Protokoll:
16217

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 217

  • date_rangeDatum: 23. April 2009

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:22 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/217 nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . .23495 C 23508 C Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 2009 (Drucksache 16/12640) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Recht auf Ausbildung umsetzen – Ausbildungs- system reformieren, überbetriebliche Ausbildungsstätten ausbauen und Übergangsmaßnahmen anrechnen Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Grasedieck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 500 000 Arbeitsplätze – Exis- tenzsichernd und öffentlich gefördert (Drucksache 16/12682) . . . . . . . . . . . . . . 23499 A 23499 B 23500 A 23510 A 23511 A 23512 A 23513 A 23514 C 23516 A Deutscher B Stenografisc 217. Si Berlin, Donnerstag, I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Ludwig Stiegler, Anke Eymer (Lü- beck) und Frank Hofmann (Volkach) . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Hildegard Wester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Rolf Hempelmann in das Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Julia Klöckner als stellvertretendes Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Sabine Zimmermann zur Schriftführerin . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- 23495 A 23495 B 23495 B 23495 B 23495 C (Drucksache 16/12680) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 23500 C undestag her Bericht tzung den 23. April 2009 l t : Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für die berufliche Bildung (Drucksache 16/12665) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23500 C 23500 D 23502 B 23503 C 23506 A 23507 A b) Beschlussempfehlung und Bericht d Ausschusses für Arbeit und Soziales z dem Antrag der Abgeordneten Wern es u er II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sicherheit und Zukunft – Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenprogramm (Drucksachen 16/12292, 16/12485) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Werner Dreibus, Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Gute Arbeit – Gutes Leben Initiative für eine gerechte Arbeitswelt (Drucksachen 16/6698, 16/12469) . . . . . . Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulga- rien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreiten- den Missbrauchs bei Leistungen und Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch Erwerbstätigkeit und von nicht ange- meldeter Erwerbstätigkeit sowie bei illegaler grenzüberschreitender Leih- arbeit (Drucksache 16/12588) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und den Vereinigten Mexikani- schen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerver- kürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 16/12589) . . . . . . . . . . . . . . . 23516 A 23516 B 23516 C 23518 B 23520 D 23521 D 23523 D 23525 C 23527 C 23528 D 23530 C 23532 C 23532 D 23533 B 23533 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 16. September 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Vermarkung und Instandhal- tung der gemeinsamen Grenze auf den Festlandabschnitten sowie den Grenz- gewässern und die Einsetzung einer Ständigen Deutsch-Polnischen Grenz- kommission (Drucksache 16/12590) . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu der Genfer Fassung vom 2. Juli 1999 (Genfer Akte) des Haager Abkom- mens vom 6. November 1925 über die internationale Eintragung gewerbli- cher Muster und Modelle (Drucksache 16/12591) . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Internationalen Überein- kommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Ver- schwindenlassen (Drucksache 16/12592) . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ach- ten Gesetzes zur Änderung des Bundes- vertriebenengesetzes (Drucksache 16/12593) . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundes- anstalt für den Digitalfunk der Behör- den und Organisationen mit Sicher- heitsaufgaben (BDBOS-Gesetz) (Drucksache 16/12594) . . . . . . . . . . . . . . h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Verbesserung der Absicherung von Zivilpersonal in internationalen Einsätzen zur zivilen Krisenprävention (Drucksache 16/12595) . . . . . . . . . . . . . . i) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- ten Gesetzes zur Änderung des Spreng- stoffgesetzes (Drucksache 16/12597) . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die ge- werbliche Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern (Drucksache 16/12307) . . . . . . . . . . . . . . 23533 C 23533 D 23533 D 23534 A 23534 A 23534 A 23534 B 23534 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 III k) Antrag der Abgeordneten Marion Seib, Stefan Müller (Erlangen), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nanotechnologie – gezielte For- schungsförderung für zukunftsträchtige Innovationen und Wachstumsfelder (Drucksache 16/12695) . . . . . . . . . . . . . . . l) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher- informationsgesetz novellieren (Drucksache 16/12691) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der FDP eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrek- tur der Unternehmensteuerreform (Drucksache 16/12525) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Ge- schmacksmustergesetzes (Drucksache 16/12586) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christel Humme, Irmingard Schewe- Gerigk, Elke Ferner und weiteren Abge- ordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schwan- gerschaftskonfliktgesetzes (Drucksache 16/12664) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Erhöhung des Schonvermögens im Alter für Bezieher von Arbeitslosen- geld II (Drucksache 16/5457) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ermäßigte Mehrwert- steuersätze für Hotellerie und Gastro- nomie in Deutschland einführen (Drucksache 16/12287) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Die Evaluierung des Verbraucherinforma- tionsgesetzes muss so schnell wie mög- lich durchgeführt werden (Drucksache 16/12669) . . . . . . . . . . . . . . . 23534 B 23534 C 23534 D 23534 D 23534 D 23535 A 23535 A 23535 A g) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Schutz von Arbeitnehmer- daten durch transparente und praxisge- rechte Regelungen gesetzlich absichern (Drucksache 16/12670) . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mobilität zukunftsfä- hig machen – Elektromobilität fördern (Drucksache 16/12693) . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Manipulierte Strompreise – Verbraucherinteressen wahren (Drucksache 16/12692) . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vergabe- recht konsequent sozial gestalten – Gemeinnützige Unternehmen nicht benachteiligen (Drucksache 16/12694) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengeset- zes (Drucksachen 16/12117, 16/12696) . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen (Drucksachen 16/12231, 16/12517) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Horst Friedrich (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Verlän- gerung der Hauptuntersuchungsinter- valle für Oldtimer mit H-Kennzeichen (Drucksachen 16/9480, 16/11082) . . . . . . 23535 B 23535 B 23535 C 23535 C 23536 B 23536 C 23536 D IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Horst Friedrich (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Keine Sperrung der Inntal-Autobahn für Lkw-Transitverkehre (Drucksachen 16/9095, 16/11083) . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Patrick Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Technische Kriterien für Win- terreifenkennzeichnung M+S festlegen (Drucksachen 16/11213, 16/12348) . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Patrick Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bußgeldkatalog bei Umwelt- zonen ändern – Zurück zur Verhältnis- mäßigkeit (Drucksachen 16/10313, 16/12349) . . . . . g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Ver- einfachung des Deponierechts (Drucksachen 16/12223, 16/12357 Nr. 2.3, 16/12722) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notari- ellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwalt- schaft sowie zur Änderung der Verwal- tungsgerichtsordnung, der Finanzge- richtsordnung und kostenrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 16/11385, 16/12717) . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht (Drucksachen 16/12061, 16/12718) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung 23537 A 23537 B 23537 B 23537 C 23537 D 23538 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle und weiterer Abgeordneter der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Hüseyin- Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und weiterer Abgeordne- ter der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln) und weiterer Ab- geordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einsetzung eines Untersuchungsaus- schusses (Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Meinungs- verschiedenheiten in der Bundesregierung zum Anbauverbot des gentechnisch verän- derten Mais MON 810 . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilse Aigner, Bundesministerin BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 2008 (50. Bericht) (Drucksache 16/12200) . . . . . . . . . . . . . . . . . 23538 B 23538 D 23539 A 23540 B 23541 A 23542 B 23543 C 23545 A 23546 A 23547 A 23548 A 23549 B 23550 C 23551 C 23552 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 V Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hedi Wegener (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . Petra Heß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes (Drucksachen 16/12273, 16/12697) . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Opferentschädi- gung bei Gewalttaten (Drucksachen 16/1067, 16/12697) . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Opferentschädigung bei Terrorakten im Ausland sicherstel- len (Drucksachen 16/585, 16/12697) . . . . . . . Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23552 D 23554 D 23556 A 23557 C 23558 C 23559 B 23560 C 23561 D 23563 A 23563 A 23563 B 23563 B 23564 D 23565 C 23566 D 23567 D 23568 C 23569 A 23570 A 23570 C Tagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Jens Ackermann, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volks- begehren und Volksentscheid in das Grundgesetz (Drucksachen 16/474, 16/12019) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans- Christian Ströbele, Irmingard Schewe- Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Ein- führung von Volksinitiative, Volksbe- gehren und Volksentscheid) (Drucksachen 16/680, 16/12019) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gregor Gysi, Dr. Lothar Bisky, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- rung der dreistufigen Volksgesetz- gebung in das Grundgesetz (Drucksachen 16/1411, 16/12019) . . . . . . Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Maik Reichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Förde- rung von Biokraftstoffen (Drucksachen 16/11131, 16/11641, 16/12465) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23571 D 23571 D 23571 D 23572 A 23573 A 23574 A 23574 D 23576 A 23577 C 23578 D 23580 A 23580 B 23581 A 23583 A 23584 D VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/12466) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Stufenbesteue- rung und Quotenpflicht bei Biokraftstoffen zurücknehmen – Nachhaltigkeitskriterien umgehend einführen (Drucksachen 16/5679, 16/12699) . . . . . . . . . Marko Mühlstein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Müller, Parl. Staatssekretär BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Europäisches Parlament stärken – Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden las- sen – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Plenarsitzungen des Europäischen Par- laments gänzlich in Brüssel und Tagun- gen des Europäischen Rates in Straß- burg abhalten (Drucksachen 16/9427, 16/8051, 16/9697) . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 23585 A 23585 A 23585 B 23586 B 23587 B 23588 C 23589 C 23590 C 23591 D 23593 C 23593 D 23594 D 23596 A 23597 D 23598 C Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Vereinbarte Debatte: Jährliche Strategiepla- nung der EU-Kommission für 2010 . . . . . . Günter Gloser, Staatsminister für Europa . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Helmut Lamp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gen- technik ermitteln und offenlegen (Drucksachen 16/7903, 16/10578) . . . . . . . . . Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes (Kinder- schutzgesetz) (Drucksache 16/12429) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23599 C 23600 C 23601 C 23602 B 23602 B 23603 C 23604 D 23606 A 23607 B 23608 C 23610 A 23611 C 23611 D 23613 B 23614 C 23615 B 23616 A 23616 D 23617 C 23618 D 23619 A 23620 D 23622 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 VII Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abrüstung in Privatwohnungen – Maß- nahmen gegen Waffenmissbrauch (Drucksache 16/12477) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer, Bodo Ramelow und der Fraktion DIE LINKE: Keine Schusswaffen in Privat- haushalten – Änderung des Waffen- rechts (Drucksache 16/12395) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Waffenge- setzes (Drucksache 16/12663) . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Renate 23623 B 23624 C 23625 C 23626 D 23628 B 23628 C 23628 C 23628 D 23629 D 23631 C 23632 D 23634 B Gradistanac, Angelika Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Frauen und Mädchen mit Be- hinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern – zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Lage der Frauen mit Behin- derungen in der Europäischen Union Entschließung des Europäischen Parla- ments vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit Behinderungen in der Euro- päischen Union (2006/2277(INI)) (EuB-EP 1492) (Drucksachen 16/11775, 16/6041 Nr. 1.7, 16/12545) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Potenziale der Tourismusbranche in der Entwick- lungszusammenarbeit durch Aufgaben- bündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen (Drucksachen 16/8176, 16/12185) . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungs- schutzes (Drucksachen 16/7615, 16/12714) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Heike Hänsel, Alexander Ulrich, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Unterstüt- zung von Militäreinsätzen aus dem Euro- päischen Entwicklungsfonds (Drucksachen 16/4490, 16/5984) . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23635 A 23635 C 23635 D 23636 B 23636 C 23637 B 23638 C 23639 B 23640 A VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 Tagesordnungspunkt 14: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition (Drucksachen 16/12226, 16/12698) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschottungspolitik beenden – Volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 her- stellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EU-Arbeitnehmer- freizügigkeit sofort und unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland ge- währen (Drucksachen 16/10237, 16/10310, 16/10688) Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren (Drucksachen 16/10846, 16/12479) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot der Erbrin- gung militärischer Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unternehmen (Drucksachen 16/11375, 16/12134) . . . . . 23641 A 23641 B 23641 C 23643 A 23644 A 23644 D 23645 C 23646 B 23646 C Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gewerkschaf- ten in der Türkei stärken (Drucksachen 16/11248, 16/12655) . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Lale Akgün (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der ab- fallrechtlichen Produktverantwortung für Batterien und Akkumulatoren (Drucksachen 16/12227, 16/12301, 16/12721) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans- Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen (Drucksachen 16/11917, 16/12721) . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Sanitäre Grundversorgung international verbessern (Drucksachen 16/11204, 16/11812) . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Brunhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Addicks (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23647 A 23647 A 23649 A 23650 C 23651 B 23651 D 23652 D 23652 D 23653 B 23653 C 23654 B 23655 B 23656 A 23656 D 23657 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 IX Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Auf- gaben und Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes (Drucksachen 16/12232, 16/12518) . . . . . . . . Kurt Segner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anreizregulierung im Strom- und Gassektor nachbessern – Benachteiligung von städtischen Versorgern verhindern (Drucksachen 16/11878, 16/12167) . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Rates 2008/ 615/JI vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammen- arbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreiten- den Kriminalität (Drucksache 16/12585) . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23658 B 23658 C 23659 B 23660 A 23660 B 23661 A 23661 D 23661 D 23663 C 23664 C 23665 A 23665 C 23666 B 23666 C 23667 B 23668 B 23668 C 23669 B Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Humanitäre Entschädi- gungslösung für mit HCV infizierte Hämophilieerkrankte schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Entschädigungsregelung für durch Blutprodukte mit HCV infi- zierte Bluter schaffen (Drucksachen 16/10879, 16/11685, 16/12515) Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Kleiminger (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 16/12596) . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Rauen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurückneh- men (Drucksachen 16/11663, 16/12514) . . . . . . . . Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 23670 A 23670 B 23671 A 23671 D 23672 A 23672 D 23673 D 23674 A 23675 B 23675 D 23676 B 23677 B 23677 D 23679 A 23679 A 23680 A X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Bürgerportalen und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drucksache 16/12598) . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unabhängige Beauftragte zur Untersu- chung von Polizeigewalt (Drucksache 16/12683) . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gewerbesteu- erumlage – An den Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null absenken (Drucksachen 16/11373, 16/12700) . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23682 B 23682 C 23683 C 23684 C 23684 C 23685 D 23686 C 23687 D 23688 C 23689 C 23689 D 23690 D 23691 B 23692 C 23694 B 23695 A 23695 A 23696 B 23696 D 23697 B 23698 C 23699 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung der Förderung von Biokraftstoffen (Zu- satztagesordnungspunkt 6) Dr. Axel Berg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Groneberg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Marko Mühlstein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . Dr. Hermann Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth und Dr. Joachim Pfeiffer (beide CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung der Förderung von Biokraftstoffen (Zu- satztagesordnungspunkt 6) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Josef Göppel, Dr. Georg Nüßlein, Cajus Caesar und Jens Koeppen (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Ge- setzes zur Änderung der Förderung von Bio- kraftstoffen (Zusatztagesordnungspunkt 6) . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Frauen und Mädchen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern 23701 A 23701 D 23703 B 23703 D 23704 C 23705 A 23705 B 23705 D 23706 B 23707 A 23707 C 23707 D 23708 C 23709 A 23709 D 23710 B 23710 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 XI – Unterrichtung durch die Bundesregierung: Lage der Frauen mit Behinderungen in der Europäischen Union Entschließung des Europäischen Parla- Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überein- kommen vom 30. Mai 2008 über Streumuni- ments vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit Behinderungen in der Europäi- schen Union (2006/2277(INI)) (Tagesordnungspunkt 12) Antje Blumenthal (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Potenziale der Tourismusbranche in der Ent- wicklungszusammenarbeit durch Aufgaben- bündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen (Ta- gesordnungspunkt 15) Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhold Hemker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes (Zusatztagesord- nungspunkt 9) Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23611 C 23612 D 23614 A 23614 C 23615 B 23616 A 23617 C 23618 C 23619 C 23620 B 23620 D 23622 A 23622 C 23623 B 23624 B 23624 D tion (Tagesordnungspunkt 14) Eduard Lintner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Andreas Weigel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Nicht- staatliche militärische Sicherheitsunter- nehmen kontrollieren – Beschlussempfehlung und Bericht: Inter- nationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot der Erbringung militärischer Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unternehmen (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwor- tung für Batterien und Akkumulatoren – Beschlussempfehlung und Bericht: Schad- stoffbelastung durch Batterien begrenzen (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23725 D 23726 C 23727 C 23728 C 23729 B 23730 C 23731 D 23732 C 23733 C 23734 C 23735 B 23736 D 23737 D 23738 C 23739 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23495 (A) (C) (B) (D) 217. Si Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23701 (A) (C) (B) (D) Förderung von Reinkraftstoffen, um den CO -Ausstoß preise fast vollständig zum Erliegen gebracht. Das ist eine Fehlentwicklung, denn Reinkraftstoffe entstehen inDr. Lauterbach, Karl SPD 23.04.2009 2 im Verkehrssektor zu verringern. Den Markt für Reinkraftstoffe haben die Steuererhö- hung für Reinkraftstoffe und die steigenden Rohstoff- Kipping, Katja DIE LINKE 23.04.2009 Knoche, Monika DIE LINKE 23.04.2009 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Becker, Dirk SPD 23.04.2009 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Bierwirth, Petra SPD 23.04.2009 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 23.04.2009 Bodewig, Kurt SPD 23.04.2009* Dr. Botz, Gerhard SPD 23.04.2009 Burchardt, Ulla SPD 23.04.2009 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 23.04.2009 Duin, Garrelt SPD 23.04.2009 Ernstberger, Petra SPD 23.04.2009 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 23.04.2009 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 23.04.2009 Gabriel, Sigmar SPD 23.04.2009 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 23.04.2009 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 23.04.2009 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 23.04.2009 Gleicke, Iris SPD 23.04.2009 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung der Förderung von Biokraft- stoffen (Zusatztagesordnungspunkt 6) Dr. Axel Berg (SPD): Ich habe mich im Rahmen der Diskussion um Biokraftstoffe immer für eine Zwei- Wege-Strategie eingesetzt. Ich wollte die Einführung ei- ner Quote zur Beimischung von Biokraftstoffen und eine Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Nahles, Andrea SPD 23.04.2009 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Dr. Scheer, Hermann SPD 23.04.2009 Schily, Otto SPD 23.04.2009 Schmidt (Nürnberg), Renate SPD 23.04.2009 Dr. Schwanholz, Martin SPD 23.04.2009 Tauss, Jörg SPD 23.04.2009 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 23.04.2009 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 23.04.2009 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 23.04.2009 Zapf, Uta SPD 23.04.2009 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 23702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) einer regionalen Wertschöpfungskette. Vom Anbau der Pflanzen über die Veredelung bis zum Verbrauch wäre alles in Deutschland machbar gewesen. Biodiesel aus deutscher Produktion führt zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel, Pflanzenöle aus deutschem Anbau sogar um 58 Prozent. In Deutschland könnten wir durch den Einsatz von Biodiesel bis zu 15 Prozent des fossilen Diesels ersetzen. Stattdessen hat der Tanktourismus wieder zugenommen. Allein 200 000 Speditions-Lkw, die bereits auf Biodiesel umgesattelt hatten, fahren jetzt wieder mit fossilem Diesel und tan- ken in der Regel im Ausland. Die damit verbundenen Mehrwertsteuerverluste dürften die Einnahmen aus der Biokraftstoffbesteuerung weit übertreffen. Wenn schon die Reinkraftstoffe nicht mehr zu einer CO2-Reduktion führen, weil sie praktisch aus dem Markt verdrängt werden, dürfen wir nicht auch noch die Beimi- schungsquoten senken. Durch die Entscheidung, aus- schließlich auf die Beimischung zu setzen, haben wir dem Mittelstand sehr geschadet, da die großen Mineral- ölkonzerne sich auf den Weltmärkten ihre nötigen bioge- nen Anteile sehr viel billiger besorgen und damit auf dem Markt mit Dumpingpreisen auftreten können. Aus ökologischen, ökonomischen und aus Gründen des Vertrauensschutzes dürfen wir nicht auch noch die Senkung der Quote zulassen. Wenn wir dieses Jahr die Quote um 1 Prozent senken und nächstes Jahr um 1 Prozent anheben, treffen wir ausschließlich den Mittel- stand. Dieser kann sich bei ständig wechselnden Quoten nicht auf einen Absatz verlassen. Die Verlässlichkeit des Absatzes ist aber zum Überleben notwendig. Ansonsten verdrängen die großen Mineralölkonzerne den Mittel- stand vom Markt. Das kann und möchte ich nicht unter- stützen. Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än- derung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefreiung des im Öffentlichen Personen- nahverkehr – einschließlich Schienennahverkehr – ver- wendeten Biodiesels eingesetzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeutet. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Aufgrund der Abwrackprämie sind zudem viele E-10-untaugliche Fahrzeuge durch Fahrzeuge ersetzt worden, die E 10 vertragen. Dies nimmt der Argumentation, dass ein Großteil der Fahrzeuge E 10 nicht vertragen könnte, die Grundlage. Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver- ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro- treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages für äußerst problematisch. Co-Hydrotreating würde in Deutschland nahezu die kompletten Biokraftstoffherstel- ler des Absatzes berauben, weil Co-Hydrotreating als Vorprodukt nur Pflanzenöl und eben keinen Biodiesel benötigt. Betroffen sind zahlreiche Arbeitsplätze und Unternehmen. Außerdem werden damit umfangreiche öffentliche Fördermittel „in den Sand gesetzt“. Hier- durch droht eine möglicherweise grenzenlose Wettbe- werbsverzerrung zuungunsten des mittelständischen Mi- neralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehr- bringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co- Hydrotreating nur noch von den großen Mineralölkon- zernen erfüllt werden. Das Gesetz wird zusammen mit der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung (BlmschV) eine dramatische Verschlechterung der Wettbewerbs- situation zulasten des Mittelstandes und der Verbraucher herbeiführen. Kurz gesagt: Die 10. BlmSchV nimmt dem Mittelstand die Möglichkeit, freiwillig E 10 in den Markt zu bringen, und zugleich gibt sie ausschließlich den Konzernen die zusätzliche Möglichkeit, biogene Öle (Co-Hydrierung) als Quotenerfüllung einzusetzen. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens 100 Mil- lionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirt- schaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset- zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser- mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge- setzt wird. Die Bemühungen hinsichtlich einer Nachhaltigkeits- verordnung erachte ich als notwendig und positiv. Die größte Kritik an der Nutzung von Biomasse richtet sich auf eine vermeintliche Konkurrenz zwischen Nahrungs- mitteln und der energetischen Nutzung von Pflanzen. Es darf selbstverständlich nicht dazu kommen, dass es zu Entscheidungen zwischen Biokraftstoffen und Lebens- mitteln kommt. Wir dürfen nicht mit der Nahrung ande- rer Menschen unsere Autos antreiben, das muss allge- mein gültiger Konsens werden, auch oder vor allem wenn wirtschaftliche Interessen zu anderen Entscheidun- gen drängen. Nach aktuellen Zahlen ist das zurzeit nicht so. 5 Prozent der Weltgetreidenutzung werden für Kraft- stoffe genutzt, 95 Prozent werden als Nahrungs- oder Futtermittel verwendet. Die Probleme liegen an anderer Stelle. Europäische und deutsche Nutzflächen sind in den letzten Jahren still- gelegt worden, weil sich Anbau von Getreide nicht mehr lohnte und Importe günstiger waren. Die meisten Flä- chen, die in Deutschland genutzt werden, können nur durch massive Subventionen der Europäischen Union wirtschaftlich geführt werden. Derartige Subventionie- rungen spielen aber nicht nur für den europäischen Markt eine besondere Rolle, sondern vor allen Dingen sind sie der Grund für den Hunger in Schwellen- und Entwicklungsländern. Subventionierte Getreideexporte aus den USA oder Europa überschwemmen die Märkte in diesen Weltregionen. Weil die Importe günstiger sind Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23703 (A) (C) (B) (D) als der eigene Anbau, wurden Ackerflächen vor Ort nicht weiter genutzt oder zur Produktion von Nutzpflan- zen in Monokulturen umgewandelt. Dadurch begaben sich viele Länder in eine Abhängigkeit von Nahrungs- mittelimporten, obwohl die Potenziale zur eigenen Ver- sorgung vorhanden wären. Wenn die Preise für Lebens- mittel wie im letzten Jahr ansteigen, führt dies zu Hungerkatastrophen, weil viele Länder die teuren Im- porte nicht mehr zahlen können. Spekulation, leere La- ger, steigender Bedarf an Milch und Fleischprodukten sowie vernachlässigte Produktion führen ebenfalls zu steigenden Preisen. In diesem Zusammenhang könnten Quoten für die Beimischung von Biosprit oder Quoten für Reinkraftstoffe zu einer weiteren Verschärfung der Probleme führen. Sie sind aber nicht der Grund für der- artige vermeidbare Katastrophen. Die Problematik besteht allerdings auch in einer an- deren Richtung. Dadurch, dass Industrieländer ihre eige- nen Märkte für Importe aus Entwicklungsländern ab- schotten, können diese selbst von steigenden Weltmarktpreisen nicht profitieren, obwohl ihre Produk- tionskapazitäten ausreichend wären, um auch externe Nachfrage zu bedienen. Eine Nachhaltigkeitszertifizierung liegt bis heute nicht vor, sodass nicht nachhaltig erzeugte Biokraftstoffe auf den Markt kamen. Das führte zu berechtigter Kritik und beschädigte das ökologische Image von Biokraft- stoffen. Es ist richtig und wichtig, dass Quoten und Re- gelungen für die Nutzung von Biomasse anhand von Prinzipien wie Nachhaltigkeit, ökologischer Sinnhaftig- keit und im Zusammenhang mit der weltweiten Nah- rungsmittelsituation überprüft werden. Dies kann zwi- schenzeitlich dazu führen, dass Quoten nicht weiter steigen dürfen. Sie dürfen aber auch nicht sinken. Gene- rell sehe ich aber die Beimischung und direkte Nutzung von Biosprit als einen wichtigen Schritt, den wir hin zu einer nachhaltigen Mobilität gehen müssen. Auch die Nachhaltigkeitsverordnung sollte unter Par- lamentsvorbehalt gestellt werden. Zudem sollten für sämtliche Erzeugnisse Nachhaltigkeitsnachweise einge- fordert werden. Es ist nicht einzusehen, warum nur für die Biokraftstoffbranche Nachhaltigkeitskriterien festge- setzt werden sollten. Dies ist eine Wettbewerbsverzer- rung gegenüber vielen anderen Produkten, insbesondere fossilen Rohstoffen und auch Futtermitteln. Bei eingehender Betrachtung all dieser Argumente, kann ich diesem Gesetzentwurf, trotz einiger guter An- sätze, nicht zustimmen. Wir würden eine Branche ver- nichten, von der ich denke, dass sie ökologischen und ökonomischen Nutzen hat. Wir brauchen beides. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Der aktuelle Bio- kraftstoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Ja- nuar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Bio- dieselanlagen unterkompensiert sind. Lediglich große Pflanzenölanlagen sind überkompensiert, kommen je- doch mit der nächsten Steuerstufe in 2009 wahrschein- lich in wirtschaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und insbesondere die für die kleinen Betriebe festge- stellte Unterkompensation hätte im Rahmen dieses Ge- setzes reagiert werden müssen. Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än- derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe- sondere über eine Steuerbefreiung des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu- tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos- silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts- kreisläufe gewesen. Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte ich für äußerst problematisch und ohne Zustimmung des Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi- schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro- zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer- den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein- fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben, auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren. Aus diesen Gründen enthalte ich mich bei der Ab- stimmung. Gabriele Groneberg (SPD): Im Rahmen der Ver- handlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei- ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ- lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge- setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein 23704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re- gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen. Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver- ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro- treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli- cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun- gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge- gen jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindes- tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset- zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser- mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge- setzt wird. Die Bemühungen hinsichtlich einer Nachhaltigkeits- verordnung erachte ich als notwendig und positiv. Die größte Kritik an der Nutzung von Biomasse richtet sich auf eine zu erwartende Konkurrenz zwischen Nahrungs- mitteln und der energetischen Nutzung von Pflanzen. Es darf selbstverständlich nicht dazu kommen, dass es zu Entscheidungen zwischen Biokraftstoffen und Lebens- mitteln kommt. Wir dürfen nicht mit der Nahrung ande- rer Menschen unsere Autos antreiben, das muss allge- meingültiger Konsens werden, auch oder vor allem wenn wirtschaftliche Interessen zu anderen Entscheidun- gen drängen. Es ist richtig und wichtig, dass Quoten und Regelun- gen für die Nutzung von Biomasse anhand von Prinzi- pien wie Nachhaltigkeit, ökologischer Sinnhaftigkeit und im Zusammenhang mit der weltweiten Nahrungs- mittelsituation überprüft werden. Dies kann zwischen- zeitlich dazu führen, dass Quoten nicht weiter steigen dürfen. Generell sehe ich aber die Beimischung und di- rekte Nutzung von Biosprit als einen wichtigen Schritt, den wir hin zu einer nachhaltigen Mobilität gehen müs- sen. Wir brauchen dringend für die Nutzung von Biomasse eine Nachhaltigkeitsverordnung, die auch im Europarecht Geltung haben muss. Die Nachhaltigkeits- verordnung sollte auch unter Parlamentsvorbehalt ge- stellt werden. Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah- ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei- ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über dieses Gesetz der Stimme. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei- ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ- lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge- setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regio- naler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen. Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver- ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro- treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli- cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuunguns- ten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro- zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer- den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein- fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset- zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungs- ermächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, um- gesetzt wird. Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah- ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich der Nachhaltigkeitsverordnungen als notwendig und sehr positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über dieses Gesetz der Stimme. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23705 (A) (C) (B) (D) Marko Mühlstein (SPD): Im Rahmen der Verhand- lungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefreiung des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels eingesetzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Kli- maschutz bedeutet – schließlich führt Biodiesel aus deut- scher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Pro- zent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re- gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen. Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver- ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro- treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli- cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuunguns- ten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro- zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und die gleichzeitige Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer- den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein- fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset- zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungs- ermächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, um- gesetzt wird. Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah- ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei- ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über dieses Gesetz der Stimme. Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei- ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ- lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge- setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re- gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen. Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver- ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro- treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli- cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun- gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge- gen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindes- tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset- zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser- mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge- setzt wird. Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah- ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei- ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über dieses Gesetz der Stimme. Mechthild Rawert (SPD): Der aktuelle Biokraft- stoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Januar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Biodieselanla- gen unterkompensiert sind. Lediglich große Pflanzenöl- anlagen sind überkompensiert, kommen jedoch mit der nächsten Steuerstufe in 2009 wahrscheinlich in wirt- schaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und insbe- sondere die für die kleinen Betriebe festgestellte Unter- kompensation hätte im Rahmen dieses Gesetzes reagiert werden müssen. Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än- derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe- sondere über eine Steuerbefreiung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme 23706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu- tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos- silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts- kreisläufe gewesen. Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte ich für äußerst problematisch und ohne Zustimmung des Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi- schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt werden. Auf die mittelständischen Firmen hingegen kämen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein- fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben, auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren. Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Das Euro- päische Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare-Energien-Richt- linie lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefreiung und -begüns- tigung als Förderinstrument der Mitgliedstaaten aus- drücklich zu. Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2- Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent. Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu- ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus- stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft- stoff- zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe festgelegt wurden. Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff- markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor- gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel nicht mehr zu heilen! Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralölin- dustrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz gesenkt wird, bedeutet dies die Reduzierung des Einsat- zes von Biokraftstoffen um 19 Prozent! Das kann doch vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein! Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentlichen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw-Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf den Steuersatz für Bio- diesel zu erwirken, könnten das durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgerufene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht ausgleichen. Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 heißt Hü und Hott. Dies ist keine vertrauensbildende Maß- nahme, nicht für die Produzenten von Biokraftstoffen und eigentlich auch nicht für die Mineralölwirtschaft. Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich da- durch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt folgen, helfen wir mit, andere Anbieter von Kraftstoffen vom Markt zu verdrängen! Aber Großkonzernpolitik zu vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen. Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund- lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt wurde. Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Grün- den der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraft- stoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollstän- dige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt wor- den. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wurden zahlreiche mittelständische Unternehmen in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird jetzt in keinster Weise geheilt, auch wenn mit dem Be- schluss des Umweltausschusses noch der Versuch unter- nommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will dies nicht hinnehmen. Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine- ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei- mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut- lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei- sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23707 (A) (C) (B) (D) Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach vom Tisch gewischt. Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich- keit, den Wettbewerb am Tankstellenmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt. Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grund- lage der Herstellerangaben seines Autos selber entschei- den, E 10 zu tanken oder nicht. Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe halte ich für Flickschusterei! Dr. Hermann Scheer (SPD): Der vorliegende Ge- setzentwurf heilt wesentliche Mängel der seit 2006 ge- troffenen Regelung des Gesetzes nicht. Der Reinbio- kraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl ist mit der seitdem eintretenden und ansteigenden Besteuerung weitgehend zum Erliegen gekommen. Dies hat viele in den Jahren zuvor neu gegründete Unternehmen zur Auf- gabe gezwungen. Die Chance, dass über den Reinbio- kraftstoffmarkt ein marktförderndes Gegengewicht zu dem Oligopol der Mineralölkonzerne erwachsen könnte, ist damit verspielt worden. Ein erheblicher Vertrauens- verlust vor allem im Bereich neuer mittelständischer Un- ternehmen war die Folge, weil das vorhergehende Ge- setz eine Steuerbefreiung bis 2009 regelte und im Anschluss daran eine Teilbesteuerung versprochen wor- den war, um zu gewährleisten, dass diese Biokraftstoffe am Markt billiger sein sollten als fossile Dieselkraft- stoffe. Der Tanktourismus für fossile Kraftstoffe, insbe- sondere bei Speditionsunternehmen, hat seitdem wieder erheblich zugenommen, sodass die damit verbundenen Steuereinnahmeverluste die Einnahmen aus der Besteue- rung dieser Biokraftstoffe übersteigen. Das mit der Bei- mischungspflicht beabsichtigte Ziel, damit zur Haus- haltskonsolidierung beizutragen, wurde verfehlt. Die stattdessen eingeführte Beimischungspflicht sollte ein Mengenäquivalent für Biokraftstoffproduzen- ten schaffen, auf der Basis einer Zertifizierung, die nach- haltige Anbauweisen sichern sollte. Eine dementspre- chende Zertifizierung liegt bis heute nicht vor, sodass ungeprüfte Biokraftstoffmengen auf den Markt kamen, die zu berechtigter Kritik führten und das ökologische Image von Biokraftstoffen beschädigten. Die Antwort darauf im anstehenden Änderungsgesetz in Form einer Senkung der Beimischungsquote ist deshalb Ausdruck eines politisch zu verantwortenden Versäumnisses, was erneut zulasten heimischer Produzenten geht. Bemühungen aus den Regierungsfraktionen, wie sie in der Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Marco Mühlstein zum Ausdruck kommen, bestimmte Markt- segmente wie den öffentlichen Nahverkehr für diese Biokraftstoffe vorzusehen, blieben unbeachtet, ein- schließlich der Voten der Fachpolitiker beider Regie- rungsfraktionen. Das Gesetz mag erneut eine formelle Mehrheit mit den Stimmen aus den beiden Regierungs- fraktionen erhalten. Inhaltlich getragen wird es auch in diesen eher überwiegend nicht. Aus diesen Gründen kann ich dem vorliegenden Än- derungsgesetz nicht zustimmen, so wie ich bereits dem Gesetz von 2006 nicht zugestimmt habe, das seinerzeit auch großenteils in beiden Regierungsfraktionen hoch umstritten war. Marianne Schieder (SPD): Eine Steuerbefreiung des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr verwendeten Biokraftstoffs wäre eine Maßnahme, die einen wichtigen Beitrag zum Kli- maschutz bedeutet; schließlich führt Biokraftstoff aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fossilem Kraftstoff. Weiterhin hät- ten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern gerade die Landwirte und Biokraftstoffproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Auf- bau regionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewe- sen. Es wäre sinnvoll und möglich gewesen, den Kraft- stoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hier- durch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zu- gunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralöl- konzerne günstiger angeboten werden könnte. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughal- ter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entscheiden können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Für die genannten Vorschläge gab es innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung. Damit wurde die Möglichkeit vergeben, auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren und insbesondere die mittelständischen Produzenten in der heimischen Land- wirtschaft zu stärken. Norbert Schindler (CDU/CSU): Das Europäische Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraft- stoffe zu fördern. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefreiung und -begünstigung als Förderinstrument der Mitgliedstaaten ausdrücklich zu. Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2- Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent. Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu- ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus- stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft- stoff- zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame 23708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe festgelegt wurden. Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff- markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor- gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel nicht mehr zu heilen! Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralölindustrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz gesenkt wird, bedeutet dies die Re- duzierung des Einsatzes von Biokraftstoffen um 19 Pro- zent! Das kann doch vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein! Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentli- chen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw- Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf den Steuersatz für Biodiesel zu erwirken, könnten das durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgeru- fene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht ausgleichen. Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 heißt Hü und Hott. Dies ist keine vertrauensbil- dende Maßnahme, nicht für die Produzenten von Bio- kraftstoffen und eigentlich auch nicht für die Mineralöl- wirtschaft. Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich dadurch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt folgen, helfen wir mit, andere An- bieter von Kraftstoffen vom Markt zu verdrängen! Aber Großkonzernpolitik zu vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen. Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund- lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt wurde. Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Gründen der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraftstoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollständige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt worden. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wurden zahlreiche mittelständischen Unterneh- men in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird jetzt in keinster Weise geheilt, auch wenn mit dem der Beschluss des Umweltausschusses noch der Versuch un- ternommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will dies nicht hinnehmen. Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine- ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei- mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut- lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei- sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach vom Tisch gewischt. Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglichkeit, den Wettbewerb am Tankstellen- markt zugunsten von Millionen Autofahrern zu verbes- sern. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineral- ölkonzerne ein preisgünstigeres Angebot an die Verbrau- cher darstellt. Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grundlage der Herstellerangaben seines Au- tos selber entscheiden, E 10 zu tanken oder nicht. Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe halte ich für Flickschusterei! Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förde- rung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuer- befreiung des im Öffentlichen Personennahverkehr ein- schließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels eingesetzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Bei- trag zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodie- sel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbe- triebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Land- wirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschaftskreis- läufe gewesen. Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver- ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro- treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli- cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun- gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge- gen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindes- tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23709 (A) (C) (B) (D) Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset- zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser- mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge- setzt wird. Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah- ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei- ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über dieses Gesetz der Stimme. Lydia Westrich (SPD): Das Europäische Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008 die Möglich- keit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraftstoffe zu för- dern. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie lässt in Art. 2(k) die Steuerbefreiung und -begünstigung als Förderinstru- ment der Mitgliedstaaten ausdrücklich zu. Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2- Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent. Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu- ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus- stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe festgelegt wurden. Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff- markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor- gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel nicht mehr zu heilen. Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralöl- industrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz gesenkt wird, bedeutet dies die Reduzierung des Einsat- zes von Biokraftstoffen um 19 Prozent. Das kann doch vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein. Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentli- chen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw- Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf den Steuersatz für Biodiesel zu erwirken, könnten das durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgeru- fene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht ausgleichen. Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 zeigt keine einheitliche Linie. Dies ist keine vertrauensbil- dende Maßnahme, nicht für die Produzenten von Bio- kraftstoffen und auch nicht für die Mineralölwirtschaft. Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich da- durch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt folgen, helfen wir mit, andere Anbieter von Kraftstoffen vom Markt zu verdrängen. Aber Großkonzernpolitik zu vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen. Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund- lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt wurde. Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Grün- den der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraft- stoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollstän- dige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt wor- den. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wurden zahlreiche mittelständische Unternehmen in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird jetzt in keiner Weise geheilt, auch wenn mit dem Be- schluss des Umweltausschusses noch der Versuch unter- nommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will dies nicht hinnehmen. Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine- ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei- mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut- lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei- sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach vom Tisch gewischt. Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich- keit, den Wettbewerb am Tankstellenmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt. Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grund- lage der Herstellerangaben seines Autos selber entschei- den, E 10 zu tanken oder nicht. Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe ist für mich Flickschusterei. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der aktuelle Biokraftstoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Januar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Bio- dieselanlagen unterkompensiert sind. Lediglich große Pflanzenölanlagen sind überkompensiert, kommen je- 23710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) doch mit der nächsten Steuerstufe 2009 wahrscheinlich in wirtschaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und insbesondere die für die kleinen Betriebe festgestellte Unterkompensation hätte im Rahmen dieses Gesetzes re- agiert werden müssen. Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än- derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe- sondere über eine Steuerbefreiung des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu- tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos- silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts- kreisläufe gewesen. Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei- den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte ich äußerst problematisch und ohne Zustimmung des Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi- schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro- zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und die gleichzeitige Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer- den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein- fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich. Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben, auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth und Dr. Joachim Pfeiffer (beide CDU/CSU) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen (Zusatztagesordnungspunkt 6) Die EU und Deutschland haben sich ehrgeizige Kli- maschutzziele auch im Sektor „Mobilität“ gesetzt. Im Dezember 2008 wurde die „Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“ (RED) beschlossen, die ein verbindliches Mindestziel von 10 Prozent erneuerbarer Energien im Verkehrssektor festlegt. In Deutschland beschloss der Deutsche Bundes- tag im Dezember 2006 das Biokraftstoffquotengesetz. Es sieht eine kontinuierliche Steigerung der Gesamtquote für Biokraftstoffe von 6,25 Prozent in 2009 bis auf 8 Prozent in 2015 vor. Die Verwendung nachhaltig erzeugter Biokraftstoffe der ersten Generation hat das Potenzial, wesentlich zur CO2-Reduktion im Verkehrssektor beizutragen. Dabei ist es unerlässlich, sicherzustellen, dass Biokraftstoffe ent- sprechend strengen Nachhaltigkeitsregeln produziert wurden. Den Änderungsantrag der CDU/CSU und der SPD zur zügigen Vorlage einer Nachhaltigkeitsverord- nung unterstütze ich daher uneingeschränkt. Neben dem Ziel des Klimaschutzes ist es wichtig, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass mittelständische Investoren aus den Reihen der Land- wirte, der Biokraftstoffproduzenten und der Mineralöl- händler Planungssicherheit haben, die eine Rentabilität ihrer Investitionen ermöglicht. Bislang bereits drei Än- derungen der Biokraftstoffgesetze in dieser Legislatur- periode stehen diesem Anliegen entgegen. (Energiesteu- ergesetz Juli 2006, Biokraftstoffquotengesetz Dezember 2006, Änderung der 10. BImSchV/Verbot von E 10 Ja- nuar 2009). Leider wurde jeweils auf Übergangsregelun- gen im Hinblick auf Bestandsanlagen verzichtet. Die nun vorliegende vierte gesetzliche Regelung zur Änderung der Biokraftstoffförderung in dieser Legisla- turperiode sieht die Absenkung der für das Jahr 2009 zu- nächst auf 6,25 festgelegten Beimischungsquote rück- wirkend zum 1. Januar auf 5,25 Prozent und Anhebung zum 1. Januar 2010 wieder auf 6,25 Prozent vor; das wi- derspricht jeglicher Planungssicherheit. Die Absenkung der Steuer auf Biodiesel um 3 Cent ist angesichts der Marktsituation völlig unzureichend; der am 12. November 2008 vorgelegte Biokraftstoffbericht der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/10964) weist Unterkompensierungen bei Biodiesel zwischen 6,68 und 10,76 Cent je Liter aus. Bedauerlich und wettbewerbsmindernd ist es zudem, dass der Vertrieb von E 10 praktisch verboten wurde; nachhaltig erzeugtes, der DIN-Norm entsprechendes und besonders gekennzeichnetes E 10 sollte als zusätzliches Angebot möglich sein. Deshalb kann ich dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen, auch wenn ich den Änderungsantrag begrüße. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Josef Göppel, Dr. Georg Nüßlein, Cajus Caesar und Jens Koeppen (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23711 (A) (C) (B) (D) eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen (Zusatztagesordnungs- punkt 6) Das Europäische Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare- Energien-Richtlinie lässt in Art. 2(k) die Steuerbefreiung und -begünstigung als Förderinstrument der Mitglied- staaten ausdrücklich zu. Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2- Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent. Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der euro- päischen Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit dem Antrag „Klimafreundliche Biokraftstoffe stärken“ vom 12. Februar 2009 versuchten wir, den Einsatz von Pflan- zenöl und Biodiesel im öffentlichen Nahverkehr steuerfrei zu stellen, für den Lkw-Güterverkehr einen Steuernach- lass von 50 Prozent des normalen Mineralölsteuersatzes zu erwirken und den Biotreibstoff E 10 (Beimischung von 10 Prozent Ethanol zu Ottokraftstoffen) für den Verkauf an öffentlichen Tankstellen zuzulassen. Die Steuerbefreiung von Pflanzentreibstoffen im öffent- lichen Nahverkehr würde einen verlässlichen Markt bis zu 1,1 Milliarden Liter pro Jahr schaffen. Die Abgren- zung zu anderem öffentlichen und privaten Verkehr könnte zielgenau nach § 56 Energiesteuergesetz erfolgen. Die Kommunen würden durch diesen Schritt beim Klima- schutz unterstützt. Regionale Wirtschaftskreisläufe würden gestärkt. Die Steuerbegünstigung des Speditionsgewerbes würde den Tanktourismus in das europäische Ausland eindäm- men. Mindereinnahmen durch einen geringeren Steuersatz würden so durch Mehreinnahmen schnell ausgeglichen. Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich- keit, den Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt. Zudem könnte jeder Fahrzeughalter auf Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entscheiden, ob er dieses Angebot annimmt. Nachdem all diese Vorschläge innerhalb der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf verletzt nämlich auch den Vertrau- ensschutz der Bürger in den Staat. Die vollständige Steu- erbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislatur- periode bis 2009 gesetzlich festgelegt worden. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wurden zahlreiche mittelständischen Unternehmen in den Bank- rott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Frauen und Mädchen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote ver- bessern – Unterrichtung durch die Bundesregierung: Lage der Frauen mit Behinderungen in der Europäischen Union Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit Behinderungen in der Europäischen Union (2006/2277(INI)) (Tagesordnungspunkt 12) Antje Blumenthal (CDU/CSU): Im März 2007 hat Deutschland das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen unterschrieben. Vor knapp einem Monat – also fast zwei Jahre später – ist diese Konvention nun endlich in Deutschland in Kraft getreten. Endlich, möchte man sa- gen, weil sich darin alle Unterzeichnerstaaten verpflich- ten, Menschen mit Behinderungen nicht als Problemfälle zu betrachten, sondern sie als gleichberechtigte Träge- rinnen und Träger von Rechten wahrzunehmen. Wie je- dem Mensch stehen auch ihnen die gleichen Rechte zu. Dieses Verständnis ist leider nicht überall selbstverständ- lich. Denn Menschen mit Behinderungen wollen kein Mitleid, sondern notwendige Unterstützung zur Selbst- bestimmung. Sie sind ein Teil unserer gesellschaftlichen Vielfalt, sie wollen und können ihren Teil dazu beitra- gen. Diesem Gedanken wird mit dem UN-Abkommen über die Rechte der Menschen mit Behinderung nun endlich Rechnung getragen. Die Konvention ist ein Mei- lenstein – nicht etwa, weil wir dadurch neue Rechte in Deutschland für Menschen mit Behinderungen veran- kern. Nein! Vielmehr, weil sich alle Unterzeichner darin verpflichten, längst bestehende Rechte und Gesetze an- zupassen und sie Menschen mit Behinderungen zugäng- lich zu machen! Das ist das Ziel der UN-Konvention und genau das tun wir mit dem Antrag, den wir heute hier ab- schließend beraten. Wir wollen Gesetze und Rechte nicht neu schaffen, sondern bestehende Regelungen so gestalten, dass sie auch für Menschen mit Behinderun- gen zugänglich sind. Einen ersten Schritt dahin haben wir mit dem Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen getan. Dieser Aktionsplan be- fasst sich unter anderem mit Frauen und Mädchen mit Behinderungen. Dieser Fokus wurde gelegt, weil Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfach diskrimi- niert sind und häufiger als andere Gewalt erleben müs- sen. Schätzungen gehen davon aus, dass nahezu 80 Pro- zent der Frauen und Mädchen mit Behinderungen Opfer von psychischer oder physischer Gewalt werden. 23712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) Die Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, dagegen an- zukämpfen. Wir wollen die Rechte der Frauen und Mäd- chen mit Behinderungen auch im gewaltbezogenen Kon- text umsetzen. Wie Sie dem Antrag entnehmen können, machen wir dazu Vorschläge in vier Bereichen: Erstens fordern wir die wissenschaftliche Untermauerung durch eine Studie, zweitens schlagen wir konkrete Maßnahmen zur Prävention von Gewalt und Übergriffen gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen vor, drittens wollen wir die Weiterbildung für Betreuende intensivie- ren und viertens fordern wir bessere situationsgerechte Hilfesysteme für die Betroffenen. Wir wollen verlässliche Zahlen und Daten! Das ist unser erstes Kernanliegen. Das Familienministerium hat bei der Uni Bielefeld bereits eine dreijährige Studie in Auftrag gegeben. Sie soll uns Ausmaß und Umfang von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen aufzeigen. Wichtig ist dabei besonders, wie die Gewalt geartet ist, wo die Übergriffe passieren und von wem die Gewalt verübt wird. Mit dem vorliegenden Antrag wol- len wir erreichen, dass dem Parlament ein Zwischenbe- richt dieser wissenschaftlichen Studie vorgelegt wird. Wir wollen einen Zwischenbericht, weil wir nicht bis 2011 auf den Endbericht warten und die Hände in den Schoß legen wollen. Wir wollen schon jetzt handeln! Daher fordern wir auch die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Be- hinderungen als Arbeitsschwerpunkt für das kommende Daphne-Programm der EU angeregt werden kann. So könnten wir unsere Politik für Menschen mit Behinde- rungen über nationale Grenzen hinaus auf die europäi- sche Ebene tragen. Unser zweiter Schwerpunkt im Antrag ist die Präven- tion. Das Forschungsprojekt „SELBST – Selbstbewusst- sein für behinderte Mädchen und Frauen“ des Familien- ministeriums ist dafür ein guter, ein erster Schritt. In diesem Projekt wurden Qualitätsanforderungen für Übungen und Kurse entwickelt, die das Selbstbewusst- sein von Frauen und Mädchen mit Behinderungen stär- ken sollen. Genau in diese Richtung gehen auch unsere Vorschläge zur Prävention: So fordern wir unter ande- rem eine zielgruppenspezifische Sexualerziehung. Sexualaufklärung und Sexualerziehung müssen auch für Menschen mit geistigen Behinderungen selbstverständ- lich werden. Nur so können sie im Rahmen ihrer Mög- lichkeiten befähigt werden, Übergriffe als solche zu er- kennen und sich zur Wehr zu setzen. Das Bewusstsein der Mädchen und Frauen muss dafür geschärft werden, wo sexuelle Übergriffe beginnen und welche Folgen sie haben. Es geht bei Sexualaufklärung aber nicht nur um di- rekte Gewaltprävention. Vielmehr ist sie die Grundlage für sexuelle Selbstbestimmung. Schließlich trägt Sexua- lität ganz wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Identitätsfindung und damit auch zur Selbstbe- stimmtheit bei. Wir wollen die Frauen und Mädchen mit Behinderungen damit unterstützen, ihre Selbstbestim- mung so weit als möglich umzusetzen. Wenn wir Frauen und Mädchen mit Behinderungen unterstützen wollen, müssen wir auch ihr Umfeld stär- ken. Dazu gehört in erster Line – und das ist der dritte Schwerpunkt unseres Antrages –, Betreuungspersonal zu schulen. Wir setzen auf Fortbildung und Wissensvermitt- lung für diejenigen, die Menschen mit Behinderung pro- fessionell betreuen. Durch Modellprojekte wollen wir sie unterstützen, damit sie gerüstet sind, um Präventions- maßnahmen zu ergreifen. Sie sollen einen Leitfaden er- halten, der ihnen hilft, Gewalt und sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu er- kennen und zu handeln. Sie sollen wissen, welche Thera- pien und Maßnahmen sie bei Menschen mit Behinderun- gen einleiten können, die Opfer von Gewalt wurden. Doch damit nicht genug. Uns reicht es nicht, das di- rekte soziale Umfeld der betroffenen Frauen und Mäd- chen zu schulen und zu sensibilisieren. Wir möchten die gesamte Öffentlichkeit auf dieses Thema aufmerksam machen. Ganz im Sinne des UN-Übereinkommens for- dern wir, die Bürgerinnen und Bürger durch geeignete Kampagnen und Projekte zu sensibilisieren. Das Thema muss öffentlich gemacht werden, damit die Öffentlich- keit auch handeln kann! Trotz der Intention unseres Antrags, trotz des Über- einkommens über die Rechte der Menschen mit Behin- derungen, trotz des Aktionsplans II der Bundesregierung und vielen weiteren Initiativen: Wir werden es wohl nie vollständig verhindern können, dass Menschen mit Be- hinderungen und besonders die Frauen und Mädchen Opfer von Gewalt oder sexuellen Übergriffen werden. Wir hoffen, dass es uns heute und in Zukunft mit diesem Antrag gelingen wird, die Zahl der Übergriffe zu verrin- gern. Deshalb machen wir in unserem Antrag Vor- schläge, was verbessert werden soll, um Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu unterstützen, wenn ih- nen bereits Leid zugefügt wurde. Darum fordern wir in unserem vierten Themenkom- plex, bestehende Hilfen den Bedürfnissen der Betroffe- nen anzupassen: Wir wollen, dass der Zugang zu psy- chologischer und psychotherapeutischer Behandlung für diese besondere Gruppe gesichert wird. Wir wollen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen – auch barrie- refrei – entsprechende Angebote wahrnehmen kön- nen.Wir wollen, dass alle – ganz gleich ob Rollstuhlfah- rerin, Blinde oder Lernschwache – die Wege zur Polizei, in eine Beratung oder ins Frauenhaus bewältigen kön- nen. Uns geht es – wie dem UN-Übereinkommen – da- rum, die Handlungsspielräume für Frauen und Mädchen mit Behinderungen auf ihrem Weg zur mehr Selbstbe- stimmtheit und Teilhabe so groß wie möglich zu gestal- ten. Ich denke, dass wir mit dem vorliegenden Antrag ei- nen Teil dazu beitragen können. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Bei mei- nen Besuchen in Einrichtungen, in denen behinderte Menschen leben, wird mir von Pflegekräften und Ange- hörigen immer wieder gesagt: Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen ist ein enormes Problem. Das Thema ist komplex, die Problemlagen sind viel- schichtig, und vor allem spricht man nicht darüber. Das Thema ist tabuisiert. Es muss aber dringend in die Öffent- lichkeit und umfassend diskutiert werden, wie Gewalt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23713 (A) (C) (B) (D) gegen behinderte Frauen und Mädchen verhindert und bekämpft werden kann – im Interesse und für das Wohl- ergehen der betroffenen Frauen und Mädchen. Gewaltfreiheit ist einer der zentralsten Grundwerte unserer Gesellschaft. Die Ausübung von Gewalt verletzt Menschen in ihren gesetzlich verbürgten Grundrechten und beschränkt sie in ihrer Entfaltung und Lebensgestal- tung. Alle Studien auf diesem Gebiet zeigen, dass Frauen quer durch alle Altersgruppen, sozialen Schichten und ethnischen Zugehörigkeiten in einem hohen Ausmaß von Gewalt betroffen sind. Mit dem ersten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen 1999 wurde in Deutschland ein Gesamtkonzept entwickelt, dessen Erfolge sich sehen lassen können, sei es das Gewalt- schutzgesetz, Projekte gegen häusliche Gewalt oder das Gesetz zur gewaltfreien Erziehung. Die Gruppe der behinderten Frauen und Mädchen hat hier aber noch nicht genügend Beachtung gefunden. Die Datenlage ist schwierig. Es gibt noch keine reprä- sentativen Daten oder wissenschaftlichen Untersuchun- gen zum Thema Gewalt gegen behinderte Frauen und Mädchen. Doch man geht davon aus, dass 80 Prozent der Frauen mit Behinderungen zu Opfern von physischer oder psychischer Gewalt werden. Sie sind oft von Mehr- fachdiskriminierungen betroffen. Sie sind in höherem Maße als andere Frauen der Gefahr sexueller Gewalt ausgesetzt. Und Gewalt kommt bei behinderten Frauen nicht nur häufig vor, sondern ist oft selbst die Ursache für die Behinderung. Die Täter und manchmal auch Tä- terinnen kommen meistens aus dem sozialen Umfeld der behinderten Frauen und Mädchen. Die Übergriffe finden im häuslichen Bereich und in Einrichtungen statt oder auf Fahrten zu Schule oder Werkstatt. Dabei wird die vorhandene Abhängigkeitssituation ausgenutzt. Geistig behinderte Frauen und Mädchen sind oft un- genügend sexuell aufgeklärt und wissen über sexuelle Gewalt nicht Bescheid. Wenn es zu Übergriffen kommt, können sie sich oft nicht verständlich mitteilen, oder das Betreuungspersonal kann die Mitteilung nicht richtig einschätzen. Dies stellt die Bekämpfung dieser Gewalt vor vielschichtige Probleme, und man muss hier ganz anders ansetzen als bei Fällen von Gewalt gegen nicht- behinderte Frauen und Mädchen. Die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen wird auf nationaler und internationa- ler Ebene verfolgt. Neben der auf internationaler Ebene im Jahr 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechts- konvention sind die EU-Ebene, die Europaratsebene sowie die nationale Ebene zu nennen. Um in Deutschland die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention voran- zutreiben, haben wir diesen Antrag auf den Weg gebracht. Wir sind der Auffassung, dass die Benachteiligung und Mehrfachdiskriminierungen von geistig und körperlich beeinträchtigten Frauen und Mädchen viel stärker als bislang in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden müssen. Die UN-Konvention über die Rechte von Men- schen mit Behinderungen hat das Ziel, die Chancengleich- heit der Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, ihre Grundrechte zu garantieren und ihnen umfassende Teilhabe in der Gesellschaft zu fördern. In Art. 6 der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Be- hinderungen heißt es: 1. Die Vertragsstaaten erkennen an, dass behinderte Frauen und Mädchen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind und ergreifen in dieser Hinsicht Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie alle Men- schenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt und gleichberechtigt genießen können. 2. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maß- nahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen und Mädchen, damit gewährleistet wird, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können. Deutschland hat die Konvention ratifiziert und verpflich- tet sich damit zur Umsetzung. Frauen mit Behinderung nehmen so im zweiten Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erstmals grö- ßeren Raum ein. Im Rahmen dieses zweiten Aktionsplans wird es eine Untersuchung der Bundesregierung zu Aus- maß und Umfang der Gewalt gegen Frauen mit Behinde- rungen geben. Die Studie soll über drei Jahre hinweg den häuslichen, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie die ambulanten und stationären Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe untersuchen. Diese Untersuchung wird dringend gebraucht; denn es wird deutlich, dass sich Erkenntnisse aus dem Bereich der häuslichen Gewalt gegen nichtbehinderte Frauen nicht einfach übertragen lassen. Eine Verbesserung der Datenlage ist dringend notwendig. Auch an zielgruppenspezifischem Aufklärungs- material mangelt es. Gewalt gegen behinderte Frauen ist nicht altersspezifisch. Sie kann sich bis ins hohe Alter fortsetzen oder gar erst im höheren Lebensalter beginnen. Die Untersuchung wird auch hier nützlich sein; denn bei der Entwicklung von Maßnahmen gegen Gewalt muss die Altersverteilung der Betroffenen natürlich erkannt und berücksichtigt werden. Das Schlüsselwort bei der Bekämpfung von Gewalt heißt Prävention. Unser Ziel ist es, die Betroffenen im Vor- feld zu stärken. Mit dem entsprechenden Selbstbewusst- sein können behinderte Frauen und Mädchen Grenzüber- schreitungen und Übergriffen rechtzeitig entgegentreten. Bei der Präventionsarbeit sehr wichtig ist ein behinderten- gerechter Zugang zu Frauenberatungsstellen und Frauen- häusern. Alle Barrieren, die das Aufsuchen von Gewalt- beratungsstellen erschweren, müssen aus dem Weg geräumt werden. Damit ist nicht nur der uneinge- schränkte, hindernisfreie Zugang zu Beratungsstellen gemeint, sondern auch die Überwindung von sprachli- chen Missverständnissen, die im Rahmen der Beratung entstehen können. Ich denke hierbei an spezielle Beglei- terinnen und Begleiter und Ärztinnen und Ärzte, die in der Lage sind, die Kommunikation zwischen geistig behinderten Menschen und dem Beratungspersonal zu vermitteln. Die Fortbildung des Betreuungspersonals ist von ent- scheidender Bedeutung. