetwas an-deres? Ich finde, das sollten Sie sich sparen.Sie möchten die Integration mit der sozialen Frageverbinden; auch das ist für meine Ohren neu. Aber beidiesem Thema geht es nicht nur um Integration. Hiergeht es um Gleichstellung, hier geht es auch um Partizi-pation, und hier geht es um das Kernstück der Demokra-tie: Wir wollen mehr als 4 Millionen Menschen dasRecht einräumen, sich an Wahlen zu beteiligen. DiesesRecht möchten wir diesen Menschen nicht vorenthalten.Deshalb unterstützen wir diese Initiative selbstverständ-lich.Es geht bei diesem Thema um Gleichstellung. In 16der 27 EU-Mitgliedstaaten wurde das kommunale Wahl-recht für Drittstaatsangehörige, wenn auch mit unter-schiedlichen gesetzlichen Bestimmungen, bereits reali-siert. Es kann also keine Rede davon sein, dass dieseMenschen nicht im Interesse der Kommune entscheiden.
Es wurde deutlich: Das Verständnis, das Schwarz-Gelbvon Integration hat, ist offenkundig gleichbedeutend mitUngleichheit; denn Sie wollen die bestehende Ungleich-heit zementieren.Ich möchte mich auch an Herrn Veit und die SPDwenden. Es ist nicht zu verhehlen – da hat Herr Grindelrecht –: Es ist Wahlkampf. Ich frage Sie, Herr Veit: Wasist innerhalb der letzten zehn Monate passiert? Noch vorzehn Monaten haben Sie hier im Bundestag bei einer na-mentlichen Abstimmung gegen das kommunale Wahl-recht für Drittstaatenangehörige gestimmt.
Aber jetzt, kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, meinen Sie Ihr vermeintliches Herz für Mi-grantinnen und Migranten entdecken zu müssen.Auch in diesem Kontext ist zu sehen, dass Sie heuteeine Pressekonferenz einberufen haben, und zwar nurdeshalb, um zu Ihrem heute zu beratenden Gesetzent-wurf Stellung zu nehmen. Das macht Sie nicht glaub-würdiger. Sie haben es in Ihren elf Regierungsjahrennicht geschafft, bei diesem Thema eine Initiative auf denWeg zu bringen. Herr Veit, wo war die SPD in diesen elfRegierungsjahren? Warum haben Sie keine Initiative er-griffen, um Drittstaatenangehörigen das Wahlrecht zu-mindest auf der kommunalen Ebene zu geben? Sie habennichts getan. Jetzt, kurz vor der Landtagswahl in NRW,wollen Sie etwas tun. Das ist für die SPD schändlich,Herr Veit.
Sie sagen – insbesondere von der Union, aber auchvon der FDP hört man das immer wieder –, die Men-schen sollen sich einbürgern lassen und deutsche Staats-angehörige werden; dann können sie auch von ihremWahlrecht Gebrauch machen. Ich frage mich: In welcherWelt leben Sie eigentlich? Sie haben das Staatsangehö-rigkeitsgesetz in den letzten Jahren immer weiter ver-schärft. Im September 2008 haben Sie den Einbürge-rungstest eingeführt. Die vorherige rot-grüne Regierunghat das Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahre 2000 refor-miert. Auch diese Reform hat übrigens zu einem Rück-gang der Zahl der Einbürgerungen geführt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3241
Sevim Daðdelen
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Sevim DağdelenDer Einbürgerungstest, den Sie im Jahr 2008 einge-führt haben, hatte zur Folge, dass die Zahl der Einbürge-rungen im Jahr 2009 im Vergleich zu 2008 um19 Prozent gesunken ist. Seit dem Jahr 2000, also seitder großen Reform unter Rot-Grün, beträgt der Rück-gang 55 Prozent. Es ist also Quatsch, zu sagen: DieLeute sollen sich einbürgern lassen. – Vielmehr müssenwir Einbürgerungen massiv erleichtern,
damit die Menschen überhaupt eingebürgert werden undbei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. MaiGebrauch von ihrem Wahlrecht machen können. Wirbrauchen aber auch ein kommunales Wahlrecht, damitwir – aus demokratietheoretischen Gründen sage ich das,Herr Grindel – in Deutschland weniger demokratiefreieZonen haben. Wie können Sie in den Kommunen Stadt-räte legitimieren, wenn dort 30 oder 35 Prozent der Be-völkerung an den Wahlen nicht teilnehmen können?
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Wir als Linke fordern de-
mokratische und soziale Rechte für alle in Deutschland
lebenden Menschen – und das, liebe SPD, nicht nur
dann, wenn sie uns gerade mal wahltaktisch genehm
sind.
Nun hat der Kollege Serkan Tören für die FDP-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die wichtigsten Orte der Integration sind jene, in denendas alltägliche Leben stattfindet. Das ist dort, wo unsereKinder zur Schule gehen, wo wir Mitglied in Sportverei-nen sind und wo es um Bebauungspläne für Wohnge-biete geht. Gerade vor Ort ist es von besonderer Bedeu-tung, dass sich Migranten politisch einbringen und dieEntscheidungen mitgestalten können. Es existieren dortbereits einige Modelle, so zum Beispiel Ausländerbei-räte und Integrationsräte. Ich spreche aber ein offenesGeheimnis an, wenn ich sage, dass deren Sinnhaftigkeitzweifelhaft ist. Denn diese Gremien werden de facto nursehr schlecht angenommen.
Ich will nur auf die letzten Integrationswahlen in NRWverweisen. Da lag die Wahlbeteiligung bei nur 11 Pro-zent. Hören Sie sich das genau an: nur 11 Prozent. EinGremium zu wählen, das die wirklich entscheidungsbe-rechtigten Kommunalvertretungen nur berät, ist nun ein-mal nicht sonderlich attraktiv.Die FDP hat sich schon immer für eine Ausweitungdemokratischer Mitbestimmung und für eine Verbesse-rung politischer Teilhabe von Migranten eingesetzt, al-lerdings immer unter bestimmten Voraussetzungen undunter dem klaren Leitbild eines mündigen Bürgers, dersich in die öffentlichen Belange einmischt und auch ein-mischen kann.Die Linke und die SPD fordern als einzige Vorausset-zung dafür, das Kommunalwahlrecht zu erlangen, denständigen Wohnsitz. Ich sage Ihnen ganz klar: Das istnicht ausreichend. Das ist schwammig. Das zeigt auch,dass Sie sich mit Ihrem eigenen Antrag überhaupt nichtbeschäftigt haben.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen, führen benachbarte Länder wie Belgien, Schwedenoder auch Irland als glänzende Beispiele an. Dann möchteich Ihnen auch mal erzählen, wie es dort tatsächlich aus-sieht: Erstens. Die Wahlbeteiligung der Migranten ist indiesen Ländern stets niedriger als die der Staatsbürgerohne Migrationshintergrund.
Zweitens. Besonders niedrig ist dabei die Wahlbeteili-gung in Gemeinden mit einem hohen Migrantenanteil.Drittens. Migranten in diesen Ländern nehmen das pas-sive Wahlrecht – wenn überhaupt – nur sehr selten wahr.Das hat natürlich Gründe: Dazu zählen eine mangelndeKenntnis der jeweiligen politischen Systeme, oft auch einanderes kulturelles Verständnis von Interessenvertretun-gen, teilweise auch die geringe Bereitschaft der Parteien,sich zu öffnen, oder einfach ein genereller Politikver-druss, wie man ihn auch bei Deutschen hier in Deutsch-land kennt.
All diese Punkte zeigen: Das Wahlrecht ist nicht – sobehaupten es die Damen und Herren der Linken – dieentscheidende Komponente erfolgreicher Integrations-politik. Es sollte auch bitte nicht als solche verkauft wer-den. Damit machen Sie es sich viel zu einfach.
Auch das Argument der Ungleichbehandlung gegenüberEU-Bürgern halte ich für nicht tragfähig, und ich wun-dere mich darüber immer wieder. Anscheinend kennenSie die EU-Verträge und das, was damit verbunden ist,nicht. Deutschland ist in die EU integriert. Es gibt dieseVerträge nun einmal. Sie müssen sie sich einmal genaudurchlesen.
Wir als FDP können uns durchaus vorstellen, dass einAusländerwahlrecht in bestimmten Kommunen sinnvollist. Es muss dann allerdings an Bestimmungen geknüpftsein. Wenn sich ein Drittstaatenausländer mindestensfünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhält, sollte es
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Serkan Tören
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den Kommunen grundsätzlich ermöglicht werden, ihmdas Wahlrecht zu verleihen. Dazu darf es aber keinestarre Vorschrift im Grundgesetz geben. Denkbar wärean dieser Stelle zum Beispiel eine Länderöffnungsklau-sel nach dem Subsidiaritätsprinzip, die es den Ländern inihrer Hoheit ermöglicht, den Kommunen die Entschei-dung über ein solches Ausländerwahlrecht und dessenVoraussetzungen zu überlassen und es zu gestalten.
Worum es in dieser Debatte tatsächlich geht, ist dasZiel einer verbesserten Integration. Es geht um das Zieleiner vollen gesellschaftlichen und politischen Teil-nahme von Migrantinnen und Migranten in Deutschland.Dazu ist das kommunale Wahlrecht sicherlich nicht dasgeeignete Mittel. Der Königsweg ist und bleibt die Ein-bürgerung. Gleichwohl: Wir alle kennen die ernüch-ternde Situation, dass sich von 45 möglichen Personennur eine tatsächlich einbürgern lässt. Das ist nicht befrie-digend. Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeitwerben. Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen:Ein paar warme Worte reichen nicht aus. Wir müssenkonkrete Anreize schaffen. Ein Ansatzpunkt kann diezügigere Einbürgerung für besonders erfolgreich inte-grierte Migranten sein. Indem die Einbürgerung von be-stimmten Integrationsleistungen abhängt, gibt sie näm-lich allgemeine Zielstellungen vor.
Diese sind wichtig und unabdingbar für die Motivationder Migranten, insbesondere aber für unser Gemeinwe-sen. Ein Beispiel: Studiert ein junger Mensch erfolgreichin Deutschland, lernt er Land und Leute kennen undlernt er die Sprache, ist er hochqualifiziert, so sind diesdie Integrationsleistungen, die bei der Wartezeit Berück-sichtigung finden sollten.Meine Damen und Herren, man kann sich darüberstreiten – wir tun dies, auch heute –, ob die Einbürgerungam Anfang oder am Ende einer erfolgreichen Integrationstehen sollte. Lassen Sie es mich so formulieren: DieEinbürgerung ist ein Meilenstein im Integrationsprozess.Die Zahl der Einbürgerungen zu steigern, muss in unseraller Interesse sein.
Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer ist nichtsHalbes und nichts Ganzes. Sorgen wir dafür, dass Mi-granten voll und ganz teilhaben an Staat und Gesell-schaft! Sorgen wir dafür, dass Migranten sich voll undganz zu Staat und Gesellschaft als deutsche Patrioten be-kennen!
Nächster Redner ist der Kollege Memet Kilic für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe gerade mit Erstaunen zur Kenntnis genommen,dass die Unionsparteien eine Erweiterung des kommuna-len Wahlrechts auf Drittstaatler für verfassungswidrighalten
und unsere Kollegen von der FDP eine Erweiterung deskommunalen Wahlrechts auf Drittstaatler für nicht erfor-derlich halten, sich vielmehr dafür aussprechen, dass dieKommunen das über eine Öffnungsklausel gestaltenkönnen.
Das zeigt, dass die Koalitionsparteien noch einiges zuklären haben.
Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir Grüneeinen Gesetzentwurf zur Erweiterung des kommunalenWahlrechts auf Angehörige von Drittstaaten in den Bun-destag eingebracht.
Unser Entwurf wurde bedauerlicherweise mit den Stim-men der Fraktionen CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt.Es ist erfreulich und macht Hoffnung, dass die SPD un-sere Meinung in dieser wichtigen Frage nun doch teilt.
Ein großer Teil unserer Bevölkerung, nämlich über4 Millionen Menschen in Deutschland, darf an Wahlennicht teilnehmen. Der Ausschluss dieser Menschen ausDrittstaaten von der politischen Teilhabe ist weder mitdem Demokratieprinzip vereinbar noch mit einer erfolg-reichen Integrationspolitik.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-dung zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer im Jahr1990 betont, dass es der demokratischen Idee entspricht,eine Übereinstimmung zwischen der Wohnbevölkerungund der Wahlbevölkerung herzustellen. Folgerichtig hates die Politik aufgefordert, möglichst viele dauerhaft inDeutschland lebende Bürgerinnen und Bürger in dasWahlrecht einzubeziehen.Solange Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten daskommunale Wahlrecht nicht erhalten, wird ein erhebli-cher Teil unserer Gesellschaft von der wichtigsten politi-schen Teilhabe in einer Demokratie ausgeschlossen. Ineinigen Kommunen mit einem hohen Anteil an Immi-grantinnen und Immigranten entstehen so demokratie-freie Zonen.Die Ausübung des kommunalen Wahlrechts ist aberauch für die Integration der in Deutschland lebenden Im-migrantinnen und Immigranten von großer Bedeutung.
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Memet Kilic
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Eine erfolgreiche Integration lässt sich nur durch Teil-habe, also die Einräumung von Rechten, erreichen.Ein wesentliches Recht in der Demokratie ist dasWahlrecht. Die Notwendigkeit der politischen Teilhabevon Immigrantinnen und Immigranten haben wir Deut-sche und Europäer bereits 1992 erkannt und mit demVertrag von Maastricht das kommunale Wahlrecht fürEU-Bürgerinnen und -Bürger eingeführt. Seitdem habenjede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger mit Wohn-sitz in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht beikommunalen Wahlen. Die Erfahrungen damit sind äu-ßerst positiv.Dass das Demokratieprinzip und der Integrationsge-danke für Nicht-EU-Immigranten nicht gelten soll, istsachlich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlichhöchst bedenklich; denn die Lebenssituation von Dritt-staatsangehörigen unterscheidet sich nicht von der Le-benssituation von EU-Bürgern und Deutschen. Es gehtum Menschen, die seit Jahren legal in Deutschland le-ben, hier arbeiten und Steuern zahlen. Ihre Kinder besu-chen gemeinsam mit unseren Kindern die Schule oderden Kindergarten. Der einzige Unterschied ist, dassdiese Bürgerinnen und Bürger die Angelegenheiten ihrerKommune nicht mitbestimmen dürfen. Diese Einteilungin Ausländer erster und zweiter Klasse ist ungerecht undstellt eine institutionelle Diskriminierung dar.
In vielen anderen europäischen Ländern ist das kom-munale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige eine Selbst-verständlichkeit. In Finnland, Schweden, Dänemark, Est-land, Luxemburg, Irland, Belgien und den Niederlandentraut man den Drittstaatsangehörigen längst mehr zu, alszu arbeiten, Steuern zu zahlen oder Fußball zu spielen.Dort dürfen sie mitbestimmen, wenn es um das Schicksalihrer Kommune geht.Deshalb fordern wir, das Grundgesetz dahin gehendzu ergänzen, dass auch Nicht-EU-Bürgerinnen und -EU-Bürger, die ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland ha-ben, das Kommunalwahlrecht erhalten.Ich bedanke mich.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich möchte zunächsteinmal eines feststellen: Seit die CDU/CSU wieder inRegierungsverantwortung ist, seit dem Jahr 2005, stehtdas Thema Integration endlich wieder ganz oben auf derpolitischen Tagesordnung.
Wir reden nicht nur von Integration, wir machen auch et-was für Integration.
Es gibt eine außerordentlich engagierte und sehr er-folgreiche Integrationsbeauftragte der Bundesregierung,Frau Staatsministerin Professor Böhmer. Wir als CDU/CSU haben klargemacht, dass es nicht an den finanziel-len Ressourcen scheitern darf, Ausländern oder auchAussiedlern die erforderlichen deutschen Sprachkennt-nisse beizubringen. Das gilt sowohl für Ausländer undAussiedler, die schon länger in Deutschland sind, alsauch für die, die neu in unser Land kommen.
Wir haben auch in den Ländern einiges dafür getan,dass wirklich praktische Integrationsarbeit vor Ort geleis-tet werden kann. Ich möchte nur noch daran erinnern:Bevor Jürgen Rüttgers Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen wurde, bevor die CDU dort in Regierungsver-antwortung kam, haben türkische Hauptschulabsolventenaus Bayern im Fach Mathematik besser abgeschnitten alsdeutsche Hauptschulabsolventen aus Nordrhein-Westfa-len. Daran sieht man: Es gibt auch in den Bundesländernganz hervorragende und herausragende Beispiele für er-folgreiche Integration.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinsichtlichder jetzt zu behandelnden Gesetzentwürfe und des jetztzu behandelnden Antrages gilt es festzuhalten, dass einWahlrecht für Drittstaatsangehörige im kommunalen Be-reich gegen die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes,gegen Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz, verstoßen würde.Ebenso kann ich mich nur dem renommierten Staats-rechtler Josef Isensee anschließen, der der Auffassungist, dass ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kom-munalen Bereich auch gegen das Homogenitätsgebot ge-mäß Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verstoßen würde.Es ist nun einmal so, dass das Staatsvolk einheitlichist. Man kann das Staatsvolk bei einer Kommunalwahlnicht anders definieren als bei einer Landtags- oder beieiner Bundestagswahl.
Deswegen ist es nun einmal so, dass das Staatsvolk ge-mäß Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz so definiert wird, dassdie Grundvoraussetzung dafür die deutsche Staatsange-hörigkeit ist. Deswegen ist es auch richtig, dass das ak-tive Wahlrecht sowohl im kommunalen Bereich als auchim überregionalen Bereich an die deutsche Staatsange-hörigkeit gebunden ist.
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Stephan Mayer
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Darüber hinaus würde ein Wahlrecht für Drittstaats-angehörige im kommunalen Bereich gegen das Völker-recht verstoßen. Im Völkerrecht gilt der Grundsatz, dasseine Rechtsposition eines Landes nur gewährt wird,wenn gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit das andereLand die gleiche Rechtsposition dem ersteren Land auchgewährt. Dieser Grundsatz des Völkerrechts wäre alsonicht eingehalten.Darüber hinaus möchte ich auch klarmachen, dass dasKommunalrecht und der kommunale Bereich keine Ver-suchsfelder sein können. Es geht hier auch um elemen-tare Entscheidungen, die die Menschen vor Ort teilweiseunmittelbarer betreffen als manche Entscheidungen, dieauf Landes- oder Bundesebene getroffen werden. Ichwarne davor, das Kommunalwahlrecht hier als Versuchs-kaninchen zu betrachten.Abgesehen davon bitte ich schon, sich noch einmaldeutlich vor Augen zu führen, dass in den EU-Ländern,in denen Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht im kom-munalen Bereich eingeräumt wurde, die Wahlbeteili-gung durch die Bank bei weit unter 30 Prozent liegt.Man sieht also ganz konkret: Es wird von diesem kom-munalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige nicht Ge-brauch gemacht.Ich glaube, eines sollte auch in aller Deutlichkeit fest-gehalten werden: Eine erfolgreiche Integration kannnicht mit dem Gewähren des aktiven und passiven Wahl-rechts im kommunalen Bereich erreicht werden. DieMöglichkeit, sich im kommunalen Bereich aktiv undpassiv an Wahlen zu beteiligen, kann erst am Ende einererfolgreichen Integration stehen.
Darauf gilt es meines Erachtens auch in aller Deutlich-keit hinzuweisen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dağdelen?
Ich bin auch zu später Stunde selbstverständlich noch
gerne bereit, die Frage zu beantworten.
Vielen Dank, das ist der bayerische Charme. – Ich
habe wirklich nur eine ganz kurze Frage. Sie haben auf
die niedrige Wahlbeteiligung der Drittstaatsangehörigen
in den EU-Ländern hingewiesen, in denen es das kom-
munale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige gibt.
Herr Kollege Mayer, in Deutschland – sowohl auf
kommunaler Ebene als auch bei Landtagswahlen oder
bei der Bundestagswahl – beklagen sehr viele Organisa-
tionen, selbst die Parteien, dass die Wahlbeteiligung im-
mer geringer wird.
Immer mehr Menschen bleiben zu Hause.
Würde man Ihrer Logik folgen, müsste man eventuell
auch den Deutschen das Wahlrecht wieder entziehen,
weil sie sich an den Wahlen nicht beteiligen.
Sehe ich das richtig?
Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie sehen das eklatantfalsch. Es ist vollkommen richtig, dass wir mehr dafürtun müssen, Ausländer in Deutschland dafür zu interes-sieren, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen,insgesamt mehr Interesse an einer Partizipation an derGesellschaft an den Tag zu legen.
Aber ich bin dezidiert der Auffassung, dass dieser rich-tige Wunsch nicht dadurch erfüllt wird, dass man auslän-dischen Mitbürgerinnen oder Mitbürgern das kommu-nale Wahlrecht gibt. Ganz im Gegenteil: Wenn ich beimir im Wahlkreis mit Ausländerinnen und Ausländernspreche, dann sagen sie nicht, dass es ihr hehrsterWunsch ist, endlich an Kommunalwahlen teilzunehmen.Sie sagen, dass sie ordentlich geleistete Integrations-arbeit an den Schulen wollen. Sie wollen natürlich aucheinen Job; sie wollen Arbeit, mit der sie auch ihre Fami-lie ernähren können. Sie wollen, was das gesellschaftli-che Leben insgesamt anbelangt, gleich behandelt wer-den. Aber ich habe noch von keinem ausländischenMitbürger den Wunsch gehört, endlich an einer Kommu-nalwahl teilzunehmen zu können.
Vor diesem Hintergrund sehe ich dieses Thema derzeitals absolut am unteren Ende der politischen Agenda an-gesiedelt an.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition, mir fehlt in Ihren Anträgen bzw. Gesetz-entwürfen vor allem auch ein Hinweis darauf, welcheMindestaufenthaltszeit erfüllt sein sollte, damit ein Aus-länder sein aktives und passives Wahlrecht im Kommu-nalbereich wahrnehmen kann.
Nach Ihren Anträgen bzw. Gesetzentwürfen dürfte einAusländer, auch wenn er sich nur drei oder sechs Monatein Deutschland aufhält, in seiner Heimatgemeinde an der
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Stephan Mayer
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Kommunalwahl teilnehmen. Das ist doch in jeder Hin-sicht absurd und vollkommen illusorisch.
Wenn dann immer wieder gesagt wird: „Wir habendoch jetzt seit den 90er-Jahren auch das kommunaleWahlrecht für EU-Ausländer“, dann bitte ich dabei zubedenken, dass in Deutschland der Grundsatz gilt: Glei-ches muss gleich und Ungleiches muss ungleich behan-delt werden.
Es besteht nun einmal ein Unterschied zwischen einemEU-Ausländer und einem Drittstaatsangehörigen. In derPräambel unseres Grundgesetzes gibt es den ganz klarenHinweis, dass es unser Ziel ist, uns in die EuropäischeUnion zu integrieren. Es gibt den Art. 23 des Grundge-setzes. Es gilt festzuhalten, dass ein elementarer Unter-schied zwischen EU-Ausländern und Drittstaatsangehö-rigen besteht. Deswegen ist es meines Erachtens nurfolgerichtig und sachgerecht, dass EU-Ausländern sehrwohl das aktive und passive Kommunalwahlrecht einge-räumt wird, Drittstaatsangehörigen hingegen nicht.
Es ist schon auf die meines Erachtens sehr bemer-kenswerte Rede des türkischen MinisterpräsidentenRecep Tayyip Erdoğan vom 27. Februar in Istanbul hin-gewiesen worden. Manche Passagen daraus – ich zitierenur: Wir sind alle Geschwister; wir sind Kinder dessel-ben Stammes – zeigen meines Erachtens schon, wesGeistes Kind Tayyip Erdoğan ist.
Letzten Endes geht es ihm darum, ein Pantürkentum zuschaffen. Demzufolge besteht meines Erachtens dieeklatante Gefahr, dass, wenn es das kommunale Auslän-derwahlrecht für Drittstaatsangehörige gäbe, offenkun-dig die Möglichkeit bestände, dass auf die in Deutsch-land lebenden Türken bei Kommunalwahlenentsprechend eingewirkt werden würde. Die Möglich-keit der Instrumentalisierung ist meines Erachtens bei-leibe nicht von der Hand zu weisen. Das ist meiner Mei-nung nach auch ein entscheidender Grund, sichvehement gegen ein aktives und passives kommunalesWahlrecht für Drittstaatsangehörige auszusprechen. Des-wegen kann ich zum Schluss nur in aller Deutlichkeitfesthalten: Es ist sowohl dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion als auch dem der Grünen-Fraktion sowie demAntrag der Linkspartei die Absage zu erteilen.Ich bitte Sie, endlich die Argumente zur Kenntnis zunehmen und die Debatte über ein kommunales Wahl-recht für Drittstaatsangehörige in Deutschland zu been-den. Lassen Sie uns die Zeit lieber darauf verwenden,uns damit zu befassen, was wir machen können, um diein Deutschland lebenden Ausländer noch besser und in-tensiver in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1047,17/1150 und 17/1146 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Un-terrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über dasInverkehrbringen und die Verwendung von
ADD 2)
KOM(2009) 267 endg.; Ratsdok. 11063/09– Drucksachen 17/136 Nr. A.94, 17/1218 -Berichterstattung:Abgeordnete Ingbert LiebingDr. Bärbel KoflerDr. Lutz KnopekRalph LenkertDorothea SteinerInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um fol-gende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing, JosefGöppel, Dr. Bärbel Kofler, Dr. Lutz Knopek, RalphLenkert und Dorothea Steiner.1)Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitzu der Unterrichtung durch die Bundesregierung. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/1218, in Kenntnis der Unterrichtung eineEntschließung anzunehmen. Gleichwohl müssen wirauch über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.1) Anlage 9
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, wei-terer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKEZur Stabilisierung des Rentenniveaus: Riester-Faktor streichen – Keine nachholenden Ren-tendämpfungen vornehmen– Drucksache 17/1145 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAuch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, dieReden zu Protokoll zu geben. – Sie sind damit einver-standen. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben diesgetan: Peter Weiß, Max Straubinger, Anton Schaaf,Dr. Heinrich Kolb, Matthias Birkwald und Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1145 an die in der Tagesordnung vorge-sehenen Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sindSie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeHöfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnbau von gentechnisch veränderter Kartof-fel Amflora verhindern– Drucksache 17/1028 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAuch hier wurde interfraktionell vorgeschlagen, dieReden zu Protokoll zu geben. – Auch hier sind Sie da-mit einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen undKollegen: Carola Stauche, Josef Rief, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. KirstenTackmann und Ulrike Höfken.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1028 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPDModernisierungspartnerschaft mit Russland –Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stär-kere Kooperation und Verflechtung– Drucksache 17/1153 –1) Anlage 102) Anlage 11Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionInterfraktionell wird vorgeschlagen, auch hier dieReden zu Protokoll zu geben. – Auch damit sind Sieeinverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und Kolle-gen: Karl-Georg Wellmann, Franz Thönnes, Dr. BijanDjir-Sarai, Wolfgang Gehrcke und Marieluise Beck.3)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1153 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 18 sowieZusatzpunkt 6:18 Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAltschulden der ostdeutschen Wohnungs-unternehmen streichen– Drucksache 17/1148 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
HaushaltsausschussZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAltschuldenentlastung für Wohnungsunter-nehmen in den neuen Ländern– Drucksache 17/1154 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-gende Kolleginnen und Kollegen: ParlamentarischerStaatssekretär Jan Mücke, Volkmar Vogel, Hans-Joachim Hacker, Petra Müller, Heidrun Bluhm undStephan Kühn.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir lei-
der immer noch mit den Altlasten der DDR-Vergangen-
heit zu kämpfen – auf vielen Gebieten des gesellschaftli-
chen Lebens.
Eines der wichtigsten Felder war ein menschenwür-
diges Wohnumfeld, und zwar überall. Ein intakter, be-
zahlbarer und sozial ansprechender Wohnungsmarkt ist
unser Ziel. Gerade ostdeutsche Wohnungsunternehmen
stehen vor großen Herausforderungen, die sie meistern
müssen. Dazu gehören die zu DDR-Zeiten aufgebürde-
ten Altschulden und gleichzeitig hoher Leerstand durch
Wegzug und demografischen Wandel.
3) Anlage 12
Volkmar Vogel
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Um es klar zu sagen: Alle Akteure am ostdeutschen
Wohnungsmarkt haben Hervorragendes geleistet in den
letzten Jahren. Die christlich-liberale Koalition wird
das weiterentwickeln, was sie bereits 1993 mit dem Alt-
schuldengesetz auf den Weg brachte. Auch das Pro-
gramm Stadtumbau Ost wird fortgesetzt und durch wei-
tere Felder ergänzt.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag festgehalten,
dass „beim Stadtumbau Ost die Aufwertung von Innen-
städten und die Sanierung von Altbausubstanz gestärkt
und der Rückbau der technischen und sozialen Infra-
struktur besser berücksichtigt werden soll. Der Erfolg
des Programms soll nicht durch ungelöste Altschulden-
probleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Abriss
von Wohnungsleerstand gefährdet werden.“ Damit ha-
ben wir einen klaren Arbeitsauftrag formuliert, den die
Koalitionsfraktionen und die Regierung sorgfältig,
überlegt und zielführend umsetzen.
Zugleich möchte ich auch noch mal deutlich die bis-
herigen Leistungen hervorheben. Denn im Rahmen des
Solidarpaktes I von 1993 – nach dem Altschuldengesetz
vom 23. Juli 1993 – wurden bereits 14 Milliarden
Euro an Teilentlastungen und 2,6 Milliarden Euro an
Zinshilfen gezahlt. Den Wohnungsgesellschaften und
Genossenschaften, deren Existenz infolge Leerstands
gefährdet ist – und dies ist ab einer Leerstandsquote von
15 Prozent der Fall –, erhalten zusätzlich eine Altschul-
denentlastung nach der Härtefallregelung des Paragra-
fen 6 a AHG, soweit diese ihren Antrag bis zum
31. Dezember 2003 bei der Kreditanstalt für Wiederauf-
bau eingereicht haben.
Mit dem seit 2002 laufenden Förderprogramm Stadt-umbau Ost konnte ein Meilenstein für die Entwicklungostdeutscher Städte gesetzt werden. Das milliarden-schwere Programm hat es ermöglicht, städtebaulicheFehlentwicklungen zu korrigieren und Quartiere aufzu-werten. Das Programm geht auf eine Initiative der rot-grünen Bundesregierung im Jahre 2001 zurück und warnach Vorlage des Berichts einer Expertenkommissionzum wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in denneuen Ländern ergriffen worden. Neben der Stabilisie-rung von Stadtteilen sollten auch besonders wertvolleinnerstädtische Altbaubestände mit überdurchschnittli-chen Leerständen gerettet werden. Von Anfang an warenzwei Dinge in dem Programm klar: Abriss und Aufwer-tung sind zwei Seiten derselben Medaille. Es ging nichtnur darum, überschüssigen Wohnraum zu entfernen,sondern gleichzeitig Wohnbedingungen in Quartierendurch Sanierungen zu verbessern. Und zweitens: DasProgramm war und ist ein „lernendes Programm“, dassich ständig weiterentwickeln sollte. Es war damit imZusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden bes-tens geeignet, Lösungen für die Probleme bei der Stadt-entwicklung in den neuen Ländern umzusetzen.Die Städte und die Wohnungsunternehmen in denneuen Ländern standen nach der Wiedervereinigung vorgewaltigen Herausforderungen. Durch Abwanderungund Wegzug ins Städteumland war ein immer größerZu Protokollwerdender Wohnungsleerstand zu beklagen. Die wenigs-ten Wohnungen waren auf modernen Standard saniert.Die Wohnungsunternehmen standen in den letzten zweiJahrzehnten also vor enormen Aufgaben. Sie hattennoch eine weitere Last zu tragen: Altschulden. Im Zugeder Herstellung der deutschen Einheit wurden die Alt-schulden aus dem DDR-Wohnungsbau auf die Woh-nungsunternehmen übertragen und belasten sie bisheute. Aufgrund der Qualität der Wohnungen und durchhohe Leerstände konnten die Unternehmen nur wenigMieteinnahmen erzielen. Hinzu kam die gesetzliche Be-grenzung von Mietsteigerungen im Interesse der Mieter.Damit drückten die Altschulden besonders. Das Alt-schuldenhilfe-Gesetz ermöglichte den Abriss von Woh-nungen bei gleichzeitiger Befreiung von Altschulden.250 000 Wohnungen wurden auf diese Weise bis Ende2009 zurückgebaut. Die Unternehmen wurden dadurchin die Lage versetzt, in einem Milliardenumfang Moder-nisierungs- und Verbesserungsmaßnahmen für dasWohnumfeld zu finanzieren.Der Wohnungsleerstand konnte damit aber nochnicht gänzlich beseitigt werden. Jetzt droht aufgrund derdemografischen Entwicklung eine zweite Leerstands-welle in den neuen Ländern. Zu der einen Million leer-stehender Wohnungen könnten Schätzungen zufolge bis2020 weitere 430 000 hinzukommen. Neue finanzielleBelastungen drohen den ostdeutschen Wohnungs-unternehmen: weitere Mietrückgänge und höhere Be-triebskosten in der alten Gebäudesubstanz. Mit etwa4 000 Euro Restschuld pro Wohnung stehen die ostdeut-schen Wohnungsunternehmen noch in der Kreide. Siemüssen davon dringend entlastet werden, um den Spiel-raum dafür zu gewinnen, weiter ihren Beitrag zu einerAufwertung der Quartiere leisten zu können. Viele nach1990 instandgesetzte Wohnungen müssen bald wiedersaniert werden. Bei vielen Wohnungen ist dringend eineenergetische Sanierung notwendig. Leerstehende Woh-nungen müssen zu einem großen Teil zurückgebaut, dasWohnumfeld verbessert werden. Dafür brauchen die ost-deutschen Wohnungsunternehmen Luft, die sie durcheine Entlastung bei den Altschulden erhalten können.Bei der Evaluation des Programms Stadtumbau Ostim vergangenen Jahr waren wir uns einig, dass diesesProgramm erfolgreich war und fortgesetzt werden muss.Wir haben uns dazu mit einem Beschluss des Bundes-tages bekannt. Ein Teil des Beschlusses beinhaltete diePrüfung, wie eine weitere Entlastung der Wohnungs-unternehmen von Altschulden ausgestaltet werdenkönnte. Hier setzt der Antrag der SPD-Bundestagsfrak-tion an. Wir fordern eine abschließende Regelung derAltschuldenproblematik, die es den Wohnungsunterneh-men in den neuen Ländern ermöglicht, durch Umbaubzw. Abriss und Wohnumfeldmaßnahmen Quartiere zustabilisieren und aufzuwerten. Uns geht es darum, allenWohnungsunternehmen gleichermaßen die Chance fürInvestitionen in Rückbaumaßnahmen, energetische Sa-nierung und altersgerechten Umbau zu geben. Die Alt-schulden müssen bedient werden. Sie dürfen aber nichtHindernis für die dringend erforderlichen Investitionensein. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam den Antragberaten und danach beschließen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3247
gegebene Reden
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Beim Stadtumbau Ost soll die Aufwertung von In-
nenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz
gestärkt und der Rückbau der technischen und so-
zialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden.
Der Erfolg des Programms soll nicht durch unge-
löste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsun-
ternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand ge-
fährdet werden.
So steht es im Koalitionsvertrag, und genau so wer-
den wir auch mit dieser Frage umgehen.
Das Altschuldenhilfe-Gesetz trat 1993 in Kraft. Die
ostdeutschen Wohnungsunternehmen wurden dadurch
etwa um die Hälfte ihrer noch aus DDR-Zeiten stam-
menden Altschulden entlastet. Ende 1993 betrugen die
Altschulden einschließlich aufgelaufener Zinsen circa
30 Milliarden Euro. Im Rahmen des Solidarpaketes I er-
hielten die ostdeutschen Wohnungsunternehmen eine
Teilentlastung von rund 14 Milliarden Euro zulasten des
Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe von Bund und
Ländern. Im Jahr 2001 wurde das Gesetz dahin gehend
ergänzt, dass Wohnungsunternehmen, deren Existenz in-
folge Leerstands ab 15 Prozent gefährdet ist, zusätzliche
Altschuldenentlastung nach der Härtefallregelung in
§ 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetz erhalten. Der entspre-
chende Antrag musste bis zum 31. Dezember 2003 bei
der KfW eingegangen sein. Es erfolgte somit eine Förde-
rung des Abrisses, verbunden mit dem Erlass der Alt-
schulden. Bei einem Abriss bis Ende 2013 wird durch die
KfW ein Tilgungszuschuss bis zu 77 Euro pro Quadrat-
meter gewährt.
Der Stadtumbau Ost unterstützt die Kommunen bei
der Bewältigung der städtebaulichen Folgen des demo-
grafischen und wirtschaftlichen Strukturwandels durch
Maßnahmen der städtebaulichen Aufwertung und des
städtebaulich bedingten Rückbaus von dauerhaft nicht
mehr benötigten Wohnungen. Es geht um eine nachhal-
tige Aufwertung und Stabilisierung von Stadtquartieren
mit dem Ziel, den Strukturwandel der ostdeutschen
Städte zu unterstützen und eine Konsolidierung des
Wohnungsmarktes zu bewirken.
Der Stadtumbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte. Der
Schrumpfungsprozess der Städte geht meist einher mit
hoher Arbeitslosigkeit sowie geringer Steuereinnahmen
und Kaufkraft. Deshalb müssen im Mittelpunkt die
Quartieraufwertung, der bedarfsgerechte Umbau und
der Wohnungsrückbau stehen. Neben dem Abriss müs-
sen wir uns auch um die Sanierung von historischen und
stadtbildprägenden Altbauten kümmern und so den Er-
halt und die Sanierung historischer Quartiere weiter vo-
rantreiben. Seit 2008 können Mittel der Altschuldenhilfe
in Einzelfällen statt zum Abriss auch zur Sanierung von
stadtbildprägenden Altbauten verwendet werden.
Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Städte
und Gemeinden fit zu machen für die Zukunft. Als stadt-
entwicklungspolitische Sprecherin meiner Fraktion lege
ich großen Wert auf einen ganzheitlichen Ansatz und
nicht nur auf die Lösung von Detailproblemen einzelner
Stadtteile. Diesen ganzheitlichen Ansatz verfolgt auch
mein Zukunftsprojekt, die energetisch-dynamische
Zu Protokoll
Stadtentwicklung, die bereits im FDP-Landeswahlpro-
gramm NRW verankert ist.
Es ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abschätzbar, in-
wieweit die Fortführung des Programms von einer Wei-
terführung der Altschuldenhilfe abhängt. Unbestritten
ist, dass es durch einen behutsamen Rückbau zu einer
Aufwertung der betroffenen Quartiere gekommen ist. Al-
lein deshalb hat der Bund mit der Ersten Verordnung zur
Änderung der Altschuldenhilfeverordnung vom 14. No-
vember 2008 zum Beispiel die Abrissfrist von 2010 auf
2013 verlängert.
Wir erwarten, dass die Wohnungsunternehmer und
Kommunen über die integrierten Stadtentwicklungskon-
zepte und die Flexibilisierung der Stadtumbaupro-
gramme eine noch engere Zusammenarbeit in Betracht
ziehen. Die Länder haben über die Verwaltungsverein-
barung 2010 sowie über die Bauministerkonferenz die
Möglichkeit, sich auszutauschen. Wir werden prüfen, ob
es bezüglich § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes eine
Anschlussregelung für die Härtefallregelung geben
wird. Die heutigen Anträge der SPD und der Linken leh-
nen wir deshalb ab.
Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der
Wohnungsunternehmen und Kommunen durch unsere
Städtebauförderprogramme und die KfW-Förderpro-
gramme wesentlich verbessert. Das Evaluierungsgut-
achten zum Stadtumbau Ost aus 2008 hat gezeigt, dass
sich bei fast allen sogenannten §-6-a-Unternehmen die
wirtschaftliche Situation verbessert hat. Ob in Zukunft
weiter die Altschuldenhilfe notwendig ist, werden wir
eingehend prüfen. Dabei wird die Haushaltskonsolidie-
rung nicht aus dem Blick verloren. Ab dem Jahr 2011
stehen wir vor einer finanzpolitischen Herausforderung,
für die es bislang in der jüngeren Geschichte der Bun-
desrepublik kein Beispiel gibt.
So oft, wie dieses Thema schon in diesem Haus zurDebatte stand, sollten Sie alle hier eigentlich genug da-von haben und endlich der längt überfälligen Streichungder Altschulden ostdeutscher Wohnungsunternehmenzustimmen. Dass Sie, meine Damen und Herren auf derRegierungsbank, das ja eigentlich und unter bestimmtenVoraussetzungen vielleicht sogar wollen würden, habenSie doch im Koalitionsvertrag – wenn auch ein wenigverschämt – zum Ausdruck gebracht. Frei nach KarlValentin: „Möchten hätten wir schon gewollt – aberdürfen ham mer uns nicht getraut.“ Nur „eigentlich“und „vielleicht“ reichen – wie so oft – auch dieses Malnicht. Geben Sie sich endlich einen Ruck! Handeln Siejetzt, und tun Sie es gründlich! Aussitzen lässt sich die-ses Problem ohnehin nicht, und je länger Sie warten,umso dramatischer und kostspieliger wird die Lage vie-ler ostdeutscher Wohnungsunternehmen am Ende füruns alle. Ich werde, da können Sie sicher sein, in dieserAngelegenheit hartnäckig bleiben, bis Sie Ihre eigenenAnkündigungen ernst nehmen.Altschulden nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz warenvon Anfang an ein willkürliches politisches Konstruktund bleiben eine schreiende Ungerechtigkeit. Fernab
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3248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene RedenHeidrun Bluhm
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von jeder wirtschaftlichen Verantwortung der Woh-nungsunternehmen für die Staatsschulden der DDR undum einen unliebsamen Mitbewerber in der Wohnungs-und Immobilienbranche dauerhaft zu schwächen, sinddenen in einem historisch wohl einmaligen politischenWillkürakt Milliardenlasten aufgebürdet worden, wegender sie sich bis heute nicht zu der treibenden Kraft beimStadtumbau Ost entwickeln konnten, die sie eigentlichsein müssten. Diese Ungerechtigkeit und wirtschafts-politische Unvernunft werden nicht gerechter oder ver-nünftiger, wenn Sie sie bis zum bitteren Schluss durch-halten wollen und in der Konsequenz schließlich unsallen damit schaden.Wir stehen mit unserer Forderung nach Altschulden-entlastung ja auch längst nicht allein. Auch der GdW,der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Im-mobilienunternehmen, hat jüngst – zum wiederholtenMal – gemeinsam mit ostdeutschen Mitgliederverbän-den in seiner Leipziger Erklärung gefordert: „Wirbrauchen eine Lösung der Altschuldenfrage, um das er-folgreiche Fortschreiten des dringend notwendigenStadtumbaus in Ostdeutschland und damit die weiterepositive Entwicklung der ostdeutschen Städte nicht zugefährden.“ Es geht bei der Entscheidung „Altschuldenstreichen oder nicht“ längst nicht mehr nur um die Exis-tenz und wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Wohnungs-unternehmen, sondern, auch das hat der GdW richtig er-kannt, um die Zukunftsfähigkeit der ostdeutschen Städte.Deshalb wollen wir ja auch gar nicht, dass die noch mitSchulden belasteten Unternehmen den Erlass zum Null-tarif bekommen. Wir wollen, dass die Wohnungsunter-nehmen, statt noch weitere 25 bis 30 Jahre Kapitaldienstan die Banken zu leisten, die frei werdenden Mittel in dieKofinanzierung der Gebäudesanierungs- und Stadtum-bauprogramme stecken, die Sie hier gerade vor wenigenTagen mit dem Haushalt 2010 beschlossen haben. Dazubenötigen sie Eigenkapital, das diese Unternehmennicht in ausreichendem Maße haben, weil Sie es ihnenvorenthalten.Wir wollen die entlasteten Unternehmen verpflichten,frei gewordene Mittel in die Umsetzung des CO2-Gebäu-desanierungsprogrammes zu leiten und dabei die Kalt-miete für einige Jahre stabil zu halten, damit Segrega-tion und Entmischung des sozialen Gefüges ganzerStadtteile entgegengewirkt werden kann. Das wäre öko-logisch und sozial. Wir wollen die Unternehmen in dieLage versetzen – und zwar auch das verbindlich –, Mit-tel aus den Programmen zum Stadtumbau in Anspruchzu nehmen und in den Beginn von Stadtumbau hin zur„Sozialen Stadt“ zu investieren. Das wäre konjunkturbe-lebend und politisch verantwortlich.Es geht nämlich schon lange nicht mehr nur darum,rückwärtsgewandt Fehler zu korrigieren und Schadenzu begrenzen, sondern es geht trotz des dramatischenWohnungsleerstandes in einigen Regionen Ostdeutsch-lands darum, dem drohenden strukturellen Wohnungs-mangel, der auf wachsende Städte zukommt, rechtzeitigund programmatisch entgegenzuwirken. Der Altschul-denerlass für die ostdeutschen Wohnungsunternehmen– das ist uns selbstverständlich bewusst – ist nicht derZauberschlüssel zur Lösung aller wohnungspolitischenZu ProtokollProbleme. Aber er würde wirken wie der Einstieg in einneues Konjunkturpaket und könnte signalisieren, dassauch die Bundesregierung allmählich eine Ahnung da-von bekommt, was uns auf dem Gebiet von Wohnungs-und Städtebau in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht.Nur so können wir unsere stärksten Partner im Stadt-umbau erhalten.