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, Projekte und Modellversuche zu fördern, die die Fortbildung des Betreuungs- und Pflegepersonals 23714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) und der Ärzteschaft, die im Bereich Gewalt gegen behin- derte Frauen und Mädchen arbeiten, zum Ziel haben. Wir wollen weiterhin, dass die Öffentlichkeit mithilfe von Projekten und Kampagnen noch intensiver mit dem Thema „Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behin- derungen“ vertraut gemacht und dafür sensibilisiert wird. Wir wollen Menschen ermutigen, sich nicht mit Gewalt abzufinden, sondern ihr aktiv entgegenzutreten und sie wenn möglich zu verhindern. Und wir wollen Frauen, behinderte und nicht behinderte, darin stärken, ihre Rechte wahrzunehmen und ein Leben ohne Gewalt und Angst zu führen. Ina Lenke (FDP): Die Koalition stellt zu Recht in ih- rem Antrag fest, dass auch in Deutschland noch erhebli- che Defizite in der Analyse der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderung bestehen. Das wurde be- reits in einer Entschließung des Europäischen Parla- ments von April 2007 festgestellt. Wenn Deutschland bereits im Dezember 2006 unter anderem das Überein- kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifiziert hat, wusste die Große Koalition doch, dass sie eine Verpflichtung einge- gangen ist, die mit Leben hätte erfüllt werden müssen. Zweieinhalb Jahre sind bereits vergangen. Nun legen Sie von SPD und CDU/CSU dem Plenum diesen Antrag mit vielen Prüfaufträgen vor. Wenn es für Sie eine Ver- pflichtung ist und war, dass das Thema „Frauen und Mädchen mit Behinderung verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden“ muss – das ist ein Zitat aus ihrem Antrag –, kommt die Initiative reichlich spät. Der Antrag zeigt, dass Sie in dieser Legislaturperiode kein Konzept erarbeitet haben. Dass jetzt die Fraktionen von CDU/CSU und SPD ihre eigene Bundesregierung auffordern müssen, nun aktiv zu werden, verwundert. Der Antrag benennt zwar viele Probleme, aber kaum Konkretes zur Verbesserung der Situation von Frauen und Mädchen mit Behinderung. Zum Ende der Legislaturperiode die Bundesregierung aufzufordern, eine geplante Studie schnellstmöglich in Auftrag zu geben, bei der Entwicklung von entsprechen- den Maßnahmen die Altersverteilung in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen, Aufklärungsmaterial zu erarbeiten, öffentliche Kampagnen aufzulegen und zu prüfen, sich einzusetzen, ist an Substanz zu wenig. Was wollen Sie in dieser Legislaturperiode noch erledigen? Zum Beispiel sind die im SGB IX neu eingeführten Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Mäd- chen und Frauen mit Behinderungen im Rehabilitations- sport bis heute noch nicht in die Praxis umgesetzt wor- den. Das ist ein Versäumnis. Die FDP-Bundestagsfraktion hat im letzten Jahr in einem Entschließungsantrag, Bundestagsdrucksache 16/11243, die Bundesregierung aufgefordert, die deut- sche Übersetzung der Konventionen unter Mitarbeit der Menschen mit Behinderungen zu überarbeiten und die bereits angemahnten Übersetzungsfehler zu korrigieren. Mein Kollege Dr. Erwin Lotter hat bereits in der damali- gen Debatte zu Recht noch einmal deutlich gemacht, dass die Experten in der damaligen Ausschussanhörung eine gänzlich andere Realität der Hilfe- und Unterstüt- zungssysteme beschrieben, als die Bundesregierung das in ihrer Denkschrift zur Konvention dargestellt hatte. Es wird deutlich, mit welcher Verkennung der Situation und mit welch zurückhaltendem Handeln die Große Koali- tion dem Thema begegnet. Die Bundesregierung wird nach der Verabschiedung des Antrages also wieder eine Studie in Auftrag geben und Berichte erstellen. In der Sache sind wir uns einig, dass wir Frauen und Mädchen mit Behinderungen vor Gewalt und vor sexuel- len Übergriffe schützen müssen, damit sie nicht Opfer von Gewalt werden. Dass nicht die Menschen mit Be- hinderungen sich der Lebenswelt von Nichtbehinderten anpassen müssen, sondern die Lebenswelt so gestaltet werden muss, dass alle gleichberechtigt teilhaben kön- nen, ist die Position der Liberalen. In der kommenden Legislaturperiode sollten also nicht nur Prüfaufträge ver- geben werden, sondern die gesellschaftspolitischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen real verändert wer- den. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Heute war Girls’ Day. Eine tolle Initiative, wenn es um ernstgemeinte Verände- rungen statt um symbolische Aktionen ginge, wo sich Politikerinnen und Politiker kurzzeitig mit jungen Mäd- chen schmücken. Bei der nach Postleitzahlen angebote- nen Aktionssuche auf der Homepage www.girls-day.de wird man/frau staunen, wie viele Aktionen es gab. Wehe aber, man setzt bei der Aktionssuche noch einen Haken beim Kästchen „Nur rollstuhlgeeignete Veranstaltun- gen“. Die Angebote schmelzen schneller dahin als das Eis in der Sonne. Passend dazu die zeitliche Einordnung des Tagesordnungspunktes „Frauen und Mädchen mit Behinderung wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsan- gebote verbessern“ am späten Abend, sodass hier die Reden nur zu Protokoll gegeben werden. Dass Frauen mit Behinderungen nachweisbar in vie- len Lebensbereichen einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind, wissen wir spätestens seit dem im No- vember 2005 vom Familienministerium vorgelegten Gender-Datenreport. Das Tempo der Koalition, mit ge- eigneten Maßnahmen für Veränderung zu sorgen, ist „atemberaubend“. Nicht zu vergleichen mit dem Tempo von Maßnahmen zur Rettung von Banken. Immerhin: Die Entschließung des Europäischen Parlaments wurde am 10. Juli 2007 an die Ausschüsse des Bundestages überwiesen, und am 12. Februar dieses Jahres diskutier- ten wir in erster Lesung den Antrag der Koalition. Nicht wiederholen möchte ich meine positiven und kritischen Anmerkungen zum Antrag der Koalition in der Plenarrede vom 12. Februar. Insofern sind die dort benannten Forderungen der Linken weiterhin aktuell, und ich hoffe, dass Sie hier noch vor der Bundestags- wahl aktiv werden. Wie sieht es aber im „wirklichen Leben“ aus? Dazu ein Beispiel, über welches heute die Internetplattform www.kobinet-nachrichten.org unter der Überschrift „Aus Kostengründen ins Heim?“ berichtete: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23715 (A) (C) (B) (D) In einem Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Hamburg (Az. S 61 SO 328/08) geht es darum, ob eine junge, pfle- gebedürftige, aber immer selbstständig lebende Frau aus Kostengründen ins Heim gezwungen werden darf. Da- mit spielt erstmals in einem Rechtsstreit das Überein- kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eine wichtige Rolle. In dem Verfahren geht es um die persönliche Assistenz ei- ner jungen Frau, die die Freie und Hansestadt Hamburg nicht mehr bezahlen will. Sie hat deswegen verfügt, dass statt der erforderlichen Gelder für die persönliche Assis- tenz nur noch die Kosten für einen Heimplatz gezahlt werden sollen. Die Frau soll also nach dem Willen der schwarz-grün regierten Stadt gegen ihren Willen in ein Heim abgeschoben werden. Die Rechtsgrundlage dafür soll § 13 SGB XII sein, der den prinzipiellen Vorrang der ambulanten Versorgung für den Fall aushebelt, dass die stationäre Versorgung „zumutbar“ sei und die ambulante Versorgung erhebliche Mehrkosten verursacht. Nach Auffassung der jungen Frau stellt diese Be- stimmung einen Verstoß gegen Art. 19 des Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dar, der regelt, dass Menschen mit Be- hinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht ver- pflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Der Senat von Hamburg vertritt die Auffassung, dass das Menschenrechtsübereinkommen auch nach seiner Umsetzung ins deutsche Recht die Auslegung von So- zialrechtsnormen nicht beeinflussen könnte. Es handele sich ebenfalls nur um einfaches Gesetzesrecht und nicht um höherrangiges Recht. Eine andere Sichtweise sei schon aus Kostengründen abzulehnen. Der Unterschied zwischen Menschenrecht und „Wohlfahrt“ wird schlicht ignoriert. Hier, so auch meine Meinung, zeigt die Hansestadt eine bestürzende Ignoranz, was die Menschenrechte von Behinderten angeht. Die Einweisung dieser Frau gegen ihren Willen in ein Heim – und es handelt sich um kei- nen Einzelfall – ist vergleichbar mit einer freiheitsentzie- henden Maßnahme, weil sie das Selbstbestimmungs- recht der Betroffenen dramatisch einschränkt. Hier rächen sich auch die unsägliche „Denkschrift“ der Bun- desregierung in ihrem Gesetzentwurf zur Ratifizierung der Konvention, die mangelhafte Übersetzung und das fehlende Umsetzungsgesetz. Es reicht eben nicht, wenn die Koalition im vorliegenden Antrag auf die UN-Behin- dertenrechtskonvention, insbesondere auf Art. 6 „Frauen mit Behinderungen“ verweist. Dem Schulterklopfen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, müssen Taten zur Verbesserung der Lebenssitua- tion von Frauen und Mädchen – mit und ohne Behinde- rungen – folgen. Die Linke wird Ihrem Antrag zustim- men, und Sie können gewiss sein, sie wird sich auch für seine zügige Umsetzung engagieren. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Zeiten des Wahlkampfes kommen zuwei- len Themen auf die Tagesordnung, die ansonsten nur von der Opposition getragen werden. So freut es mich zum einen, dass die Bundesregierung sich aktuell einer Gruppe von Menschen annimmt, die Mehrfachdiskrimi- nierung ausgesetzt ist und trotzdem viel zu wenig Unterstützung erhält: Mädchen und Frauen mit Behinde- rungen werden in unserer Gesellschaft strukturell diskri- miniert und sind einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Zum anderen be- fürchte ich, dass dieses Engagement so schnell gehen wird, wie es auch gekommen ist. Seit 2007 werden die Gelder für eine Studie zum Ausmaß und Umfang von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen in der Haushaltsplanung vorgesehen. Diese Studie wird dringend gebraucht, denn die Wissenslücken auf diesem Gebiet sind groß. Ich frage mich nur, wie es sein kann, dass diese erst jetzt in Auftrag gegeben werden soll – noch schnell vor der Wahl? Die Antwort auf unsere Große Anfrage 16/9283 zeigt die großen Wissens- und Handlungslücken der Bundes- regierung, fünf Jahre nach Einführung des Behinderten- gleichstellungsgesetzes, auf. Im Abschnitt über die Ge- walterfahrungen von Frauen mit Behinderung kann die Bundesregierung nur antworten, dass sie keine repräsen- tativen Daten hat. Doch obwohl keine wissenschaftli- chen Untersuchungen vorliegen und wir dies nicht erst seit der Beantwortung der Anfrage wissen, hat die Bun- desregierung es bisher nicht geschafft, diese in Auftrag zu geben. Wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen hier gerne unterstützen, damit Sie bei der Themensetzung für die nun endlich kommende Studie auch nichts vergessen. Zwei Themenbereiche will ich kurz hervorheben: Unsere Große Anfrage verdeutlicht, dass die Bundes- regierung keine Erkenntnisse darüber hat, ob und wie häufig von der Justiz auch heute noch bei sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen auf den strafmildernden Paragrafen 179 StGB („Sexueller Miss- brauch widerstandsunfähiger Personen“) zugegriffen wird. Die Anwendungspraxis der §§ 177 und 179 StGB muss erhoben werden, denn es darf nicht sein, dass hier ein Unterschied zwischen Frauen mit und ohne Behinde- rung gemacht wird. Jede Person hat den Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Eine Widerstandsunfähig- keit ist allein aus dem Umstand der sogenannten geisti- gen Behinderung nicht abzuleiten. Die Bundesregierung darf nicht zulassen, dass der sexuelle Missbrauch behin- derter Menschen strafmildernd beurteilt wird. Wir wollen auch, dass bei der Erstellung der Studie auch der Bereich der Prävention besondere Beachtung erhält. Wir wissen leider, dass die initiierten Projekte nicht zur Anwendung kommen. Frauen und Mädchen mit Behinderungen befinden sich in einer starken Ab- hängigkeit zu anderen Personen, werden von der Gesell- schaft diskriminiert und stigmatisiert. Prävention sollte ihnen die Chance geben, neue Handlungsmöglichkeiten zu erfahren und diese in ihren Alltag einbringen zu kön- nen. Das halbherzige Engagement der Bundesregierung zeigt sich am vorgelegten Antrag. Obwohl es dem An- trag an einer klaren Linie fehlt, wollen wir ihn unterstüt- zen, damit hier endlich etwas passiert. Es muss aber end- 23716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) lich mit Nachdruck gearbeitet werden. Nehmen Sie die Anregungen aus unserer Großen Anfrage auf und ma- chen Sie was draus! Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Auf- gabenbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen (Ta- gesordnungspunkt 15) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich kann gut verstehen, dass Sie über den Antrag der FDP-Bundestagsfraktion mit dem etwas sperrigen Titel „Potenziale der Touris- musbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufgabenbündelung im Bundesministerium für Wirt- schaft und Technologie ausschöpfen“ nicht unbedingt re- den wollten. Er ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die FDP. Gestatten Sie mir, dass ich kurz auf den Sinn und Unsinn dieses Antrags und vor allem auf seine systema- tischen Mängel eingehe. Zunächst finde ich es schon bemerkenswert, wenn die FDP-Bundestagsfraktion ein halbes Jahr vor der Bundes- tagswahl einen Antrag stellt, in dem sie die Umstruktu- rierung von Bundesministerien mit all ihren Konsequen- zen fordert. Selbst wenn man den Antrag inhaltlich für unterstützenswert halten würde, wäre eine derartige Re- form zum jetzigen Zeitpunkt wenig zielführend, weil Änderungen gegebenenfalls von einer neuen Bundesre- gierung sofort wieder auf den Prüfstand gestellt würden. Ich bin der Auffassung, dass grundsätzliche Fragen der Gliederung der Ministerien zu Beginn einer Legislatur- periode angegangen werden sollten. Der zweite Punkt, der mich an der Ernsthaftigkeit die- ses Antrages zweifeln lässt, betrifft das Wörtchen „Ent- wicklungszusammenarbeit“. Im Antrag der FDP wird die Bundesregierung aufgefordert – ich zitiere –: „durch die Konzentration der touristischen Aufgaben im Bun- desministerium für Wirtschaft und Technologie die Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungs- zusammenarbeit auszuschöpfen.“ Warum sollen denn die Potenziale der Tourismusbranche nicht durch eine generelle Konzentration der touristischen Aufgaben im BMWi ausgeschöpft werden? Also zum Beispiel auch aus der Umweltpolitik, Verkehrspolitik, Außenpolitik, Kulturpolitik, Familienpolitik und Bildungspolitik – um nur einige Beispiele zu nennen. Eine solche Änderung wäre dann ein wirklicher Systemwechsel, und darüber könnte man durchaus kontrovers diskutieren. Die Über- führung allein des Aspektes „Tourismus in Entwick- lungsländern“ ins Wirtschaftsministerium ist wenig sinnvoll und lässt systematisches Denken vermissen. Könnte die Fokussierung auf die Entwicklungspolitik – polemisch zugespitzt – vielleicht daran liegen, dass die FDP kein Interesse an einem starken Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat? Dass die FDP lieber die entsprechenden Kompetenzen beim Auswärtigen Amt und im Wirtschaftsministerium stärken will? Beides Ressorts, die die FDP nach der Wahl zu besetzen hofft. Ich sehe in der Konzentration des Antrags auf die Entwicklungspolitik jedenfalls nur Populismus und Taktieren. Schließlich ist jedem Ent- wicklungspolitiker bewusst, dass die spezifische Kennt- nis der Situation vor Ort in den Partnerländern sowie die Fachkompetenz zu den Ansätzen einer nachhaltigen Ent- wicklungspolitik nun einmal im Bundeswirtschaftsmi- nisterium höchstens ansatzweise vorhanden sind. Mehr Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit – dafür trete ich als Entwicklungspolitiker sehr gern ein. Ich bin aber auch der Meinung, dass die deutsche Entwicklungs- zusammenarbeit hier auf einem guten Weg ist. Ich vertrete weiterhin die Auffassung, dass die Förde- rung und Unterstützung des Aufbaus von touristischen Strukturen in Entwicklungsländern richtig und wichtig ist. Wir haben in diesem Bereich durchaus noch Nach- holbedarf – aber eben auch Fortschritte erreicht. Ich möchte dabei auf unseren Antrag „Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen im internationalen Ferntouris- mus“ verweisen, mit dem wir beschlossen haben, dass der Tourismus in Entwicklungsländern auf Wunsch der Partner zu einem Schwerpunkt im Rahmen der nachhal- tigen Wirtschaftsentwicklung erklärt werden kann. Ich würde mich deshalb freuen, wenn diese Ansicht im BMZ noch stärker verinnerlicht würde. So sollte zum Beispiel ein Vertreter des Entwicklungsministeriums zu- künftig an den Gesprächen des Tourismusbeauftragten zur Ressortkoordinierung teilnehmen. Das würde die Wahrnehmung untermauern, dass Tourismus durchaus Wachstumspotenziale in Entwicklungsländern generie- ren kann. Lassen Sie mich jedoch zurück zum grundsätzlichen Thema kommen: Wäre es nicht sinnvoll, wenn wir alle tourismusrelevanten Aspekte aus allen Ministerien im Bundeswirtschaftsministerium bündeln würden? Der Gedanke hat durchaus Charme: Bisher spielt Tourismus fast überall eine Rolle, aber eben nicht immer eine be- sonders starke. Eine Konzentration aller Kräfte in einem Ministerium könnte helfen, der Bedeutung des Touris- mus gerechter zu werden und die Interessen des Touris- mus stärker zu vertreten. Allerdings muss dann auch si- chergestellt werden, dass in den einzelnen Ministerien touristische Aspekte auch weiterhin „mitgedacht“ wer- den. Das Thema ist grundsätzlich eine Überlegung wert, aber nicht so einfach, wie es sich die FDP hier macht. Ich möchte den Gedanken hinter dem Antrag der FDP gar nicht beiseite schieben. Es geht ihr ja offensichtlich um eine Stärkung des Tourismus auf der Regierungs- ebene. Lassen Sie mich dazu aus meiner Sicht zunächst die Ist-Situation analysieren: Seit dieser Legislatur- periode haben wir erstmals einen Beauftragten der Bun- desregierung für Tourismus, bei dem die Fäden der Tou- rismuspolitik zusammenlaufen. Ich bin der festen Überzeugung, und da wird mir auch Ernst Burgbacher zustimmen, dass wir diesen Beauftragten für Tourismus sowohl in seiner Funktion als auch in der Person von Ernst Hinsken zukünftig für unsere Tourismuspolitik nicht mehr missen möchten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23717 (A) (C) (B) (D) Durch den Beauftragten für Tourismus ist die Touris- muspolitik der Bundesregierung sehr viel sichtbarer ge- worden. Wir haben für die Anliegen und Rahmenbedin- gungen der Branche deutlich mehr Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit erfahren. Natürlich wünsche auch ich mir manchmal, dass die Erkenntnisse, die wir gemeinsam im Tourismusausschuss gewonnen haben, sofort eins zu eins von der Bundesregierung übernommen und in Poli- tik umgesetzt werden. Ich gestehe selbstkritisch ein, dass wir nicht alle ambitionierten Ziele erreichen und durch- setzen konnten. Aber Politik ist das Bohren dicker Bret- ter, und in der Tourismuspolitik sind die Bretter viel- leicht besonders dick – oder die Bohrer etwas stumpf. Vor diesem Hintergrund bewerte ich die Initiativen unseres Ausschusses zu wichtigen Tourismusthemen wie Geschäftsreisen, barrierefreiem Tourismus, Kreuzfahrt- tourismus, Fahrradtourismus usw. und deren Umsetzung durch die Bundesregierung als wichtige Unterstützung für die Tourismusbranche und vor allem das Reiseland Deutschland. Zudem war die Erstellung der tourismus- politischen Leitlinien ein Meilenstein für unseren Poli- tikbereich. Denn erstmals wurde eine verbindliche Rich- tungsvorgabe zum Tourismus vom Bundeskabinett beraten und beschlossen. Das ist unser Grundfahrplan, den man gemeinsam ausgestalten und mit Leben erfüllen kann. Ich weiß sehr wohl um die Kritik daran: Manch eine Branche fühlt sich nicht ausreichend einbezogen, manch eine Formulierung erscheint als zu schwammig. Aber es kann auch kein Ziel von Leitlinien sein, die Branchen durchzudeklinieren und deren Anliegen und Wünsche nachzubeten. Es geht hier doch vielmehr um grundsätzli- che Richtungsvorgaben. Wenn es also an der einen oder anderen Stelle Interpretationsspielräume gibt, dann las- sen sie uns diese Spielräume nutzen, indem wir damit unsere Anliegen und weitergehenden Ideen begründen und unterstützen! Zum Abschluss möchte ich gern festhalten, was wir von der Union uns für den Bereich der Tourismuspolitik in der Bundesregierung für die Zukunft wünschen. Erstens. Wir treten für eine Stärkung und Weiterent- wicklung des Tourismusbeauftragten der Bundesregie- rung innerhalb des Bundeswirtschaftsministeriums ein. Wir wollen, dass der Beauftragte für Tourismus institu- tionell stärker verankert wird und mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme, aber auch zur öffentlichkeitswirksa- men Arbeit für die Tourismusbranche erhält. Zweitens. Wir wollen die Tourismuspolitik im Wirt- schaftsministerium personell verstärkt wissen. Eine Möglichkeit wäre eine deutliche personelle Aufstockung der tourismusrelevanten Referate oder aber die Schaf- fung eines neuen Referats. Drittens. Wir wünschen uns eine Stärkung der Koor- dinierungsfunktion des Tourismusbeauftragten gegen- über den anderen Ressorts. Wir möchten, dass der Tou- rismusbeauftragte in die Lage versetzt wird, die Tourismusinteressen in den verschiedenen Politikberei- chen auch gegenüber den anderen Ministerien mit größe- rem Nachdruck zu vertreten. Er sollte die Federführung für alle Bereiche der Tourismuspolitik haben. Viertens. Last but not least treten wir für eine signifi- kante Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für Tourismus zur touristischen Vermarktung des Reiselan- des Deutschland ein. Das tun wir auch deshalb, weil wir der Auffassung sind, dass die Schönheit, die Qualität und das gute Preis-Leistungs-Verhältnis unseres Landes im Ausland – trotz der unbestrittenen Erfolge – noch nicht bekannt genug sind. Wenn wir diese Ziele gemeinsam umsetzen, bedeutet das einen Quantensprung in der Tourismuspolitik auf Bundesebene. Es versetzt uns in die Lage, die Vorgaben der tourismuspolitischen Leitlinien mit Leben zu erfül- len und die Interessen der Menschen, die in Deutschland vom Tourismus leben, nachhaltig und kraftvoll zu unter- stützen. Dr. Reinhold Hemker (SPD): Ich freue mich immer, wenn eine Fraktion im Deutschen Bundestag ein wichti- ges Thema aufgreift. Dies trifft besonders dann zu, wenn die Zielsetzung des Antrages darauf ausgerichtet ist, die Situation von Benachteiligten und sozial Schwächeren in Entwicklungsländern zu verbessern. Das gilt natürlich auch für den Antrag der FDP „Potenziale der Tourismus- branche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Auf- gabenbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen“ (Bundestagsdrucksache 16/8176). Allerdings sind viele Punkte im Analyseteil des FDP-Antrages bereits vor über einem Jahr hier im Bundestag bei der Behandlung des Koalitionsantrages „Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen im interna- tionalen Ferntourismus“ (Bundestagsdrucksache 16/4603) diskutiert und dann auch verabschiedet worden. Bedauerlich ist, dass mit den berechtigten Anliegen und der damit verbundenen weitgehend treffenden Ana- lyse der Potenziale des Tourismus im vorliegenden An- trag der FDP eine grundlegend verfehlte Forderung verbunden wurde. Denn die meisten im Rahmen der Ent- wicklungszusammenarbeit zu fördernden Projekte liegen in der Verantwortlichkeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der verschiedenen staatlichen oder nichtstaatlichen Aus- führungsorganisationen. Wenn es um umweltbezogene Maßnahmen – etwa zum Schutz der Biosphäre – geht, sind das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und das Umweltministerium zuständig. Auch in diesem Be- reich sind in den letzten Jahren viele gute Projekte ver- wirklicht worden, die für die Weiterentwicklung des Tourismus in den Entwicklungsländern förderlich waren und sind. Es wäre völlig verfehlt, alle Aufgaben, deren Schwer- punkte in den verschiedenen Ministerien weiterentwi- ckelt worden sind, ausschließlich im Ministerium für Wirtschaft und Technologie zu konzentrieren, wie es die Kolleginnen und Kollegen der FDP im vorliegenden An- trag zentral fordern. Es käme ja auch niemand auf die Idee, alle Sicherheitsfragen, die in den verschiedenen 23718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) Bereichen unserer Gesellschaft eine Rolle spielen, aus- schließlich im Innenministerium zu konzentrieren. Unserem Tourismusbeauftragten, dem Kollegen Ernst Hinsken, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommt bei der Umsetzung der bereits Anfang 2008 in dem von mir bereits erwähnten Koalitionsantrag verab- schiedeten – und auch in den Auschüssen verhandelten – Beschlüsse eine wichtige Koordinationsfunktion zu. In der damaligen Debatte und in den Ausschussbera- tungen ist deutlich gemacht worden, dass für die Zukunft noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Insbesondere für die Entwicklungsländer und die Unterstützung von Vorhaben im Bereich Tourismus müssen noch mehr Mit- tel aufgebracht werden. Es kann angeknüpft werden an den positiven Erfahrungen in verschiedenen Projekten, insbesondere in den Bereichen, in denen die Fachleute des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) schon gute Erfahrungen gesammelt haben. Wir haben es bereits in der Debatte im Ausschuss ge- fordert, und ich wiederhole es: Für eine Weiterentwick- lung unserer Tourismuspolitik in diesem Bereich ist nicht eine Übertragung der Aufgaben des BMZ zum BMWi nötig. Es geht vielmehr um die Stärkung der Rolle des Tourismusbeauftragten und des Tourismusreferates im BMWi. Dabei sollten andere Ressorts, in denen es Tou- rismusprojekte gibt, ihre unterstützende Funktion weiter ausbauen. Nur so kann kohärente Tourismuspolitik unter Beteiligung aller beteiligten Ressorts gelingen. Ein Umdenken der Bundesregierung ist daher nicht nötig. Vielmehr geht es darum, den eingeschlagenen Weg parlamentarisch zu unterstützen. Nicht erst die auf der ITB 2007 vorgestellte Studie „Tourismus in Entwicklungsländer“ des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung e. V. hat aufgezeigt, welche erheblichen Potenziale es beim nachhaltigen Ausbau des Tourismussektors in Entwicklungsländern gibt. Dass Ferntourismus traditionelle, naturverträgliche Wirtschaftsformen unterstützen und zur Erhaltung der Naturpotenziale der Entwicklungsländer, zu einer Wie- derbelebung traditioneller Werte und Gebräuche sowie zur Stärkung des Selbstbewusstseins und der kulturellen Identität beitragen kann, ist heute unstrittig. Wir konnten beobachten, dass eine der Folgen eines nachhaltigen Tourismus fast immer auch ein positiver sozialer Wandel in den Entwicklungsländern ist, der aus der Eröffnung neuer Tätigkeitsfelder hinsichtlich der so- zialen Schichtzugehörigkeit oder der Rolle der Frauen resultiert. Die von der Bundesregierung im Bereich der Förde- rung des nachhaltigen Tourismus durchgeführten Pro- gramme und Projekte zeigen bereits jetzt Wirkung. So ist in den letzten Jahren etwa die Zahl der Touristen in Na- tur- und Nationalparken vieler Entwicklungsländer, in deren Umfeld Art und Zahl der Unterbringungsmöglich- keiten erheblich verbessert wurden, stark angestiegen. Negative Effekte des Tourismus in ökonomischer, ökologischer, sozialer und kultureller Hinsicht sollen verhindert bzw. eingedämmt werden. Natur und Land- schaft müssen besser geschützt werden. Darin sind wir uns mit den Antragstellern einig. Ich rufe aber noch ein- mal in Erinnerung, dass wir dies bereits vor über einem Jahr im Bundestag diskutiert und beschlossen haben. Im Ergebnis der heute angestellten Überlegungen müsste man der FDP raten, ihren Antrag zurückzuzie- hen. Denn wie gezeigt wurde, befinden wir uns bereits auf einem guten Weg, den wir auch in der nächsten Le- gislaturperiode fortsetzen wollen. Ernst Burgbacher (FDP): Die FDP-Bundestags- fraktion hat den Antrag „Potenziale der Tourismusbran- che in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufga- benbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausschöpfen“ vorgelegt mit dem Ziel, die bisherige Förderpolitik im Bereich Tourismus und wirt- schaftliche Zusammenarbeit grundlegend zu korrigieren und ein schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln, mit dem gezielt Schwerpunkte gesetzt und nur die effizien- testen Projekte gefördert werden. Unser Anliegen ist es insbesondere, durch eine Kon- zentration der touristischen Aufgaben im Bundesminis- terium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungs- zusammenarbeit auszuschöpfen und damit die Effizienz der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Entwicklungs- ländern und den dort lebenden Menschen nachhaltig zu verbessern. In Kooperation mit der Tourismuswirtschaft geht es außerdem darum, bestehende Maßnahmen fort- zuentwickeln, um ein entschiedenes Vorgehen gegen „Sextourismus“ zu gewährleisten. Der Ferntourismus war und ist eine bedeutende Quelle von Wirtschaftswachstum in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die heutigen Schwellenländer haben vom Ferntourismus als einem der ersten Devisenbringer profitiert, ebenso wie es die heutigen Entwicklungslän- der tun. Daher gilt es, den Ferntourismus mehr als bisher als Wachstumsmotor für die heutigen Entwicklungslän- der zu stärken. Der Marktanteil des Ferntourismus hat vor allem in den Entwicklungsländern in den vergange- nen Jahren kontinuierlich zugenommen und ist damit für einige Länder die Haupteinnahmequelle für Devisen. In ihrer Zukunftsstudie „TourismVision 2020“ erwartet die Welttourismusorganisation (UNWTO) weltweit 1,6 Mil- liarden Touristenankünfte und Ausgaben der Reisenden in Höhe von 2 Billionen US-Dollar im Jahr 2020. Insbe- sondere die Entwicklungs- und Schwellenländer werden als Begünstigte dieser Entwicklung gesehen. Nach Schät- zungen des Worldtravel und TourismCouncil (WTTC) hängen derzeit weltweit 234,3 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Das sind rund 8,7 Prozent aller Arbeitsplätze. Der Tourismus leistet bereits heute einen zentralen Beitrag für die wirtschaftliche Entwicklung in Entwick- lungsländern zur Sicherung sowie Schaffung von Ar- beitsplätzen. Insbesondere periphere, strukturschwache Regionen in den Entwicklungsländern sind auf den Tou- rismus angewiesen, da dieser oftmals die einzige realisti- sche Option für wirtschaftlichen Aufschwung und wir- kungsvolle Armutsbekämpfung darstellt. Zudem ist der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23719 (A) (C) (B) (D) Tourismus aufgrund seiner Dienstleistungsorientierung eine der arbeitsplatzintensivsten Wirtschaftsbranchen überhaupt, da die Subventionierung von Arbeitskraft durch Technik im Tourismus nur in sehr begrenztem Umfang möglich ist. Schließlich bietet der Tourismus eine Vielzahl von Arbeitsplätzen mit niedrigen und mitt- leren Qualifikationsansprüchen. Hier ergibt sich insbe- sondere für Menschen mit niedrigem Ausbildungs- und Bildungsstand die Chance auf neue bzw. alternative Ein- kommensquellen sowie die Möglichkeit der Weiterquali- fizierung. Damit bietet der Tourismus in Entwicklungs- ländern die Chance, das Wertschöpfungspotenzial gerade auch in ländlichen Räumen deutlich zu steigern. Menschen in Entwicklungsländern, die in der Touris- musbranche ein Auskommen und eine berufliche Per- spektive finden, haben ein persönliches und gesellschaft- liches Interesse, eine intakte Umwelt für eine weiterhin prosperierende wirtschaftliche Entwicklung ihres Lan- des zu erhalten. Fehlen solche Einkommensalternativen, geht dies oftmals mit der Zerstörung ökologisch wertvol- ler Regenwälder oder Feuchtgebiete einher, die dann zum Beispiel für landwirtschaftliche Nutzung bean- sprucht werden. Die Bundesregierung muss gemeinsam mit der Tou- rismuswirtschaft und insbesondere den Reiseveranstal- tern im Bereich der Angebots-, Produkt- und Preisgestal- tung Förderschwerpunkte für die touristischen Märkte in Entwicklungsländern entwickeln. Vor allem der Auf- rechterhaltung bestimmter Qualitätsstandards vor dem Hintergrund des steigenden Preisdrucks sowie dem Thema Sicherheit wird hier eine besondere Bedeutung beigemessen. Wichtig sind weiterhin die verstärkte För- derung nachhaltiger Tourismusformen sowie ein verbes- serter Informationsservice für Touristen. Innerhalb der Bundesregierung und vor allem im Bun- desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) muss ein Umdenken stattfinden. Das Handlungsfeld Tourismus darf in der deutschen Ent- wicklungszusammenarbeit nicht länger als nachrangige Angelegenheit empfunden und eingestuft werden. Tou- rismus muss perspektivisch als eigenständiges bzw. quer- schnittsorientiertes Handlungsfeld innerhalb der deut- schen Entwicklungszusammenarbeit etabliert werden. Die heute immer noch übliche Förderung des BMZ nach dem „Gießkannenprinzip“ ohne schlüssiges Gesamtkon- zept oder Strategie ist ineffizient und sollte überarbeitet werden. Dazu sind die Evaluierung und das Monitoring der Tourismusvorhaben und die Entwicklung eines über- geordneten Leitbildes und die Festlegung von Zielgrup- pen erforderlich. Weiterhin sollte die Schaffung von ge- eigneten Rahmenbedingungen für die Durchführung von Tourismusprojekten erfolgen. Dazu sollten Länder und Regionen festgelegt werden, die Schwerpunkte für eine gebündelte und stärker koordinierte Zusammenarbeit bil- den. Zudem ist die Intensivierung der Forschungstätig- keit im Handlungsfeld Tourismus sinnvoll. Schließlich ist die strategische und inhaltliche Weiterentwicklung der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit erforderlich. Durch die Konzentration der touristischen Aufgaben im BMWi sind die genannten Ziele effektiver als heute zu verwirk- lichen, da neben entwicklungspolitischen Aspekten auch weitere fachpolitische Bereiche berührt werden. Ich bitte Sie im Interesse einer gestärkten und ziel- orientierten deutschen Tourismuspolitik, dem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion zuzustimmen. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Am 4. Mai wird in Ha- vanna eine internationale Tourismusmesse eröffnet. Gastland ist diesmal die Bundesrepublik Deutschland. Rechtzeitig lud der Tourismusminister der Republik Kuba eine Delegation des Tourismusausschusses zu die- ser Messe ein. Der Ausschuss nahm die Einladung an und bestätigte noch auf der ITB am 12. März in Berlin dem Minister persönlich sein Kommen, nachdem Sie, verehrter Herr Präsident, diese Reise genehmigt hatten. Trotzdem wird kein Vertreter der Bundesrepublik Deutschland an der Tourismusmesse in Havanna teilneh- men, denn inzwischen wurde die Reise aus fadenscheini- gen Gründen auf Betreiben der Koalition abgesagt. Das ist nicht nur peinlich, sondern auch ein Beispiel, wie Potenziale der Tourismuswirtschaft in der Entwicklungs- zusammenarbeit nicht genutzt werden. In einem stimmen wir der FDP zu: Die Tourismus- politik und der Tourismus als einer der größten Wirt- schaftsbereiche werden in Deutschland stiefmütterlich behandelt. Es beginnt bei der Bundesregierung. Der Rei- seweltmeister BRD hat kein eigenes Tourismusministe- rium, das Wort „Tourismus“ kommt im zuständigen Mi- nisterium für Wirtschaft und Technologie nicht vor, der Minister und seine Staatssekretäre fühlen sich für die Tourismuswirtschaft nicht bzw. kaum zuständig. Es gibt einen Tourismusbeauftragten, unseren sehr rührigen Kollegen Ernst Hinsken, welcher aber kaum über Ent- scheidungskompetenzen, Personal und Finanzen verfügt. Tourismus ist unbestritten ein Querschnittsthema, und daraus folgt zwangsläufig, dass auch andere Ressorts mit tourismusrelevanten Fragen beschäftigt sind, auch das Entwicklungsministerium. Insofern gibt es logische und sinnvolle Aufgabenverteilungen zwischen den Ministe- rien, aber auch unakzeptable. Dazu zwei Beispiele: Die Förderung des barrierefreien Tourismus einschließlich der viel zu geringen Förderung der NatKo ist im Ge- sundheitsministerium angesiedelt. Dafür gibt es keine inhaltliche Begründung. Wenn, dann sollte sich dieses Ministerium mehr mit Fragen des Gesundheitstourismus und von Kurreisen befassen. Zweitens finde ich unakzeptabel, dass sich die Bun- desregierung in keiner Weise für Schulfahrten und kaum für den Kinder- und Jugendtourismus interessiert und stattdessen lediglich auf die Länder verweist. Insofern erwarte ich durchaus mit der nächsten Koalitionsverein- barung Veränderungen bei Zuständigkeiten und Stellen- wert der Tourismuspolitik, egal wer nach der nächsten Bundestagswahl die Regierungsverantwortung über- nimmt. Dass Sie, liebe Kollegen von der FDP, sich sehr fürs Wirtschaftsministerium, aber überhaupt nicht für die Entwicklungspolitik interessieren, spürt man auch bei dem vorliegenden Antrag. Von den wirklichen Zusam- menhängen zwischen nachhaltiger Entwicklungs- und Tourismuspolitik scheinen Sie keine Ahnung zu haben. Insofern empfehle ich Ihnen, sich bei Fachleuten von EED Tourism Watch, bei den Teilnehmerinnen und Teil- 23720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) nehmern des Weltsozialforums 2009 in Brasilien und den Organisatoren des brasilianischen Netzwerkes für solidarischen und gemeindebasierten Tourismus – Turi- sol – zu informieren. Auch in der deutschen Tourismus- wirtschaft gibt es Leute mit Kompetenz, ich denke da zum Beispiel an den Chef des Berliner Reiseunterneh- mens „Lernidee Erlebnisreisen“, Hans Engberding. Si- cher: In den Haushaltsberatungen war ich ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen er- staunt, wie viele Kleinst- und Kleinprojekte das Ent- wicklungsministerium weltweit unter der Überschrift „Tourismus“ fördert. Eine Evaluierung und gegebenen- falls Konzentration der Mittel in Abstimmung mit den Tourismuspolitikern halte ich für sinnvoll. Die Übergabe dieses Bereiches an das Wirtschaftsministerium – so die Forderung der FDP – lehnen wir aber unter den gegen- wärtigen Bedingungen ab. Krisen verführen auch immer zu egoistischem Verhal- ten, zur Nabelschau. So freuen wir uns einerseits, dass zunehmend mehr Menschen für ihren Urlaub keine Fern- reise, sondern eine Reise im Inland buchen. Das stärkt die heimische Tourismuswirtschaft und ist meist auch ökologischer. Andererseits verschärft dieser Trend die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise gerade in den ärmsten Ländern der Welt. Deswegen stehen auch wir vor der Herausforderung, nicht nur Kleinstprojekte des Wirtschaftsministeriums unter der Überschrift „Kon- zentration“ zu streichen, sondern eher auch zu umfang- reicheren und damit nachhaltigeren Projekten zu entwi- ckeln. Auch das eine oder andere Vorhaben der deutschen Tourismuswirtschaft ist unterstützenswert. In- sofern – und hier verweise ich noch einmal auf den Be- ginn meiner Rede – haben wir mit der Absage der Kuba- Reise weder der Tourismuswirtschaft in Kuba noch den dort engagierten deutschen Tourismusunternehmen ei- nen guten Dienst erwiesen. Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Welt, ein riesiges Geschäft, das auch in der Entwick- lungszusammenarbeit klar von unseren, den westlichen Interessen dominiert wird. Aus den Industrieländern kommen die Ferienreisenden. Hier haben auch die gro- ßen Tourismuskonzerne ihren Sitz. Neben vielen positiven Effekten für die Entwick- lungs- und Schwellenländer hat das Thema Tourismus in der Entwicklungszusammenarbeit aber auch seine Schat- tenseiten: So bleiben laut Berechnung des Arbeitskreises Tourismus & Entwicklung in Basel nur 42 Prozent des Preises, der für eine Pauschalreise nach Südafrika ge- zahlt wird, auch in Südafrika. Weniger entwickelte Län- der können oftmals sogar nur 10 Prozent der Einnahmen aus dem Tourismus zurückhalten. Es kann nicht angehen, dass Tourismusförderung in Entwicklungs- und Schwellenländern dazu führt, dass es in immer mehr Ländern vergleichbare Angebote gibt: Strände, Luxushotels und „verwechselbare“ Touristenat- traktionen. Das kostet Geld für aufwendige Infrastruktu- ren: Straßen, Flughäfen, Wasser- und Stromversorgung, all das oder auch ein Golfplatz in der Wüste trägt aber den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung kaum Rechnung. Das kann nicht unser Ziel sein! Aus meiner Sicht geht es vielmehr darum, innovative Tourismuskonzepte zu fördern, die Natur und Umwelt als schützenswertes Kapital in Wert setzen und die das Wissen um Natur- und Kulturerbe beleben und erhalten. Wir sind gegen eine weitgehend vom Privatsektor und von internationalen Ketten geprägte Dynamik der touris- tischen Entwicklung in Entwicklungs- und Schwellen- ländern! Abenteuer, Luxus, „Öko“ oder Schnäppchen – die Tourismusindustrie setzt auf immer wieder neue Trends. Aber es geht um die Menschen mit ihrer Kultur, die in Tourismusgebieten in Entwicklungs- und Schwellenlän- dern leben: Tourismus bringt Hoffnung, neue Perspekti- ven, aber auch brutale Ausbeutung und Menschenrechts- verletzungen. Das nehmen wir in der Hochglanzwelt der Urlaubskataloge nicht gerne zur Kenntnis. Ich glaube, liebe Kollegen von der FDP, bezüglich Ih- rer Forderung der Konzentration der finanziellen Mittel auf zukunftsweisende Projekte haben wir durchaus un- terschiedliche Vorstellungen. Nicht die großen Hotel- ketten, insbesondere kleine und mittlere Hotels und Restaurants haben hervorragende Arbeitsplatzbilanzen. Regionale Wirtschaftskreisläufe stärken, dass muss auch touristisch in der Entwicklungspolitik unser Ziel sein. Ein positives Beispiel für Entwicklungszusammenarbeit im Tourismus ist Tobago. Hier ist es gelungen, die Ein- künfte der Bauern durch den Verkauf ihrer Agrarpro- dukte an die Hotels binnen eines Jahres nahezu zu ver- doppeln. Das Leitbild des nachhaltigen Tourismus ist bislang der Rahmen für das Engagement der deutschen Entwick- lungspolitik im Tourismus. Ich finde, das ist richtig so! Finanzielle Mittel darf es nur für sozial gerechte, kultu- rell angepasste, ökologisch tragfähige und, ganz wichtig, für die ortsansässige Bevölkerung wirtschaftlich sinn- volle und ergiebige Projekte geben. Wir dürfen hier nicht rein wirtschaftlichen Interessen folgen. Deshalb gehören die Mittel für Tourismus und Entwicklungszusammen- arbeit auch nicht ins BMWi. Tourismuspolitik ist und bleibt eine Querschnittsauf- gabe, auch wenn wir uns grundlegende Gedanken da- rüber machen sollten, welche Wertigkeit wir hier in Ber- lin dem Tourismus zugestehen. Ohne Herrn Hinsken zu nahe zu treten, ein einzelner Tourismusbeauftragter im BMWi ohne wirkliche Anbindung an den Ministeriums- apparat wird auch in meinen Augen einem der wichtigs- ten Wirtschaftszweige politisch nicht gerecht. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes (Zusatz- tagesordnungspunkt 9) Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Der vorlie- gende Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungs- schutzes ist das Ergebnis von über einem Jahr intensiver parlamentarischer Beratung. Aus Überzeugung kann ich sagen, diese mitunter anstrengende Tätigkeit hat sich gelohnt. Von der Einführung des sogenannten P-Kontos Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23721 (A) (C) (B) (D) – das ist ja der Kern der Reform – können alle beteilig- ten Interessengruppen profitieren. Schuldner wie Gläu- biger, die Kreditwirtschaft, die öffentlichen Haushalte, die Gerichte und nicht zuletzt auch die große Gruppe der Selbstständigen, die bislang keinen nennenswerten Kontopfändungsschutz hatte. Neudeutsch könnte man über den Gesetzentwurf also sagen, er schafft eine „Win-Win-Situation“. Das war aber nicht von Anfang an so. Zwar möchte ich nicht auf Hans Christian Andersen und seine Geschichte vom häss- lichen Entlein zurückkommen, aber in den 15 Monaten seit der ersten Lesung haben wir den Entwurf schon sehr verbessert. Ob er ein ausgewachsener Schwan wird, muss sich dann erweisen. Im September 2007 war der Regierungsentwurf bei seiner Vorstellung auch auf Kritik und ablehnende Worte gestoßen. Auch ich hatte durchgreifende Bedenken und habe mich bei der ersten Lesung im Januar 2008 sehr kritisch geäußert. Warum ich den Entwurf nun entgegen der ursprünglichen Kritik für gelungen halte, möchte ich anhand der Positionen der eingangs erwähnten Interessen- gruppen erläutern: Erstens. Schuldner: Die Teilnahme am modernen Wirtschaftsleben steht im Zusammenhang mit dem höchsten Gut unserer Verfassung – der Menschenwürde. Wenn nun das P-Konto dafür sorgt, dass weniger erfolg- lose Kontopfändungen ausgebracht werden, dann wird dies zu weniger Kontokündigungen und so zu geringerer Kontolosigkeit führen. Dies haben auch die Banken durch den Zentralen Kreditausschuss signalisiert. Hierzu war aber zunächst erforderlich, dass wir das P-Konto praxistauglich ausgestalteten. Mein erster Kritikpunkt, dass es keine zwei parallelen Vollstreckungsverfahren geben dürfe, damit das Prozedere vereinfacht werden kann, wurde dadurch ausgeräumt, dass ab 1. Januar 2012 nur noch das P-Konto gilt. Wir alle hoffen nun – und wir erwarten das auch –, dass es aufgrund der Einführung des P-Kontos zu weniger Kontokündigungen kommt als bis- lang. Zweitens. Gläubiger: Auch die Gläubiger können vom P-Konto profitieren, denn Schuldnerschutz muss nicht automatisch zulasten der Gläubigerinteressen gehen. Grundsätzlich liegt es sogar im Interesse des Gläubigers, dass der Schuldner sein Konto behält, denn nur so kann dieser weiterhin am Wirtschaftsleben teilnehmen und seinen Schuldnerverpflichtungen nachkommen. Die größte Gefahr für die Gläubigerinteressen hatte ich in den vielen evidenten Missbrauchsmöglichkeiten gesehen, die in dem Ursprungsentwurf begründet waren. Die Gefahr des vollstreckungsvereitelnden Gebrauchs von P-Konten wurde beseitigt. Dazu gehört nicht nur, dass die Banken im Rahmen ihrer Informationspflicht darauf hinweisen werden, dass eine Mehrfachnutzung von P-Konten strafbar ist. Ich habe mich im Laufe der Beratungen auch mit CDU-Kollegen aus dem Finanz- ausschuss für einen effektiven Kontrollmechanismus eingesetzt. Dieser wurde nun im Rahmen einer Schufa- Abfrage eingeführt: Wird die Eröffnung eines P-Kontos beantragt, so kann die Bank bei der Schufa abfragen, ob bereits ein weiteres P-Konto bei einer anderen Bank be- steht. Falls nicht, wird das neue P-Konto registriert. Auf- grund einer Selbstverpflichtung werden alle deutschen Kreditinstitute von diesem Kontrollinstrument Gebrauch machen. Das liegt nicht nur im Interesse der Gläubiger und Banken, sondern dient auch der weit überwiegenden Mehrzahl der redlichen Schuldner. Das P-Konto soll nicht durch einige wenige Betrüger in Verruf geraten. Wenn nun jemand meint, man soll nicht nur das Schlechte im Menschen sehen, so hat er recht. Wenn Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ansehen, welche unseriösen Angebote zum P-Konto schon jetzt im Internet zu finden sind, dann ist die Überlegung, Missbrauch zu verhindern, schon nachvollziehbar. Dabei wird es bei den meisten Angeboten ohnehin nur darum gehen, die Interessenten „abzuzocken“. Ich finde, die Gläubiger haben es bereits heute schwer genug, gerichtlich anerkannte und titulierte Forderungen durchzusetzen. Deshalb habe ich mich im Laufe der Beratungen sehr dafür eingesetzt, dass die – ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten – Eigentumsinteressen nicht aus den Augen verloren werden. Deshalb wurde auf Bestreben der Union ein Bestimmungsrecht des Gläubigers eingeführt: Hat ein Schuldner rechtswidrig mehrere P-Konten eröffnet, so kann der Gläubiger das Konto mit dem geringsten Guthaben als P-Konto bestim- men und in die übrigen in voller Höhe vollstrecken. Drittens. Selbstständige: Besonders wertvoll am Ent- wurf ist auch die Tatsache, dass er für die bislang schlecht geschützte Gruppe der Selbstständigen einen ei- genständigen Kontopfändungsschutz einführt. Dies ist nicht nur ein Signal, sondern eine wichtige Unterstüt- zungsmaßnahme für den Mittelstand – in wirtschaftlich leider nicht einfachen Zeiten. Viertens. Die Kreditwirtschaft: Mit dem P-Konto bekommt die Kreditwirtschaft ein praktikables und we- niger pfändungsintensives Kontomodell an die Hand. Dieses kann zu deutlichen Einspareffekten führen. Die Preise für die Kontoführung können die Banken künftig mit geschützten Beträgen verrechnen. Deshalb besteht nun kein Bedürfnis mehr für Kontokündigungen. Hierin liegt für die Banken eine große Chance. Wenn das P-Konto nämlich mit Blick auf die Reduzierung der Kontolosig- keit zum Erfolgsmodell wird, muss man nicht mehr über ein „Girokonto für Jedermann“ nachdenken. Der damit einhergehende gesetzlich vorzuschreibende Kontrahie- rungszwang hat in unserer sozialen Marktwirtschaft, in der der Grundsatz der Vertragsautonomie gilt, meiner Meinung nach ohnehin nichts zu suchen. Fünftens. Öffentliche Haushalte: Letztendlich dürften nicht nur die erwähnten Interessengruppen, sondern wir alle von der Einführung des P-Kontos profitieren. Denn nach den Schätzungen gehen bislang deutlich mehr als die Hälfte aller Kontopfändungen auf die öffentliche Hand zurück, und dies oft wegen Kleinstbeträgen. Hier- durch entstehen jedes Jahr immense Kosten für den Steuerzahler. Das P-Konto mit seinem monatlich garan- tierten Sockelfreibetrag wird hier Abhilfe schaffen. Zu- dem besteht die Möglichkeit, bei dauerhaft vermögenslo- sen Schuldnern die Unpfändbarkeit des Kontoguthabens für bis zu 12 Monate anzuordnen. Deshalb hoffe ich, dass 23722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) der vorliegende Entwurf in diesem Hohen Hause eine breite Unterstützung finden wird. Dirk Manzewski (SPD): Dem Girokonto kommt auf- grund des zunehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs in der heutigen Zeit eine immer stärkere Bedeutung zu. Die im Zusammenhang mit der Pfändung von Guthaben immer häufiger vorkommenden Kündigungen von Giro- konten sind deshalb besonders problematisch. Die Gründe für die Kündigungen haben ihre Ursache dabei in der weitreichenden Blockadewirkung, die durch solch eine Kontopfändung ausgelöst wird, und natürlich in den Kosten, die hierdurch anfallen. Das Ansinnen der Bundesregierung, hier eine Verbesserung zu erreichen, ist daher völlig richtig, zumal das meist hieran anschlie- ßende Verfahren auf Pfändungsschutz einen ungeheuren Aufwand für die Vollstreckungsgerichte bedeutet, der oft genug dazu führt, dass eben kein rechtzeitiger Schutz ge- währt wird. Die Reform hatte daher von Anfang an das berech- tigte Ziel, einerseits für einen effektiveren Schutz des Schuldners zu sorgen und andererseits aber auch das Bankkonto als Objekt für den Zugriff von Gläubigern zu erhalten. Ich bin der Auffassung, dass der Gesetzentwurf dieses Ziel vor allem nach den zahlreichen Beratungen unter uns Rechtspolitikern und den hierdurch erfolgten Änderungen erreicht hat. Die der Existenzsicherung dienenden Einkünfte von Schuldnern werden künftig auf dem sogenannten Pfän- dungsschutzkonto gutgeschrieben. Dem Schuldner wird hierdurch geholfen, da er einen automatischen Kon- topfändungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrags er- hält, also die Geldgeschäfte des täglichen Lebens trotz Pfändung weiter vornehmen kann. Da das künftige Recht alle Einkünfte betrifft, werden hiervon übrigens erstmalig auch Selbständige profitieren können. Wir haben auch sichergestellt, dass das Verrechnungs- verbot für überwiesene Sozialleistungen und Kindergeld im Kontokorrent auch im Hinblick auf das Pfändungs- schutzkonto erhalten bleibt. Das folgt dem Grundgedan- ken, dass Sozialleistungen und Kindergeld besonders schutzwürdig sind und dem Betroffenen zur Existenz- sicherung selbst bei einem debitorisch geführten Konto zur Verfügung stehen sollten. Dieser automatische Pfän- dungsschutz wird – dies ist wichtig – allerdings nur für ein Girokonto gewährt. Dies macht die Sache für alle Beteiligten einfacher. Die Befürchtung, der Pfändungsschutz könnte durch Führen mehrerer Konten ausgehöhlt werden, hat sich meiner Meinung nach durch entsprechende Veränderun- gen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf ein Minimum reduziert – was den Gläubigern weiterhelfen wird. Ich nenne nur die Möglichkeit der Schufa-Abfrage, ob ein weiteres P-Konto besteht, das Bestimmungsrecht des Gläubigers, welches Konto des Schuldners beim unrechtmäßigen Vorliegen mehrerer P-Konten als Pfändungsschutzkonto anzusehen ist, und die individua- lisierten Voraussetzungen zur Eröffnung eines solchen P-Kontos. Ich finde, dass das Verfahren auch relativ un- kompliziert ausgestaltet und der Aufwand der Banken in einem vertretbaren Rahmen gehalten worden ist. Soweit ich in der ersten Lesung noch Probleme gese- hen habe, ob wir den Kreditinstituten mit dem neuen Verfahren nicht zu viel Aufwand aufbürden, haben sich für mich diese Bedenken im Laufe des Gesetzgebungs- verfahrens zerstreut. Indem unter anderem der Gutglau- bensschutz der Banken bei vorzulegenden Nachweisen verbessert wird und einheitliche Schutzregeln für alle Freibeträge festgelegt werden, wird vielmehr eine Ver- einfachung für die Kreditwirtschaft stattfinden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir ha- ben ein interessantes Gesetzgebungsverfahren hinter uns und sind nach meiner Auffassung nach intensiver Bera- tung zu einem vernünftigen Ergebnis gelangt. Ich würde mich freuen, wenn Sie diese Auffassung teilen könnten und dem Gesetzentwurf zustimmen würden. Mechthild Dyckmans (FDP): Dem Kontopfän- dungsschutz kommt in unserer Wirtschaftsordnung eine große Bedeutung zu. Der bargeldlose Zahlungsverkehr hat in alle Bereiche des Lebens Einzug gehalten. Bürge- rinnen und Bürger, die vom bargeldlosen Zahlungsver- kehr ausgeschlossen sind, erfahren damit erhebliche Ein- schränkungen in ihrem alltäglichen Leben. Die Versagung der Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsver- kehr ist heute mit vielfältigen gesellschaftlichen und fi- nanziellen Problemen verbunden. Die FDP-Bundestags- fraktion begrüßt es daher, dass die Bundesregierung eine Initiative vorgelegt hat zur Reform des Kontopfändungs- schutzes. Das geltende Recht zeigt hier dringenden Re- formbedarf auf und offenbart unvertretbare Härten für Schuldner, Gläubiger und Banken. Der Schuldner sah sich immer wieder mit der Gefahr konfrontiert, dass die Bank sein Girokonto kündigt, weil ein Gläubiger das Guthaben pfänden will. Der Schuldner war dann ge- zwungen, gerichtlichen Rechtsschutz einzuholen, um den notwendigen Pfändungsschutz zu erhalten. Die Bundesregierung hat hierzu bereits 2007 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der von der Zielrichtung getra- gen war, den Schutz bei Kontopfändungen zu verbes- sern. Letztendlich hat es der Gesetzentwurf jedoch nicht vermocht, die unterschiedlichen Interessen von Schuld- nern und Gläubigern einerseits und den Kreditinstituten andererseits in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Anstatt das Verfahren insgesamt zu vereinfachen, sah der Gesetzentwurf insbesondere für die Kreditinstitute erhebliche Mehrbelastungen in Form von Kontroll- und Prüfpflichten vor. Zu Recht sah sich der Gesetzentwurf daher auch massiver Kritik aus Wissenschaft und Praxis ausgesetzt. Im Gesetzgebungsverfahren haben wir auf diese Kri- tik reagiert und den Gesetzentwurf an zahlreichen Stel- len erheblich geändert. Die FDP-Bundestagsfraktion hat von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Reform nur dann zustimmungsfähig sein kann, wenn sie zu einem sachgerechten Ausgleich der Interessen von Schuldnern und Gläubigern führt. Darüber hinaus haben wir gefor- dert das Verfahren so auszugestalten, dass hinsichtlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23723 (A) (C) (B) (D) der bereits bestehenden Regelungen zur Kontenpfän- dung Verfahrenserleichterungen für alle Beteiligten ein- treten. Der Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung wird diesen Vorgaben nunmehr gerecht. Er schafft Klar- heit, dass ab 2012 der Kontopfändungsschutz nur noch für das Pfändungsschutzkonto gewährt wird. Damit ent- fällt das Nebeneinander von Pfändungsschutzkonto und bisherigem Kontopfändungsschutz. Diese Regelung wird zu einer wesentlichen Vereinfachung in der Praxis führen. Verbesserungen aus der Sicht des Gläubigers tre- ten ein durch den Abbau von Missbrauchsmöglichkei- ten. So soll beispielsweise regelmäßig eine Schufa-Ab- frage erfolgen, ob bereits ein Pfändungsschutzkonto des Kunden besteht. Auch für die Kreditinstitute wird der Gesetzentwurf zu Vereinfachungen führen. So wird bei- spielsweise der gute Glaube der Bank im Hinblick auf die vom Schuldner für die Erhöhung der Freibeträge vor- zulegenden Nachweise geschützt. Besonders erwähnen möchte ich auch, dass bei Vermögenslosigkeit des Schuldners die Anordnung der Unpfändbarkeit des Kon- toguthabens bis zu 12 Monate gelten kann. Ein Vorteil für die Banken ist auch die Möglichkeit der Verrechnung der Kontoführungspreise mit den geschützten Beträgen. Es freut mich, dass nun auch die Kreditwirtschaft ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf signalisiert hat. Das zeigt, dass der Interessenausgleich geglückt ist. Der Gesetzentwurf folgt ganz bewusst nicht der For- derung nach der Einführung eines „Girokontos für Jeder- mann“. Ich bin mir aber sicher, dass die Regelung das Girokonto für viele sichert, die bisher vom bargeldlosen Zahlungsverkehr ausgeschlossen wurden. Der Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses zum „Girokonto für Je- dermann“ vom Dezember 2008 zeigt zudem, dass die Anzahl der Girokonten in Deutschland stetig ansteigt. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Selbstver- pflichtung der Banken zur Bereitstellung von Girokon- ten wirkt. Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzent- wurf heute zustimmen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Das, was die Große Koalition hier vorschlägt, ist nicht der große Wurf. Sie gehen den zweiten Schritt vor dem ersten. Sie wollen ein Pfändungsschutzkonto einführen, ohne gleichzeitig zu regeln, dass jeder, der ein Konto eröffnen möchte, dies auch tun kann. Das Pfändungsschutzkonto und das Giro- konto für jedermann sind untrennbar miteinander ver- bunden. Deshalb wird sich meine Fraktion heute enthal- ten. Verstehen Sie mich nicht falsch, das Pfändungs- schutzkonto ist sinnvoll. Das gegenwertige Pfändungs- schutzrecht ist viel zu kompliziert, aufwändig und bietet keinen wirksamen Schutz für Schuldner. Eine Kon- topfändung entzieht dem Schuldner die Möglichkeit, über sein Guthaben zu verfügen. Er kann nicht nur kein Geld mehr abheben, auch seine Daueraufträge bzw. Ein- zugsermächtigungen für Miete, Telefon etc. werden nicht ausgeführt. Deshalb ist die Einführung eines Pfän- dungsschutzkontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im Falle der Pfändung weiter verfügbar bleibt, grundsätz- lich zu begrüßen. Damit wird die Lage von Schuldnern deutlich verbessert, ohne die notwendige Abwägung mit den Gläubigerinteressen zu vernachlässigen In einem Sozialstaat darf niemand kahl gepfändet werden. Auch einem Schuldner muss immer so viel Geld bleiben, dass seine Existenz gesichert ist. Es gibt keine per se guten Schuldner und bösen Gläubiger. Denken Sie nur an das Kind, das von seinem Vater Unterhalt verlangt oder an das Opfer einer Gewalttat, das Schadenersatz geltend macht. Der Gläubiger hat einen rechtskräftigen Titel ge- gen den Schuldner. Alle materiellrechtlichen Fragen wurden bereits in einem Gerichtsverfahren geklärt. Im Zeitpunkt der Pfändung geht es nur noch um eine Inte- ressensabwägung zwischen dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch des Gläubigers auf eine effektive Durchsetzung seiner bestehenden Forderungen und dem ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten Existenz- minimum des Schuldners. Die Einführung eines Pfän- dungsschutzkontos stellt nichts anderes als eine solche Interessensabwägung dar. So sinnvoll das Pfändungsschutzkonto ist – es setzt voraus, dass der Schuldner überhaupt über ein Konto verfügt. Nur im Zusammenhang mit einem Recht auf Kontoeröffnung macht das Pfändungsschutzkonto erst richtig Sinn und wird zu einer runden Sache. Sonst wer- den auch weiterhin alle Menschen, die nicht über ein Girokonto verfügen, wirtschaftlich und sozial ausge- grenzt. Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist in der heuti- gen Gesellschaft für die Teilnahme am Erwerbs- und Wirtschaftsleben nicht mehr wegzudenken. Die Mög- lichkeit des baren Zahlungsverkehrs wird immer weiter eingeschränkt und ist vor allem teurer als der bargeldlose Zahlungsverkehr. Viele Vermieter wollen eine Einzugs- ermächtigung sehen. Auch auf dem Arbeitsmarkt macht es sich schlecht, kein Konto zu haben. Welcher Arbeit- geber stellt einen heute noch ein, wenn er den Lohn dann bar auszahlen muss und damit mehr Aufwand hat? An- ders als die Regierungsparteien behaupten, wird sich die Notwendigkeit eines Rechts auf Kontoeröffnung durch die Einführung des Pfändungsschutzkontos nicht erledi- gen. Das Phänomen der Kontolosigkeit lässt sich nicht allein damit erklären, dass die Banken nach einer Kon- topfändung kündigen, weil ihnen ein Mehraufwand und erhöhte Kosten entstehen. Banken kündigen auch aus anderen wichtigen Gründen. Vor allem aber können sie die Eröffnung eines Kontos aus anderen Gründen ver- weigern. Mit armen Bankkunden lassen sich keine ge- winnbringenden Geschäfte machen, und auch ohne Pfändungsbeschluss kann eine Bank einen Bürger als nicht kreditwürdig ansehen. Deshalb brauchen wir ein Girokonto für jedermann. Es gibt auch keine rechtlichen Einwände gegen einen Abschlusszwang für die Banken. Dies ist nicht allein die Auffassung meiner Fraktion, dies wird auch vom Bun- desministerium der Justiz so vertreten. Sicher, ein Ab- schlusszwang greift in die grundrechtlich geschützte Vertrags- und Berufsfreiheit der Banken ein. Aber dieser Eingriff ist gerechtfertigt, da vernünftige Allgemein- wohlinteressen hierfür bestehen und der Eingriff verhält- nismäßig ist. Auf die wirtschaftliche und soziale Bedeu- 23724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) tung eines Kontos habe ich bereits hingewiesen. Die Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der Allgemeinwohlinteressen kann nur zuguns- ten des Allgemeinwohls ausfallen. Dies gebietet nicht zuletzt das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz, wonach der Gesetzgeber für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen hat. Es gibt auch keine milderen Mittel, die Banken dazu zu bringen, Konten einzurichten. Die „freiwillige Selbst- verpflichtungserklärung“ auf ein Konto für jedermann des Zentralen Kreditausschusses ist nicht verbindlich. Sie hat es deshalb auch nach über 13 Jahren nicht ge- schafft, das Problem der Kontolosigkeit zu überwinden. Die Kreditwirtschaft ist noch nicht einmal bereit, voll- ständige und verlässliche Angaben über die Anzahl der eingerichteten und verweigerten Girokonten für jeder- mann zu liefern. Die Schuldnerberatungsstellen beteuern regelmäßig, dass unbegründete Kontoverweigerungen und fehlende Verweise auf die Möglichkeit zur Be- schwerde gegen die Verweigerung keine Einzelfälle sind. Die Schätzung der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände geht von über 500 000, das Institut für Finanzdienstleistungen Hamburg sogar von über 1 Million Menschen ohne eigenes Girokonto aus. Das Thema „Girokonto für jedermann“ liegt seit lan- gem auf dem Tisch. Die zweijährig erscheinenden Be- richte der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfeh- lungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jedermann zeugen davon, dass sich seit Jahren nichts an der Problematik geändert hat. Während die Fraktion Die Linke bereits vor über drei Jahren, am 16. Februar 2006, einen Gesetzentwurf für eine gesetzliche Ver- pflichtung der Kreditinstitute eingebracht hat, hat die Bundesregierung eine Lösung des Problems immer wie- der hinausgeschoben. Wir fordern Sie daher auf: Führen Sie endlich das gesetzlich verankerte Recht auf ein Giro- konto für jedermann ein! Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Teilhabe am bargeldlosen Geldverkehr ist in einer mo- dernen arbeitsteiligen und hochtechnisierten Gesell- schaft wie der unseren eine Notwendigkeit für alle Men- schen. Ohne ein Girokonto für jedermann werden Tausende von Menschen vor schier unlösbare Probleme gestellt: bei der Arbeitssuche, bei der Anmietung von Wohnraum, beim Bezug von Energie und der Teilnahme an der Telekommunikation. Deshalb ist ein Girokonto für jedermann eine richtige Forderung. Seit über zehn Jahren reden wir darüber hier im Parlament – die aktu- elle Lage ist immer noch völlig unbefriedigend. Tausende von Menschen in Deutschland haben kein Girokonto, da die Banken den Abschluss eines Girokon- tovertrags ablehnen oder den Verwaltungs- und Kosten- aufwand bei gepfändeten Konten scheuen und deshalb die Girokonten der Betroffenen kündigen. Das ist ein un- haltbarer Zustand. Eine rechtlich bindende Verpflichtung der Banken, Girokontenverträge abzuschließen, gibt es nicht. Wir haben seit 1995 eine Selbstverpflichtung der Banken, jedem Interessenten ein Girokonto anzubieten, die jedoch nicht eingelöst ist; die Banken mit Ausnahme der Sparkassen haben sich nicht daran gehalten. Es wäre endlich Zeit, zu handeln. Der vorgelegte Gesetzentwurf zur Reform des Kon- topfändungsschutzes beschränkt sich auf die Einführung eines Pfändungsschutzkontos, des sogenannten P-Kon- tos, um vorhandenen Missstände zu beseitigen. In der Tat bringt der Gesetzentwurf auch viel Gutes: Nach mehreren Beratungen im Kreis der Berichterstatter und im Rechtsausschuss, an denen wir Grüne tatkräftig mit- gewirkt haben, bringt er erhebliche Verbesserungen für Menschen, die sich in der Zwangsvollstreckung befin- den. Girokontonutzerinnen und -nutzer haben auf Antrag nun einen Anspruch darauf, dass eines ihrer Konten als P-Konto geführt wird. Damit ist ein automatischer Pfän- dungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrags von 985,15 Euro monatlich verbunden. So ist – anders als heute – kein zeitraubendes Verfahren vor Gericht mehr nötig, um Kontopfändungsschutz zu erhalten. Dies be- grüßen wir ausdrücklich. Alle Arten von Einkünften sind nunmehr geschützt. Damit gibt es so erstmals auch Kon- topfändungsschutz für Selbstständige. Auch dies bewer- ten wir sehr positiv. Wir werden dem Gesetz deshalb heute zustimmen. Ob jedoch die Vorhersage der Bundesregierung ein- tritt, dass sich mit dem heute hier debattierten Gesetz faktisch auch die Forderung nach einem Girokonto für jedermann erledigt, bleibt abzuwarten. Für die Banken ergibt sich mit dem neuen P-Konto ein geringerer Ver- waltungs- und Kostenaufwand als beim bisherigen Pfän- dungsschutz. Das mag dazu führen, dass auch Menschen mit sehr geringem Einkommen und in prekären finan- ziellen Situationen Girokontenverträge abschließen kön- nen und die Banken bestehende Kontoverbindungen nicht wegen Pfändungsmaßnahmen kündigen. Wir wer- den die Auswirkungen des Gesetzes verfolgen und gege- benenfalls unsere Forderung nach einem Girokonto für jedermann erneuern. Das Thema Girokonto für jeder- mann kommt dann wieder auf die Tagesordnung. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Wir beraten heute in zweiter/ dritter Lesung einen Gesetzentwurf, den das Bundeskabi- nett bereits am 5. September 2007 beschlossen hat: den Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungsschutzes. Die Beratungen im Deutschen Bundestag haben rund 15 Monate in Anspruch genommen. Es bedurfte einiger Anstrengungen, die Interessen von Gläubigern und Schuldnern, der Justiz und der Kreditwirtschaft in diesem Bereich in Einklang zu bringen. Schuldnerinnen und Schuldnern soll mit dem Basis- pfändungsschutz auf dem Pfändungsschutzkonto die Möglichkeit erhalten werden, während und nach einer Kontopfändung weiter am Wirtschaftsleben teilzunehmen und das Konto zu nutzen. Wie wir alle wissen, geht heute ohne ein Girokonto fast gar nichts mehr. Um einen Mietvertrag, einen Stromlieferungsvertrag oder auch einen Arbeitsvertrag abzuschließen, benötigt man heutzutage den Nachweis einer Kontoverbindung oder die Erteilung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23725 (A) (C) (B) (D) einer Einzugsermächtigung für ein Girokonto. Kontolosig- keit ist mehr als nur ein Stigma; wer kein Girokonto hat, ist vom Wirtschaftsleben weitgehend ausgeschlossen und insoweit quasi handlungsunfähig. Auf dem Pfändungsschutzkonto erhält ein Schuldner für sein Guthaben nunmehr einen automatischen Basis- pfändungsschutz in Höhe seines Pfändungsfreibetrages. Das sind 985,15 Euro pro Monat bei Ledigen ohne Unter- haltsverpflichtungen. Die Pfändung bewirkt nun bis zur Höhe des Pfändungsfreibetrages keine Kontosperre mehr, die erst durch eine gerichtliche Schutzanordnung wieder aufgehoben werden müsste. Es kommt auch nicht mehr darauf an, aus welcher Art von Einkünften dieses Guthaben herrührt. Damit genießen künftig auch Selbst- ständige Pfändungsschutz für ihr Kontoguthaben. Jeder Kunde kann von seiner Bank oder Sparkasse verlangen, dass sein Girokonto als P-Konto geführt wird. Das Pfändungsschutzkonto nützt nicht nur den Schuld- nern, sondern wirkt sich auch positiv auf die Belange der Gläubiger aus. Denn der Schuldner, der weiter arbeiten und mit seinen pfandfreien Einkünften wirtschaften kann, hat letztlich auch eher eine Aussicht darauf, seine Schulden zu tilgen. Jede Person darf nur ein P-Konto einrichten und muss bei Einrichtung des P-Kontos versichern, dass er nicht schon ein P-Konto hat. Um einen Missbrauch zum Nachteil der Gläubiger von vornherein auszuschließen, können die Banken durch eine Schufa-Abfrage kontrol- lieren, ob diese Versicherung auch zutrifft. Ich freue mich, dass die Kreditwirtschaft angekündigt hat, diese Überprüfung auch flächendeckend durchzuführen, soweit die Kreditinstitute mit der Schufa zusammenarbeiten. Wir haben bei diesem Gesetzgebungsprojekt immer auch die Belange der Kreditwirtschaft und der Justiz im Auge behalten. Sie sind beide berechtigterweise daran interessiert, den Kontopfändungsschutz so effizient wie möglich auszugestalten. Deshalb begrüße ich die Empfeh- lung des Rechtsausschusses, den Kontopfändungsschutz ab 1. Januar 2012 nur noch über das P-Konto zu bewirken. In den langen und intensiven Beratungen um die Re- form des Kontopfändungsschutzes ging es in den letzten Monaten sehr viel um die Aufgaben der Banken. Es stellte sich die Frage: Womit kann die Kreditwirtschaft bei circa 350 000 Kontopfändungen monatlich bundes- weit am besten umgehen? Wir wollten mit dem P-Konto einen wesentlichen Anreiz für Banken setzen, die Geschäftsverbindung mit dem Kunden nicht wegen der Bürokratie bei der Pfändung zu beenden. Und ich meine, das ist uns auch gelungen. Wir haben mit dem Pfändungsschutzkonto ein gut handhabbares Instrument für den Kontopfändungsschutz auf den Weg gebracht. Die Kreditwirtschaft hat mir gesagt, dass die Funktionsweise des P-Kontos sich EDV- technisch gut umsetzen lässt. Den Banken werden keine Abwägungen im Einzelfall oder komplizierte Berechnun- gen zugemutet. Damit gelingt beim Pfändungsschutzkonto, was zuvor noch unmöglich schien: Vorgaben der Gerichte werden auf das Nötigste begrenzt, und die Verwaltung von Pfändungen insgesamt wird mehr an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgerichtet. Gerichtliche Entscheidungen über den Pfändungsschutz für ein Girokonto sind also nur noch im Ausnahmefall not- wendig. Dies freut nicht nur die Banken, sondern wird auch zu Entlastungen bei den Vollstreckungsgerichten und den Rechtsantragsstellen führen. Ich denke, die Länder werden dies gerne hören. In der gegenwärtigen Situation sind viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert, ob mit der Krise an den Finanzmärkten und in der Realwirtschaft mittelfristig auch ganz persönliche Schwierigkeiten verbunden sein werden. Arbeitslosigkeit kann gerade Familien schnell in die Überschuldung führen. Ich denke, mit der Reform des Kontopfändungsschutzes setzt der Deutsche Bundestag ein deutliches Zeichen. Auch gegenüber den globalen Fragen der Finanzkrise treten die ganz individuellen Belange der Bürgerinnen und Bürger nicht in den Hin- tergrund. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition (Tagesordnungspunkt 14) Eduard Lintner (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verabschiedet heute der Deutsche Bun- destag das Verbot der Streumunition. Das ist ein Schritt, der durchaus als historisch bezeichnet werden kann und der auch erneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik auf dem Gebiet der humanitären internationalen Rüs- tungskontrolle bestätigt, wobei nicht verschwiegen wer- den sollte, dass es gerade Abgeordnete dieses Hohen Hauses waren, nämlich die Kollegen von und zu Guttenberg und Weigel, die die Initiative dazu ergriffen haben. Deutsche Politiker und Diplomaten waren also schon an der Erarbeitung des Textes der Konvention maßgeblich beteiligt und – man muss es sagen – ihre Ar- beit hat sich gelohnt. Der vorliegende Gesetzesentwurf orientiert sich auch an realistischen Gesichtspunkten. Einerseits verbietet er Entwicklung, Produktion, Lagerung und Einsatz von Streumunition, erlaubt aber weiterhin die Verwendung der sogenannten Punktzielmunition. Die Punktzielmuni- tion ist ein vertretbarer Ersatz für die Streumunition. Da- mit ist ein realistischer Kompromiss zwischen humanitä- ren Erwägungen und militärischen Notwendigkeiten gefunden worden. Über die genauen Fähigkeiten und Einsatzszenarien der Punktzielmunition werden wir uns ja in den zuständigen Ausschüssen noch ausführlich un- terhalten. Die künftige Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, auch im Zusammenwirken mit unseren Verbündeten, wird somit nicht tangiert. Weitergehende Forderungen, wie sie etwa die Grünen erheben, sind unrealistisch. Sie würden faktisch darauf hinauslaufen, dass sich die Bun- deswehr aus Afghanistan und aus anderen Einsatzgebie- ten zurückziehen müsste, nur weil einige unserer Ver- 23726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) bündeten die Konvention noch nicht angenommen haben. Solche Positionen können keine Grundlage für eine vernünftige und verlässliche Außen- und Abrüs- tungspolitik sein. Die Wichtigkeit der Streumunitionskonvention wird eindrücklich demonstriert durch einen in der vergange- nen Woche veröffentlichten Bericht der Menschen- rechtsorganisation Human Rights Watch. Dort werden die Folgen des Einsatzes von Streumunition durch Russ- land und Georgien in dem Krieg zwischen den beiden Staaten im vergangenen Sommer eindringlich geschil- dert werden. Dutzende von Zivilisten sind in diesem Konflikt durch Streumunition getötet und verletzt wor- den. In den umkämpften Gebieten liegen immer noch Blindgänger, die eine anhaltende Gefahr für die Bevöl- kerung darstellen und den Wiederaufbau behindern. Vor allem Kinder und Frauen werden erfahrungsgemäß auch nach dem Einsatz solcher Munition oft zu Opfern der zahlreichen im Gelände vorhandenen Blindgänger. Hier wird die ganze Grausamkeit, die diesem Munitionstyp zu eigen ist, sichtbar. Die Studie zeigt auch, dass ein „verantwortungsvoller“ Einsatz von Streumunition nicht möglich ist, der Einsatz in bevölkerten Gegenden zieht immer auch zivile Opfer nach sich. Gerade Georgien und Russland möchte ich daher hier und heute dazu auf- fordern, der Streumunitionskonvention beizutreten und so ein Zeichen zu setzen, dass sie bereit sind, aus diesen Erfahrungen die Konsequenzen zu ziehen. Im Rahmen der Diskussion über eine Weiterentwick- lung der Konvention über konventionelle Waffen wer- den gegenwärtig alternative Wege zu einem völkerrecht- lichen Verbot von Streumunition erörtert. Auch diesen Prozess sollten wir unterstützen und damit Ländern, die aus welchen Gründen auch immer der Streumunitions- konvention nicht beitreten wollen, eine Alternative an- bieten. So zeigen die jüngsten Entscheidungen in den USA, wo die Möglichkeiten zum Export von Streumuni- tion im vergangenen Monat drastisch eingeschränkt wurden, dass es Länder gibt, die auf alternativen Wegen dasselbe Ziel verfolgen, das wir mit der Streumunitions- konvention erreichen wollen. Ein wichtiges Ziel der deutschen Außen- und Abrüs- tungspolitik muss es künftig sein, auch die Länder, die sich diesem Trend bislang noch verweigern, zu überzeu- gen, den von der Mehrheit der Staatengemeinschaft ein- geschlagenen Weg mitzugehen. Ebenso muss sich die deutsche Politik dafür einsetzen, dass allen Staaten, die ihre Bestände an Streumunition vernichten wollen, die dafür notwendige Technik und Expertise zur Verfügung steht. Daher ist es auch äußerst begrüßenswert, dass die Bundesregierung Ende Juni hier in Berlin eine interna- tionale Konferenz zu den praktischen Aspekten der Ver- nichtung von Streumunition durchführen wird. Dabei können wir auf unseren Umgang mit derartiger Munition verweisen. Von deutschen Firmen produzierte Streumu- nition wurde ausschließlich an die Bundeswehr geliefert, die sie nie eingesetzt hat und die ihre Bestände jetzt ver- nichten lassen wird. Gerade bei der Vernichtung solcher Munition hat sich Deutschland wiederum technisch her- vorgetan, sodass wir heute weltweit die effizienteste Technik für die Zerstörung dieser Munitionsart anbieten. Dabei hoffe ich, dass die anderen Unterzeichnerstaa- ten der Streumunitionskonvention dem deutschen Bei- spiel folgen und das Abkommen bald ratifizieren, damit so schnell wie möglich die entscheidende Schwelle von 30 Ratifikationsurkunden erreicht wird und die Konven- tion somit in Kraft treten kann. Das wäre mit Hinblick auf die teuflische Wirkung von Streumunition für Leben und Gesundheit einer großen Anzahl von Menschen eine gute Nachricht. Andreas Weigel (SPD): Es ist ein wichtiger und ein guter Schritt, dass der Deutsche Bundestag das im ver- gangenen Jahr verabschiedete Abkommen zur Ächtung von Streumunition hier und jetzt in zweiter und dritter Lesung so schnell und unverzüglich ratifiziert. Genauso wie die Bundesregierung die parlamentarische Initiative für dieses Abkommen aufgegriffen und bei den Verhand- lungen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich rund 100 Staaten auf ein umfassendes Verbot dieser entsetzli- chen Kampfmittel geeinigt haben, genauso konsequent setzen wir im Parlament nun die Initiative fort, um den Weg für die Ratifizierung schnellstmöglich freizuma- chen. Das Abkommen zur Ächtung von Streumunition tritt in Kraft, wenn es von 30 Staaten ratifiziert worden ist. So verbinden wir die heutige Debatte natürlich auch mit der Hoffnung, dass andere europäische Staaten in ähnli- cher Zügigkeit diese für die Abrüstung so wichtige Ini- tiative voranbringen. Und denjenigen Staaten, die nicht zu den Unterzeichnern gehören, wird deutlich gemacht: Hier geht es nicht um ein Lippenbekenntnis, hier wird ein Ziel – die weltweite Vernichtung der Streubombenar- senale – konsequent weiterverfolgt. Damit wird der öf- fentliche Druck, diesem Abkommen beizutreten, auf die Regierungen der Nichtunterzeichnerstaaten verstärkt. Wir schauen dabei natürlich mit Interesse auf die Verei- nigten Staaten. Nach der kompromisslosen Blockadehal- tung der Bush-Administration sehen wir mit Erleichte- rung und großer Hoffnung, wie die neue US-Regierung selbst die Initiative für Abrüstung und Rüstungskontrolle ergreift. Anfang März haben die Vereinigten Staaten mit der Einschränkung von Exportbedingungen für Streumu- nition schon den ersten Schritt getan. Das kann ein Schritt hin zum Ziel der Ächtung von Streumunition sein. Bei aller Freude über das, was geschafft worden ist und was nun vielleicht möglich wird, gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Vielmehr bedeutet die Ratifizierung des Abkommens die Verpflichtung, hier weiterzumachen und den Rückenwind für weitere Ab- rüstungsinitiativen zu nutzen. Und wir müssen dafür Sorge tragen, dass das Abkommen zur Ächtung von Streumunition nicht nur mehr Unterzeichnerstaaten fin- det, sondern dass die Ächtung und Vernichtung dieser Waffen auch konsequent eingehalten und nicht ausge- höhlt wird. So wissen wir um die Kritik aus den zivilgesellschaft- lichen Organisationen an weiterhin genutzter Submuni- tion. Das Problem der genauen Definition von Streumu- nition und die Gefahr, dass hier die Grenzen schnell verschwimmen, sind uns bewusst. Wir sind der Auffas- sung, dass man diese Problematik mit höchster Sorgfalt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23727 (A) (C) (B) (D) und aller Objektivität prüfen muss. Deshalb werden wir uns mit der Wirkungsweise solcher Submunition, die auch von der Bundeswehr verwendet werden kann, in ei- ner Anhörung des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle genau beschäftigen. In der Anhörung wird es darum gehen, welche Kriterien der Erprobung und Neubeschaffung von Submunition zugrunde zu le- gen sind? Welche Erkenntnisse liegen über die Erpro- bung von Submunitionsmodellen wie SMArt, Baszalt, BONUS und SKEET vor? Welche Einrichtungen haben derartige Tests durchgeführt, und wer fungierte dabei als Auftraggeber? Welche Erkenntnisse liegen über die Zu- verlässigkeit von Submunition unter Einsatzbedingun- gen vor? Wir werden uns nach der Anhörung mit deren Ergebnissen befassen, und – wenn notwendig – politi- sche Konsequenzen daraus ziehen. Es ist also falsch, zu behaupten, wir klammerten das Thema Submunition aus. Vielmehr ist es für uns sehr wichtig, hier Klarheit zu noch offenen Fragen zu bekommen, genauso, wie wir dafür gesorgt haben, dass die Streumunitionsbestände der Bundeswehr in einem transparenten Verfahren ver- nichtet werden. Das Bundesverteidigungsministerium muss laut eines Beschlusses des Haushalts- und Verteidi- gungsausschusses bis zum 31. Mai einen detaillierten Vernichtungsplan für die deutschen Bestände vorlegen. Darüber hinaus hat der Haushaltsausschuss des Bundes- tages schon im Haushaltsplan 2009 erhebliche Mittel für die Vernichtung der Streumunitionsbestände eingeplant. Damit ist die Grundlage für eine zügige Umsetzung des Vernichtungsplans gelegt. Aus heutiger Sicht werden die Gesamtkosten für die Vernichtung rund 40 Millionen Euro betragen – die haushalterischen Voraussetzungen zur Aufbringung dieser Mittel sind geschaffen. Die erfolgreichen Verhandlungen zur Ächtung von Streumunition motivieren uns aber vor allem, in weite- ren Fragen und Initiativen der Abrüstung energischer vo- ranzugehen. Im Mittelpunkt wird in nächster Zeit der Arms Trade Treaty – kurz ATT – stehen. Die unkontrol- lierte Verbreitung von Kleinwaffen und anderer konven- tioneller Waffen ist eines der dringlichsten Probleme in- ternationaler Rüstungskontrollpolitik. Im vergangenen Jahr haben über 2 000 Parlamentarier aus aller Welt die Vereinten Nationen zur raschen Aushandlung eines ATT aufgefordert (in Deutschland übrigens mehrheitlich Mit- glieder der SPD-Bundestagsfraktion). Auch hier sollte es möglich sein, gemeinsam mit gleichgesinnten zivilge- sellschaftlichen Organisationen, engagierten Regierun- gen und Parlamenten lange blockierte und verzögerte Abrüstungsverhandlungen wieder in Gang zu bringen. Der Oslo-Prozess ist hier ein ermutigendes Beispiel. In der internationalen Rüstungskontrollpolitik stehen wir augenblicklich vor vielen offenen Fragen. Verhandlun- gen drehen sich seit Jahren im Kreis und kommen nicht weiter. Bei manchem Vorhaben besteht schon lange der Eindruck, es geschehe fast gar nichts mehr. Dies gilt be- sonders für die KSE-Verhandlungen, für die Verhandlun- gen zur konventionellen Abrüstung. Nach Jahren des Stillstands gibt es jetzt aber Signale aus den Vereinigten Staaten und Russland, den KSE-Prozess wiederbeleben zu wollen. Das ist – so wie der erfolgreiche Oslo-Prozess zur Ächtung von Streumunition – ein deutliches Zei- chen, das Mut macht für neue Initiativen. Die Chancen für substanzielle Verbesserungen in der Abrüstungspoli- tik sind da. Florian Toncar (FDP): In der heutigen Debatte geht es um ein Thema, das in der Vergangenheit wiederholt Gegenstand parlamentarischer Debatten war: das Verbot von Streumunition. Dabei handelt es sich um Waffen, die durch Artilleriegeschosse, Raketen oder Fliegerbomben verbracht werden. Über dem Zielgebiet öffnen sich die Waffenbehälter, um Hunderte kleiner Submunitionen, sogenannter Bomblets, freizusetzen. Diese verteilen sich großflächig und töten und verstümmeln unterschiedslos beim Aufschlag. Ein großer Teil dieser Bomblets deto- niert jedoch nicht beim Aufschlag und verbleibt als Blindgänger in der Landschaft. Damit stellen sie auf un- bestimmte Zeit auch nach dem Ende von Konflikten eine heimtückische Gefahr für die Bevölkerung dar. In der Folge werden landwirtschaftliche Flächen oder Wohnge- biete aus Furcht vor diesen explosiven Altlasten nicht wieder genutzt. Besonders häufig werden neugierige, spielende Kinder Opfer dieser Sprengsätze. Daher freut es mich, dass nach zähen Verhandlungen im Dezember 2008 in Oslo ein Abkommen zum Verbot dieser Waffen geschlossen wurde. Dies ist besonders dem Engagement der Bürgergesellschaft zu verdanken, die in der Öffent- lichkeit ein Bewusstsein für dieses Problem hergestellt hat. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte bereits im Herbst 2006 ein vollständiges Verbot dieser Flächenwaffen ge- fordert, wie es jetzt international beschlossen wurde. Nachdem wir am 19. März 2009 die erste Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzes zum Streumunitionsverbotsabkommen durchgeführt haben, treten wir nun in die entscheidende Phase. Ich freue mich, dass Beratungen in den Ausschüssen so zügig abge- schlossen werden konnten und wir heute die zweite und dritte Lesung halten können. Damit wird es für Deutsch- land möglich, das Osloer Streumunitionsabkommen noch rechtzeitig zu ratifizieren, bevor am 25./26. Juni 2009 in Berlin eine weitere Konferenz zur Umsetzung des Ver- botsabkommens stattfinden wird. Deutschland kann so als Gastgeber glaubwürdig auftreten und darauf verwei- sen, dass es den Vertrag ratifiziert hat. Außerdem freut es mich, dass die in dem Gesetz vorgesehenen Gelder zur Beseitigung der deutschen Streumunition in Höhe von 40 Millionen Euro erkennen lassen, dass die Bundesre- gierung ausreichend Mittel für die Aufgabe bereitstellen wird. Daher werden wir dem Gesetzentwurf der Bundes- regierung zustimmen. Leider hat die Bundesregierung in der dem Gesetzent- wurf beigefügten Darstellung des Verhandlungsprozes- ses nicht darauf verzichtet, sich selbst Lorbeeren zu ver- leihen, die ihr nicht gebühren. So stellt sich die Bundesregierung als Vorreiter bei der Forderung nach Abschaffung der Streumunition dar. Dabei war sie es, die über lange Zeit eine Ausnahme von einem umfassen- den Streumunitionsverbot erreichen wollte, indem sie Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter ei- nem Prozent von einem Verbot ausnehmen wollte. Diese Streumunition sah sie als „für die Zivilbevölkerung un- gefährlich“ an. Erst auf Druck der Organisationen der Bürgergesellschaft und anderer Regierungen ließ die 23728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) Bundesregierung bei den entscheidenden Verhandlungen in letzter Minute von dieser semantischen Augenwische- rei ab. Es freut mich, dass die Bundesregierung ein Ein- sehen hatte und sich der Forderung der FDP nach einem umfassenden Streumunitionsverbot angeschlossen hat und zu einer tragfähigen Position gelangt ist. Anders verhält es sich mit dem ebenfalls heute auf der Tagesordnung stehenden Entschließungsantrag der Grü- nen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dieser Entschließungsantrag enthält einige Forderungen, die weit über das Streumunitionsverbotsabkommen hinaus- gehen. Zum einen zielen die Grünen darauf ab, Punkt- zielmunition in das Streumunitionsverbot einzubeziehen. Dabei handelt es sich um hochtechnische Waffen insbe- sondere zur Panzerbekämpfung. Im Unterschied zur Streumunition tötet sie nicht wahllos in der Fläche, son- dern identifiziert Ziele und steuert diese an. Falls sie kein Ziel findet, neutralisiert sie sich selbst. Ferner wird Punktzielmunition nicht in großen Stückzahlen ver- schossen wie Streumunition, sondern nur in ganz kleinen Mengen. Damit ist klar, dass diese Art von Waffen eine andere Aufgabe und andere technische Parameter hat, die bewirken, dass sie in keiner Weise eine der Streumu- nition vergleichbare Gefährdung darstellen. Aus gutem Grund wurde diese Punktzielmunition also nicht als Streumunition definiert. Die Grünen wollen mit ihrer Forderung somit die mühsam ausgehandelte Definition des Osloer Vertrags erneut infrage stellen. Ein anderer Grund gegen ein Verbot von Punktziel- munition besteht darin, dass sie es erlaubt, die durch das Verbot von Streumunition entstandene Lücke in militäri- schen Arsenalen teilweise zu schließen. Diese Möglich- keit wird es Staaten, die bisher noch nicht dem Streumu- nitionsverbot beigetreten sind, erleichtern, diesen Schritt künftig doch noch zu wagen. Wenn man, wie von den Grünen angestrebt, auch Punktzielmunition verbieten würde, ist es unwahrscheinlich, dass beispielsweise Russland, China, Indien, Pakistan, Israel oder die USA dem Streumunitionsverbot beitreten werden. Dies ist aber dringend notwendig, denn derzeit fallen nur 10 Pro- zent der weltweiten Streumunitionsbestände unter das Osloer Verbotsabkommen. Die Forderung der Grünen, der Bundeswehr gemein- same Operationen mit Verbündeten zu verbieten, bei de- nen diese möglicherweise Streumunition einsetzen, ist kontraproduktiv. Deutschland kann und soll bei seinen Partnern für ein Streumunitionsverbot aktiv werben. Dies ist richtig. Jedoch die Handlungsspielräume der Bundeswehr dadurch zu beschränken, dass sie vom poli- tischen Willen anderer Staaten für einen Streumunitions- verzicht abhängig würde, geht zu weit. Ein solcher Schritt würde die Fähigkeit zur Zusammenarbeit im Bündnis, die sogenannte Interoperabilität, schwächen. Derzeit scheint der Meinungsbildungsprozess in der NATO dahin zu gehen, von der Nutzung von Streumuni- tion langfristig Abstand zu nehmen. Auch die neue US- Regierung will keine neue Streumunition mehr anschaf- fen. Die Zeichen zeigen also ohnehin in die richtige Richtung. Aus diesen Gründen werden wir den Ent- schließungsantrag der Grünen ablehnen. Insgesamt freue ich mich, dass die breite öffentliche Debatte der letzten Jahre von Erfolg gekrönt war und ein internationales Streumunitionsverbot erreicht werden konnte. Jetzt muss es einerseits darum gehen, dass die Unterzeichnerstaaten das Verbot zügig umsetzen. Ande- rerseits müssen die Staaten, die dem Verbot bisher fern- geblieben sind, überzeugt werden, auch auf diese schrecklichen Waffen zu verzichten. Bei dieser Überzeu- gungsarbeit kommt auch der Bundesregierung und ins- besondere Bundesaußenminister Steinmeier eine weiter- hin wichtige Rolle zu. Steinmeier muss hier nun die Ärmel hochkrempeln und auf diese Staaten zugehen, die weiterhin stark auf Streumunition zurückgreifen. Er steht in der Pflicht, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Die im Juni in Berlin stattfindende Konferenz ist dafür ein geeigneter Anlass. Inge Höger (DIE LINKE): Streumunition wurde im Kosovo, in Afghanistan, im Libanonkrieg und auch im letzten Sommer in Georgien eingesetzt. Human Rights Watch erklärte vor wenigen Tagen: „Der sogenannte ver- antwortungsvolle Einsatz von Streumunition ist ein Mär- chen. Bemühungen, das Verbot aufzuweichen, müssen abgewehrt werden.“ Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann ein ganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von Gemüsegärten und Feldern zur tödlichen Falle machen. Noch nach Jahrzehnten werden Menschen verstümmelt von den Blindgängern der Streumunition. Das erzeugt ein fortgesetztes Leiden der Bevölkerungen in den Kon- fliktregionen und macht diese Waffe zu einem ganz ent- scheidenden Hindernis für den Wiederaufbau nach Krie- gen. Es ist ein großer Fortschritt, wenn nun ein Staat nach dem anderen die Konvention zum weltweiten Verbot von Streumunition unterzeichnet. Die Ächtung dieser Waffe bekommt so einen rechtlich verbindlichen Charakter. Das ist vor allem das Verdienst zivilgesellschaftlicher Akteure wie handicap international und Aktionsbündnis Landmine, die in unermüdlicher Arbeit den Oslo-Pro- zess zum Verbot der Streumunition zum Laufen gebracht haben. Nach der Verabschiedung des „Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“ kann auch die deutsche Regierung das Verbot der Streu- munition ratifizieren. Die Fraktion Die Linke begrüßt diesen längst überfälligen Schritt ausdrücklich! Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung wird so ge- macht. Bis zur vollständigen Ächtung sämtlicher For- men von Streumunition bleibt jedoch noch mehr zu tun. Die Regelungen der Oslo-Konvention und des hier de- battierten Gesetzes enthalten noch zu viele Ausnahme- regelungen. Diese sind aus humanitären Erwägungen nicht akzeptabel. Auf Betreiben der Bundesregierung sind die Ausnah- meregelungen im Gesetzestext von Oslo genau so for- muliert, dass sie präzise auf das neueste Streubomben- produkt des deutschen Rüstungskonzerns Diehl mit der Bezeichnung „SMArt 155“ zutreffen. Die Bundesregie- rung hat sich in den Verhandlungen über das Oslo-Ab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23729 (A) (C) (B) (D) kommen als Lobbyist der deutschen Rüstungsindustrie profiliert. So genannte Zielpunktmunition – wie eben das deutsche Rüstungsprodukt „SMArt 155“ – gilt nach dieser Definition als akzeptabel und wird somit zum ex- klusiven Exportangebot. Die britische und die Schweizer Regierung haben bereits SMArt-155-Munition in Deutschland bestellt. Zielpunktmunition wurde in Verhandlungsdokumen- ten der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz unter dem Titel „Ausnahmen für weiterhin erlaubte Streumuni- tionstypen“ geführt. Diese Formulierung zeigt deutlich: Zielpunktmunition ist Streumunition – auch wenn die Anzahl der Submunitionskörper geringer ist. In Öster- reich war Zielpunktmunition seit 2007 als Streubomben verboten. Wohin die von der Bundesregierung durchge- setzten Ausnahmen führen, zeigt das österreichische Beispiel: Die österreichische Regierung hat mit ihrer Unterschrift unter das Oslo-Abkommen Anfang April 2009 auch das österreichische Streumunitionsverbot auf- geweicht. SMArt 155 ist nun in Österreich wieder legal. Die Rüstungsunternehmen Diehl und Rheinmetall wis- sen die Zuarbeit der deutschen Regierung zu schätzen und werben nun weltweit damit „Die Beschaffung ist OHNE RISIKO“. Eine solche Wertung ist makaber! „Ohne Risiko“ ist die Munition nur für die Regierungen, die nicht befürchten müssen, dass die Munition, mit der sie ihre Armeen ausstatten, für illegal erklärt wird. Für die Opfer des Einsatzes der Streumunition bleibt das Risiko enorm groß und unkalkulierbar. Nicht einmal un- abhängige Tests existieren, die besagen, dass SMArt-155 auch die angepriesene Qualität erfüllt. Die Fehlerquoten liegen erfahrungsgemäß immer über den Produzentenan- gaben, die unter realitätsfernen Testbedingungen entste- hen. Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass sie endlich die Interessen der Menschen und nicht dieje- nigen der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Po- litik stellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu ratifizieren, sondern auch alle Lagerbestände zu vernich- ten und die Beteiligung an Einsätzen auszuschließen, bei denen Streumunition eingesetzt wird. Die Linke wird vor allen Dingen sehr genau die Pläne für sogenannte alternative Flächenmunition verfolgen. Es darf nicht sein, dass eine grausame Waffe gegen eine andere grausame Waffenform ausgetauscht wird und diese von Deutschland in alle Welt exportiert wird. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die heutige Ratifikation des Übereinkommens zum Ver- bot von Streumunition durch den Deutschen Bundestag ist ein Meilenstein der humanitären Rüstungskontrolle. Er ist zuallererst das Verdienst einer breiten und über- zeugungskräftigen Koalition von Nichtregierungsorgani- sationen. Auch wir haben lange auf diesen Schritt hinge- arbeitet. Gemeinsam mit den NGOs haben wir die Bundesregierung immer und immer wieder gedrängt, von ihrer Rolle als Bremserin des Oslo-Prozesses abzu- rücken. Es ist erfreulich, dass sich die Bundesregierung im Mai letzten Jahres schließlich besonnen hat und im Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo-Abkom- mens gehörte. Es freut mich auch persönlich ungemein, dass ich damit kurz vor Ende meiner Parlamentarierzeit doch noch einen Lichtblick in den ansonsten düsteren letzten Jahren der Abrüstungspolitik erleben durfte. Mit dieser Ratifikation ächtet Deutschland nun endlich eine Waffe, die wahllos verletzt und tötet und der ganz über- wiegend Zivilisten und Kinder – gerade auch nach Kriegsende – zum Opfer fallen. Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was wir in den vorangegange- nen Debatten oder in unseren parlamentarischen Initia- tiven zu diesem Thema gesagt haben. Ich möchte auf die Brutalität und die völkerrechtliche Unverhältnismäßig- keit jedoch im Rahmen der heutigen Ratifikation noch einmal hinweisen, um daran zu erinnern, dass das Engagement zu diesem Thema mit dem heutigen Tag nicht enden darf. Auf dem Weg zu einem vollständigen, universellen und wirksamen Verbot von Streumunition bedarf es drin- gend weiterer Schritte. Hierbei ist vor allem die Bundes- regierung gefragt. Deutschland kann in der nächsten Zeit die Glaubwürdigkeit wiedererlangen, die die deutsche Bundesregierung zu Beginn des Verhandlungsprozesses mit ihrer restriktiven Haltung beschädigt hatte. Dafür muss die deutsche Bundesregierung in den nächsten Mo- naten gemeinsam mit den anderen Oslo-Partnern außer- halb des Abkommens stehende Staaten, insbesondere die bedeutenden Herstellerländer von Streumunition wie die USA, Russland und China, an das Abkommen heranfüh- ren. Seit Dezember sind dem Abkommen zwei weitere Staaten beigetreten. Und auch in den USA bewegt sich was. US-Präsident Barack Obama hat am 11. März 2009 ein Gesetz unterzeichnet, das ein dauerhaftes Verbot für fast alle Exporte von Streumunition aus den Vereinigten Staaten beinhaltet. Hier muss weiter Druck gemacht werden. Auch in der EU gehört das Thema auf den Tisch: Acht der 27 EU-Mitgliedstaaten sind dem Ab- kommen noch nicht beigetreten. Auch von den NATO- Staaten stehen acht außerhalb des Abkommens. Die Ant- wort darauf kann nur eine sein: Die Bundesrepublik muss erklären, dass sie sich zukünftig nicht an gemein- samen Militäraktionen beteiligt, bei denen Nichtver- tragsstaaten Streumunition einsetzen. Eine solche Aus- nahme widerspräche nämlich der im Übereinkommen festgeschriebenen Verpflichtung der Vertragsstaaten, un- ter keinen Umständen Streumunition einzusetzen oder dabei mitzuwirken. Zweitens steht die Bundesregierung den anderen Oslo-Partnern gegenüber in der Pflicht, die Wirksamkeit der in Art. 2 c vom Verbot ausgenommenen „alternati- ven“ Streumunition – sogenannte Punkt-Ziel-Munition – genauestens zu prüfen. Schließlich hatte die deutsche Delegation bei den Verhandlungen im Mai 2008 in Dublin offen damit gedroht, den Vertrag nicht zu unter- zeichnen, sollte die Verbotsausnahme für alternative Streumunition nicht akzeptiert werden. Ergebnis: Streu- munition wie zum Beispiel die von Rheinmetall und Diehl produzierte SMArt-155-Artilleriemunition ist vom Verbot ausgenommen. Und in der Praxis wird entlang der technischen Parameter des Art. 2 c des Übereinkom- mens eine neue Generation von Streuwaffen entwickelt. Diese Entwicklung steht konträr zu dem Anliegen der Konvention. Wir erwarten von der Bundesregierung, die für dieses Hintertürchen verantwortlich ist, dass sie dem 23730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) völkerrechtlichen Verbot von Kampfmitteln, deren Wir- kung nicht begrenzt werden kann und die damit militäri- sche Ziele und Zivilpersonen unterschiedslos treffen können, gerecht wird. Die Bundesregierung muss prü- fen, ob alternative Streumunition wirklich eine Waffe ist, die zuverlässig zwischen zivilen und militärischen Zie- len unterscheiden kann. Und diese Prüfung, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, darf sich nicht darauf beschrän- ken, lediglich die Angaben der Hersteller zu rezitieren, wie es die Bundesregierung in Antwort auf unsere An- frage getan hat. Vielmehr muss die Bundeswehr die Wir- kung selbst testen, und die Prüfergebnisse müssen offen gelegt werden. Die heutige Ratifikation bedeutet zudem den Beginn der Vernichtung aller deutschen Streumunitionsbestände. Schätzungen zufolge hat die Bundeswehr 30 Millionen einzelne Sprengkörper im Depot, die über mehrere 10 000 Trägersysteme verteilt werden können. Offizielle Angaben zum Bestand gibt es unter Verweis auf die Ge- heimhaltung ja bedauerlicherweise nicht. Mit dem Ver- bot von Streumunition ist diese Geheimniskrämerei al- lerdings hinfällig. Das Parlament hat schließlich auch eine Kontrollfunktion. Der Delaborierungsprozess darf daher nicht im stillen Kämmerlein vonstattengehen, son- dern muss für uns Parlamentarier verifizierbar sein. Die Bundesregierung muss die Streumunitionsbestände ge- genüber dem Deutschen Bundestag offenlegen und uns einen konkreten Zeitplan für die Vernichtung vorlegen. Dies beinhaltet auch, die US-Administration aufzufor- dern, die in Deutschland auf exterritorialem Gebiet gela- gerte US-Streumunition zu beseitigen und die Zuliefe- rung von streumunitionsrelevanten Komponenten zu beenden. Wir erwarten, dass auch hinsichtlich der In- vestmentpolitik klare Richtlinien geschaffen werden, die das Investment in eine deutschem oder ausländischem Recht unterliegende Firma verbieten, die Streumunition herstellt, zum Verkauf anbietet, ein- oder ausführt bzw. befördert. Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem Punkt kommen, der gerne überlesen wird: Gemäß Art. 6 ist je- der Vertragsstaat, der dazu in der Lage ist, verpflichtet, Vertragsstaaten, die von Streumunition betroffen sind, technische, materielle und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Denn die Unterzeichnung des Abkommens al- lein wird die Zahl der Opfer nicht von heute auf morgen reduzieren. UN-Angaben zufolge droht der Zivilbevöl- kerung weiterhin in rund 30 Ländern noch immer Todes- gefahr durch verstreute Munition. Wenn wir die Konven- tion mit Leben füllen wollen, müssen wir unsere Anstrengungen im Bereich der humanitären Minenräu- mung in kontaminierten Regionen sowie die Hilfe bei der Fürsorge, Rehabilitation sowie der sozialen und wirt- schaftlichen Wiedereingliederung der Opfer von Streu- munition deutlich verstärken. Die heutige Ratifikation ist ein abrüstungspolitischer Meilenstein. Für unseren nächsten Abrüstungsschritt müssen wir keine Meile ge- hen: Fordern wir morgen gemeinsam die Bundesregie- rung auf, Gespräche über den Abzug der US-Atomwaf- fen aus Deutschland in die Wege zu leiten. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Nicht- staatliche militärische Sicherheitsunterneh- men kontrollieren – Beschlussempfehlung und Bericht: Interna- tionale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot der Erbringung militärischer Dienst- leistungen durch Privatpersonen und Un- ternehmen (Tagesordnungspunkt 16 a und 16 b) Holger Haibach (CDU/CSU): Uns liegen heute zwei Anträge vor, die sich mit nichtstaatlichen militärischen Sicherheitsunternehmen beschäftigen. Schon beim ers- ten Durchsehen wird dabei klar, wohin der Weg gehen soll. Beide Anträge eint das Ziel, diese Unternehmen stärker als bisher zu kontrollieren, die Beschäftigung von Söldnern zu verhindern und zu mehr Sicherheit in bewaffneten Konflikten beizutragen. Und dennoch ist klar, dass hier in einigen Punkten ganz verschiedene Sichtweisen zwischen dem Antrag der Koalition und dem der Linken vorherrschen. In der Tat besteht Handlungsbedarf, wenn es um die Kontrolle der privaten Sicherheitsunternehmen geht. Der Skandal um die Firma Blackwater hat gezeigt, dass im- mer häufiger Konflikte und militärische Operationen in die Hände Privater gegeben werden, die sich offenbar nicht an das humanitäre Völkerrecht halten wollen. Die Mitarbeiter dieser Unternehmen sind rechtlich in einer Grauzone; denn es handelt sich zwar nicht um echte Kombattanten im Sinne des Völkerrechts, aber ihnen den Status eines Zivilisten zuzusprechen, auf diese Idee käme wohl auch kein Mensch. Die CDU/CSU und die SPD sind sich sehr bewusst, dass es hier Handlungsbe- darf gibt, um das Problem anzugehen. Was wollen wir? Wir fordern, dass gerade die Unternehmen einer stren- gen Kontrolle und Registrierung unterzogen werden, die ihren Kunden Dienstleistungen anbieten, die den Einsatz ausschließlich militärischer Fähigkeiten sowie von Kriegswaffen einschließt. Allerdings gilt es hierbei, ge- nau zu unterscheiden, welche Unternehmen man dieser Kontrolle unterziehen möchte. Die Unternehmen, die etwa nur logistische Dienstleistungen wie den Transport von militärischen Gütern abwickeln, aber nicht in die Konflikte selbst hineingezogen werden, sollten nicht für die Skandale in Haftung genommen werden, die andere verursacht haben. Genau hierbei unterscheiden wir uns von dem Antrag der Linken, der pauschal alle Sicherheitsunternehmen über einen Kamm schert. Wie so oft bei solchen Themen bleibt der Antrag unpräzise und verschwommen und wirft Dinge zusammen, die so nicht zusammengehören. CDU und CSU wollen, dass die privaten militärischen Sicherheitsunternehmen auf nationaler Ebene registriert und lizenziert werden und ihr Geschäftsgebaren kontrol- liert wird. Wir halten es für wichtig, dass die Bundesre- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23731 (A) (C) (B) (D) gierung über die Vertragsabschlüsse und die von den Un- ternehmen angenommenen Aufgaben genau informiert ist. Die Unternehmen, die militärische Dienstleistungen anbieten, sollen sich einem strengen Regime unterzie- hen, um zukünftig Menschenrechtsverletzungen durch Mitarbeiter solcher Firmen bei Konflikten zu verhin- dern. Dabei dürfen wir nicht die Firmen schädigen, die zum Beispiel die Bundeswehr bei ihren wichtigen Aus- landseinsätzen unterstützen und Transportkapazitäten für unsere Soldaten zur Verfügung stellen. Wer hier se- riöse Dienstleistungen erbringt, muss nicht damit rech- nen, strafrechtlich belangt oder verboten zu werden. Nur wenn die Kontrolle und Lizenzierung der militärischen Sicherheitsunternehmen sichergestellt ist, ist auch ge- währleistet, dass die Unternehmen in einem klaren recht- lichen Rahmen agieren können; denn wir fordern auch klare Haftungsbedingungen sowie Regelungen zur Ver- folgung bei möglichen Straftaten. Damit wird deutlich: Der bisherige rechtsfreie Raum muss ein Ende haben, damit klare Grenzen für die Einsätze der Sicherheitsun- ternehmen bestehen. Das Thema hat jedoch nicht nur eine deutsche, son- dern auch eine internationale Komponente. Wir bitten die Bundesregierung, die Ratifizierung der Konvention gegen das Söldnertum einzuleiten und einen entspre- chenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wenn diese Kon- vention endlich die notwendige Zustimmung erlangt, die sie benötigt, um wirksam zu werden, dann ist auch die Anwerbung von Söldnern wirksamer als bisher zu unter- binden. Deutschland muss hier auch aktiv werden und die Konvention unterstützen. Zwar beinhaltet das beste- hende Völkerstrafgesetzbuch entsprechende Regelun- gen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht un- ter Strafe stellen, aber dennoch ist es uns wichtig, dass das Söldnerwesen bekämpft wird. Die Konvention kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Die oben be- reits erwähnte begriffliche Unschärfe bei der Definition von militärischen Sicherheitsunternehmen setzt sich lei- der auch auf der Ebene der Vereinten Nationen fort. Auch hier ist eine klare und unmissverständliche Be- griffsbestimmung notwendig, um die Grenzen zwischen Dienstleistern und Söldnerfirmen zu ziehen. Damit ein- hergehen soll, wie auch auf nationaler Ebene, die Regis- trierung der Unternehmen und eine Kontrolle der von ihnen geschlossenen Verträge. Auch hier muss es Sank- tionsmöglichkeiten und gesetzliche Regelungen geben, die Verstöße gegen das geltende Völkerrecht unter Strafe stellen. Internationale Einsätze dürfen nicht dazu miss- braucht werden, Menschenrechtsverletzungen zuzulas- sen und Konflikte anzuheizen. Die Bundesrepublik sollte hier die Initiative ergreifen und Vorschläge zur Klärung der rechtlichen Fragen und notwendigen Defini- tionen erarbeiten. Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich machen: Meine Fraktion lehnt das Söldnertum und die häufig damit verbundenen Menschenrechtsver- letzungen entschieden ab. Jedoch muss man sehen, dass es auch weiterhin bewaffnete Konflikte in der Welt ge- ben wird, die den Einsatz internationaler Streitkräfte zur Friedenssicherung erfordern. Und diese Streitkräfte, auch die deutsche Bundeswehr, werden, wenn es der Einsatz erfordert, auch auf private Dienstleister zurück- greifen müssen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Wir brau- chen die Unterstützung von Unternehmen im Bereich des Transports und der Logistik. Wir wollen aber keines- falls eine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols, sondern halten an dem bisher Bewährten fest. Dies erfor- dert aber auch, dass wir auch zukünftig auf private Un- ternehmen zurückgreifen können müssen, wenn es not- wendig erscheint. Daher treten wir entschieden für eine Bekämpfung des Söldnertums und für klare rechtliche Rahmenbedingungen für militärische Sicherheitsunter- nehmen ein. Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem Antrag der Linken sagen. Auch wenn die Verfasser teilweise ähnliche Ziele wie wir verfolgen, so lehnen wir diesen Antrag jedoch entschieden ab. Er ist erfüllt vom Geist des Anti-Amerikanismus und der lange gehegten Feindschaft gegenüber den Sicherheitsstrukturen der NATO. Es ist lei- der wahr, dass es im Umfeld des Irakkriegs zu Menschen- rechtsverletzungen durch militärische Sicherheitsunter- nehmen gekommen ist. Diese sind jedoch nicht den kollektiven Sicherheitsmechanismen der NATO anzulas- ten, sondern sind eklatante Verstöße der Mitarbeiter sol- cher Firmen. Wir verurteilen dies aufs Schärfste, sind aber nicht bereit, Ihre pauschalen Vorwürfe gegenüber der NATO hinzunehmen. Hier vermischen Sie in unzu- lässiger Weise Ihre berechtigte Kritik an dem Vorgehen solcher Söldnerfirmen mit dem Einsatz der NATO in be- waffneten Konflikten. Auch sonst bleiben Ihre Forderun- gen aufgrund der begrifflichen Unschärfe sehr vage. Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen. So fordern Sie zwar die Erfassung und Kontrolle aller Sicherheitsunter- nehmen in Deutschland. In Ihrem nächsten Punkt wollen Sie jedoch die Auftragsannahme und -erfüllung privater militärischer Sicherheitsaufgaben deutschen Staatsbür- gern und Unternehmen verbieten. Wie soll das zusam- menpassen? Entweder Sie entscheiden sich dafür, dass es solche Unternehmen gibt, und dann müssen sie sich auch registrieren und kontrollieren lassen, oder Sie ver- bieten sie ganz. Dann allerdings ist eine Registrierung auch nicht mehr notwendig. Für mich ist dies ein erheb- licher Widerspruch, den Ihr Antrag nicht lösen kann. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um die Stimmen für un- seren Antrag, denn ich bin überzeugt, dass wir damit ei- nen wichtigen Beitrag für die Bekämpfung des Söldner- wesens leisten können. Kontrolle und Registrierung scheinen mir sinnvoller als ein Verdrängen des Problems in die unkontrollierbare Illegalität zu sein. Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Es erfüllt mich mit großer Freude und Genugtuung, dass dieser Initiativ- antrag letztendlich doch noch den Weg ins Parlament ge- funden hat. Allen, die daran mitgewirkt haben, allen, die viele Stunden Arbeit in den verschiedensten Ausschüs- sen, die damit befasst waren und befasst werden muss- ten, in das Gelingen investiert haben, möchte ich meinen besonderen Dank aussprechen. Es war eine schwierige Materie, die es mit den priva- ten Militär- und Sicherheitsfirmen, PMSF, zu behandeln galt. Und das kann auch nicht anders sein, wenn man et- was regeln muss, das die Grundlagen unseres Staates und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens anbe- trifft, nämlich wenn es – wie in diesem Fall – um unsere 23732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) Sicherheit und das staatliche Gewaltmonopol geht. Aber gerade weil es eine solch fundamentale Materie ist, die wir hier behandeln – und die ja jeden Bürger in unserem Lande ganz grundsätzlich angeht und betrifft –, finde ich es bedauerlich, dass wir diesen Antrag zu nachtschlafen- der Stunde quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne weitere Aussprache und Debatte beschließen. Als Abgeordneter des Europarats habe ich in jenem Gremium einen Antrag eingebracht, der sich gegen die Erodierung des staatlichen Gewaltmonopols durch pri- vate Militär- und Sicherheitsfirmen wendet. Der Bericht, den ich im Februar erstattet habe, wurde von allen 47 Mitgliedstaaten und von allen dort vertretenen Par- teien – von rechts bis links – einstimmig angenommen. Hierin werden die nationalen Regierungen und Parla- mente unter anderem aufgefordert, entlang verschiede- ner Kriterien den Bereich der PMSF gesetzlich zu re- geln. Er fordert die Mitgliedstaaten aber auch dazu auf, gemeinsame Prinzipien zur Verteidigung des staatlichen – inneren wie äußeren – Gewaltmonopols zu erarbeiten. Ich bin deshalb stolz darauf, dass Deutschland zu den Ersten gehört, die den privaten militärischen Sicherheits- unternehmen gesetzliche Zügel anlegen wollen. Den- noch hätte ich mir gewünscht, dass wir bei der Ausarbei- tung der Regelungen etwas mutiger gewesen wären. Die Beteiligung privatwirtschaftlicher nichtstaatlicher – deut- scher – Akteure an bewaffneten Konflikten haben wir beispielsweise in diesem Initiativantrag nicht ausge- schlossen. Und es ist auch fraglich, ob wir mit diesen Regelungen eine weitgehende Kontrolle und Transpa- renz der PMSF erzielen werden. Aber diese neun Punkte, die wir die Bundesregierung auffordern, gesetz- lich umzusetzen, sind ein erster Schritt – und, wie ich meine, ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Wahrscheinlich wären weitergehende Forderungen bei den gegenwärtigen Interessenlagen nicht kompromiss- und damit beschlussfähig gewesen. Aber gerade deshalb möchte ich betonen, dass wir meiner Meinung nach nur den ersten Schritt gemacht haben und weitere schnellst- möglich folgen müssen. Einige wenige Punkte möchte ich benennen, die uns noch zu beschäftigen haben und für die wir als Parlamentarier und Gesetzgeber eine Lö- sung finden müssen. Es ist wenig glaubhaft, wenn wir einerseits mehr Transparenz und Kontrolle von PMSF einfordern, ande- rerseits aber Auslandseinsätze von privaten militärischen Sicherheitsunternehmen, die im Auftrag der Bundesre- publik Deutschland tätig werden, nicht an den Parla- mentsvorbehalt binden. Die Praxis in den USA unter der Präsidentschaft von Georg W. Bush hat beispielsweise im Hinblick auf den Einsatz von PMSF im Irak deutlich gemacht, dass deren Aktivitäten vom Parlament nicht zu kontrollieren waren. Wir können auch nicht einfach zusehen, wenn deut- sche Unternehmen, NGOs, humanitäre Organisationen etc. für ihre Tätigkeiten im Ausland PMSF engagieren. Es wäre an eine Anzeigepflicht beim Außenministerium und BND einerseits sowie bei den jeweils betroffenen deutschen Botschaften andererseits zu denken. Unge- klärt ist außerdem, welche Aufgaben und Kompetenzen private militärische Sicherheitsunternehmen überhaupt übernehmen und anbieten dürfen. Schon jetzt reichen deren Dienstleistungsangebote weit in den Bereich staat- licher Hoheitsaufgaben hinein. Es ist daher erforderlich, einerseits eine Definition der Bereiche im Sicherheits- sektor vorzunehmen, die keinesfalls aus staatlicher Ho- heit entlassen werden dürfen, und andererseits ist eine Festlegung von klar abgegrenzten Aufgaben- bzw. Kom- petenzbereichen für PMSF vonnöten. Des Weiteren müs- sen für diese Unternehmen Zulassungs- und Tätigkeits- kriterien erarbeitet werden. Auf internationaler Ebene – um nur einen Punkt zu nennen – können wir es nicht allein den Vereinten Natio- nen überlassen – oder den VN allein die Verantwortung zuschieben –, für Transparenz und Kontrolle der PMSF zu sorgen. Auch auf bilateraler bzw. zwischenstaatlicher oder auf EU- und NATO-Ebene müssen Abkommen zur Kontrolle von PMSF geschlossen, müssen Aufsichtsme- chanismen und Kooperationsforen für diesen Bereich geschaffen werden. Lassen Sie mich zum Schluss die Hoffnung aussprechen, dass dieser Initiativantrag trotz der vorhandenen Lücken, die er aufweist und die wir bald schließen müssen, Zustimmung und eine breite Mehrheit in diesem Haus findet. Jörg van Essen (FDP): Erlauben Sie mir, an dieser Stelle zunächst den Blick zurückzuwerfen! Auf Verlan- gen meiner Fraktion haben wir hier am 11. April 2008 in einer Aktuellen Stunde die Haltung der Bundesregierung zur Tätigkeit deutscher Sicherheitskräfte in Libyen dis- kutiert. Unabhängig wie man die damaligen Vorgänge bewertet, so hatte ich doch schon damals den Eindruck, dass es in allen Fraktionen gewichtige Stimmen gab, die in Anbetracht der gegenwärtigen Rechtslage Unbehagen empfanden und empfinden. Für meine Fraktion möchte ich auch vorwegschicken: Ich bin sehr froh, dass wir keine militärischen Sicherheitsunternehmen in Deutsch- land haben. Das Gewaltmonopol des Staates bei militäri- schen Aufgaben ist für mich unverrückbar. Unser Grundgesetz gibt uns hier klare Vorgaben. Danach hat der Bund die Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen. Es handelt sich grundsätzlich also um eine staatliche Aufgabe. Das ist auch richtig so. Man braucht sich nur vorzustellen, was Waffen in falschen Händen anrichten können! Piraterie ist hier nur ein Beispiel von vielen. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen macht deshalb auch vollkommen zu Recht klar, dass die Privatisierung militärischer Funktionen langfristig zu ei- nem fundamentalen Wandel im Verhältnis zwischen Militär und Nationalstaat führen und das Gewaltmono- pol des Staates infrage gestellt werden könnte. Diese Sorge teilt meine Fraktion uneingeschränkt. Ich komme auch deswegen gerne auf die Debatte im Jahr 2008 zu sprechen, da der CDU-Kollege Holger Haibach damals eine Begebenheit aus der rot-grünen Regierungszeit in Erinnerung gerufen hat, mit der ich ihn hier gerne noch- mals zitieren möchte: Ganz interessant ist auch die Antwort der damali- gen rot-grünen Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion zu diesem Thema. Da heißt es, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23733 (A) (C) (B) (D) dass die Registrierung einen erheblichen Eingriff in die unternehmerische Freiheit bedeuten würde, ohne dass die Aussicht besteht, dadurch ungewollte Aktivitäten privater Sicherheitsunternehmen in Drittstaaten zu erschweren oder zu unterbinden. Das ist schon interessant: Die FDP, die Partei der freien und sozialen Marktwirtschaft, fordert eine Registrierung, und Rot-Grün hat sie abgelehnt. Das ist ein interessanter Nebenaspekt in dieser Angele- genheit. Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich auch in dieser Legislaturperiode schon frühzeitig ganz intensiv mit dem Thema Privatisierung von Sicherheit befasst. Zwar ist Deutschland im internationalen Vergleich ein Land, das sich bei der Auslagerung – was ich auch richtig finde – am meisten zurückhält. Gleichzeitig habe ich große Sympathien für Forderungen nach einer Regulierung, wo und wieweit Sicherheitsdienstleister zum Einsatz kommen können. Es kann nicht sein, dass wir detaillierte Regeln zum Feinstaub erlassen, aber in dieser Frage schweigen! Umso enttäuschter war ich, als die Bundes- regierung mir im Herbst auf meine schriftliche Frage nach einem entsprechenden Gesetz zur besseren Kon- trolle nichtstaatlicher Sicherheitsunternehmen beschied, dass eine Prüfung ergeben habe, dass vor dem Hinter- grund der bereits existierenden Vorschriften im Außen- wirtschafts- und Beamtenrecht zusätzliche Regelungen nicht nötig seien. Umso mehr freue ich mich heute, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen, den wir heute bera- ten, durchaus den Bedarf an rechtlichen Leitplanken sieht. Auch die FDP-Bundestagsfraktion sieht hier Re- gulierungsbedarf. Ich weiß, dass dieser Antrag nur einen ersten Schritt darstellt und auch nur einen Minimalkon- sens widerspiegeln kann. Gleichzeitig ist es wichtig, dass sich das Parlament dieses Themas endlich ange- nommen hat. Gerade weil wir das Selbstverständnis ei- ner Parlamentsarmee haben, kann es nicht sein, dass wir uns an dieser Stelle im privaten Bereich wegducken. Dabei finde ich es richtig, dass der Antrag zwischen nationalen und internationalen Handlungsaufträgen dif- ferenziert und einen eindeutigen Fokus auf den Umgang mit privaten militärischen Sicherheitsunternehmen legt. Die Bundesregierung wird gut beraten sein, wenn auch sie bei ihren Überlegungen zwischen privaten Sicher- heitsdienstleistern auf der einen Seite und privaten Mili- tärdienstleistern auf der anderen Seite genau unterschei- det, wobei mir durchaus bewusst ist, dass dies nicht immer einfach ist. Eine Private Military Company kennt einen Feind, den sie bekämpfen will, während eine Pri- vate Security Company diesen in dem Sinne nicht kennt. Ich habe übrigens auch aus einer Anhörung der FDP das große Bedürfnis nach klaren gesetzlichen Leitplanken aus der Sicherheitsbranche im weitesten Sinne selbst mitgenommen. Sie selbst sind es zuallererst, die klare Richtlinien benötigen, die aufzeigen, was aus unserer Sicht zulässig ist und was nicht. Ein Teilnehmer unserer Anhörung sagte – wenn ich mich recht erinnere – sinn- gemäß, dass in Deutschland der Milchmarkt und das Fleischerhandwerk besser reguliert sind als der Markt privater Sicherheitsdienstleister. Dieser Zustand ist nicht haltbar! Ich möchte an dieser Stelle noch kurz auf eine Ausführung aus dem Bericht des Auswärtigen Aus- schusses zu sprechen kommen: Auch mir ist es wichtig, an dieser Stelle nochmals klarzumachen, dass militäri- sche Aufgaben im Auftrag der Bundesregierung im Aus- land im Sinne des staatlichen Gewaltmonopols nur von der Bundeswehr wahrgenommen werden können. Es ist gut, dass dies hier unstrittig ist. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols durch die Privatisierung von militärischen Dienstleistungen muss entgegenge- wirkt werden. Darin scheinen sich alle einig. In der Tat: Die Privatisierung des Krieges bzw. der militärischen Gewalt ist inzwischen ein Riesenproblem. Vor allem im Irak und in Afghanistan ist ein gewaltiges Heer von so- genannten Sicherheitsdienstleistern unterwegs – Men- schen also, die ihren Sold von sogenannten Private Mili- tary Companies beziehen. Im Irak tummelten sich zeitweise genauso viele Privatiers im Auftrag der USA wie Soldaten: 160 000! In Afghanistan geht man von 30 000 Sicherheitsdienstleistern aus. Und es geht nicht in erster Linie um die Bereitstellung von Toiletten oder anderen logistischen Leistungen: Es geht um bewaffne- ten Schutz, die Ausbildung von Milizen und Soldaten, um das Verhör von Gefangenen, um Aufklärung und auch um Unterstützung für Kampfeinsätze. Die Linke will diese Entwicklung nicht als gegeben hinnehmen. Und das ist die entscheidende Differenz zwischen uns und der Regierungskoalition. In ihrem Antrag heißt es, – ich zitiere wörtlich – „ein striktes Verbot von privaten militärischen Sicherheitsun- ternehmen ist nicht durchsetzbar“. Nachdem man diese Entwicklung nunmehr bald zwanzig Jahre tatenlos hin- genommen hat, ist es in der Tat schwierig, den Geist wieder in die Flasche zu bekommen. Aber es reicht ein- fach nicht, diese Privatisierung des Militärischen nur et- was regeln, etwas besser kontrollieren zu wollen. Nie- mand hier hat etwas dagegen, dass sich diese nichtstaatlichen Sicherheitsunternehmen registriert las- sen müssen, dass sie eine Lizenz brauchen, dass sie sich einem Verhaltenskodex unterwerfen und dass sie für Ge- setzesverstöße haftbar gemacht werden können. Aber das genügt eben nicht. Wir, die Linke, halten diesen An- satz für grundfalsch. Weil es um demokratische Kon- trolle, um rechtlich verbindliche Grundlagen und um klare Haftungsregeln geht, sagen wir: Sicherheit ist ein öffentliches Gut, auch weil es hier – wir reden von Kriegs- und Krisensituationen – immer auch um den Schutz von Menschenleben, den Schutz körperlicher In- tegrität geht. Daher muss dem allgemeinen Trend zur Privatisie- rung der Gewalt endlich etwas entgegengesetzt werden. Aber bleiben wir realistisch: Es wird auf absehbare Zeit nicht gelingen, private Sicherheitsunternehmen in Deutschland per se zu verbieten, auch weil der Staat, der sich selber arm gemacht hat, seinen Verpflichtungen zur öffentlichen Daseinssicherung nur noch ungenügend nachkommt. Aber die Aufgabe bleibt, dass dieser Trend zur Privatisierung umgekehrt werden muss. Vor allem geht es uns darum, besonders restriktive Regelungen für die Bundesrepublik Deutschland festzuschreiben – weil 23734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) wir hier diese Dinge noch regulieren können! Im Klar- text: Wir wollen, dass hierzulande keine Sicherheitsun- ternehmen zugelassen werden, die eng mit dem harten Kern des Militärischen verbandelt sind. Noch gibt es hier keine Dyncorps und Blackwaters, noch plant die Bundeswehr – zumindest offiziell – keine Auslandsein- sätze gemeinsam mit privaten Anbietern. Noch kann man aus den Erfahrungen anderer Staaten wie den USA und Südafrika lernen und deren Fehler vermeiden. Noch ist es möglich, die rechtlichen Grundlagen für ein umfas- sendes Verbot für die Erbringung von militärischen Dienstleistungen durch Unternehmen im Ausland zu schaffen. Hier aber wird zu später Stunde und quasi unter Aus- schluss der Öffentlichkeit abschließend über die Legali- sierung eines neuen Kriegsinstruments entschieden. Das ist eigentlich völlig inakzeptabel. Wir stehen in Deutsch- land heute an einem Scheideweg. Machen wir die Tür auf, oder lassen wir sie zu? Leider muss es gesagt wer- den: Ihr Antrag macht eine Tür auf, die geschlossen blei- ben muss. Dass Sie vor der Aufgabe kapitulieren, der Privatisierung militärischer Gewalt eine klare Absage zu erteilen, hat auch damit zu tun, dass Sie leider wieder einmal Opfer Ihrer Unterwerfung unter die neoliberale Logik werden. Wenn letztlich alles der Logik und den Prinzipien des Marktes untergeordnet werden kann, warum nicht der Sicherheitssektor? Und dass es sich um einen lukrativen Markt handelt, ist nicht zu übersehen. Inzwischen gibt es auch hier in Deutschland mehrere Tausend Sicherheits- firmen mit milliardenschweren Umsätzen. Diese Unter- nehmen schielen zunehmend auch auf den lukrativen in- ternationalen Markt. Der weltweite Umsatz wird immerhin auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Es ist eine gefährliche Illusion, wenn Sie in Ihrem Antrag suggerieren, dass unter Kriegs- und Konfliktbe- dingungen private Sicherheitsakteure hinreichend kon- trolliert werden könnten. Schon die parlamentarische Kontrolle von Streitkräften ist häufig schwierig. Wie soll dies bei Firmen gelingen, die sich – ähnlich wie die Rüs- tungsindustrie – auf den Schutz ihrer Geschäftsinteres- sen berufen? Personal wird auf Zeit angeheuert, Auf- träge werden über Subunternehmer abgewickelt. Läuft etwas schief, kann einfach der Firmensitz verlegt wer- den. Konkurs wird angemeldet, oder man ändert einfach den Namen, wie zum Beispiel jüngst Blackwater – die sich nun Xe nennen. Hier von Haftungsmöglichkeiten durch die Opfer zu reden, grenzt an Zynismus. Auch andere Punkte sprechen gegen Ihren minimalis- tischen Ansatz: Die Grenzen zwischen Söldnern, militä- rischen Dienstleistern und Sicherheitsdienstleistern sind fließend. Zum Schutz von Transporten oder Objekten angeheuerte Privatfirmen kommen nahezu unweigerlich in die Lage, auch schießen zu müssen. Weiter: Diese Si- cherheitsunternehmen sind in der Regel transnationalen „Gemischtwarenläden“ zugehörig. Enge Verflechtungen zu Rüstungsunternehmen und Rohstoffkonzernen sorgen dafür, dass beim Einsatz auch noch andere Eigeninteres- sen den Grad der Auftragserfüllung bestimmen. Wie groß ist deren Interesse an einer schnellen Beendigung des Konflikts wirklich? Die Inanspruchnahme von Si- cherheitsunternehmen in gewaltträchtigen Konfliktla- gen bedeutet daher nichts anderes, als den Bock zum Gärtner zu machen. Und genau dies will die Linke nicht. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zögern, zaudern und interne Kontroversen, das hat Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bei den bisherigen Beratungen zum Antrag zu nichtstaatli- chen militärischen Sicherheitsunternehmen umgetrie- ben. Manchmal ist Zögern ja ganz gut und fruchtbar, dasselbe gilt für Kontroversen. Im vor uns liegenden Fall ist das leider nicht der Fall. Zugegeben, an einer Stelle ist der Antrag zuletzt tat- sächlich besser geworden, und zwar dort, wo Sie einge- sehen haben, dass eine Sache nicht sein kann: nämlich dass wir als Parlament künftig statt der Bundeswehr auch private Sicherheitsunternehmen in Auslandsein- sätze schicken. Der Groschen ist bei Ihnen noch recht- zeitig gefallen. Immerhin! Doch das ändert nichts daran, dass der Antrag weiter- hin an zwei entscheidenden Stellen zu schwach, ungenau und damit gefährlich zahnlos ist. Erstens: Sie bieten wei- terhin keine Antwort darauf, wie sichergestellt werden kann, dass das Gewaltmonopol des Staates unbedingt eingehalten und gesichert wird. Und zweitens: Sie leis- ten keinen Beitrag dazu, die komplexe Frage nach der rechtlichen Stellung privater Sicherheitsunternehmen zu klären. Militärische Aufgaben sind und bleiben Aufgaben des Staates. Was Sie hier als Antrag präsentieren, der die Aushöhlung dieses Prinzips unterbinden soll, ist so ne- bulös, dass er maximal ein Feigenblatt ist. Und dahinter können private Sicherheitsunternehmen weiterhin un- kontrolliert ihren Geschäften nachgehen! Da ist sogar der Antrag der Linksfraktion konsequen- ter; denn er sieht wenigstens dem Problem ins Auge. Doch es wird der Sache nicht gerecht, dass Sie, liebe Kol- leginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sich auch bei einem so heiklen Thema nicht zu schade sind, Ihr Mantra vom Ende der Auslandseinsätze der Bundeswehr abzuspielen. Was wollen Sie eigentlich? Das Problem der unkontrollierten privaten Sicherheitsfirmen lösen oder uns weiter Ihre außenpolitische Verantwortungslosigkeit vorführen? Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Zahl der privaten Sicherheitsunternehmen auffällig zugenommen. Sie sind international aktiv, in Konfliktgebieten, in de- nen vor allem eines herrscht: Unübersichtlichkeit. Viele Staaten ziehen sich immer weiter zurück und schaffen so überhaupt erst das Operationsgebiet für private Sicher- heitsunternehmen – land- wie seeseitig. Das ist der fal- sche Weg! Wenn der Staat seine Aufgaben ernst nimmt und erfüllt, dann löst sich die äußerst heikle Frage des Einsatzes privater Sicherheitsunternehmen von selbst. So wird ein Schuh daraus! Um Missverständnissen vorzubeugen: Mir geht es nicht darum, private Sicherheitsunternehmen zu verbie- ten. Das Beispiel Südafrika zeigt, dass dieser Schritt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23735 (A) (C) (B) (D) keine Lösung darstellt. Uns geht es darum, dass der Staat seine Aufgaben erfüllt, das Gewaltmonopol nicht ausge- höhlt wird und dass klargestellt wird, was private Sicher- heitsunternehmen dürfen und was nicht, und vor allem, wie sie effektiv kontrolliert werden. Auch vor dieser Frage – der Kontrolle privater Sicher- heitsunternehmen – ziehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, den Kopf ein. „Selbstregu- lierung“ ist Ihr Vorschlag: freiwillige Verhaltenskodizes. Meine Fraktion hat in dieser Woche eine interne Anhö- rung zu diesem Thema durchgeführt, bei der der Ge- schäftsführer einer privaten Sicherheitsfirma anwesend war. Seine Firma ist selbst im Irak aktiv. Ich habe ihn auf Ihr Wundermittel „Selbstregulierung“ angesprochen. Seine Reaktion war klar: Das ist doch alles nur – Zitat – „blah, blah“; daran halte sich sowieso niemand. – Sie präsentieren uns hier einen Feigenblatt-Antrag, wir wol- len Klarheit und verbindliche Regeln. Anders geht es nicht! Ein Beispiel dazu: Mir hat bis heute noch niemand er- klären können, warum wir im Außenwirtschaftsgesetz den Export von Waffen regeln, aber nicht den Export von Menschen, die diese benutzen. Wir sind der Ansicht, dass auch Dienstleistungen im Außenwirtschaftsgesetz reguliert werden müssen! Natürlich sind solche klaren Regelungen auf nationaler Ebene nur der Anfang. Wo wir hinkommen müssen, das sind internationale Regeln und Mechanismen zu Lizenzierung, Kontrolle und Sank- tionierung! Der Antrag der Koalition ist kein hilfreicher Schritt auf diesem Weg. Daher werden wir ihn ablehnen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für Batterien und Akkumulatoren – Beschlussempfehlung und Bericht: Schad- stoffbelastung durch Batterien begrenzen (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Michael Brand (CDU/CSU): Der heute zu beratende Gesetzentwurf zu einem Batteriegesetz ist vor allem er- forderlich, um die entsprechende EU-Richtlinie umzu- setzen. Dass wir dabei noch immer auf entsprechende Ausführungsbestimmungen der EU-Kommission war- ten, ist bedauerlich und erfordert die Einfügung von Ver- ordnungsermächtigungen für die Bundesregierung. Dass wir bei der Ausformulierung der dann zu erlassenden Bestimmungen darauf setzen, dass das Bundesumwelt- ministerium dies im Geiste der Beratungen dieses Batte- riegesetzes tut, will ich ausdrücklich zu Beginn meiner Rede betonen. Dass wir die Gelegenheit dazu nutzen, um weitere Verbesserungen an der Sammlung und auch dem Inver- kehrbringen von Batterien und Akkus sowie eine zeitge- mäße Erhöhung des Umwelt- und Verbraucherschutzes zu bewirken, ist ein gutes Beispiel für eine besonnene Umsetzung von Richtlinien der EU, an deren Zustande- kommen auf europäischer Ebene wir als Mitgliedstaat im Jahre 2006 schon intensiv beteiligt waren. Folglich will ich vorab für die CDU/CSU ausdrück- lich hervorheben, dass wir im Batteriegesetz nicht nur das wichtige Recycling von gebrauchten Altbatterien und -akkus regeln und modernisieren. Wir setzen auch klare Eckpunkte in der Information beim Verbraucher- schutz: Durch die erweiterte Kennzeichnungspflicht wird in Zukunft auf jeder Batterie die Kapazität abzule- sen sein, was bei der doch sehr unterschiedlichen Leis- tungsfähigkeit der in unserem Alltag immer wichtiger werdenden Batterien einen sehr wichtigen Beitrag gegen Billigbatterien von schlechterer Qualität leisten kann. Allerdings ist aus umweltpolitischer Sicht der starke Zu- wachs des Gebrauchs von wiederaufladbaren Akkus sehr zu begrüßen; zudem ist dort die Angabe der Leistungsfä- higkeit schon lange Standard. Wir können uns in Deutschland auch im Bereich des Batterie-Recyclings durchaus als Vorreiter in Europa be- trachten. Die bereits seit zehn Jahren durch die nun ab- zulösende Batterieverordnung etablierten Rücknahme- systeme in Deutschland haben dazu geführt, dass wir bereits heute die im Batteriegesetz vorgesehene Rück- nahmequote von 35 Prozent ab dem Jahr 2012 mit 41 Prozent erfüllen und ohne Frage auch die ab dem Jahr 2016 geltende Quote von 45 Prozent sicher ebenfalls er- reichen bzw. überschreiten werden. Es ist möglich, dass wir mit dem zentralen Register eventuell rechnerisch die Basis der in Verkehr gebrachten Batterien vergrößern, weil wir dann auch diejenigen Hersteller und Inverkehr- bringer erfassen, die sich bislang an den Rücknahmesys- temen vorbeimogeln. Wenn das kurzfristig zu einem langsameren Anstieg der Quote führen sollte, ist dies si- cherlich durch entsprechende Maßnahmen kompensier- bar. Ohnehin wird es – wie später auszuführen ist – eine sorgfältige weitere Beobachtung der Auswirkungen ein- zelner Teile des Batteriegesetzes geben. Natürlich begrüßen wir als CDU/CSU auch die künf- tige weitere Beschränkung der Verwendung von Gift- stoffen wie vor allem Cadmium. Wir haben einen hohen Stand an Schutz für Verbraucher und Umwelt erreicht, und wir bauen diesen mit diesem Gesetz weiter aus. In diesem Zusammenhang ist auch zu sagen, dass die weit überdehnten Anträge von Bündnis 90/Die Grünen übers Ziel hinausschießen und deshalb abgelehnt werden müs- sen. Durch das in Deutschland seit zehn Jahren erfolgrei- che System werden weit höhere Rücknahmequoten als die in der Vorgabe der Batterierichtlinie genannten er- reicht. Dieses erfolgreiche System ist im Zusammenspiel zwischen Hersteller und Handel auf der einen und quali- fizierten mittelständischen Entsorgern und Kommunen auf der anderen Seite eingerichtet und erfolgreich umge- setzt worden. In diesem Zusammenhang soll und muss hier aus- drücklich die stabilisierende und den Wettbewerb stär- kende Rolle der mehr als 400 mittelständischen Sammler herausgehoben werden. Umso kritischer muss daher 23736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) auch hier zum BMU-Entwurf angemerkt werden, dass diese zum Teil diskriminiert werden, indem die gewerb- lichen Sammler – sie sind doch besser als andere im Umgang mit dem Sondermüll Altbatterie qualifiziert – aus eben dieser gewachsenen Struktur nun herausge- drängt werden können, wenn die nun ermöglichte Ge- staltung der Verträge zwischen Herstellern und Handel den Herstellern quasi einen Monopolzugriff auf den wichtigen Stoffstrom der Altbatterien durch die Hinter- tür ermöglicht. Dieses Aussperren des Mittelstandes durch den Gesetzentwurf des BMU ist und bleibt ein Makel. Wir bedauern als CDU/CSU, dass es in den Ge- sprächen mit der SPD-Fraktion nicht mehr gelungen ist, die erfolgreiche Praxis aus den letzten zehn Jahren abzu- sichern und die Aussperrung des Mittelstandes aus dem Sammlungs- und Verwertungsprozess zurückzuweisen. Und nun werden ja alle möglichen Einwände vorge- tragen, um dieses eher ideologisch motivierte Heraus- drängen qualifizierter privater mittelständischer Samm- ler zu begründen. Dazu ist klar festzustellen: Im Gegensatz zu erkennbar übertriebenen Formulierungen wird auch künftig niemand in Deutschland das Problem haben, auf Gehwegen über alte Autobatterien zu stolpern – wie dies teils vorgetragen wurde, um ein Argument zu finden, private Mittelständler herauszudrängen. Die Er- fahrung der vergangenen Jahre zeigt im Gegenteil: Die- ses ungeeignete Argument ist nur ein Vorwand, um fach- lich qualifizierte mittelständische Entsorger bewusst von der Sammlung auszuschließen, weil man in Teilen der SPD die totale Kommunalisierung der Abfallentsorgung anstrebt – und damit die großen Fortschritte der unter den Umweltministern Töpfer und Merkel entwickelten und durchgesetzten Kreislaufwirtschaft als Wirkung aus hohen Umweltstandards und Umsetzung im Wettbewerb der besten Lösungen gefährdet. Die CDU/CSU hat immer wieder – bis hin zur EU- Ebene – das Prinzip der Subsidiarität und der Daseins- vorsorge vertreten und dies mit Erfolg getan. Bei allem Eintreten für die Verantwortung und die Rechte der Kommunen in der Daseinsvorsorge und der Abfallwirt- schaft wenden wir uns allerdings entschieden gegen eine von manchen in der SPD offenbar angesteuerte totale Dominanz der Kommunen in der Abfallwirtschaft und die damit verbundene Schwächung des regionalen Mit- telstandes. Wir wollen in der Recyclingwirtschaft keinen Kampf der Konzerne gegen die Kommunen um jede Tonne an der Ecke. Aber wir wollen auch keine Aus- grenzung des Mittelstandes durch die Kommunen – wir brauchen vielmehr eine faire Partnerschaft statt künstli- cher Gegnerschaft. Diese Haltung findet sich in der Mehrzahl der Kommunen in Deutschland, deren Sicht nicht von den Partikularinteressen der kommunalen Un- ternehmen und der dort zahlreich vertretenen Vertreter aus der Politik beeinträchtigt wird. Vor allem die Land- kreise ohne eigene Abfallwirtschaft werden an einer Partnerschaft mit mittelständischen Partnern interessiert sein. Insofern erwarten wir als CDU/CSU durchaus bereits früh in der nächsten Wahlperiode einen Korrekturbedarf am heute auf den Weg gebrachten Gesetz. Sofern wir Fehlentwicklungen im Bereich Mittelstand oder auch Missbrauch von Marktpositionen bei Handel oder Her- stellern identifizieren, müssen wir nachbessern. Dies gilt im Übrigen auch für den Fall, dass die von uns durchaus gewünschte Rolle der Kommunen in einer zu starken Form überdehnt würde. Gerade in den letzten Wochen haben wir hier das eine oder andere Signal erhalten, dass auch bei der Trägerschaft für die Kosten des Batterie- Recyclings die einen bestellen wollen, um dann anderen einfach die Rechnung zu schicken. Verantwortung in der Daseinsvorsorge bedeutet sicher auch, die aktive Teil- nahme an einem bislang erfolgreichen Sammelsystem nicht völlig zurückzufahren und einen fairen Ausgleich der Lasten zu suchen. Dass es dabei primär auf die Pro- duzenten ankommt, ist wohl eindeutig. Dies darf aber weder den Handel zu überzogenen Forderungen führen, noch sollten sich die Kommunen als wesentlicher Teil der Sammlung allzu stark zurückziehen. Zu der von den Grünen wieder einmal vorgeschlage- nen Überregulierung ist zu sagen: Vorschläge wie die to- tale Ausdehnung der Pfandpflicht auf alle Batterien oder radikale Quoten trotz aller Übererfüllung der bisherigen Quoten können nicht akzeptiert werden. Wer die deut- sche Vorreiterrolle in der EU weiter innehaben will, darf uns nicht mit Überregulierung ins Straucheln bringen. Wir brauchen Augenmaß statt blindem Aktionismus. Heute allerdings geht es zunächst um eine zügige Umsetzung der EU-Richtlinie. Wir bitten als CDU/CSU um Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Gerd Bollmann (SPD): Zum zweiten Mal befassen wir uns heute im Plenum mit dem Batteriegesetz. Mit diesem Gesetz setzen wir die entsprechenden europäi- schen Richtlinien vom 6. September 2006 um. Mit dem vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwor- tung für Batterien und Akkumulatoren“ verbessern wir Sammlung und stoffliche Verwertung ebenso wie die ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Zusätzlich erhöhen wir den Gesundheitsschutz durch niedrigere Grenzwerte für den Einsatz von Schadstoffen. Gestern haben wir im Umweltausschuss dieses Batte- riegesetz abschließend beraten. Dabei haben wir diejeni- gen Änderungswünsche des Bundesrates übernommen, denen auch die Bundesregierung zustimmt. Dies begrüßt die SPD ausdrücklich. Bevor ich auf Einzelheiten und konkrete Änderungswünsche eingehe, will ich noch ein- mal die Kernpunkte des Gesetzentwurfes ansprechen. Aufgrund der geltenden Batterieverordnung gibt es bereits ein gut funktionierendes gemeinsames Rücknah- mesystem der Industrie. Darüber hinaus unterhalten auch viele Kommunen freiwillig eingerichtete Rücknah- mestellen. Bundesweit kommen wir damit auf über 170 000 Sammelstellen. Unsere Bürger haben somit zahlreiche Möglichkeiten, gebrauchte Batterien zurück- zugeben. Mit dem neuen Batteriegesetz wird sich daran nichts Grundlegendes ändern. Auch nach dem neuen Gesetz müssen die Vertreiber, sprich der Handel, deutlich sicht- bare Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen einrichten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23737 (A) (C) (B) (D) Das Gesetz verpflichtet die Hersteller, Altbatterien von den Sammelstellen abzuholen und weitgehend stofflich zu verwerten. Wie bisher können die Hersteller diese Aufgabe über das bereits bestehende Rücknahmesystem der Industrie bewerkstelligen. Auch herstellerindividu- elle Rücknahmesysteme, quasi Selbstentsorger, sind zur Durchführung zugelassen, bedürfen aber einer Genehmi- gung. Diese Genehmigungen sind meiner Ansicht nach unbedingt notwendig. Ohne ein Genehmigungsverfahren würden, wie bei der Verpackungsverordnung, Probleme entstehen. Die Gefahr, dass Trittbrettfahrer den Vollzug des Gesetzes unterlaufen, wäre sehr groß. Für die Kommunen wird die Sammlung von Altbatte- rien zukünftig freiwillig sein. Im Gegensatz zur bisheri- gen Regelung sind sie nicht verpflichtet, Sammelstellen einzurichten. Ich gehe davon aus, dass die Kommunen auch weiterhin Altbatterien sammeln werden. Die Bür- ger haben sich an diese Rücknahmemöglichkeiten ge- wöhnt. Zugunsten der Bürger appelliere ich daher an die Kommunen, die Rücknahmesysteme beizubehalten. Wichtig für uns Sozialdemokraten ist hierbei aber die Freiwilligkeit. Das Batteriegesetz legt eindeutig fest, dass die Her- steller und Vertreiber für die umweltgerechte stoffliche Entsorgung und Sammlung zuständig sind. Damit wird die ungeteilte Produktverantwortung in diesem Bereich der Abfallwirtschaft durchgesetzt. Dies begrüße ich aus- drücklich. Damit ist ein sozialdemokratisches Ziel in der Abfallpolitik zumindest in einem Teilbereich durchge- setzt worden. Positiv hervorzuheben sind die Einschrän- kung des Einsatzes gefährlicher Stoffe und die Festle- gung verbindlicher Sammelziele für Altbatterien. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist nach Ansicht der Sozialdemokraten grundsätzlich positiv zu bewerten. Neben den genannten einzelnen Punkten ist besonders hervorzuheben, dass sich für die Bürger nichts Grundle- gendes ändert. Sie können wie gewohnt die Altbatterien beim Handel oder bei kommunalen Rückgabestellen ab- geben. Aus der Wirtschaft, von anderen Parteien und von den Bundesländern gibt es weitgehende Änderungswün- sche. So fordert der ZVEI eine Sammelpflicht der Kom- munen. Ich habe bereist dargelegt, dass die SPD aus grundlegender Überzeugung dagegen ist. Wir sind für die ungeteilte Produktverantwortung. Wer ein Produkt in den Markt bringt, muss auch die umweltgerechte Entsor- gung sicherstellen. Darüber hinaus gibt es weitere sach- liche Gründe, einen Sammelzwang der Kommunen ab- zulehnen. In dem Entwurf zum Batteriegesetz stehen sich öf- fentlich-rechtliche Entsorger und Hersteller gleichrangig gegenüber. Die öffentlich-rechtlichen Entsorger müssen nicht sammeln, und die Hersteller müssen nicht für die Sammlung der öffentlich-rechtlichen Entsorger bezah- len. Grundsätzlich sind beide Seiten dazu bereit, umstrit- ten ist nur die Höhe der Zahlungen. Wenn wir die Kommunen zum Sammeln zwingen würden, müssten wir auch Regelungen für die Höhe des Deckungsbeitrages festlegen. Im Hinblick auf die schwankenden Rohstoffpreise und das Marktgeschehen sind privatwirtschaftliche Regelungen sinnvoller. Gefor- dert wird auch, dass gewerbliche Abfallentsorger Fahr- zeugaltbatterien bei privaten Endnutzern sammeln bzw. abholen dürfen. Mit anderen Worten: Eine solche Ände- rung hätte zur Folge, dass gefährliche Abfälle direkt bei privaten Haushalten gesammelt werden. Ich frage mich: Wie soll die Sammlung durchgeführt werden? Sollen die Bürger Fahrzeugaltbatterien auf die Straße stellen oder in Behältern vor die Haustür? Ohne Aufsicht, sodass zum Beispiel Kinder an diese gefährlichen Abfälle kom- men? – Absolut unmöglich, finde ich. Oder klingeln die gewerblichen Sammler an den Haustüren? – Ich weiß, die Befürworter argumentieren, dass diese gewerblichen Abfallentsorger ja zertifiziert sind. Aber bei einer Sammlung bei privaten Haushalten müsste der Bürger entscheiden, ob der Sammler zertifi- ziert ist. Er müsste entscheiden, ob die Zertifizierung korrekt ist. Wollen wir wirklich, dass der Bürger darüber entscheidet? Und das bei gefährlichen Abfällen? Können Sie mir garantieren, dass keine Trittbrettfahrer oder schwarze Schafe dies ausnutzen? Wollen wir wirklich die Gefahr neuer Skandale riskieren? Dazu sage ich ganz klar Nein. Wie haben im Abfallbereich schon genug Vollzugsdefizite. Außerdem lehnen wir Sozialdemokraten die Samm- lung bei Privathaushalten durch die gewerbliche Wirt- schaft aus grundsätzlichen Überlegungen ab. Dies gehört zur Daseinsvorsorge und damit in die Zuständigkeit der Kommunen. Eine Ausweitung des Kreises, der sammeln darf, erschwert auch die Vollzugskontrolle. Wir wollen keine Verhältnisse, wie sie zeitweise bei den Verkaufs- verpackungen herrschten. Aus diesem Grund ist eine Genehmigungspflicht für herstellereigene Rücknahme- systeme absolut notwendig. Eine Anzeigepflicht genügt dem nicht. Ohne ein Genehmigungsverfahren wären Trittbrettfahrern Tür und Tor geöffnet. Eine Kontrolle wäre nicht mehr möglich. Zum Schluss noch einige Worte zu den Anträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Ziele gehen durchaus in die richtige Richtung: höhere Sammelquo- ten, keine Ausnahmen für den Einsatz gefährlicher Stoffe, Begrenzung des Einsatzes von Einwegbatterien. Das sind grundsätzlich alles Punkte, die zu befürworten sind. Allerdings geht es auch um die praktische Umset- zung. Nach meinem Kenntnisstand gibt es zum Beispiel momentan keine Alternativen zu Knopfzellen mit Quecksilber, wie das gefordert wird. Eine Pfandpflicht für Altbatterien halte ich ebenfalls für sehr schwer zu or- ganisieren. Insgesamt halte ich das Gesetz in der jetzigen Fassung für gut und bitte Sie um Ihre Zustimmung. Horst Meierhofer (FDP): Dass die Entsorgung von Altbatterien bei uns in Deutschland auch jetzt schon funktioniert, habe ich ja bereits an mehreren Stellen deutlich gemacht. Und auch die vorgesehene Kennzeich- nung mit den chemischen Zeichen „Cd“ für Cadmium, „Pb“ für Blei und „Hg“ für Quecksilber habe ich bereits mehrfach kritisiert, denn ich glaube nicht, dass eine sol- che Kennzeichnung für die Verbraucher wirklich ver- 23738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 (A) (C) (B) (D) ständlich ist. Aus rein deutscher Sicht wäre das Batterie- gesetz also nicht unbedingt nötig gewesen. Doch die Vorgaben hierzu kommen wie so oft aus Brüssel. Im Großem und Ganzen können wir Liberale mit dem Umsetzungsvorschlag der Großen Koalition leben, zu- mal gestern im Ausschuss noch einmal einige Klarstel- lungen beschlossen wurden. Trotzdem: Hundertprozen- tig zufrieden sind wir nicht. An der einen oder anderen Stelle hätten wir Liberale es uns schon anders ge- wünscht. Das betrifft vor allem die Rolle des Mittelstan- des. Natürlich begrüßen wir das Ziel der Bundesregierung, den Fortbestand der dezentralen Rücknahmestrukturen – und darum geht es, wenn wir vom Mittelstand spre- chen – zu gewährleisten. Aber wenn man in den Geset- zestext schaut, dann sieht die Realität doch anders aus: Gerade dem Mittelstand wird das Leben – oder besser gesagt die Existenz – schwer gemacht. Deshalb auch un- ser Änderungsantrag, den wir gestern in den Ausschuss eingebracht haben. Wir sind der Meinung, Endverbraucher müssen ihre alten Fahrzeugbatterien eben auch bei gewerblichen Alt- batterieentsorgern abgeben können, und nicht nur bei Vertreibern oder öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträ- gern. Dafür spricht auch, dass der Mittelstand bei Indus- triebatterien nach dem Gesetzentwurf bereits mit im Boot ist. Warum hier eine solche Differenzierung vorge- nommen werden soll, leuchtet mir nicht ein. Doch obwohl die Union diese Ansicht in der Sache teilt, hat sie unseren Antrag abgelehnt und uns auf die nächste Legislaturperiode vertröstet. Statt sinnvoller Sachpolitik also Koalitionsraison. Und die heißt bei Schwarz-Rot anscheinend: Der Mittelstand muss drau- ßen bleiben. Schade! Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auch noch ein- mal auf die Befürchtung, dass große Hersteller mit dem jetzigen Gesetzesvorschlag die Möglichkeit hätten, den Verkauf von Neubatterien durch die Zahlung von Um- weltprämien an die Rücknahnahme von Altbatterien zu koppeln und so einmal mehr die mittelständischen Ent- sorger – die sich eben nur auf das Entsorgen beschrän- ken – das Nachsehen hätten. Gerade noch die Kurve bekommen hat die Große Ko- alition im Übrigen bei der Frage, welche Rolle die öf- fentlich-rechtlichen Entsorgungsträger spielen sollen. Vor allem der CDU-Kollege Brand hat in der ersten Le- sung noch über den Sinn bzw. Nichtsinn einer verpflich- tenden Beteiligung der Kommunen philosophiert. Ich bin froh, dass entsprechende Änderungsanträge ausge- blieben sind, denn nur so kann dem Prinzip der Produkt- verantwortung auch vollumfänglich Rechnung getragen werden. Gegen eine freiwillige Teilnahme der Kommu- nen habe ich im Übrigen nichts einzuwenden. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antrag der Grünen eingehen: Eine zusätzliche Pfandpflicht für Gerätebatterien ist und bleibt falsch. Wir glauben nicht, dass dies zu einer nennenswerten Lenkungswirkung führt, sondern lediglich dem Handel eine ähnlich hüb- sche Zusatzeinnahme bescheren wird, wie wir das schon vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen. Den Antrag der Grünen lehnen wir daher ab. Bei dem Gesetzentwurf werden wir uns enthalten. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Bundesre- gierung betonte bei der Vorlage ihres Entwurfs eines Batteriegesetzes, dieser Rechtsakt sei nur eine 1:1-Um- setzung der entsprechende EU-Richtlinie. So verzichtet sie in diesem Bereich der Abfall- und Produktpolitik je- doch auf eine Vorreiterrolle in der EU. Mehr noch: In zentralen Details ist der Entwurf sogar ein Rückschritt. Denn wie kann es sein, dass für Gerätealtbatterien ledig- lich Rücknahmequoten von 35 Prozent bis zum Jahr 2012 gefordert werden, wo doch in der Praxis schon 2007 rund 40 Prozent erreicht wurden? Hier sind min- destens 70 Prozent gefordert. Die Sammelquoten könn- ten noch weiter erhöht werden, indem die Pfandpflicht von Starterbatterien auf alle Batterien ausgedehnt würde – auch hier Fehlanzeige im Gesetzentwurf. Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter an- derem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobiler Endgeräte der Bedarf an ökologisch problematischen Einwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegen ist und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sind pa- rallel energische Schritte, um den Einsatz von Einweg- batterien zugunsten von langlebigen wiederaufladbaren Akkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindern 2 bis 3 Prozent mehr Akkus in den entsprechenden An- wendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Doch von solchen Regelugen ist im künftigen Gesetz nichts zu le- sen. Deshalb finden wir den Vorschlag der Grünen im Ausschuss sinnvoll, das Inverkehrbringen sogenannter Primärbatterien – welche ja nicht wiederaufladbar sind – bis 2012 auf 80 und bis 2016 auf 50 Prozent gegenüber 2007 zu senken. Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produkt- politik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in Batterien und Akkus zu reduzieren und einen hohen Anteil stofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat die Bundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen, etwa bei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerk- zeugen, durchlöchern das weitgehende Verbot des Ein- satzes von Quecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnah- men sind nicht zu verstehen, denn es gibt bereits Alter- nativen für den Einsatz der gefährlichen und umweltbelastenden Stoffe. Bei der Verwertung fordert die Linke anspruchsvolle Quoten für die stoffliche Ver- wertung sowie – angesichts der hohen Schadstoffbelas- tung – die „bestverfügbare Technik“ als Standard bei den Verwertungsverfahren anstelle des vorgesehenen „Stan- des der Technik“. Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlung von Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Ge- setz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknah- meweg für Altbatterien für entsprechende Elektrogeräte nicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von der Rücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach § 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Ak- kus unsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23739 (A) (C) (B) (D) Sinnvollerweise müsste also hier ein grundsätzliches Verbot des festen Einbaus – etwa über eine Stichtagsre- gelung – die vorgesehene Lösung flankieren. In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Grü- nen und lehnen den Gesetzentwurf ab. zum Tod des Fötus führen kann. Was nützt uns heute das Quecksilberverbot, wie es auf der letzten UNEP-Konfe- renz in Nairobi beschlossen wurde, wenn wir auf Jahre weitere ordnungsrechtliche Maßnahmen und ambitio- nierte Quoten scheuen? Bis ein Vertrag rechtskräftig wird, der Produktion und Emissionen von Quecksilber regelt, wird sicher ein Jahrzehnt vergehen. Das ist nicht Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir stimmen heute über einen Gesetzesvorschlag ab, der die Vorreiterrolle Deutschlands gerade im Bereich der Abfalltechnologie und des Recyclings bestenfalls igno- riert, möglicherweise sogar konterkariert, haben die Sammelsysteme doch, wie sie zur Vermeidung der Um- weltverschmutzung mit Cadmium und Quecksilber be- reits mit dem Elektro- und Elektronikgerätegesetz 2005 eingerichtet wurden, bisher auch ohne das heute zur De- batte stehende Batteriegesetz 42 Prozent der Altbatterien wieder eingesammelt. Liegt es nun „nur“ am Dogma der Großen Koalition, dass man grundsätzlich nicht über die europaweiten Vorgaben von umzusetzenden Richtlinien hinausgeht? Oder – weitaus schlimmer für die Umwelt – geht die Regierungskoalition davon aus, dass auch den Sammelquoten bei Batterien dasselbe Schicksal wie dem Mehrwegsystem bei Flaschen blühen könnte: fallende Rückläufe, nicht zu steuernde Quotenverfehlungen? Die Debatte im Umweltausschuss hat gezeigt: Auch für die FDP wiegt im Falle von Vorschriften für Hersteller zur Produktverantwortung offensichtlich das Gut des unein- geschränkten Marktes schwerer als das der unversehrten Gesundheit. Wie ließe sich sonst erklären, dass der bündnisgrüne Vorschlag, die Mindestsammelquoten in § 16 – die laut Gesetzentwurf bis 2012 für Geräte-Alt- batterien auf mindestens 35 Prozent festgesetzt ist – mit mindestens 50 Prozent vorzugeben, abgetan wird mit dem Hinweis auf eine „unzumutbare“ Belastung der Bat- teriehersteller? Batterien gehören nicht in den Hausmüll! Unbestrit- ten sind die metallischen Stoffe, die für den Vorgang der Elektrolyse zur Energiespeicherung notwendig sind, to- xikologisch hoch gefährlich! Blei, Zink, Nickel, Kupfer, Lithium, Cadmium und Quecksilber gelangen bei über 33 000 Tonnen verbrauchten Batterien tonnenweise in die Umwelt, wenn die Altbatterien nicht ordnungsgemäß entsorgt werden! Jedes Gramm dieser Schwermetalle, das in die Umwelt gelangt, sei es nun durch unsachge- mäße Entsorgung oder auch durch eine Müllverbren- nung von tonnengängigen Batterien zusammen mit dem Siedlungsabfall, ist ein Gramm zu viel! Nehmen wir Quecksilber: Bereits geringe Dosen von Quecksilber können im menschlichen Organismus durch Anreiche- rung Hirn, Nerven und Organe schädigen. Quecksilber steht zudem im Verdacht, das Alzheimer-Risiko zu erhö- hen. Bei Babys und Kindern sind Entwicklungsstörun- gen möglich. Schwangeren wird vom Verzehr bestimm- ter Fischarten abgeraten, da eine Quecksilbervergiftung verwunderlich, wenn schon die 1 : 1-Umsetzung einer EU-Richtlinie in deutsches Recht – die keine Verände- rung in der Versorgungspraxis bedarf – ein Dreiviertel- jahr länger als die vorgegebene EU-Frist braucht. Es ist wohl dieser Folgenlosigkeit geschuldet, dass sich ledig- lich der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit mit dem Gesetzentwurf befasst. Das Instrument von Bündnis 90/Die Grünen zur Er- höhung der Rückgabemengen für Gerätebatterien ist das Pfand. Bei den Autobatterien hat sich die bereits einge- führte Pfandpflicht bewährt. Gerade für die Unzahl an kleinen Batterien wäre die Rückgabe gegen Pfand über den Handel eine gute Lösung, um kurzfristig zu weit hö- heren Rückführungen zu gelangen. Alle notwendigen Einrichtungen für die Pfandeinführung gibt es bereits mit den Rücknahmesystemen. Es fehlt nur der politische Wille. Auch kritisieren Bündnis 90/Die Grünen die nun durch die Regierungskoalition in das neue Batteriegesetz gestimmte Einschränkung der Unverletzlichkeit der Wohnung (§ 21, Abs. 2). Ich zitiere: „Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt.“ Es er- schließt sich nicht, warum Überwachungspflichten der Behörden zur Einhaltung des Abfallrechtes das Betreten von Privatwohnungen auch ohne einen richterlichen Be- schluss sinnvoll und notwendig machen könnten. Ande- rerseits wird nichts weiter unternommen, als durch EU- Recht ohnehin bereits geltend. Ohne weitere Erläuterung einen solchen – angesichts der aktuellen Datenskandale namhafter Firmen – beunruhigenden Satz aufzunehmen, ist äußerst hilflos! Das Gemeinsame Rücknahmesystem hat nach der nun durch dieses Gesetz abgelösten Batterieverordnung von 2001 gut gearbeitet, und es kann mit anderen Rück- nahmesystemen der Hersteller gemeinsam noch viel mehr leisten! Ebenso wie die Hersteller, deren Innovationen für die mobile Stromversorgung gebraucht werden. Die Chance, hier für Batterien die Produktverantwortung zu stärken, wird leider vorerst vertan. Dem Gesetzentwurf, in den keiner unserer Änderungsvorschläge Aufnahme ge- funden hat, verweigern wir deshalb unsere Zustimmung. Ich wünsche mir allerdings sehr, dass der Zustimmung zu unserem Antrag auf Bundestagsdrucksache 16/1117 le- diglich der Koalitionszwang entgegensteht und dass un- sere inhaltlichen Vorschläge – Pfandausweitung, Schad- stoffbegrenzung – bald in anderer Form aufgenommen und umgesetzt werden. 217. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700000

Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Wie meistens am Donnerstag-
vormittag, gibt es einige Mitteilungen zu machen, bevor
wir in unsere Tagesordnung eintreten.

Zunächst gibt es einige Glückwünsche zu übermit-
teln. Der Kollege Ludwig Stiegler hat am 9. April sei-
nen 65. Geburtstag gefeiert.


(Beifall – Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist doch schon ewig her, Herr Präsident!)


– Ja, aber bedeutende Ereignisse verdienen trotz eines
zeitlichen Abstandes eine angemessene Würdigung.

Ihre 60. Geburtstage begingen die Kollegin Anke
Eymer am 12. April und der Kollege Frank Hofmann
am 21. April. Im Namen des ganzen Hauses übermittle
ich ihnen alle guten Wünsche für die nächsten Jahre.


(Beifall)


Der Kollege Dr. Rainer Wend hat mit Wirkung zum
1. April auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes-
tag verzichtet. Als Nachfolgerin begrüße ich herzlich die
uns bereits aus früheren Wahlperioden bekannte Kolle-
gin Hildegard Wester.

Rede

(Beifall)


Herzlich willkommen und auf gute Zusammenarbeit!

Als Nachfolger des ausgeschiedenen Kollegen
Dr. Rainer Wend im Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des
Zollfahndungsdienstgesetzes schlägt die SPD-Fraktion
den Kollegen Rolf Hempelmann vor. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
der Kollege Hempelmann gewählt.

Die CDU/CSU-Fraktion hat vorgeschlagen, die Kol-
legin Julia Klöckner als Nachfolgerin des ebenfalls aus-
geschiedenen Kollegen Ralf Göbel zum neuen stellver-
tretenden Mitglied im Kuratorium der Stif
der Geschichte der Bundesrepublik Deut
wählen. Darf ich auch hierzu Ihr Einverneh
len? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann
gin Klöckner in diese Funktion gewählt.
tzung

den 23. April 2009

.01 Uhr

Die Kollegin Karin Binder hat ihr Amt als Schriftfüh-
rerin niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion
Die Linke die Kollegin Sabine Zimmermann vor. Gibt
es auch dazu Einvernehmen? – Das ist offenkundig der
Fall. Dann ist die Kollegin Sabine Zimmermann zur
Schriftführerin gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Konsequenzen aus dem Urteil des Oberver-
waltungsgerichtes Berlin-Brandenburg zur mi-
litärischen Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide vom 27.03.2009 (Bombodrom)


(siehe 216. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Neue Chancen für die berufliche Bildung

– Drucksache 16/12665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und

text
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 38)


a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, Carl-
Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Korrektur der Unternehmen-
steuerreform

– Drucksache 16/12525 –
isungsvorschlag:
usschuss (f)

usschuss
ss für Wirtschaft und Technologie
tung „Haus
schland“ zu
men feststel-
ist die Kolle-

Überwe
Finanza
Rechtsa
Ausschu

Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Geschmacksmustergesetzes

– Drucksache 16/12586 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christel
Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke Ferner
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent-
wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes

– Drucksache 16/12664 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Erhöhung des Schonvermögens im Alter für
Bezieher von Arbeitslosengeld II

– Drucksache 16/5457 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Ermäßigte Mehrwertsteuersätze für Hotellerie
und Gastronomie in Deutschland einführen

– Drucksache 16/12287 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP

Die Evaluierung des Verbraucherinformations-
gesetzes muss so schnell wie möglich durchge-
führt werden

– Drucksache 16/12669 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz von Arbeitnehmerdaten durch trans-
parente und praxisgerechte Regelungen ge-
setzlich absichern

– Drucksache 16/12670 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas
Scheuer, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter,
Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD

Mobilität zukunftsfähig machen – Elektromo-
bilität fördern

– Drucksache 16/12693 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Manipulierte Strompreise – Verbraucherinte-
ressen wahren

– Drucksache 16/12692 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Vergaberecht konsequent sozial gestalten –
Gemeinnützige Unternehmen nicht benachtei-
ligen

– Drucksache 16/12694 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

(Ergänzung zu TOP 39)







(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen
und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung ei-
ner Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft
sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichts-
ordnung, der Finanzgerichtsordnung und kos-
tenrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/11385 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12717 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Carl-Christian Dressel
Christoph Strässer
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung von Verfahren im patent-
anwaltlichen Berufsrecht

– Drucksache 16/12061 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12718 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle
und weiterer Abgeordneter der Fraktion der
FDP
sowie der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und weite-
rer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln)
und weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-
Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Dieter Wiefelspütz
Jörg van Essen
Volker Schneider (Saarbrücken)

Wolfgang Wieland

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Meinungsverschiedenheiten in der Bundesre-
gierung zum Anbauverbot des gentechnisch ver-
änderten Mais MON 810

ZP 6 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen

– Drucksachen 16/11131, 16/11641 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit (16. Ausschuss)


– Drucksache 16/12465 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Marko Mühlstein
Michael Kauch
Hans-Kurt Hill
Hans-Josef Fell


(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/12466 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Andreas Weigel
Ulrike Flach
Michael Leutert
Anna Lührmann

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva
Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Bio-
kraftstoffen zurücknehmen – Nachhaltigkeits-
kriterien umgehend einführen

– Drucksachen 16/5679, 16/12699 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Dr. Axel Troost

ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Max Stadler,
Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes

– Drucksache 16/12663 –






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

ZP 9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Kontopfändungsschutzes

– Drucksache 16/7615 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12714 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

ZP 10 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über genetische Untersuchungen bei
Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG)


– Drucksachen 16/10532, 16/10582 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Birgitt Bender, Volker Beck (Köln),
Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes über gene-

(Gendiagnostikgesetz – GenDG)


– Drucksache 16/3233 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 16/12713 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Elke Hoff, Jens Ackermann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

Für einen Abzug der in Deutschland noch ver-
bliebenen US-Nuklearwaffen

– Drucksache 16/12667 –

ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Die NPT-Überprüfungskonferenz im Jahre 2010
zum Erfolg führen – Für ein klares Bekenntnis
zu dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt

– Drucksache 16/12666 –
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried

(Bremen)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konkrete Schritte zur nuklearen Abrüstung
jetzt einleiten – Nichtverbreitungsvertrag stär-
ken

– Drucksache 16/12685 –

ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen

(Bremen)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Initiative für eine atomwaffenfreie Welt unter-
stützen – Atomwaffen aus Deutschland abzie-
hen

– Drucksache 16/12686 –

ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Jens Ackermann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Klarheit beim Konjunkturpaket II – Bildungs-
politische Handlungsspielräume für Länder
und Kommunen einräumen

– Drucksache 16/12668 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

ZP 16 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Er-
richtung eines Sondervermögens „Investitions-
und Tilgungsfonds“

– Drucksache 16/12662 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 17 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Anordnung des Zensus 2011
sowie zur Änderung von Statistikgesetzen

– Drucksache 16/12219 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/12711 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Kristina Köhler (Wiesbaden)

Maik Reichel
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert

(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/12712 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Roland Claus
Omid Nouripour

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 27 wird abgesetzt.

Aufgrund der Auf- und Absetzung von Tagesord-
nungspunkten gibt es Änderungen in der Reihenfolge.
Heute wird der Tagesordnungspunkt 8 nach dem Tages-
ordnungspunkt 11 aufgerufen, 12 nach 13, 14 nach 17,
16 nach 19, 18 nach 21, 20 nach 23, 22 nach 25, 24 nach
28 sowie 26 nach 29.

Mich überrascht, dass niemand mitschreibt.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das kann ich mir nicht merken!)


– Herr Kollege Westerwelle, das Angebot des Präsi-
diums, dass das, was man nicht sofort begreift oder mit-
bekommt, auf gezielte Nachfrage hin erläutert wird, gilt
selbstverständlich für Koalition und Opposition in glei-
cher Weise.


(Heiterkeit)


Morgen wird der Tagesordnungspunkt 32 nach dem
Tagesordnungspunkt 34 aufgerufen.

Schließlich mache ich auf eine Reihe von nachträgli-
chen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-
punktliste aufmerksam:

Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-

(11. Ausschuss)


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung des Datenschutzaudits und zur Änderung
datenschutzrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/12011 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien

Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Einlagensicherungs- und Anlegerent-
schädigungsgesetzes und anderer Gesetze

– Drucksache 16/12255 –
überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit (16. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
sen werden.

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtli-
cher Vorschriften

– Drucksache 16/12279 –
überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Der in der 212. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Innenausschuss (4. Ausschuss) und dem Sport-
ausschuss (5. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden.

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Wasserrechts

– Drucksache 16/12275 –
überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

Der in der 215. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Auswärtigen Ausschuss (3. Ausschuss) zur
Mitberatung überwiesen werden.

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer,
Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie den Abgeordneten Thomas Oppermann,
Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter
Struck und der Fraktion der SPD






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
sowie den Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
entwicklung der parlamentarischen Kontrolle
der Nachrichtendienste des Bundes

– Drucksache 16/12411 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen unbeschadet der
sofortigen kompletten Wahrnehmung einverstanden? –


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Absolut! Das war unglaublich überzeugend vorgetragen!)


Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen ist
es genau zehn Jahre her, seit der Bundestag seine Arbeit
in Berlin aufgenommen hat. Ich darf vielleicht daran er-
innern, dass es nach der leidenschaftlichen Debatte und
der denkbar knappen Entscheidung über den Umzug von
Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin eine er-
staunlich schnelle und breite Übereinstimmung gegeben
hat, das historische Reichstagsgebäude als Sitz des ge-
setzgebenden Verfassungsorgans zu nehmen. Heute sind
beide Entscheidungen nahezu unumstritten. Nicht alle
Erwartungen von damals mögen sich erfüllt haben, aber
fast alle damaligen Besorgnisse oder Befürchtungen sind
längst ausgeräumt. Berlin, die deutsche Hauptstadt, hat
sich als Sitz von Regierung und Parlament ebenso be-
währt wie der Reichstag als Parlamentsgebäude.

Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es uns
heute erscheint. Deswegen möchte ich all denen danken,
die den Umzug vorbereitet und durchgeführt haben, al-
len, die ihren besonderen Beitrag zum Gelingen geleistet
haben. Das gilt für Bonner wie für Berliner, für Parla-
mentarier wie für Regierungsmitglieder und vor allen
Dingen für die vielen, meist unauffälligen, Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter in den beteiligten Verwaltungen.


(Beifall)


Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b so-
wie Zusatzpunkt 2 auf:

3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Berufsbildungsbericht 2009

– Drucksache 16/12640 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz (Herborn), Ekin Deligöz, Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Recht auf Ausbildung umsetzen – Ausbildungs-
system reformieren, überbetriebliche Ausbil-
dungsstätten ausbauen und Übergangsmaß-
nahmen anrechnen

– Drucksache 16/12680 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Neue Chancen für die berufliche Bildung

– Drucksache 16/12665 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Bundesministerin Frau Dr. Annette Schavan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Jeder Jugendliche braucht
ein Angebot zu Ausbildung und Qualifizierung. Das war
und ist das Ziel unserer Berufsbildungspolitik in den ver-
gangenen Jahren. Der Berufsbildungsbericht 2009 zeigt
ermutigende Fortschritte. Jugendliche in Deutschland
haben wieder mehr Chancen als noch vor einigen Jahren.
Das will ich anhand der Zahlen in drei Bereichen deut-
lich machen.

Die erste und, wie ich finde, zentrale Zahl ist: Rund
619 000 Jugendliche waren im Jahre 2005 arbeitslos. Im
Jahre 2008 waren es rund 340 000. Das sind 340 000 zu
viel; aber es gab eine deutliche positive Veränderung in
diesen drei Jahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens. Die Zahl der unvermittelten Bewerberinnen
und Bewerber lag 2005 – Stichtag ist immer der 30. Sep-
tember – bei rund 40 000. Zum gleichen Zeitpunkt 2008
waren es rund 14 500. Das ist ein Rückgang um 64,5 Pro-
zent.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Annette Schavan
Drittens. Die Zahl der Ausbildungsverträge stieg von
550 000 im Jahre 2005 auf rund 616 000 im Jahr 2008.
Das ist eine Steigerung um 12 Prozent.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


An dem Verhältnis zwischen den Zahlen unvermittel-
ter Bewerber und geschaffener Ausbildungsplätze wird
zugleich deutlich, dass wir schon längst die Konsequen-
zen der demografischen Entwicklung zu tragen haben:
Die Zahl der Schulabsolventen geht zurück – im vergan-
genen Jahr bereits um 33 000 –, und diese Entwicklung
wird sich fortsetzen.

Diese Zahlen für den Zeitraum zwischen 2005 und
2008 sind das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen im
Ausbildungspakt – in der Großen Koalition, vor allem
in den Unternehmen in Deutschland, beim Bund und den
Ländern.

Wir wissen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Der enge Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und
Ausbildungsmarkt gilt auch jetzt. Die Erfolge bleiben
nur dann bestehen, wenn alle am Ball bleiben und jedem
klar ist: Ausbildung hat Vorrang. Wer in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten nicht ausbildet, dem fehlen in wirt-
schaftlich guten Zeiten Fachkräfte. Das muss auch in
diesem Jahr die Devise sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des
Bundesinstituts für Berufsbildung, die heute veröffentlicht
werden – befragt wurden rund 1 000 Unternehmen –,
zeigen für 2009: 22 Prozent der Betriebe wollen ihr Aus-
bildungsplatzangebot im Vergleich zum letzten Ausbil-
dungsjahr steigern; das ist die gute Nachricht. 32 Prozent
der Betriebe geben an, ihr Engagement auf dem Niveau
des Vorjahres halten zu wollen; auch das ist nicht
schlecht. Aber immerhin 25 Prozent der Betriebe beab-
sichtigen, weniger Ausbildungsplätze anzubieten. Diese
25 Prozent begründen diesen Schritt, wie wir es aus der
Vergangenheit kennen, mit der wirtschaftlich schwieri-
gen Lage. Das gilt vor allen Dingen für Betriebe im Be-
reich Industrie und Handel und ganz besonders für Bran-
chen, die in hohem Maße export- und konsumabhängig
sind. Im Handwerk ist die Situation positiver.

Insbesondere an die Adresse dieser 25 Prozent der
Betriebe sage ich: Alles, was wir auf den verschiedenen
politischen Ebenen jetzt tun, ist darauf ausgerichtet,
möglichst bald wieder bessere Wachstumsquoten zu er-
reichen. Wer sich auf die Zeit nach der Krise vorbereiten
und daran mitwirken will, dass – wovon wir alle über-
zeugt sind – Deutschland nach der Krise stärker ist als
vorher, der muss jetzt stark in Ausbildung investieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es wird in den nächsten Wochen wichtig sein, dass
wir alle Instrumente nutzen, um einem Abwärtstrend
entgegenzusteuern. Dazu gehören Programme des Bun-
des wie Jobstarter, das Ausbildungsprogramm Ost, der
Ausbildungsbonus und die Qualifizierungsmaßnahmen
für jene Jugendliche, die noch nicht die Voraussetzungen
für eine erfolgreiche Ausbildung erfüllen. Wichtig sind
darüber hinaus auch die zahlreichen Instrumente unserer
Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“.
Dass all diese Maßnahmen helfen, zeigt die Bilanz der
letzten drei Jahre. Im schwierigen Jahr 2009 sind sie
umso bedeutender.

Wir – die Kollegen Scholz, zu Guttenberg und ich –
werden mit unseren Partnern im Ausbildungspakt im
Rahmen einer Sondersitzung im Juni dieses Jahres bera-
ten: Welche Maßnahmen sind zusätzlich zu denen, die
wir schon auf den Weg gebracht haben, von Bedeutung?
Wo müssen zusätzliche Initiativen ergriffen werden?
Was kann zum Beispiel getan werden, um für Unterneh-
men, die in Schwierigkeiten geraten sind oder die Unter-
stützung brauchen, um ihre Ausbildungskapazität erhö-
hen zu können, so etwas wie einen Schutzschirm für
Ausbildungsplätze zu spannen?

An die Adresse des Deutschen Bundestages und der
Ministerien sage ich: Auch wir sollten in dieser sensi-
blen Situation alles tun, um unsere Ausbildungsquoten
zu erhöhen. Die Ausbildungsquote im Bundesbildungs-
ministerium beträgt derzeit knapp 10 Prozent. Ich finde,
das ist für alle öffentlichen Behörden eine gute Marke.
Wir müssen in einer solchen Situation vorangehen, um
deutlich zu machen, dass wir es ernst meinen, wenn wir
sagen: Jeder Jugendliche braucht eine Chance.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser besonderes
Augenmerk muss den Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund gelten. Wir wissen, dass der Anteil der Ju-
gendlichen, der die Schule ohne Abschluss verlässt, un-
ter Jugendlichen mit Migrationshintergrund doppelt so
hoch ist wie unter Jugendlichen ohne Migrationshinter-
grund. Wir wissen, dass ihr Anteil an der Berufsausbil-
dung mit 24 Prozent niedrig ist und dass sie damit unter-
repräsentiert sind. Deshalb war es gut, dass unter
Federführung von Herrn Staatssekretär Storm und Frau
Staatsministerin Böhmer Regionalkonferenzen stattge-
funden haben mit Unternehmen und Unternehmern, die
selbst, wie es immer heißt, einen Migrationshintergrund
haben. Wir haben vereinbart, dass im Zeitraum 2005 bis
2010 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfü-
gung gestellt werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt;
doch auch da dürfen wir nicht nachlassen.

An die Adresse der Länder gerichtet füge ich hinzu:
Entscheidend ist – vor jeder Vermittlung derer, die kei-
nen Schulabschluss haben –, dass wir erreichen, dass je-
der Jugendliche in Deutschland einen Schulabschluss
macht und damit die Voraussetzungen mitbringt, eine
Ausbildung erfolgreich durchlaufen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Richtig ist auch – ich habe es anfangs erwähnt –: Die
Zahl der Schulabsolventen geht zurück. Die demografi-
sche Entwicklung hat dazu geführt, dass 2008 zwei Zah-
len der Bundesagentur für Arbeit ganz anders als in den
Jahren zuvor waren: Auf der einen Seite waren rund
19 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, auf der anderen
Seite hatten wir 14 479 unvermittelte Bewerber. Das






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Annette Schavan
heißt, aus der rechnerischen Lücke, über die wir in der
Vergangenheit im Herbst oft gesprochen haben, ist ein
sogenannter rechnerischer Überhang geworden. Ich sage
aber ausdrücklich: Das ist nicht nur ein Erfolg der Aus-
bildungsbilanz, sondern das steht im Zusammenhang mit
der demografischen Entwicklung, die uns auch in den
nächsten Jahren beschäftigen wird. Die Zahlen haben
noch einmal gezeigt, wie sehr das Thema Fachkräfte-
mangel mit Berufsbildung und Ausbildungsbilanzen
verbunden ist.

Besonderes Augenmerk müssen wir auf die 82 000
Jugendlichen richten, die eigentlich eine Ausbildung
wünschen, sich aber noch in Berufsvorbereitungsmaß-
nahmen und Praktika befinden. Dazu haben wir mit den
Ländern beim Qualifizierungsgipfel zahlreiche Maß-
nahmen vereinbart. Es muss klar sein, dass nach Ab-
schluss der Schule die Voraussetzungen für eine Ausbil-
dung gegeben sind. Es dürfen nicht weitere
Verzögerungen entstehen. Jugendliche, die so weit sind,
müssen mit Vorrang ermutigt werden, indem man ihnen
die Chance zu einer qualifizierten Ausbildung gibt. Es
ist für sie von zentraler Bedeutung, dass sie im An-
schluss an die Schule eine duale Ausbildung aufnehmen
können. Schließlich sind da noch die sogenannten Altbe-
werber. Auch hier sage ich allerdings: Im Zeitraum von
2007 bis 2008 ist auch die Zahl der Altbewerber um fast
65 000 zurückgegangen.

Ich nenne diese wenigen Zahlen, weil sie deutlich ma-
chen: Das, was an Maßnahmen auf den Weg gebracht
worden ist – übrigens mit großem Engagement der Un-
ternehmen und mit einer neuen Konzeption der Berufs-
vorbereitung: mit mehr Erfahrung in der Praxis, mit
mehr individueller Förderung –, wirkt. Wir müssen jetzt
dafür Sorge tragen, dass die Erfolge, die in den vergan-
genen drei Jahren erreicht worden sind und über die der
Berufsbildungsbericht 2009 Rechenschaft ablegt, nicht
aufs Spiel gesetzt werden. Gerade am Ende dieses Jahres
müssen wir sagen können: Dieses Jahr ist genutzt wor-
den, um Jugendliche in Deutschland zu ermutigen und
ihnen die Chance zu geben, die sie brauchen und die sie
erwarten können, und um damit zugleich das zu tun, was
notwendig ist, damit der Fachkräftemangel in Deutsch-
land in den nächsten Jahren nicht zu einer zentralen
Wachstumsbremse wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700100

Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1621700200

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Man kann
sich, man muss sich und man soll sich über gute Nach-
richten freuen. In diesem Sinne ist es ein positives Zei-
chen, dass mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber
zu verzeichnen waren. Die mittelständische Wirtschaft,
das Handwerk, der Handel erfüllen ihre Pflicht, und das
weit über Soll. Das ist das herausragende Ereignis in
wirtschaftlich schweren Zeiten.


(Beifall bei der FDP)


Machen wir uns aber bitte nichts vor, Frau Ministerin:
Wenn Sie aufgrund der Tatsache, dass am 30. September
des vergangenen Jahres rund 19 500 unbesetzte Ausbil-
dungsplätze circa 14 500 unversorgten Bewerberinnen
und Bewerbern gegenüberstanden, am 1. April dieses
Jahres in einer Presseerklärung davon sprechen, dass
eine Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt geschafft
sei, beschreibt das die Realität nun wirklich nicht richtig.
Hier erwarte ich von einer Bundesregierung ein solideres
Handeln. Es bedarf einer riesigen Kraftanstrengung, da-
mit aus der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland
nicht auch noch eine Ausbildungskrise wird.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen genau, dass Ihr Glück bei der Ausbil-
dungsbilanz die rückgängigen Schülerzahlen sind. Re-
den wir einmal Tacheles: 5 000 offene Stellen „über den
Durst“ ist Ihr Argument. Demgegenüber stehen eine be-
trächtlich zurückgegangene Zahl von Schulabgängern
– dies haben Sie selbst angeführt –, 29 000 außerbetrieb-
liche Ausbildungsplätze, die im Vorjahr zusätzlich ge-
schaffen worden sind, 28 000 Plätze aus den Ländern
Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Nieders-
achsen, die im Jahr zuvor mit dortigen Ausbildungsbo-
nusregelungen geschaffen worden sind, und unversorgte
Altbewerber im Berufsvorbereitungsjahr, von denen
4 000 in ein Praktikum gekommen sind und 16 000 in
berufsvorbereitenden Maßnahmen geparkt werden. Mit
diesen Zahlen müssen wir uns neben den von Ihnen ge-
nannten in der Realität beschäftigen. Deswegen, Frau
Ministerin, darf sich die Bundesregierung nicht auf der
demografischen Entwicklung ausruhen, auch nicht auf
den Kraftanstrengungen des Mittelstandes, nicht auf der
Arbeit von aktiven Landesregierungen und erst recht
nicht auf statistischen Zahlen, die ausblenden, wie viele
junge Menschen heute in der Bundesrepublik Deutsch-
land leider immer noch in irgendwelchen Maßnahmen
geparkt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In wirtschaftlich guten Zeiten hätten wir eine Moder-
nisierung der beruflichen Bildung gut vorbereiten kön-
nen. Dass wir es nicht getan haben, holt uns nun ein.
Spätestens jetzt erwarte ich von der Bundesregierung ein
Handlungspaket Ausbildung, mit dem den jungen Men-
schen in Deutschland eine bildungspolitische und damit
für ihr Leben sehr reale Perspektive gegeben wird. Um
neue Chancen für eine berufliche Bildung aufzuzeigen,
bedarf es eines umfangreichen Handlungspakets aus ei-
nem Guss. Ich greife einige Punkte heraus:

Wir brauchen unbedingt mehr Flexibilität. Module,
wie sie die IHK und der ZDH vorschlagen, sind der rich-
tige Weg. Die Zahl zweijähriger Ausbildungen stagniert
und geht sogar zurück. Sie sind aber ein wichtiger Ein-
stieg gerade für junge Menschen, die aufgrund ihrer Bil-






(A) (C)



(B) (D)


Patrick Meinhardt
dungsabschlüsse eine Perspektive in Form eines schnel-
len Einstiegs in Ausbildung brauchen.

Ferner brauchen wir ein besseres überbetriebliches
Ausbildungsmanagement. Wir müssen jungen Menschen
Chancen eröffnen, die mehr Zeit brauchen; wir müssen
ihnen die Zeit geben, ihren Abschluss zu machen. Das ist
eine wichtige Herausforderung in einer Krisenzeit.


(Beifall bei der FDP)


Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
brauchen auch mehr Leistungsstärke. Gemeinsam mit
dem ZDH haben wir als FDP die berechtigte Forderung
nach einer Exzellenzinitiative für die Berufsbildung
erhoben. Eine Ausbildung in einem Beruf spricht auch
leistungsstarke Jugendliche an. Sich für eine Berufsaus-
bildung oder eine Fortbildung zu entscheiden, bedeutet,
in einem unternehmerischen Umfeld zu lernen und zu ar-
beiten, das vielfältige Karrierechancen, Selbstständigkeit
und Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Auch diese Bot-
schaft müssen wir immer wieder herausstellen: Eine Ex-
zellenzinitiative „Berufliche Bildung“ würde dazu bei-
tragen, dass die Kultur der Selbstständigkeit in der
Bundesrepublik Deutschland ein stärkeres Fundament
bekommt.


(Beifall bei der FDP)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade am
heutigen Girls’ Day muss man darauf hinweisen, wie
wichtig es ist, dass Ausbildungsberatung verbessert wird
und Stereotypen aufgebrochen werden. Immer noch be-
werben sich 75 Prozent der jungen Frauen auf 25 Aus-
bildungsberufe, und immer noch bewerben sich junge
Männer schwerpunktmäßig im Bereich der Fertigungs-
berufe. Wir müssen über eine intensive Ausbildungsbe-
ratung erreichen, dass solche stereotypen Vorgehenswei-
sen aufgebrochen werden und so für junge Menschen die
Perspektive geschaffen wird, in andere Ausbildungsbe-
reiche hineinzugehen.


(Beifall bei der FDP)


Der Erfolg bei der Bekämpfung des Fachkräfteman-
gels hängt maßgeblich davon ab, ob wir es schaffen, die
Ausbildungsreife der Absolventen zu verbessern. Des-
wegen ist es enorm wichtig, dass hier Transparenz ge-
schaffen wird. Ein angehender Auszubildender muss
sich schon in seiner Schullaufbahn umfassend über An-
forderungsprofile und Perspektiven informieren. Der
Praxisbezug muss verstärkt werden. Dabei ist darauf zu
achten, dass Schulabgänger nicht von einer Berufsvorbe-
reitungsmaßnahme zur nächsten geschickt werden. Um
dem entgegenzuwirken, brauchen wir vom ersten Tag an
eine praktische Berufsberatung in den Schulen.

Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Gerade
in der Krise muss gewährleistet werden, dass jeder Aus-
zubildende die Sicherheit hat, seine Ausbildung auch
dann fortsetzen zu können, wenn der Betrieb, in dem er
ausgebildet wird, insolvent wird. Hier haben Sie, Frau
Ministerin, und die Bundesregierung die Chance, mit ei-
nem guten Konzept der Ausbildungssicherheit eine
breite Mehrheit dieses Parlamentes hinter sich zu brin-
gen. Nutzen Sie diese Chance! Die jungen Menschen
sollten sehen, dass die Ausbildungspolitik nicht zum
Spielball der Politik wird, sondern dass uns der persönli-
che Weg des einzelnen Auszubildenden über die Frak-
tionsgrenzen hinweg am Herzen liegt. Hier ist die Chance
gegeben, dass wir mit einem gemeinsamen Konzept die-
ses Deutschen Bundestages einen richtigen Weg gehen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700300

Nächster Redner ist der Bundesminister für Arbeit

und Soziales, Olaf Scholz.


(Beifall bei der SPD)


Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia-
les:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren in Deutschland, was Fach-
kräfte und Qualifikationspotenziale betrifft, viel über die
Anforderungen. Eine der Aussagen, die bei dieser Gele-
genheit zu Recht immer wieder diskutiert werden, ist,
dass wir in Deutschland mehr akademisch Qualifizierte
brauchen.

Von der OECD und vielen anderen wird gesagt: Etwa
ein Drittel aller jungen Leute eines Altersjahrgangs
sollte studieren und ein Studium abschließen. Während
wir das sagen, übersehen wir aber gerne – deshalb will
ich darauf hinweisen –: Mit dieser Aussage ist verbun-
den, dass auch in Zukunft zwei Drittel aller jungen Leute
in diesem Lande ihr ganzes Berufsleben auf der Basis ei-
ner klassischen Berufsausbildung, also einer Lehre, ver-
bringen werden. Deshalb ist die Berufsausbildung auch
in Zukunft die wichtigste Ausbildung in Deutschland.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Es ist deshalb wichtig, dass wir alles dafür tun, dass
tatsächlich jeder eine Chance auf eine berufliche Qualifi-
zierung bekommt. Das heißt, dass es in diesem Jahr, in
dem die wirtschaftliche Lage schwerer und schwerer
wird und in dem wir jeden Tag neue Meldungen darüber
hören, wie die Wirtschaftsleistung zurückgeht, keine
Konsequenzen für die Zahl der Ausbildungsverträge in
Deutschland geben darf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die jungen Leute, die jetzt die Schule verlassen, kön-
nen nichts dafür, dass sich einige anderswo auf der Welt
an der Börse verspekuliert und mit Renditeerwartungen,
die unrealistisch waren, die ganze Weltwirtschaft in eine
Katastrophe geführt haben. Wir müssen dafür sorgen,
dass genügend Ausbildungsverträge zur Verfügung ste-
hen. Das heißt, die Zielmarke muss auch für dieses Jahr
sein: Wir brauchen wieder über 600 000 Ausbildungs-
verträge.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
Das geht nur mit gemeinsamer Anstrengung: der
Wirtschaft, der Kammern, der Verbände, der Gewerk-
schaften, der Betriebsräte, der Unternehmensleitungen.
Ich höre, dass viele zu dieser Anstrengung bereit sind.
Ich unterhalte mich jetzt jeden Tag mit den Verantwortli-
chen. In den Gesprächen mit den Personalvorständen der
DAX-30-Unternehmen haben alle zugesagt, dass sie ihre
Ausbildungsleistungen in diesem Jahr nicht reduzieren
werden.


(Beifall bei der SPD)


Ich höre das auch aus dem Mittelstand und dem Hand-
werk. Wichtig ist, dass das am Ende auch stimmt und
dass wir diese Zahlen tatsächlich erreichen, damit jeder
diese Möglichkeit realisieren kann.


(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Der Mittelstand bildet am meisten aus!)


Meine Damen und Herren, ich glaube, wir müssen,
wenn wir über Ausbildung diskutieren, auch darüber dis-
kutieren, was wir für diejenigen tun, die nicht so gut
sind. Natürlich haben wir es uns in unserer Sprache an-
gewöhnt, darüber zu reden, dass wir erreichen wollen,
dass alle ausbildungsgeeigneten jungen Leute einen
Ausbildungsplatz finden. Aber da sind ja auch noch die
anderen. Das sind keineswegs hoffnungslose Fälle, wie
der Begriff der „Ausbildungsungeeigneten“ manchmal
suggeriert.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Darunter sind ganz viele, bei denen es mit einiger An-
strengung schnell gelingen kann, dass sie eine Berufs-
ausbildung erhalten.

Wir haben viele gute Erfahrungen mit den Einstiegs-
qualifizierungen gemacht, die wir ausbauen und weiter
fördern.