Zum wiederholten Male wird die Problematik der Alt-schulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen indiesem Hause debattiert. Ich bin auch durchaus derMeinung, dass die Altschuldenproblematik einen Kon-struktionsfehler der deutschen Einheit darstellt, der dieostdeutsche Wohnungswirtschaft nachhaltig belastet.Deswegen haben Bündnis 90/Die Grünen sich in derKleinen Anfrage „Fortführung und inhaltliche Aus-richtung des Programms Stadtumbau Ost“, Drucksache17/974, auch nach verlässlichen Zahlen zur Problematikerkundigen wollen, um überhaupt einmal die Dimensiondes Problems realistisch einschätzen zu können. Wirmussten feststellen, dass der Bundesregierung auf dieFrage der Höhe der Altschulden der kommunalen undgenossenschaftlichen Unternehmen anscheinend keineInformationen vorliegen. Auf unsere Frage, ob dennweitere Entlastungen für die Wohnungsunternehmenoder ein Erlass der Altschulden geplant seien, wurde et-was wortkarg geantwortet: „Dies wird zur Zeit geprüft.An einen Erlass der Altschulden ist nicht gedacht.“ Mei-nen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, diese Informationeneinzuholen und an die Bundestagsfraktionen weiterzu-geben? Der aktuelle Kenntnisstand des Ministeriumsdient jedenfalls nicht einer lösungsorientierten Debatte.Wir benötigen verlässliche Zahlen als Grundlage fürdie politische Diskussion. Diese bekommen wir auchbeim Antrag der Linken übrigens nicht dargestellt. Sieübernehmen ohne weiteres Hinterfragen des GdW-Bun-desverbands die Angabe 4 000 Euro durchschnittlicheBelastung pro Wohnung zur Beschreibung des Problems,schweigen sich aber über die Anzahl der belastetenWohnungen aus, sodass wir wiederum keine Erkenntniszur finanziellen Dimension des Themas erhalten. Wohernimmt die Linke die Erkenntnis, dass „ohne Altschul-denentlastung sich Wohnungsunternehmen nicht odernur in Ausnahmefällen am Stadtumbau beteiligen kön-nen“?Sie wissen, dass es diese Entlastung durch die Alt-schuldenhilfe bereits gibt. Sie wissen auch, dass sehrviele Unternehmen die Unterstützungen wahrnehmen.Laut der Beantwortung unserer Anfrage sollen 78 Pro-zent der abgerissenen Wohnungen dank der Altschul-denhilfe abgerissen worden sein. Bis 2013 stehen lautMinisterium noch 230 Millionen Altschuldenhilfemittelzur Verfügung. Die Frage ist gegenwärtig, ob diese Mit-tel für den bevorstehenden Stadtumbau ausreichen wer-den oder nicht? Laut unserer Anfrage „wird dies zurzeitgeprüft“. Wir sind gespannt auf die Antwort und dieZeit, die das Ministerium für diese Antwort benötigt.Ich sage Ihnen schon einmal: Wir von Bündnis 90/DieGrünen sind auch nicht zufrieden mit dem Altschulden-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3249
gegebene RedenStephan Kühn
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hilfe-Gesetz. Wir fördern Abriss mit Finanzhilfen, die ei-gentlich für den Aufbau Ost vorgesehen sind. Die Alt-schuldenhilfe wird aus dem Korb II des Solidarpakts IIfinanziert. Diese Mittel sind absehbar endlich. Und einBehelf ist keine nachhaltige Lösung. Sollte eine Neuauf-lage der Altschuldenhilfemittel notwendig werden, dannmuss über eine ganzheitliche, nachhaltige Lösung derAltschuldenfrage nachgedacht werden. Dafür fordernwir von der Bundesregierung verlässliche Zahlen. An-sonsten führen wir noch 2020 Debatten über Altschul-den, die ans Fischen im Trüben erinnern.J
Nach dem Koalitionsvertrag soll der Erfolg des Pro-gramms Stadtumbau Ost nicht durch ungelöste Altschul-denprobleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Ab-riss von Wohnungsleerstand gefährdet werden. Diesbedeutet, wir werden genau prüfen, ob eine Anschlussre-gelung für die Härtefallregelung nach § 6 a Altschulden-hilfe-Gesetz – Kosten von circa 800 Millionen Euro bis2016 – notwendig ist, damit sich die Wohnungsunterneh-men weiter am Abrissteil des Programms StadtumbauOst beteiligen können. Die Altschuldenregelung ist keinwohnungswirtschaftliches, sondern vielmehr ein städte-bauliches Instrument. Eine vollständige Altschuldenent-lastung aller von Altschulden betroffenen Wohnungsun-ternehmen unabhängig von der Leerstandsquote wie imAntrag der Linken gefordert lehnen wir ab. Dies ist ange-sichts der Kostenbelastung von mehreren MilliardenEuro völlig illusorisch und wäre auch sachlich nicht zurechtfertigen.Im Einzelnen: Altschulden sind aus der Zeit der DDRübernommene Wohnungsbaudarlehen. Die Finanzie-rung des Wohnungsneubaus erfolgte aus dem Staats-haushalt sowie aus Krediten, die aus den Spareinlagender Bürger der DDR bei den Sparkassen refinanziertwurden. Vor der Währungsumstellung hatte die Staats-bank der DDR rund 75 Milliarden Mark offene Forde-rungen für Wohnungsbaukredite. Diese wurden wie alleSchulden im Verhältnis 2:1 umgestellt. Die DeutscheKreditbank AG – DKB – sowie die Berliner StadtbankAG – BSB – hatten diese Schulden übernommen. NachArt. 22 Abs. 4 des Einigungsvertrages wurden die Kom-munen oder die Wohnungsgenossenschaften Schuldnerder Baukredite. Wohnungen und Schulden wurden in derRegel von den Kommunen auf neu gegründete kommu-nale Wohnungsunternehmen übertragen. Die Wohnun-gen der Wohnungsgenossenschaften sind einschließlichder Verbindlichkeiten in deren Eigentum verblieben.Die Altschulden betrugen am 31.Dezember 1993 ein-schließlich aufgelaufener Zinsen circa 30 MilliardenEuro. Die ostdeutschen Wohnungsunternehmen erhiel-ten im Rahmen des Solidarpaktes I von 1993 bisher nachAltschuldenhilfe-Gesetz – AHG – vom 23. Juli 1993 einehälftige Teilentlastung in Höhe von 14 Milliarden Eurozulasten des Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfezulasten von Bund und Ländern. Diese Teilentlastungsenkte die Altschulden auf durchschnittlich 77 Euro proQuadratmeter Wohnfläche. Über die bei den Wohnungs-unternehmen verbliebenen Altverbindlichkeiten habenZu Protokolldiese neue Kreditverträge mit Banken ihrer Wahl ge-schlossen. Darüber hinaus erhalten die Wohnungsunter-nehmen, deren Existenz infolge Leerstands ab 15 Prozentgefährdet ist, seit 2001 zusätzliche Altschuldenentlas-tung nach Härtefallregelung § 6 a Altschuldenhilfe-Ge-setz, soweit ihr Antrag bis zum 31. Dezember 2003 beider KfW eingegangen ist. Bei Abriss der entsprechendenWohnfläche bis spätestens Ende 2013 wird den Unter-nehmen durch die KfW ein Tilgungszuschuss bis zu77 Euro pro Quadratmeter gewährt. Rechtsgrundlage istdie Altschuldenhilfeverordnung – AHGV – vom 15. De-zember 2000, die auf der Ermächtigungsgrundlage des§ 6 a AHG beruht. Die Härtefallregelung ergänzt dieumfassende Altschuldenentlastung für ostdeutsche Woh-nungsunternehmen von 1993.Mit einem Entschuldungsvolumen von insgesamt1,1 Milliarden Euro wird so der Abriss von circa280 000 Wohnungen bis 2013 gefördert – zusätzlich zuden Abrisshilfen des Programms Stadtumbau Ost. Bis-her wurden davon 80 Prozent – 885 Millionen Euro –ausgezahlt. Die tatsächlich erfolgten Abrisse blieben2007 und 2008 hinter den ursprünglichen Abrissplänender Unternehmen zurück – 50,7 Millionen Euro Ausga-bereste.Mit der Ersten Verordnung zur Änderung der AHGVvom 14. November 2008, die unter anderem die Abriss-frist von 2010 auf 2013 verlängert, hat der Bund auf zu-nehmende Probleme der Wohnungswirtschaft beim Frei-ziehen für den Abriss vorgesehener Gebäude reagiert.Der Leerstand betrifft häufig nur noch Gebäudeteile, so-dass die Wohnungsunternehmen in langwierigen Verfah-ren vor Abriss Gebäude freiziehen oder die weitereLeerstandsentwicklung abwarten müssen. Im Übrigenkönnen mit dem 2008 eingeführten HaushaltsvermerkMittel der Altschuldenhilfe statt zum Abriss auch zur Sa-nierung von stadtbildprägenden Altbauten verwendetwerden. Diese Regelung dient zusammen mit den Siche-rungs- und Aufwertungsmaßnahmen des ProgrammsStadtumbau Ost dem Erhalt von Altbauten.Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation derWohnungsunternehmen durch die Städtebauförderungen– unter anderem Abrisspauschale und Aufwertungsmit-tel im Programm Stadtumbau Ost – sowie durch die Alt-schuldenhilfe, aber auch durch die sehr günstige Zins-entwicklung wesentlich gebessert. Entsprechend demGutachten zur Evaluierung des Programms StadtumbauOst in 2008 ist bei fast allen sogenannten §-6-a-Unter-nehmen eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Situa-tion zu verzeichnen. Nach Erhebungen des GdW hat sichdie Leerstandsquote von 16,2 Prozent 2002 auf circa10 Prozent Ende 2009 reduziert. Außerdem sind eineSteigerung der Gesamt- und Eigenmittelrentabilität so-wie ein besseres Rating bei den Gläubigerbanken zu ver-zeichnen. Wohnungsunternehmen zahlen inzwischenzum Teil Dividenden an ihre Kommunen.Inwieweit der Erfolg des Programms StadtumbauOst, zu dem auch der bedarfsgerechte Abriss von leer-stehenden Wohnungen gehört, der von der Programm-evaluierung mit 200 000 bis 250 000 Wohnungen bis2016 ermittelt wurde, tatsächlich von der Weiterführung
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3250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3251
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
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der Altschuldenhilfe abhängt, ist vor diesem Hinter-grund schwer abschätzbar. Einerseits erfolgten knapp80 Prozent der bisherigen Abrisse durch Wohnungsun-ternehmen mit Altschuldenentlastung. Andererseits ha-ben die Unternehmen durch die grundsätzlich kostende-ckenden Abrisshilfen des Stadtumbaus, auch ohneAltschuldenhilfe, starke Anreize zum Abriss, um ihreLeerstandskosten weiter zu reduzieren. Ob und inwie-weit zusätzlich dabei die Altschuldenhilfe notwendig ist,bedarf der eingehenden Prüfung. Dabei sind die schwie-rige Situation des Bundeshaushalts und die verfassungs-rechtlichen Konsolidierungsvorgaben zu berücksichti-gen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1148 und 17/1154 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
, Cornelia Behm, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-
schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-
nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-
tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
– Drucksachen 17/792, 17/1208 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. – Damit sind Sie einverstanden. Es
sind folgende Kolleginnen und Kollegen: Dieter Stier,
Heinz Paula, Dr. Christel Happach-Kasan, Alexander
Süßmair und Undine Kurth.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1208, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/792 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion.
1) Anlage 13
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kooperationsverbot in der Bildung unverzüg-
lich aufheben
– Drucksache 17/785 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen die
Reden auch hier zu Protokoll genommen werden. Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Tankred Schipanski, Marianne Schieder, Swen Schulz,
Patrick Meinhardt, Dr. Rosemarie Hein und Priska Hinz.
„Rütteln am Grundgesetz“, so die „Süddeutsche Zei-
tung“ am 1. März 2010, „Schavan für Bund-Länder-
Bund“, so die „FAZ“ am 17. März 2010, „Bildung
macht immer Ärger“, so die „Zeit“ vom 10. Dezember
2009. Die Berichterstattungen befassen sich alle mit Äu-
ßerungen unserer Bundesministerin Schavan, die zu ei-
nem Nachdenken über das sogenannte grundgesetzlich
verankerte Kooperationsverbot anregen sollen. Unsere
Ministerin gibt Denkimpulse und hinterfragt die gegen-
wärtige strikte Aufgabentrennung im Bildungsbereich
von Bund und Ländern in einem Bundesstaat. Das ist le-
gitim und richtig. Im Unterschied zur Opposition fordert
die Ministerin aber nicht die sofortige Neuordnung der
Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bil-
dungsbereich. Vielmehr hat die Ministerin klargestellt:
Föderalismus beinhaltet eine klare Verteilung von Auf-
gaben und Verantwortung. An dieser für moderne föde-
rale Systeme kennzeichnenden klaren Verteilung sollten
wir festhalten. Ich verweise auf die Rede von Bundes-
ministerin Schavan vor dem Deutschen Bundestag am
18. März 2010. Diese Einschätzung teilt auch die christ-
lich-liberale Koalition.
Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bil-
dungspartner, genauso wie Studenten, Professoren und
Hochschulleitungen Bildungspartner sind. Bei einer
Partnerschaft braucht es keine verfassungsrechtliche
Diskussion über sogenannte Kooperationsverbote. In ei-
nem föderativ gestalteten Staat wie der Bundesrepublik
Deutschland stehen die Aufgabenbereiche von Bund und
Ländern grundsätzlich nebeneinander. Das Grundgesetz
geht daher in Art. 30 in Verbindung mit Art. 83 sowie
Art. 104 a Abs. 1 grundsätzlich von einer strikten Aufga-
ben- und Ausgabentrennung zwischen Bund und Län-
dern und einem Verbot der Mischverwaltung und -finan-
zierung aus. Diese verfassungsrechtliche Trennung der
Zuständigkeiten ist also staatsstrukturell bedingt und für
einen Bundesstaat elementar.
Von dem Grundsatz der Aufgabentrennung gibt es
Ausnahmen, die ausdrücklich im Grundgesetz geregelt
sind. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Ge-
meinschaftsaufgaben, Art. 91 a bis d GG. Auch für den
Tankred Schipanski
(C)
(B)
Bildungs- und Forschungsbereich verlangt das GG Zu-
sammenarbeit und somit Kooperation, wie Art. 91 b
Abs. 1 GG ausdrücklich kodifiziert. Nach Art. 91 b
Abs. 1 Nr. 1 GG können Bund und Länder bei der Förde-
rung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaft-
lichen Forschung außerhalb von Hochschulen zusam-
menwirken. Beispielhaft dafür steht der Pakt für
Forschung und Innovation. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 GG ist
die Grundlage für den Hochschulpakt 2020 sowie für
die Exzellenzinitiative. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 3 GG besagt,
dass Bund und Länder bei Forschungsbauten an Hoch-
schulen, einschließlich Großgeräten, zusammenwirken
können. Die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG zeigt,
dass der Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich
hat. Hier wünscht sich unsere Ministerin die Möglichkeit
eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und
enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine gene-
relle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Län-
dern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund
scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshil-
fen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der
Länder zu nehmen.
Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Auf-
gabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in unsere
Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet von
verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im Bund-
Länder-Verhältnis der Grundsatz des bundesfreundlichen
Verhaltens, die sogenannte Bundestreue, elementar. Die-
ses Prinzip ist – als ungeschriebene Generalklausel –
als staatsrechtliche Ausprägung des Grundsatzes von
Treu und Glauben zu verstehen. Es verpflichtet den Bund
und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompeten-
zen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das
Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange
der Länder zu nehmen“ .
Zwar eröffnet die Bundestreue keine gesetzgeberische
Kompetenz des Bundes. Dennoch lässt er sich meines
Erachtens im Zusammenhang mit der Kritik am soge-
nannten Kooperationsverbot ins Feld führen: Soweit die
Kritiker befürchten, dass ein Kooperationsverbot zu weit
auseinanderklaffenden Differenzen in der Bildungs-
landschaft führt, dürfte dem die Bundestreue entgegen-
stehen. Sie wirkt nämlich als Verpflichtung zur Zusam-
menarbeit, Abstimmung, Koordination, gegenseitigen
Information und Rücksichtnahme, die insbesondere bei
Ausübung an sich gegebener Kompetenzen zu beachten
ist. Im Einzelfall kann sie dabei als Kompetenzschranke
wirken. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Bun-
destreue verlangt von den Ländern eine Gesamtverant-
wortung für Deutschland. Dies gilt auch für den Bereich
der Bildung. Das heißt: Bei der Herstellung von Bil-
dungsgerechtigkeit müssen die Länder eine gesamtstaat-
liche Verantwortung wahrnehmen.
Aktuell betrachtet bedeutet dies: Der Bund hat durch
die Bundesregierung der christlich-liberalen Koalition
umfangreiche Finanzmittel für unsere Bildungsrepublik
Deutschland zur Verfügung gestellt bzw. zugesichert.
Wir brauchen klare rechtliche Grundlagen, damit wir
diese Gelder sinnvoll in unserer Bildungsrepublik ein-
setzen können. Ziel der christlich-liberalen Koalition ist
es, Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Allen Kindern und
Zu Protokoll
Jugendlichen in unserem Lande soll – unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft – der Zugang zu einer qualitativ
hochwertigen Bildung offen stehen. Zudem geht es uns
darum, Deutschland zu einem attraktiven und interna-
tional wettbewerbsfähigen Wissenschafts- und For-
schungsstandort weiterzuentwickeln. Diese Ziele haben
für uns absolute Priorität.
Das von ihnen vorgetragene sogenannte Koopera-
tionsverbot gibt es in dieser Form nicht; Kooperationen
sind nicht per se verboten. Eine gesamtstaatliche Ver-
antwortung lässt sich nicht verbieten. Gute Bildung ist
in Deutschland nicht verboten. In den Bereichen, in de-
nen eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
nicht ausdrücklich kodifiziert ist, haben wir den Grund-
satz der Bundestreue zu beachten, der ein Zusammen-
wirken von Bund und Ländern erfordern kann. Wir sind
dabei, unsere Erfahrungen der Föderalismusreform I
zusammenzutragen. Unsere Ministerin hat mit Blick auf
Art. 91 b Abs. 2 GG ihre Erfahrungen in die Diskussion
eingebracht. Die Bundesländer werden nunmehr ihre
Erfahrungen kommunizieren. Wir Parlamentarier wer-
den eine Gesamtbetrachtung der Ergebnisse vornehmen
und die unterschiedlichen Interessen abwägen. Erst
dann kann sich ein Parlamentarier eine abschließende
Meinung bilden, allen voran in einem so sensiblen Be-
reich wie einer Grundgesetzänderung. Unser Meinungs-
bildungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich darf
Ihnen jedoch bereits jetzt versichern, dass im Zentrum
unseres Meinungsbildungsprozesses die Frage stehen
wird, wie wir als Bund mit den Ländern und Kommunen
zusammenwirken können, um unseren Kindern und
Jugendlichen die bestmöglichen Bildungschancen zu er-
öffnen und den Wissenschaftsstandort Deutschland vo-
ranzubringen. Dabei werden wir auch überlegen, in wel-
cher Form wir die Zusammenarbeit weiterentwickeln
können.
Bildung ist ein wichtiges Gut, insbesondere fürDeutschland als innovatives Land der Dichter und Den-ker. Wir tun gut daran, unser Bildungssystem ständigweiterzuentwickeln, zu optimieren und allen Menschenunserer Gesellschaft einen gerechten Zugang zu ermög-lichen. Kontraproduktiv wäre es, die Sorge um das Bil-dungswesen dem Diskurs um Kompetenzen zu unterwer-fen.In der Bundesrepublik Deutschland hat sich in denletzten 60 Jahren der Bildungsföderalismus grundsätz-lich bewährt. Daher macht es auch Sinn, an ihm festzu-halten. Die aktuellen Herausforderungen im Bildungs-wesen haben jedoch gezeigt, dass die Absolutheit, mitder der Bildungsföderalismus derzeit zementiert und vonden Bundesländern verteidigt wird, infrage zu stellen ist.Daher macht es Sinn, das im Grundgesetz festgeschrie-bene Kooperationsverbot zu überarbeiten. In diesemPunkt gehe ich mit dem Antrag der Fraktion Die Linkenoch d’accord. Schwierig wird es allerdings mit demWie. In erster Linie soll der Bund zum Finanzhilfengeberfür die Länder im Bereich Bildung mutieren. Und das istmir zu wenig, wenn es darum gehen soll, unser Bil-dungswesen für den internationalen Vergleich fit zu ma-
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3252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene RedenMarianne Schieder
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chen und vor allem für mehr Bildungsgerechtigkeit zusorgen.Wir brauchen eine enge Kooperation in verschiedens-ten Bereichen des Bildungswesens, wenn wir weiterkom-men wollen. Wir brauchen eine Kooperation zwischenBund und Ländern. Wir brauchen eine Kooperation un-ter den Bundesländern. Derzeit haben wir leider die Si-tuation, dass mit jeder Kultusministerkonferenz inDeutschland neue Unterschiede zwischen den Bundes-ländern entstehen. Da muss sich etwas ändern. Hiersind der Bund und insbesondere das Bundesbildungs-ministerium gefordert, moderierend einzugreifen undsich darum zu kümmern, die Legitimation dafür zu ha-ben. Bisher haben wir leider nur leere Ankündigungs-reden von Frau Ministerin Schavan, dass sich hier etwasändern müsse.Ich fordere die schwarz-gelbe Regierung auf, dienoch vorhandenen Mehrheiten zu nutzen und den Wortenendlich Taten folgen zu lassen, um eine effektive Koope-ration zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen zuermöglichen. Zusammenarbeit beinhaltet auch, auf-einander zu hören, miteinander zu reden und im DialogVereinbarungen zu treffen. Dies, meine Damen und Her-ren von der Linken, vermisse ich in Ihrem Antrag, wennes hier heißt, dass: „der Bund die Kompetenz erhält, inallen Bereichen der Bildung bei Aufgaben von überre-gionaler Bedeutung, insbesondere durch die Gewährungvon Finanzhilfen, beim Ausbau des Bildungssystemsmitzuwirken“. Wenn das Kooperationsverbot im Bil-dungswesen fällt, dürfen wir nicht neue Problemstellun-gen schaffen, indem wir den Bund entweder zur Finanz-melkkuh verkommen lassen oder den Bund auf Bereichemit sogenannter überregionaler Bedeutung begrenzen.Qualifizierte Bildungspolitik für die Herausforderungenvon morgen braucht mehr. Genauso fatal wäre es, demBund einseitig die Kompetenz zu geben, ohne Rückkopp-lung mit den Ländern in die Bildungspolitik hineinagie-ren zu können.Ich halte daher fest, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken: Im Grunde ist ihr Anliegen unterstützens-wert, doch in der Ausgestaltung bleiben viele Fragen of-fen, und es droht eine Engführung, die neue Problemeprovoziert. Die letzten Jahre haben zur Genüge gezeigt,dass blinder Aktionismus in der Bildungspolitik über-haupt nicht hilft. Bleibt zu hoffen, dass wir in diesemHohen Haus baldmöglichst über einen konkreten undausgereiften Gesetzentwurf zur Frage des Koopera-tionsverbotes im Bildungswesens abstimmen könnenund uns nicht weiter an Willenserklärungen abarbeitenmüssen. Abschließend kann ich für meine Fraktion sa-gen, dass wir daran arbeiten, diesem Anspruch gerechtzu werden.
Der Radikalföderalismus in der Bildungspolitik hatsich überlebt. Leider haben das aber noch nicht alle er-kannt. Dabei liegt auf der Hand, dass die Herausforde-rungen im Bildungswesen, die Notwendigkeiten zu Ver-besserungen zur Erreichung optimaler Bildung für alle– egal welcher Herkunft sie sind und welchen familiärenZu ProtokollHintergrund sie haben – eine Zusammenarbeit allerEbenen nötig machen. Die Ergebnisse des Bildungsföde-ralismus sind ausweislich der PISA-Studien und andererwissenschaftlicher Erhebungen auch nicht so ermuti-gend, dass alle anderen Nationen mit Neid auf unserenschönen Föderalismus schauen. Das hat inzwischen so-gar Bundesministerin Schavan erkannt. Dabei hatte siesich als Bildungsministerin Baden-Württembergs nochganz anders geäußert. Inzwischen freuen wir uns aberüber ihren Erkenntnisgewinn. Sie möchte den Bund alsAkteur auch in der Schulpolitik sehen, um etwa Grund-schulen in sozialen Brennpunkten unterstützen zu kön-nen. Darüber kann man im Einzelnen reden – wenn esdenn eine Grundgesetzänderung gäbe und das soge-nannte Kooperationsverbot abgeschafft würde. Leidervermissen wir bis heute bei allen schönen Reden undWolkenschiebereien der Frau Schavan eine konkrete,handfeste Initiative zur Grundgesetzänderung.Die kommt nun von der Fraktion Die Linke, aber lei-der nur halbherzig. Der Bund soll bei Aufgaben vonüberregionaler Bedeutung beim Ausbau des Bildungs-systems mitwirken, insbesondere durch die Gewährungvon Finanzhilfen. Was ist von überregionaler Bedeutungund was nicht? Ist die Einrichtung von Ganztagsschulenvon überregionaler oder regionaler Bedeutung? Und dieHilfe für besonders belastete Schulen? Und warum nurFinanzhilfen? Warum soll der Bund nicht auch pädago-gisches Personal stellen können? Nein, die optimale Lö-sung liegt doch wohl eher in der Schaffung einer echtenKooperationsmöglichkeit von Bund und Ländern für dieBildung ohne einschränkende Bedingungen, die dannsowieso nur juristischen Streit provozieren.Ich habe, wie in der Haushaltsdebatte bereits ange-kündigt, Bundesministerin Schavan in einem Brief ange-boten, dass wir eine gemeinsame, überparteiliche Initia-tive zur Grundgesetzänderung ergreifen. Man darfgespannt sein auf die Antwort. Natürlich gibt es vieleWiderstände gegen eine Grundgesetzänderung. Das hatmit Eitelkeiten einiger Akteure zu tun, die schlicht nichtzugeben möchten, dass die Föderalismusreform ein Feh-ler war, und mit Verlustängsten: Die Bundesländer se-hen den wichtigsten Kern ihrer Kompetenz – und damitihrer Existenzberechtigung – bedroht. Doch das sindDebatten, über die wir alle nur den Kopf schütteln wer-den, wenn sie einmal überwunden sind. Denn erstenswollen wir den Ländern doch nichts wegnehmen, son-dern nur bei der Bewältigung von Problemen zusam-menarbeiten. Und zweitens: Kann sich heute noch je-mand vorstellen, dass bei der Föderalismusreform auchjede Zusammenarbeit von Bund und Ländern in derHochschulpolitik grundgesetzlich verboten werdensollte? Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die mit derAndrohung der Ablehnung der gesamten Reform eineÖffnung des Grundgesetzes zur Kooperation in der Wis-senschaft erzwungen hat. Und dann gab es in Windeseilegroße und erfolgreiche Kooperationen von Bund undLändern für die Hochschule, etwa den Hochschulpakt.Man stelle sich nur für einen Moment vor, jemand wolltejetzt das Grundgesetz ändern und diese Kooperationverbieten wollen. Er würde ausgelacht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3253
gegebene RedenSwen Schulz
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So, genau so wird es auch beim Thema Schule gehen.Wir müssen nur endlich einmal durchsetzen, dass die le-bende Leiche Radikalföderalismus auch endlich beer-digt wird.
Der hier vorliegende Antrag der Linken zeigt ganz
klar, dass es hier nicht um eine seriöse bildungspoliti-
sche Diskussion geht, sondern ausschließlich um ideolo-
gische Vorurteile. Die Linke zeigt wieder einmal, dass
sie ein grundsätzliches Problem mit der föderalistischen
Ordnung des Grundgesetzes hat.
Sie verstehen das Prinzip des Föderalismus nicht und
deshalb haben sie ein Problem damit. Wie in vielen Be-
reichen hat sich die Linke auch in dieser Frage bis heute
nicht von ihrer Vergangenheit lösen können. Sie streben
weiterhin ein zentralistisches Einheitssystem an, eine
zentralistische Bildung möglichst einheitlich an jedem
Ort dieser Bundesrepublik. Wir Liberale setzen dagegen
auf einen bürgernahen Staat, auf Selbstverantwortung
vor Ort und Entscheidungsfreiheit der Betroffenen.
Über 1 Billion Euro hat die öffentliche Hand in drei-
ßig Jahren für Bildung ausgegeben. Und mit welchem
Ergebnis? Die PISA-Studie und andere Studien haben
uns nicht das beste Zeugnis ausgestellt. Und nur um ei-
nes klarzustellen: Wir reden dabei über die Zeit vor der
Föderalismusreform. Wir reden über die Zeit, als die
Kooperation zwischen Bund und Ländern bestand und
nicht gegriffen hat. Hören Sie also auf, das unsinnige
Märchen zu verbreiten, ohne das Kooperationsverbot
hätten wir ein besseres Bildungssystem in Deutschland.
Hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, dass man nur
mehr Geld für Bildung ausgeben muss und so alle Pro-
bleme lösen könnte. Und hören Sie auf, die föderalen
Strukturen für Probleme verantwortlich zu machen, die
durch diese föderale Ordnung überhaupt erst zu Tage
treten. Die Bundesländer, die sich modernen Konzepten
in der Bildungs- und Hochschulpolitik geöffnet haben,
haben in allen Vergleichsstudien gut oder sehr gut abge-
schnitten. Die Landesregierungen, die an ihren ideologi-
schen Vorstellungen festgehalten haben, wurden mit den
entsprechenden Ergebnissen abgestraft.
Und schließlich muss man sich auch noch die Frage
stellen, welche angeblichen Reformen Sie denn durch
bundeseinheitliche Maßnahmen fördern möchten. Etwa
die staatliche Monopolisierung von Bildung, wie sie in
Mecklenburg-Vorpommern oder Bremen betrieben
wird? Oder doch lieber das Tombolasystem ihrer rot-
roten Parteifreunde in Berlin, wo die Chancen auf einen
Platz an einem Gymnasium und damit die Zukunftschan-
cen eines Kindes vom Losglück abhängen, und zwar nur
deshalb, weil Sie ideologische Probleme mit dieser
Schulform haben. Nein, meine Damen und Herren, diese
Ostalgie in der Bildungspolitik machen wir nicht mit. Sie
setzen auf jene Konzepte, mit denen Sie schon in der Ver-
gangenheit gescheitert sind. Wir wollen moderne Ideen
und Kreativität fördern. Deshalb hat sich die Koalition
der Mitte auch klar für eine Bildungspartnerschaft von
Bund, Ländern und Kommunen unter Wahrung der je-
weiligen staatlichen Zuständigkeit ausgesprochen.
Zu Protokoll
Wir glauben an das Prinzip der Subsidiarität auch in
der Bildungspolitik, und zwar nicht deshalb, weil wir es
vor Jahrzehnten einmal beschlossen haben – das wäre
der Weg, den Sie mit Ihrer Zentralismusgläubigkeit ge-
hen. Wir halten am Prinzip der Subsidiarität deshalb
fest, weil es sich als der richtige Weg erweist, als der
richtige Weg gegen Bürokratie, gegen Innovationsfeind-
lichkeit und für eine moderne Bildungspolitik, die nahe
bei den Menschen ist. Der Wettbewerb um die beste Bil-
dung ist auch ein Wettbewerb der Länder um die beste
Bildungspolitik.
Wir haben hier also einen Antrag vorliegen, der ganz
klar an der Sache vorbeigeht. Wir brauchen keine endlo-
sen Debatten über Zuständigkeiten. Wir brauchen
Debatten über die besseren Bildungskonzepte. Doch bei
dieser Frage versagen Sie regelmäßig, meine Damen
und Herren von den Linken. Wo haben wir denn die
wirklichen Probleme in der Bildungspolitik? Nicht in
Baden-Württemberg, nicht in Hessen und auch nicht in
Schleswig-Holstein. Die großen Probleme haben wir
dort, wo Linke oder SPD oder Grüne regieren und re-
giert haben. Wenn Sie der Ansicht sein sollten, dass wir
diesen Länderregierungen wirklich die Kompetenz für
die Bildungspolitik entziehen sollten, dann könnte ich
dies sogar nachvollziehen. Weil die Länder, in denen
linke Bildungspolitik gemacht wird, den Vergleich weder
national noch international standhalten, wollen Sie den
Zentralismus. Und damit wollen sie letzen Endes nur
vertuschen, dass Sie keine sinnvollen Ideen in der Bil-
dungspolitik bieten können. Wissen Sie, Sie sollten end-
lich verstehen, dass es einzig und alleine um die Kinder
und Jugendliche in der Bildungspolitik geht.
Wir brauchen in Deutschland eine klare Zuordnung
der Kompetenzen als Voraussetzung für ein modernes
und effizientes Bildungssystem. Zu lange haben wir De-
batten über Zuständigkeiten geführt, die uns von wichti-
gen inhaltlichen Diskussionen abgehalten haben. Dass
Sie diese Debatte erneut aufgreifen, zeigt einfach nur,
dass es Ihnen nur um populistische und ideologische Pa-
rolen geht und nicht um die beste Bildung für unsere
Kinder und Jugendlichen.
Vier Jahre ist es her, dass mit der Föderalismus-reform die Kooperation und damit die gemeinsameFinanzierungsverantwortung von Bund und Ländern imBereich der Bildung unmöglich gemacht wurden. Heutefindet man kaum noch jemanden, der diesen Schritt vondamals verteidigt. Hätte man bei der Anhörung im Bun-destag genau hingehört, wäre das Kooperationsverbotwohl nicht verhängt worden. Dort erklärten mehrereSachverständige in großer Deutlichkeit, dass sie diesenSchritt für einen Fehler halten. So hob der Föderalis-musexperte Professor Dr. Schneider vom deutschenFöderalismusinstitut Hannover hervor, dass sich – ichzitiere aus dem Protokoll der Anhörung im DeutschenBundestag – „das Erziehungs- und Bildungswesen amallerwenigsten zu einer strikten Trennung von Bundes-und Landeskompetenzen“ eigne. Damals bestanden vorallem die Bundesländer darauf, die alleinige Verantwor-tung auf dem Gebiet der Bildung übernehmen zu wollen.
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3254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene RedenDr. Rosemarie Hein
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Heute hört man in Ost wie West Forderungen nachmehr Einheitlichkeit im Bildungswesen, und es scheintso etwas wie eine Gegenbewegung zu geben. Inzwischensind sich alle Parteien einig, dass Bildung eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe sein muss. Wir als Linke spre-chen von einer Gemeinschaftsaufgabe und verstehen da-runter die gemeinsame Verantwortung der öffentlichenHand auf allen Ebenen. Doch heute darf der Bund sichgrundsätzlich nicht mehr an den Investitionen in denBau von Schulen beteiligen, und so erfinden die Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien fleißigProgramme, mit denen dieses Verbot der Zusammen-arbeit und gemeinsamen Verantwortungsübernahmediskret unterlaufen werden kann. Ohne dies wären auchdie lokalen Bildungsbündnisse nicht zu fördern. Von„Bildungspartnerschaften“ ist dann die Rede und von„Sicherung der Nachhaltigkeit“ früherer Programme.Aber eigentlich geht auch das alles nach dem Grundge-setz nicht. Darum musste erst das Grundgesetz in derFöderalismusreform II geändert werden, sodass wenigs-tens in Katastrophenfällen geholfen werden kann. Sonsthätten Schulen und Kultureinrichtungen vom Konjunk-turpaket II gar nicht profitieren können.Tatsächlich leistet der Bund für das Ziel, künftig7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus-zugeben, nicht viel. Der Bildungsanteil in den Länder-haushalten beträgt im Durchschnitt heute bereits mehrals 32 Prozent; der in den Kommunen dürfte, je nach Be-rechnung, bei 20 Prozent liegen. Der Bildungsanteil imBundeshaushalt liegt deutlich unter 5 Prozent. Dabeiformuliert der Bund ständig Erwartungen und setzt so-gar gesetzliche Rahmen, die Konsequenzen für bil-dungspolitische Entwicklungen haben müssten: die Er-wartung, die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgesvon der sozialen Herkunft zu mindern, die UN-Konven-tion über inklusive Bildung umzusetzen und einenRechtsanspruch auf frühkindliche Bildung zu verwirkli-chen. Die Maßnahmen dazu reichen zwar längst nichtaus, sind aber schon jetzt auf allen Ebenen unterfinan-ziert.Das Ganztagsschulprogramm wurde initiiert, um einflächendeckendes Ganztagsschulangebot zu entwickeln.Das Ziel ist richtig. Aber das vom Bund bezuschussteBauprogramm war nur der Startschuss und löste bei denLändern und Kommunen massive Folgekosten aus.Ganztagsschulen müssen nicht nur unterhalten, sondernauch mit Leben erfüllt werden. Dazu gehört nicht nur diedauerhafte materielle Ausstattung der Schulen, sondernauch die Bezahlung von Lehrkräften und anderem päda-gogischen Personal. Es geht um die Sicherung der in-haltlichen Qualität des Ganztagsschulbetriebs. Dafüraber reichen Bauprogramme nicht aus.Oder nehmen wir den frühkindlichen Bereich: Hierhat die Bundesregierung sogar einen Rechtsanspruchfestgeschrieben – auch das ist richtig –, wenngleich nurhalbherzig, weil kein Ganztagsanspruch formuliertwurde. Dass aber für frühkindliche Bildung mehr als gutaufgeschriebene Programme nötig sind, nämlich mas-senhaft gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, istim Eifer der guten Tat untergegangen. Nach den jüngs-ten Zahlen der Bundesregierung über den AusbaustandZu Protokollfehlen schon für das Erreichen des angestrebten Zielsfür die unter Dreijährigen bis 2013 noch immer78 000 Erzieherinnen und Erzieher in der frühkindli-chen Bildung. Für den Ausbau der Kinderbetreuung istvon der Bundesregierung aber bis auf ein kleines Bau-programm aus dem Jahre 2007 von 2,15 MilliardenEuro nichts geleistet worden. Für alle anderen Kostensind die Länder und Kommunen zuständig. Nicht um-sonst mehren sich heute die Klagen, dass die Aufgabebis 2013 nicht zu schaffen ist. Alleine die Stadt Magde-burg, aus der ich komme, gibt über 49 Millionen Europro Jahr für Kinderbetreuung aus.Wenn künftig Bildung als Gemeinschaftsaufgabe ver-standen werden soll, muss auch der Bund seiner Verant-wortung nachkommen können für mehr Vergleichbarkeitin der Bildung, für die Überwindung sozialer Ausgren-zung, für die Sicherung einer hohen Bildungsqualitätund für eine gute Ausstattung der Bildungsinstitutionen.Darum muss als erster Schritt das Kooperationsverbotfallen. Dafür soll unser Antrag den Aufschlag geben. Siealle wissen, dass das Kooperationsverbot bildungspoli-tisch nicht zu begründen ist. Darum springen Sie einmalüber Ihren Schatten. Stimmen Sie unserem Antrag ein-fach zu.Mittelfristig muss man weiter gehen. Die Gemein-schaftsaufgabe Bildung ist im Interesse einer modernenAusgestaltung des Föderalismus durch alle Bildungsbe-reiche hinweg neu zu definieren. Die Abteilung „Pro-grammerfindung“ im BMBF kann dann künftig ander-weitig beschäftigt werden. Dazu aber bedarf es einerumfangreichen Debatte zwischen Bund, Ländern undKommunen, die heute begonnen werden muss.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn sagen: Mitder Einführung des Kooperationsverbots im Rahmen derFöderalismusreform I im Jahre 2006 haben sich Bundund Länder einen Bärendienst erwiesen. Dies ist keineneue Erkenntnis, musste aber offensichtlich so langewiederholt werden, bis auch Bundesministerin Schavanso langsam zu der Erkenntnis kam, dass man wohl da-mals einen Fehler gemacht hat. Denn was ist die Konse-quenz? Der Bund kann seinen Teil der gesamtstaatlichenVerantwortung für Bildung nicht wahrnehmen. Stattdes-sen wird viel Energie verschwendet, Umwege dafür zusuchen, wie der Bund die Länder doch unterstützenkann. Das Konjunkturprogramm II ist ein Beispiel dafür.Weil die Finanznot von Ländern und Kommunen großist, der Bund aber keine direkte Unterstützung beimSchulbau leisten darf, wurde die Begründung „energeti-sche Sanierung“ bemüht, um den Schulen dennoch Geldzukommen lassen zu können. Viel sinnvoller wären abergemeinsam von Bund und Ländern ausgehandelte undfinanzierte Programme, die zu einer Qualitätssteigerungim Bildungsbereich führen: ganztägige gute Bildung,längeres gemeinsames Lernen, ein inklusives Schulsys-tem, die Förderung von Migrantenkindern, ein bessererÜbergang von der Schule in die Ausbildung. Die Liste istlang.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3255
gegebene Reden
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3256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Priska Hinz
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Seit einiger Zeit spricht Bundeskanzlerin Merkel jagerne von der „Bildungsrepublik Deutschland“. Dochwas ist bisher daraus geworden? Zwei gescheiterte Bil-dungsgipfel 2008 und 2009. Der nächste steht im Junidieses Jahres an. Doch warum soll das Ergebnis bessersein als bei den vorangegangenen? Wenn die Bundes-regierung nicht endlich anfängt, eine Initiative zur Auf-hebung des Kooperationsverbotes einzuleiten, dannwird auch dieser Gipfel zu einer Farce. Selbst FrauSchavan, einst Kämpferin für eine „Nichteinmischung“des Bundes in Bildungsfragen, gibt inzwischen zu, dassdas Kooperationsverbot ein Fehler war. Es sei 2006 auseiner „momentanen Missstimmung“ zwischen Bund undLändern, in erster Linie auf Drängen der Ministerpräsi-denten, beschlossen worden. Ich frage Sie: Sollen wirjetzt weitere Jahre wegen einer „Missstimmung“ dasKooperationsverbot weitertragen, das verhindert, dasswir gerade in einem so wichtigen Bereich wie der Bil-dungspolitik eine Stagnation erleben? Das Koopera-tionsverbot ist eine selbstverordnete Einschränkung derpolitischen Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern.Der sogenannte Wettbewerbsföderalismus hat das Bil-dungsniveau insgesamt nicht gesteigert, die Qualität derSchulen nicht verbessert. Initiativen wie das Investi-tionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ fürmehr Ganztagsschulen haben gezeigt, dass es wichtigist, Programme gemeinsam aufzulegen, durchzuführenund zu finanzieren.Sehr geehrte Ministerin Schavan, ziehen Sie die fol-gerichtige Konsequenz aus Ihrer späten Erkenntnis,dass das Kooperationsverbot ein Fehler war. ErgreifenSie die Initiative für eine Grundgesetzänderung, damitdie Kooperation von Bund und Ländern im Bereich derallgemeinen Bildung wieder möglich wird. Wir unter-stützen Sie dabei gerne.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/785 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtung zur Registrierung aller klini-
schen Studien und zur Veröffentlichung aller
Studienergebnisse einführen
– Drucksache 17/893 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig
In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass
auch hier die Reden zu Protokoll genommen werden.
Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Rolf Koschorrek, René Röspel, Dr. Marlies Volkmer,
Lars Lindemann, Dr. Petra Sitte und Birgitt Bender.
Mit der Redewendung „Eulen nach Athen tragen“
bezeichnet man gemeinhin eine überflüssige Tätigkeit.
„Eulen nach Athen tragen“ wäre auch eine passende
Überschrift für den hier vorgelegten Antrag der Linken
zur Registrierung und Veröffentlichung aller klinischen
Studien und ihrer Ergebnisse, denn die Bundesregierung
ist längst dabei, die zentralen Forderungen des hier vor-
gelegten Antrags auf den Weg zu bringen.
Auf europäischer Ebene: Innerhalb der Europäischen
Union besteht bereits eine Registrierungspflicht für alle
hier durchgeführten klinischen Studien in der – zurzeit
allerdings noch nur behördenintern zu nutzenden –
EudraCT-Datenbank. Die Bundesregierung setzt sich
auf europäischer Ebene dafür ein, dass die Daten der
klinischen Studien für die Öffentlichkeit zugänglich ge-
macht werden und engagiert sich dementsprechend bei
der Erarbeitung der erforderlichen EU-Richtlinien.
Konkret geht es dabei um die Festlegung der Datenfel-
der, die der Öffentlichkeit sinnvollerweise bereitgestellt
werden sollen. Als maßgebliches Kriterium hierfür sieht
die Bundesregierung, dass die zugänglich zu machenden
Informationen für die Öffentlichkeit von Nutzen sein
müssen.
In Deutschland: An der Universität Freiburg befindet
sich mit Förderung des Bundesforschungsministeriums
ein nationales Studienregister für klinische Studien im
Aufbau, das Deutsche Register Klinischer Studien,
DRKS. Es umfasst neben Arzneimittelstudien und Stu-
dien zu Medizinprodukten Studien zu medizinischen,
physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Ver-
fahren. Es wird in enger Zusammenarbeit mit der WHO
– speziell mit der International Clinical Trials Registry
Platform, ICTRP – konzipiert. Das DRKS ist seit Okto-
ber 2008 als WHO-Primärregister anerkannt und erfüllt
damit die Anforderungen des International Committee
of Medical Journal Editors, ICMJE, dessen Mitglieder
bereits im September 2004 die prospektive Registrie-
rung klinischer Studien als Voraussetzung für eine Ver-
öffentlichung beschlossen haben. Es zählt zu den der-
zeit weltweit zehn Primärregistern, die in die WHO-
Plattform „International Clinical Trial Registry Plat-
form“, ICTRP, mit einem internationalen Standard für
die Registrierung klinischer Studien integriert ist.
Das DRKS bietet die Möglichkeit, Informationen zu
laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien in
Deutschland zu suchen oder eigene Studien über die Re-
gistrierung anderen zugänglich zu machen. Im Ge-
schäftsbereich des BMBF ist die Registrierung klini-
scher Studien Voraussetzung für eine Förderung, zum
Beispiel in der Fördermaßnahme „Klinische Studien“.
Eine verpflichtende Registrierung aller klinischen Stu-
dien beim DRKS lässt sich derzeit gesetzlich nicht ver-
ankern. Allerdings wird auf untergesetzlicher Ebene da-
rauf hingewirkt, dass möglichst viele Studien im Rahmen
des Antragsverfahrens bei den Ethikkommissionen frei-
willig beim DRKS registriert werden.
Dr. Rolf Koschorrek
(C)
(B)
Dies ist der aktuelle Sachstand der laufenden Bemü-
hungen und des aktiven Einsatzes der Bundesregierung
hinsichtlich der Registrierung von klinischen Studien
und zu den Neuregelungen, wie der Zugang für Ärzte,
Patienten und die Wissenschaft zu den Daten der klini-
schen Studien national und international optimiert wird.
Anstelle weiterer Ausführungen dessen, was aus unserer
Sicht zu dem hier eingebrachten Antrag darzulegen
wäre, ist hier auf die ausführliche Antwort der Bundes-
regierung auf die Anfrage der Fraktion Die Linke,
Drucksache 17/349, hinzuweisen, die dem Parlament
vorliegt und darüber hinaus allgemein zugänglich ist.
Klinische Studien sind ein wichtiger Baustein moder-
ner Gesundheitsforschung. Jedoch leidet auch dieser
Forschungszweig unter einem Problem, das zwar
menschlich verständlich, in diesem Bereich aber über-
haupt nicht angebracht ist: positive Ergebnisse werden
überbetont, negative Ergebnisse hingegen zu oft ver-
heimlicht. Dies gilt insbesondere, wenn die klinischen
Studien durch Unternehmen finanziert werden und das
eigentliche Ziel der Studie nicht der Wissensgewinn,
sondern der Nachweis positiver Wirkungen etwa eines
Arzneimittels, ist. Dieser sogenannte „Publication
Bias“ ist ein vielfach nachgewiesenes und seit langem
bekanntes Problem. Kritisch wird dieser Sachverhalt vor
allem dort, wo es um eine gute und finanziell dem Nutzen
angemessene medizinische Versorgung kranker Men-
schen geht.
Die Probleme, vor denen etwa das Institut für Quali-
tät und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in der
Vergangenheit stand und bis heute steht, sind korrekt im
Antrag der Fraktion Die Linke beschrieben. Wir müssen
uns fragen, ob wir als Gesellschaft wirklich akzeptieren
wollen, dass, wie im vorliegenden Fall für drei Antide-
pressiva, bei insgesamt rund 5 100 Testpersonen nur
Daten von 1 600 Probanden transparent verfügbar sind
und publiziert wurden. Die beste Lösung für dieses Pro-
blem kann nur sein, dass wir eine Verpflichtung zur Re-
gistrierung aller klinischer Studien, die in Deutschland
durchgeführt werden, einführen.
Es war und ist gut und richtig, dass das Bundesminis-
terium für Bildung und Forschung knapp 2,3 Millionen
Euro aufgewandt hat, um das „Deutsche Register klini-
scher Studien“, DRKS, aufzubauen. Man muss sich aber
fragen, ob die Schaffung von Anreizen für eine freiwil-
lige Registrierung der Studien beim DRKS ausreicht.
Die Bundesregierung vertritt laut Bundestagsdrucksa-
che 17/349 die Auffassung, dass diese Anreize ausrei-
chen. Wir als Fraktion der SPD teilen diese Bewertung
ausdrücklich nicht. Man muss sich fragen, wer einen
Nutzen aus dem Verzicht auf eine allgemeine Registrie-
rungspflicht hat und hier kommen einem sicherlich we-
der die Probanden noch die Kranken noch unsere Ge-
sellschaft allgemein in den Sinn.
Nicht nur aus Gründen der Verbesserung der Versor-
gung, sondern auch aus forschungspolitischer Sicht ist
eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischer
Studien wünschenswert. So steht zu hoffen, dass eine
Zu Protokoll
umfassende Registrierung etwa dazu führt, dass es Per-
sonen, die an seltenen Krankheiten leiden, leichter mög-
lich sein wird, sich an einer Studie zu beteiligen. Ohne
Registrierungspflicht hätte die Mehrzahl dieser Perso-
nen vermutlich nie von der Studie erfahren. Forschung
und Wissenschaft leben vom freien Austausch von Infor-
mationen. Ohne eine allgemeine Registrierungspflicht
kann man jedoch nie sicher die Frage beantworten, wel-
che Studien zur Krankheit X oder zum Arzneimittel Y be-
reits durchgeführt wurden. Doppelstudien, die durchaus
auch Gefahren für die Probandinnen und Probanden be-
inhalten können, sind die Folge. Ohne Not werden hier
Ressourcen verschwendet, die man besser in zusätzliche
Studien investieren sollte.