Wir haben aber auch viele gute Erfahrungen mit ganz
unterschiedlichen tariflichen und betrieblichen Modellen
gemacht, in denen junge Leute, bei denen es mit der
Ausbildung noch nicht gut hingehauen hat und die ein
halbes Jahr, ein Dreivierteljahr oder ein Jahr lang ein
Praktikum gemacht haben, hinterher erfolgreich die Be-
rufsausbildung bestanden haben, und zwar mit Quoten
von 90 bis 100 Prozent. Das zeigt: Niemand darf durch
den Rost fallen; niemand darf aufgegeben werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen uns natürlich mit den Konsequenzen der
Bildungspolitik in Deutschland auseinandersetzen. Dass
nach wie vor jedes Jahr 80 000 junge Leute die Schule
verlassen, ohne einen Schulabschluss zu haben, das ist
nicht naturgegeben, das ist Staatsversagen, und das dür-
fen wir nicht weiter hinnehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Der Zusammenhang zwischen beruflicher Qualifika-
tion, Schulbildung und Chancen im Arbeitsleben ist so
offensichtlich, dass man gar nicht oft genug darauf hin-
weisen kann. 500 000 der Arbeitslosen haben keinen
Schulabschluss, und fast alle sind Langzeitarbeitslose.
Von daher ist es von zentraler Bedeutung, dass wir an
dieser Situation etwas ändern. Ich bin froh darüber, dass
wir im letzten Jahr beschlossen und in diesem Jahr recht-
lich verankert haben, dass jeder dieser 500 000 Arbeits-
losen sein Leben lang das Recht hat, den Schulabschluss
nachzuholen, um seine Arbeitsmarktchancen zu verbes-
sern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Es ist auch richtig, dass wir dafür gesorgt haben, dass
diejenigen, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz
warten, bessere Chancen bekommen. Deshalb war es
vernünftig, dass wir den Ausbildungsbonus auf den
Weg gebracht haben. Über 13 000 junge Leute haben be-
reits von der Regelung profitiert, dass es gefördert wird,
wenn für jemanden, der schon länger als ein Jahr auf ei-
nen Ausbildungsplatz wartet, ein neuer Ausbildungs-
platz geschaffen wird. 13 000 junge Leute profitieren
von einer Regelung, die erst seit Ende August gilt. Das
ist ein großer Erfolg, und das ist ein guter Ansatzpunkt
für dieses Jahr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir über Ausbildung reden, dann müssen wir
auch darüber reden, dass wir denjenigen, die etwas kön-
nen, die Talent haben, die Chance eröffnen, dass sie
mehr aus dieser Berufsausbildung machen. Von daher ist
es eine gute Entscheidung des Bildungsgipfels in Dres-
den gewesen, dass wir gesagt haben: Überall in Deutsch-
land soll es neue Möglichkeiten des Zugangs zur
Universität geben, ohne dass man eine Hochschulreife
auf klassische Weise erworben hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wie notwendig das Handeln in dieser Frage ist, sieht
man an den Zahlen. In Deutschland studieren etwa
1,5 Prozent mit etwas anderem als der Hochschulreife.
In anderen Ländern um uns herum sind es 10 bis 15 Pro-
zent. Ein großer Teil derjenigen, die eine Berufsausbil-
dung in der Schweiz beendet haben, geht direkt an die
Universität. Das brauchen wir in Deutschland auch. Das
wird auch den Ingenieurmangel in unserem Lande besser
bekämpfen.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen also etwas für diejenigen tun, die eine
Berufsausbildung wollen. Ich will ein sehr ehrgeiziges
Ziel für Deutschland, für unser Land und für unsere ge-
meinsamen Anstrengungen formulieren: Eigentlich müs-
sen wir erreichen wollen, dass jeder, der Anfang 20 ist,
entweder das Abitur oder einen Berufsschulabschluss
hat. Das ist die Zielsetzung, die wir für Deutschland
brauchen. Niemand sollte mit weniger als mit einer Be-
rufsausbildung durch das lange Arbeitsleben gehen.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
Das bedeutet auch, dass wir eine Garantie dafür brau-
chen, dass diejenigen, bei denen dies bis zum Alter von
20 Jahren nicht geklappt hat, notfalls ein staatliches Aus-
bildungsangebot bekommen, damit sie nicht weiter
chancenlos versuchen müssen, auf dem Arbeitsmarkt
Fuß zu fassen. Diese Garantie brauchen wir auch, und
wir müssen dafür sorgen, dass das funktioniert.


(Beifall bei der SPD)


Ein Angebot, das ich den Unternehmen machen will,
soll an dieser Stelle formuliert sein – dazu brauchen wir
nicht einmal neue Gesetze; das können wir mit unseren
Förderinstrumentarien bereits jetzt verwirklichen –: Wer
einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin hat, der oder
die vielleicht schon 27 oder 31 Jahre alt ist und keine
Ausbildung absolviert hat, jedoch will, dass das noch
klappt, soll gefördert werden, weil man diese nicht mehr
ganz so jungen Leute nicht auf das erste Lehrjahr mit
den entsprechenden Ausbildungsvergütungen verweisen
kann. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass es auch
für diese Arbeitnehmer, die sich im Betrieb bewährt ha-
ben, die Chance gibt, in dem eigenen Unternehmen die
Berufsausbildung nachzuholen, und zwar zu vertretba-
ren wirtschaftlichen Konditionen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir uns also dafür einsetzen, dass mehr qualifi-
ziert wird, wenn wir dafür Sorge tragen, dass letztend-
lich jeder eine berufliche Qualifikation hat, dann tun wir
auch das Richtige für die Zukunft unseres Landes. Ich
werbe dafür, dass wir die Chance erkennen, die wir in
Deutschland haben, und dass wir sie nicht an uns vorbei-
gehen lassen. Es gibt die einmalige Chance – vielleicht
10 bis 20 Jahre lang, das heißt im nächsten und über-
nächsten Jahrzehnt –, dass wir uns von der Massen-
arbeitslosigkeit der letzten drei Jahrzehnte verabschie-
den. Das hat etwas mit der Wirtschaftskraft dieses
Landes, aber natürlich auch mit der demografischen
Entwicklung zu tun, über die wir in den letzten Jahren
immer wieder in der Form diskutiert haben, was es für
Probleme macht, vor diesem Hintergrund die Finanzsta-
bilität der Sozialversicherung zu organisieren.

Aber auch der umgekehrte Effekt tritt jetzt ein – alle
haben darüber gesprochen –, nämlich dass es weniger
Arbeitnehmer gibt, die auf dem Arbeitsmarkt nach Ar-
beitsplätzen suchen. Man merkt es jetzt schon: Es wird
sehr schnell dazu kommen, dass nicht jeder Ausbil-
dungsplatz besetzt werden kann. Schon im nächsten
Jahrzehnt – es beginnt in Kürze, falls man den einen
oder anderen noch darauf hinweisen muss – wird das in
diesem Lande so sein.

Von daher sollten wir die Chance nutzen. Sie ist aber
nur dann nutzbar, wenn wir sicherstellen, dass jeder über
eine berufliche Qualifikation verfügt. Denn es gibt zwei
Szenarien der künftigen Entwicklung. Ein Szenario ist,
dass wir einen Fachkräftemangel haben, dass sich die
Unternehmen um jeden Arbeitnehmer, der eine gute
Ausbildung hat, balgen und dass es gleichzeitig Millio-
nen Arbeitslose gibt, weil wir nicht ausreichend qualifi-
ziert und ausgebildet haben.
Das andere Szenario ist, dass wir jedem eine Ausbil-
dung ermöglicht haben, über genügend Fachkräfte ver-
fügen und deshalb die Arbeitslosigkeit sinkt, wie es in
den letzten Jahrzehnten nicht möglich war. Wir dürfen
nicht die Gelegenheit versäumen, dass das humane Inte-
resse der Menschen und das wirtschaftliche Interesse der
Unternehmen zusammenkommen. Das muss ausgenutzt
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass man für Bildung und Qualifizierung etwas tun
muss, ist offensichtlich. Das zeigt sich auch im Etat des
Bundesministers für Arbeit und Soziales und der BA;
denn sie geben viel Geld für Bildung und Qualifizierung
aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Das war nicht die richtige Stelle.


(Heiterkeit)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700400

Herr Minister, Sie müssen es allerdings ertragen, dass

ein Parlament selbstständig entscheidet, wann es der Re-
gierung zustimmen will und wann nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia-
les:

Herr Präsident, auch wenn es Sie überrascht: Über
Beifall beschwere ich mich eigentlich nie.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Trotzdem will ich auf Folgendes hinweisen: Dass wir
so viel Geld dafür ausgeben, hat natürlich auch etwas da-
mit zu tun, dass im Bildungssystem dieses Landes etwas
im Argen liegt. Insofern sind es zwar stolze Zahlen, die
zeigen, was wir unternehmen. Aber sie weisen auch da-
rauf hin, dass man am Anfang mehr tun müsste, damit
nicht hinterher so viel Geld ausgegeben werden muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wer regiert hier?)


Wir haben im Bereich SGB II und SGB III im letzten
Jahr 330 000 junge Leute gefördert und dafür 2,73 Mil-
liarden Euro ausgegeben. Insgesamt geben wir im Be-
reich SGB II und SGB III 9 Milliarden Euro für Bildung
und Qualifizierung aus. Das beweist, dass wir den richti-
gen Trend unterstützen und etwas für die Qualifikation
unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit
für die Zukunft unseres Landes tun. Aber es ist auch ein
Ansporn, dafür zu sorgen, dass es im Primärsystem der
Ausbildung besser läuft. Das dürfen wir in diesem Zu-
sammenhang niemals vergessen.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
alles dafür tun, dass es gelingt. Auch in diesem Jahr






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
muss jeder junge Mann und jede junge Frau einen Aus-
bildungsplatz finden. Wir wollen mehr als 600 000 Aus-
bildungsverträge auch im Jahr 2009.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700500

Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Hirsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621700600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Ministerin, Herr Minister, im Appellieren und Hal-
ten von Sonntagsreden bekommen Sie von uns ganz ge-
wiss eine Eins. Was aber die konkrete Politik betrifft, ist
es eine glatte Sechs.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Schavan, Sie haben von einem Schutzschirm für
die Ausbildung gesprochen. Tatsächlich zeigt das, was
Sie konkret anbieten und was Sie hier vorgeschlagen ha-
ben, aber, dass Sie tatenlos zusehen, wie die Wirtschafts-
krise jetzt auch den ausbildungsplatzsuchenden Jugend-
lichen voll und ganz auf die Füße fällt. Die Linke sagt:
Das darf nicht sein. Wir brauchen in der beruflichen Bil-
dung endlich eine Politik, die Ernst damit macht, dass je-
der Jugendliche das Recht auf eine Ausbildung hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Schavan, Sie haben von ermutigenden Fort-
schritten gesprochen. Wir haben die übliche Behauptung
gehört, dass alles in schönster und bester Ordnung sei.
Damit lassen sich Jugendliche heutzutage aber nicht
mehr abspeisen.

Ich beginne mit der ersten Behauptung, der Statistik.
Im Berufsbildungsbericht ist nachzulesen, dass es
19 500 offene Stellen gibt und dass fast alle Jugendli-
chen versorgt sind. Man kann sich für diesen Befund sel-
ber auf die Schultern klopfen. Wenn man aber etwas ge-
nauer nachliest und sich anschaut, was sich in Ihrer
Statistik hinter dem Terminus „versorgte Jugendliche“
verbirgt, dann stellt man fest, dass es sich zu einem ganz
großen Prozentsatz um Jugendliche handelt, die in eine
Berufsvorbereitungsmaßnahme abgeschoben wurden,
eine Einstiegsqualifizierung absolvieren oder angefan-
gen haben, zu jobben, und sich zunächst nicht zurückge-
meldet haben. Es kann keine Rede davon sein, dass diese
Jugendlichen versorgt sind, wenn sie in Wirklichkeit im
Übergangssystem irgendwo in der Statistik verschwun-
den sind.

Um auf die Zahlen zurückzukommen: Wenn man sich
anschaut, wie viele Jugendliche einfach „verschwunden“
sind, dann muss man davon ausgehen, dass es sich um
mindestens 250 000 Jugendliche handelt. Demgegen-
über steht Ihre Behauptung von 19 500 offenen Stellen.
Man braucht wirklich kein Mathematikstudium absol-
viert zu haben, um festzustellen, dass hier ein krasses
Missverhältnis besteht und dass nicht jeder Jugendliche
eine Chance auf einen Ausbildungsplatz hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Die zweite Behauptung, die immer wieder aufgestellt
wird, lautet: Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg. Sie
selber sagen, der Ausbildungspakt solle dazu dienen, ein
ausreichendes Ausbildungsplatzangebot für alle Jugend-
lichen zur Verfügung zu stellen. Nun haben wir erst ges-
tern gehört, dass im letzten Jahr 2,1 Prozent weniger
Ausbildungsverträge geschlossen wurden. Da frage ich
mich: Wie passt das zusammen? Der Ausbildungspakt
soll ein Erfolg sein? In Wirklichkeit führt er aber dazu,
dass mehr Ausbildungsplätze abgebaut als geschaffen
werden. Die Linke sagt deshalb: Der Ausbildungspakt
ist kein Erfolg, sondern ein grandioser Misserfolg und
gehört beendet.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Schlimmste ist: Die Auswirkungen der Krise
werden wir erst noch zu spüren bekommen; Sie kennen
die Prognosen genauso gut wie ich. Es wird davon aus-
gegangen, dass das Ausbildungsplatzangebot in diesem
Jahr um bis zu 10 Prozent abnehmen wird. Im Berufsbil-
dungsbildungsbericht 2009 der Bundesregierung lässt
sich dazu die Bemerkung finden: Da sich die Zahl der
Schulabsolventen verringern wird, wird die Situation
„für Jugendliche nicht schlechter werden“. Frau Ministe-
rin, Herr Minister, an dieser Stelle möchte ich Sie fragen:
Was sagt denn ein Hauptschulabsolvent dazu, der nun
schon seit drei Jahren verzweifelt versucht, einen Aus-
bildungsplatz zu finden, oder eine Absolventin der Real-
schule, die im letzten Jahr nur eine Einstiegsqualifizie-
rung bekommen hat, dann nicht übernommen wurde und
weiterhin ohne einen Ausbildungsplatz dasteht? Zu die-
sen Jugendlichen sagen Sie nun: Keine Panik! Zumin-
dest wird es nicht schlimmer. – Diese Politik, die angeb-
lich für Jugendliche betrieben wird, ist ein Skandal. So
etwas wird die Linke nicht mitmachen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es muss endlich eine verbindliche Vereinbarung geben,
das heißt ein Ende des Ausbildungspaktes und die Ein-
führung einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage.


(Beifall bei der LINKEN)


Die dritte Behauptung, die immer wieder aufgestellt
wird, lautet: Ihr Ausbildungsbonus unterstützt benach-
teiligte Jugendliche. In der Praxis wird dieser Bonus
kaum genutzt, und es gibt viele Mitnahmeeffekte. Die
Linke sagt: Das ist der falsche Ansatz. Wenn Sie wirk-
lich Förderung betreiben wollten, dann müssten Sie aus-
bildungsbegleitende Hilfen stärken und ausbauen und als
Rechtsanspruch verankern. Dann dürften Sie die Unter-
nehmen für ihre jahrelange Ausbildungsverweigerung
nicht noch belohnen. Das ist der falsche Weg. Ausbil-
dung ist keine Wohltätigkeit der Unternehmen, sondern
ihre Pflicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fasse zusammen: Sie betreiben Ausbildungspoli-
tik nach Konjunktur und Kassenlage. Das führt gerade in






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Hirsch
einer Krise zu einer Katastrophe. Die Linke will dagegen
das Recht auf Ausbildung für alle Jugendlichen durch-
setzen. Wir meinen es mit dem Schutzschirm für Ausbil-
dung ernst.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Dieter Grasedieck [SPD]: Ihr fordert nur! Nur Sprechblasen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700700

Das Wort erhält nun die Kollegin Priska Hinz, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi-
nister Scholz, vonseiten der Grünen waren wir doch et-
was erstaunt, dass Sie die Studienanfängerquote in
Deutschland jetzt auf 33 Prozent senken wollen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein, nein! Das ist nicht gesagt worden)


Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Bundesre-
gierung Schwierigkeiten mit der Deutung von Zahlen
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da haben Sie etwas missverstanden! Das war nicht gelungen!)


Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Berufsbil-
dungsbericht. Die Regierung brüstet sich mit einem aus-
geglichenen Ausbildungsmarkt; das haben wir heute
Morgen auch von Frau Dr. Schavan gehört. Es stimmt:
Rechnerisch war der Ausbildungsmarkt im letzten Jahr
ausgeglichen. Aber was steckt dahinter? Es fanden nach
wie vor 14 000 Jugendliche im Jahr 2008 keinen Ausbil-
dungsplatz, und 82 000 Jugendliche wurden in soge-
nannten Übergangsmaßnahmen versorgt.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das wollen Sie doch! Das ist doch Ihr Modell!)


Das heißt: Fast 100 000 Jugendliche sind im letzten Jahr
fehl- und unterversorgt gewesen – und das in einem kon-
junkturell guten Jahr. Da kann man doch nicht sagen: Ei-
gentlich ist alles wunderbar. Wir brauchen gar nicht so
viel zu ändern.


(Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700800

Frau Kollegin Hinz, lassen Sie Zwischenfragen zu?

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Im Moment nicht.

Wir haben im letzten Jahr 320 000 Altbewerber ge-
habt. Das sind junge Leute, die ein Jahr oder länger kei-
nen Ausbildungsplatz erhalten haben. Das sind 51,7 Pro-
zent gewesen. Im Jahr 2006 waren es 50,8 Prozent. Wie
man da von einer Trendwende sprechen kann, erschließt
sich mir nicht. Das müssen Sie schon einmal genauer er-
klären. Im Gegenteil: Es war ein Trend zum Schlechte-
ren. Hier muss man doch überlegen, wie man das Ganze
anders gestalten und das Berufsbildungssystem so um-
strukturieren kann, dass wir keine Altbewerberinnen und
Altbewerber mehr haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir leisten uns ein Übergangssystem, das selbst in
wirtschaftlich besseren Zeiten 500 000 Jugendliche um-
fasst, die mit einer Summe von 3 bis 4 Milliarden Euro
in Warteschleifen gehalten werden. Auf diese Summe
kann man nicht stolz sein, Herr Scholz, sondern man
muss darüber beschämt sein, dass so viel Geld für ir-
gendwelche ineffektiven Maßnahmen verschwendet
wird, in denen Jugendliche keine Qualifizierung in Form
einer Ausbildung erhalten, die zu einem Abschluss führt.
Das zu ändern, wäre wichtig, damit wir gute Fachkräfte
bekommen, die auf dem Arbeitsmarkt unterkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie begegnet die Bundesregierung dieser Situation?
Mit immer neuen Einzelmaßnahmen. Auch das zeigt der
Berufsbildungsbericht. Es gibt unendlich viele Maßnah-
men, die zusammengestoppelt und nicht aufeinander be-
zogen sind. In diesem Berufsbildungsbericht breitet sich
ein Flickenteppich aus. Die SPD hat in den letzten Jah-
ren das Ihre dazu beigetragen, diesen Flickenteppich
noch zu vergrößern, zum Beispiel mit dem Ausbil-
dungsbonus, der bis 2010 100 000 Plätze schaffen soll.
Bis jetzt sind 12 700 Anträge gestellt worden. Das ist
nicht gerade der Bringer, würde ich sagen.


(Dieter Grasedieck [SPD]: Abwarten und Tee trinken!)


Die Berufsorientierung ist ein neues Programm neben
einem alten Programm. Warum läuft das alte weiter?
Wenn es schlecht war, dann könnte man es einstampfen.
Wenn es gut war, dann hätte man es ausweiten können.

Die Berufseinstiegsbegleitung, die die Eingliede-
rung in eine Ausbildung leider nur bis zu einem halben
Jahr unterstützen soll – dies gilt aber nur für 1 000 Schu-
len –, soll im Jahr 2013 wieder enden. Ich frage mich:
Haben wir im Jahr 2013 keine Altbewerber, keine Schul-
abbrecher, keine Abgänger mit einem schlechten Schul-
abschluss und keine Migranten mehr, die ein Problem
mit dem Übergang in die Ausbildung haben? Das wäre
schön; aber die Erfahrungen mit unserem Schulsystem
und mit der beruflichen Ausbildung deuten auf etwas an-
deres hin.

Auch das Programm „Jobstarter Connect“ ist gut ge-
meint. Eine Einführung von Ausbildungsbausteinen for-
dern auch die Grünen. Aber Ihr Modell hat einen Ge-
burtsfehler. Die Ausbildungsbausteine sollen nicht
einzeln anerkannt werden. Ihr Programm soll nicht dazu
führen, dass die Ausbildungsschritte jeweils anerkannt
werden. Das brauchen wir aber. Wir müssen auf eine
Modularisierung der Ausbildung und eine strukturelle
Reform des Ausbildungssystems zusteuern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Priska Hinz (Herborn)

Diese Maßnahmen sind alle gut gemeint und im Ein-
zelnen mehr oder minder sinnvoll. Das Hauptproblem
aber ist, dass die Konjunkturanfälligkeit des Berufs-
bildungssystems durch diese einzelnen Maßnahmen
nicht beseitigt wird. Sie haben es in wirtschaftlich guten
Zeiten nicht geschafft, die Zahl der Altbewerber zu sen-
ken. Sie haben es nicht geschafft, das Übergangssystem
abzubauen. Sie haben es nicht geschafft, das Berufsbil-
dungssystem auf neue Füße zu stellen. Das heißt, das
Berufsbildungssystem dokumentiert das Scheitern der
Bundesregierung in der Berufsbildungspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das duale System auch in wirtschaftlichen Kri-
senzeiten bestehen soll, dann muss man es verändern.
Wenn es in wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht bestehen
kann, dann ist es nichts wert. Die Umfragen des DIHK
zeigen, dass es in diesen schwierigen Zeiten wieder we-
niger Ausbildungsangebote gibt. Deswegen schlagen wir
Grünen vor, das Modell „DualPlus“ einzuführen. Das
heißt, die berufliche Ausbildung wird nach dem dualen
Prinzip, an dem wir festhalten, in Ausbildungsbaustei-
nen absolviert. Damit werden alle Qualifizierungs-
schritte, auch die der Berufsvorbereitung, anerkannt und
führen zu einem Ausbildungsabschluss. Das ist ganz we-
sentlich. Damit werden Warteschleifen zu Qualifizie-
rungsketten. Die ineffiziente Zeitverschwendung für die
Jugendlichen hat so ein Ende.

Die Ausbildungsdauer muss zukünftig flexibler ge-
staltet werden. Leistungsschwächere Jugendliche sollen
eine Ausbildung von vier Jahren machen können, und
zwar von Anfang an. Leistungsstärkere Jugendliche sol-
len weitere Module wählen können, die zur Fachhoch-
schulreife führen. Beides soll im BBiG vorgesehen wer-
den.

Wir wollen den Ausbau der überbetrieblichen Ein-
richtungen. Das heißt, alle Betriebe werden in die Be-
rufsausbildung eines Kammerbezirkes einbezogen.
Auch die Betriebe, die keine Ausbildungstradition haben
und sehr spartenspezifisch arbeiten, können dann eine
Ausbildung anbieten. Das heißt, wir erhalten eine grö-
ßere Zahl von Ausbildungsplätzen. Diese überbetriebli-
chen Einrichtungen können von Kammern, von Berufs-
schulen und freien Trägern gestaltet werden. Sie bieten
zusätzliche Ausbildungsplätze, und zwar konjunkturun-
abhängig. Das ist das Wesentliche dieses Modells.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Einführung und Förderung von Pro-
duktionsklassen oder Produktionsschulen für Schulab-
brecher. Die CDU macht genau das gemeinsam mit den
Grünen in Hamburg. Die CDU kann also hier zustim-
men. Hamburg ist ein gutes Vorbild für die Verzahnung
von Berufsschulen mit Stadtteilschulen und für den Aus-
bau von Produktionsschulen, damit schulmüde junge
Leute und solche, die die Schule abgebrochen haben, in
eine Berufsausbildung einsteigen und damit den Schul-
abschluss nachholen können. Das Ganze kann mit den
4 Milliarden Euro aus dem Übergangssystem finanziert
werden.
Wir Grünen sind der Meinung, dass man nicht nur
über einen Rechtsanspruch auf Ausbildung reden, son-
dern ihn auch faktisch umsetzen soll. Dafür bietet unser
Modell die Gelegenheit. Sie haben heute die Chance,
dem zuzustimmen, damit wir endlich zu einer Reform
des Ausbildungssystems kommen und nicht weiter an
dem Flickenteppich, so wie er sich im Berufsbildungsbe-
richt zeigt, herumdoktern.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621700900

Stefan Müller ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1621701000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Botschaft des Berufsbildungsberichtes, den wir heute
diskutieren, ist klar: Die Bilanz des Ausbildungsjahres
2008 ist gut. Erstmals seit dem Jahr 2001 haben wir
rechnerisch in Deutschland wieder eine höhere Zahl von
Ausbildungsplätzen als von Interessenten. Ich finde, das
ist erfreulich. Erfreulich ist nicht nur der Umstand, dass
viele Schulabgänger einen Ausbildungsplatz gefunden
haben, sondern auch die Tatsache, dass es zahlreiche
Altbewerber geschafft haben, eine berufliche Ausbil-
dung zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bis 2006 ist die Zahl der jungen Menschen, die sich in
Warteschleifen befunden haben, immer weiter gestiegen.
Erfreulich ist für mich daher ebenfalls, dass die Zahl de-
rer, die sich in Warteschleifen befinden, 2008 erstmals
reduziert werden konnte. Man kann diese Debatte zum
Anlass nehmen, seiner Freude darüber Ausdruck zu ver-
leihen, dass junge Menschen in diesem Land tatsächlich
eine Lehrstelle gefunden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schließlich ist nichts schlimmer, als dass ein junger
Mensch die Schule verlässt und sich unmittelbar nach
seiner Schulzeit erfolglos um eine Lehrstelle bemüht und
damit das Gefühl bekommt, dass er in dieser Gesell-
schaft nicht gebraucht wird.

Junge Menschen brauchen eine Perspektive. Es ist die
vordringlichste Aufgabe der Gesellschaft und auch der
Politik, dafür zu sorgen, dass junge Menschen eine sol-
che Perspektive bekommen. Ich stelle fest, dass die
Große Koalition in den vergangenen Jahren dementspre-
chend gehandelt hat. Ein Teil des Erfolges der letzten
Jahre – gerade am Ausbildungsstellenmarkt – ist auch
ein Erfolg dieser Großen Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Ausbildungspakt hat zu diesen positiven Ent-
wicklungen ganz wesentlich beigetragen. Das Angebot
an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist im vergangenen






(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

Jahr weiter gestiegen. Zugesagt waren von den Unter-
nehmen 60 000 Ausbildungsstellen. Fast 87 000 sind
von der Wirtschaft eingeworben worden. Ich halte das
allein schon deswegen für bemerkenswert, weil zumin-
dest im zweiten Halbjahr des Jahres 2008 die Auswir-
kungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sehr wohl
spürbar waren. Ich will heute die Gelegenheit nutzen,
mich ausdrücklich bei den Unternehmen in Deutschland
zu bedanken, vor allem bei den kleinen und mittelständi-
schen Betrieben, die immer noch – Gott sei Dank! –
Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, die jungen
Menschen eine Chance geben. Wir haben wirklich allen
Grund, dafür dankzusagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Natürlich gilt es auch, den Blick nach vorne zu rich-
ten. Die Lage wird schwieriger; das wird angesichts der
Zahlen und Prognosen, die wir jeden Tag zur Kenntnis
nehmen müssen, niemand bestreiten wollen. Wir müssen
leider davon ausgehen, dass diese Wirtschaftskrise den
Arbeitsmarkt und auch den Lehrstellenmarkt erreichen
wird. Viele Unternehmen sehen sich heute gezwungen,
Kurzarbeit anzumelden. Die Befürchtung ist – wir alle
hoffen, dass sie nicht eintritt –, dass bis zum Sommer aus
Kurzarbeitern Arbeitslose werden.

Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass es Unter-
nehmen gibt, die, wenn sie ihre Mitarbeiter heute nicht
beschäftigen können, nicht über den Fachkräftemangel
von morgen oder übermorgen nachdenken. Das Bundes-
institut für Berufsbildung prognostiziert uns einen Rück-
gang von etwa 56 000 Ausbildungsplätzen im Jahr 2009.
Diese Prognose wird durch verschiedene Umfragen der
Wirtschaft gestützt. Aber man muss schon zur Kenntnis
nehmen, dass dem Rückgang der Zahl der Ausbildungs-
plätze ein Rückgang der Zahl derjenigen gegenübersteht,
die überhaupt eine Lehrstelle suchen. Die Bewerber-
gruppe, die Zahl der jungen Menschen, die die Schule
verlassen, wird nämlich allein aufgrund des demografi-
schen Wandels kleiner. Man muss auch berücksichti-
gen, dass im vergangenen Jahr eine hohe Zahl von Alt-
bewerbern vermittelt werden konnte. Wir haben allen
Grund, davon auszugehen, dass in diesem Jahr wie in
den Jahren 2007 und 2008 der überwiegende Teil der
jungen Menschen, die eine Lehrstelle suchen, ohne staat-
liche Hilfe einen Ausbildungsplatz finden wird. Insofern
besteht hier überhaupt kein Anlass zur Panikmache. Das,
was hier teilweise abläuft – auch in dieser Debatte –,
halte ich für unverantwortlich, weil es Ängste schürt, an-
statt jungen Menschen Mut zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Frau Hinz, Sie tun so, als wäre die von Ihnen vorge-
schlagene Modularisierung die Lösung aller Probleme.
Das geht meines Erachtens am Kern vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Durch eine Debatte darüber wird nur der Eindruck er-
weckt wird, als wäre unser Erfolgsmodell der dualen Be-
rufsausbildung nichts mehr wert. Es ist ein Modell, für
das uns andere Länder beneiden und das in anderen Län-
dern kopiert wird. Ich finde, wir sollten mit Kritik daran
sehr zurückhaltend sein. Die duale Berufsausbildung in
Deutschland ist ein Erfolgsmodell, und sie wird es auch
in Zukunft sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Patrick Meinhardt [FDP] – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir das duale Modell hochhalten!)


Natürlich brauchen bestimmte Gruppen von jungen
Menschen Unterstützung, aber dafür gibt es kein Patent-
rezept. Es gibt strukturschwache Regionen, in denen
selbst durchschnittliche Schulabgänger Hilfe benötigen.
Dort können wir durchaus über außerbetriebliche Ange-
bote oder Ausbildungsverbünde eine Lösung herbeifüh-
ren. Anderswo gibt es Ausbildungshemmnisse, die in der
Person des Bewerbers oder in seinem familiären Umfeld
liegen oder die allein darin begründet sind, dass jemand
aus einem schwierigen sozialen Umfeld kommt. Migra-
tionshintergrund spielt sehr oft eine große Rolle. Aber
gerade dafür gibt es doch individuelle Maßnahmen, mit
denen wir dafür sorgen, dass auch diejenigen eine
Chance bekommen. Es reicht doch nicht ein Hammer,
sondern wir brauchen einen ganzen Werkzeugkasten, um
für differenzierte Ausbildungsangebote und passgenaue
Unterstützungsangebote zu sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Genau deswegen haben wir in den vergangenen Jah-
ren eine ganze Reihe von Programmen und Maßnah-
men auf den Weg gebracht.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir sehen doch, wohin das führt!)


Einige wurden schon angesprochen: der Ausbildungsbo-
nus, den wir im vergangenen Jahr gemeinsam auf den
Weg gebracht haben, das Projekt JOBSTARTER und
vieles andere mehr. Ich muss das nicht weiter betonen.
Es geht hier um individuelle Lösungen, mit denen Men-
schen in unterschiedlichen Lebenslagen geholfen wer-
den kann. Deswegen ist das, was wir an der Stelle ge-
macht haben, richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Entscheidend sind aber nicht allein staatliche Unter-
stützungsmaßnahmen, sondern entscheidend ist auch die
Bereitschaft der Unternehmen, auszubilden. Wir er-
warten von keinem Unternehmen, dass es aus purer
Selbstlosigkeit junge Menschen ausbildet. Darum geht
es überhaupt nicht. Dass Unternehmen ausbilden, ist im
Interesse der Wirtschaft und im Interesse der Unterneh-
men, um den Fachkräftebedarf auch in Zukunft zu de-
cken. Bis zum Jahr 2020 wird die Zahl der Schulabgän-
ger um mehr als 20 Prozent, also deutlich sinken. Wer es
sich also leisten kann, in diesem Jahr auszubilden, der
sollte es auch tun.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

Anders formuliert: Wer heute und morgen nicht ausbil-
det, braucht sich übermorgen auch nicht über einen
Mangel an Fachkräften zu beklagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich fasse zusammen: Die Lage am Ausbildungsstel-
lenmarkt hat sich im vergangenen Jahr verbessert. Wir
haben trotz aller Krisenszenarien eine gute Ausgangs-
lage für das Jahr 2009. Wir sind gemeinsam aufgerufen,
alles zu tun, damit junge Menschen in diesem Land eine
Perspektive und auch eine Chance auf eine Berufsausbil-
dung bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621701100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Uwe Barth, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Uwe Barth (FDP):
Rede ID: ID1621701200

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Der bemerkenswerte Satz ist
schon öfter zitiert worden: Die Bundesregierung sieht
eine Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt. – Nun
zeigt ein Foto ja immer die Situation in dem Moment, in
dem das Foto gemacht wird, und nicht in dem Moment,
in dem man es betrachtet. So ähnlich verhält es sich na-
türlich auch mit Berichten. Sie beschreiben die Situation
im Moment der Datenerhebung und eben nicht in dem
Moment, in dem der Bericht gelesen wird. Deshalb kann
das, was in einem Bericht steht, eben schon ein bisschen
Schnee von gestern sein. Das ist gar nicht weiter ver-
wunderlich.

Viel verwunderlicher ist es mit Blick auf den Berufs-
bildungsbericht, dass es selbst in dem Rekordwachs-
tumsjahr 2008 nicht gelungen ist, die Zahl der Ausbil-
dungsverträge auch auf ein Rekordniveau zu heben,
sondern dass die Zahl 1,5 Prozent unter dem Niveau des
Vorjahres lag. Das liegt vor allem daran, dass es zwar ge-
lungen ist, in den alten Bundesländern die Zahl der Aus-
bildungsverträge um 0,3 Prozent erhöhen, dass aber zur
gleichen Zeit in den neuen Bundesländern die Zahl der
Ausbildungsverträge um dramatische 9 Prozent gesun-
ken ist. Da verwundert mich schon sehr, dass bisher
nicht ein Redner, insbesondere von der Bundesregie-
rung, an dieser Stelle auf diesen bemerkenswerten dra-
matischen Rückgang eingegangen ist.


(Beifall bei der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, drei Ursachen für
den Rückgang will ich kurz benennen: Erstens die
demografische Entwicklung. Gerade in den neuen
Bundesländern wohnen immer weniger junge Men-
schen, und es wird deshalb immer schwieriger, die Aus-
bildungsplätze zu besetzen. Das zeigt, dass es eben nicht
nur im universitären Bereich, im Bereich des wissen-
schaftlichen Nachwuchses, Probleme gibt, sondern dass
auch und gerade bei den ganz normalen Ausbildungsbe-
rufen der Nachwuchs fehlt. Deshalb ist es aus meiner
Sicht dringend erforderlich, dass wir analog zu den Be-
mühungen um wissenschaftlichen Nachwuchs, analog
zu den Bemühungen um die Steigerung der Bekanntheit
und der Attraktivität der Studienstandorte in den neuen
Ländern eben auch klar machen müssen, dass man in
den neuen Ländern eine ganz ausgezeichnete Berufsaus-
bildung bekommen kann und dass man natürlich nach
dieser Ausbildung mit einer Existenzgründung oder ei-
ner Anstellung im Osten eine Zukunft hat und vielleicht
auch ein Zuhause finden kann.


(Beifall bei der FDP)


Es ist doch absurd, dass wir uns abends in Fernsehsen-
dungen anschauen, wie Menschen in die entlegensten
Winkel dieser Welt auswandern, dass es aber unmöglich
erscheint, seinen Wohnsitz von Gießen nach Gera zu
verlegen. Das verstehe ich zumindest nicht.


(Beifall bei der FDP)


Eine zweite wichtige Ursache beschränkt sich nicht
auf die neuen Bundesländer. Eine Studie des DIHK
zeigt, dass für zwei Drittel der ausbildenden Unterneh-
men die schulischen Defizite der Auszubildenden ein
wesentlich größeres Ausbildungshemmnis darstellen als
zum Beispiel die aktuelle wirtschaftliche Situation; nur
– in Anführungszeichen – ein Drittel nennt diese Situa-
tion als größtes Hemmnis. Deswegen ist es von essen-
zieller Bedeutung, dass wir mit einem guten Bildungs-
system, das im frühkindlichen und vorschulischen
Bereich beginnt, jungen Menschen eine Grundlage ge-
ben, die sie in die Lage versetzt, eine berufliche Ausbil-
dung erfolgreich zu bewältigen.

Die dritte Ursache, das sind Sie von der Großen Ko-
alition, das ist Ihre Politik der letzten Jahre, die dazu ge-
führt hat, dass gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen belastet werden. Das sind nämlich dieje-
nigen, die die Hauptlast der Ausbildung tragen, und
nicht, Herr Minister Scholz, die DAX-30-Unternehmen,
die Sie hier erwähnt haben. Sie haben nicht einmal das
Wort „Mittelstand“ verwendet.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war anders! Handwerk, Mittelstand, alles angesprochen!)


Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind bei
Ihrer Politik immer die Dummen. Das Ergebnis ist, dass
sie selbst in guten Jahren nicht mehr in der Lage sind,
die Ausbildungslast zu tragen.


(Beifall bei der FDP)


Ob Unternehmensteuerreform oder Gesundheitsre-
form, es sind immer die kleinen und mittleren Betriebe,
die die Zeche Ihrer Politik bezahlen. Das gilt gerade im
Osten, wo Ihre Politik verhindert hat, dass die Betriebe
in den guten Jahren die viel zu geringe Eigenkapital-
quote – das ist das größte Problem dieser Betriebe – er-
höhen konnten, um die Ausbildungslast tragen zu kön-
nen und in Zeiten der Krise noch etwas zuzusetzen zu
haben. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren von der Großen Koalition, diese Politik zulasten der
kleinen und mittleren Betriebe nicht ändern, dann wer-
den Sie auch in Zukunft ein Problem haben. Die Be-






(A) (C)



(B) (D)


Uwe Barth
triebe werden nicht ausbilden, und dann werden alle Re-
zepte nichts mehr helfen. Deshalb wollen wir von der
FDP auch mit unserem Eintreten für ein einfaches, nied-
riges und gerechtes Steuersystem Politik zugunsten der
kleinen und mittleren Betriebe sowie zugunsten der Ar-
beits- und Ausbildungsplätze in diesen Unternehmen
machen, damit die Menschen auch im Osten unserer Re-
publik eine Zukunft haben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621701300

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dieter Grasedieck (SPD):
Rede ID: ID1621701400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Sie, Frau Hinz, wollen das Rad in der Berufsbil-
dung neu erfinden, obwohl das Profil dieses Rades ei-
gentlich schon längst abgefahren ist. Das zeigt die histo-
rische Bedeutung dieses Modells. Seit 25 Jahren wird
die duale Ausbildung zum Beispiel mit der Fachhoch-
schulreife kombiniert. Lernschwächere, leistungsschwä-
chere Jugendliche werden schon seit etlichen Jahren in
vielfältiger Weise durch die Bundesregierung gefördert
– übrigens auch schon zu Zeiten der rot-grünen Koali-
tion –; das wissen Sie ganz genau.

Der Mittelstand, Herr Barth, trägt die Hauptlast der
Ausbildung.


(Uwe Barth [FDP]: Ja, genau! Herr Müller war der erste, der das gesagt hat!)


Das Handwerk trägt die Hauptlast der Ausbildung; das
war auch im Jahr 2008 so.

Jeder Auszubildende, jeder Jugendliche braucht in der
Zukunft eine echte Chance. Minister Scholz wies darauf
hin, dass niemand durch den Rost fallen darf. Das ist
wichtig. Deshalb brauchen wir Ausbildung. Deshalb
brauchen wir Hochschulausbildung. Auch die Technolo-
gieführerschaft in der Welt muss erhalten bleiben. Ge-
rade in Zeiten der Krise ist es entscheidend, dass wir das
weiter ausbauen.

Wenn Probleme auftauchen, müssen wir helfen. Kon-
krete Maßnahmen hat diese Koalition längst ergriffen.
Die Erfolge sind im Berufsbildungsbericht aufgeführt.
Natürlich zeigt der Bericht auch Herausforderungen und
Probleme auf. Wir wollen Hilfen bei der Lösung anbie-
ten – immer mit dem Ziel, einen Beruf zu finden. Der Ju-
gendliche braucht eine berufliche Basis.

Für Altbewerber und für benachteiligte Jugendliche
zum Beispiel haben wir den Ausbildungsbonus einge-
führt. Damit haben fast 13 000 Jugendliche zusätzlich ei-
nen Ausbildungsplatz gefunden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

6 000 Euro stellen wir pro Ausbildungsplatz zur Verfü-
gung. Ist das nichts, Frau Hinz? Ist es nichts, wenn wir
benachteiligte Jugendliche durch betriebliche Einstiegs-
qualifizierung fördern? 24 000 Jugendliche sind auf-
grund dieses Sonderprogramms vermittelt worden – im-
mer mit dem Ziel, einen Beruf zu finden.

Schlechte Zeugnisse bedeuten häufig auch schlechte
Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb haben wir von-
seiten der Bundesregierung 200 neue Berater eingesetzt.
Das ist auch entscheidend. Ist es nichts, wenn man Hil-
fen im Übergang zwischen Schule und Beruf bietet und
Unterstützung leistet? Das ist wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Innerhalb der Wahlkreise können wir, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, auch selber aktiv werden. Ich
habe zum Beispiel Patensysteme an den verschiedens-
ten Schulen errichtet. In diesem Rahmen arbeiten drei
bis fünf Paten wöchentlich an den Schulen und begleiten
die Jugendlichen in den Beruf. Sie führen wichtige Bera-
tungen sowohl für leistungsstarke als auch für leistungs-
schwächere Jugendliche sowie für Jugendliche mit Mi-
grationshintergrund durch.

Jugendliche brauchen eine berufliche Basis – aus
menschlichen Gründen. Das ist für mich ein entschei-
dender Grund.


(Beifall bei der SPD)


Der zweite wichtige Grund ist die bereits angespro-
chene demografische Entwicklung. Heute suchen
640 000 bis 650 000 Jugendliche einen Ausbildungs-
platz. Im Jahre 2020 werden es 500 000 sein. Daran er-
kennt man schon die Dramatik. Die Jüngeren werden
weniger und die Älteren mehr. Entsprechend brauchen
wir eine langfristige Planung sowohl in den Betrieben
als auch im öffentlichen Dienst. An vielen Stellen fehlt
es daran, und zwar sowohl in den Betrieben als auch im
öffentlichen Dienst. Das ist eine weitere Schwierigkeit.

Auf der einen Seite benötigen wir Facharbeiter, auf
der anderen Seite aber natürlich auch Akademiker. Des-
halb ist es entscheidend, dass wir vonseiten der Bundes-
regierung Begleitmaßnahmen ergriffen haben.

Beispielsweise Ingenieure werden dringend benötigt.
Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat darauf
hingewiesen, dass die Quote der arbeitslosen Ingenieure
im Jahre 2004 bei 1,5 Prozent lag und heute nur noch
0,7 Prozent beträgt. In der Krise fällt die Arbeitslosig-
keit. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir diese Inge-
nieure benötigen. Deshalb ist es wichtig, den Übergang
zwischen Beruf und Universität zu erleichtern. Genau
das will unsere Bundesregierung erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies kann man nur begrüßen und weiter unterstützen.
Dort müssen wir weitermachen. In der Zukunft muss
klar sein, dass der Fachwirt, der Meister und der Techni-
ker an Deutschlands Universitäten studieren können.
Das muss unser Ziel sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dieter Grasedieck
Auch bei der Anerkennung der beruflichen Leis-
tung müssen wir in dieser Art und Weise weitermachen.
Die berufliche Leistung muss in der kommenden Zeit an
der Universität anerkannt werden. Dies ist zwingend er-
forderlich; denn die Universitäten im europäischen Aus-
land haben das längst erkannt. Teilweise wird der Ab-
schluss als Techniker oder als medizinisch-technische
Assistentin sogar als Bachelor anerkannt, sodass derje-
nige bzw. diejenige dort ein weiterführendes Studium
aufnehmen kann. Diese Initiativen müssen wir fortset-
zen.

Zusammenfassend kann man Folgendes feststellen:
Unsere Koalition hat eine wirklich erfolgreiche Bil-
dungsarbeit geleistet. Wir müssen damit verstärkt wei-
termachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621701500

Volker Schneider ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621701600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Grasedieck, ich bin Ihnen dankbar, dass
wenigstens aus Ihrer Rede deutlich geworden ist, dass
berufliche Bildung mehr ist als nur berufliche Erstausbil-
dung und dass gerade heute auch das lebenslange Lernen
und die betriebliche Weiterbildung dazugehören.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer sich mit dem vorliegenden Berufsbildungsbericht
unter dem Gesichtspunkt der Weiterbildung befasst,
kann allerdings nur enttäuscht sein. Gerade einmal fünf
Seiten widmet das Bildungsministerium reichlich unin-
spiriert einer belanglosen Aneinanderreihung der laufen-
den Projekte. Die substanziellste Information ist der
erfreuliche Anstieg der Zahl der Geförderten im Sonder-
programm WeGebAU. Sie ist deshalb erfreulich, weil
die wichtigen Zielgruppen der Älteren und Geringquali-
fizierten in den Unternehmen gefördert werden sollen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Gute Arbeit!)


Zwischenfazit: Die Würdigung der Weiterbildung
durch das Bundesbildungsministerium – leider auch
durch Ihre Rede, Herr Minister Scholz – steht im krassen
Gegensatz zu den fortlaufenden Beteuerungen von der
besonderen Bedeutung lebenslangen Lernens.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir als Linke stellen fest: Es reicht nicht, von der Be-
deutung lebenslangen Lernens zu reden, sondern wir
brauchen eine Politik, die dieser Wertschätzung ent-
spricht.


(Beifall bei der LINKEN)

Wesentlich länger und inhaltlich gehaltvoller fällt der
Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung,
BIBB, aus. Es ist allerdings auffallend, dass sich das Bil-
dungsministerium in keiner Weise auf die Daten des
BIBB bezieht. Wieso eigentlich nicht? Dass sich das
Bundesinstitut auf unterschiedliche Studien bezieht
– das räume ich ein –, macht es einem leider nicht leicht,
die vorhandenen Daten zu interpretieren. So schwanken
etwa die Angaben zu den weiterbildenden Betrieben
zwischen 43, 69 und 84 Prozent. Man muss schon etwas
genauer nachlesen, um festzustellen, dass 2007 nicht
einmal die Hälfte der Betriebe im engeren Sinne als wei-
terbildungsaktiv anzusehen war. Ansonsten hätte das
Bildungsministerium sehr wohl nachlesen können, dass,
gerade was die zentralen Herausforderungen der Weiter-
bildungspolitik anbelangt, die Daten keinen Fortschritt,
sondern leider oft nur das Gegenteil signalisieren.

Dazu nur einige unvollständige Hinweise: Die Zahl
der Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbil-
dung ist gestiegen. Aber noch immer liegen die Teilneh-
merzahlen aufgrund von Veränderungen in der Förder-
politik weit unter den Zahlen der 90er-Jahre; und das
angesichts der drohenden Krise.

Die soziale Selektion im Rahmen der Weiterbildung
hat nicht abgenommen. Im Gegenteil: Die Weiterbil-
dungsquote von Personen aus einfachen Tätigkeiten ist
zurückgegangen, während die der Personen aus qualifi-
zierten Tätigkeiten zugenommen hat. Wir können doch
nicht weiter zusehen, wie sich die soziale Schere in die-
sem Bereich weiter öffnet.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Länderranking ist Deutschland zurückgefallen,
weil Slowenien und Tschechien an uns vorbeigezogen
sind. Die Besserplatzierung bei den Teilnehmerstunden
erklärt sich nicht durch den Fortschritt in Deutschland,
sondern durch Rückschritte in Großbritannien und Nor-
wegen.

Weniger Unternehmen bieten ihren Beschäftigten be-
triebliche Weiterbildung an, und weniger Beschäftigte
haben an betrieblicher Weiterbildung teilgenommen.
Gleichzeitig geben die Unternehmen pro Teilnehmer we-
niger aus. Insgesamt – ich zitiere aus dem Bericht –
„deuten diese Ereignisse darauf hin, dass betriebliche
Weiterbildung in Deutschland stagniert bzw. rückläufig
ist.“

Kurz: Dieser Berufsbildungsbericht ist ein Dokument
des Scheiterns Ihrer Weiterbildungspolitik.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber den WeGebAU haben Sie doch gerade gelobt!)


– Das ist aber etwas wenig, lieber Kollege Rossmann.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber immerhin etwas!)


Sie liefern weder Antworten, wie der im wirtschaftlichen
Interesse liegende Qualifizierungsbedarf angemessen
gedeckt werden soll, noch verfügen Sie über irgendein
Mittel, um zu verhindern, dass sich soziale Benachteili-
gung auch in der Weiterbildung fortsetzt.






(A) (C)



(B) (D)


Volker Schneider (Saarbrücken)

Schaffen Sie endlich einen vernünftigen Rahmen, in
dem sich Weiterbildung für Anbieter und Teilnehmer
kalkulierbar entwickeln kann. Für die Linke fordere ich
zum wiederholten Male die Schaffung eines Erwachse-
nenbildungsförderungsgesetzes.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine letzte Bemerkung an die marktradikalen Freunde
auf der rechten Seite des Parlaments: Ein solches Gesetz
braucht nicht jedes kleine Detail zu regeln, aber es
schafft notwendige Rahmenbedingungen, die auch der
Markt der Weiterbildung zwingend benötigt; denn auch
dieser Markt ist in seiner unregulierten Form grandios
gescheitert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621701700

Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1621701800

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die denkbar sind,
werden wir das, was auch im Berufsbildungsbericht
markiert ist, nicht außer Kraft setzen: Der Ausbildungs-
markt folgt dem Arbeitsmarkt. Wenn man zurück-
blickt, dann stellt man fest: Im Jahre 2005 lag die Zahl
der Arbeitslosen bei 5,2 Millionen. Im Dezember letzten
Jahres haben wir es durch die Arbeit der Großen Koali-
tion erreicht, dass die Zahl der Arbeitslosen erstmals un-
ter 3 Millionen, genauer: auf 2,98 Millionen Arbeitslose,
gesunken ist. Ohne diese drei guten Jahre läge die Zahl
der Arbeitslosen heute angesichts der Weltwirtschafts-
krise nicht bei 3,6 Millionen, sondern bei 6 Millionen.
Deshalb ist es gut, dass die Große Koalition den Arbeits-
markt in diesen drei Jahren so hervorragend bedient hat
und dafür gesorgt hat, dass Beschäftigung wieder mög-
lich geworden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Unternehmer, der in einer globalwirtschaftlich
schwierigen Zeit über seine Belegschaft und seine Perso-
nalstruktur nachdenkt – das ist klar –, denkt erst einmal
an die befristet Beschäftigten. Im Zusammenhang mit
der Sicherung der Arbeitsplätze der Stammbelegschaft
stellt er dann die Frage: Kann ich mich noch einmal für
drei Jahre Ausbildung an einen jungen Menschen bin-
den? Kann ich das verantworten? Deswegen besteht in
der jetzigen Zeit die Gefahr einer Erstarrung des Ausbil-
dungsmarktes.

Es ist wichtig, dass wir eines nicht zulassen, nämlich
die von Ihnen, Kollegin Hirsch, und Ihrer mehrfach um-
benannten SED immer wieder zum Ausdruck gebrachte
klammheimliche Freude darüber, dass es den Menschen
dreckig geht.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

Sie sind die Manager des Elends.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sie sind die elenden Manager!)


Sie leben davon, dass es Probleme gibt.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Wir hingegen wollen alles dafür tun, dass es den Men-
schen besser geht als vorher. Das ist eine Botschaft, die
ganz entscheidend sein wird. Es gibt eine Interessen-
identität zwischen den Menschen und den etablierten
Parteien: Wir wollen, dass es den Menschen besser geht,
und wir erfreuen uns nicht daran, Kollegin Hirsch, dass
es Probleme gibt und es den Menschen schlecht geht.


(Zurufe von der LINKEN)


Die Staatsradikalen, die vor 20 Jahren gescheitert
sind, sind genauso wenig Teil der Lösung wie die
Marktradikalen, die in diesen Monaten gescheitert sind.
Soziale Marktwirtschaft ist ein dritter Weg, der sich im-
mer von den Extremen auf der einen wie auf der anderen
Seite unterschieden hat.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ich freue mich über die Extreme auf der rechten Seite!)


– Wer schreit, zeigt damit, dass ich recht habe. Er fühlt
sich getroffen.

Für die Ausbildung ist originär die Wirtschaft zustän-
dig und subsidiär der Staat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb ist das duale System der Königsweg der Aus-
bildung. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren eine
duale Ausbildung. Das sind 1,5 Millionen junge Men-
schen in 500 000 Betrieben. Diese Unternehmen geben
jedes Jahr 30 Milliarden Euro für die berufliche Qualifi-
zierung aus. Was wäre, wenn diese 30 Milliarden Euro
von der Privatwirtschaft für die Berufsausbildung nicht
mehr mobilisiert würden? Handwerk und Mittelstand
tragen 85 Prozent der Ausbildungsplätze. Deswegen ist
die Förderung von Handwerksbetrieben und des Mittel-
standes auch Ausbildungsförderung in unserem Lande.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Finanzkrise zeigt offenkundig, dass es wichtiger
und nachhaltiger ist, in Menschen zu investieren als in
irgendwelche kurzfristigen Börsenaktivitäten. Die Krise
wird Schleifspuren auf dem Ausbildungsmarkt verursa-
chen. In manchen Arbeitsagenturen, auch in Nordrhein-
Westfalen, beträgt der Rückgang der Zahl der gemelde-
ten Ausbildungsplätze im ersten Quartal etwa 20 Prozent
im Vergleich zum Vorjahr.

Deshalb müssen die Instrumente, die wir gemeinsam
entwickelt haben, überprüft und als Schutzschirm für die
Ausbildung genutzt werden. Ein Beispiel ist die
Einstiegsqualifizierung. Mehr als 75 Prozent derjeni-
gen, die dieses halbjährige Praktikum im Rahmen einer






(A) (C)



(B) (D)


Uwe Schummer
solchen EQJ-Maßnahme absolvieren, können weiterver-
mittelt werden. Wir nutzen betriebliche Ausbildungs-
strukturen, die integrativ wirken. Auch der Ausbil-
dungsbonus war nie ein Freund der Masse. Auch wenn
wir dadurch nicht 100 000 oder 80 000 Jugendlichen,
sondern nur 13 000 Jugendlichen helfen, ist das gut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Befürchtung, die von einigen Kammern und Arbeits-
agenturen formuliert wurde, es würde ein massenhafter
Missbrauch stattfinden, hat sich nicht bewahrheitet. Es
hat sich gezeigt, dass die Kammern, die Arbeitsagentu-
ren und die Unternehmen mit diesem Instrument nach
den Kriterien, die wir vorgegeben haben, sehr verant-
wortungsvoll umgehen.

Auch die ausbildungsbegleitenden Hilfen sind ein
wichtiges Instrument. Wir müssen überlegen, ob wir sie
nicht frühzeitiger einsetzen können. Wir müssen überle-
gen, ob es sinnvoll ist, sie nicht nur als Interventionsin-
strument einzusetzen, wenn es in der Ausbildung kriselt.
Vielleicht sollten wir schon zu Beginn der Ausbildung
einen Gutschein für Sprachförderung oder andere
Fördermaßnahmen ausgeben. Wir müssen das Ganze
verbessern und entbürokratisieren.

Maßnahmen zur Förderung der frühzeitigen Berufs-
orientierung sind wichtige Instrumente. Dadurch konnte
laut Berufsbildungsbericht die Abbrecherquote von
24,8 Prozent auf 19 Prozent verringert werden. Das sind
etwa 40 000 Abbrecher weniger. Das sind 40 000 junge
Menschen mehr, die einen Betrieb gefunden haben, in
dem sie ihre Ausbildung bis zum Ende fortsetzen kön-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Entscheidend wird sein, dass wir in diesen schwieri-
gen Zeiten – Frau Ministerin Schavan hat es eben formu-
liert – auch für Auszubildende einen Schutzschirm span-
nen und dass wir dazu die vorhandenen Instrumente
nutzen. Ein solcher Schutzschirm für die Berufsquali-
fizierung könnte drei Stufen haben. Als erste Stufe
könnte es einen Bonus für Ausbildungsbetriebe geben,
die offenkundig wirtschaftlich kränkeln und die Ausbil-
dung vielleicht nicht zu Ende führen können. Als zweite
Stufe könnte die Kammer beim Ausbildungspakt zusi-
chern, bei Insolvenz eines Ausbildungsbetriebes einen
alternativen Ausbildungsbetrieb zu suchen und zu fin-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Als dritte Stufe – wenn das alles nicht hilft – sollte die
Möglichkeit bestehen, dass die Qualifizierung bis zur
Kammerprüfung in einer Berufsbildungswerkstatt fort-
gesetzt werden kann.

Das kostet nicht mehr Geld; wir können das mit den
nicht abgerufenen Mitteln aus dem Bonusprogramm her-
vorragend finanzieren. Deshalb glaube ich, dass ein sol-
cher Schutzschirm für Auszubildende nicht nur im Falle
der Insolvenz angesichts der jetzigen Schwierigkeiten
notwendig ist, sondern wir mit dieser Debatte signalisie-
ren müssen: Wir garantieren politisch subsidiär, dass
jede Qualifizierung zu Ende geführt werden kann.

Meine lieben Freunde, seien Sie gegen alle Mies-
macher dieser Welt und im Sinne des Berufsbildungs-
berichtes Mitmacher und Mutmacher für eine bessere
Ausbildung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621701900

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist

der Kollege Willi Brase für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1621702000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute Mor-
gen bei Eintritt in die Tagesordnung unsere beiden
Minister Frau Schavan und Herrn Scholz gehört. Ich
habe den Eindruck, dass hier zwei Bildungsminister zu
diesem wichtigen Thema gesprochen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das zeigt, dass das Thema Bildung mittlerweile in der
Bundesregierung ressortübergreifend angekommen ist.
Ich finde, das ist heute Morgen ein gutes Signal.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wissen, dass der Bericht gute Zahlen beinhaltet.
Aber wir wissen genauso, dass sich in der Realität etwas
entwickelt, aufgrund dessen wir mehr Gas geben müs-
sen. Ich bin Uwe Schummer und anderen dankbar, die
darauf hingewiesen haben, dass man fragen muss: Wie
schaffen wir es, dass auch in diesem Ausbildungsjahr
– also bis Ende September bzw. in der Nachvermittlung
bis zum 31. Dezember – genügend Ausbildungsplätze
angeboten werden? Ich will ausdrücklich die Aussage
unseres Ministers Olaf Scholz unterstützen. Wir müssen
heute klipp und klar sagen: Wir erwarten von den Unter-
nehmen, dass sie insgesamt mindestens 600 000 Ausbil-
dungsplätze für die jungen Leute in diesem Jahr zur Ver-
fügung stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind der Auffassung, dass es gelingen kann. Es gibt
immer noch Unternehmen, die ausbildungsfähig sind
und nicht ausbilden.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung legte 2007 eine
Erhebung über die Kosten der dualen Ausbildung vor.
Sie hatte mehrere Ergebnisse. Ein Ergebnis war, dass die
Kosten für Unternehmen geringer geworden sind gegen-
über denen, die in der Studie von 2000 genannt wurden.
Die Nettokosten betragen durchschnittlich etwas über
3 500, fast 3 600 Euro. Natürlich sind die Kosten in be-
stimmten Bereichen im industriellen Sektor größer als
zum Beispiel im Handwerk, wo eine Hochqualifizierung
in Teilbereichen nicht notwendig ist. Das heißt, im






(A) (C)



(D)


Willi Brase
Handwerk liegen die Nettokosten oft unter diesem Be-
trag.

Wenn das der Fall ist, ist es mit Blick auf den Ausbil-
dungsbonus eigentlich kein Problem für kleine und
mittlere Betriebe, zusätzliche Ausbildungsplätze anzu-
bieten; denn der Ausbildungsbonus beträgt 4 000 bis
6 000 Euro. Wir erwarten, dass die Unternehmen, die
bisher nicht ausbilden, endlich dieses Instrument nutzen
und eine vernünftige Zahl betrieblicher Ausbildungs-
plätze erreicht wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer Bereich, der angesprochen werden muss
– ein Kollege hat es eben gesagt –, betrifft die Weiter-
bildung. Ja, es ist richtig: Das Programm WeGebAU ist
schleppend angelaufen. Aber in der Praxis erlebe ich,
dass WeGebAU gerade im Zusammenhang mit Kurz-
arbeit sehr deutlich und sehr viel stärker auch in anderen
Bereichen, die nicht alle vorgegebenen Kriterien erfül-
len, genutzt wird. Ich glaube, wenn Weiterbildung Sinn
macht, dann in Zeiten von Kurzarbeit. Man sollte dieses
Instrument zur besseren Qualifizierung von Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern nutzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb werden wir zukünftig sagen können: Dieses In-
strument, WeGebAU, ist ein voller Erfolg.


(Beifall bei der SPD)


Olaf Scholz hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir den jungen Leuten eine Perspektive geben wollen
und geben werden. Die SPD will, dass alle Jugendlichen
einen Schul- bzw. Bildungsabschluss erhalten. Das
Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses haben wir
bereits auf den Weg gebracht. Außerdem wollen wir eine
Berufsausbildungsgarantie für Jugendliche, die älter als
20 Jahre sind. Dieses Thema wird in Zukunft immer be-
deutender.

Schon heute verzeichnen die zuständigen Stellen – sprich:
die Kammern – Ausbildungsverträge von jungen Leuten,
die erst mit 23, 24, 25 oder 26 Jahren mit einer Ausbil-
dung angefangen haben. Angesichts der demografischen
Entwicklung kann ich nur sagen: Wir sind gehalten, auch
älteren jungen Erwachsenen, die keinen Berufsabschluss
haben, den Weg zu einem Berufsabschluss zu ebnen.
Das ist zwingend notwendig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Lassen Sie mich noch etwas zum Übergangssystem
sagen. Frau Hinz, eines verstehe ich nicht: Damals unter
Rot-Grün haben wir den Versuch unternommen, durch
die Schaffung eines neuen Instruments bestehende In-
strumente in ihrer Vielfältigkeit zurückzudrängen. Wenn
wir es schaffen, die Einstiegsqualifizierung, EQ, aus
den Bereichen, in denen damit Missbrauch betrieben
wird, wegzudrücken und die Qualifizierungsbausteine,
die es dort schon gibt, ein Stück weit zu schärfen, dann
kann mithilfe der Einstiegsqualifizierung – ein Jahr in ei-
nem Betrieb – den Jugendlichen, die noch nicht stark ge-
nug sind, der Weg in eine drei- oder dreieinhalbjährige
Ausbildung, nicht unbedingt in eine zweijährige Ausbil-
dung, geebnet werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Ich glaube, diese Entwicklung ist besser. Es wird sich
zeigen – der Staatssekretär ist, wie ich sehe, hier –, dass
wir dann auch weniger BvB-Maßnahmen nach SGB III
brauchen. Daran lässt sich diese Entwicklung nämlich
konkret messen, vor allen Dingen in der Praxis. Wir sind
dafür, so vorzugehen.

Die Berufsorientierung in der Schule muss wesent-
lich gestärkt werden; das wissen wir. Ich möchte darauf
hinweisen, dass wir mit den Programmen des BMBF
schon den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wenn wir
diese Maßnahmen ausweiten, werden wir es schaffen,
die Berufsorientierung an den Schulen, auch wenn wir
hier keine direkte Kompetenz haben, zu verbessern.

Das ist deshalb notwendig, weil die Ausbildungswün-
sche der Jugendlichen und die reale wirtschaftliche Lage
bzw. die vorhandenen Arbeitsplätze in manchen Regio-
nen nach wie vor nicht übereinstimmen. Es muss uns in
Zukunft gelingen, beides miteinander zu verbinden. Die
Jugendlichen müssen wissen, welche Branchen, Indus-
trien und Handwerksbereiche es in ihrer Region gibt,
und wir müssen uns bemühen, dieses Angebot mit ihren
Ausbildungswünschen zu vereinbaren. Wir wollen die
Berufsorientierung an allen Schulen verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ausbildungsbegleitende Hilfen und Berufseinstiegs-
begleitung werden, wie ich dem Votum des Hauptaus-
schusses des BIBB und dem Minderheitenvotum der Ar-
beitgeber und der Arbeitnehmer entnommen habe,
begrüßt. Wir werden sogar aufgefordert, diese Hilfen
auszuweiten. Wenn wir diese Instrumente zukünftig
noch besser und geschickter anwenden, tun wir für die
jungen Leute etwas sehr Gutes. Dann geben wir ihnen
auch eine gute Perspektive.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Schluss. Vor dem Hintergrund der schwierigen
wirtschaftlichen Lage werden in dieser Debatte auch
vonseiten der Gewerkschaften einige berechtigte Forde-
rungen erhoben, die ich ausdrücklich befürworten
möchte. Die Gewerkschaften fragen zum Beispiel: Was
passiert mit den jungen Leuten, wenn sie ihre Ausbil-
dung abgeschlossen haben? Wenn wir sagen, dass durch
das Ausbilden von heute der Fachkräftebedarf von mor-
gen gedeckt wird, dann müssen wir auch dafür sorgen,
dass diejenigen, die ihre Ausbildung in diesem oder im
nächsten Jahr abschließen, eine Chance auf dem Arbeits-
markt haben.