Wer gegen eine allgemeine Registrierungspflicht ar-
gumentiert, der sollte sich bewusst sein, dass offenkun-
dig in Deutschland größere Bedenken bestehen als in
anderen Ländern. So haben etwa die USA eine solche
Verpflichtung bereits in geltendes Recht übernommen –
und die USA gelten wahrlich nicht als Land, in dem For-
schung und Freiheit durch bürokratische Fesseln ge-
hemmt werden.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ge-
meinsam mit der Fraktion der CDU/CSU einen guten
Antrag zur Förderung nichtkommerzieller klinischer
Studien, Bundestagsdrucksache 16/6775, auf den Weg
gebracht. Diese kollegiale Zusammenarbeit im Sinne
der Patientinnen und Patienten sollten wir fortsetzen.
Wir werden daher ebenfalls einen Antrag in die parla-
mentarische Beratung einbringen. Dieser wird unter an-
derem, ausgehend von der genannten Drucksache, Vor-
schläge unterbreiten, um den öffentlichen Zugang zu
Informationen über klinische Studien umfassend sicher-
zustellen.
Im Gegensatz zum Vorschlag der Fraktion Die Linke
werden wir aber auch stärker darauf Rücksicht nehmen,
dass die Sponsoren klinischer Studien ebenfalls berech-
tigte Interessen haben. So darf etwa eine Registrierungs-
pflicht nicht zum Einfallstor für den Diebstahl von Ideen
und Forschungsdesigns werden. Dieser Aspekt wird im
Antrag der Fraktion Die Linke leider nicht ausreichend
berücksichtigt. Daher sehen wir den Antrag der Linken
als interessanten Impuls für unsere parlamentarische
Debatte; aber wir werden einen besseren Vorschlag zur
Lösung der im vorliegenden Antrag beschriebenen Pro-
bleme unterbreiten.
Bereits seit Jahren diskutieren wir darüber, wie dieTransparenz über laufende, beendete oder abgebro-chene klinische Studien erhöht werden kann. Heute kannes keinen Zweifel mehr darüber geben: Die Zeit der frei-willigen Selbstverpflichtungen ist vorbei. Registrierun-gen und Veröffentlichungen auf freiwilliger Basis wer-den niemals zu einem vollständigen Überblick über dieStudien zu einem Arzneimittel oder einem therapeuti-schen Verfahren führen. Seit den ersten Diskussionen umdie Einführung von Studienregistern hat sich einiges ge-tan. Heute bezweifelt niemand mehr ernsthaft den Sinneiner Registrierung von Studien. Register sind unter an-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3257
gegebene RedenDr. Marlies Volkmer
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derem notwendig, weil die Berichterstattung über Stu-dienergebnisse, positive und negative, vollständig seinmuss. Dies ist wichtig bei der Bewertung des Nutzens ei-ner Therapie. Zudem ist überflüssige Forschung amMenschen unethisch und muss vermieden werden. Da-rüber hinaus müssen Patientinnen und Patienten sowieÄrztinnen und Ärzte die Möglichkeit erhalten, sich überlaufende Studien zu einzelnen Erkrankungen zu infor-mieren, aber auch über die besten Behandlungsmöglich-keiten in bestimmten klinischen Situationen.Mittlerweile gibt es international eine ganze Reihevon Registern, die allerdings unterschiedlich zugänglichund bekannt sind. Das europäische Register EudraCTdürfte eines der umfangreichsten Register in Europasein, da jede klinische Prüfung mit Arzneimitteln dort re-gistriert sein muss, bevor die Prüfung begonnen wird. Al-lerdings beinhaltet EudraCT ausschließlich Arzneimit-telstudien und ist weder Ethikkommissionen noch Ärztenoder gar der Öffentlichkeit zugänglich. Es gibt Registerin anderen Ländern wie das Register des National Insti-tute of Health in den USA, www.clinicaltrials.gov. Leiderist der Anteil der Studien, die Firmen mit Sitz inDeutschland dort registrieren, nach Aussagen von Ex-perten äußerst gering. Es wird davon ausgegangen, dasslediglich 10 bis 30 Prozent aller in Deutschland durch-geführten Studien dort registriert werden. Es ist bekannt,dass die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft nicht ein-mal regelmäßig englischsprachige Artikel in Fachzeit-schriften zur Kenntnis nimmt. Vor diesem Hintergrundverwundert es nicht, dass auch nur einer Minderheit dasamerikanische Register überhaupt bekannt ist – was zu-dem nichts über seine Nutzung sagt.Argumentiert wird häufig, dass für die Publikation ineiner großen Fachzeitschrift eine Registrierung ohnehinnotwendig sei. Nur: Nicht jede klinische Prüfung wirdpubliziert. Vor allem von abgebrochenen Studien undvon Studien mit negativen Ergebnissen, zum Beispiel,wenn das Arzneimittel nicht die erhoffte Wirkung hatte,erfahren in der Regel nur die zuständige Bundesoberbe-hörde und die Ethikkommission, sonst niemand. Sokommt es dazu, dass die Wirksamkeit zum Beispiel vonArzneimitteln systematisch überschätzt wird, die Risikenhingegen unterschätzt werden. Das kann fatale Folgenbei der Behandlung von Patienten haben; denn das be-stehende Risiko durch nutzlose oder schädliche Behand-lungen kann kein Arzt aus eigener Kraft recherchieren.Aber auch Institutionen wie das Institut für Qualität undWirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, stoßenan Grenzen. Das IQWiG hat die Aufgabe, den Nutzenvon Arzneimitteln und anderen Therapien und das Kos-ten-Nutzen-Verhältnis zu bewerten, und zwar durch Ver-gleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsfor-men. Die Bewertung ist dabei maßgeblich von derVollständigkeit der publizierten Literatur abhängig. Umdas Problem der lückenhaft publizierten Studien aus derWelt zu schaffen, hat das IQWiG mit den pharmazeuti-schen Herstellern bereits 2005 eine grundsätzliche Eini-gung zur Übergabe solcher Daten vereinbart. Allerdingsist auf diese Ankündigungen kein Verlass. Nach Aussa-gen des IQWiG gab es in den letzten Jahren wiederholtFälle, in denen es Firmen abgelehnt hatten, dem InstitutZu ProtokollUnterlagen zu Studien zur Verfügung zu stellen, die esfür die Nutzenbewertung von Arzneimitteln benötigte.Das IQWiG schildert konkret eine Bewertung von Arz-neimitteln zur Behandlung von Depressionen. In diesemFall fehlten in der öffentlich zugänglichen Literatur dieErgebnisse von etwa zwei Dritteln der behandelten Pa-tienten. Dabei suggerierten die veröffentlichten Ergeb-nisse einen Nutzen, der sich letztlich bei Betrachtung al-ler Daten nicht belegen ließ.Vor diesem Hintergrund braucht es dringend eine Re-gistrierungs- und eine Veröffentlichungspflicht klini-scher Studien. Die Registrierungspflicht muss sich aufdas Deutsche Register für Klinische Studien, DRKS, be-ziehen, das seit 2007 mit finanzieller Unterstützung desBundesministeriums für Bildung und Forschung aufge-baut wird. Anders als andere Register, zum Beispiel auchdas geplante europäische EudraPharm-Register, um-fasst das DRKS über Arzneimittelstudien hinaus Studienzu Medizinprodukten und Studien zu medizinischen,physiotherapeutischen oder psychotherapeutischenVerfahren. Anders als andere Register bietet es durchdie deutsche Sprache Patientinnen und Patienten undÄrztinnen und Ärzten einen einfachen Zugang. Zudemsoll es – auch das ist nicht unbedingt Usus – eines TagesStudienergebnisse verzeichnen können. Deshalb brauchtdas DRKS langfristig eine ausreichende finanzielle undpersonelle Ausstattung.Sie sehen, dass ich die Hauptargumente des vorlie-genden Antrags teile. Im Detail sehe ich Verbesserungs-bedarf vor allem hinsichtlich der konkreten Umsetzungder Registrierungspflicht. Deshalb wird die SPD-Frak-tion einen eigenen Antrag vorlegen.
Die Linke hat uns hier einen Antrag vorgelegt, in demsie eine uneingeschränkte und undifferenzierte Regis-trierungs- und Veröffentlichungspflicht für klinische Stu-dien fordert. Als Begründung wird eine „systematischeVerzerrung in der Bewertung von diagnostischen undtherapeutischen Verfahren“ im gegenwärtigen For-schungsbetrieb genannt. Dabei umfasst der Geltungsbe-reich des Antrages Studien forschender Unternehmenebenso wie öffentlicher Institute. Ziel soll es sein, fal-sche Wirksamkeits- und Risikobewertungen zu verhin-dern. Dieses Ziel teilen wir. Wir haben ein Interesse da-ran, dass nur solche Arzneimittel auf den Marktkommen, die wirksam und sicher sind. Und wir habenein Interesse an einer guten Verfügbarkeit von Datenund einer verständlichen Kommunikation der relevantenErgebnisse. Sie allerdings nutzen selbst dieses Themadazu, Ideologie zu transportieren, statt sachdienlicheVorschläge zu machen; denn von der Sache haben Sieganz offensichtlich nicht viel Ahnung. So zeichnen Sieeinmal mehr das düstere Bild von Forschung, als wäresie nicht Hoffnung und Heilsbringer kranker Menschen,sondern das Reich des Bösen. Sie stellen die Forscher-gemeinde unter den Generalverdacht der Manipulationund schießen scharf auf ihren Klassenfeind. Gleichzeitigbeweisen Sie Ihre Realitätsferne, indem Sie die qualita-tiven Selbstregulationsmechanismen des Wissenschafts-betriebes ignorieren und keinerlei Differenzierung etwa
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3258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene RedenLars Lindemann
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zwischen Phase-I- und Phase-III-Studien vornehmen.Forscher sollen bei Androhung von Strafe gezwungenwerden, ihre sämtlichen Ergebnisse nicht nur für Fach-adressaten zu formulieren, sondern stets auch laienver-ständlich. Aber was heißt das eigentlich in der Wirklich-keit? Können Sie mir sagen, welcher Bürger sich für diepharmakokinetischen und pharmakodynamischen Dateneiner Substanz interessiert, die bereits in dieser Phaseaus dem Prozess fliegt und niemals in der Klinik landet?Wie kann man ohne Fachausbildung überhaupt die Rele-vanz dieser Parameter beurteilen? Und haben Sie eineVorstellung, welche zusätzliche bürokratische Belastungsie den Forschergruppen zumuten? Das ist wirklichnicht Ihre Welt; das merkt man in jeder Zeile Ihres An-trages.Wissenschaftliche Fragestellungen sind differenziert,Studienpublikationen haben bestimmte Adressaten, undnicht jede Studie hat Fragestellungen, die sich auf eineeinfache Aussage reduzieren lassen. Und wollen Sieernsthaft sagen, dass ein Laie die statistische Signifi-kanz einer Korrelation mathematisch nachvollziehenwill? Für den Bürger ist wichtig, dass ein Mittel wirk-sam und sicher ist und für die richtige Indikation ver-wendet wird. Die Aufgabe, dies sicherzustellen, hat dieZulassungsbehörde, in der die Fachleute sitzen, die Stu-dien in ihrer wissenschaftliche Tiefe beurteilen und alleInformationen auch einordnen können. Dem bürokrati-schen Aufwand stünde gerade bei Phase-I-Studien kei-nerlei Nutzen gegenüber. Deshalb setzt übrigens auchdie amerikanische Food and Drug Administration, FDA,den Filter bei Studien, die sich auf zugelassene Arznei-mittel beziehen.Darüber hinaus schüren Sie Ängste, es würden in gro-ßem Stil gefährliche Medikamente, Hilfs-, Heilmittel undVerfahren zugelassen. Dabei ignorieren Sie völlig diegute Arbeit des Bundesinstituts für Arzneimittel und Me-dizinprodukte, BfArM, des Instituts für Qualität undWirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, der eu-ropäischen Arzneimittelagentur, EMEA, des Paul-Ehr-lich-Institutes, der Forschungsinstitute selbst, der wis-senschaftlichen Fachzeitschriften, der medizinischenFachgesellschaften, der forschenden Pharmaunterneh-men, der Krankenkassen, der Ärzte und Therapeuten.Damit sind nur einige genannt, die einen internationalextrem hohen Standard der Qualitätssicherung inDeutschland sicherstellen.Niemand wird in Abrede stellen, dass Untersuchungs-ergebnisse wissenschaftlicher Studien in Ausnahmefäl-len gefälscht oder auch zielorientiert erstellt werden.Dass dies möglich ist, liegt vor allem daran, dass derstetig wachsenden Masse von Publikationen – abgese-hen von solchen, die Teil von Zulassungsverfahren sind,kaum Ressourcen zur Überprüfung gegenüberstehen.Aber was ändert Ihr Vorschlag daran? Wer die kriminelleEnergie aufbringt, Protokolle zu fälschen oder Mess-werte zu schönen, der wird nicht dadurch abgeschreckt,dass er seine Studie registriert hat und sie neben demFachjournal noch in einer zusätzlichen Datenbank veröf-fentlicht. Kommt es zu einem Zulassungsverfahren, müs-sen die Daten spätestens den strengen Kriterien des Ver-Zu Protokollfahrens standhalten. Und hier sind dann auch dieRessourcen.Wir befürworten eine bessere Verfügbarkeit wissen-schaftlicher Daten aus medizinischen Studien. Deswe-gen begrüßen wir die Selbstverpflichtung zur Registrie-rung und Publikation sämtlicher Studien, die sich derVerband Forschender Arzneimittelhersteller, vfa, auferlegthat. Diese ist so angelegt, dass ein vollständiger Überblicküber die in einem bestimmten Indikationsgebiet durchge-führten Studien ermöglicht wird. Hier ist die europäischeDatenbank für klinische Studien, EUDRACT, eingebunden.Aktivitäten auf europäischer Ebene, die eine Erweiterungder Zugänglichkeit der EUDRACT-Daten anstreben,halten wir für sinnvoll. Der Aufbau eines zusätzlichennationalen Registrierungs- und Publikationssystemsliegt aber eindeutig nicht im Interesse einer einfacherenZugänglichkeit von Daten.Punktum: Ihr Antrag ignoriert die bestehenden Me-chanismen und enthält nichts, was Sicherheit und Quali-tät von Arzneimitteln erhöhen würde. Stattdessen wollenSie die Forschergemeinde durch kontraproduktive Büro-kratie noch mehr belasten. Das schadet nicht nur derForschung, sondern schließlich auch den kranken Men-schen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Gestern hat US-Präsident Obama das größte innen-politische Projekt der Legislaturperiode, eine Gesund-heitsreform samt Versicherungspflicht für alle Bürger,auf den Weg gebracht. Das amerikanische Gesundheits-system ist bekanntermaßen das teuerste der Welt, auchdie Arzneimittelkosten liegen an der globalen Spitze.Obama hat mit der Versicherungspflicht einen erstenrichtigen Schritt getan. Nun folgen die Mühen derEbene: Das Versicherungssystem darf kein Selbstbedie-nungsladen für die Leistungserbringer und Pharmafir-men werden, sondern muss die bestmögliche Versorgungzu vertretbaren Kosten im Blick haben. Ein Teil dieserDebatte wird sich um die Kosten-Nutzen-Bewertung vonArzneimitteln drehen. Während den USA viele Bewer-tungsinstrumente fehlen, haben sie Deutschland jedocheines voraus: eine gesetzliche Pflicht zur Registrierungund Veröffentlichung der Daten aus klinischen Studien.Seit 2008 enthält der Food and Drug AdministrationAmendment Act, FDAAA, die Vorschrift, dass alle Regis-trationsdaten klinischer Studien, aber auch die Ergeb-nisse der Untersuchungen im Internet zu veröffentlichensind.Warum hat sich dieses industriefreundliche Land zusolch einem radikalen Schritt entschlossen? Weil es derPublikationspraxis industriegeführter Pharmaforschungnachweislich an Transparenz mangelt. Dies verwundertnicht. Schließlich sind positive Studienergebnisse einPush-up für Absatz und Börsenkurs, während die Nach-richt von Unwirksamkeit oder gar Komplikationen undNebenwirkungen von Wirkstoffen Milliardenumsätzeverhindern können. Auch die Frage, ob ein neues Medi-kament besser wirkt als ein bereits am Markt befindli-ches, hat Auswirkungen auf den Umsatz der Pharmakon-zerne. Wenn die Kassen das neue Medikament nicht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3259
gegebene RedenDr. Petra Sitte
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erstatten, dann entsteht unter Umständen gar kein Marktdafür.Aber nicht nur die sogenannten Sponsoren der Stu-dien, also die Industrieunternehmen, haben ein Interessean positiven Ergebnissen. Auch der wissenschaftlichenReputation von Forscherinnen und Forschern und vonRedaktionen der Journales helfen Erfolge in der Wirk-stoffentwicklung eher als deren Risiken und Nebenwir-kungen. Es gibt also handfeste Interessenlagen, die densogenannten Publikations-Bias hervorrufen. Studiener-gebnisse mit positivem Inhalt werden dreimal so häufigpubliziert wie solche mit negativem Inhalt. Viele Studienbleiben nach Abschluss oder Abbruch in der Schubladeder Sponsoren, auch wenn sie vorher ordentlich bei deneuropäischen Behörden registriert worden sind. Ver-schiedene Untersuchungen haben festgestellt, dass zwi-schen den angemeldeten Studien und den dann in derFachliteratur publizierten Ergebnissen häufig einegroße Lücke klafft. Eine 2008 erschienene Untersu-chung verglich Studienergebnisse, die der amerikani-schen Arzneimittelbehörde FDA gemeldet wurden, mitdenen, die dann in der Fachliteratur auftauchten. Er-gebnis: Die Daten der FDA können keinen signifikantentherapeutischen Nutzen der zwölf untersuchten Antide-pressiva nachwiesen; lediglich 51 Prozent der Studien-ergebnisse waren positiv. In der Fachliteratur hingegenwurden Prüfungen mit 94 Prozent positivem Ergebnisdargestellt. Der Rest fiel zumindest für die Augen vonÄrztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten undKrankenversicherungen einfach unter den Tisch.Der Publikations-Bias ist kein amerikanisches Pro-blem. Gerd Antes, Leiter des renommierten Cochrane-Zentrums in Heidelberg, geht davon aus, dass etwa dieHälfte der in Deutschland angekündigten Studien nieveröffentlicht wird. Das Institut für Qualität und Wirt-schaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG, das denNutzen neuer Medikamente bewerten soll, muss sich zumTeil mit noch schlechterer Datenlage begnügen. So ver-weigerte der Pharmahersteller Pfizer trotz gegenteiligerVereinbarung die Einsicht in die Patientendaten zum An-tidepressivum Edronax, das bereits seit zwölf Jahren aufdem Markt ist. Lediglich 1 600 Datensätze wurden demInstitut zur Verfügung gestellt; die 3 000 weiteren seiennicht zur Bewertung des Medikaments geeignet – so dielapidare Aussage des Konzerns gegenüber dem IQWiG.Von den 17 Studien, die zu Edronax durchgeführt wordensind, tauchten nur sieben in wissenschaftlichen Publika-tionen auf – natürlich die mit positivem Ergebnis.Wir finden, dass dieser Zustand der Intransparenzund Vertuschung ein Ende haben sollte. Erkenntnisseaus klinischen Studien sind keine „Geschäftsgeheim-nisse“ und auch keine Privatsache der Financiers. Zumeinen wurden diese Studien fast immer unter Nutzung öf-fentlicher Infrastrukturen und öffentlicher Grundlagen-forschung durchgeführt. Zum anderen haben viele Ak-teure ein Recht auf diese Ergebnisse: zuerst dieProbandinnen und Probanden selbst, die sich der Wis-senschaft zur Verfügung stellen. Aber auch die wissen-schaftliche Community, deren Diskurs auf Transparenzund Validität gründet. Und nicht zuletzt sind alle Akteurein der Gesundheitsversorgung auf die Daten angewie-Zu Protokollsen. Patientinnen und Patienten wollen die verschriebe-nen Therapien überprüfen können, Ärztinnen und Ärztedie wirksamsten Medikamente verschreiben und dieSelbstverwaltung des Gesundheitswesens auf effizientenMitteleinsatz der Versichertenbeiträge und Steuermittelachten.Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht nur aufeuropäischer Ebene um eine Veröffentlichungspflicht zuringen, sondern hier in Deutschland mit gutem Beispielvoranzugehen. In Heidelberg wird, unterstützt durch dasBundesforschungsministerium, seit 2007 das DeutscheRegister für Klinische Studien – kurz DRKS – aufgebaut.Obwohl einige namhafte Forschungszeitschriften dieRegistrierung der Studie in einem zertifizierten Registerzur Voraussetzung einer Publikation machen, wächstder Datenbestand auf freiwilliger Basis nur äußerstschleppend. Mit Stand von gestern waren 203 Studienregistriert. 1 300 klinische Tests werden jedoch nachAussage der Bundesregierung pro Jahr durchgeführt.Das zeigt: Freiwilligkeit löst das Problem nicht. Wirbrauchen eine gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichungaller Daten aus klinischen Studien. Das DRKS, offiziellvon der WHO anerkannt, bietet für solch ein Vorhabendie passende Infrastruktur. Sie müssen nur den Mut ha-ben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,dem renditestärksten Industriezweig Grenzen zu setzenund die Interessen der Öffentlichkeit in den Vordergrundzu rücken. Dass zu den ersten Amtshandlungen des Ge-sundheitsministers der sanfte Druck zur Absetzung desrenommierten IQWiG-Leiters Peter Sawicki gehörte,stimmt mich in dieser Hinsicht zwar pessimistisch. Wirsetzen jedoch auf den sanften Druck der öffentlichen De-batte, die in den letzten Monaten immer deutlicher eineVeröffentlichungspflicht für klinische Studien geforderthat. SPD und Grüne, selbst Herr Spahn von der Unionund der Staatssekretär im Gesundheitsministerium HerrBahr von der FDP zeigten sich einer solchen Regelunggegenüber aufgeschlossen. Dann sollte sie doch auchumzusetzen sein.Zugleich, das soll hier zum Schluss angemerkt sein,kann die Debatte um Transparenz und Freiheit der medi-zinischen Forschung mit diesem Vorhaben nicht abge-schlossen werden. Eine Studie hat im Auftrag des deut-schen Ärztetages im vergangenen Jahr festgestellt:„Veröffentlichte Arzneimittelstudien erzielen häufig einfür pharmazeutische Unternehmen günstiges For-schungsergebnis, wenn diese Studien vom Herstellerun-ternehmen finanziert wurden oder sich ein Autor in ei-nem ökonomischen Interessenkonflikt befindet.“ Ergo:Es muss um die Ermöglichung von mehr industrieunab-hängiger Forschung gehen. Wir brauchen objektivesWissen über den Nutzen und Schaden der immer komple-xer werdenden therapeutischen und diagnostischenMöglichkeiten.
Die fehlende Transparenz über bestehende Studienund der fehlende Zugang zu deren Ergebnissen sindnicht hinnehmbar und schaden letztlich allen Beteiligtenim Gesundheitswesen. Seit Jahren setzen wir Grüne unsfür ein öffentlich zugängliches, verpflichtendes Arznei-
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3260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3261
Birgitt Bender
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mittelstudienregister und die Veröffentlichung aller Stu-dienergebnisse ein. Daher stößt der Antrag der Linken,der dieses Thema parlamentarisch aufgreift, auf unsereungeteilte Zustimmung.Ein öffentlich zugängliches und verpflichtendes Stu-dienregister ist notwendig, da es erstens Teilnehmerin-nen und Teilnehmer an Forschungsvorhaben vor unnöti-gen und gegebenenfalls schädlichen Studien schützt, daes zweitens Forschende unterstützt, sich tatsächlichneuen, bisher noch nicht erforschten Gebieten zu wid-men, statt Redundantes zu erforschen oder sich in dengleichen Sackgassen zu verlaufen wie andere zuvor, daes drittens Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit bietet,auf einer möglichst sicheren Basis Therapieempfehlun-gen und Leitlinien zu entwickeln, und da es viertensPatientinnen und Patienten nicht – im Extremfall tödli-chen – Nebenwirkungen aussetzt, die unter Umständenden Herstellern bekannt waren, von ihnen aber ver-schwiegen werden.Wie notwendig ein solches Vorgehen ist, zeigen Arz-neimittelskandale der letzten Jahre. Genannt seien ausdem Jahr 2000 Vioxx, wo Hinweise auf ein erhöhtes kar-diovaskuläres Risiko der Öffentlichkeit offenbar systema-tisch vorenthalten wurden, und aus dem Jahr 2007 dasAntidepressivum Seroxat. Hier wurde dem Herstellervorgeworfen, Forschungsergebnisse, die eine erhöhteSelbstmordgefahr bei Teenagern zeigten, zurückzuhalten.Auf den aktuellen Fall, die Vorenthaltung von Studien ge-genüber dem IQWiG – auch hier handelte es sich um An-tidepressiva –, weist der Antrag ja bereits hin.Seit Jahren bohren wir Grüne an diesem dicken Brett.Dass dies nicht immer einfach ist, davon kann ich einLied aus den letzten Wahlperioden im Bundestag singen.2003/2004 stand die 12. Novelle zum Arzneimittelgesetzauf der Tagesordnung. Wir gingen damals mit zwei For-derungen, die einen engen Bezug zur heutigen Debattehaben, in die Verhandlungen mit dem KoalitionspartnerSPD. Zum Ersten mit der Forderung nach einem natio-nalen Register aller genehmigten klinischen Prüfungen,das regelmäßig evaluiert werden sollte. Zum Zweiten mitder Forderung nach expliziten Auskunftsrechten vonProbandinnen und Probanden zu den Ergebnissen derStudie, an der sie selbst teilgenommen haben. Mit beidenAnliegen sind wir gescheitert. Damals fehlte es an einerUnterstützung aus der SPD-Fraktion. Immerhin ist einTeil der SPD kurz danach aufgewacht. Ende 2004 nacheiner Anhörung der Enquete-Kommission Ethik undRecht in der modernen Medizin schrieben sie sich einverpflichtendes Studienregister plötzlich auf die Fahne.Erreicht haben wir Grüne damals nur einen kleinenSchritt in die richtige Richtung. Den Ethik-Kommissio-nen wurde ein indirekter Zugang zur europäischen Da-tenbank EudraCT ermöglicht. Mit § 42 Abs. 2 a AMGwurde das BfArM oder PEI verpflichtet, die zuständigenEthikkommissionen zu unterrichten, wenn Informatio-nen insbesondere zu abgebrochenen oder vorzeitig be-endeten klinischen Prüfungen vorliegen, die für die Be-wertung der beantragten Studie von Bedeutung sind.In der letzen Wahlperiode forderten dann Abgeord-nete der Regierungskoalition, versteckt im Antrag„Nichtkommerzielle klinische Studien in Deutschlandvoranbringen“, von ihrer eigenen Regierung ein natio-nales Register und eine Erleichterung des öffentlichenZugangs zu nationalen und europäischen Registern fürklinische Studien. Der politische Wille einiger Koali-tionsabgeordneten war da, aber es fehlte ihnen die poli-tische Macht zur Durchsetzung.Im Interesse der Patientinnen und Patienten, der Ärz-tinnen und Ärzte und der Forscherinnen und Forschersollten wir als Parlament geschlossen fordern, dassdiese Bundesregierung endlich wirklich aktiv wird undlängst Überfälliges umsetzt. Sie sollte sich nicht mit demVerweis darauf, dass für Arzneimittel die europäischeDatenbank EudraCT in Zukunft in Teilen öffentlich zu-gänglich ist, drücken. Denn EudraCT hat ein zentralesManko: Es fehlen Informationen zu den Studienergeb-nissen. Für Medizinprodukte und alle anderen medizini-schen Studien sieht die Situation viel düsterer aus. Einerster Silberstreifen am Horizont ist das freiwilligeDeutsche Register Klinischer Studien. Jedoch deuten dieersten Zahlen der dort registrierten Studien darauf hin,dass mit einer Freiwilligkeit, selbst wenn die Registrie-rung eine Voraussetzung für eine Publikation in Fachor-ganen ist, bei weitem keine Vollständigkeit erzielt wer-den kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/893 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derFDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Ge-sundheit, die Fraktion Die Linke wünscht Federführungbeim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung.Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvor-schlag der Fraktion Die Linke ab, das heißt Federführungbeim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Er ist damitabgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,nämlich Federführung beim Ausschuss für Gesundheit.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-schlag ist angenommen. Das heißt, die Federführungliegt beim Ausschuss für Gesundheit.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten SabineZimmermann, Jutta Krellmann, Klaus Ernst, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKEeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent-fristung der freiwilligen Weiterversicherung inder Arbeitslosenversicherung– Drucksache 17/1141 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
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3262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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b) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFreiwillige Arbeitslosenversicherung fürSelbstständige entfristen und ausbauen– Drucksache 17/1166 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieWie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, wer-den die Reden von folgenden Kolleginnen und Kollegenzu Protokoll gegeben: Paul Lehrieder, GabrieleLösekrug-Möller, Johannes Vogel, Sabine Zimmermannund Brigitte Pothmer.
Bevor ich auf den Gesetzentwurf der Linken und den
Antrag der Grünen eingehe, möchte ich kurz etwas zum
Gegenstand der Initiativen sagen, die wir heute hier de-
battieren, der freiwilligen Arbeitslosenversicherung.
Seit dem 1. Februar 2006 können sich bestimmte Grup-
pen von Selbstständigen nach § 28 a SGB III freiwillig
in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung weiterver-
sichern. Voraussetzung dafür ist, dass die selbstständige
Tätigkeit mehr als 15 Stunden wöchentlich umfasst, dass
der Antragsteller innerhalb der letzten 24 Monate vor
Beginn der Selbstständigkeit mindestens zwölf Monate
in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden oder
eine Entgeltersatzleistung bezogen hat. Wichtig ist auch,
dass unmittelbar vor Aufnahme der selbstständigen Tä-
tigkeit ein Versicherungspflichtverhältnis bestanden hat
oder eine Entgeltersatzleistung bezogen wurde und dass
der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung spätestens
innerhalb eines Monats nach Aufnahme der selbststän-
digen Tätigkeit gestellt wird. Für die einen erhöht sich
dadurch die Dauer eines möglichen Anspruchs auf Ar-
beitslosengeld. Für die anderen wird der Antrag auf
ALG II und die damit verbundene unangenehme Bedürf-
tigkeitsprüfung auf einen späteren Zeitpunkt verscho-
ben.
Zweck der freiwilligen Weiterversicherung ist es, Ar-
beitslosen, die sich selbstständig machen, um ihre Ar-
beitslosigkeit zu beenden, die Angst zu nehmen, bei ei-
nem Scheitern der Existenz sozial schlechter zu stehen
als zuvor. § 28 a SGB III stellt deshalb sicher, dass sie
den bereits erworbenen Versicherungsschutz durch eine
Weiterversicherung aufrechterhalten können.
Gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB III endet das Ver-
sicherungspflichtverhältnis von Selbstständigen und Ar-
beitnehmern, die vorübergehend im Ausland außerhalb
der EU oder EU-assoziierten Staaten tätig sind, spätes-
tens mit Ablauf des 31. Dezember 2010. Dann stünde ab
2011 nicht nur Neugründern die Möglichkeit der frei-
willigen Arbeitslosenversicherung nicht mehr zur Ver-
fügung, sondern auch bereits Versicherte nach § 28 a
SGB III könnten in der Folge die Arbeitslosenversiche-
rung nicht weiterführen. In ihrem Gesetzentwurf fordern
die Linken deshalb, die bestehende Möglichkeit zur frei-
willigen Weiterversicherung schnell zu entfristen und
diese auch für die langjährig Selbstständigen zu öffnen
und für solche, die vorher Leistungen nach dem SGB II
bezogen haben.
Wie schade, dass Sie nicht gründlich recherchiert ha-
ben, bevor Sie Ihren Entwurf zu Papier brachten! Dann
würden Sie nämlich die Antwort der Bundesregierung
vom 18. Februar dieses Jahres auf eine Kleine Anfrage
der Grünen kennen, Drucksache 17/749. Dort teilte die
Bundesregierung mit, dass sie „prüft, ob die freiwillige
Weiterversicherung über den 31. Dezember 2010 hinaus
fortgeführt werden soll. Bei dieser Prüfung wird sie
auch die bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen
Weiterversicherung berücksichtigen. Die Beratung in-
nerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlos-
sen.“ „… Vor dem Hintergrund der Veränderung in den
Erwerbsbiographien beurteilt die Bundesregierung die
bisherige Wirkung der freiwilligen Arbeitslosenversi-
cherung positiv.“ Allerdings sei auch zu berücksichti-
gen, dass „die Förderung und Absicherung selbständig
Tätiger … eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und
nicht nur der Beitragszahler zur Bundesagentur für Ar-
beit“ sei. Meine Damen und Herren von den Linken, ich
denke, diese Aussage spricht für sich. Sie hätten sich
also wirklich viel Arbeit sparen können.
Die Grünen wiederum haben einen reinen Schaufens-
terantrag abgeliefert. Die Antwort der Bundesregie-
rung, datiert vom 18. Februar 2010, ist deutlich genug
und zufriedenstellend. Trotzdem preschen die Grünen
vor und unterstellen der Bundesregierung gewisserma-
ßen Untätigkeit. Redlich ist das nicht. Ein einfacher An-
ruf im Bundesarbeitsministerium oder in unserer Frak-
tion hätte ausgereicht. Dann hätten wir Ihnen gerne
noch einmal bestätigt, dass innerhalb des Ministeriums
in Abstimmung mit anderen Ressorts an einer schnellst-
möglichen Lösung gearbeitet wird. Im Laufe des norma-
len Gesetzgebungsverfahrens können Sie dort dann Ihre
Vorstellungen einbringen. Ihrem Vorwurf, die Bundesre-
gierung versäume es, die Versicherungsoption zu ver-
längern, und nehme so die Verunsicherung der betroffe-
nen Bevölkerung in Kauf, widerspreche ich entschieden.
Er ist durch nichts belegt. Im Gegenteil: Am 1. März die-
ses Jahres teilte das Bundesarbeitsministerium dem On-
linewirtschaftsportal „ad-hoc-news“ auf Anfrage mit:
„Die entsprechenden Rechtsänderungen, die auch die
bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen Weiterversi-
cherung berücksichtigen, werden zurzeit erarbeitet“.
Eine Leserin hat diese Nachricht daraufhin wie folgt
kommentiert: „Das sind wirklich gute Neuigkeiten …
aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass diese
Möglichkeit der Weiterversicherung ein wichtiger un-
terstützender Faktor bei der Entscheidung ist, die Ar-
beitslosigkeit durch den Schritt in die Selbständigkeit zu
beenden – vor allem, wenn es Familienväter und -mütter
sind, die eine Gründung erwägen. Das ist ein wichtiges
Stück Basis-Absicherung für Selbständige!“ Eine wei-
tere Leserin schreibt: „Auch ich bin erleichtert, dies zu
hören! Die Arbeitslosenversicherung gibt mir die nötige
Sicherheit, mir keine Sorgen machen zu müssen, was
passiert, wenn das Geschäft einmal am Ende sein sollte
und man darüber nachdenken muss, aufzugeben.“ Ver-
unsicherung sieht anders aus.
Paul Lehrieder
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Wie Sie alle wissen, messen wir, misst die Bundes-
regierung der unternehmerischen Selbstständigkeit und
der Gründung von Unternehmen einen sehr hohen Stel-
lenwert für unsere Volkswirtschaft bei. Es ist deshalb
auch unser Ziel, die steuerlichen und investiven Rah-
menbedingungen für Selbstständige und mittelständi-
sche Unternehmen zu verbessern, deren Finanzierungs-
möglichkeiten zu erweitern, bürokratische Hemmnisse
systematisch und nachhaltig abzubauen und eine neue
Gründerdynamik anzustoßen. Deshalb hat die Bundes-
regierung am 25. Januar 2010 die Initiative „Gründer-
land Deutschland“ gestartet, um einen Mentalitätswan-
del und ein gesellschaftliches Klima zu fördern, das
Unternehmergeist und die Lust auf Selbstständigkeit för-
dert. Gründungen stehen für die Schaffung von Neuem,
für Kreativität und unternehmerische Freiheit. Sie tra-
gen wesentlich zum Innovationsgeschehen und zum
Strukturwandel unserer Volkswirtschaft bei.
Lassen Sie mich dazu aus dem Koalitionsvertrag zi-
tieren:„Wir werden die Förderprogramme für Gründun-
gen und Gründungsfonds sowie für die Betriebsnachfol-
gen zusammen mit der Wirtschaft stark ausbauen,
bessere Rahmenbedingungen für Chancen- und Beteili-
gungskapital schaffen und für ein Leitbild der unterneh-
merischen Selbständigkeit werben.
Wir wollen junge, innovative Unternehmen von unnö-
tigen Bürokratielasten befreien, um Gründungen zu er-
leichtern und intensiv zu fördern.
Wir werden einen High-Tech-Gründerfonds II als Pu-
blic-Private Partnership auflegen, der auf den Erfah-
rungen des ersten Fonds aufbaut. Darüber hinaus wol-
len wir dringend benötigtes privates Kapital für
deutsche Venture Capital Fonds mobilisieren, indem wir
institutionellen Investoren eine anteilige Garantiemög-
lichkeit zur Risikoabsicherung ihrer Fondseinlagen an-
bieten.
Wir werden das Umfeld für die Tätigkeiten von Busi-
ness Angels in Deutschland verbessern. Wir wollen das
Angebot von Mikrokrediten ausweiten, insbesondere für
Gründer und Kleinunternehmer.
Wir wollen Gründern nach einem Fehlstart eine
zweite Chance eröffnen. Dazu wird die Zeit der Rest-
schuldbefreiung auf drei Jahre halbiert. Der Pfändungs-
schutz für die private Altersvorsorge im Insolvenzfall
verringert das Risiko der Altersarmut für Selbständige
deutlich. Wir werden deshalb die Pfändungsfreigrenzen
für die Altersvorsorge Selbständiger regelmäßig anpas-
sen.“
Last, but not least werden wir die Aufgeschlossenheit
der Schulen für Projektarbeit zum Thema „Selbststän-
digkeit“ und zum Üben des „Gründens und Führens“ ei-
nes Unternehmens erhöhen. Hierfür werden wir unter
Federführung des BMWi die Initiative „Unternehmer-
geist in die Schulen“ weiter stärken. Wir werden die
BMWi-unterstützten Maßnahmen JUNIOR und Deut-
scher Gründerpreis für Schüler zusammen mit den Pro-
jektverantwortlichen weiter ausbauen. Beschäftigungs-
politisch tritt eine Sologründung an die Stelle einer
abhängigen Beschäftigung oder bietet einen Weg aus
Zu Protokoll
der Arbeitslosigkeit. Damit trägt sie zur Entlastung des
Arbeitsmarktes bei und bietet mittelfristig die Chance
auf das Angebot zusätzlicher Arbeitsplätze. Vor allem
innovative Gründungen schaffen zahlreiche neue und
nachhaltige Arbeitsplätze.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzkrise
und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Wirt-
schaft und den Arbeitsmarkt ist eine verstärkte Nach-
frage nach dem Gründungszuschuss, der Mitte 2006 den
Existenzgründungszuschuss und das Überbrückungs-
geld abgelöst hat, nicht unwahrscheinlich. Die Grün-
dung einer selbstständigen Existenz ist als Alternative
zur Arbeitslosigkeit nach bisherigen Erfahrungen
durchaus attraktiv. Aus der Perspektive der Sozialversi-
cherungsträger ist es wünschenswert, dass Gründerin-
nen und Gründer auch als Arbeitgeber tätig werden –
dies gilt besonders für Gründungen, die mit Mitteln der
Arbeitslosenversicherung unterstützt werden.
Von Ludwig Erhard stammen die Worte: „Ich will
mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des
Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst ver-
antwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, daß ich dazu in
der Lage bin.“
In diesem Sinne hat meine Fraktion immer Politik im
Sinne der Selbstständigen gemacht. Darin bleiben wir
uns treu. Deshalb lehnen wir Ihre Initiativen, liebe Kol-
legen von den Grünen und den Linken, guten Gewissens
ab.
„Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständigegab es bisher nicht. Ab dem 1. Februar 2006 könnenExistenzgründer einen freiwilligen Beitrag zur Arbeits-losenversicherung zahlen. Somit besteht die Möglich-keit, im Falle der Aufgabe des Unternehmens einenAnspruch auf Arbeitslosengeld zu erhalten oder aufzu-bauen,“ so können es Gründungswillige auf der Home-page www.gruenderlexikon.de lesen.Ja, vor dem 1. Februar 2006 gab es diese Möglichkeitgar nicht! Also schon vor fünf Jahren haben die Sozial-demokraten erkannt, dass wir Selbstständigen vom Startan ein solidarisches Angebot zu Risikoabsicherungenmachen müssen. Und wir haben entsprechend gehan-delt. Wenn Gelb-Schwarz heute das Lied „Deutschlandmuss wieder ein Gründerland werden“ intoniert, dannwissen die Kundigen: Neu ist weder die Melodie nochder Text.Warum ist die Weiterentwicklung dieses Grundgedan-kens der solidarischen Risikoabdeckung für Gründerund Selbstständige uns Sozialdemokraten so wichtig?Für abhängig Beschäftigte kämpfen wir für einen ge-setzlichen Mindestlohn. Für Frauen streiten wir für„equal pay“. Für Leiharbeit fordern wir das Ende desMissbrauchs. Und für jene, die den Schritt in die Selbst-ständigkeit wagen, brauchen wir das Angebot eines um-fassenden Konzeptes der solidarischen Absicherung.Daran arbeiten wir Sozialdemokraten. Vier Fallbei-spiele zeigen die Notwendigkeit: Beispiel eins: der jungeFreelancer! Kreativ, engagiert und in der Zukunft zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3263
gegebene RedenGabriele Lösekrug-Möller
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Hause. Kurze Zeit war er angestellt, und dann wurdeihm der Rahmen zu eng. Dank unserer Initiative kann erfreiwillig die Arbeitslosenversicherung nutzen. Das istgut, und deshalb sind auch wir Sozialdemokraten, wieGrüne und Linke, für die Entfristung dieser Regelung.Beispiel zwei: Die junge Soloselbstständige! Mutigund erfolgreich. Sie geht in die Selbstständigkeit, nach-dem mit Ablauf der Elterngeldzeit faktisch keine Per-spektive für angestellte Tätigkeit und Familienarbeit be-stand. Auch für sie besteht die Möglichkeit derfreiwilligen Versicherung in der Arbeitslosenversiche-rung. Auch für sie wird es richtig sein, wenn wir die Be-fristung dieser Regelung aufheben.Beispiel drei: Der Langzeitarbeitslose! Viele Jahrehart gearbeitet. Dann ging die Firma baden. Jahrelangbeworben und abgelehnt, qualifiziert und doch fünfJahre lang keinen Job bekommen, will er nicht längerGrundsicherungsempfänger sein und hat sich für Selbst-ständigkeit entschieden. Mit guter Beratung, solidemBusinessplan und viel Tatkraft legt er los – und hat kei-nen Anspruch auf freiwillige Versicherung in der Ar-beitslosenversicherung. Seine Pflichtversicherungszei-ten liegen zu lange zurück!Beispiel vier: Hochschulabsolventin Umwelttechno-logie, möchte sich als Beraterin selbstständig machen,Gründerin, wie wir das alle möchten. Sie hat derzeitkeine Möglichkeit, Beitragszahlerin in der Arbeitslosen-versicherung zu werden; denn sie hat noch nie in einem„Pflichtversicherungsverhältnis nach SGB III“ gestan-den, wie es § 28 a SGB III verlangt. Wie auch?Diese gegriffenen vier Beispiele zeigen, dass es ummehr gehen muss als um die Entfristung des § 28 aSGB III. Wir wissen, die Bundesregierung „prüft“. Daskönnte eine gute Nachricht sein, wüssten wir nicht, wieviele Prüfaufträge bei Gelb-Schwarz auf dem Tisch lie-gen. Allein bei der Frau Ministerin für Arbeit und Sozia-les stapeln sie sich in gefährlicher Höhe. Deshalbbegrüßen die Sozialdemokraten Antrag und Gesetzes-entwurf als Merkposten für die Regierung, den Prüfauf-trag unten aus dem Stapel zu ziehen und zu handeln.Also nicht über das Gründerland Deutschland philoso-phieren, sondern konkret Verbesserungen erarbeiten.Dann würde zügig aus der „Nichtregierungsorganisa-tion Merkel“ ein handlungsfähiges Kabinett. Ich höreallerdings den berechtigten Einwand: Würde denn dieFDP mitmachen? Wir wissen es nicht. Zumindest lässtsich feststellen, dass der „Kollisionsvertrag“ hier keineKommission ins Leben gerufen hat. Es könnte also klap-pen.Zurück zur freiwilligen Weiterversicherung Selbst-ständiger in der Arbeitslosenversicherung. Nicht nurdank der minutiösen Vorarbeit der Grünen zu ihrem An-trag – sie haben sich die Details dafür über die Antwortder Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage geholt –wissen wir, dass seit 2006 die Zahl der Anträge – undBewilligungen – stetig gestiegen ist: Waren es 2006 erst88 000 Anträge, so sind es 2009 schon über 94 000. Die-ser Aufwuchs spiegelt sich auch in den Einnahmen derArbeitslosenversicherung wider: Waren es 2006 circa 18Zu ProtokollMillionen Euro, so flossen 2009 bereits mehr als33 Millionen Euro.Ich lade Sie von den Grünen und Linken ebenso wieSie als Mitglieder der Mehrheit zu mehr Mut ein, mehrMut, so wie wir es von jenen „Gründern“ erwarten. Un-ser Mut kann sich entfalten an einem umfassenden An-gebot solidarischer Risikoabdeckung. Über Arbeitslo-sigkeit hinaus müssen unsere Angebote an diesen immergrößer werdenden Personenkreis besser werden. Gebro-chene Erwerbsbiografien, Wechsel zwischen selbststän-diger und abhängiger Beschäftigung, Phasen von Quali-fizierung und Weiterbildung, Vereinbarkeit von Familieund Beruf, Absicherung von Übergängen: Von uns for-dert das, Brücken über Lücken zu bauen. Wir arbeitendeshalb an einem umfassenden Konzept, das Gründerin-nen und Soloselbstständige in Alterssicherung, Kran-kenversicherung und Arbeitsversicherung einbezieht.„Nur wer verlässliche Perspektiven in seinem Lebenhat, kann seine Talente und seine Leistungsfähigkeit vollentfalten.“ So haben wir Sozialdemokraten in unseremHamburger Programm die von uns gewollte Sicherheitim Wandel beschrieben, daran richten wir unsere Politikaus.