Die SPD möchte eine Beschäftigungsbrücke bauen.
Wir wollen die jungen Leute in den Arbeitsmarkt inte-
grieren und denen, die kurz vor der Verrentung stehen,
die Chance geben, im Rahmen einer vernünftigen

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Willi Brase
Altersteilzeitregelung aus dem Arbeitsleben auszuschei-
den. Eine solche Beschäftigungsbrücke werden wir in
den nächsten Jahren brauchen. Daher werden wir sie auf
den Weg bringen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621702100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/12640, 16/12680 und 16/12665
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Es sieht
so aus. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

500 000 Arbeitsplätze – Existenzsichernd und
öffentlich gefördert

– Drucksache 16/12682 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Sicherheit und Zukunft – Initiative für ein so-
zial gerechtes Antikrisenprogramm

– Drucksachen 16/12292, 16/12485 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Werner Dreibus, Kornelia Möller, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Gute Arbeit – Gutes Leben
Initiative für eine gerechte Arbeitswelt

– Drucksachen 16/6698, 16/12469 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer

Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung die Aussprache 75 Minuten dauern. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Werner Dreibus für die Fraktion
Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Werner Dreibus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621702200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! 6 Prozent minus drohen
der Wirtschaft, Hunderttausende Arbeitsplätze stehen
auf dem Spiel. Die Menschen brauchen jetzt Schutz vor
den Auswirkungen der Krise. Deshalb fordern wir einen
Schutzschirm für Menschen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir legen Ihnen dazu in drei Anträgen detaillierte kon-
krete Vorschläge vor.

Nach wie vor hilft die Große Koalition vor allem ma-
roden Banken. Auch der Wirtschaftsgipfel vom gestri-
gen Tag ändert daran leider nichts. Allein einer einzigen
Bank, der HRE, schieben Sie mehr Geld zu, als Sie für
die Rettung von Arbeitsplätzen auszugeben bereit sind,
Ihre Konjunkturprogramme inbegriffen. Sie reden da-
von, dass die Banken zu bedeutend für die Wirtschaft
sind, als dass wir sie pleitegehen lassen können. Das
mag so sein. Aber dann müssen Sie, dann müssen wir
auch von den Arbeitsplätzen von Millionen Menschen
sprechen, die noch bedeutender sind und deren Verlust
wir ebenso wenig hinnehmen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Menschen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
sind systemrelevant. Dazu hört man von Ihnen viel zu
wenig. Sie bedienen vor allen Dingen die Interessen der-
jenigen, die uns die Krise eingebrockt haben. Diejeni-
gen, die unter ihr leiden, speisen Sie mit warmen Worten
ab. Beschäftigungsgarantien für die bei Opel Beschäftig-
ten? Fehlanzeige. Hilfen für den Mittelstand, dem die
Banken den Kredithahn zudrehen? Fehlanzeige. Investi-
tionen für neue Arbeitsplätze? Fehlanzeige. Beschäfti-
gungsprogramme für Langzeitarbeitslose? Fehlanzeige.
Und so weiter.

Keinen einzigen Euro wollen Sie ausgeben, um die Be-
zugsdauer von Arbeitslosengeld I zu verlängern. Nach Ih-
rem Willen landen die meisten Menschen, die heute
arbeitslos werden, spätestens nach einem Jahr bei
Hartz IV.

Auch den Millionen, die schon heute Hartz IV bezie-
hen, bieten Sie keine Perspektive. Sie sind nicht einmal
bereit, das Arbeitslosengeld II zu erhöhen, sodass die
Menschen würdevoll davon leben können.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich nenne nur die Zahl: 2,5 Millionen arme Kinder in
Deutschlands Haushalten. Das ist und bleibt eine
Schande für unser Land.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Koalition redet nur von der Finanz- und Wirt-
schaftskrise. Sie ignoriert, dass sich dahinter eine tiefge-
hende humanitäre Krise verbirgt. Angesichts dessen,
wie SPD und Union auf die aktuellen Prognosen reagie-
ren, stelle ich mir ernsthaft die Frage, ob die Koalition
noch politisch zurechnungsfähig ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)







(A) (C)



(B) (D)


Werner Dreibus
Sie sind bisher für 2009 von einem Minus von 2,25 Pro-
zent ausgegangen und haben als Gegenmaßnahme Kon-
junkturhilfen in Höhe von 20 Milliarden Euro beschlos-
sen. Jetzt wird von 6 Prozent minus und von bis zu
1 Million mehr Arbeitslosen ausgegangen. Was macht
die Kanzlerin? Sie erklärt, die bisherigen Konjunktur-
programme müssten ausreichen. Genauso gut könnte
man behaupten, dass ein Damm, der darauf ausgelegt ist,
vor einer Flutwelle von 5 Metern Höhe zu schützen,
auch vor einer Flutwelle von 15 Metern Höhe schützt.
Doch ein Tsunami ist etwas anderes als das jährliche
Frühjahrshochwasser.

Das alles ist realitätsfern, dreist und unverantwortlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Zu dieser Realitätsferne gehört auch, dass Sie wohlbe-
gründete Warnungen regelmäßig in den Wind schreiben,
selbst wenn sie von Ihnen nahestehenden Leuten kom-
men. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank hat bereits
im letzten Herbst einen Rückgang der Wirtschaftsleis-
tung von bis zu 4 Prozent für möglich gehalten. Sie und
Ihre verantwortlichen Minister haben das damals im
Bundestag als Panikmache abgetan. Jetzt wissen wir:
Wir müssen mit einem Rückgang von 6 Prozent rechnen.
Ebenfalls im Herbst 2008 hat der Chef der Bundesagen-
tur für Arbeit davor gewarnt, die Beiträge zur Arbeitslo-
senversicherung zu kürzen. Ich habe in der damaligen
Bundestagsdebatte gesagt: Nur Geisterfahrer oder Zyni-
ker senken in der Krise die Beiträge zur Arbeitslosenver-
sicherung. – „Unsinn“, hieß es damals aus Ihren Reihen,
„das Geld reicht allemal, wir haben genug Rücklagen.“
In diesem Herbst wird die Bundesagentur mit leeren
Händen dastehen.

Die neue Steuerschätzung wird möglicherweise einen
Fehlbetrag von 20 Milliarden Euro ausweisen. Bis 2013
werden nach den jetzt vorliegenden Berechnungen in den
öffentlichen Kassen krisenbedingt bis zu 200 Milliarden
Euro fehlen. Dennoch weigern Sie sich weiterhin beharr-
lich, die Reichen und Superreichen wenigstens in der
Krise stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu
beteiligen: Die Steuern für Spitzenverdiener werden
nicht erhöht, große Vermögen werden auch weiterhin
nicht besteuert.

Wie wollen Sie denn die Kosten der Krise schultern? –
Wir haben eine schlimme Befürchtung: Sie holen sich
das Geld bei den Beschäftigten, bei den Arbeitslosen
und bei den Rentnern,


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ist es!)


selbstverständlich erst nach der Bundestagswahl.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Genau das!)


Dann heißt es wieder, alle müssten jetzt den Gürtel enger
schnallen. Aber Sie meinen immer nur diejenigen, die
sowieso schon nicht viel haben. Das ist Politik gegen die
Menschen.


(Beifall bei der LINKEN)

Da kann die SPD noch so schöne Sachen in ihr Pro-
gramm schreiben. Mit Ihrem Wunschpartner FDP – das
werden wir gleich noch hören –, werden Sie davon
nichts umsetzen können, und Sie wissen das. Trotzdem
täuschen Sie die Wählerinnen und Wähler. Die nächste
Umverteilung von unten nach oben hat Herr Steinbrück
mit seinem Weg zu den Bad Banks schon eingeleitet.
Der Finanzminister redet von einem „Risiko für Steuer-
zahler, das bleibt“. Auf gut Deutsch heißt dies: Wenn
sich die faulen Wertpapiere auf Dauer als unverkäuflich
erweisen, dann zahlen halt die Steuerzahler die Zeche.
Den Banken kann man das ja nicht zumuten.

Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Krisenpoli-
tik zu ändern. Verteilen Sie die Kosten der Krise gerecht!
Ein erster Schritt ist eine Millionärsabgabe.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine Abgabe von 5 Prozent auf hohe Vermögen für die
Zeit der Krise bringt den öffentlichen Kassen 80 Milliar-
den Euro jährlich.

Zweitens fordern wir Sie auf, mit diesem Geld einen
Schutzschirm für Menschen zu spannen: Verlängern Sie
jetzt die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I und erhö-
hen Sie das Arbeitslosengeld II!


(Beifall bei der LINKEN)


Legen Sie einen Zukunftsfonds auf, der Unternehmen
bei der Umstellung der Produktion auf energie- und roh-
stoffeffiziente Verfahren und Produkte unterstützt und so
bestehende Arbeitsplätze sichert und neue Arbeitsplätze
schafft! Bauen Sie die sozialen Dienstleistungen in der
Kinderbetreuung, der Altenpflege, der Bildung und an-
derswo aus und schaffen Sie dazu eine Million neuer Ar-
beitsplätze! Wann, wenn nicht jetzt?


(Beifall bei der LINKEN)


Richten Sie 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze
für diejenigen ein, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine
Chance mehr haben! Details finden Sie in unserem An-
trag. Sichern Sie Beschäftigung, indem Sie anstelle von
Leiharbeit, befristeten Verträgen und Minijobs gute Ar-
beit, also das unbefristete und tariflich entlohnte Be-
schäftigungsverhältnis, fördern! Dies hilft dem Einzel-
nen, aber auch der Nachfrage und damit tatsächlich der
Konjunktur.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Krise hat auch etwas mit der Selbstherrlichkeit
von Managern zu tun, die meinten und immer noch mei-
nen, der Börsenkurs sei das Wichtigste. Das Wichtigste
im Unternehmen sind und bleiben aber die Menschen,
die in den Betrieben arbeiten und die Werte schaffen.
Deshalb ist ein wichtiger Teil unseres Antikrisenpro-
gramms der Ausbau, die Stärkung der Mitbestimmung
und eine Beteiligung der Beschäftigten an den Unterneh-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur so werden die Menschen in die Lage versetzt, ihre
Interessen am Schutz von Arbeitsplätzen, an Löhnen und
guten Arbeitsbedingungen durchzusetzen.






(A) (C)



(B) (D)


Werner Dreibus
Die Grundlage unseres Sozialstaats bilden die Ar-
beitslosen-, die Gesundheits- und die Rentenversiche-
rung. Deren Funktionsfähigkeit wurde durch Ihre Kür-
zungspolitik in den letzten zehn Jahren erheblich belastet
und eingeschränkt.


(Rolf Stöckel [SPD]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Die Krise führt jetzt zu weiteren Belastungen. Deshalb
– auch dies gehört zu unserem Thema – brauchen wir so-
fort so etwas wie eine Staatsgarantie für die Sozialkas-
sen. In der Krise und danach müssen Kürzungen bei den
Leistungen für Arbeitslose, Kranke und Rentner ver-
bindlich ausgeschlossen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch das ist Teil eines notwendigen Schutzschirms. Ret-
ten Sie nicht die Spekulanten, schützen Sie die Men-
schen! Das ist das Antikrisenprogramm der Linken, und
es sollte ein Antikrisenprogramm des Deutschen Bun-
destages insgesamt werden.

Vielen Dank.


(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621702300

Nachdem der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe einen we-

sentlichen Teil seiner Bemerkungen den Vertretern eines
Teils der Opposition jetzt gerade schon privat erläutert
hat, verbleiben ihm 14 Minuten für eine Rede an das ge-
samte Haus. – Lieber Kollege Brauksiepe, Sie haben das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1621702400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

bedanke mich untertänigst für die Maßregelung.


(Rolf Stöckel [SPD]: Die Zeiten sind doch wohl vorbei!)


Ich will deutlich sagen: Herr Kollege Dreibus, es tut
mir schon ein bisschen leid für Sie, dass Sie das alles
heute hier vortragen mussten. Wenn die zweitkleinste
Fraktion des Hauses


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Noch!)


hier in der Kernzeit zu so wichtigen Themen Anträge
stellt, dann hätte man ja vermuten können, dass jemand
aus ihrer vordersten Führungsreihe etwas dazu sagt.
Dass diese das nicht tun wollten, liegt aber wahrschein-
lich daran, dass die Anträge, die Sie hier heute stellen,
wirklich jenseits der Peinlichkeitsgrenze sind.

Man muss sich nur einmal die Titel anschauen. Sie
schreiben zum Beispiel: „500 000 Arbeitsplätze – Exis-
tenzsichernd und öffentlich gefördert“. Das ist wunder-
bar. Wo haben Sie damit angefangen? Was ist mit dem
Arbeitsmarkt hier in Berlin? Was haben Sie davon in
Mecklenburg-Vorpommern getan, als Sie dort etwas zu
sagen hatten? Wo waren die Resultate dieser Arbeit?

Daneben schreiben Sie als Teil eines Titels: „Gute Ar-
beit – Gutes Leben“. Nicht Sie persönlich, aber die Re-
gierung, die Ihre Partei stellte, hat am 17. Juni 1953 die
Arbeitsnorm erhöht.


(Lachen bei der LINKEN)


1989 haben Sie sich mit einer Ostrente von 330 Ostmark
von der Weltbühne verabschiedet.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


20 Jahre später meinen Sie, einen Antrag, in dessen Titel
„Gute Arbeit – Gutes Leben“ steht, als Beschlussvorlage
vorlegen zu können. Wer soll Ihnen das eigentlich glau-
ben? Das können Sie doch wohl selbst nicht ernsthaft
glauben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Sie tun so, als sei es eine Sache des politischen Wil-
lens, zu beschließen, dass alle ein gutes Leben führen
wollen. Nein, Herr Kollege, das ist eben der Unter-
schied. Ihre Auffassung teilen Sie mit manchen Finanz-
marktjongleuren, die weltweit agiert haben und auch
glaubten, dass das Geld einfach so auf der Straße liegt.
Das Geld liegt nicht auf der Straße. Renditen von
25 Prozent kann man nicht dauerhaft ehrlich erwirt-
schaften. Man kann das Geld auch nicht drucken, in der
Hoffnung, dass man etwas dafür kaufen kann. „Gute Ar-
beit – Gutes Leben“ ist bei uns möglich, aber es muss
hart erarbeitet werden und nicht durch Phrasendresche-
rei, wie Sie das hier tun. Das ist der Unterschied.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Die Situation, in der wir uns befinden, ist wirtschaft-
lich schwierig; jeder weiß das. Es wird ein Jahr der
schlechten Nachrichten sein. Wir wissen, dass auch
heute Prognosen für die Zukunft gestellt werden, die na-
türlich große Herausforderungen für uns bedeuten. Für
uns als CDU/CSU-Fraktion heißt das, gerade in diesen
schwierigen Zeiten den Kurs zu halten, den die Regie-
rung unter Angela Merkel in den letzten Jahren mit gro-
ßem Erfolg eingeschlagen hat.

Wir haben eben eine Wirtschaftskrise und keine Sys-
temkrise. Es ist jetzt insbesondere nicht die Zeit, in der
gescheiterte Ideologien von anno dazumal wieder auf-
kommen. Es ist eine Wirtschaftskrise, die wir durch eine
gute Politik nach den Prinzipien der sozialen Markt-
wirtschaft wieder überwinden werden. Das werden Sie
in den nächsten Jahren erleben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn man sich vor Augen führt, dass wir jetzt seit
über einem halben Jahr mit dieser Krise zu tun haben,
dann merkt man, dass wir es mit einer Situation auf dem
Arbeitsmarkt zu tun haben, die vergleichsweise robust
ist. Es hat sich gelohnt, dass auf dem Arbeitsmarkt An-
strengungen unternommen und wichtige Reformen
durchgeführt worden sind. Nach drei Jahren haben wir
fast 2 Millionen Arbeitslose weniger. Wir haben über
1,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gungsverhältnisse geschaffen, und wir sind hinsichtlich
der Arbeitslosigkeit jetzt noch immer fast auf dem Ni-
veau des Vorjahres.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
An dieser Stelle will ich auch noch einmal deutlich
sagen: Wenn man Millionen zusätzliche Arbeitsplätze
schafft, dann sind darunter immer schlechter und besser
bezahlte Arbeitsplätze; das ist wohl wahr. Ich will aber
auch in diesen Tagen noch einmal sagen: Obwohl es jetzt
insgesamt wieder eine schwierigere Lage auf dem Ar-
beitsmarkt gibt, geht der Abbau der Langzeitarbeitslo-
sigkeit in Deutschland weiterhin voran. Wir haben heute
weniger Langzeitarbeitslose als früher.

Was uns von denjenigen unterscheidet, die eine Sys-
temkrise herbeireden wollen, ist folgende Erkenntnis:
Wenn jemand beispielsweise nach einer Arbeitslosigkeit
von drei Jahren für 9,60 Euro pro Stunde wieder eine
Beschäftigung findet, dann ist das nach der amtlichen
Statistik ein Niedriglohnjob, weil das weniger als zwei
Drittel des Durchschnittslohns ist; denn zum Glück sind
die Durchschnittslöhne in diesem Land hoch. Wenn je-
mand eine große Familie hat, dann muss er vielleicht
noch aufstockende Leistungen erhalten. Dass das Wort
dafür „Arbeitslosengeld II“ heißt, ist sicherlich keine
ruhmreiche Erfindung.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 Millionen für unter 5 Euro die Stunde!)


So mag ein Aufstocker oder ein Niedriglohnbezieher
mehr in der Statistik sein, vor allem aber ist das ein
Langzeitarbeitsloser weniger. Der Trend der erfolgrei-
chen Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit setzt
sich fort. Darum geht es uns im Gegensatz zu Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Das scheint nicht für die SPD zu gelten!)


Auch wenn Sie in der Sache keine Erfolge vorzuwei-
sen haben, haben Sie an der Propagandafront durchaus
Erfolge erzielt, das will ich Ihnen zugestehen. Obwohl
wir für den Kreis der ehemaligen Arbeitslosenhilfe- und
Sozialhilfeempfänger heute deutlich mehr Geld ausge-
ben, als das in der Zeit der getrennten Rechtskreise der
Fall war, haben Sie es geschafft, den Eindruck zu erwe-
cken, als wäre an dieser Stelle das große Elend ausge-
brochen. Ich will im Zusammenhang mit den Leistungen
gerade im Hinblick auf die Kinder sagen: Diese Regie-
rung hat dafür gesorgt, dass diejenigen, die am wenigs-
ten haben, eine Leistungsausweitung bekommen. Wir
wissen, dass das zur Führung eines menschenwürdigen
Lebens notwendig ist.

Wir reden in diesen Tagen über vieles – über die Ab-
wrackprämie, über das Kindergeld, über was auch im-
mer –, was eigentlich anrechnungsfrei sein sollte. Die
Einführung des Arbeitslosengelds II hat dazu geführt,
dass heute die betroffenen Kinder aller Altersstufen
deutlich besser dastehen als in der Zeit der getrennten
Systeme. Der Abstand zwischen dem, was die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die die Kinderregel-
sätze erwirtschaften, als Kindergeld für ihre Kinder be-
kommen, und dem, was diejenigen, die nicht arbeiten,
von dem bekommen, was andere erwirtschaften, ist in al-
len Gruppen größer geworden. In diesem Jahr wird es
das Schulstarterpaket für alle Kinder geben, deren Fami-
lie vom Arbeitslosengeld-II-Bezug lebt, ferner sind die
Regelsätze angehoben worden. Auch die Renten steigen
in diesem Jahr. Diejenigen, die Kindergeld bekommen,
erhalten 120 Euro mehr. Diejenigen, die für die 6- bis
13-jährigen Kinder einen erhöhten Regelsatz bekom-
men, bekommen 340 Euro mehr in diesem Jahr.

Wir stehen dazu, weil wir wissen, dass wir diejenigen,
die am unteren Rand der Einkommensskala sind, nicht
vergessen dürfen. Für uns ist im Gegensatz zu Ihnen
aber auch klar: Jeder Euro, den einer bekommt, muss
von einem anderen erwirtschaftet werden, und jeder
Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Das haben
Sie über Jahrzehnte vergessen oder bis heute nicht be-
griffen. Jeder Euro, der einem Hilfebedürftigen gegeben
wird, muss von jemandem erwirtschaftet werden, der da-
für morgens aufsteht, zur Arbeit geht und somit diesen
Sozialstaat finanziert. Das sollten Sie sich merken, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Deshalb verstecken wir uns nicht mit dem, was wir
für die bedürftigen Menschen geleistet haben. Mit der
gleichen Deutlichkeit sagen wir: Es müssen sich auch
diejenigen in der Politik aufgehoben fühlen, die jeden
Tag zur Arbeit gehen. Auch diejenigen, die hart arbeiten
und sich an die Regeln in diesem Land halten, müssen
sich in der Politik wiederfinden. Diese Menschen spielen
in Ihren Anträgen niemals eine Rolle, sie stehen aber im
Mittelpunkt der Politik, die wir in der Großen Koalition
machen und für die wir als CDU/CSU stehen. Genau da-
für stehen wir.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie sollten im Mittelpunkt stehen, tun es aber nicht! Deshalb brauchen wir eine neue Regierung!)


– Ja, eine neue Regierung tut nach einigen Jahren gut.
Herr Niebel, damit Sie da erfolgreich mitmachen kön-
nen, müssen Sie sich ein bisschen anstrengen. Dann
müssen Sie auf das zurückkommen, was wir früher ein-
mal gemeinsam gemacht haben.


(Dirk Niebel [FDP]: Das schaffen wir schon!)


Die Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme haben
wir nie gemeinsam betrieben. Solange Sie diese fordern,
können Sie auch nicht wieder regieren, so einfach ist die
Sache.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Wir werden denjenigen Menschen, die hart arbeiten
und sich an die Regeln halten, nicht mit einer populisti-
schen Reichensteuer und Ähnlichem antworten. Das ist
leider auch das Problem unseres Koalitionspartners. Sie
als Sozialdemokraten werden einen Wettlauf mit der
Linkspartei um Linkspopulismus nie gewinnen. Mit ei-
nem Steuerkonzept, durch das Sie der Mittelschicht
– den Leistungsträgern in unserem Land – überhaupt
nichts zu bieten haben, werden Sie bei den Wählerinnen
und Wählern nichts gewinnen. Wir stehen dafür, dass die
Leistungsträger, dass die Bezieher der kleinen und






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
mittleren Einkommen in diesem Land entlastet werden,
damit sie wissen: Es lohnt sich, zu arbeiten.


(Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Von ihnen wird Solidarität verlangt, aber sie haben auch
etwas von der Leistung, die sie selbst erbringen. Das ist
auch ein wichtiger Unterschied.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir die Debatte über Mindestlöhne in diesen
Zeiten sehen, dann wird klar, dass wir mit unserer Politik
als CDU/CSU genau auf dem richtigen Weg sind.

Sie können als Linkspartei mehr Geld für alle ver-
sprechen. „Mehr Geld für alle“ – das ist Ihr Programm:


(Widerspruch bei der LINKEN)


mehr Geld für diejenigen, die arbeiten, und mehr Geld
für die, die nicht arbeiten. Wo es herkommt, bleibt Ihr
Geheimnis. Es muss aber erarbeitet werden.

Man muss sich wundern, wenn von Sozialdemokraten
heute zu hören ist, dass sie sich ärgern, weil die Links-
partei einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro for-
dert.


(Dirk Niebel Sozialdemokrat, Herr Brauksiepe! – Gegenruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Jetzt hören Sie aber auf mit den Sozialdemokraten! Das geht zu weit!)


Das hält die SPD für eine Sauerei. Sie fordert nur
7,50 Euro und wird jetzt überboten. So was kommt von
so was. Wenn man einmal anfängt zu fordern, der Staat
solle die Löhne festsetzen, dann kommt man in einen
Überbietungswettbewerb, aus dem man nicht mehr he-
rausfindet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diesen Kampf können Sie nicht gewinnen. Sie hätten
besser gar nicht damit angefangen. Wir hätten besser von
vornherein gemeinsam auf die Tarifvertragsparteien und
die Tarifautonomie gesetzt. Das ist der Weg, den wir ein-
geschlagen haben.

Was die Konjunkturpakete angeht, die wir in der
Großen Koalition beschlossen haben, sind wir nach mei-
ner festen Überzeugung auf dem richtigen Weg. Es geht
darum, in dieser schwierigen Krise das Signal zu senden,
dass es sich lohnt, wenn die Arbeitgeber und Arbeitneh-
mer in den Betrieben diese schwierige Krise gemeinsam
durchstehen, wenn sie beieinanderbleiben, wenn die Ar-
beitgeber die Beschäftigten weiterqualifizieren, statt sie
in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, und wenn Kurz-
arbeit da, wo sie notwendig ist, auch durchgeführt wird,
aber die Menschen nicht auf die Straße gesetzt werden.
Das können wir arbeitsmarktpolitisch tun, um die Men-
schen auch in dieser schwierigen Zeit zu entlasten. Wir
setzen darauf, dass Weiterbildung betrieben wird und der
vorhandene gesetzliche Rahmen ausgeschöpft wird.

Wir haben in den guten Jahren der Regierung Merkel
Reserven angehäuft. Das gilt für die Rentenkassen und
die Arbeitslosenversicherung. Wir haben auch immer
wieder darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosenversi-
cherung keine Sparkasse ist. Deswegen nutzen wir jetzt
die Reserven, um in dieser schwierigen konjunkturellen
Phase gegenzusteuern. Aber auch hier gilt: Jeder Euro
kann nur einmal ausgegeben werden. Es ist nicht der
richtige Zeitpunkt, um weitere kostenträchtige Pro-
gramme draufzusetzen. Wir sollten nicht das, was wir
selbst gemacht haben, schlechtreden, sondern es erst ein-
mal wirken lassen. Es ist ein gutes Angebot, um die
Menschen in Arbeit und Beschäftigung zu halten. Da-
rum geht es in dieser Zeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir setzen auf einen Kurs, der wirtschaftliche Ver-
nunft und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet.
Was die soziale Gerechtigkeit angeht, müssten Sie noch
ein bisschen üben, Herr Kollege Niebel. Wenn Sie aber
kräftig üben, dann können wir das gemeinsam hinkrie-
gen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es gibt Dinge, die lernt der Kollege Niebel nie!)


Dies ist nicht die Zeit, um die Rezepte von anno To-
bak wieder vorzulegen. Es geht vielmehr darum, mit ei-
ner Politik der sozialen Marktwirtschaft und der sozialen
Gerechtigkeit Kurs zu halten.


(Dirk Niebel [FDP]: So werden Sie nie Staatssekretär bei Herrn Röttgen!)


Diese Politik werden wir auch in diesen schwierigen
Zeiten weiterverfolgen. Gute Arbeit und gutes Leben
müssen erwirtschaftet werden. Sie sind am besten unter
den Rahmenbedingungen möglich, für die nicht Sie und
alle anderen stehen, sondern die die CDU/CSU bietet.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1621702500

Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1621702600

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Man kann und muss den Linken
normalerweise einiges vorwerfen, aber einen Vorwurf
darf man ihnen heute nicht machen, nämlich dass sie die
vorliegenden Anträge allein wegen der bevorstehenden
14 Wahlen eingebracht haben. Diesen Unsinn beantra-
gen die Linken in diesem Hause schon seit mindestens
drei Jahren regelmäßig, bloß nicht so komprimiert wie
heute.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Heute beschäftigen wir uns mit Anträgen der Linken,
die nicht neu sind, sich aber in der Populismusquote gra-
duell von den bisherigen Anträgen unterscheiden. Allein
im Bereich des Arbeitsmarktes wird eine bemerkens-
werte Liste von Forderungen erhoben: die Einführung






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
der paritätischen Mitbestimmung in allen Unternehmen
ab 500 Beschäftigten, gleichzeitig die Zwangsbeteiligung
der Beschäftigten an Unternehmen, ein mit 100 Milliar-
den Euro ausgestatteter Zukunftsfonds, 1 Million zusätzli-
che Beschäftigungsverhältnisse in sozialen Diensten,
500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze, die Verlän-
gerung des Arbeitslosengelds I, die Erhöhung des
Arbeitslosengelds II, die Einführung des Mindestlohns,
die Arbeitszeitverkürzung, die Aufstockung des Kurz-
arbeitergeldes, die Ausdehnung der Altersteilzeit und die
Millionärsabgabe. Was noch fehlt, ist der von Oskar
Lafontaine geforderte Spitzensteuersatz von 80 Prozent.

Das, was Sie hier fordern, könnte einen fast vermuten
lassen, dass Sie absolut keine Ahnung haben, was vor
20 Jahren in diesem Land mit der Staatswirtschaft pas-
siert ist. Das, was Sie hier fordern, führt mich zu der
Schlussfolgerung, dass Sie versuchen, uns glauben zu
machen, dass die DDR mit all dem, was dort in wirt-
schafts- und arbeitsmarktpolitischer Hinsicht schiefge-
gangen ist, eine reine Simulation des Westens gewesen
ist. Das ist der Grund, warum Sie und mancher bei der
SPD versuchen, dieses elendige Unrechtsregime auf
deutschem Boden nachträglich zu legitimieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie versuchen, den Menschen klarzumachen, dass al-
les geht. Ein „Wünsch dir was“-Schlaraffenland! Dabei
sind Sie auch noch unsozial. Sie fordern nur einen Min-
destlohn in Höhe von 8,71 Euro.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Nein! 10 Euro doch!)


Das geht gar nicht; denn wenn der Mindestlohn bei
10,50 Euro läge, dann hätte eine fünfköpfige Durch-
schnittsfamilie in Deutschland 1 829 Euro netto zur
Verfügung. Auch ohne eine Erhöhung des Arbeitslosen-
geldes II hat die gleiche Familie aber heute schon Trans-
ferleistungen in Höhe von 2 017 Euro zur Verfügung.
Warum fordern Sie dann nicht so viel Mindestlohn, dass
diejenigen, die arbeiten, wenigstens das bekommen, was
diejenigen, die nicht arbeiten, schon heute bekommen?
Ich finde, das ist in höchstem Maße unsozial.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Finanzieren sollen das die Reichen. Die Reichen sind
nach Ihrem Verständnis die Facharbeiter, die arbeiten ge-
hen und vielleicht mit Überstunden versuchen, sich und
ihrer Familie nebenher noch irgendetwas zu ermögli-
chen. Diese Bundesregierung greift nämlich – wir haben
Herrn Brauksiepe gehört, aber inhaltlich nicht wirklich
verstanden – der Mitte der Gesellschaft in die Tasche.
Diese Bundesregierung und Sie, die Kommunisten auf
der linken Seite dieses Hauses, vergessen diejenigen, die
den Laden in Deutschland überhaupt am Laufen halten.

Fordern Sie doch einmal ein Wachstumsprogramm
für Deutschland, ohne einen Steuer-Cent in die Hand zu
nehmen! Ein solches Wachstumsprogramm könnten Sie
dadurch gestalten, dass Sie Investitionshemmnisse be-
seitigen und dafür sorgen, dass Privatleute freiwillig
Geld für Dinge geben, die uns alle keinen Cent kosten.


(Lachen bei der LINKEN)

Zwei Beispiele. Diese Bundesregierung hat in ihrem
Koalitionsvertrag festgeschrieben, sie wolle ein bundes-
weites Flughafenkonzept erstellen. Allein im Bereich
des Ausbaus von Flughäfen, und zwar nicht nur der gro-
ßen, sondern auch der kleinen, gibt es einen Investitions-
stau mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro, nur
weil diese Bundesregierung das nicht umsetzt, was sie
im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, und sich nicht
traut, sich zu einigen. Das Gleiche gilt für den konven-
tionellen Kraftwerksbau. Dort gibt es einen Investitions-
stau mit einem Volumen von ungefähr 40 Milliarden
Euro, nur weil diese Bundesregierung nicht die politi-
sche Kraft und nicht den politischen Mut hat, dafür zu
sorgen, dass Investitionshemmnisse durch ein einheitli-
ches Energiekonzept – das müsste vereinbart werden –
abgebaut werden.


(Beifall bei der FDP)


Nehmen Sie als weiteres Beispiel die Infrastrukturmaß-
nahmen im Gesundheitssystem. Hier könnte enorm viel
privates Geld fließen, wenn man nicht mit dem Gesund-
heitsfonds Kassensozialismus betriebe, der zu dem führt,
was Sie, die Linken, auf Umwegen wieder einführen
wollen, nämlich die „DDR-isierung“ der Bundesrepu-
blik.


(Lachen bei der LINKEN)


Eines ist völlig klar: Im Jahre 20 nach dem Mauerfall
werden Sie nicht mehr die Chance bekommen, auf Bun-
desebene politischen Einfluss auszuüben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der LINKEN)


Wenn in über 80 Jahren in mehr als 70 Ländern der Welt
das Ergebnis des Feldversuches Sozialismus immer das
gleiche war, nämlich der Ruf der Menschen nach Frei-
heit und der Bankrott des Staates, dann liegt das nicht
daran, dass die Idee ein wenig falsch umgesetzt wurde,
sondern daran, dass Ihre Ideen falsch sind. Deswegen
werden Sie auch in diesem Haus keine Mehrheiten be-
kommen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621702700

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1621702800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Linken haben wieder drei Anträge vorgelegt
– hier kann ich dem Kollegen Niebel nur beipflichten –,
die letztendlich die Essenz dessen darstellen, was die
Linken in den letzten drei Jahren uns immer wieder vor-
gelegt haben. Es handelt sich um Anträge, die man unter
der Überschrift „Für eine gerechtere Arbeitswelt“ zu-
sammenfassen kann. Tatsächlich wird aber nach dem
Motto gehandelt: Schreiben wir noch einmal auf, was
uns in all den Jahren eingefallen ist. – Dabei lassen sich






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
auch Vorschläge finden, die falsch sind, Vorschläge, die
die Tarifautonomie aushebeln, sowie Vorschläge oder
Behauptungen, die schlicht Unsinn sind. Ich sage das so
deutlich; denn anders kann ich Ihre Vorschläge nicht ver-
stehen. Herr Dreibus, Sie haben gesagt, wir sollten die
Menschen vor den Vorschlägen der Bundesregierung
schützen. Ich sage Ihnen: Wir müssen die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in diesem Land vor Ihren An-
trägen schützen, weil sie weltfremd sind und die Tarif-
autonomie im Wesentlichen aushebeln.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die Linke stellt in einem ihrer Anträge fest, dass es in
den letzten Jahren zu einer gravierenden Erosion bei den
normalen Arbeitsverhältnissen gekommen sei und diese
durch atypische Beschäftigungsverhältnisse zulasten der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ersetzt worden
seien.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Millionenfach!)


– Ja, da haben Sie recht. Dazu komme ich noch. – Sie
zieht daraus den Schluss, dass es dadurch zu einer Desta-
bilisierung des Sozialversicherungssystems gekom-
men sei. 1998, vor ungefähr zehn Jahren, waren die ge-
samten Sozialversicherungssysteme dicht vor dem
Bankrott. Ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit: Erst die
rot-grüne Regierung hat durch die Wiederbelebung des
Arbeitsmarkts und durch die schnellere Vermittlung von
arbeitslosen Menschen auf dem Arbeitsmarkt dafür ge-
sorgt, dass sich auch die Sozialversicherungssysteme
stabilisieren konnten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Durch die Ökosteuer!)


Heute redet außer der Linken keiner mehr vom Bankrott
des Rentenversicherungssystems, heute sind die Rentner
froh, dass ihre Beiträge nicht in Rentenfonds – bei Leh-
man Brothers oder bei einer anderen Bank –, sondern in
einem sicheren System investiert worden sind. Mit fast
28 Millionen Menschen im Herbst 2008 ist der höchste
Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
gung seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht worden.
Dies hat sich zurzeit aufgrund der Wirtschaftskrise ver-
kehrt. Ich will Ihnen die Zahlen trotzdem in Erinnerung
rufen, weil man sie Ihnen nicht oft genug sagen kann,
weil Sie nur schwarzmalen und weil Sie Ihre Politik
letztendlich darauf begründen, Menschen in diesem
Staat zu verunsichern. Die Zahl der Erwerbstätigen lag
im Jahresdurchschnitt 2008 deutlich über 40 Millionen
und damit auf dem höchsten Stand seit der Wiederverei-
nigung. Es waren in der Mehrzahl nicht atypische Ver-
hältnisse. Auch ich habe die Presse in den letzten Tagen
verfolgt, in der zu lesen war, dass der Anteil der atypi-
schen Verhältnisse seit 1997 beträchtlich gestiegen ist,
und zwar von 17 auf 25 Prozent. Das ist richtig, und das
ist bedauerlich, aber es sind nicht 4,6 Millionen atypi-
sche Arbeitsverhältnisse, wie Sie es aufzählen, sondern
es waren tatsächlich 3,0 Millionen in 2007 und 3,1 Mil-
lionen in 2006.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: 3 Millionen zu viel!)

– Das sind immer noch 3 Millionen zu viel. Da stimme
ich mit Ihnen überein. Aber es sind 1,6 Millionen weni-
ger, als Sie formulieren. – Damit wird deutlich, dass Sie
mit getürkten Zahlen argumentieren


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Richtig!)


und dass Ihre Politik eine Politik der Verunsicherung,
wie ich es gerade schon dargestellt habe, ist. Sie wollen
mit dieser Verunsicherung Wählerstimmen gewinnen.
Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen in diesem
Land Ihnen nicht auf den Leim gehen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Richtig! Warum hört so ein guter Mann eigentlich auf?)


Auch die von Ihnen geforderte Genehmigung von
Lohnsenkungen ist für mich nicht nachvollziehbar. Sie
hebeln mit solchen Forderungen die Tarifautonomie
aus; denn ob es Lohnsenkungen oder Lohnerhöhungen
gibt, darüber entscheiden die Tarifvertragsparteien, nur
sie. Ich warne davor, dass der Staat in Tarifverhandlun-
gen eingreift. Es kann nicht angehen, dass wir das auto-
nome Recht der Tarifvertragsparteien immer wieder in
den Vordergrund stellen und sagen, daran wollten wir
nicht rütteln, aber hier wollen Sie – –


(Dirk Niebel [FDP]: Warum fordert Herr Scholz dann den Mindestlohn bei der Zeitarbeit?)


– Bei der Zeitarbeit geht es um Mindestlöhne und nicht
um die Tarifautonomie im Allgemeinen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist etwas ganz anderes! Da mischt sich der Staat nicht ein! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mindestlohn ist aber ein Eingriff in die Tarifautonomie!)


Die von Ihnen geforderten Verbesserungen im Kündi-
gungsschutz sind für mich als ehemaligen Betriebsrats-
vorsitzenden nicht nachvollziehbar. Möglicherweise
liegt das daran, dass Sie sich von einigen Gewerkschaf-
tern für die nächste Wahlperiode trennen. Sie hätten auf
deren gute Ratschläge und auf deren Information nicht
verzichten sollen; denn die Gewerkschafter aus den Be-
trieben hätten Ihnen erzählen können, dass bei Sozialplä-
nen das Alter und die Betriebszugehörigkeit eine ent-
scheidende Rolle spielen. Die hätten Ihnen erzählen
können, dass in vielen Tarifverträgen der Schutz von
über 55-Jährigen gewährleistet ist. Da frage ich mich:
Was wollen Sie damit erreichen? Sie versuchen, die
Menschen zu verunsichern, und das wird in Ihrem An-
trag – das habe ich gerade schon gesagt – durch die Ver-
fälschung von Zahlen ganz deutlich.

Sie müssen aus unserer Sicht einen anderen Ansatz,
einen ganzheitlichen Ansatz suchen. Bedingt durch den
demografischen Wandel werden wir in Zukunft die not-
wendige Wertschöpfung zunehmend mit älteren
Beschäftigten erbringen müssen. Ihr Wissen und ihr
Können sind unverzichtbar. Dem müssen wir in Zukunft
Rechnung tragen. Wir brauchen alters- und alternsge-
rechte Arbeitsplätze. Wir wissen, dass lebenslanges Ler-
nen gefordert ist. Auch das ist in der Diskussion zum
vorherigen Tagesordnungspunkt schon dargestellt wor-






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
den. Wir sind der Auffassung, dass die Betriebe eine de-
mografiefeste Personalpolitik betreiben müssen, dass die
Gesundheitspolitik, insbesondere die Prävention, in den
Betrieben verstärkt werden muss und Formen von intel-
ligenter Arbeitsorganisation erforderlich sind. Das alles
muss so gestaltet werden, dass Jung und Alt gemeinsam
ihre Interessen in diesen Forderungen wiederfinden.

Eines will ich hier nicht außen vor lassen: Wir müssen
uns in den Betrieben auch um die Frauen kümmern.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen die Gleichberechtigung der Frauen bei der
Bezahlung und bei der Besetzung von Funktionen um-
setzen, insbesondere in den Aufsichtsräten und den Vor-
ständen. Angesichts der Reaktionen der Kolleginnen
kann ich nur sagen: Frau Kollegin Pothmer,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, hier bin ich!)


Ihnen scheint es nicht angenehm zu sein, wenn ein
Mann, der Erfahrung im Betrieb gesammelt hat, über
dieses Thema spricht.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, Herr Grotthaus! Ich habe gerade gesagt, Sie sind eine von uns!)


Ich habe erlebt, wie Frauen im Betrieb niedergemacht
werden, weil sie in dem Alter waren, Kinder zu bekom-
men, und wie mit gewerkschaftlicher und betriebsrät-
licher Unterstützung dafür gesorgt wurde, dass Frauen
genauso behandelt werden, wie die Männer behandelt
worden sind.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie uns darüber nicht unterschiedlich diskutieren,
sondern lassen Sie uns – Sie als Frauen und wir als Män-
ner – den Schulterschluss finden, um die gemeinsamen
Interessen durchzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Fazit dessen, was ich gesagt habe, ist: Nicht die Dis-
kussion – auch Sie haben das gesagt – über die Rente mit
67 ist vorrangig. Vorrangig stellt sich vielmehr die
Frage: Wie kann ich eine zusätzliche Humanisierung
von Arbeitsplätzen in der Form erreichen, dass die Men-
schen nach dem Eintritt in die gesetzliche Altersrente ih-
ren Lebensabend gesund verbringen können? Darum
geht es, nicht um die Diskussion, ob man ein oder zwei
Jahre länger oder kürzer arbeitet.

Ein letzter Punkt. Beim Thema Mindestlohn liegen
wir auf einer Linie. Ich sage Ihnen: Der Branchen-
mindestlohn ist ein Einstieg. Wir wollen einen flächen-
deckenden Mindestlohn. Dies ist mit unserem Koali-
tionspartner nicht möglich. Ich habe dem Kollegen
Brauksiepe mit großem Interesse zugehört. Ich freue
mich auf die Wahlkampfauseinandersetzung.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ich mich auch!)

Wir haben dazu in unserem Wahlprogramm einiges for-
muliert, Herr Kollege Brauksiepe.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das glaubt euch doch keiner!)


Das sollten Sie sich schon einmal zu Herzen nehmen,
um Argumente zu sammeln. Wir warten gespannt auf Ihr
Wahlprogramm, um zu sehen, wie Sie zu denen stehen,
die nicht von ihrer Arbeit leben können. Es wird sehr in-
teressant sein, ob Sie weiterhin eine staatliche Unterstüt-
zung auf Kosten der Steuerzahler vorschlagen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621702900

Kollege Grotthaus, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.


Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1621703000

Ich komme zum Schluss. – Wir werden auch nicht

dem Verlangen der Linken folgen, die mal einen Min-
destlohn von 8,44 Euro, mal einen von 8,71 Euro und
mal einen von 10 Euro nach dem Motto „Wünsch dir
was“ fordern. Wir haben hier unsere klaren Vorstellun-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: 7,50 macht ihr eigentlich noch in 20 Jahren!)


Ich sage Ihnen: So, wie Sie es hier machen, kann man
Politik nicht gestalten. Deswegen werden wir Ihre An-
träge ablehnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621703100

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621703200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die In-

stitute haben gerade einen Konjunktureinbruch von
6 Prozent und für das kommende Jahr eine Arbeitslosig-
keit von bis zu 5 Millionen Menschen prognostiziert.
Trotzdem stellt sich der Bundesarbeitsminister noch vor
wenigen Monaten hier hin und stellt Vollbeschäftigung
in Aussicht und wiederholt das genau an dem Tag, an
dem diese Prognosen auf den Tisch gelegt werden. Das
hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Das ist Wol-
kenkuckucksheim.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Ein Bundesarbeitsminister, der sich in
einer solchen Situation als Traumtänzer herausstellt, ist
für unser Land wirklich hochgefährlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind keine Traumtänzer. Wir sagen ganz klar: Eine
Krise in dieser Dimension kann allein mit arbeitsmarkt-
politischen Instrumenten nicht ernsthaft abgefedert wer-
den. Da muss tatsächlich ein anderes Rad gedreht
werden. Wir brauchen ein ganz groß angelegtes ökologi-
sches und soziales Investitionsprogramm, mit dem






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
neue und zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen wer-
den. Alle Institute zeigen uns: Es ist möglich, in den
nächsten Jahren 1 Million Arbeitsplätze zu schaffen,
wenn wir vernünftig in Bildung und Forschung sowie
Ressourceneffizienz investieren,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


wenn wir die erneuerbaren Energien vorantreiben und
wenn wir umweltfreundliche Technologien fördern. All
das ist möglich. Aber Voraussetzung dafür ist, dass die
Weichen richtig gestellt werden, und diese Regierung
stellt die Weichen eben nicht richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt!)


Sie tun so – Herr Brauksiepe hat uns das heute hier in
aller Breite vorgetragen –, als handelte es sich um eine
schlichte konjunkturelle Delle, die man irgendwie unter-
tunneln müsste. Herr Brauksiepe, dementsprechend se-
hen Ihre Konjunkturprogramme aus. Diese Ansicht ist
aber falsch. Wir haben es mit einer strukturellen, mit ei-
ner systemischen Krise zu tun. Es geht um etwas sehr
Grundlegendes: Es geht um die Frage, wie wir arbeiten
und wie wir wirtschaften. Es geht um die Frage, wie wir
Ungleichheiten austarieren und wie wir Gerechtigkeiten
herstellen. Weniger als 5 Euro die Stunde für 2 Millio-
nen Menschen in diesem Land – verdammt noch mal,
was hat das mit Gerechtigkeit, was hat das mit Austarie-
ren zu tun?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Konjunkturprogramme – sie umfassen 80 Milliar-
den Euro! – sind kurzatmig und sind mit keinem ernst-
haften Gestaltungsanspruch verbunden. In erster Linie
sind sie eines: teuer. Durch sie wird die Neuverschul-
dung in atemberaubende Höhe getrieben.

Die Rechnung zahlen die nachfolgenden Generatio-
nen. Nicht umsonst steht im Grundgesetz, dass die Auf-
nahme von Schulden an die öffentlichen Investitionen
gebunden werden muss, mit denen ein Mehrwert für die
Zeit geschaffen wird, in der die Schulden abgetragen
werden müssen. Können Sie mir einmal erklären, wel-
cher Mehrwert für die nachfolgenden Generationen zum
Beispiel durch die Abwrackprämie geschaffen wird?
Mit dieser Abwrackprämie lösen Sie nicht ein einziges
Problem. Sie verschieben dieses Problem maximal für
ein Jahr; aber dann kommt es in einer größeren Dimen-
sion wieder auf uns alle zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist doch klar wie Kloßbrühe:


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da lacht ja die Koralle!)


Die Leute, die sich jetzt ein Auto gekauft haben, werden
als Kunden in den Autohäusern bis auf Weiteres ausfal-
len. Klar ist auch, dass diejenigen, die ihr Erspartes für
ein neues Auto ausgeben, keine Waschmaschine, keine
Möbel und weniger neue Kleidung kaufen.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])

Mit anderen Worten: Mit der Subventionierung der Au-
tomobilindustrie bringen Sie andere Branchen in
Schwierigkeiten und treiben da die Arbeitslosigkeit in
die Höhe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP] – Rolf Stöckel [SPD]: Das sehen die Betriebsräte aber anders!)


Wenn schon Schulden in dieser Dimension gemacht
werden, um die Abwärtsspirale zu stoppen – das stellen
wir grundsätzlich gar nicht infrage –, dann müssten wir
jetzt aus der Not eine Tugend machen und die Weichen
für die Zukunft stellen. Kredite zur Erhaltung des Status
quo sind wirklich herausgeworfenes Geld. Das ist unver-
antwortlich mit Blick auf die nachfolgenden Generatio-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aus der Not eine Tugend machen müssen wir auch in
der Arbeitsmarktpolitik. Wir haben das Konzept des
Kurzarbeitergeldes immer unterstützt. Das ist in dieser
Situation richtig. Wir werden das auch weiter unterstüt-
zen; das sage ich hier ganz klar. Das Kurzarbeitergeld
hat aber eine begrenzte Wirkung. Es leistet keinen Bei-
trag, die strukturellen Defizite, die wir seit Jahren auf
dem Arbeitsmarkt haben, zu beheben. Einen solchen
Beitrag zu leisten, bedeutet in allererster Linie, Qualifi-
zierungsdefizite zu beheben. Sonst wird der Fachkräfte-
mangel, über den heute Morgen schon so viel geredet
worden ist, die Wachstumsbremse bei einer hoffentlich
wieder ansteigenden Konjunktur. Das bedeutet vor al-
lem, dass wir allen Jugendlichen eine qualifizierte Aus-
bildung geben müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir haben immer noch fast 300 000 Altbewerber. Die
Industrie- und Handelskammern gehen von einem Rück-
gang der Anzahl der Ausbildungsplätze in diesem Jahr
von bis zu 10 Prozent aus. Diese Zahl ist heute Morgen
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Das
heißt doch nichts anderes, als dass diese strukturelle
Krise wiederum dazu führen wird, dass weniger Ausbil-
dungsplätze zur Verfügung stehen. Ich sage hier ganz
deutlich: Das duale System ist gut; das duale System
leistet eine qualitativ hochwertige Ausbildung.

Das Problem ist aber, dass es das nicht für alle tut,
und das im Übrigen schon seit Jahren nicht. Unser Aus-
bildungssystem ist von konjunkturellen Schwankungen
abhängig. Es ist aber falsch, eine solche Frage wie die
Ausbildung, die wichtig für das Individuum, aber auch
wichtig für die gesamte Gesellschaft ist, von strukturel-
len Schwankungen abhängig zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Jugendlichen, die in der jetzigen Krise nicht ausge-
bildet werden, werden wir brauchen, wenn die Krise vor-
bei ist. Diese Fachkräfte werden wir dann aber nicht ha-
ben.

Wir wollen erstens dafür sorgen, dass alle Jugendli-
chen eine Ausbildung bekommen. Deswegen haben wir
das Konzept „DualPlus“ entwickelt. Wir wollen das duale






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
System nicht ersetzen, sondern wir wollen das duale Sys-
tem unabhängig von Schwankungen machen. Wir brau-
chen etwas neben dem dualen System, und deshalb bitte
ich Sie, unserem Vorschlag zuzustimmen. Wir brauchen
hier wirklich eine ganz grundlegende Änderung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens müssen wir in dieser Situation die Chance
ergreifen, die heute Morgen schon beklagte exorbitant
niedrige Akademikerquote in Deutschland anzuheben.
Es ist doch klar, dass wir allen Abiturienten, die ein Stu-
dium beginnen wollen, einen Studienplatz zur Verfü-
gung stellen. Aber wir müssen auch denjenigen, die jetzt
in der Krise bereit sind, ihren Arbeitsplatz zeitlich be-
fristet zu verlassen, um ein Studium zu beginnen, die
Chance dazu geben, sodass die Betriebe diesen Arbeits-
platz einem Arbeitslosen zur Verfügung stellen können.
Das ist doch die Chance, jetzt die Akademikerquote in
Deutschland anzuheben. Die Schweden haben das in der
Krise mit großem Erfolg getan.

Drittens müssen wir die Geringqualifizierten endlich
für mehr Weiterbildung gewinnen.

Viertens – da haben die Linken nicht ganz unrecht –
brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt, der wirklich
funktioniert.

Ich sage es jetzt noch einmal an die Adresse der Re-
gierungskoalition: Ihre Murksprogramme wie „Kommu-
nal-Kombi“ und „JobPerspektive“ funktionieren einfach
nicht.


(Rolf Stöckel [SPD]: Das sehen die Leute vor Ort aber anders! Die wollen mehr Geld dafür!)


– Nein. Sie haben 100 000 pro Programm avisiert. Die
Zahlen sind wirklich jämmerlich.


(Rolf Stöckel [SPD]: Aber es funktioniert doch!)


Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie Ihre Bock-
beinigkeit auf, und stimmen Sie unserem Vorschlag zu,
mit dem wir 400 000 Menschen, die auf dem Arbeits-
markt strukturell benachteiligt sind, eine Perspektive ge-
ben könnten.

Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes sagen:
Wir werden trotz Kurzarbeitergeld auf eine Massen-
arbeitslosigkeit zusteuern, und auch dafür brauchen wir
Konzepte. Wir brauchen ein Angebot für diejenigen, die
in die Arbeitslosigkeit kommen werden. Auch dafür ha-
ben wir Ihnen ein Modell vorgeschlagen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621703300

Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621703400

Ich kann Ihnen dieses Modell jetzt nicht mehr in

Gänze vorstellen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr traurig, Frau Pothmer!)


– Das ist wirklich traurig.

(Werner Dreibus [DIE LINKE]: In der nächsten Legislaturperiode!)


Es geht bei unserem Vorschlag um eine Transfergesell-
schaft einer ganz neuen Qualität. Ich verspreche Ihnen,
dass wir dazu noch einmal eine Debatte führen werden.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Keine Drohungen, Frau Pothmer!)


Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621703500

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1621703600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Zugegeben, Herr Dreibus: Die Titel
Ihrer Anträge, sehr geehrte Kollegen von der Links-
partei, klingen irgendwie immer gut: „500 000 Arbeits-
plätze“, „Initiative für ein sozial gerechtes Anti-
krisenprogramm“ – zwar nicht mehr ganz frisch, aber
immerhin frisch aufgewärmt –,


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Immer aktuell!)


„Gute Arbeit – Gutes Leben“. – Kurz: Der Inhalt hält
nicht, was die Titel versprechen.

Nähmen Sie es in Ihrer Partei mit dem guten Leben
ernst, dann würden Sie nicht, wie in Sachsen kürzlich
passiert, den Antrag einer Hartz-IV-Empfängerin in den
Reihen Ihrer Partei auf kostenfreie Beteiligung an einem
Stadtparteitag in Dresden ablehnen. So geht es nicht:
Hier Anträge stellen, aber in den eigenen Reihen ganz
anders handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es nützt nichts, Wasser zu predigen und selber Wein zu
trinken bzw. mit den eigenen Mitgliedern anders umzu-
gehen, als Sie es mit der gesamten deutschen Bevölke-
rung vorhaben. Fangen Sie in Ihrer Partei an! Fangen Sie
da an, wo Sie Verantwortung tragen, dann kann man Ih-
nen vielleicht das eine oder andere in Zukunft glauben.

Ich kann gut nachvollziehen, sehr geehrte Kollegen
von der Linken, dass Sie vor dem Hintergrund der ge-
genwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ein eigenes
Antikrisenprogramm vorlegen wollen; Sie versprechen
sich davon ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Wie es
ausschaut, leuchtet Ihr Rot im Schatten der Krise längst
nicht so kräftig, wie Sie sich das zu Beginn der Krise
vielleicht vorgestellt haben.


(Zuruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


– Schwarz leuchtet auch nicht so stark, aber man erkennt
es zumindest immer und an jeder Stelle.


(Dirk Niebel [FDP]: Nicht, wenn es dunkel ist!)







(A) (C)



(B) (D)


Paul Lehrieder
Schlagzeilen wie „Linkspartei kann von Krise nicht
profitieren“ und „Linke auf dem Tiefststand in der Wäh-
lergunst“ – das bezieht sich auf die Forsa-Umfrage vom
1. April – sprechen für sich. Die Leute sind nicht so
dumm, Ihnen in diesen Zeiten hinterherzulaufen. Ihre
Partei dümpelt bei etwa 10 Prozent, dem tiefsten Stand
seit März 2007.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das ist immer noch mehr, als die CSU bundesweit hat!)


Ihre beiden Vortänzer Gregor Gysi und Oskar Lafontaine
bekommen laut jüngstem ZDF-Politbarometer bei der
Wertung deutscher Spitzenpolitiker Kopfnoten im Mi-
nusbereich.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Kommen Sie jetzt eigentlich ins Europaparlament?)


Ihre neuen bzw. aus der Mottenkiste geholten Ent-
würfe sind reine Mogelpackungen und werden das Blatt
auch nicht wenden. Wer hat schon Lust auf Überlebens-
training im sozialistischen Ideenpark und ein sozial
ungerechtes Antikrisenprogramm? 75 Prozent der Deut-
schen finden es laut ZDF-Politbarometer nicht gut, wenn
Sie, liebe Kollegen von der Linken, mehr Einfluss auf
die Politik im Bund bekommen würden. Das sehe ich
– und mit mir die große Mehrheit in diesem Hause – ge-
nauso.

Wenn wahr wird, was Sie wollen, sind Berufstätige
und Arbeitslose von guter Arbeit in einer gerechten Welt
so weit entfernt, wie Sie, liebe Kollegen von der Linken,
es jetzt schon von der Regierungsfähigkeit sind. Sie zei-
gen uns mit Ihren Vorlagen, wie man eine Krise ver-
schärft, anstatt sie zu bekämpfen, und zum Beispiel
wirkungsvoll verhindert, dass sich ausländische Unter-
nehmen in Deutschland ansiedeln möchten.

In Ihrem Antrag „Sicherheit und Zukunft“ geben Sie
vor, Belegschaften stärken zu wollen, tatsächlich aber
wollen Sie das freie Unternehmertum an die kurze
Leine legen. Sie wollen zwingend die Zustimmung des
Aufsichtsrats aus Anteilseignern und Beschäftigten zu
wesentlichen Entscheidungen der Unternehmensführung
wie Unternehmensübernahmen, Aktienkauf oder Schlie-
ßungen. Bei Staatshilfen wollen Sie den Belegschaften
Eigentumsrechte an ihren Unternehmen zugestehen.

Genauso ist es bei Ihrem sogenannten Zukunftsfonds.
Unternehmen werden erst dann mit Krediten unterstützt,
wenn sie Bedingungen zur Beschäftigungssicherung ak-
zeptieren.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das wäre doch ganz sinnvoll, oder?)


Beteiligungen sollen in Form von Belegschaftsbeteili-
gungen mit Einfluss auf die Geschäftspolitik erfolgen.
Damit wäre es für Unternehmer nur schwer möglich,
sich in Krisenzeiten zu behaupten. Die größeren Unter-
nehmen im Inland werden sich unter solchen Bedingun-
gen genau überlegen, ob sie es riskieren sollen, in Kri-
senzeiten ihre unternehmerische Entscheidungsfreiheit
zu verlieren. Sie werden darüber nachdenken, ob es sich
überhaupt noch lohnt, bei uns zu investieren, oder ob sie
vielleicht doch gleich ins benachbarte Ausland wechseln
sollten – ganz zu schweigen vom Engagement ausländi-
scher Investoren bei uns.

Das alles erinnert sehr an die Überführung privater
Unternehmen in Volkseigentum, wie es in der DDR
praktiziert wurde. 20 Jahre nach der Maueröffnung soll-
ten wir derartige Vorstellungen oder Wirtschaftsprinzi-
pien ein Stück weit überwunden haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])


– Ich gebe Ihnen Zeit, ausreichend zu applaudieren,
meine Kolleginnen und Kollegen.


(Dirk Niebel [FDP]: Es klatscht kein Sozialdemokrat!)


– Das kommt schon noch von den Kollegen.


(Dirk Niebel [FDP]: Kein Sozialdemokrat hat geklatscht! Die nähern sich alle den Kommunisten an!)


Das Schlimmste ist – Kollege Ernst, gerade Ihnen
müsste das wehtun –: Das schwächt die Tarifparteien. In
deren Kraft und damit auch in die Kraft der Gewerk-
schaften scheint die Linkspartei offensichtlich wenig
Vertrauen zu haben. Die Tarifautonomie würde auch be-
schädigt, wenn Sie Ihre Vorstellungen zum staatlich fest-
gesetzten Mindestlohn durchsetzen sollten.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Deswegen forden die Gewerkschaften den auch!)


Überhaupt, der Mindestlohn: Wie oft – einige Vor-
redner, darunter Kollege Niebel, haben das bereits er-
wähnt – haben wir hier im Deutschen Bundestag schon
darüber debattiert? Dennoch betone ich noch einmal:
Eine gesetzliche Lohnuntergrenze in der von Ihnen ge-
forderten Höhe hat das Potenzial, weite Teile unseres
Arbeitsmarktes von unten stillzulegen und die Tarifauto-
nomie auszuhebeln. Der Staat kann und darf aber nicht
Ersatz für die Tarifvertragsparteien sein.

Wohin die Reise geht, wenn die Festsetzung des Min-
destlohns in Ihre Hände fallen sollte, kann man an den
parlamentarischen Initiativen der Linken gut ablesen.
Noch 2006 wollten Sie in Ihrem Antrag „Mindestlohn-
regelung einführen“ einen gesetzlichen Mindestlohn von
7,50 Euro pro Stunde. Im Antrag „Gute Arbeit – Gutes
Leben“ von 2007 waren es dann schon 8,44 Euro. In Ih-
rem Antikrisenprogramm sprechen Sie, liebe Kollegen
von der Linkspartei, von einem Mindestlohn von
8,71 Euro,


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Wie in Frankreich!)


„wie in Frankreich“ – danke, Herr Dreibus; Sie kennen
meinen Text –, wo übrigens auch deshalb viele Arbeits-
plätze im Niedriglohnsektor vernichtet wurden. Das ist
ein Zickzackkurs, den sogar der Kollege Grotthaus ein
Stück weit nicht mitzugehen bereit ist, und das will was
heißen.

Ihr Antikrisenprogramm ist überhaupt eine teure
Angelegenheit. Da sollen ein Zukunftsfonds von
100 Milliarden Euro geschaffen und soziale Dienstleis-






(A) (C)



(B) (D)


Paul Lehrieder
tungen wie Kinderbetreuung und Altenpflege deutlich
ausgeweitet werden. Es sollen 1 Million zusätzliche ta-
riflich entlohnte unbefristete Beschäftigungsverhält-
nisse sowie 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze
bei einem Bruttogehalt von 1 400 Euro und einer Be-
standsgarantie von drei bis fünf Jahren geschaffen wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das sind bescheidene Forderungen im Vergleich zu dem, was Sie den Banken hinterherwerfen!)


Außerdem wollen Sie den Bezug von Arbeitslosengeld I
verlängern sowie das Arbeitslosengeld II auf 435 Euro
und den Kinderregelsatz auf 276 Euro anheben.

Womit wollen Sie das bitte schön bezahlen? Mit einer
Millionärsabgabe von 5 Prozent auf Vermögen, die
1 Million Euro übersteigen? Damit wären die aufgeliste-
ten Vorhaben nicht einmal annähernd zu finanzieren.
Tatsächlich haben sich die Kollegen von der Linken über
eine echte Gegenfinanzierung ihrer Vorschläge über-
haupt keine Gedanken gemacht und ihre Vorschläge
noch nicht einmal ansatzweise durchgerechnet.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Erzählen Sie mal, wie Sie den Rettungsschirm der Banken finanzieren!)


Es ist keine Rede davon, dass gerade jetzt Haushaltsdis-
ziplin notwendig ist. Warum auch! Wir haben es hier mit
reinen Schaufensteranträgen zu tun.

Wenn Sie nur einen Teil des von Ihnen hier wieder
vorgetragenen Staatsradikalismus und dessen verwirk-
licht hätten, was in den letzten Jahren noch zusätzlich
vorgelegt worden ist, dann wäre Deutschland heute
längst bankrott. So aber hat die Große Koalition in den
letzten Jahren die Weichen so gestellt, dass wir die ge-
genwärtige Krise einigermaßen gut überwinden können.
Natürlich ist nicht alles perfekt oder sofort so angelau-
fen, wie wir es uns wünschen würden. Die beschlosse-
nen Maßnahmen müssen aber erst einmal Wirkung ent-
falten, bevor man neue Maßnahmen beschließt. Gute
Antikrisenpolitik ist Hilfe zur Selbsthilfe und nur im äu-
ßersten Notfall staatliche Intervention.

Liebe Kollegen von der Linken, Sie sehen das anders-
herum. Bei Ihnen richtet der Staat alles. Er nimmt den
Reichen und gibt den Armen. Wir leben aber nicht mit
Robin Hood im Sherwood Forest, sondern im Deutsch-
land des Jahres 2009. Dort wollen Sie anscheinend aber
gar nicht regieren. Ihr Präsidentschaftskandidat Sodann
glaubt fest daran, dass das Experiment, das wir mit der
DDR erlebt haben, irgendwann noch einmal von vorne
losgeht. Man muss sich das einmal vorstellen.

Wir haben Ihre Anträge gelesen und sagen Ihnen
schon jetzt: Das wird nach hinten losgehen. Ein einziges
Experiment war da schon zu viel. Trial-and-Error-Sozia-
lismus kann keine Lösung sein – und wird zum Glück
keine Lösung sein.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621703700

Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heinz-Peter Haustein (FDP):
Rede ID: ID1621703800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Die drei Figuren Urmel aus dem
Eis, Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, gehö-
ren alle in die Augsburger Puppenkiste. Diese drei An-
träge der Linken gehören geschreddert in eine marxis-
tisch-leninistische Mottenkiste.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)


Sie nehmen die Finanz- und Wirtschaftskrise zum
Anlass, um mit populistischem Gefasel Stimmung zu
machen. Ein Satz sei zitiert. Sie schreiben:

Die Regierung verschiebt Milliarden Euro an Steu-
ergeldern an marode Banken … Für den großen
Teil der Menschen tut sie nichts.