Wir debattieren heute zwei so gut wie inhaltsgleicheVorlagen, einen Antrag der Fraktion der Grünen und ei-nen Gesetzentwurf der Linken. Sie beziehen sich jeweilsauf den § 28 a SGB III, also auf die Möglichkeit der frei-willigen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige.Das ist gerade für uns Liberale ein wichtiges Thema,weil wir stärker als alle anderen im freien, unternehme-rischen Handeln einen Stützpfeiler unseres Wohlstandssehen und einen wichtigen Ausdruck der freien Persön-lichkeitsentfaltung. Ich bin froh, dass es FDP und CDU/CSU seit dem Regierungsantritt gelungen ist, bereits ei-nige wichtige gesetzliche Erleichterungen für Selbst-ständige und mittelständische Unternehmen vorzuneh-men. Allerdings sind wir hier noch nicht am Ziel.Steuerliche Rahmenbedingungen und bürokratische Be-hinderungen erschweren nach wie vor den Eintritt in dieSelbstständigkeit. Das Ziel, Deutschlands Gründerkul-tur mit neuen Impulsen zu versehen, verlieren wir nichtaus den Augen. Gerade in der Jahrhundertkrise, in derwir uns befinden, müssen wir uns Gedanken machen, dieauch den Wandel am Arbeitsmarkt reflektieren. Dabeisteht völlig außer Frage, dass der Schritt in die Selbst-ständigkeit ein individuelles Risiko beinhaltet, das wirals Gesetzgeber achten sollten.Die bestehende Regelung zur freiwilligen Arbeitslo-senversicherung läuft nun Ende des Jahres aus, sodasszweifellos ein gewisser Handlungsdruck gegeben ist. Al-lerdings befinden wir uns im März, und da stellt sichschon die Frage, ob der Alarmismus, der mitunter ausihren Anträgen spricht, wirklich angezeigt ist. Schauenwir uns die Gesetzeslage doch einmal etwas genauer an.Momentan muss der Antrag auf Aufnahme in die Ar-beitslosenversicherung binnen Monatsfrist nach Beginnder Selbstständigkeit erfolgen. Mit Interesse nehme ichzur Kenntnis, dass weder die Linke noch die Grünen an
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3264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene RedenJohannes Vogel
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dieser bestehenden Fristenregelung etwas ändern wol-len. Ja, da frage ich Sie doch: Warum müssen wir dannjetzt, also im ersten Quartal des Jahres 2010, etwas aneiner Regelung ändern, die ohnehin immer nur im Fol-gemonat Wirkung entfaltet. Es besteht doch überhauptkein Grund zur Hast. Niemand, der jetzt oder auch nochim nächsten halben Jahr in die Selbstständigkeit geht,muss dies in Rechtsunsicherheit tun.Ebenfalls ist es wichtig, nicht leichtfertig den Zeit-raum zu beschränken, in dem wir als Gesetzgeber Erfah-rungen mit der jetzigen Regelung machen können. Erstseit Februar 2006 besteht überhaupt die Möglichkeit derfreiwilligen Arbeitslosenversicherung. Handelten wirschon jetzt, würden wir – ich betone es noch einmal – dieaktuelle Situation der Bürgerinnen und Bürger über-haupt nicht verbessern oder verschlechtern. Wir würdenuns aber die Möglichkeit nehmen, im Verlauf des Jahresweitere Erfahrungen mit der Regelung zu sammeln, undwir würden uns die Möglichkeit nehmen, die bisherigenErfahrungen mit der nötigen Sorgfalt aufzuarbeiten.Zum Beispiel sollte man abwarten, ob die zwischen 2008und 2009 nach oben geschnellte Zahl der Antragstellerim Jahresverlauf wieder abnehmen wird oder nicht unddie Ursachen der Schwankungen analysieren. Ein zen-trales Element der aktuellen Regelung ist in meinen Au-gen jedoch die Freiwilligkeit. Es kann nämlich geradenicht darum gehen, ein neues Zwangsinstitut zu begrün-den. Genau dies scheinen aber Sie, verehrte Mitgliederder Linksfraktion, im Sinn zu haben. Beinahe unschuldigschildern Sie in der Problemanalyse Ihres Gesetzent-wurfs, dass „die vorhandene Regelung ein erster Schritthin zu einer Einbeziehung der Selbstständigen in die ge-setzliche Arbeitslosenversicherung“ sei. Nein, genaudas ist es nicht. Um es ehrlich zu sagen: Bei Ihnen habeich so meine Zweifel, ob es Ihnen mehr um die spezifi-sche Situation der Selbstständigen geht oder ausschließ-lich um die Arbeitslosenversicherung an sich.Der Antrag der Grünen wiederum geht über die Ini-tiative der Linken hinaus. Während die Linke allein eineEntfristung vorsieht, also das Gesetz in seiner beste-hende Form unverändert lässt, schlagen Sie eine inhalt-liche Änderung vor. Zugang zur freiwilligen Arbeitslo-senversicherung sollen auch diejenigen Selbstständigenerhalten, die sich unmittelbar nach Ende ihrer Ausbil-dung oder ihres Studiums unternehmerisch betätigen,wie auch alle die, die aus der Grundsicherung herausihr Unternehmen gründen. Gerade Ihnen müsste es alsoeinsichtig sein, dass eine genaue Evaluation des Geset-zes und seiner Folgen unablässig ist, wollte man denKreis der Anspruchsberechtigten so weit ausdehnen, wiesie es vorhaben.Um es abzukürzen: Die FDP-Fraktion hält wenig vonIhrem Gesetzentwurf bzw. Ihrem Antrag. Das heißtnicht, dass wir nicht grundsätzliche Sympathie für dasInstrument der freiwilligen Arbeitslosenversicherunghegen würden. Gerade weil dies aber so ist, verbietensich Schnellschüsse. Es ist noch ausreichend Zeit vor-handen, um die Entfristung oder auch eine Modifikationvorzunehmen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dassdie jetzige Regelung stark an den alten Ich-AGs orien-tiert war und dass wir auch hier prüfen müssen, ob sieZu Protokollsich auch unter gewandelten Bedingungen einfach sofortführen lässt.Abschließend möchte ich aber noch einmal ausdrück-lich festhalten, dass wir die freiwillige Arbeitslosenver-sicherung positiv bewerten. Für uns geht es darum, denMenschen den Schritt in die eigene Existenzsicherung soleicht wie möglich zu machen. Die freiwillige Arbeitslo-senversicherung kann hierzu einen wichtigen Beitragleisten. Deshalb prüft die Koalition äußerst wohlwol-lend ihre Fortführung und wird rechtzeitig handeln.
Um es Zehntausenden Selbstständigen zu ermögli-chen, sich weiterhin freiwillig in der Arbeitslosenversi-cherung zu versichern, bringt die Linke heute den vorlie-genden Gesetzentwurf ein; denn die geltende Regelungläuft zum Jahresende aus. Worum geht es? Wer heuteden Schritt in die Selbstständigkeit macht, kann sich un-ter bestimmten Bedingungen freiwillig in der gesetzli-chen Arbeitslosenversicherung weiter versichern. DieseRegelung gilt für diejenigen, die zuvor einen bestimmtenZeitraum in die Arbeitslosenversicherung eingezahltoder eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosen-geld I bezogen haben. Um es gleich zu sagen: Die Linkekönnte sich eine weitergehende Lösung vorstellen, etwadass auch langjährige Selbstständige Zugang zur Ar-beitslosenversicherung bekommen, Menschen, die sichnach dem Studium selbstständig machen, oder Men-schen, die zuvor Leistungen nach dem SGB II bezogenhaben. Dennoch: Die vorhandene Regelung ist ein ers-ter Schritt hin zu einer Einbeziehung der Selbstständi-gen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Alleinim letzten Jahr sind Anträge von fast 90 000 Selbststän-digen zur freiwilligen Weiterversicherung bewilligt wor-den.Es ist umso schlimmer, dass die Bundesregierung keinklares Signal für die Verlängerung dieser Regelung gibt.Wenn die Politik nicht handelt, läuft nach vorliegenderRechtslage die derzeitige Regelung zum 31. Dezemberdieses Jahres aus. Im letzten Monat hat die Arbeitsmi-nisterin Frau von der Leyen eine Verlängerung in Aus-sicht gestellt. Nun heißt es von der Bundesregierung le-diglich, sie prüfe eine Verlängerung, keine Aussagedarüber, wann sie ihre Entscheidung treffen will, ge-schweige denn nach welchen Kriterien. Offensichtlichgibt es Teile dieser Regierung, die es nicht gerne sehen,dass die Arbeitslosenversicherung ausgebaut wird.Menschen machen sich aus sehr unterschiedlichenMotiven selbstständig. Wenn die Politik sie dazu ermun-tert, kann sie die Frage nach ihrer sozialen Absicherungnicht unbeantwortet lassen. Eine Arbeitslosenversiche-rung für Selbstständige ist hier zentral. Denn Selbst-ständigkeit ist auch geprägt von unterbrochener Er-werbstätigkeit. Wenn es nicht möglich ist, sich gegenArbeitslosigkeit zu versichern, droht der sofortige Ab-sturz in Hartz IV. Nicht allen Selbstständigen ist es mög-lich, für den Fall der Arbeitslosigkeit finanzielle Rückla-gen zu bilden. Nicht wenige Soloselbstständige, alsoSelbstständige ohne Beschäftigte, arbeiten zu prekärenBedingungen, unsicher und mit Einkünften an der Ar-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3265
gegebene Reden
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3266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Sabine Zimmermann
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mutsgrenze. Seit Jahren wächst die Zahl der Selbststän-digen, die auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind.Die Linke bringt den vorliegenden Gesetzentwurf ein,weil es gilt, schnell zu handeln. Die Betroffenen brau-chen Planungssicherheit. Menschen rufen bei mir imBüro an, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Ichweiß, dass Gleiches für die Bundesagentur für Arbeitgilt. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung istnicht vertretbar. Die Linke plädiert darüber hinaus, ineinem nächsten Schritt zu prüfen, wie der Kreis der An-spruchsberechtigten ausgeweitet werden kann. Nun istdie Bundesregierung gefragt.
Ein Unternehmen zu gründen, sich selbstständig zu
machen, das erfordert Mut, Kreativität und Tatkraft.
Trotz der Krise haben 2009 wieder mehr Menschen in
Deutschland den Sprung in die Selbstständigkeit ge-
wagt. Das ist auch gut so; denn so können neue Ge-
schäftsfelder und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
Aber der Gründungsboom in Deutschland erfolgte vor
allem durch die wachsende Zahl der Soloselbstständi-
gen. Von den über 4 Millionen Selbstständigen beschäf-
tigen mehr als zwei Millionen keine Angestellten. Im
letzten Jahr wurden 293 000 solcher Kleinunternehmen
gegründet. Diese neuen Selbstständigen sind meist keine
Ärzte oder Juristen, sondern es sind Medien- und Kul-
turschaffende, Hausmeister oder Raumpflegerinnen.
Auch im Bausektor nimmt der Trend zur Soloselbststän-
digkeit rasant zu, seitdem es in etlichen Handwerksberu-
fen auch für Gesellen möglich wurde, als Einzelunter-
nehmer zu arbeiten. Viele dieser neuen Selbstständigen
sind nach den Kriterien des Statistischen Bundesamtes
armutsgefährdet. Während 2008 circa 6 Prozent aller
Erwerbstätigen von Armut bedroht waren, lag die Ar-
mutsgefährdung der Soloselbstständigen mit 10,4 Pro-
zent deutlich darüber. Diese Zahlen müssen uns ein An-
sporn dafür sein, die soziale Absicherung all derjenigen,
die den Weg in die Selbstständigkeit wählen, zu verbes-
sern und sie bei ihrem Wagnis so gut wie möglich zu
schützen.
Sie schreiben sich immer ganz groß auf die Fahnen,
dass Sie die Gründerinnen und Gründer in Deutschland
unterstützen wollen. „Deutschland muss wieder zum
Gründerland werden“, so lautet Ihr Slogan. Wenn man
Ihre Politik für die neuen Unternehmerinnen und Unter-
nehmer aber nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren
Taten misst, dann ist das Ergebnis mehr als dürftig. Sie
wissen doch genau, dass die Option für die Selbstständi-
gen, sich in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung
freiwillig weiterzuversichern, am 31. Dezember dieses
Jahres endet. Und Sie wissen doch auch, dass es diese
Option bisher nur für einen bestimmten Kreis von Grün-
derinnen und Gründern gibt. Für diejenigen, die nach
ihrem Hochschulabschluss oder aus dem Grundsiche-
rungsbezug heraus gründen, gibt es diese Möglichkeit
nicht. Zwar erklärt das Arbeitsministerium auf Presse-
anfragen seit neuestem, dass etwas getan werden soll,
um den Selbstständigen auch über 2010 hinaus einen
Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung zu
ermöglichen. Aber wo bleiben die Initiativen, dies recht-
zeitig gesetzlich neu zu regeln?
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage zur freiwilligen Weiterversicherung für Selbst-
ständige in der Arbeitslosenversicherung macht doch
klar: Die Arbeitslosenversicherung für Selbstständige
ist ein voller Erfolg. Hunderttausende Selbstständige
zahlen inzwischen in die Arbeitslosenversicherung ein.
Das Beitragsvolumen der Selbstständigen lag 2009 bei
nahezu 33 Millionen Euro. Lediglich 4 968 Menschen
haben im November 2009 Leistungen aus der Arbeitslo-
senversicherung für Selbstständige in Anspruch genom-
men. Angesichts dieser Zahlen kommt sogar die Bundes-
regierung selbst nicht umhin, die bisherige Wirkung der
freiwilligen Arbeitslosenversicherung positiv zu bewer-
ten. Positiv bewerten reicht nicht. Sie müssen dazu auch
Beschlüsse fassen.
Wir Grüne jedenfalls fordern Sie auf, diese Arbeitslo-
senversicherungsoption für Selbstständige zu entfristen
und auch für diejenigen zu öffnen, die nach einem Hoch-
schulabschluss oder aus der Grundsicherung heraus ein
Unternehmen gründen. Das ist ein wirksamer Beitrag,
um die neuen Selbstständigen besser vor Armut zu
schützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1141 und 17/1166 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Sind Sie damit einverstanden? – Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die Demokratisierung des Gewerkschafts-
rechts in der Türkei
– Drucksache 17/1101 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen und
Kolleginnen Dr. Wolfgang Götzer, Uta Zapf, Serkan
Tören, Sevim Dağdelen und Claudia Roth.
Bereits in der letzten Wahlperiode hat die Linksparteieinen Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Auch wenn derheute zur Debatte stehende Antrag demgegenüberleichte Änderungen aufweist, hat auch dieser einen gra-vierenden Mangel: Er greift bewusst nur ein einzelnesProblem der Türkei auf und blendet weiterhin gezielt an-dere aus. Auch der jetzige Antrag ist deshalb zu einseitigund zu kurzsichtig – so wie es schon der Antrag derLinkspartei in der letzten Wahlperiode war.
Dr. Wolfgang Götzer
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Es ist zwar zutreffend, dass in der Türkei die Rechteder Gewerkschaften unzureichend und die gewerk-schaftliche Betätigung von Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern nach wie vor eingeschränkt sind. So gibt esfür viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer prak-tisch keine Vereinigungsfreiheit. Streikrecht und Tarif-verhandlungsrecht sind für zahlreiche Arbeitnehmer-gruppen stark beschnitten, insbesondere für Angestellteim öffentlichen Dienst. Zudem wird die Mitgliedschaft ineiner türkischen Gewerkschaft gegenüber vielen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern als Kündigungsgrundseitens des Arbeitgebers benutzt.Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist aberkein isoliertes Problem. Vielmehr müssen wir konstatie-ren, dass in der Türkei noch immer große Demokratie-defizite auf vielen Gebieten auch nach fast 5-jährigenBeitrittsverhandlungen bestehen. Deshalb möchte ich andieser Stelle noch einmal betonen, dass die Vorausset-zungen für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EUnach wie vor nicht gegeben sind und wir diese deshalbunverändert ablehnen.Die politischen Bedingungen, die nach dem Be-schluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993 ei-gentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungenerfüllt sein müssten, liegen im Falle der Türkei noch im-mer nicht vor. So ist in der Türkei nicht nur das Gewerk-schaftsrecht unterentwickelt, sondern es gibt gravie-rende Defizite in der Gewährung von Grundrechten,insbesondere im Bereich der Meinungs-, Presse- und Re-ligionsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz.Ich möchte noch einmal betonen: Die Antragstellergreifen ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage derTürkei insgesamt zu beleuchten. Eine isolierte Behand-lung eines Aspektes greift aber zu kurz. Dass in der Tür-kei nach wie vor in vielen Bereichen gravierende Demo-kratiedefizite bestehen, möchten die Linken aber nichtklar beim Namen nennen. Ich habe allerdings auch nichterwartet, dass ausgerechnet die Partei, in der nach wievor ehemalige SED-Mitglieder tonangebend sind, fürdie umfassende Durchsetzung demokratischer Rechteeintreten würde.Dabei könnte der Zeitpunkt dafür kaum besser sein.Denn derzeit ringen die Türken um eine Verfassungsre-form. Die Verfassung von 1980 wurde zwar seit ihremInkrafttreten 1982 mehrfach überarbeitet, ist aber nochimmer in ihrem Rechts- und Freiheitsverständnis voneuropäischen Normen weit entfernt. Zwar finden sich indem aus 177 Artikeln bestehenden Werk alle üblichenGrundrechte, wie etwa die Meinungs- und Pressefrei-heit, die Religionsfreiheit oder der Schutz des Privatle-bens. Doch viele dieser Grundrechte werden im Text ein-geschränkt oder in widersprüchliche Zusammenhängegestellt.Faktisch ist es auch heute noch in der Türkei so, dass– falls türkische Journalisten beispielsweise über denVölkermord an den Armeniern oder kritisch über denMinisterpräsidenten berichten – sie mit harten Konse-quenzen rechnen müssen.Zu ProtokollLaut Art. 2 der türkischen Verfassung ist die Türkeizwar ein demokratischer Rechtsstaat. De facto sind aberbeispielsweise einige Gruppen von Staatsbürgern nichteinmal wahlberechtigt.Darüber hinaus liegt die Sperrklausel bei Wahlen bei10 Prozent. Auch Direktmandate können nur wahrge-nommen werden, wenn eine Partei insgesamt 10 Prozentder Stimmen erhält. Darunter leidet insbesondere diekurdische Minderheit. Grundsätzlich herrscht in derTürkei Wahlpflicht, die jedoch gegen eine Strafgebührvon circa 13 Euro umgangen werden kann.All diese Regelungen widersprechen grundlegend un-serem Demokratieverständnis.Ein weiterer Punkt: Rein rechtstheoretisch gesehenherrscht in der Türkei Gleichberechtigung. Doch auchdie Geschlechtergleichheit findet sich in der türkischenVerfassung in einem ungewöhnlichen Zusammenhang:„Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesell-schaft und beruht auf der Gleichheit von Mann undFrau“.Die Gleichheit von Mann und Frau wird also primärals Teil des türkischen Familienverständnisses und nichtals eigenständige Rechtnorm betrachtet. Solche Formu-lierungen sind nicht mit unserem europäischen Rechts-verständnis in Einklang zu bringen. Vor allem aberrechtstatsächlich kann man kaum von einer Gleichstel-lung von Mann und Frau sprechen. In vielen Regionengibt es eine eklatante Benachteiligung, ja teilweise Un-terdrückung von Frauen.Einen weiteren wichtigen Punkt möchte ich nennen:In der Türkei ist bis heute das Recht auf freie Religions-ausübung nicht gewährleistet. Nach wie vor habenChristen und andere religiöse Minderheiten mit äußerstschwierigen Bedingungen zu kämpfen. Nicht nur, dassman sie allein aufgrund ihrer Religion oft als Feinde derTürkei und des Türkentums betrachtet, die AKP verwei-gert den Kirchen weiterhin die Anerkennung eines öf-fentlich-rechtlichen Status. Christliche Kirchen bangenin der Türkei um ihre Existenz. MinisterpräsidentErdoğan fordert mehr Rechte für Muslime in Deutsch-land – Christen in der Türkei aber können ihre Religionnicht frei und ohne Furcht vor Repressalien ausüben.Schon nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 hatte dieAKP unter Erdoğan eine neue Verfassung versprochen.In diesem Zusammenhang erklärte der Ministerpräsi-dent wiederholt, dass die Bewerbung um die Mitglied-schaft in der EU nur mit einer modernen Verfassung zumErfolg führen könne. Es wurden daraufhin zwar raschauf dem Papier Reformen des Zivil- und Strafgesetzbu-ches durchgeführt, eine neue Verfassung gab es jedochnicht. Eine von der Regierung bei Staatsrechtlern in Auf-trag gegebene liberale Neufassung verschwand 2007 inden Schreibtischen der Regierung. Stattdessen versan-dete die Verfassungsreform 2008 in einem Streit überdas islamische Kopftuch.Zurzeit ringt man in Ankara erneut um eine liberalereVerfassung. Die beiden Oppositionsparteien haben je-doch schon angedeutet, dass sie auf keinen Fall derneuen Verfassung zustimmen werden – und die AKP ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3267
gegebene RedenDr. Wolfgang Götzer
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fügt mit ihren 337 Sitzen im Parlament nicht über die er-forderliche Zweidrittelmehrheit. Deshalb soll die Ver-fassungsänderung nun mit einer Dreifünftelmehrheitverabschiedet und anschließend per Volksabstimmunggebilligt werden.Ich möchte nicht verhehlen, dass ich Zweifel habe, obdie Regierung wirklich einen grundsätzlichen Wandelanstrebt oder ob es sich vielmehr nur um „Kosmetik“handelt, um bei der EU den Eindruck zu erwecken, dieTürkei habe den ernsthaften Willen, eine Demokratie zuwerden so wie wir sie haben und verstehen. Fest steht:Die Regierung Erdogan hat keines ihrer vielen Reform-versprechen eingehalten.Bei aller Kritik an der innenpolitischen Situation derTürkei möchte ich an dieser Stelle aber nicht versäumenzu erwähnen, dass die Türkei für die gesamte Europäi-sche Union ein wichtiger Partner ist. Die Türkei ist nichtnur ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstand-ort, sondern sie ist auch unverzichtbar als Bindegliedzwischen den europäischen Märkten und den Energieexportierenden Ländern im Mittleren und Nahen Osten.Darüber hinaus ist die Türkei ein wichtiges NATO-Mit-glied und unverzichtbarer Mittler zwischen der westli-chen und der islamischen Welt.Mit dem heutigen Antrag hat Die Linke wieder einmalbewiesen, dass sie keinerlei Interesse an einer seriösenEuropa- und Außenpolitik hat. Schon in der letzten Le-gislaturperiode haben wir den Antrag abgelehnt, weil erzu einseitig war und nicht auf die Lage in der Türkei ins-gesamt, so wie ich sie eben angesprochen habe, einging.Der neue Antrag weist die selben Mängel auf. Haben dieAntragsteller nichts dazugelernt? Verschließen sie ein-fach die Augen vor der Gesamtlage in der Türkei?Ganz verborgen geblieben sind aber auch der Linkendie Probleme in der Türkei nicht, denn in dieser Wochehat die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion DieLinke einen Reisebericht vorgelegt, in dem sie zu demErgebnis kommt, dass sich die Menschenrechtslage inder Türkei 2009 im Vergleich zum Jahr 2008 verschlech-tert habe. Dennoch sieht sich Die Linke nicht in derLage, dies auch in ihrem Antrag klar und deutlich anzu-sprechen.Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Der Antrag der Linken spricht einen sensiblen Punktder türkischen Gesetzgebung bei den Gewerkschafts-rechten an. Dass es um die Gewerkschaftsrechte und dieErfüllung der ILO-Standards, also die Einhaltung derKernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, inder Türkei nicht zum Besten steht, ist zwar bekannt, ge-rät aber immer mehr außerhalb der Aufmerksamkeit derEU. Hatte noch im Oktober 2006 der damalige EU-Er-weiterungskommissar Olli Rehn kräftige Worte gewählt,herrscht heute eher kleinmütiges Schweigen. Rehn da-mals: „Die Türkei muss sicherstellen, dass die vollenGewerkschaftsrechte respektiert werden und im Ein-klang stehen mit EU-Standards und der ILO-Konven-tion, insbesondere in Bezug auf das Recht, sich zu orga-Zu Protokollnisieren, zu streiken und kollektive Verhandlungen zuführen. Deshalb muss die Türkei bestehende Einschrän-kungen beseitigen und eine völlig revidierte Gesetzge-bung in diesem Bereich für den öffentlichen und privatenSektor vorlegen.“ Rehn forderte die Türkei in diesemZusammenhang auf, die entsprechende Gesetzgebungunverzüglich einzuleiten. Das ist bis heute nicht gesche-hen. Die Türkei erfüllt in diesem Bereich die Kopenha-gener Kriterien nicht.Die türkischen Gewerkschaften haben nur einen sehrgeringen Handlungsspielraum. Die Rechte der Interes-senvertreter der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnensind äußerst begrenzt. In der Verfassung von 1982 und inden Gewerkschaftsgesetzen von 1983 wurde eine Viel-zahl von Hürden für die gewerkschaftliche Organisationgesetzt, die weder mit den Standards der EU noch mitder Konvention der Internationalen Arbeitsorganisationkompatibel sind. Das Recht, Gewerkschaften und Ar-beitgeberverbände zu gründen, ist geregelt. Aber Ge-werkschaften können nur auf Branchenebene gegründetwerden. Von den 93 existierenden Gewerkschaften sindnur 53 tariffähig. Sie sind stark kontrolliert. Streiks kön-nen nur im Zuge von Tarifverhandlungen angewendetwerden; Warn- und Unterstützungsstreiks sind unzuläs-sig.Für das Recht zum Abschluss eines Tarifvertragesmüssen 50 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehme-rinnen eines Betriebes in derselben Gewerkschaft sein.Mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen eines Wirtschaftssektors müssen der be-treffenden Gewerkschaft angehören. Mitglieder müssenihre Mitgliedschaft notariell beglaubigen lassen, wasKosten verursacht – ebenso bei Austritt aus der Gewerk-schaft. Mitbestimmung in den Betrieben gibt es nicht;Betriebsräte stellen eher die Ausnahme dar.Die ILO-Kernarbeitsnormen – Vereinigungsfreiheit,Beseitigung von Zwangsarbeit, Abschaffung von Kin-derarbeit – werden nur rudimentär erfüllt. Insbesonderedie mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheitist ein großes Hindernis. Es gibt keine nennenswertenFortschritte bei den Arbeitnehmerrechten. Die Fort-schrittsberichte der EU zur Türkei haben dies immerwieder beklagt, aber mit abnehmender Lautstärke. DieEröffnung des Verhandlungskapitels 19 zu Sozialpolitikund Beschäftigung stagniert, weil die türkische Regie-rung die Befassung des Parlaments mit den schwierigenFragen von Streikrecht in Privatwirtschaft und öffentli-chem Dienst sowie Zugangshürden für neue Gewerk-schaften scheut. Die Verabschiedung ILO-konformerGesetze ist allerdings Voraussetzung für die Eröffnungdes Kapitels.Nun wird der Türkei zwar eine funktionierendeMarktwirtschaft bescheinigt, aber das Gleichgewicht,das in einer sozialen Marktwirtschaft erforderlich ist,wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf gleicher Augen-höhe verhandeln können, fehlt. Dies ist umso bedenkli-cher, als die Privatisierung fortschreitet. FehlendeRechte der Arbeitnehmer führen zu sozialen Spannun-gen, zu Auseinandersetzung und zu Gewalt.