Das haut dem Fass den Boden aus. Das Ganze war ein
geordnetes parlamentarisches Verfahren. Trotzdem be-
haupten Sie, hier werde von der Regierung Geld ver-
schoben. Das ist wirklich blanker Populismus,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])


was mich wiederum auch nicht wundert; denn im Partei-
programm der Linken sind nach wie vor wesentliche
Elemente des Kommunistischen Manifestes enthalten,
das zu Stacheldraht, zur Mauer, zu Unrechtsprozessen
und letztendlich zum Staatsbankrott geführt hat, liebe
Freunde. So etwas nehmen Sie als Vorbild.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie wissen ganz genau, dass das Bankenrettungspa-
ket notwendig war und nichts mit Arm und Reich zu tun
hat. Wir als FDP, als Patrioten für Deutschland haben
dem zugestimmt, damit die Spareinlagen sicher sind und
sicher bleiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Bankenrettungspaket hilft allen, auch Ihnen.

Sie erheben im Weiteren die Forderung nach einem
Sammelsurium von Maßnahmen, die bereits mehrfach
aufgezählt wurden: paritätische Mitbestimmung, Ver-
schärfung des Kündigungsschutzes usw. Das geht für
mich in Richtung volkseigener Betriebe. Diese hatten
wir schon einmal. 1972 hat die Vorgängerpartei SED in
einer Nacht-und-Nebel-Aktion 11 400 Betriebe prak-
tisch entschädigungslos enteignet. Danach ging es mit
der Wirtschaft komplett bergab. Aber genau das fordern
Sie letztendlich in Ihren Anträgen.


(Dirk Niebel [FDP]: Und jetzt bereitet eine CDU-geführte Regierung eine Enteignung vor!)







(A) (C)



(B) (D)


Heinz-Peter Haustein
Das funktioniert nicht. Das weiß man, wenn man diesen
Feldversuch erlebt hat.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte einen Satz aus Ihrem Antrag aufgreifen.
Sie schreiben:

Kleinen und mittelständischen Unternehmen wird
jede Unterstützung vorenthalten.

Das stimmt nicht ganz, aber teilweise schon;


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


denn die Konzerne werden vom Wirtschaftsminister un-
terstützt, wenn sie Probleme haben, aber beim kleinen
Bäckermeister um die Ecke kommt der Gerichtsvollzie-
her.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Leider wahr!)


Das, was von dieser Großen Koalition als Krisenma-
nagement oder Ausrichtung insgesamt geleistet wird, ist
nicht in Ordnung.


(Beifall bei der FDP)


Ich gehe auf einige Punkte ein, die wir umsetzen wer-
den, wenn wir in 147 Tagen gewählt und hier regieren
werden: Wir brauchen ein einfaches, gerechtes und nied-
riges Steuersystem mit Steuersätzen von 10, 25 und
35 Prozent,


(Beifall bei der FDP – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Mehr Ausgaben und weniger Einnahmen! Super!)


mit Freibeträgen, die bei Familien auch für die Kinder
gelten, und die Abschaffung der Steuerklasse V zur Ent-
lastung der Bürgerinnen und Bürger.

Des Weiteren brauchen wir eine richtige Unterneh-
mensteuerreform; die Unternehmensteuerreform im
vorigen Jahr wurde nur halbherzig durchgeführt. Wir
brauchen eine Rücknahme der Zinsschranke. Die Zins-
schranke ist Gift in dieser Wirtschaftskrise; sie muss
wieder abgeschafft werden.


(Beifall bei der FDP)


Pachten, Zinsen, Leasing- und Lizenzgebühren als
Grundlage der Gewerbesteuer heranzuziehen, ist aben-
teuerlich, falsch und kontraproduktiv.


(Beifall bei der FDP)


Wir dürfen auch nicht die Beschäftigten der Gastro-
nomie und der Hotellerie vergessen, die sich an Feierta-
gen hinstellen und die Gäste bedienen, die zu Weihnach-
ten Gänsebraten machen und dann noch dafür bestraft
werden, indem sie 19 Prozent Mehrwertsteuer abführen
müssen. Wir brauchen einen niedrigeren Mehrwertsteu-
ersatz für Gastronomie und Hotellerie.


(Beifall bei der FDP)


Der Widerspruch ist ja haarsträubend: Auf Hundefutter
wird 7 Prozent Mehrwertsteuer erhoben, aber in Gast-
stätten muss 19 Prozent Mehrwertsteuer bezahlt werden.
Das kann nicht sein. Gehen Sie diese Problematik an,
sonst machen wir es.


(Beifall bei der FDP – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Und wie finanziert die FDP dieses populistische Sammelsurium?)


Die Gewerbesteuer muss abgeschafft und durch ein
System der Kommunalfinanzierung ersetzt werden, das
den Kommunen Sicherheit bringt und sie von Einnahme-
schwankungen unabhängig macht.


(Beifall bei der FDP)


Ein weiterer Punkt: Die Tarifautonomie muss ge-
schützt werden. Sie ist ein staatliches Gut. Lohndiktate
gehören aufgelöst. Mit Mindestlöhnen erreichen Sie
nichts; sie sind verkehrt.


(Beifall bei der FDP)


Wir müssen die Mittelschicht und den Mittelstand
stärken; denn sie ziehen den Karren in diesem Land.
Dann wird es mit diesem Land auch wieder aufwärts ge-
hen. Wir haben die Chance. Ihre Anträge sind absolut
untauglich.

In diesem Sinne ein freiheitliches Glückauf aus dem
Erzgebirge.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621703900

Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist die grüne Jacke ein Koalitionsangebot?)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1621704000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Dreibus, haben Sie heute Abend schon
was vor?


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


Das ist kein unmoralisches Angebot, sondern eher ein
Vorschlag zur Weiterbildung.

Der Ullstein-Verlag bietet heute Abend auf einer Le-
sung einem Politiker eine Plattform, der Ihre Anträge an
visionärer Kraft noch überbietet. Er ist CDU-Abgeord-
neter im Bundestag und Hoffnungsträger seiner Partei.
Sein Name ist Dr. Udo Brömme. Von ihm stammt der
wundervolle Slogan, der fast schon eine religiöse Wahr-
heit beinhaltet: Zukunft ist gut für alle. Falls Sie Dr. Udo
Brömme nicht kennen: Vor einigen Jahren, als die
Harald-Schmidt-Show noch Deutschlands wichtigste
Fernsehsatire war, trieb er dort regelmäßig sein Unwesen
und verblüffte im Straßenwahlkampf manch echten
CDU-Politiker.


(Dirk Niebel [FDP]: Und wäre fast gewählt worden!)







(A) (C)



(B) (D)


Anette Kramme
Er hatte wie Sie viele Ideen. Doch kurz nach der Bun-
destagswahl verschwand er sang- und klanglos von der
Bildfläche, wie …, aber lassen wir das.


(Dirk Niebel [FDP]: Wir haben ja jetzt Frau Kramme! Das reicht doch!)


Natürlich fällt es nicht leicht, den Antrag der Linken
abzulehnen.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Was?)


Mehr Sonnenschein für alle – kann man dagegen sein?
Wir Sozialdemokraten sind nicht für schlechte Arbeits-
bedingungen. Niemand ist für schlechte Arbeitsbedin-
gungen. Das ist so absurd, dass ich es noch nicht einmal
Herrn Kolb zutrauen würde.

Auch wir Sozialdemokraten wollen eine Stärkung der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, aus der
Ansprüche auf Renten, für Phasen der Arbeitslosigkeit
usw. erwachsen. Wir haben dafür etwas getan. Allein
zwischen 2006 und 2007 sind zusätzlich 550 000 sozial-
versicherungspflichtige Jobs entstanden.


(Thomas Oppermann [SPD]: Richtig!)


Auch wir wollen einen allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohn, der Arbeitnehmer vor Ausbeutung schützt
und den Staat nicht zwingt, Menschen durch ergänzende
Sozialleistungen zu entwürdigen, weil deren Arbeitsein-
künfte nicht zum Leben ausreichen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist aber neu! – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Wann feiert ihr eigentlich 40 Jahre „7,50 Euro Mindestlohn“?)


Deshalb haben wir während der gesamten Legislaturpe-
riode für diese Thematik gekämpft. Wir haben jetzt ein
Arbeitnehmer-Entsendegesetz und ein Mindestarbeitsbe-
dingungsgesetz, das mindestens 1,2 Millionen Men-
schen zusätzlich schützen wird. Das Schöne ist: Das Ge-
setz ist heute verkündet worden und tritt morgen in
Kraft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch wir wollen die Arbeitsbedingungen für die
Zeitarbeit verbessern. Auch wir vertreten den Grund-
satz von Equal Pay. In der Koalition haben wir ausge-
handelt, dass eine verbindliche Lohnuntergrenze kom-
men soll.


(Zuruf von der LINKEN: Wann?)


Unser Arbeitsminister hat immerhin sechs Vorschläge
unterbreitet.


(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Dirk Niebel [FDP]: Warum denn so viele? Er ist ja richtig durchsetzungsstark! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einer würde reichen!)


Ich finde es sehr schade, dass sich die Union an diesbe-
zügliche Absprachen nicht hält. Ich erinnere mich an
manch unschöne Debatte über die Leiharbeit, in der ein-
fach und platt gesagt worden ist, die Tarifbindung in der
Leiharbeitsbranche sei doch sehr groß. Dabei wissen wir
alle, dass die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeits-
branche teilweise katastrophal sind: Es gibt Arbeitneh-
mer in Forchheim mit einem Stundenlohn von 3 Euro.
Haustarifverträge, nach denen um 4,50 Euro pro Stunde
gezahlt werden, wurden zwar gekündigt, aber sie wirken
nach, weil auf sie Bezug genommen werden darf. Des-
wegen brauchen wir eine Lohnuntergrenze.

Auch wir wollen einen besseren Schutz für Prakti-
kanten. Es kann nicht sein, dass Menschen in sinnlose
Warteschleifen geschickt und finanziell ausgebeutet
werden.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Dann sagen Sie einmal, was zum Beispiel der Bundesarbeitsminister seinen Praktikanten zahlt! Super!)


Auch wir halten eine Streichung der sachgrundlosen
Befristung für sinnvoll. Wir haben das sogar in den Ko-
alitionsvertrag geschrieben. Auch davon hat die Union
leider Abstand genommen. Es ist durchaus überlegens-
wert, einen befristet Beschäftigten zu übernehmen, so-
bald eine entsprechende unbefristete Stelle vorhanden
ist. Wir haben Regelungen, die etwas Ähnliches schaffen
– allerdings etwas weniger –, in das Betriebsverfas-
sungsgesetz aufgenommen.

Einige Punkte der Anträge der Linken sind schön. Sie
denken ähnlich wie wir. In diesen Anträgen ist aber auch
jede Menge Phrasendrescherei und Talkshowsozialismus
enthalten. Das Ganze hat nicht einmal die notwendige
Qualität, um in die gute Sagen- und Märchenwelt, die es
in Deutschland gibt, aufgenommen zu werden. Selbst
dafür ist das Ganze zu platt, zu dumm und an manchen
Stellen zu dreist gemacht.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein Rhythmusspiel, oder?)


Ich will ein einziges Beispiel nennen.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber bitte nur eines!)


Ist es wirklich sinnvoll, jegliche betriebsbedingte Kün-
digung auch in Kleinbetrieben auszuschließen? Das
würde bedeuten, dass sich ein Betrieb dieser Arbeitneh-
mer erst im Falle einer Betriebsschließung entledigen
kann. Ich sage: Das ist Unsinn. Arbeitnehmerschutz ist
gut und wichtig. Arbeitsplätze zu haben, ist aber auch es-
senziell.


(Beifall bei der SPD)


Dieser Tage verstehe ich vor allen Dingen eines nicht:
Sie setzen sich stark mit Arbeitsbedingungen auseinan-
der – das ist wichtig; das sehen wir nicht anders –, aber
einen entscheidenden Punkt berücksichtigen Sie über-
haupt nicht. Wir müssen in dieser Phase um jeden einzel-
nen Arbeitsplatz in Deutschland kämpfen.


(Dirk Niebel [FDP]: Die SPD sowieso! – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ich sehe Sie schon richtig ringen!)


Dabei geht es um ergänzende Maßnahmen. Wir wissen
aus den Erfahrungen, die wir in den fünf neuen Bundes-
ländern gesammelt haben, dass wahrscheinlich jeder in-
dustrielle Arbeitsplatz, der in Deutschland einmal abge-






(A) (C)



(B) (D)


Anette Kramme
baut worden ist, nicht wieder entstehen wird. Deshalb
finde ich das, was unser Arbeitsminister gemacht hat,
mutig, weil es sehr viel Geld kosten wird, aber auch vom
Ansatz her klug: die Ausdehnung des Bezugs von Kurz-
arbeitergeld.

Kurzarbeit war immer ein sehr teures Instrumenta-
rium. Wir haben die Kurzarbeit für Arbeitgeber viel bil-
liger gemacht. Aber es ist nicht nur ein Instrumentarium,
das es Arbeitgebern ermöglicht, diese Krise zu überbrü-
cken. Es ist vor allen Dingen ein Instrumentarium für
Arbeitnehmer im Sinne momentaner Sicherheit, aber
auch im Sinne des dauerhaften Erhalts von Arbeitsplät-
zen in der Industrie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will auch etwas zur Abwrackprämie sagen. Ich
komme aus einer Region, die von der Automobilindus-
trie geprägt ist. Allein in der Region Hof – das hat mir
der Landrat gesagt – gibt es 200 Betriebe der Automobil-
industrie. Im Gebiet Kronach und Coburg befinden sich
große Automobilzulieferer, allein drei Betriebe von
Valeo und ein riesiger Betrieb von Brose. Die Industrie
in Bamberg besteht fast nur aus Automobilzulieferung:
Brose, Michelin, Bosch, Schaeffler und FTE. Wie ge-
sagt: Die Abwrackprämie hat eine Menge Entlastung in
meiner Region geschaffen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nächstes Jahr? Was ist nächstes Jahr?)


Deshalb, denke ich, haben wir hier mehr als sinnvoll
agiert. Dass ein gewisses Kaufvolumen abgeschöpft ist,
ist klar.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist reiner Wahlkampf!)


Aber dieses Kaufvolumen der Zukunft vorzuziehen, hat
seine Gründe. Wenn die Krise vorbei ist, gibt es auch für
andere Marktpotenziale wieder Chancen. Deshalb ist
dies jetzt die einzige Chance für den Bereich der Auto-
mobilzulieferer.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Ich glaube, nach der Rede muss noch jemand von der SPD sprechen!)


„Arbeit ist schwer, ist oft genug ein freudloses und
mühseliges Stochern, aber Nichtarbeiten ist die Hölle.“
Was Thomas Mann vor 100 Jahren sagte, gilt noch
heute.

Arbeit ist die Grundlage unseres Wohlstandes.

So steht es im SPD-Regierungsprogramm, das wir letz-
ten Samstag in Berlin vorgestellt haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621704100

Kollegin Kramme, achten Sie bitte auf die Zeit!


Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1621704200

Ich bin innerhalb einer Minute fertig. – Zu einem

menschenwürdigen Leben gehört gute Arbeit. Daran
glauben wir. Dafür werden wir uns einsetzen, und zwar
zusammen mit den Gewerkschaften, den Betriebsräten,
den Menschen vor Ort


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Und der FDP!)


und vor allen Dingen mit pragmatischer Politik, die
Menschen tatsächlich hilft.

In diesem Sinne herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621704300

Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPD-

Fraktion.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Er stellt das jetzt alles richtig!)



Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1621704400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der Debatte lau-
tet: Sicherung von Arbeitsplätzen. Ich finde, dass das ge-
rade in diesen Wochen und Monaten ein ernstes Thema
ist. Herr Niebel, Sie hätten angesichts der Krise ruhig ein
bisschen mehr Demut zeigen können, zumal Marktradi-
kale im Wesentlichen das Zustandekommen der Krise
befördert haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Ich habe von Ihnen hier zwar eine antikommunistische
Rede gehört, aber kein Wort dazu – auch Sie wollen
Banken retten und den Mittelstand stärken –, wie Sie
Ihre Konzepte und Programme, die vor allen Dingen
Staatsverarmung zur Folge hätten, finanzieren wollen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621704500

Kollege Stöckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Niebel?


Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1621704600

Ich gehe jetzt auf die Vorredner ein, weil es sonst

langweilig wäre. Dadurch habe ich schon wenig Zeit,
meine Argumente vorzutragen.


(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Die Zeit wird aber für eine Zwischenfrage angehalten!)


Ich komme auch noch auf die anderen Redner zu spre-
chen. Sie alle könnten dann Zwischenfragen stellen; das
geht nicht.

Herr Brauksiepe, Ihre Rede war im Wesentlichen eine
Begründung unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik.
Aber zu den Passagen, in denen Sie uns angegriffen ha-
ben, muss ich sagen: Da fehlt Ihnen ein Konzept. Ich
hoffe, dass sich CDU und CSU auf ein Wahlprogramm
und auch auf ein Programm zur Bewältigung der Krise
einigen können. Vom Fehlen eines Konzeptes können
Sie mit solchen Reden nicht ablenken.






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Stöckel
Frau Pothmer, an dem, was Sie zur Abwrackprämie
bzw. Umweltprämie gesagt haben, mag im Rahmen län-
gerfristiger Überlegungen etwas dran sein, aber ich bitte
Sie, diese Rede auch bei Opel in Bochum und in Rüs-
selsheim oder bei VW zu halten,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir auch! Genau!)


in den Geschäften und in den Werkstätten, wo im Mo-
ment Arbeitsplätze – darum geht es heute – gesichert
werden, und zwar durch ein Konzept, das wir Sozial-
demokraten vorgelegt haben.


(Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht dauerhaft! Das ist das Problem!)


Herr Haustein, eines muss ich – auch wenn es Sie
wundern wird – zur Ehrenrettung des Kommunistischen
Manifestes sagen. Darin beschreibt Marx die Globalisie-
rung und die Gestaltung der Globalisierung aus seiner
Sicht. Wenn die Linkspartei die Globalisierung akzeptie-
ren und Vorschläge zur Gestaltung der Globalisierung
machen würde, wären wir in dieser Debatte schon we-
sentlich weiter.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das Schlimme ist, dass hier der Schein erweckt wird, die
Linke würde im Sinne von Marx argumentieren. In
Wirklichkeit ist es so, dass Karl Marx in Highgate in
London in seinem Grab rotiert angesichts dieser klein-
karierten, national ausgerichteten Wirtschafts- und
Sozialpolitik der Linken.


(Beifall bei der SPD)


Es ist bereits zu Recht festgestellt worden, dass die
Anträge, über die wir heute diskutieren, nach demselben
Strickmuster formuliert sind wie eigentlich alle Anträge
der Linken: „Die Lage ist katastrophal; die Regierung tut
nichts.“ Alle alten und neuen Anträge, die auf Gewerk-
schaftskongressen und von Verbänden jemals beschlos-
sen worden sind, werden einfach untereinanderge-
schrieben. Nachhaltige Wirkungen auf die soziale und
ökonomische Entwicklung und auf die öffentlichen
Haushalte oder Finanzierungsvorschläge – Fehlanzeige!
Das ist doch nicht das Problem der Linken. – Diese
Form von populistischer Parteitaktik nenne ich verant-
wortungslos und zynisch gegenüber den Millionen Men-
schen, die heute aus nachvollziehbaren Gründen Ängste
um ihre Zukunft und ihre Arbeitsplätze sowie um die
Zukunft ihrer Familien haben.


(Beifall bei der SPD)


Sie verbreiten den Irrglauben, die Regierung schenke
den Banken und Großkonzernen in der Krise mir nichts,
dir nichts Hunderte von Milliarden Euro, da könne man
doch gleich überall voll hinlangen. Die Details und die
Realisierbarkeit interessieren Sie dabei nicht. Obwohl
sich unsere Wirtschaft in der bisher schwersten weltwei-
ten Krise seit 80 Jahren befindet, malen Sie die Situation
noch schwärzer und behaupten, der Staat könne mal
eben – sozusagen von heute auf morgen – 1,5 Millionen
Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst bzw. im Bereich der
öffentlich geförderten Beschäftigung schaffen. Nein,
meine Damen und Herren, mit einer seriösen Analyse
der Krise und mit seriöser antizyklischer Politik hat das
nichts zu tun. Ich finde, Frank-Walter Steinmeier hatte
recht, als er am Wochenende begründet hat, warum die
SPD nicht mit den Linken zusammenarbeiten kann.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, ja! Das glaubt ihm nur keiner!)


Er sagte: Unser Land braucht in der schwierigen Zeit,
die vor uns liegt, Verantwortung, Stabilität und Erfah-
rung. Das alles lassen Sie vermissen.


(Anton Schaaf [SPD]: Das ist so!)


Ich sage Ihnen: Diejenigen, die von manch unange-
nehmer Botschaft und Reform unter sozialdemokrati-
scher Regierungsmitverantwortung enttäuscht waren,
auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, haben
Sie und Ihr demagogisches Spiel zunehmend durch-
schaut. Das Tohuwabohu bei Ihnen ist auch der Haupt-
grund dafür, dass sich Ihr Landesverband in NRW ge-
rade wieder in die alten Splittergruppen, aus denen er
entstanden ist, zerlegt


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das stimmt!)


und warum Ihr Wahlkampfmanager das Handtuch ge-
worfen hat.

Meine Damen und Herren, zwischen Ihrem Täuschen
und dem Ausbeuten der Krise und der Ängste der Men-
schen und unserem Ernstnehmen von Ängsten und dem
Annehmen der Herausforderungen liegen Welten. All
das bringt uns im Gegensatz zu allen anderslautenden
Behauptungen nicht etwa näher zusammen, sondern im-
mer weiter auseinander. Ich sage Ihnen auch, warum. So
schön die Anträge, die Sie uns kurz vor dem 1. Mai die-
ses Jahres vorlegen, auch klingen


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist schon viel länger her!)


und so richtig wir manche Zielsetzung, die darin zu lesen
ist, finden – allerdings nicht die von Ihnen vorgeschlage-
nen Instrumente; diese halten wir für weltfremd –, so
können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie
überhaupt kein zusammenhängendes und zumindest in
Ihrer eigenen Partei mehrheitsfähiges Programm zu-
stande bringen.


(Anton Schaaf [SPD]: So ist das! – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr richtig! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hätten wir kein Programm, säßen wir nicht hier! Das wissen Sie genau!)


Das hat auch einen Grund. Dann könnte die interessierte
Öffentlichkeit Ihre Politikalternative und Ihre Regie-
rungsfähigkeit nämlich kritisch überprüfen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ein Blödsinn! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch!)


Das erfordert mehr als eine Sonthofen-Strategie und
Fundamentalopposition.






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Stöckel
Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, die
Krise und ihre möglichen Auswirkungen auf die Be-
schäftigung und die sozialen Lebenslagen schönzureden.
Es ist aber kontraproduktiv – das ist mein Kommentar zu
den aktuellen Meldungen des heutigen Tages –, wenn
von verschiedenen Seiten, auch aus verhandlungstakti-
schen Gründen, soziale Ängste geschürt werden, indem
apokalyptische Abgründe und das Entstehen sozialer
Unruhen an die Wand gemalt werden oder gar damit ge-
droht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das ist der Situation und den Potenzialen unseres Landes
nicht angemessen. Das werden alle demokratischen
Kräfte, Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam zu
verhindern wissen.

Wir Sozialdemokraten haben die Prioritäten in unse-
rer Politik seit 1998 richtig gesetzt. Dies hat dazu ge-
führt, dass die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr merklich
gesunken ist. Im Gegensatz zu dem, was Sie behaupten,
haben wir die staatlichen Ebenen und die sozialen Sys-
teme handlungsfähiger gemacht und die Wachstums-
kräfte vor allen Dingen im Bereich der Zukunftstechno-
logien gestärkt. Wir haben darüber hinaus dafür gesorgt,
dass Mitbestimmung und Tarifautonomie gesichert und
weiterentwickelt werden. Darauf können sich die Ge-
werkschaften auch in Zukunft verlassen. Hätten wir das
nicht getan, wäre es heute viel schwieriger, mit der Krise
umzugehen und Arbeitsplätze zu sichern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir Sozialdemokraten haben ein Programm vorge-
legt. Darüber wird jetzt öffentlich debattiert. Jetzt müs-
sen Sie alle nachlegen. Ich sage Ihnen: Gute Arbeit gibt
es nicht ohne Mindestlöhne, ohne Regulierung der Zeit-
arbeit und ohne dass wir dafür sorgen, dass Frauen und
Männer für gleiche Arbeit gleiche Löhne bekommen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für gleichwertige Arbeit!)


Zu diesem Zweck haben wir verschiedene Instrumente
vorgeschlagen, die vor allen Dingen für unsere Kinder
und Jugendlichen die Zukunft des Landes garantieren
sollen. Wir wollen durch ordentliche Qualifizierung da-
für sorgen, dass wir auch in Zukunft im weltweiten Wett-
bewerb bestehen. Nur so können wir Arbeitsplätze si-
chern und die Wachstumsstärke Deutschlands erhalten.
Ich sage noch einmal: Wir sind auf dem richtigen Weg.

Hier wird Populismus betrieben. Die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die kritischen und mündigen
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wissen genau,
wen sie wählen müssen, wenn sie in diesem Hause in der
nächsten Wahlperiode eine sozial, ökologisch und öko-
nomisch fortschrittliche Regierung vorfinden wollen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621704700

Der Kollege Dirk Niebel hat das Wort zu einer Kurz-

intervention.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mensch, Herr Niebel, zeigen Sie doch einmal ein bisschen Barmherzigkeit!)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1621704800

Wir wollen die Leidensfähigkeit der deutschen

Sozialdemokratie schon ein wenig austesten, liebe Frau
Pothmer.

Frau Präsidentin! Ich habe mich zu Wort gemeldet,
weil Kollege Stöckel mit Blick auf die FDP behauptet
hat, die Marktradikalen – damit meint er offenkundig
uns – seien schuld an der Krise. Der guten Ordnung hal-
ber ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass der Finanz-
markt der am meisten regulierte Bereich des deutschen
Wirtschaftssystems überhaupt ist. Es gibt sogar eine
Staatsaufsicht. Übrigens war es Bundeskanzler Gerhard
Schröders rot-grüne Bundesregierung, die diese Auf-
sicht, wie es heute der Fall ist, zweigeteilt hat. Da ist
zum einen die BaFin mit ungefähr 6 000 Mitarbeitern
und zum anderen die Deutsche Bundesbank. Diese Ein-
richtungen paralysieren einander.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Sie waren mit Ihren Prüfgruppen nicht in der Lage, Mil-
liardenlöcher zu finden, die private Bankprüfgruppen in-
nerhalb weniger Tage gefunden haben.

Ich möchte auch daran erinnern, dass in Zeiten der
schwarz-gelben Bundesregierung Hedgefonds in Deutsch-
land verboten waren. Ich anerkenne: Wahrscheinlich hät-
ten auch wir die Hedgefonds zugelassen – weil sich die Fi-
nanzmärkte weltweit verändert haben –, aber nicht, wie
unter Gerhard Schröder geschehen, ohne jedwede Trans-
parenzrichtlinie.


(Beifall bei der FDP)


Ich erlaube mir zu guter Letzt, darauf hinzuweisen,
dass die Freien Demokraten in diesem Haus die einzige
Oppositionspartei sind, die den Finanzmarktrettungs-
schirm mitgetragen hat – auch wenn wir im Detail eini-
ges anders gemacht hätten –, weil wir die Notwendigkeit
dessen für die Sparerinnen und Sparer und für das Wirt-
schaftssystem insgesamt erkannt haben.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621704900

Das Wort hat der Kollege Stöckel.


Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1621705000

Werter Kollege Niebel, ich kenne die Grenzen unserer

Politik, ich kenne auch die Grenzen dessen, was von un-
seren Vorschlägen, Regeln für die Finanzmärkte einzu-
führen, national, europäisch und erst recht international
durchsetzbar ist.

Ich habe vorhin nicht behauptet, dass Sie die Ursache
der Finanzkrise seien. Ich habe gesagt, dass marktradi-






(A) (C)



(D)


Rolf Stöckel
kale Ideologie und Marktradikale die Ursachen dieser
Krise wesentlich befördert haben. Das ist ein kleiner
sachlicher, aber sehr treffender Unterschied.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie können mit Ihrer Kurzintervention nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Sie in der Öffentlichkeit bisher
weder zu den Ursachen dieser Krise etwas gesagt haben
noch sich in Selbstkritik dieser Ihrer markradikalen
Ideologie geübt haben. Andere haben das auch noch
nicht getan; selbst die Verantwortlichen haben es bisher
nicht getan. Wir hätten von Ihnen gerne etwas zu einem
Konzept gegen diese Krise gehört. Damit meine ich
mehr als Ihren Vorschlag, die Steuern zu senken. So wä-
ren die Konjunkturprogramme, die Rettung der Banken
und die Unterstützung und Förderung des Mittelstandes
nicht finanzierbar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Was für ein wirres Zeug!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621705100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12682 an den in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sicherheit und Zu-
kunft – Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenpro-
gramm“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12485, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12292 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gute Arbeit – Gutes
Leben, Initiative für eine gerechte Arbeitswelt“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12469, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/6698 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 l sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf:

38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 12. November 2008 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung des grenzüberschreitenden
Missbrauchs bei Leistungen und Beiträgen zur
sozialen Sicherheit durch Erwerbstätigkeit
und von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit
sowie bei illegaler grenzüberschreitender
Leiharbeit

– Drucksache 16/12588 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und den Vereinigten
Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen

– Drucksache 16/12589 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 16. September 2004 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Polen über die Vermarkung und Instand-
haltung der gemeinsamen Grenze auf den
Festlandabschnitten sowie den Grenzgewäs-
sern und die Einsetzung einer Ständigen
Deutsch-Polnischen Grenzkommission

– Drucksache 16/12590 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Gen-
fer Fassung vom 2. Juli 1999 (Genfer Akte) des
Haager Abkommens vom 6. November 1925
über die internationale Eintragung gewerbli-
cher Muster und Modelle

– Drucksache 16/12591 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In-
ternationalen Übereinkommen vom 20. De-
zember 2006 zum Schutz aller Personen vor
dem Verschwindenlassen

– Drucksache 16/12592 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Bundesvertriebenengesetzes

– Drucksache 16/12593 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Errichtung ei-
ner Bundesanstalt für den Digitalfunk der Be-
hörden und Organisationen mit Sicherheits-
aufgaben (BDBOS-Gesetz)


– Drucksache 16/12594 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Absicherung von Zivilpersonal in
internationalen Einsätzen zur zivilen Krisen-
prävention

– Drucksache 16/12595 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Sprengstoffgesetzes

– Drucksache 16/12597 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die gewerbliche Haltung von Mast- und
Zuchtkaninchen in Deutschland und der Eu-
ropäischen Union deutlich verbessern

– Drucksache 16/12307 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Stefan Müller (Erlangen), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD

Nanotechnologie – gezielte Forschungsförde-
rung für zukunftsträchtige Innovationen und
Wachstumsfelder

– Drucksache 16/12695 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Verbraucherinformationsgesetz novellieren

– Drucksache 16/12691 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, Carl-
Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Korrektur der Unternehmen-
steuerreform

– Drucksache 16/12525 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Geschmacksmustergesetzes

– Drucksache 16/12586 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christel Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke
Ferner und weiteren Abgeordneten eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes

– Drucksache 16/12664 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Erhöhung des Schonvermögens im Alter für
Bezieher von Arbeitslosengeld II

– Drucksache 16/5457 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Ermäßigte Mehrwertsteuersätze für Hotellerie
und Gastronomie in Deutschland einführen
– Drucksache 16/12287 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP

Die Evaluierung des Verbraucherinformations-
gesetzes muss so schnell wie möglich durchge-
führt werden
– Drucksache 16/12669 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Schutz von Arbeitnehmerdaten durch trans-
parente und praxisgerechte Regelungen ge-
setzlich absichern
– Drucksache 16/12670 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer (Hamburg),
Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-
Sutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD

Mobilität zukunftsfähig machen – Elektro-
mobilität fördern

– Drucksache 16/12693 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Manipulierte Strompreise – Verbraucherinte-
ressen wahren

– Drucksache 16/12692 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Vergaberecht konsequent sozial gestalten –
Gemeinnützige Unternehmen nicht benachtei-
ligen

– Drucksache 16/12694 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei-
sungen. Dies betrifft die Tagesordnungspunkte 38 a bis
38 l sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 h. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zu zwei Überweisungen, bei denen
die Federführung strittig ist.

Zusatzpunkt 3 i: Interfraktionell wird die Überwei-
sung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
betreffend Strompreise auf Drucksache 16/12692 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD-Frak-
tion wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Fe-
derführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abge-
lehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, Feder-
führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über-
weisungsvorschlag ist angenommen.

Zusatzpunkt 3 j – das ist die zweite strittige Federfüh-
rung –: Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
betreffend das Vergaberecht auf Drucksache 16/12694
soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Die Fraktionen von CDU/CSU und
SPD-Fraktion wünschen hier Federführung beim Aus-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, Feder-
führung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussfassungen zu Vorla-
gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 39 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-
Verpflichtungengesetzes

– Drucksache 16/12117 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 16/12696 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gustav Herzog
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12696, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12117 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Durchführung der Gemeinsamen Marktorga-
nisationen und der Direktzahlungen

– Drucksache 16/12231 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 16/12517 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12517, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12231 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP

Verlängerung der Hauptuntersuchungsinter-
valle für Oldtimer mit H-Kennzeichen

– Drucksachen 16/9480, 16/11082 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Andreas Scheuer






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11082, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/9480 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Frak-
tion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth),
Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP

Keine Sperrung der Inntal-Autobahn für
Lkw-Transitverkehre
– Drucksachen 16/9095, 16/11083 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11083, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/9095 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Frak-
tion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 39 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich

(Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), weiterer

Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Technische Kriterien für Winterreifenkenn-
zeichnung M+S festlegen
– Drucksachen 16/11213, 16/12348 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12348, den Antrag der FDP auf
Drucksache 16/11213 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 f:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich

(Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), weiterer

Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern –
Zurück zur Verhältnismäßigkeit
– Drucksachen 16/10313, 16/12349 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12349, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/10313 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-
Fraktion angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 g:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Vereinfachung des Deponie-
rechts

– Drucksachen 16/12223, 16/12357 Nr. 2.3,
16/12722 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12722, der Verordnung auf
Drucksache 16/12223 zuzustimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion so-
wie der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 4 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen
und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung ei-
ner Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft
sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichts-
ordnung, der Finanzgerichtsordnung und kos-
tenrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/11385 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12717 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Carl-Christian Dressel
Christoph Strässer






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12717, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/11385 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.

Zusatzpunkt 4 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung von Verfahren im patent-
anwaltlichen Berufsrecht
– Drucksache 16/12061 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12718 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12718, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12061 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.

Zusatzpunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle
und weiterer Abgeordneter der Fraktion der
FDP
sowie der Abgeordneten Hüseyin-Kenan
Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und
weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE
LINKE
sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln)
und weiterer Abgeordneter der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-
Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Dieter Wiefelspütz
Jörg van Essen
Volker Schneider (Saarbrücken)

Wolfgang Wieland

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag von Abgeordneten
der Fraktionen der FDP, die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/12480 mit dem Titel „Einset-
zung eines Untersuchungsausschusses“ in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Nach Art. 44 Abs. 1 des
Grundgesetzes ist der Deutsche Bundestag verpflichtet,
einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, wenn die
Einsetzung von einem Viertel seiner Mitglieder verlangt
wird. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion der FDP,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Unionsfraktion und der SPD-
Fraktion angenommen. Damit ist der 2. Untersuchungs-
ausschuss der 16. Wahlperiode eingesetzt.


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind noch immer beim Zusatzpunkt 4 c. Weiter-
hin empfiehlt der Ausschuss für Wahlprüfung, Immuni-
tät und Geschäftsordnung unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/12130 mit dem Titel „Einsetzung ei-
nes Untersuchungsausschusses“ für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Meinungsverschiedenheiten in der Bundesre-
gierung zum Anbauverbot des gentechnisch
veränderten Mais MON 810

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621705200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines

muss man feststellen: Das Verbot der Maissorte
MON 810 ist der Sieg der Anti-Gentechnik-Bewegung
in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist der Sieg engagierter Bürgerinnen und Bürger,
Landwirte und Imker, von Umweltverbänden, Verbrau-
cherverbänden und grüner Politik.

Ich will Frau Aigner nicht kritisieren, wenn ich fest-
stelle, dass sie das Verbot nur verkündet hat. Immerhin
hat sie im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der MON 810
als Saatgut in Deutschland erst zugelassen hat, das Ver-
bot beschlossen und verkündet. Durchgesetzt haben es
aber faktisch die Verbraucherinnen und Verbraucher, die
nämlich keinen Genmais auf dem Teller oder auf dem
Acker haben wollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die CSU insgesamt muss endlich erkennen, dass das
Hin und Her der letzten Jahre ein Ende haben muss. Man
kann nicht erst für die Gentechnik möglichst überall ein-
treten, weil das als Fortschritt gilt, dann dazu übergehen,
die Gentechnik überall, aber bitte nicht in Bayern – in
Berlin vielleicht – zulassen zu wollen und letztlich in
Brüssel dafür zu stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Bauern sind froh, dass sie Sie losgeworden sind! Sie sind ein richtiger Bauernschreck!)


– Herr Ramsauer hat dazwischengerufen, ich sei ein
Bauernschreck.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie waren es und sind es!)


– Das haben Sie damals gut stilisiert. In Wahrheit war
ich ein Schreck für Sie, Herr Ramsauer. Sie müssen
heute das tun, was ich damals schon gesagt habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – René Röspel [SPD]: Graue Haare hat er gekriegt!)


– Das stimmt: Darüber hat er auch noch graue Haare ge-
kriegt.

Jetzt gibt es in Bayern Veranstaltungen mit 3 000 Ver-
braucherinnen und Verbrauchern und Bäuerinnen und
Bauern. Siehe da: Es sind keine Veranstaltungen der
CSU, sondern sie werden von Bauern in Bayern organi-
siert, weil sie keine Gentechnik wollen: weder in Bayern
noch in Deutschland oder in Europa. Damit haben sie
recht, und Sie werden auch noch dahinkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin davon überzeugt, dass jetzt für Herrn Seehofer
der richtige Zeitpunkt wäre, sich dafür zu entschuldigen,
dass er uns das Problem mit der Zulassung von
MON 810 im Jahr 2005 überhaupt erst aufgedrückt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er müsste sich auch für das Jahr 2007 entschuldigen, als
er in Brüssel für die Zulassung der Genkartoffel Amflora
stimmte. Gott sei Dank gab es Minister aus anderen Mit-
gliedstaaten, die das verhindert haben.

Auch wenn Herr Seehofer jetzt wie Jung Siegfried da-
herreitet, wenn es um die Amflora geht, muss er sich
entschuldigen. Er hat in Deutschland einen faktischen
Vermehrungsanbau der gentechnisch veränderten Kar-
toffel Amflora für die Industrie zugelassen. Jetzt fordert
er unter dem Deckmäntelchen eines Forschungsbegriffes
das Verbot: erst rein in die Kartoffeln, dann raus aus den
Kartoffeln. Das Ergebnis bestätige ich, wir hätten es aber
uns allen und den Bauern ersparen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sagen klar: Wir lehnen die Genkartoffel Amflora
ab. Sie enthält ein Gen, das gegen Antibiotika resistent
ist. Antibiotika werden zum Beispiel für die
Tuberkulosebekämpfung gebraucht. Auch die Weltge-
sundheitsorganisation weist darauf hin, dass Antibiotika
nicht diffundierend in der Umwelt, sondern nur zur aku-
ten Behandlung eingesetzt werden sollen. Deshalb sagen
wir Nein zu Amflora.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben vor wenigen Wochen einen denkwürdigen
und beachtenswerten Auftritt von Herrn Bleser mit dop-
pelten Toeloops und Rittbergern erlebt. Ich möchte an
dieser Stelle eines sagen: Was wir endlich wissen wol-
len, ist, welches eigentlich die Auffassung der Bundes-
regierung ist. Ich finde es sehr schön, dass Frau Aigner,
die gleich sprechen wird, noch zwei Staatssekretäre mit-
gebracht hat. Aber Frau Schavan, die sich vor Tagen
großspurig geäußert hat, sie wolle deren Entscheidung
nicht würdigen, hat sich nicht einmal dazu herabgelas-
sen, zu erscheinen. Ich hoffe, das heißt, sie hat aufgege-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Welches ist eigentlich die Auffassung der Koalition?
Gilt die Auffassung von Frau Aigner zum Genmais und
hoffentlich auch zu Amflora – hier wird sie Herrn
Seehofer vielleicht auch korrigieren –, die Koalitions-
vereinbarung, die eine Förderung der Gentechnik vor-
sieht, oder das Gesetz, in dem davon gar keine Rede ist?
Wir wollen klar wissen, welche Auffassung gilt.

Wir lassen uns auch nicht durch den sogenannten run-
den Tisch irreführen. Runde Tische hat es schon gege-
ben, schon vor Jahren auch einen runden Tisch zum
Thema Gentechnik. Sie können aber gerne noch einmal
alle einladen und das Ganze auf Kosten des Steuerzah-
lers wieder inszenieren. Aber das nutzt gar nichts; denn
Frau Schavan ist für die Anbauentscheidung sowieso
nicht zuständig. Ich will wissen: Stellen Sie hier nur ei-
nige in der Saatgutindustrie ruhig, oder wollen Sie tat-
sächlich eine andere Position einnehmen? Wir wollen






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
nicht nur wissen, was die CSU meint, wie die weiteren
Schritte aussehen sollen, sondern auch, welche Auffas-
sung die Bundesregierung vertritt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621705300

Kollegin Künast, achten Sie bitte auf die Zeit.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621705400

Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Wenn es die

CSU ernst meint, müssen weitere Schritte folgen. Dann
muss es Unterstützung für gentechnikfreie Regionen und
Futtermittel geben. Dann darf es keine neuen Zulassun-
gen gentechnisch veränderter Pflanzen geben. Wir wol-
len jetzt endlich einen klaren Satz von dieser Bundes-
regierung hören. Wir wollen in der Landwirtschaft und
bei Lebensmitteln nicht unter dem Kuratel einiger weni-
ger Konzerne stehen, die gentechnisch verändertes Saat-
gut nach Wildwestmanier verbreiten wollen. Die Ver-
braucherinnen und Verbraucher sowie die Bauern wollen
keine Gentechnik, weder im Futtertrog noch auf dem
Acker und auch nicht auf dem Teller.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621705500

Das Wort hat die Bundesministerin für Ernährung,

Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stehen grundsätzlich in der Verantwor-
tung für das Gemeinwohl unseres Landes. Deswegen
kommen wir in der Politik nicht umhin, manchmal auch
schwierige Entscheidungen zu treffen. Das ist unsere
und insbesondere meine Aufgabe. Ich habe mir die Ent-
scheidung für das Verbot von MON 810 nicht leicht ge-
macht. Es ist eine klare Einzelfallentscheidung, die ich
nach Abwägung aller mir vorliegenden, unterschiedli-
chen Forschungsergebnisse fachlich getroffen habe. Ge-
nauso wie unsere Nachbarländer – fünf an der Zahl –
habe ich die Schutzklausel gezogen in dem Bestreben,
möglichen Schaden abzuwenden und Widersprüchli-
ches zu klären. Wo immer wissenschaftliche Anhalts-
punkte gegeben sind, die den Schluss nahelegen, dass
von gentechnisch veränderten Organismen Gefahren für
die Umwelt ausgehen, müssen wir und muss insbeson-
dere ich reagieren. Das war hier der Fall. Mit meiner
Entscheidung ist kein Verdikt gegen neue, moderne
Technologien ausgesprochen, nicht gegen die Lebens-
wissenschaften im Allgemeinen und auch nicht gegen
die Grüne Gentechnik im Speziellen. Hier genauso wie
bei allen anderen jungen Technologien muss man beson-
ders auf Chancen und Risiken achten und diese gegen-
einander abwägen. Wir brauchen gesichertes Wissen.
Dafür brauchen wir Zeit.

Ganz aktuell steht die Entscheidung über die Freiset-
zung der Stärkekartoffel Amflora an. Hierzu werde ich
in den nächsten Tagen Gespräche führen, um dann eine
Entscheidung zu treffen. Gerade dann, wenn Erkennt-
nisse noch nicht ausgereift sind und Anwendungen noch
gezielter Erfahrungen bedürfen, gilt bei der Zulassung in
besonderem Maße das Vorsorgeprinzip. Das bedeutet:
Der Schutz von Mensch und Umwelt muss an vorderster
Stelle stehen. Zudem wissen wir heute nicht, was wir
morgen wissen. Deswegen müssen wir derzeitige Warn-
hinweise mit der gebotenen Sensibilität behandeln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD])


Ich bekenne mich klar zum Wissenschaftsstandort
Deutschland. Mehr denn je wird unser künftiger Wohl-
stand von Wissenschaft, Forschung und technologischer
Entwicklung abhängen. Es macht Sinn, Forschung, die
weltweit betrieben wird, auch mitzugestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das gilt auch für die Grüne Gentechnik. Grundlagen-,
Anwendungs- und Sicherheitsforschung müssen mit der
gebotenen Sicherheit Hand in Hand gehen. Wir dürfen
uns aber nicht künstlich dumm halten. Wir müssen – das
ist ebenfalls ein Gebot der Wissenschaft – eventuelle
Alternativen prüfen und beispielsweise in der Züch-
tungsforschung alle verfügbaren Verfahren der Biotech-
nologie auf ihre Anwendbarkeit untersuchen und bei
Eignung nutzen.

Grüne Gentechnik ist, wie wir alle wissen, ein Thema,
das äußerst kontrovers und auch äußerst emotional dis-
kutiert wird. Deswegen brauchen wir fundierte wissen-
schaftliche Erkenntnisse, wir brauchen Orientierungs-
wissen, und wir brauchen die Klärung von ethischen
Positionen. Wir müssen die Ängste und Befürchtungen
von Menschen aufnehmen. Es gilt, Brücken mit dem
Ziel einer öffentlichen, transparenten und sachlichen
Diskussion zu schlagen. Nicht nur darin bin ich mit mei-
ner Kollegin Annette Schavan einig.


(Widerspruch des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gemeinsam werden wir uns mit Wissenschaftlern, Ver-
bänden, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen
und Kirchen an einen Tisch setzen, um Pro und Kontra,
Chancen und Risiken der Grünen Gentechnik auszulo-
ten.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Schade, dass sie nicht hier ist!)


Einen Termin haben wir schon gefunden. Für mich ist
dieser Termin ein wichtiger Baustein im Prozess des
Dialogs, den ich jetzt führen werde.


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Warum jetzt erst?)


Wir können nicht alles tun, aber wir müssen tun, was wir
können. Dieser Satz ist und bleibt richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Na ja!)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621705600

Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach-

Kasan für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1621705700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Ministerin, meine persönliche Sympathie ha-
ben Sie, aber in der Sache liegen Sie falsch.


(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rund um Frau Happach-Kasan liegen immer alle falsch!)


Sie haben einen Bescheid vorgelegt, der eine politische
Entscheidung darstellt, aber der fachlich nicht begründet
ist.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das weiß sie auch!)


Ich bitte Sie ganz herzlich, einmal nachzulesen, was die
ZKBS, Zentrale Kommission für die Biologische Sicher-
heit, schon vor zwei Jahren zu dem entsprechenden Er-
lass Ihres Kollegen Seehofer gesagt hat. Sie hat ganz
eindeutig gesagt, dass das schlicht falsch ist. Ich bitte Sie
auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in Deutschland
eine Forschung zur biologischen Sicherheit haben, die
Ergebnisse gebracht hat. Deswegen sind wir in Deutsch-
land auf der ganz sicheren Seite, wenn wir uns dafür ein-
setzen, dass auch in Deutschland biotechnologische
Züchtung erfolgt, dass die Pflanzen hier genutzt werden
und dass die Forschung weitergetrieben wird.


(Beifall bei der FDP)


Frau Künast, auch wenn wir mit Ihnen einer Meinung
sind, dass es Meinungsverschiedenheiten in der Bundes-
regierung gibt – das ist überhaupt keine Frage –, so sind
wir doch der Meinung, dass das Thema sehr viel mehr
als die Meinungsverschiedenheiten in dieser Bundes-
regierung umfasst. Wir sind in einer Wirtschaftskrise.
Wir haben einen Abschwung in Höhe von 5 bis 7 Pro-
zent. Es geht darum, Arbeitsplätze zu erhalten, es geht
darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen.


(Beifall bei der FDP)


In dieser Situation exekutiert die Bundesregierung eine
Verbotspolitik, die dazu führt, dass Arbeitsplätze ins
Ausland abwandern. Das ist meines Erachtens das abso-
lut falsche Zeichen in dieser Situation.


(Beifall bei der FDP)


Zu Recht hat Friedrich Merz gesagt, eine positive Ent-
scheidung der Bundesregierung zur Nutzung der Gen-
technik wäre eine Entscheidung, die Deutschland zehn
Mal mehr hilft als jedes weitere Konjunkturprogramm.
Der Mann hat recht.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Es ist eine Entscheidung gegen Arbeitsplätze. Ich will
noch eines ganz deutlich sagen: Es geht hier auch um
diejenigen Menschen, die nicht auf den Acker gehen, die
nicht demonstrieren, sondern die in aller Verantwortung
für ihre Familien, für sich selbst und für unser Land zur
Arbeit gehen und dafür sorgen, dass wirtschaftlicher
Wohlstand in diesem Land geschaffen wird.


(Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Das sind aber ganz neue Töne von der FDP! Das würde ich mir an anderer Stelle auch wünschen!)


Es geht auch um junge Menschen. Ich will einmal an
Folgendes erinnern: Es gibt mehr junge Menschen, die
sich im Rahmen ihrer Ausbildung bei Pflanzenzüch-
tungsunternehmen, bei Chemieunternehmen, in der
Landwirtschaft oder im Rahmen ihres Studiums im en-
geren oder weiteren Sinne mit der biologischen Züch-
tung beschäftigen, als junge Menschen, die auf Äckern
demonstrieren.


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Für die jungen Menschen, die sich in diesem Bereich
ausbilden lassen, kämpfen wir als FDP-Bundestagsfrak-
tion.


(Beifall bei der FDP)


Wir wissen, dass die landwirtschaftliche Produktion
zur Sicherstellung der Welternährung mit der Bevölke-
rungsentwicklung nicht mehr Schritt halten kann. Wir
wissen, dass die Zahl der hungernden Menschen steigt.
Etwa 1 Milliarde Menschen hungern. Im vergangenen
Jahr hat es deswegen einen Gipfel der FAO in Rom ge-
geben. Wir haben im Agrarausschuss den zuständigen
Kommissar gegen Wüstenbildung eingeladen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommissar gegen Wüstenbildung?)


– Frau Künast, Ihre Zwischenrufe taugen wirklich nicht
viel. – Er hat in diesem Ausschuss ganz deutlich gesagt:
Die Dritte Welt setzt auf eine zweite grüne Revolution.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)


Die Dritte Welt weiß, dass die erste grüne Revolution
sehr viel für die Ernährung der Menschen weltweit getan
hat. Deswegen setzt die Dritte Welt auf eine zweite
grüne Revolution. Diese brauchen wir.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Da wird sich Monsanto wundern, wie sie aussieht! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Bitte hören Sie doch zu, wenn jemand hier seine Mei-
nung äußert.

Ich will noch eines hinzufügen: Es sind durch die Ver-
teufelung der biotechnologischen Züchtung weltweit
Zigtausende von Menschen gestorben


(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


– ich möchte an Simbabwe und auch an den Goldenen
Reis erinnern –, aber kein einziger Mensch ist durch ihre
Anwendung gestorben. Vor diesem Hintergrund ist es
zynisch, hier in Deutschland gegen eine biotechnologi-
sche Züchtung zu wettern, im Parlament zu randalieren






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christel Happach-Kasan
und damit das Schicksal von Menschen mit Füßen zu
treten.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Perfide! – René Röspel [SPD]: Das ist unglaublich!)


Volksnahe Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen,
heißt etwas ganz anderes.

Ich will ganz ehrlich sagen: Als Achtundsechzigerin
fällt es mir schwer,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Franz Josef Strauß zu zitieren. Das gebe ich zu. Aber
wenn er recht hat, hat er recht: Dem Menschen aufs
Maul schauen, aber ihm nicht nach dem Munde reden. –
Das ist die richtige Politik für dieses Land: ihm nicht
nach dem Munde reden.


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das muss die Ministerin noch lernen!)


Alle zukunftsweisenden Entscheidungen in Deutsch-
land sind gegen Widerstände durchgekämpft worden.
Deswegen fordern wir die Bundeskanzlerin auf, gegen
alle Widerstände eine positive Haltung der Bundesrepu-
blik Deutschland zur biotechnologischen Züchtung in ih-
rem Kabinett durchzusetzen. Sie muss von ihrer Richtli-
nienkompetenz Gebrauch machen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621705800

Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1621705900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Kollegin Happach-Kasan, ich finde es per-
fide, den Hunger von Menschen zu instrumentalisieren.
Ihre Worte stehen im Gegensatz zur Realität.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Fahren Sie einmal in die Länder, in denen die Menschen
wirklich gegen den Hunger kämpfen.


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ja, da war ich!)


Die Mehrzahl dieser Länder hat ein Einfuhr- und An-
wendungsverbot für genetisch veränderte Pflanzen ver-
hängt, weil sie ihre heimischen Pflanzensorten und den
heimischen Lebensmittelanbau schützen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie zitieren immer gerne aus der Süddeutschen Zei-
tung. Hätten Sie diese Zeitung vorgestern und gestern
gelesen, dann hätten Sie erfahren, dass bei Reis niemand
auf die Entwicklung gentechnisch veränderter Sorten
wartet, sondern dass auf herkömmliche Art und Weise
die trockenresistenten, die hochwasserresistenten und
auch die salzresistenten Reisarten – von diesen traditio-
nellen Reissorten gibt es Tausende – gezüchtet worden
sind, die jetzt einfach übernommen werden können, weil
es darauf keinen Patentschutz gibt. Das ist die Chance,
den Hunger zu bekämpfen, und nicht durch die Patentie-
rung von Lebensmitteln durch Monopolisten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Normalerweise ist der Antrag für eine Aktuelle
Stunde mit dem Titel „Meinungsverschiedenheiten in
der Bundesregierung …“ eines der primitivsten Mittel
einer Opposition. Aber in diesem Falle stimmt es. Ich
will eine kurze Analyse der Positionen in dieser Regie-
rung vornehmen. Man muss immer wieder erwähnen,
dass es eine Dreiparteienkoalition ist.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur drei?)


Manchmal sieht es so aus, als seien es zwei. Aber es sind
drei.

Wir haben die SPD mit einer klaren Linie.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben in der gemeinsamen Regierungszeit mit den
Grünen ein Gentechnikgesetz entwickelt. Die Große
Koalition hat es geschafft, alle Punkte dieses Gentech-
nikgesetzes zu erhalten,


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Verbessert haben wir das!)


auch wenn die Verhandlungen darüber 18 Monate ge-
dauert haben. Wir haben sogar zwei Punkte ergänzt,
nämlich Sicherheitsabstand und die Kennzeichnung
„Ohne Gentechnik“. Wir haben außerdem mehrfach Ini-
tiativen ergriffen, um auf europäischer Ebene klarzustel-
len, dass Nationalstaaten und Regionen über die Anwen-
dung entscheiden, um das Saatgut zu schützen und das
Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene endlich zu
demokratisieren.

Es gibt einen zweiten Koalitionspartner mit einer kla-
ren Linie: Das ist die CDU. Diese Linie ist zwar das ge-
naue Gegenteil von dem, was ich gerade für die SPD ge-
nannt habe, aber es ist eine klare Linie.

Es gibt noch einen dritten Koalitionspartner, dessen
Linie ich am Morgen eines Tages oft nicht kenne. Am
Anfang der Verhandlungen mit der CSU gab es dort die
entschiedensten Gentechnikbefürworter.


(René Röspel [SPD]: Richtig!)


Heute lese ich in der Zeitung, dass dort die entschiedens-
ten Gentechnikgegner sind.


(Ute Kumpf [SPD]: So ist der Bayer!)


Bis zu der Entscheidung der Ministerin – diese Ent-
scheidung begrüße ich sehr – hat es allerdings keine ein-
zige Tat dieses Koalitionspartners gegeben. Frau Minis-






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
terin, ich weiß nicht, ob es Sie erreicht hat: Als Ihr
treuester Unterstützer habe ich am Dienstag dem Koali-
tionspartner vorgeschlagen, dass wir im Deutschen
Bundestag beschließen: Der Deutsche Bundestag unter-
stützt die Entscheidung von Frau Bundesministerin Ilse
Aigner, den Anbau von MON 810 zu untersagen. – Wir
dürfen nach dem Willen der Fraktion der CDU/CSU die-
sen Beschluss im Deutschen Bundestag nicht fassen.
Das tut mir sehr leid.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Wie bei unserem ersten Vorstoß hat es keine Unter-
stützung der CDU-Abgeordneten gegeben – Frau
Klöckner und Herr Bleser waren im Raum –; es hat aber
auch keine Unterstützung der CSU-Abgeordneten gege-
ben. Ich finde es bemerkenswert, dass in der heutigen
Debatte außer der Ministerin – ich finde gut, dass sie
persönlich zu dieser Debatte erschienen ist – kein CSU-
Abgeordneter redet. So war es auch in der letzten Gen-
technikdebatte.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Erzählen Sie doch einmal ein bisschen mehr aus der Koalition!)


– Lesen Sie es nach! Da Sie nicht zugehört haben,
wiederhole ich: außer der Ministerin kein Redner aus
den Reihen der CSU-Abgeordneten im Deutschen Bun-
destag, der die CSU-Linie vertritt. Bei der letzten De-
batte hat man nur den Kollegen Bleser reden lassen, und
seiner feurigen Pro-Gentechnik-Rede, lieber Peter, ha-
ben auch alle CSU-Abgeordneten begeistert Beifall ge-
spendet.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Die war auch gut, die Rede!)


Die Regierung braucht eine klare Linie. Es kann nicht
jedes Mal so sein wie bei einer Abstimmung auf euro-
päischer Ebene, an deren Ende Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel gesagt hat: Niemand hat mich formal
aufgefordert, mich zu enthalten; also habe ich dagegen-
gestimmt, als die EU-Kommission unseren Nachbarn
Österreich und das mit uns befreundete Land Ungarn
zwingen wollte, Gentechnik einzusetzen. Was tun wir,
wenn die Kommission vorschlägt – die Ministerin muss
dann entscheiden –, unser Nachbarland Frankreich zu
zwingen, Gentechnik einzusetzen? Enthält sich die Bun-
desregierung, und sagt sie: „Das ist uns egal, was unse-
rem Nachbarland passiert“? Oder haben wir eine klare
Haltung?

Wir glauben, dass der Deutsche Bundestag nicht nur
die Entscheidung der Ministerin begrüßen sollte, son-
dern endlich auch Deutschlands Haltung festlegen sollte.
Diese Haltung sollte sein: Nationalstaaten und Regionen
entscheiden anhand ihrer spezifischen Situation darüber,
ob sie Grüne Gentechnik auf ihren Äckern einsetzen
wollen oder ob sie es nicht tun wollen. Dieser Vorschlag
steht im Regierungsprogramm der SPD. Wir werden ihn
in einer nächsten Koalition erneut vorbringen. Wenn wir
wenigstens 15 bis 20 der CSU-Abgeordneten gewinnen
könnten, dann hätten sicherlich auch die Fraktionsspit-
zen nichts gegen einen Gruppenantrag. Es müsste sich
allerdings einmal ein einziger CSU-Abgeordneter
trauen, das zu vertreten, was aus München in den Zeitun-
gen vorgegeben wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Was für ein dummes Zeug!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706000

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am Donnerstagabend der letzten Sitzungswoche disku-
tierten wir über das Verbot des Anbaus von MON 810.
Viele von Ihnen können sich an diese heiße Debatte erin-
nern, in der uns, den Gegnerinnen und Gegnern der Gen-
technik, alle möglichen unschönen Dinge vorgeworfen
wurden: Uns wurde unterstellt, Panikmache zu betreiben
und Argumente nur einseitig zu sehen. Das war eine sehr
unschöne Debatte.

Leider hat sich kein CSU-Abgeordneter daran betei-
ligt; darauf wurde hier schon hingewiesen. Umso erfreu-
ter bin ich darüber, dass Frau Aigner das Anbauverbot
ausgesprochen hat. Sicher ist es kein Geheimnis – zu-
mindest wird in Bayern sehr viel darüber gesprochen –,
dass ein Herr aus Ingolstadt daran großen Anteil hatte.
Vielleicht ist er es leid: Er hat ja den Spitznamen
„Genhofer“ und möchte jetzt vielleicht einen anderen
Spitznamen.

Wir finden es gut, dass dieses Verbot jetzt ausgespro-
chen wurde. Horst Seehofer hat die Zeichen der Zeit ver-
standen und kennt die Stimmung in der Bevölkerung in
Bayern.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Er kennt vor allen Dingen auch den Wahltermin!)


– Natürlich muss die CSU um ihre Europamandate
schon ein bisschen fürchten. Bei 42 Prozent wird es
knapp.

Ich sage Ihnen auch – aber das wollen Sie ja nicht ak-
zeptieren –: 78 Prozent der Bevölkerung sind gegen den
Anbau von Genmais, und darum halte ich dieses Verbot
schon lange für überfällig.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere an dieser Stelle Zugabe: Nun brauchen wir
auch ein Verbot der Maissorten Bt 11 von Syngenta und
1507 von Pioneer, und natürlich unterstützt die Linke
auch ein Anbauverbot der Genkartoffel Amflora.


(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Die ist doch in Deutschland gar nicht zugelassen!)







(A) (C)



(B) (D)


Eva Bulling-Schröter
Liebe Kolleginnen und Kollegen, letzten Mittwoch
demonstrierten Biobauern, Bauernverband, Milchbauern
und Umweltverbände in München gegen eine Patentie-
rung von Lebewesen unter dem Motto „Es geht um die
arme Sau“. Neu war, dass sich der bayerische Umwelt-
minister Söder auf der Kundgebung geäußert und das
Genmaisverbot begründet hat. Das sind wir in Bayern
nicht gewohnt; daher war es schon sehr interessant. Er
hat gesagt, er kümmere sich auch um die arme Sau. Das
finde ich sehr löblich.

Fakt ist: In Bayern wurde verstanden, dass die Frei-
setzung von Genpflanzen Risiken mit sich bringt, die
eben nicht überschaubar sind. Einmal freigesetzt, sind
sie nicht mehr einzufangen, und die Risiken sind, wie
gesagt, unüberschaubar. Das wird nicht nur in unserem
Land so gesehen, sondern das Anbauverbot ist in einigen
anderen europäischen Ländern – ich zähle sie noch ein-
mal auf: Frankreich, Griechenland, Österreich und Un-
garn – schon lange ausgesprochen. Deshalb war auch bei
uns das Anbauverbot längst überfällig.

Wenn Sachsens Landwirtschaftsminister den Gen-
technikgegnerinnen und -gegnern das Schüren von Hys-
terie vorwirft, dann hat er eben die Zeichen der Zeit
nicht verstanden. Damit unterstützt er die Forschungs-
ministerin Frau Schavan, die sofort mit der Standort-
keule kommt und den Forschungsstandort Deutschland
schon am Boden sieht. So haben sich ja auch andere jetzt
wieder geäußert.

Dazu kann ich nur sagen: Ihre Reaktion ist vollkom-
men unangemessen. Nicht das Genmaisverbot gefährdet
den Standort, sondern eine Orientierung auf eine globali-
sierte und energieintensive Landwirtschaft. Wir brau-
chen eben keine Laborpflanzen, die weltweit angebaut
werden können, sondern wir benötigen regional ange-
passte Sorten, um die Land- und Forstwirtschaft für die
Zukunft fit zu machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu brauchen wir beispielsweise eine intensive For-
schung im Bereich des Ökolandbaus und der Agroforst-
systeme. Das ist notwendig, und die Mehrheit der Men-
schen, auch in Bayern, wünscht sich das.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Der jetzt von Frau Schavan geplante runde Tisch aus
Wissenschaft und Industrie soll die Entscheidung wieder
zurückholen. Unterstützt wird sie sogar von der Bundes-
kanzlerin. Hier wird klar, wie hoch diese Entscheidung
aufgehängt ist.

Ich frage Sie: Warum akzeptieren Sie nicht den Wil-
len der Mehrheit der Bevölkerung? Warum sollen Men-
schen in Zukunft Lebensmittel essen, die sie nicht wol-
len? Sind Ihnen die Profite der Großkonzerne wichtiger
als Ihre Wählerinnen und Wähler? Diese Fragen müssen
Sie im Wahlkampf beantworten.


(Beifall bei der LINKEN)

Dann kommt noch das Argument Welthunger; wir ha-
ben es auch heute gehört.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)


Es ist einfach falsch. Gerade „Misereor“, „Brot für die
Welt“ und die Welternährungsorganisation


(René Röspel [SPD]: Evangelische Entwicklungshilfe!)


lehnen die Gentechnik als Mittel zur Linderung des
Welthungers ab. Ich halte das für sehr wichtig. Daran
können Sie einfach nicht vorbeigehen. Der Welthunger
muss durch eine Umverteilung in der Welt, durch eine
gerechte Weltwirtschaftsordnung unter Verhinderung
von Kriegen beendet werden


(Beifall bei der LINKEN)


und nicht durch patentierte Genpflanzen, die sich am an-
deren Ende des Kontinents niemand leisten kann und die
Menschen millionenfach in Schulden stürzen. Schauen
Sie sich an, wie viele Bauern sich in Indien deswegen
umgebracht haben!