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3268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
gegebene RedenUta Zapf
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Der Antrag der Linken zielt auf den konkreten Fallder ehemals staatlichen Monopolfirma Tekel ab. Mit er-presserischen Dumpingforderungen sollten die Arbeit-nehmer unter Fristsetzung das Angebot der neuen priva-ten Besitzer annehmen oder ihren Arbeitsplatz verlieren.Ein Gericht hat jetzt die Frist für ungültig erklärt. Aberes geht eben nicht nur um diesen Fall, sondern um eingravierendes soziales Problem. Eine weitgehend recht-lose Arbeitnehmervertretung steht einem Prozess gegen-über, der von sinkenden Löhnen und einem wachsendeninformellen Sektor gekennzeichnet ist. Über die Hälfteder Arbeitnehmer arbeitet nicht in einem registriertenArbeitsverhältnis.Auch die Gewerkschaften haben einen Anteil an derdesolaten Situation. Untereinander zerstritten und miss-trauisch, ziehen sie nicht an einem Strang. Ihre Kontaktezur internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bleibenzwiespältig und oberflächlich. DISK, eine eher linke Ge-werkschaft, zum Beispiel unterstützt offiziell den EU-Beitritt, ist aber 2006 aus dem tripartistischen Dialogder ILO ausgestiegen und hat sich aus Gremien wie demEuropäischen Wirtschafts- und Sozialrat zurückgezo-gen. Die Kooperationsbereitschaft der verschiedenenGewerkschaften untereinander und mit der Regierungist durch ideologische Unterschiede und Konkurrenz-denken extrem erschwert. Auch die Kommunikation mitanderen, neuen EU-Ländern zu diesen Fragen kommtnicht in Gang.Infolge eines zunehmend durch andere politischeFragen gekennzeichneten Diskurses wird die EU nichtals Anwalt von Arbeitnehmerrechten wahrgenommen.Die EU wird als „Europa des Kapitals“ angesehen, wasnationalistischen Ressentiments Auftrieb gibt. Auch dieWirtschafts- und Finanzkrise und ihre Folgen tragendazu bei. Die EU sollte sich auf ihren Anspruch als „Eu-ropa der Bürger“ besinnen und ihre Verantwortung fürdie Arbeitnehmerschaft ernst nehmen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der
Fraktion die Linke „Für die Demokratisierung des Ge-
werkschaftsrechts in der Türkei“ ab. In diesem Antrag
wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die De-
mokratisierung des Gewerkschaftsrechts, die Versamm-
lungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei einzuset-
zen und die Einhaltung der ILO-Konventionen für den
EU-Beitrittsprozess einzufordern. Konkret wird die Bun-
desregierung dazu angehalten, sich gegen eine angebli-
che Kriminalisierung der Tekel-Arbeiter einzusetzen, die
seit geraumer Zeit gegen Massenentlassungen, Privati-
sierungen und für existenzsichernde Mindestlöhne pro-
testieren. So sollen rund 12 000 Beschäftigte des staatli-
chen türkischen Tabak-Monopols Tekel gegen ihre
betriebsbedingte Entlassung als Folge der Privatisie-
rung protestieren. So sollen, nachdem die Tekel-Produk-
tionsstätten an British American Tobacco verkauft wur-
den, landesweit 40 Lagerhäuser geschlossen werden.
Hierbei seien gemäß dem Antrag geltende Gesetze und
ILO-Bestimmungen über Betriebsübernahme missachtet
worden. Ferner wird in dem Antrag betont, dass am
15. Dezember aus vielen Teilen des Landes Tausende Te-
Zu Protokoll
kel-Arbeiter mit Bussen nach Ankara angereist seien.
Die Tekel-Mitarbeiter würden ihre Rechte als Beamte
verlieren, weil der ehemals staatliche Tabakkonzern Bri-
tish American Tobacco verkauft werde. Die Beschäftig-
ten hätten dann keinen Kündigungsschutz mehr und
müssten mit der Hälfte des bisherigen Lohnes auskom-
men. Die Beschäftigten müssten nun innerhalb einer
Frist beantragen, in ein Angestelltenverhältnis über-
nommen zu werden. Täten sie das nicht, drohe die Ent-
lassung. Der Großteil der Tekel-Arbeiter lehne den An-
gestelltenstatus weiterhin ab, so der Antrag der Linken.
Aus folgenden Gründen wird von der FDP der Antrag
der Linken abgelehnt: Der Deutsche Bundestag ist nicht
der verlängerte Arm dafür, das Gewerkschaftsrecht in
der Türkei zu reformieren. Schon allein der sprachliche
Duktus, in dem eine Verstaatlichung gegen eine Privati-
sierung von Unternehmen vorzuziehen ist, kann für die
FDP-Bundestagsfraktion nicht gelten. Der Antrag ist
von einem Gedankengut getragen, der sich fundamental
vom dem der FDP unterscheidet. Dem Deutschen Bun-
destag steht es nicht zu, Wertungen über die Gewerk-
schaftsfunktion und die demokratischen Reifeprozesse
im Gewerkschaftsrecht der Türkei vorzunehmen. Es
kann auch nicht sein, dass der Deutsche Bundestag die
türkische Regierung auffordert, wie sie ihre sozial- und
arbeitsrechtlichen Normen anzuwenden hat, so wie es in
dem Antrag gefordert wird. Auch auf EU-Ebene steht es
dem Deutschen Bundestag nicht an, der Europäischen
Kommission reinzureden, wie sie Ihren EU-Fortschritts-
bericht bezüglich der Türkei zu gestalten und welche
Punkte die EU-Kommission in den Mittelpunkt zu stellen
hat.
Aus Sicht der FDP ist es sicherlich nicht das alleinige
Gewerkschaftsrecht, was in den Mittelpunkt der EU-
Fortschrittsberichte über die Türkei zu stehen hat. Der
Antrag der Linken ist aus Sicht der FDP völlig überflüs-
sig und wird daher abgelehnt.
Nachdem die SPD zu fast allen Forderungen, die siein der letzten Wahlperiode abgelehnt hat, jetzt plötzlicheigene Anträge einbringt, habe ich schon fast damit ge-rechnet, dass sie auch zur Stärkung der Gewerkschafts-rechte in der Türkei einen Antrag vorlegen wird. Ver-wunderlich waren die Gründe, die zur Ablehnungunseres ähnlichen Antrages in der 16. Wahlperiode führ-ten. So hätten wir die Zersplitterung der Gewerkschaf-ten nicht hinreichend berücksichtigt. Aber wobei eigent-lich und weshalb hätten wir das tun sollen? Auch inunserem neuen Antrag kritisieren wir, dass die türki-schen Gewerkschaften, egal ob nun staatsnah, islamischoder revolutionär, aufgrund restriktiver gesetzlicher Re-gelungen nur über einen sehr eingeschränkten bzw.kaum vorhandenen legalen Handlungsspielraum verfü-gen. Hinzu kommen institutionelle und rechtliche Hür-den wie kostenverursachende Beglaubigungs- undRegistrierungspflichten von Gewerkschaftsmitgliedernoder strenge Voraussetzungen für die Zulassung der Ta-riffähigkeit. Die Kritik, dass weder die Standards in derEU noch die Übereinkommen der Internationalen Ar-beitsorganisation, ILO, in Bezug auf die uneinge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3269
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim Dağdelenschränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte erfüllt sind,gilt formal für alle diese Gewerkschaften und deren Mit-glieder. Die Einschränkungen und Verbote beim Organi-sations- und Streikrecht und beim Recht auf Tarifver-handlungen gelten rechtlich erst einmal für alleGewerkschaften.Nach Angaben des Internationalen Gewerkschafts-bundes, ITUC, ist rund einer halben Million Beschäftig-ten in der Türkei aufgrund gesetzlicher Beschränkungender Eintritt in Gewerkschaften untersagt. ITUC stellt inseinem Jahresbericht 2009 über die Türkei fest: „DasKoalitionsrecht, das Streikrecht und das Tarifverhand-lungsrecht müssen an die EU-Standards und ILO-Über-einkommen angepasst werden. Die Bemühungen der Ge-werkschaften, sich zu organisieren, werden noch immervereitelt bzw. sind von massiven Entlassungen der Mit-glieder und dubiosen Gerichtsverhandlungen und Ver-haftungen der Gewerkschaftsführer begleitet. Streikendeund friedliche Demonstranten sahen sich exzessiver Po-lizeigewalt ausgesetzt.“ Eine ähnliche Bilanz zog auchdie Europäische Kommission im Fortschrittsberichtüber den Beitritt der Türkei vom November 2008. Darinwird die Lage hinsichtlich der umfassenden Garantieder Gewerkschaftsrechte als „problematisch“ bezeich-net. Und das betrifft nicht nur nichtstaatliche Gewerk-schaften.Bestes Beispiel sind die Tekel-Beschäftigten. Ihre Ge-werkschaft Tekgida-Is ist nämlich Mitglied im Dachver-band Türk-Is, die die SPD für offensichtlich weniger un-terstützenswert hält. Wir solidarisieren uns mit denForderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerund ihrem Kampf um gewerkschaftliche Rechte unab-hängig von ihrer Mitgliedschaft in einer genehmen Ge-werkschaft. Deshalb hat die Linke auch den Arbeits-kampf der Tekel-Beschäftigten unterstützt. Im Rahmeneiner Auslandsdienstreise besuchte ich die streikendenTekel-Arbeiter in der türkischen Hauptstadt. Auch wäh-rend des Generalstreiks am 4. Februar 2010 stand ichan der Seite der Tekel-Beschäftigten. Der Fall Tekel istexemplarisch für die Notwendigkeit der Stärkung ge-werkschaftlicher Rechte in der Türkei. Die türkische Re-gierung versucht nämlich, nachdem im Jahr 2006 dasstaatliche türkische Tabak- und Alkoholmonopol Tekelan den Lucky-Strike-Produzenten British American To-bacco verkauft wurde, die Arbeiterinnen und Arbeiter imRahmen eines sogenannten Sozialplans zum Verzicht auftarifliche Rechte wie Anspruch auf Urlaub und Lohn-fortzahlung im Krankheitsfall zu zwingen, und bietet aufzehn Monate befristete Arbeitsverträge an, die eineLohnkürzung um mehr als die Hälfte vorsehen. Und umorganisierten Widerstand möglichst von vornherein aus-zuschließen, sieht das türkische Recht vor, Arbeitgebe-rinnen und Arbeitgebern das Recht auf Entlassung vonMitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund einer Ge-werkschaftsmitgliedschaft bei Zahlung von Entschädi-gungen einzuräumen. Das verstößt klar und eindeutiggegen das Übereinkommen der Internationalen Arbeits-organisation, Nr. 98, Art. 1, Abs. 2, Satz b.Und das geht auch die Bundesrepublik an. Denn diedeutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen und ihreEntwicklung bilden eine tragende Säule der bilateralenZu ProtokollBeziehungen. In den letzten Jahren nahm das bilateraleHandelsvolumen in beide Richtungen deutlich zu. 2008blieb es trotz der internationalen Finanzkrise mit 24,8 Mil-liarden Euro nur geringfügig unter dem Rekordwert von2007 mit 24,9 Milliarden Euro. Deutschland stellt diegrößte Zahl der ausländischen Firmen, die in der TürkeiDirektinvestitionen getätigt haben. Die Zahl deutscherUnternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deut-scher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist in den vergan-genen Jahren auf knapp 3 955 gestiegen. Die Betäti-gungsfelder deutscher Unternehmen reichen von derindustriellen Erzeugung und dem Vertrieb sämtlicherProdukte bis zu Dienstleistungsangeboten aller Art. Da-rüber hinaus wird die Türkei auch für Deutschland im-mer wichtiger als Energiekorridor. Das betrifft zum Bei-spiel die RWE-Beteiligung am Konsortium für den Bauder Nabucco-Pipeline. Damit hat die Bundesrepubliknicht nur große Verantwortung, sondern auch eine ent-sprechende Pflicht hinsichtlich der Einforderung vonArbeits- und Einkommensbedingungen sowie die Rah-menbedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit ge-mäß den in den EU-Staaten gültigen Standards und de-nen der ILO.So gehört zu den zahlreichen deutschen Unternehmendas Motorenwerk Mahle, das in seinem Betrieb im west-türkischen Izmir rund 500 Mitarbeiter beschäftigt. DieseBeschäftigten führen seit Wochen einen erbitterten Ar-beitskampf gegen die Firmenleitung, die Druck auf sieausübt und mit Betriebsschließung droht, wenn sie nichtaus der dort organisierten Gewerkschaft aus- und ineine andere, als unternehmerfreundlich bekannte Ge-werkschaft, eintreten. Kein Einzelfall! Nach Informatio-nen von türkischen Gewerkschaften und auch der IGMetall versuchen deutsche Firmen, in der Türkei mit al-len Mitteln beschäftigtenfeindliche Möglichkeiten, dieihnen das türkische Arbeitsrecht bietet, um gewerk-schaftliche Aktivitäten in Betrieben zu verhindern, wei-testmöglich auszunutzenDie Linke fordert von der Bundesregierung nicht nur,auf die türkische Regierung hinsichtlich der Einhaltungbzw. Einführung international verpflichtender gewerk-schaftlicher Standards einzuwirken. Es gilt auch, denEinfluss auf deutsche Unternehmen auszuüben, die imAusland investieren und/oder produzieren. Angesichtsder zahlreichen Beispiele, die wir aus Deutschland ken-nen, in denen aufgrund ihres gewerkschaftlichen Enga-gements „unbequeme“ Beschäftigte kurzerhand vor dieTür gesetzt werden, hat man jedenfalls keinen Grund zuder Annahme, dass die deutschen Unternehmen diesfreiwillig machen würden. Dies scheint aber bei einemTrio infernale aus einem FDP-Außenminister, einemFDP-Wirtschaftsminister und einem FDP-Minister fürEntwicklungszusammenarbeit wie die Quadratur desKreises. Kein Wunder! Denn Außenminister Westerwellereist offenbar besonders nicht nur lieber mit solchen, dieder FDP viel Geld gespendet haben, sondern vertrittauch lieber deren Interessen. Gewerkschafterinnen undGewerkschafter gehören da wohl weniger zum Reisetross.Und so hat der Außenminister auf seiner Antrittsreise indie Türkei Anfang Januar 2010 auch nicht die Gelegen-heit gefunden, sich entsprechend für die seit Mitte De-
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gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim Dağdelenzember 2009 protestierenden Tekel-Beschäftigten inso-weit einzusetzen, dass er die Einhaltung internationalverankerter gewerkschaftlicher Rechte als Grundlagefür wirtschaftliche Kooperationen zur Voraussetzungmachte.Die Linke fordert, im Rahmen der bilateralen Bezie-hungen mit der Türkei und auf EU-Ebene die Demokra-tisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventio-nen der Internationalen Arbeitsorganisation alsVoraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern. Unsgeht es auch darum, sich auf EU-Ebene dafür einzuset-zen, dass die Probleme der Gewerkschaften in der Tür-kei in künftigen Fortschrittsberichten ausführlicher the-matisiert und noch deutlicher in den Mittelpunkt gestelltwerden. Insbesondere die mangelnde Versammlungs-bzw. Vereinigungsfreiheit sollte hierbei im Vordergrundstehen. Im bilateralen Rahmen muss darauf hingewirktwerden, dass die türkische Regierung gemeinsam mitden Gewerkschaften eine Lösung findet, die gewährleis-tet, dass die Versammlungsfreiheit respektiert wird. Unddas sollte bereits zum 1. Mai durchgesetzt werden, damitauf dem Taksim-Platz in Istanbul friedliche Demonstra-tionen stattfinden. Die Polizeigewalt gegen Gewerk-schafterinnen und Gewerkschafter und andere Demon-strantinnen und Demonstranten im Rahmen von Streiksmuss die Bundesregierung deutlich kritisieren und klar-machen, dass diese ganz erheblich Einfluss auf wirt-schaftliche Kooperationsprojekte haben kann. Die besteGelegenheit, um auf die große Bedeutung gewerkschaft-licher Rechte aufmerksam zu machen, ist die Reise derBundeskanzlerin in die Türkei. Auf dem Programm ste-hen politische und Wirtschaftsgespräche. Ich jedenfallswerde namens der Linken sowohl gegenüber den türki-schen Regierungsvertretern als auch gegenüber den inBegleitung mitreisenden deutschen Unternehmerinnenund Unternehmern diese Themen ansprechen. Ich hoffeSie auch!Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):In Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerk-schaften im NATO-Land Türkei unter einem fortwähren-den Generalverdacht. Dies führte zu lähmenden Restrik-tionen und Einschränkungen von selbstverständlichenund fundamentalen Rechten der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer. Die Entrechtung und Kriminalisierungvon Arbeitnehmervertretungen fanden ihre traurigenHöhepunkte in der brutalen Unterdrückung und demblutigen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Aktivis-tinnen und Aktivisten der Gewerkschaften. Mittlerweilehat sich die Lage zum Besseren verändert. Seit fast fünfJahren führt die Türkei Beitrittsverhandlungen mit derEU. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regierungauffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte einzuräu-men und Reformen fortzusetzen, die das Gewerkschafts-recht in der Türkei an die Konventionen der Internatio-nalen Arbeitsorganisation und die Standards der EUangleichen. Es ist nicht nur im Interesse der EU, son-dern vor allem im Interesse der Türkei und der türki-schen Demokratie, dass die Türkei ein modernesGewerkschaftsrecht bekommt. Denn Demokratie undZu ProtokollRechtsstaatlichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe undPartizipationsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türki-sche Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationa-len und europäischen Konzerne und die EU müssen inihren Wirkungsbereichen, ihren Einrichtungen und Be-trieben die Einhaltung moderner Arbeits- und Sozial-standards garantieren.Nach dem hoffnungsvollen Beginn der Beitrittsver-handlungen mit der EU hat die Reformdynamik in derTürkei stark nachgelassen. Aus unserer Sicht gab undgibt es keine Entschuldigung für den anhaltenden Re-formstau, der in den letzten drei Jahren so viel politi-schen Schaden angerichtet hat. Hinzu kommt aber aucheine EU-Politik, die ihrer Verantwortung gegenüber derTürkei nicht gerecht wird. In drei Tagen besucht dieBundeskanzlerin die Türkei. Für ihre Gespräche inIstanbul und Ankara könnte sie einige Anregungen ausdieser Debatte im Parlament gut gebrauchen. Denn dieBeitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei laufenweiterhin sehr schleppend und unbefriedigend. Seit fastfünf Jahren sind Verhandlungen insgesamt in zwölfKapiteln eröffnet. Wir beobachten ein großes Des-interesse der Bundesregierung an den Beitrittsver-handlungen mit der Türkei – und folglich auch an derDemokratisierung des Landes. Das weiterhin nebulöseKonzept der Kanzlerin von einer „privilegierten Part-nerschaft“ der Türkei paralysiert das Denken und Han-deln der Bundesregierung.Das Haupthindernis bei den Verhandlungen ist offi-ziell die Nicht-Umsetzung des sogenannten Ankara-Pro-tokolls durch die Türkei gegenüber Zypern. Die altenKonflikte aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen derTürkei und Zypern wirken in die Gegenwart hinein undlähmen wichtige Entwicklungen in Europa. Bei aller be-rechtigten Kritik an der türkischen Haltung im Zypern-konflikt ist es nicht hinnehmbar, wie Zypern als Mitgliedim EU-Klub alle Register zieht, um die Beitrittsverhand-lungen mit der Türkei – eine Frage von enormer strate-gischer Bedeutung – zu blockieren. Die EU hat eine ab-wartende Haltung eingenommen, anstelle selbst aktiv zuwerden und eine gestaltende Rolle zu spielen. Eine Nor-malisierung der Beziehungen zwischen der Türkei undZypern wird ohne eine aktive und glaubwürdig vermit-telnde Rolle der EU nicht gelingen.Deutschland hat maßgeblichen Anteil an der passi-ven Rolle der EU. Die Bundesregierung sollte ihreBremserrolle in den Beitrittsverhandlungen der EU mitder Türkei dringend korrigieren. In bilateralen Gesprä-chen und Beziehungen kann sie auch wesentlich dazubeitragen, eine Modernisierung des Gewerkschafts-rechts in der Türkei voranzutreiben. Denn die Rechteder Gewerkschaften in der Türkei entsprechen wederden EU- noch den ILO-Standards. Dies betrifft insbe-sondere die Rechte, Gewerkschaften zu gründen, zustreiken oder Tarifverträge abzuschließen. Gerade dieseRechte sind ein Schwerpunkt der Beitrittsverhandlungenmit der Türkei. Die Bundesregierung kann sich im Sinneder europäischen Politik und der in der EU geltendenRechtsnormen für die Anpassung und Weiterentwicklungdes türkischen Gewerkschaftsrechts einsetzen.
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3272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010
Claudia Roth
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Angesichts der Bedeutung von deutsch-türkischenWirtschaftsbeziehungen und der Rolle der deutschenWirtschaft in der Türkei dürfen wir auch die Wirtschaftaus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Denn Gewerk-schaftsrechte und die Verankerung von demokratischenMit- und Selbstbestimmungsrechten sind wichtige Vo-raussetzungen für eine nachhaltige und produktive Wirt-schaftspolitik. Im vorliegenden Antrag sind viele rich-tige Forderungen formuliert. Dennoch werden vieleweitere Reformen außerhalb des Gewerkschaftsrechtesaußer Acht gelassen, die auf dem Weg der Türkei in dieEU wichtig sind. Dazu gehören Erneuerungen und An-passungen im Sozialbereich, im Bereich der Minderhei-tenrechte oder bei den Rechten der Frauen. Ein moder-nes und fortschrittliches Gewerkschaftsrecht kann seineWirkung nur im Zusammenspiel mit weiteren Rechten imsozialen und gesellschaftspolitischen Bereich entfalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1101 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist auch diese
Überweisung so beschlossen.
Wir sind bereits am Schluss unserer Tagesordnung
angelangt.
Ich danke Ihnen, dass Sie so lange an diesen Beratungen
teilgenommen haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. März 2010, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.