(Zurufe von der FDP)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie schimpfen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706200

Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die

Zeit.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Oh ja! Bitte, bitte!)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706300

Ja. – Ich verstehe, dass ein Gerichtsverfahren mit ei-

nem Konzern wie Monsanto als Gegner nicht sehr schön
ist. Aber lassen Sie sich bitte nicht ins Bockshorn jagen.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Von Ihnen?)


Es ist sicher nicht sehr angenehm, wenn der deutsche
Botschafter in den USA vom US-Handelsbeauftragten
vorgeladen wird, um sich dort eine Kritik am Anbauver-
bot einzuhandeln. Trotzdem: Das Anbauverbot ist richtig
und wichtig.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706400

Und Ihre Redezeit ist abgelaufen.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Aber so was von abgelaufen!)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706500

Im Bundestag gäbe es eine Mehrheit für Ihren Antrag,

Herr Kelber.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706600

Das Wort hat der Kollege Axel Fischer für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit
Jahrhunderten ist die Menschheit in der Lage, immer
bessere Pferde zu züchten. Obwohl dies so ist, hat sich
im Bereich der Mobilität das Automobil durchgesetzt.


(René Röspel [SPD]: Dabei kommen auch Esel raus!)


Heute spielen deutsche Unternehmen auf dem Markt der
Mobilität im Bereich des Automobils noch eine führende
Rolle,


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Noch!)


und das ist auch gut so.

Wir debattieren heute aber nicht über das Thema Mo-
bilität, sondern über das Thema Ernährung. Wir alle ken-
nen die Debatten; sie wurden hier des Öfteren geführt.
Es gibt auf der einen Seite herkömmliches Saatgut, wie
man es meist nennt, das Bauern verwenden. Es wird ver-
sucht, einen Gegensatz aufzubauen, indem man sagt: die
schlimme Grüne Gentechnik. Ich sehe diesen Gegensatz
nicht so stark, wie er in dieser Debatte teilweise darge-
stellt wird.

Eine Tatsache können wir nicht vom Tisch wischen.
Es ist in der Tat so, dass durch gentechnisch veränderte
Pflanzen Produktivitätssteigerungen von um die 30 Pro-
zent möglich sind. Angesichts einer steigenden Weltbe-
völkerung – es werden bald 9 Milliarden Menschen sein –
ist dies auf jeden Fall eine Tatsache, die man nicht so
einfach vom Tisch wischen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein weiteres Argument, das man nicht einfach bei-
seite schieben kann, ist, dass bei gentechnisch veränder-
ten Pflanzen der Pflanzenschutz im Saatgut angelegt
wird. Wir sparen also eine Menge Pflanzenschutzmittel,
die sonst auf die Felder ausgebracht werden müssten;
auch das ist ein Vorteil.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie mal die Statistik gelesen? Das Gegenteil ist der Fall! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt gar nicht! Das ist falsch!)


Wir können die Gentechnik natürlich pauschal verteu-
feln – das hat die Bundesregierung übrigens nicht getan;
das muss man einmal deutlich sagen –, aber eigentlich
müssen wir sehen, wie die Entwicklung in der Welt wei-
tergeht.

Wenn wir uns die bevölkerungsreichsten Länder wie
China oder Indien anschauen, stellen wir fest, dass dort
massiv auf Gentechnik gesetzt wird. Damit ist völlig
klar: Wenn wir in hundert Jahren im Bereich der Welt-
ernährung beim Saatgut eine Rolle spielen wollen, dür-
fen wir die Forschung in diesem Bereich in Europa und
in Deutschland nicht ausblenden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Folge wäre, dass junge Forscher massenweise aus
Deutschland in andere Länder abwandern und dort for-
schen würden. Das kann nicht Sinn unserer Politik sein.

Übrigens: Niemand wird irgendjemanden zwingen,
gentechnisch verändertes Saatgut auszusäen.


(Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU])


Das ist eine freiwillige Entscheidung der Landwirte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie haben eine Ahnung von Natur, ja?)


Gerade vor diesem Hintergrund ist die Diskussion „Gen-
technisch verändertes gegen herkömmliches Saatgut“
völlig fehl am Platze.

Wir haben eine Verantwortung – auch eine weltweite
Verantwortung – gegenüber den Menschen.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, genau!)


Aus ihr können wir uns nicht davonstehlen. Tatsache ist,
dass jedes Jahr Hunderttausende von Kindern in Südost-
asien aufgrund Vitamin-A-Mangels ums Leben kommen
oder Behinderungen davontragen.


(René Röspel [SPD]: Unglaublich!)


Wir hätten die Möglichkeit, durch den Einsatz einer gen-
technisch veränderten Reissorte – ich meine den vitam-
inreichen sogenannten Golden Rice – zu helfen. Da
frage ich: Wer von Ihnen will die Verantwortung über-
nehmen, zu sagen: „Wir wollen das nicht; die toten und
behinderten Kinder sind uns egal“? Ich jedenfalls
möchte das nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Wie viel müssten die von dem Reis pro Tag essen?)


Eines ist klar: Wir müssen global denken und lokal
handeln. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland auch
weiterhin auf die Gentechnik setzt, zumindest in der For-
schung.

Wir müssen natürlich aufpassen, dass keine Missver-
ständnisse entstehen und dass uns aufgrund verschiede-
ner Entscheidungen nicht der Vorwurf des Protektionis-
mus gemacht werden kann.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)


Gerade in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage können
und sollten wir uns einen Handelskrieg, der allen Betei-
ligten nur Nachteile bringt, nicht leisten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706700

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Ulrike Höfken das Wort.






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621706800

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte

Frau Aigner! Herr Kollege Fischer, bei der Mobilität
nehmen Sie schon Rückgriff auf das 19. Jahrhundert. Ihr
Wissen tut das leider auch. Bei diesem Stand sollten Sie
nicht stehen bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ihnen von der SPD können wir übrigens helfen. Sie
brauchen nur Ihre Positionen in der Abstimmung über
unseren Antrag zum Ausdruck zu bringen.

Endlich ist der Wahnsinn des Genmais-Anbaus in
Deutschland gestoppt. Dieses Produkt bringt nur großen
Konzernen Gewinn und hängt allen anderen Gefahren
und Kosten an den Hals. Frau Happach-Kasan, stellt
man den maximal 500 Beschäftigten in der Agrogen-
branche – dies ergab eine Untersuchung der Universität
Oldenburg – die 150 000 Arbeitsplätze in der Biobran-
che gegenüber, sieht man, wo der Jobmotor brummt. Da-
her wäre es in der Krise das Allervernünftigste, hier den
Schlüssel umzudrehen und diese technologische Missge-
burt Agrogentechnik zu beenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es werden aber 165 Millionen Euro Steuergelder
jährlich in die Biotechnologieforschung gepumpt, davon
erhebliche Teile in die Agrogentechnik, während nur
rund 7 Millionen Euro für das Bundesprogramm Ökolo-
gischer Landbau zur Verfügung stehen.

Frau Schavan hat auch kein Unrechtsbewusstsein.
Vielmehr betreibt man zusätzlich noch Gehirnwäsche in
der Bildung und öffnet Monsanto, BASF und Bayer als
Ersatzlehrern die Schultore für ihre Biotech-Mobile.
Nachtigall, ick hör dir trapsen!

Ich war gestern in Mecklenburg-Vorpommern. Dort
kann man sehen – genauso wie in Sachsen-Anhalt, wo
der ehemalige Ministerpräsident Kronzeuge dafür ist –,
welche Mittel in diesem Zusammenhang verschwendet
werden. Gerade die neuen Bundesländer leiden hier un-
ter erheblichen Ausgaben.

Zu dieser immensen Verschwendung von Steuermit-
teln für eine völlig überholte Technologie werden Ver-
brauchern, Landwirten und Verarbeitern mit der Koexis-
tenzlüge noch unglaubliche Kosten und eine immense
Bürokratie aufgebürdet. Man braucht sich nur einmal
den Schadensbericht Gentechnik des Bundes Ökologi-
sche Lebensmittelwirtschaft anzuschauen, aus dem her-
vorgeht, dass allein pro Molkerei jährlich 20 000 Euro
plus 200 000 Euro Investitionskosten anfallen, um zu er-
kennen, welcher Irrsinn das ist.

Ministerin Aigner hat die Forderungen, die die Mehr-
heit der Menschen in Deutschland mit starkem Nach-
druck gestellt haben, jetzt erfüllt. Das ist ein großer Er-
folg der Demokratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wissen, dass es kaum die eigene Überzeugung war,
sondern die Angst vor einer Abstrafung bei den bevor-
stehenden Wahlen wie Europawahl und Bundestags-
wahl. Zu kritisieren ist nicht das Verbot des Anbaus von
Genmais, sondern die Unglaubwürdigkeit der CDU/
CSU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Deutschen Bundestag können wir täglich die Dop-
pelzüngigkeit der Union erleben: bei den Reden – besser
gesagt: bei den Nicht-Reden; gibt es hier eigentlich ir-
gendein Mittel gegen Arbeitsverweigerung? – und bei
ihrem Abstimmungsverhalten. Auch im Landwirt-
schaftsausschuss wird das deutlich. Dort erheben die
Abgeordneten der CDU/CSU einerseits die Wissen-
schaft zum Dogma.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Für Dogmen ist der Papst zuständig!)


Andererseits werden renommierteste Wissenschaftlerin-
nen wie Professor Dr. Jessel, Präsidentin des Bundesam-
tes für Naturschutz, oder Frau Dr. Tappeser, die gerade
als eine von drei europäischen Expertinnen in ein hoch-
rangiges Expertengremium vom Sekretariat der CBD be-
rufen wurde, heruntergemacht wie Schulmädchen. Wenn
die Aussagen dieser Expertinnen nicht ideologiekonform
im Sinne der Agrogengläubigen der CDU/CSU sind,
wird ihnen explizit die wissenschaftliche Reputation ab-
gesprochen.

Landes- und Bundesminister der Union werden als
Wahltaktiker bezeichnet, wenn sie solchen Haltungen
folgen. So erklärte Peter Bleser im Deutschlandfunk, mit
dem, was Frau Aigner jetzt praktiziere, werde eine Zu-
kunftstechnologie in Deutschland verhindert.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hat er so nicht gesagt!)


Man muss auch einmal Folgendes deutlich machen:
Sie von der CDU wollen den Menschen verkaufen, dass
es der Gesundheit förderlich ist, einen gifthaltigen Mais
zu essen.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


Gegen eine solche Meinung hilft schlichtweg gesunder
Menschenverstand – und vielleicht auch das richtige
Kreuz bei den Wahlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sollte die CDU/CSU es wagen, nach den Wahltagen
im Juni und im September wieder zum Kniefall vor den
Agrokonzernen wie BASF und Monsanto zurückzukeh-
ren und weiter Millionen- und Milliardensummen in
diese Technologie zu investieren, dann wird es, gerade
nach dem, was abgelaufen ist, einen Aufstand geben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh! Die Pazifistenpartei spricht!)







(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Höfken
Es wird eine ganz andere Form der Bauernbefreiung ge-
ben, nämlich die Befreiung von Genheuschrecken und
ihren parlamentarischen Helfern.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sind die Heuschrecken gentechnisch verändert?)


Es müssen Taten folgen. Deutschland muss eine gen-
technikfreie Zone werden. Es darf nicht wie bei der
Echternacher Springprozession verfahren werden: zwei
Schritte vor und einer zurück.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621706900

Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1621707000

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Die SPD hat das MON-810-Verbot öf-
fentlich begrüßt; denn wir hatten bereits mehrfach auf
ein Verbot gedrungen und damit auch die Einhaltung des
Koalitionsvertrags eingefordert. Dort heißt es – ich zi-
tiere –:

Der Schutz von Mensch und Umwelt bleibt, ent-
sprechend dem Vorsorgegrundsatz, oberstes Ziel
des deutschen Gentechnikrechts.

Auch Frau Aigner hat zuvor darauf hingewiesen.

Bereits in seiner Verfügung vom 27. April 2007 sah
das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittel-
sicherheit BVL – Zitat – „berechtigten Grund zu der An-
nahme, dass der Anbau von MON 810 eine Gefahr für
die Umwelt darstellt“.


(Beifall bei der SPD)


Es ordnete zwar das Ruhen der Inverkehrbringensgeneh-
migung an. Aber im Dezember 2007 wurde MON 810
wieder zugelassen. Wir, die SPD, haben diese Entschei-
dung kritisiert; denn die Zweifel an der Unbedenklich-
keit für Umwelt und Gesundheit sind bis heute nicht aus-
geräumt.

Das nun von Ministerin Aigner ausgesprochene Ver-
bot ist die längst überfällige Konsequenz daraus. Ich
danke Frau Aigner für diese Entscheidung. Auch im Na-
men der SPD-Fraktion – Herr Kelber hat es ebenfalls an-
gesprochen – sichere ich Ihnen unsere Unterstützung zu;
denn der Vorsorgegrundsatz muss für uns alle Priorität
haben.


(Beifall bei der SPD)


Dafür müssen wir einstehen, auch dann, wenn es Gegen-
wind gibt. Wo bleibt die Unterstützung der CDU/CSU-
Fraktion? Beim Koalitionspartner herrscht Durcheinan-
der, nicht nur beim Thema MON 810, sondern auch
beim Thema Amflora-Kartoffel.
Wir halten einen Stopp des Versuchsanbaus für gebo-
ten, da das Austragsrisiko offensichtlich nicht so gering
ist, wie es häufig dargestellt wird. Nicht Pollenflug und
Vermehrung sind hier das Problem, sondern der Durch-
wuchs. Zwischen 10 000 und 30 000 Kartoffelknollen
– falls Sie das noch nicht wussten – können auf dem
Acker verbleiben, weil sie von der Erntemaschine nicht
erfasst werden. Davon kann ein Teil den Winter überste-
hen, im nächsten Jahr keimen und unkontrolliert durch-
wachsen. Das ließ sich 2008 im Süden von Mecklenburg
beobachten. Dort kam es zu einem Amflora-Durch-
wuchs auf einem ehemaligen Versuchsfeld in der Nähe
von Zepkow, obwohl der Versuch 2007 beendet worden
war. Solange die unkontrollierte Verbreitung nicht aus-
geschlossen werden kann, befürworten wir ein Verbot
des Versuchsanbaus. Minister Gabriel hat bereits öffent-
lich seine Unterstützung zugesagt.

Wo aber steht die CDU/CSU-Fraktion? Es ist nicht
einfach, mit so einem Durcheinander beim Koalitions-
partner politisch etwas auf den Weg zu bringen. Die
CSU positioniert sich in Bayern anders als in Berlin:
Während in München das Verbot der Grünen Gentechnik
plötzlich ein Gebot der Ethik ist,


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


wird der Einsatz in Berlin unterstützt. Während die CSU
in München Verbindlichkeit für gentechnikfreie Regio-
nen fordert, verweigert sie in Berlin unseren Anträgen
zur Umsetzung dieser Forderungen die Zustimmung. So
kann man nicht arbeiten. So kann man nicht mit Bürge-
rinnen und Bürgern umgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen einen klaren Kurs in Sachen Gentech-
nik. Das Thema ist den Menschen viel zu wichtig, als
dass sich Deutschland bei jeder Entscheidung auf EU-
Ebene enthalten kann, weil sich die CDU/CSU-geführ-
ten Ministerien auf keine Linie einigen können. Das ist
heute schon mehrfach angesprochen worden.

Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen die Grüne
Gentechnik ab. Das hat erneut eine von Emnid durchge-
führte Umfrage in Bayern gezeigt. Danach fordern
72 Prozent der bayerischen Bevölkerung – ich betone:
der bayerischen Bevölkerung – und sogar 76 Prozent der
CSU-Wähler ein MON-810-Verbot. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, sogar 59 Prozent der FDP-
Wähler in Bayern schließen sich dieser Forderung an.


(Zurufe von der SPD: Ah!)


Das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben und endlich
den Weg für einen klaren Kurs in Sachen Grüne Gen-
technik freimachen.

Ich nenne noch einmal einige wichtige Punkte: Ver-
braucherinnen und Verbrauchern dürfen keine gentech-
nisch veränderten Produkte aufgezwungen werden. Wir
brauchen deshalb auf EU-Ebene die Schließung der
Kennzeichnungslücke bei tierischen Produkten. Auf na-
tionaler Ebene müssen wir endlich die bereits verein-
barte Informationskampagne zur Kennzeichnung „Ohne
Gentechnik“ starten, zum Beispiel mit einem einheitli-






(A) (C)



(B) (D)


Elvira Drobinski-Weiß
chen Logo. Gentechnikfreie Regionen brauchen Rechts-
sicherheit und Verbindlichkeit; denn nach derzeitigem
Recht können sie durch die Entscheidung einzelner
Grundstücksbesitzer gefährdet werden, indem einzelne
Parzellen mit gentechnisch veränderten Pflanzen bestellt
werden.

Ich könnte diese Liste fortführen, aber meine Rede-
zeit geht zu Ende. Mit dem MON-810-Verbot ist der An-
fang gemacht. Wir begrüßen das sehr. Ich fordere unse-
ren Koalitionspartner auf, die Ministerin auf diesem Weg
und diesen Weg überhaupt zu unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621707100

Das Wort hat nun der Kollege Johannes Röring für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Röring (CDU):
Rede ID: ID1621707200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

sich inhaltlich mit dem Thema der heutigen Aktuellen
Stunde beschäftigt, kommt man schnell zu dem Schluss
– das haben die Redner Künast, Höfken und andere ein-
deutig bestätigt –, dass es gar nicht um das Thema
MON 810 geht, sondern zum wiederholten Male um das
Grundsatzthema Gentechnik.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht!)


Frau Kollegin Drobinski-Weiß, Sicherheit für Mensch
und Umwelt ist ein Aspekt bei der Zulassung jeglicher
gentechnisch veränderten Sorten.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Genau!)


Bei der jetzigen Debatte geht es um eventuell neue Er-
kenntnisse. Insofern diskutieren wir seitens der Union
über dieses Thema.

Diese Thematik war für die Grünen seit ihrer Grün-
dung ein rotes Tuch. Es geht um ein Zukunftsfeld, um
eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, die den
Menschen schon heute in vielen Lebensbereichen hilft
und Probleme löst.


(Dr. Max Lehmer [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Thematik wird von einer Partei, die sich auf ihre
Fahne geschrieben hat, Verantwortung für die Generatio-
nen zu übernehmen, seit Jahren bekämpft. Es wird ideo-
logisch, reißerisch und populistisch argumentiert, anstatt
wissenschaftlich an die Sache heranzugehen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie über Seehofer oder über Künast?)


Ich bin schon der Meinung, dass die Bevölkerung auf-
geklärt und informiert werden muss und nicht getäuscht
und verängstigt werden darf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. René Röspel [SPD])

Aus diesem Grunde hat sich die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion beim Gentechnikrecht stets dafür eingesetzt,
dass bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln Wahr-
heit und Klarheit herrschen. Eine Kennzeichnung ist
Grundlage für Transparenz und Voraussetzung für die
volle Wahlfreiheit. Herr Kelber, mit der aktuellen Kenn-
zeichnung „Ohne Gentechnik“ ist es meines Erachtens
nicht möglich, das Ziel einer umfassenden, vollständigen
Kennzeichnung zu gewährleisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das meinen außer Ihnen nur die Gentechnikverbände! Die Verbraucher sind anderer Meinung! Interessant!)


Die volle Wahlfreiheit der Verbraucher wird dadurch
nicht gewährleistet. Ich plädiere weiterhin dafür, dass
wir eine volle und ehrliche Kennzeichnung vornehmen,
indem wir eine Prozesskennzeichnung vornehmen. Al-
les, was im Prozess mit Gentechnik zu tun hat, sollten
wir kennzeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist so unehrlich, was Sie da gerade machen! – Gegenruf des Abg. Kurt Segner [CDU/CSU]: Nein, das ist die Wahrheit! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann schreiben wir aber auch jedes Pestizid drauf, okay?)


Auch beim Biokäse ist Gentechnik im Spiel, Frau
Künast. Wir sollten das kennzeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist doch überhaupt nicht wahr! – Ulrich Kelber [SPD]: Ist Ihnen das in Saarlouis aufgeschrieben worden? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Pestizid-Kennzeichnung! CO2-Bilanz! Immer drauf auf den Käse!)


Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass man sich
mit dem Thema Gentechnik unkritisch auseinandersetzt.
Natürlich muss man sich stets mit den Risiken dieser Zu-
kunftstechnologie auseinandersetzen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangen Sie einmal damit an!)


Deshalb müssen wir die Forschung unterstützen.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weihnachtssterne zum Beispiel!)


Ich bin froh, dass das BMELV und das Forschungs-
ministerium in den nächsten fünf Jahren Projekte der
Bioenergie-, Agrar- und Ernährungsforschung an Hoch-
schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun-
gen unterstützen und hierfür 200 Millionen Euro ausge-
ben. Der Grünen Gentechnik wird in diesem Rahmen
viel Platz eingeräumt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßend diese Debatte mit der über den Bildungsbericht der
Bundesregierung, über den wir heute Morgen gespro-
chen haben, verknüpfen. Wir haben heute Morgen ge-
hört, dass Bildung und Ausbildung für die zukünftige
Entwicklung des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft






(A) (C)



(B) (D)


Johannes Röring
entscheidend sind. Deshalb bereitet es mir Sorgen, dass
durch die Art und Weise dieser Debatte – Herr Kelber,
Frau Künast, Sie haben ein Beispiel dafür gegeben – fal-
sche Signale an junge Menschen gesendet werden, die
zur Folge haben, dass sie sich nicht mit diesen Zukunfts-
themen befassen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Zukunftsthema!)


sondern sich davon abwenden. Wir müssen bei jungen
Menschen in der Schule, in der Ausbildung die Neugier
für das weltweite Zukunftsthema Biotechnologie we-
cken, damit sie erkennen, dass dies ein wichtiges Feld
ist. Wir müssen junge Menschen für die Zukunftsthemen
begeistern;


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lenken sie davon noch ab!)


denn nur dadurch können wir besonders bei uns in
Deutschland Lösungen für die Herausforderungen von
morgen finden. Dafür steht die Union.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621707300

Das Wort hat nun Kollege René Röspel für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1621707400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Eigentlich wollte ich nichts zu dem Thema sa-
gen, weil ich glaube, dass wir uns in den letzten Jahren
genug dazu ausgetauscht haben. Trotzdem muss ich es
sagen: Ich finde es unerträglich, wie einige von Ihnen
hier die Not anderer Menschen und den Welthunger zu
ihren Zwecken instrumentalisieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Nehmen Sie es zur Kenntnis! Der ursprünglich in Indien
angebaute braune geschälte Reis stellte genügend Vita-
mine zur Verfügung. Er ist vom westlichen geschälten
vitaminarmen weißen Reis verdrängt worden. Jetzt mit
westlicher Technologie zu kommen und zu sagen, dass
man den Menschen auch noch den gentechnisch verän-
derten weißen Reis geben möchte, um damit deren Pro-
bleme zu lösen, ist der völlig falsche Ansatz und dient
der Sache insgesamt nicht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])


Ich möchte wieder zum Thema kommen. Frau Minis-
terin Aigner hat am 14. April dieses Jahres den Genmais
MON 810 – man könnte ihn auch Seehofer 1 nennen –
verboten. Am 17. April hat das zuständige Bundesamt
für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit den
Bescheid an Monsanto herausgegeben, in dem die Be-
gründung für dieses Verfahren nachzuvollziehen ist. Sie
erlauben mir, dass ich einige der Begründungen nenne
– sie sind übrigens jeweils wissenschaftlich belegt, und
entsprechende Literaturquellen sind angegeben –: Die
verfügbaren Daten zeigen eine Langzeitbelastung durch
das Toxin auf Nichtzielorganismen, also Nichtschäd-
linge. Der Polleneintrag sei wesentlich höher als ange-
nommen. Das Bt-Protein im Pollen werde durch UV-
Strahlung nicht angegriffen. Dies wird in einer Arbeit
von 2007 ausgeführt. In schon länger bekannten Arbei-
ten von 1998 und 2001 ist von der Verfügbarkeit dieses
Proteins über 200 Tage im Boden die Rede. Beträchtli-
che Mengen des Toxins, des Giftes aus dem Genmais,
werden im Wasser und Sediment mitgeführt. Dies steht
in Arbeiten von 2007. In weiteren Arbeiten von 2007
steht, dass nicht nur der Maiszünsler, der Schädling, son-
dern weitere Schmetterlingsarten betroffen sind. Das Bt-
Protein werde durch Pollen mehr als 2 Kilometer in die
Umgebung hineingetragen. Ältere Arbeiten von 1999
zeigen, dass Nichtzielorganismen weiterhin geschädigt
werden. So viel zur wissenschaftlichen Begleitung des
Ganzen. Die neueste Arbeit zeigt, dass auch Maikäfer
eine signifikant erhöhte Sterblichkeit aufweisen.

Diese Arbeiten haben zu dem Schluss geführt – so
steht es in dem Bescheid –, dass aufgrund der neuen und
zusätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse berechtig-
ter Grund zu der Annahme besteht, dass der Anbau von
MON 810 eine Gefahr für die Umwelt darstellt. Frau
Ministerin, ich glaube, Sie haben Ihre Schlussfolgerung,
dass der Genmais verboten werden muss, auf begründe-
ter Basis gezogen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Einige der Arbeiten kenne ich seit längerer Zeit. An-
dere habe ich in der Kürze der Zeit nicht lesen können.
Man kann sie kritisch betrachten; das ist richtig. Ich er-
warte von kritischer Forschung und wissenschaftlicher
Arbeit, dass man Publikationen kritisch betrachtet.

Ich habe vor einigen Jahren einmal die Situation der
zwei Stapel beschrieben: Auf der einen Seite wächst die
Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten, in denen die
Grüne Gentechnik sehr kritisch beurteilt wird. Auf der
anderen Seite wächst der Stapel der Arbeiten, in denen
es heißt: Die Grüne Gentechnik ist unbedenklich, und es
gibt keine Hinweise auf das Gegenteil.

Die Frage ist, wie man sich in einer solchen Situation,
in der es ein Fragezeichen gibt, entscheidet. Ich glaube,
man muss tatsächlich beide Stapel betrachten. Am
16. April dieses Jahres ist eine gemeinsame Erklärung
der Wissenschaftsorganisationen zur Grünen Gentechnik
veröffentlicht worden. Darin wird von Frau Aigner eine
vorurteilsfreie Untersuchung von Sicherheitsfragen und
möglichen Risiken gefordert. Das kann ich ausdrücklich
unterstreichen. Das bedeutet aber, dass man sich tatsäch-
lich mit beiden Stapeln befassen muss.

Wenn man diese Forderung erhebt und dabei mit dem
Finger auf andere zeigt, dann weisen nach Gustav
Heinemann immer drei Finger auf einen selbst zurück.






(A) (C)



(B) (D)


René Röspel
Ich kann nicht verstehen, dass es in dieser gemeinsamen
Erklärung der Wissenschaftsorganisationen, die übrigens
auch vom Deutschen Akademischen Austauschdienst
und von der Hochschulrektorenkonferenz als Experten für
Grüne Gentechnologie unterzeichnet ist, heißt – Zitat –:

Nie haben entsprechende Untersuchungen fundierte
Ergebnisse erbracht, die eine Abkehr von dieser
Technologie auch nur entfernt nahe legen könnten.


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Recht haben sie!)


Das haben die Wissenschaftsorganisationen am
16. April dieses Jahres geschrieben, zwei Tage nachdem
Frau Aigner das Genmaisverbot ausgesprochen hat und
einen Tag bevor in dem Bescheid die Begründung gelie-
fert wurde. Ich muss schon sagen: Wer vorurteilsfreie
Untersuchungen verlangt, der muss sie auch selbst an
den Tag legen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Wissenschaftsgemeinschaft hat sich damit keinen
Gefallen getan.

Ich sehe dieses Vorgehen auch in anderer Hinsicht mit
Sorge: Was mögen all diejenigen Forscher und Wissen-
schaftler empfinden, die nicht unterstützt von der ent-
sprechenden Industrie Forschungen betreiben, wenn ihre
eigenen Wissenschaftsorganisationen mit einer solchen
Erklärung gegen ihre Arbeit vorgehen?


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kennen die schon!)


Ich glaube, dass die Entscheidung richtig ist. Was
mich allerdings wundert, ist die Uneinigkeit innerhalb
der Bundesregierung. Der Vorschlag von Frau Ministerin
Schavan – sie ist jetzt leider nicht hier –, einen runden
Tisch einzurichten, ist gut; ein runder Tisch ist immer
gut. Aber dieser Vorschlag kommt ein bisschen spät. Ich
hätte erwartet, dass sich die beiden aus einer Fraktion
stammenden Ministerinnen, die für Verbraucherschutz
und für Forschung zuständig sind, abstimmen und aus-
tauschen. Wenn das BMBF diese Entscheidung jetzt kri-
tisiert, hat es auch die Verpflichtung, die wissenschaftli-
chen Belege nachzureichen.

Ich denke, es gibt einen politischen Grund, warum so
verfahren worden ist: den Zeitpunkt. Der Zeitpunkt ist in
der Tat zu bemängeln. Ich glaube, in Bayern brennt die
Bude. Der CSU schwimmen die Felle davon.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Jetzt wird mit großem Populismus versucht, darauf zu
reagieren. Ich habe eine ähnliche Situation in Nordrhein-
Westfalen erlebt. Wir Sozialdemokraten haben immer
geglaubt, wir würden in Nordrhein-Westfalen ewig re-
gieren.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Das, was Sie tun, sind die ersten Anzeichen. Das darf
sich nicht auf die Bundesregierung auswirken. Ich for-
dere die Kanzlerin ausdrücklich auf, den Konflikt zwi-
schen BMBF und BMELV endlich zu lösen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621707500

Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1621707600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pflan-

zenbiotechnologie und mit ihr die Grüne Gentechnik
wurden von allen Bundesregierungen von Anfang an
gefördert. Das klare Bekenntnis hierzu war stets unab-
hängig davon, von welcher Partei das Bundesfor-
schungsministerium geleitet wurde. Heute ist die Grüne
Gentechnik Teil der Hightech-Strategie, die innerhalb
der Bundesregierung mit allen Ressorts abgestimmt ist.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat im Auftrag
des Parlaments mehrfach ihre Zukunftschancen unter-
sucht. Über die große Bedeutung der Forschung und die
Erhaltung von Zukunftsoptionen in diesem Bereich be-
steht ganz klar Einigkeit.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
investiert im Zeitraum 2006 bis 2011 rund 100 Millionen
Euro in die Pflanzengenomforschung. Die Grüne Gen-
technik hat eine enorme Bedeutung für Gesundheit, Er-
nährung und Schädlingsbekämpfung. Wissenschaftler
forschen zum Beispiel an Pflanzen, die pharmazeutische
Wirkstoffe herstellen. Man hofft, auch die tödliche Cho-
lera – jedes Jahr sterben 3 Millionen Kinder an dieser
Krankheit – mithilfe eines essbaren Impfstoffes in den
Entwicklungsländern auszurotten.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? Was erzählen Sie denn da? Haben Sie gerade wirklich von einem „essbaren Impfstoff“ gesprochen?)


Die hierzu durchgeführten Tierversuche sind sehr erfolg-
reich.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Natürlich!)


Meine Damen und Herren, die Entscheidung, ob die
Menschheit die Grüne Biotechnologie braucht, steht den
im Wohlstand lebenden Europäern und damit auch den
Deutschen nicht zu. Die Weltbevölkerung wird in den
kommenden Jahren von 6,8 Milliarden auf 9 Milliarden
Menschen anwachsen. Im Hinblick auf die Sorgen und
Nöte, die große Teile der Weltbevölkerung umtreiben,
wäre es unverantwortlich, Möglichkeiten zur Lösung der
Probleme auszuschlagen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst die UN sagen, dass das Quatsch ist, dass das mit der Gentechnik nicht geht!)


Es wäre zutiefst unmoralisch, dies zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Michael Kretschmer
So ist es notwendig, Kulturpflanzen weiter an den Kli-
mawandel anzupassen. Experten rechnen mit Wetterex-
tremen, mit Fluten, mit Hitze und mit Dürren.

Erst im März warnte die UNESCO vor akuter Wasser-
knappheit. Bereits heute werden 70 Prozent des Süßwas-
serverbrauchs in der Landwirtschaft eingesetzt. Gleich-
zeitig prognostiziert die Welternährungsorganisation,
dass die Erträge von Weizen, Mais, Kartoffeln und Reis,
also der Grundnahrungsmittel, bis zum Jahr 2050 ver-
doppelt werden müssen, um die wachsende Weltbevöl-
kerung zu ernähren. Dabei wissen wir schon heute, dass
sich Städte auf Kosten verfügbarer Ackerflächen aus-
dehnen werden. Das heißt, wir müssen in Zukunft auf
weniger Land die Erträge verdoppeln und dabei gleich-
zeitig Wasser sparen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann die Gentechnik nicht!)


Das wird ohne die Anwendung der Grünen Gentechnik
nicht funktionieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, eben nicht! – Ulrich Kelber [SPD]: Schreiben Sie alles ab, was man Ihnen zuschickt?)


Gleichzeitig müssen wir den Umweltschutz im Auge
behalten. In China konnte, indem man Gentechnik ver-
wendet hat, der Einsatz von Pestiziden um 80 Prozent re-
duziert werden. Das ist ein Signal, dass es in die richtige
Richtung geht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Potenziale der Grünen
Gentechnologie sind enorm. Sie werden uns bei der Lö-
sung der Zukunftsprobleme helfen. Aus diesem Grund
bekennt sich die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bun-
destag ganz klar zur Forschung auf diesem Feld in
Deutschland


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Und was ist mit der Anwendung?)


und auch zur Anwendung dieser Technologie in
Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP] – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Weiß das Frau Ministerin Aigner?)


Wir wollen dem, dass ständig ein Dämon an die Wand
gemalt und das Klima in diesem Land auch in diesem
Bereich verdorben wird, ein Ende machen. Was ist das
für eine Stimmung, in der zwischen unkritischen Heils-
versprechen und absoluten Verbotsforderungen, wie wir
sie heute gehört haben, kein Platz ist? Wie soll diese Ge-
sellschaft, die, um ihren Wohlstand zu erhalten, auf In-
novationen angewiesen ist, existieren, wenn mit Innova-
tionen so umgegangen wird? Meine Damen und Herren,
wir müssen nicht unkritischer, sondern wir müssen
unideologischer werden, gerade auf diesem Feld.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir tun eine ganze Menge: Von 2006 bis 2011 geben
wir 40 Millionen Euro für die Sicherheitsforschung aus.
Es ist richtig und wichtig, dass in diesem Bereich mit
Augenmaß vorgegangen wird. Wir sagen den Bauern
und unseren Wissenschaftlern aber ganz klar: Wir wol-
len diese Technologie, und wir wollen sie vorantreiben.
Diejenigen, die damit arbeiten, sollen ein gutes Gefühl
dabei haben. Das sage ich denen, die in Golm, in Gaters-
leben oder in Weihenstephan arbeiten und für uns diese
Technologie vorangebracht haben, mit Ergebnissen, mit
denen wir uns auch im weltweiten Vergleich sehen las-
sen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621707700

Das Wort hat nun Wolfgang Wodarg für die SPD-

Fraktion.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1621707800

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben die politischen Argumente ausgetauscht. Ich
bedanke mich, dass die Kollegen aus meiner Fraktion so
systematisch und verantwortungsbewusst mit dieser
Thematik umgehen.

Ich möchte etwas ergänzen, eine Beobachtung, die
mir bei dieser Diskussion ganz deutlich geworden ist.
Wenn wir über Gentechnik reden, setzen wir uns mit der
molekularen Sicht der Welt auseinander. Die Gentechni-
ker schauen sich die Moleküle an, versuchen, im Detail
zu studieren, wie die Dinge funktionieren, und hier et-
was zu verändern. Es gibt aber noch eine andere Sicht,
nämlich die auf ganze Ökosysteme. Wenn man diese bei-
den Sichten nicht nebeneinanderhält, wenn man die öko-
systemale Sicht, die natürlich viel aussagekräftiger, viel
wichtiger ist, nicht berücksichtigt, dann handelt man
falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansMichael Goldmann [FDP]: Das ist doch kein Gegensatz, Herr Kollege!)


– Doch. Wir leiden derzeit unter dem Primat der Kurz-
sichtigkeit in der Agrowissenschaft. Dort herrschen die
Molekularwissenschaftler. Fachidioten bestimmen, was
gemacht werden soll, weil sie sich davon neue Märkte
versprechen.

Es ist natürlich viel komplizierter, zu berücksichtigen,
dass Pflanzen, Tiere und Menschen auf diesem Globus
produktiv miteinander auskommen müssen. Hier muss
man zunächst einmal beobachten, wie sich diese Pflan-
zen auf die Tiere auswirken, die dort leben, wo man neue
Pflanzen anbaut. Da ist es schon schlimm genug, dass
wir überhaupt Agroindustrien zulassen, die riesige Flä-
chen mit ein und derselben Pflanze bebauen. Dies führt
nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Menschen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Wodarg
– zum Beispiel jene, die auf dieser Fläche vorher ihre
Existenz gehabt haben – zu gewaltigen Veränderungen.

Ich bin Entwicklungspolitiker und sehe, was in den
Ländern der Dritten Welt, den ärmeren Ländern passiert,
in denen gerade diese Konzerne die Politiker bestochen
haben –


(René Röspel [SPD]: Nicht von unserer Fraktion!)


das ist ja von einem Gericht bestätigt worden; Monsanto
ist für ein solches Verhalten bestraft worden –, damit
dort flächendeckend gentechnisch veränderte Pflanzen
angebaut werden konnten. Dort gehen Arbeitsplätze und
die Existenzgrundlagen armer Menschen verloren, was
dazu führt, dass die Menschen verhungern. Diese Men-
schen, die dort von Aktiengesellschaften verdrängt wor-
den sind, wollen Sie wieder ernähren. Das hört sich wie
eine mildtätige Gabe an. Diese Menschen haben aber ein
Recht, ihr Land zu nutzen, und sie haben ein Recht auf
Techniken, die sie handeln können. Wenn wir etwas ge-
gen den Hunger in der Welt tun wollen, dann müssen wir
Kleinbauerninitiativen fördern und dafür sorgen, dass
die Menschen ihre Nahrungsmittel selbst herstellen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen ihnen Genossenschaftsformen ermöglichen,
in deren Rahmen sie gemeinsam das tun können, was in
ihrer Region möglich ist. Daher dürfen wir ihnen diese
Technik nicht überstülpen.


(René Röspel [SPD]: Liberalismus pur!)


Genau das passiert dort aber.

Wenn ich dann höre, was Frau Happach-Kasan heute
hier gesagt hat – ich nenne sie die Botschafterin der Gen-
heuschrecken –, dann kann ich das nur als fürchterlich
bezeichnen. Sie hat versucht, bei uns ein schlechtes Ge-
wissen zu erzeugen, indem sie wie die Marketingstrate-
gen von Monsanto geredet hat. Was Sie hier geredet ha-
ben, Frau Happach-Kasan, ist unerträglich.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sagen nicht nur die Unwahrheit, sondern Sie bemü-
hen sich auch nicht um die Details. Was Sie gesagt ha-
ben, war kaum auszuhalten. Da Sie auch von Sicherheit
gesprochen haben, erinnere ich daran, dass Sie der Frak-
tion angehören, die im Zusammenhang mit der Deregu-
lierung des Finanzmarktes immer von Sicherheit geredet
hat.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD – René Röspel [SPD]: Und der Energiemärkte! – Widerspruch des Abg. HansMichael Goldmann [FDP])


Jetzt sagen Sie auch über diesen Bereich, in dem eine
vergleichbare Unverantwortlichkeit herrscht und die
Welt durch einige ins Elend getrieben wird, die mithilfe
ihrer Patente ihre Monopole verteidigen, die Sicherheit
sei doch gegeben.

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Merken Sie eigentlich, was Sie für einen Unsinn reden?)


Sie wissen genau, dass diese Firmen Wissenschaftler
kaufen und dass wissenschaftliche Befunde ausgesucht
und uns präsentiert werden, bei denen viel Lug und Trug
im Spiele ist. Dies ist mit ethischen Prinzipien weder der
Wirtschaft noch der Forschung noch der Politik zu ver-
treten.

Von daher haben wir Grund, uns bei Frau Aigner zu
bedanken, dass sie ihre Entscheidung noch rechtzeitig
getroffen hat. Aus vollem Herzen sage ich herzlichen
Dank, dass Sie es gemacht haben.


(Beifall bei der SPD)


Ich hoffe, dass uns dies Zeit verschafft, um auch in der
gesamten CDU/CSU-Fraktion einen Nachdenkprozess
voranzubringen. Allerdings habe ich wenig Hoffnung,
wenn ich die hier vertretenen Kollegen sehe.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Man soll die Hoffnung nie aufgeben!)


Aber es gibt ja noch andere, die den Kleinbauern und
den Verbrauchern näher sind, welche in ihrer überwie-
genden Mehrzahl diese Technologie ablehnen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621707900

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Unterrichtung durch den Wehr-
beauftragten

Jahresbericht 2008 (50. Bericht)


– Drucksache 16/12200 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehr-
beauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold
Robbe, das Wort.

Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Soldaten auf der Zuschauer-
tribüne! 2009 ist ein Jubiläumsjahr, wie wir alle wissen.
In wenigen Wochen feiern wir das 60-jährige Bestehen
unserer Republik. Der Jahresbericht 2008, der heute zum
ersten Mal – dankenswerterweise schon heute – im Ple-
num beraten wird, ist mein vierter Tätigkeitsbericht. Er
ist zugleich der 50. Jahresbericht eines Wehrbeauftrag-






(A) (C)



(B) (D)


Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
ten. Das ist, wie ich meine, Grund genug, nicht nur das
letzte Jahr zu betrachten, sondern auch die Frage aufzu-
werfen: Wie ist es im Jubiläumsjahr unserer Republik
um die Parlamentsarmee Bundeswehr bestellt?

Oder anders gefragt: Ist die Bundeswehr heute, im
Jahre 2009, eine moderne Armee? Ist sie so aufgestellt,
dass sie die Erwartungen gerade jener jungen Menschen
erfüllt, die heute überlegen, den Soldatenberuf zu wäh-
len? Wird sie den hohen Ansprüchen der Inneren Füh-
rung gerecht, und kann sie die Anforderungen an eine
moderne Armee im Einsatz wirklich erfüllen?

Mit dem vorgelegten Bericht versuchte ich, aufzuzei-
gen, welche Antworten die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr darauf geben und wie diese Antworten aus
meiner Sicht zu bewerten sind.

Auftrag und Struktur der Bundeswehr haben nach
dem Ende des Kalten Krieges einen einzigartigen Wan-
del erfahren. Die Beteiligung an internationalen Einsät-
zen zur Krisenbewältigung und Konfliktprävention hat
den ursprünglichen Auftrag der Landes- und Bündnis-
verteidigung ein wenig in den Hintergrund treten lassen.
Landes- und Bündnisverteidigung sind aber nach wie
vor das entscheidende Argument zur Begründung unse-
rer Wehrpflicht.

Dabei geht es nicht nur um die Verteidigung des
Rechts und der Freiheit des deutschen Volkes. Nach
Art. 5 des Nordatlantikvertrages sind, wie wir alle wis-
sen, alle Bündnispartner im Falle eines Angriffs zum ge-
genseitigen Beistand verpflichtet. Diese gegenseitige
Beistandspflicht ist aus meiner Sicht weiterhin die zen-
trale politische Ratio des Bündnisses. Sie bleibt die
Grundlage für Sicherheit und für Stabilität in den
NATO-Mitgliedstaaten. Das sollten wir nicht vergessen,
wenn wir über den Auftrag und die Struktur der Streit-
kräfte diskutieren.

Seit Mitte der 90er-Jahre ist die Bundeswehr konti-
nuierlich und konsequent auf die Beteiligung an inter-
nationalen Einsätzen ausgerichtet worden. Durch die
Halbierung ihres Umfangs, ihre Umstrukturierung, die
Schaffung zweier neuer, selbstständiger Organisations-
bereiche und die Übertragung der Verantwortung für die
Einsätze auf den Generalinspekteur wird dieser Weg ge-
kennzeichnet.

Meine Damen und Herren, darüber hinaus spiegeln
Beschaffungsvorhaben wie das Satellitenaufklärungs-
system SAR-Lupe, der Truppentransporter A400M und
die neue Fahrzeuggeneration des Heeres – ich nenne die
Stichworte Dingo, Boxer und Puma – die Neuausrich-
tung auf die Einsätze wider. Für die Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz zählen demgegenüber häufig aber
auch ganz andere, handfeste Dinge: das richtige Schuh-
werk, klimagerechte Bekleidung, brauchbare Pistolen-
holster, Splitterschutzbrillen, Spezialhelme für Patrouil-
lenfahrten und vieles andere mehr.

Auch wenn durch die von mir hier festgestellten Män-
gel die Einsatzbereitschaft und Einsatzfähigkeit der
Streitkräfte nicht infrage gestellt werden, müssen sie auf
jeden Fall sehr ernst genommen werden. Für den Schutz
und die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten sind sie
von entscheidender Bedeutung.

Bei der Bundeswehr geht es aber nicht nur um die
Einsätze. Die Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten
leistet ihren Dienst im Inland. Es sind vor allem die Rah-
menbedingungen ihrer Arbeit, die Anlass zu ernster
Sorge geben.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Auf den beklagenswerten baulichen Zustand zahlrei-
cher Kasernen, insbesondere in den alten Bundeslän-
dern, habe ich bereits vor zwei Jahren hingewiesen. Das
daraufhin aufgelegte Sanierungsprogramm ist ein deutli-
cher Hinweis und ein deutlicher Schritt in die richtige
Richtung. Gelöst wird das Problem dadurch indes noch
nicht. Die bereitgestellten Haushaltsmittel dienen der
Sanierung von Gebäuden. Sie decken nicht den zusätzli-
chen Flächenbedarf, der sich im Bereich der Unterbrin-
gung abzeichnet.

Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das Stich-
wort Pendlerwohnungen. Das Bundesministerium der
Verteidigung hat dazu erklärt, dass nicht kasernenpflich-
tige Soldaten keinen Anspruch auf Unterbringung in der
Kaserne haben. Aus diesem Grund könnten auch keine
Haushaltsmittel zur Schaffung entsprechender Unter-
künfte aufgewendet werden.

Das alles mag zwar rechtlich zutreffend sein, löst aber
das Problem nicht. Die Bundeswehr ist heute eine Pend-
lerarmee. Diejenigen, die zwischen Wohn- und Dienstort
pendeln, brauchen am Dienstort eine Unterkunft. Insbe-
sondere für Mannschaften und Unteroffiziere stellt die
Finanzierung einer solchen ein ernsthaftes Problem dar.
Ich füge aber hinzu: Unlösbar ist dieses Problem nicht.

Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Immer mehr Sol-
datinnen und Soldaten fällt es schwer, die Betreuung ih-
rer Kinder mit dem Dienst in Einklang zu bringen. Der
Bedarf an Betreuung steigt, ohne dass er durch ein ent-
sprechendes Angebot an Betreuungsplätzen aufgefangen
werden könnte. Auch das Angebot an Teilzeit- und Tele-
arbeit bleibt bislang aus verschiedenen Gründen deutlich
hinter der Nachfrage zurück. All das sind Rahmenbedin-
gungen, die den Dienst in der Bundeswehr, wie ich
finde, nicht unbedingt attraktiver machen.

Im letzten Jahr haben – Sie kennen die Zahlen – fast
100 Sanitätsoffiziere – die meisten davon Fachärzte –
den Dienst in der Bundeswehr vorzeitig quittiert. Für sie
war der Arbeitsplatz Bundeswehr offenbar nicht mehr
attraktiv genug. Die Gründe haben mit den besonderen
Belastungen des Sanitätsdienstes zu tun: hohe Einsatzbe-
lastung, Personalmangel im Inland und dadurch bedingte
Überlastung im Schicht- und Notdienst, fehlende Fort-
und Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt we-
sentlich höhere Vergütungen im zivilen Bereich.

All diese Gesichtspunkte betreffen nicht nur den Sani-
tätsdienst. Sie sind in der einen oder anderen Form auch
auf andere Bereiche der Bundeswehr übertragbar. Es
sind die sogenannten weichen Faktoren, die die Attrakti-






(A) (C)



(B) (D)


Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
vität der Bundeswehr belasten. Dieser Situation muss
schnell und nachhaltig entgegengetreten werden, wenn
die Bundeswehr im Kampf um die besten Köpfe unseres
Landes im Rennen bleiben will. Schon in meinen voran-
gegangenen Berichten habe ich auf die Frustration vieler
junger Soldatinnen und Soldaten hingewiesen. Sie be-
klagen immer wieder, dass die meisten Probleme seit
Jahr und Tag bekannt und vielfach gemeldet worden
seien, ohne dass sich etwas geändert habe. Solche Kritik
ärgert mich schlichtweg; denn sie zielt auf einen Kernbe-
reich der Inneren Führung: auf die Kommunikation zwi-
schen Vorgesetzten und Untergebenen.

Meine Damen und Herren, ein Prozess wie die Trans-
formation der Streitkräfte verläuft, wie wir alle wissen,
nicht ohne Reibungsverluste. Dies gilt insbesondere vor
dem Hintergrund der politisch unstreitigen Unterfinan-
zierung der Streitkräfte. Die Verwaltung des Mangels
gehört in vielen Bereichen der Truppe allerdings zum
Alltag. Das soll und darf aber niemanden davon abhal-
ten, erkannte Mängel und Defizite auch wirklich offen
anzusprechen.

Innere Führung setzt auf dieses Gespräch. Vorgesetzte
müssen nicht nur Kritik üben, sie müssen auch Kritik
aushalten können. Einige tun sich – um es deutlich zu sa-
gen – schwer damit. Immer häufiger bitten mich Solda-
tinnen und Soldaten darum, ihre Namen im Rahmen
einer Überprüfung nicht zu nennen, weil sie Angst vor
Benachteiligung durch ihre Vorgesetzten haben, obwohl
– dies möchte ich hinzufügen – im Gesetz über den
Wehrbeauftragten festgelegt ist, dass es ein absolutes
Benachteiligungsverbot gibt. Niemand darf wegen einer
Eingabe oder einer Kritik in irgendeiner Form benachtei-
ligt werden. Wenn dies geschieht, muss mit den Mitteln
des Disziplinar- und Strafrechts dagegen vorgegangen
werden. Seien Sie sicher, dass ich mich in solchen Fällen
nachhaltig für die Betroffenen einsetzen werde.


(Beifall im ganzen Hause)


Darüber hinaus geht es mir aber auch darum, deutlich
zu machen, dass militärische Führung, die allein auf das
Prinzip „Befehl und Gehorsam“ setzt, ihrem Auftrag
nicht gerecht wird. Erfolgreiche Führung ist zuallererst
eine Frage des Vertrauens. Wer als Vorgesetzter nicht zu-
hören und seine Befehle nicht überzeugend begründen
kann, wird das Vertrauen seiner Untergebenen nicht ge-
winnen. Das gilt auch und gerade im Einsatz. Die offene
und ehrliche Diskussion über Probleme und Mängel der
Transformation ist die Voraussetzung ihres Erfolges. Das
gilt für alle Führungsebenen.

Lassen Sie mich abschließend ein Wort des Dankes
sagen. Danken will ich allen über 7 000 Soldatinnen und
Soldaten, die in diesem Augenblick überall auf der Welt
und zum Teil unter schwierigsten Bedingungen im Ein-
satz sind und einen, wie ich finde, ausgezeichneten Job
machen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vergessen dürfen wir aber auch nicht die Soldatinnen
und Soldaten in den Heimatstandorten, die dafür sorgen,
dass die zahlreichen Einsätze stattfinden können. Alle
Soldatinnen und Soldaten haben unsere uneinge-
schränkte Solidarität verdient. Wenn ich „unsere“ sage,
dann meine ich nicht nur das Parlament, sondern alle
Mitbürgerinnen und Mitbürger unseres Landes.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danken will ich dem Deutschen Bundestag für die
ausgezeichnete Unterstützung meiner Arbeit, namentlich
dem Präsidenten Professor Dr. Lammert, aber auch dem
gesamten Präsidium und ganz besonders dem Verteidi-
gungsausschuss. Das Zusammenwirken zum Wohle der
Menschen in der Bundeswehr ist aus meiner Sicht wirk-
lich ausgezeichnet. Mein besonderer Dank gilt auch
Verteidigungsminister Dr. Jung sowie dem gesamten
Ministerium und allen Verantwortungsträgern in unseren
Streitkräften für das insgesamt gute Zusammenwirken.
Schließlich sage ich allen Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern im Amt des Wehrbeauftragten meinen herzli-
chen Dank. Sie unterstützen mich ganz wesentlich bei
meinen vielfältigen Aufgaben.

Herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621708000

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

möchte ich nun meinerseits im Namen des Bundestages
dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2008
herzlich danken.


(Beifall im ganzen Hause)


Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi-
gung, Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will zunächst an die Worte des Wehrbeauf-
tragten anknüpfen, der unterstrichen hat, dass wir heute
einen Jubiläumsbericht, wenn ich das so ausdrücken
darf, zu diskutieren haben, nämlich den 50. Bericht des
Wehrbeauftragten. Ich möchte mich bei ihm und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Zusammen-
arbeit bedanken, aber auch bei allen Wehrbeauftragten in
dieser Zeit, die sich mit ihrem Engagement im Interesse
unserer Soldatinnen und Soldaten eingesetzt und durch
ihre konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Leis-
tungsfähigkeit der Bundeswehr beigetragen haben.

Der Wehrbeauftragte hat die grundsätzliche Entwick-
lung über die Jahre hinweg angesprochen. Ich glaube, es
wird heute oft unterschätzt, was die Umstrukturierung
für die Bundeswehr unmittelbar bedeutet: Sie wurde von
einer reinen Verteidigungsarmee über die Armee der
Einheit, als zwei Armeen, die unterschiedlich ausgebil-
det und gegeneinander aufgestellt waren, in eine einheit-
liche Bundeswehr integriert wurden, zur heutigen Armee
im Einsatz für den Frieden. Ich finde, dass die Art und
Weise, wie unsere Soldatinnen und Soldaten – einige
sind anwesend und verfolgen diese Debatte – ihren Bei-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
trag für unsere Sicherheit sowie für Frieden und Freiheit
in unserem Land leisten, unsere ganze Unterstützung
und Dankbarkeit verdient haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht angespro-
chen, dass die Unterstützung der gesellschaftlichen
Gruppen beispielsweise für die Soldaten im Auslands-
einsatz intensiver sein könnte. Das kann ich nur unter-
streichen. Die Bundeswehr hat ein hohes Ansehen im
Inland. 89 Prozent der Menschen vertrauen der Bundes-
wehr. Aber sie könnte eine breitere Unterstützung im
Auslandseinsatz haben.

Bisher waren rund 260 000 Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr an Auslandseinsätzen beteiligt. Aktuell
sind über 7 200 Soldatinnen und Soldaten in Afghanis-
tan, auf dem Balkan, vor der Küste des Libanon, am
Horn von Afrika, zur Pirateriebekämpfung vor der Küste
Somalias sowie in den Missionen in Darfur im Sudan
und in Georgien im Einsatz. Ich finde, die Art und
Weise, wie sich unsere Soldatinnen und Soldaten dort
engagieren und die Gefahren dort bekämpfen und besei-
tigen, wo sie entstehen, hat eine breite Unterstützung un-
serer Gesellschaft verdient. Es ist notwendig, dass wir in
dieser Debatte eine breitere Unterstützung für unsere
Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz anmah-
nen; denn sie riskieren Leib und Leben im Interesse der
Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Es ist wichtig, dass wir die Bundeswehr unter dem
Aspekt „modern und leistungsstark“ weiterentwickeln
und auf die besondere Einsatzsituation Wert legen. Im
Klartext heißt das, dass wir beispielsweise technische
Möglichkeiten nutzen, um die Schutzfaktoren zu verstär-
ken. Vom Grundsatz her sollen nur noch geschützte
Fahrzeuge in Afghanistan fahren. Dort gibt es rund
700 solcher Fahrzeuge, darunter rund 200 Dingos der
Kategorie 2. Wir bekommen nun den Eagle, der eine
weitere Verbesserung der Schutzkomponente darstellt.
In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass
die Transportpanzer Fuchs verbessert werden. Das alles
sind Punkte, die belegen, dass wir technische Weiterent-
wicklungen nutzen, um den Schutz unserer Soldatinnen
und Soldaten zu verstärken. Ich kann nur unterstreichen:
Dafür brauchen wir die notwendigen finanziellen Grund-
lagen. Ich bin dankbar, dass wir in dieser Legislatur-
periode rund 4 Milliarden Euro mehr bekommen haben.
Diese Mittel brauchen wir, um den Auftrag zu erfüllen
und den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in ge-
fährlichen Auslandseinsätzen zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der Wehrbeauftragte hat auch die sozialen Rahmen-
bedingungen angesprochen. Ich glaube, wir setzen rich-
tige Akzente, indem wir das Kasernensanierungs-
programm West aufgelegt haben, um die Situation zu
verbessern, und indem wir nun den Tarifvertrag und die
Angleichung der Besoldung im Osten an die im Westen
umgesetzt haben.
Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen. Wir ge-
hen das Problem der Pendlerwohnungen mit konkreten
Modellprojekten an. Noch vor meiner Zeit wurde ent-
schieden, dass diejenigen, die über 25 sind, keine ent-
sprechende Unterkunftsmöglichkeit mehr in den Kaser-
nen haben. Wir müssen daher über das Trennungsgeld
die Anmietung von Wohnungen ermöglichen, damit kein
negativer sozialer Aspekt für unsere Soldaten entsteht.
Im Klartext: Wenn wir eine leistungsstarke, moderne
und einsatzfähige Armee wollen, müssen wir sie erstens
adäquat unterbringen und zweitens so ausstatten, dass
sie ihren Auftrag ordnungsgemäß und gut erfüllen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein weiterer Punkt, den ich aufgreifen will, ist der Sa-
nitätsdienst. Ich bin dem Deutschen Bundestag dankbar,
dass er auf meinen Vorschlag das Einsatz-Weiterverwen-
dungsgesetz beschlossen hat. Ich habe im vorigen Monat
die Möglichkeit gehabt, einen Soldaten, der im Jahre
2007 in Kunduz schwer verwundet wurde, als Berufssol-
daten in die Bundeswehr zu übernehmen. Dieser Fall
zeigt, auf welch hervorragende Art und Weise unsere
medizinische Rettungskette und die Versorgung unserer
Soldatinnen und Soldaten funktionieren. Was unsere
Ärzte hier geleistet haben, war exzellent. Dafür bin ich
ihnen sehr dankbar. Aber wir sind gefordert, Abwer-
bungsversuche zu stoppen. Ärzte haben die Bundeswehr
bereits verlassen. Wir müssen die Attraktivität der Bun-
deswehr in diesem Bereich steigern. Deshalb habe ich
eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um Vorschläge zu unter-
breiten und gerade in diesem wichtigen Bereich die Vo-
raussetzungen zu schaffen, dass wir auch in Zukunft eine
optimale medizinische Versorgung für unsere Soldatin-
nen und Soldaten – sei es im Auslandseinsatz, sei es im
Inland – gewährleisten können.

Mein letzter Punkt – auch der Wehrbeauftragte hat
diesen Punkt angesprochen – ist das Thema „Familie
und Dienst“. Heute ist Girls’ Day. Ich habe heute dazu
schon einige Gespräche geführt. Es gibt mittlerweile
16 000 Frauen in der Bundeswehr. Aber nicht nur des-
halb müssen wir uns dem Thema „Familie und Dienst“
intensiver zuwenden. Wir haben es zwar in die Vor-
schriften zur Inneren Führung aufgenommen. Aber wir
müssen es auch konkret mit Leben erfüllen, sei es im Be-
reich der Betreuung, sei es bei der Schaffung von Eltern-
Kind-Zimmern oder sei es bei der Ermöglichung von
Teilzeitarbeit.

Auch diese Dinge treiben wir voran; denn wir müssen
die Voraussetzungen schaffen, um diesem Anspruch ge-
recht zu werden.

Zusammengefasst: Die Institution des Wehrbeauftrag-
ten wurde – wir haben demnächst eine Konferenz dazu –
von Ländern – nicht nur von Argentinien, sondern auch
von Bosnien-Herzegowina – übernommen, von denen
man sich das vor Jahren überhaupt nicht vorstellen
konnte. Sie ist eine gute Einrichtung. Der 50. Bericht
zeigt, dass wir gemeinsam unseren Beitrag leisten,
unsere Armee zu einer modernen und leistungsstarken
Armee zu entwickeln. Deshalb nochmals Dank für die
Zusammenarbeit. Meine weitere Bitte ist, dieses Enga-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
gement im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten
fortzuführen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621708100

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1621708200

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Soldatinnen und Soldaten! Auch ich darf mich im
Namen der FDP-Fraktion für Ihren Jubiläumsjahresbe-
richt, Herr Wehrbeauftragter, bedanken. Es wäre schön
gewesen, wenn einige der Mängel, die wir in den letzten
Jahren immer wieder vorgetragen und die wir hier im
Hause sehr intensiv diskutiert haben, nicht mehr aufge-
taucht wären, wenn der Jahresbericht etwas kürzer und
inhaltlich etwas positiver geworden wäre. Aber dem ist
leider nicht so. Die Themen werden uns in Zukunft wei-
ter beschäftigen.

Ich darf an dieser Stelle Ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern sehr herzlich dafür danken, dass sie dieses
wichtige Informationswerk immer wieder zusammen-
stellen, uns zur Verfügung stellen und uns damit einen
Kompass in die Hand geben, der uns anzeigt, was in der
Truppe tatsächlich geschieht. Ganz herzlichen Dank da-
für!


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Minister, Sie haben eben mit Recht angespro-
chen, dass es ein wichtiges Thema ist, in der Öffentlich-
keit um Unterstützung für die Auslandseinsätze der Bun-
deswehr zu werben. Nur, die Frage an dieser Stelle ist:
Wer ist denn dafür zuständig, der Öffentlichkeit zu erklä-
ren und zu erläutern, mit welchem politischen Auftrag
die Bundeswehr im Ausland unterwegs ist? Das ist Auf-
gabe der Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies kann nicht die Aufgabe der Soldatinnen und Solda-
ten sein, sondern es ist unsere gemeinsame politische
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass den Bürgerinnen und
Bürgern deutlich gemacht wird, dass die Soldatinnen
und Soldaten im Ausland ihren Dienst für unseren Frie-
den und unsere Freiheit verrichten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie vom Wehrbeauftragten bereits dargelegt, führt
das mangelnde Führungsverhalten der militärischen und
politischen Führung der Bundeswehr zunehmend dazu,
dass sich die Soldatinnen und Soldaten alleingelassen
fühlen. Der aufgezeigte Trend, dass sich gerade die en-
gagiertesten Soldatinnen und Soldaten resigniert zurück-
ziehen, sollte uns in der Tat alarmieren. Der verbreitete
Eindruck, dass Engagement und Mut in der Bundeswehr
nicht karrierefördernd seien, darf sich unter keinen Um-
ständen verfestigen.


(Beifall bei der FDP)


Die Bundeswehr braucht heute mehr denn je aus Ein-
sicht und Überzeugung handelnde Soldatinnen und Sol-
daten, die zur Sprache bringen, was besser werden muss
und was besser werden kann; denn Verbesserungsbedarf
besteht zweifellos in vielen Bereichen.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Ich bin daher sehr froh, dass der Deutsche Bundestag ge-
meinsam mit dem Wehrbeauftragten aufgrund der man-
gelhaften medizinischen Betreuung von Soldatinnen und
Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen,
der Probleme im Sanitätsdienst sowie der Ausbildungs-
und Ausrüstungsdefizite die Bundesregierung zum Han-
deln aufgefordert hat.


(Beifall des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Parlament und Wehrbeauftragter müssen weiterhin ge-
meinsam den Druck aufrechterhalten, da allein das Be-
wusstsein um die Probleme natürlich noch keine Verbes-
serung mit sich bringt.

Daher ist es auch nicht akzeptabel, dass eine für die
Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen für die Situ-
ation im Sanitätsdienst eingesetzte Arbeitsgruppe ihre
Arbeitsergebnisse erst am 30. September vorlegen soll.
Herr Minister, das Problem ist zu akut, als dass Sie es in
dieser Legislaturperiode aussitzen könnten;


(Beifall bei der FDP)


denn die Abstimmung mit den Füßen im Sanitätsdienst
hält unvermindert an. Der Sanitätsdienst hat allein im
letzten Jahr 85 Sanitätsoffiziere verloren, die ihre Aus-
bildungskosten von beinahe 100 000 Euro zurückerstat-
tet haben. Im Jahr 2007 waren es gerade einmal 8. Diese
Dynamik muss noch vor der Sommerpause in dieser Le-
gislaturperiode gestoppt werden.


(Beifall bei der FDP)


Am Ball bleiben muss das Parlament gegenüber der
Bundesregierung auch beim Thema „posttraumatische
Belastungsstörungen“. Ich bin auf die Umsetzungspläne
der Bundesregierung im Hinblick auf die Errichtung ei-
nes Kompetenzzentrums sehr gespannt. Dabei darf es
sich nicht um ein reines Forschungszentrum handeln;
denn das wurde im Deutschen Bundestag so nicht be-
schlossen.

Dringender Handlungsbedarf besteht auch bei der
besseren Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Bisher
ist die Bundeswehr über einzelne Modellprojekte – so
lobenswert dies auch sein mag – noch nicht hinausge-
kommen. Leider gehen diese Modellprojekte an der ei-
nen oder anderen Stelle am tatsächlichen Bedarf vorbei.
Es fehlt immer noch am nötigen Bewusstsein auch inner-
halb der Bundeswehr selbst, dass dies ihre ureigene Auf-






(A) (C)



(B) (D)


Elke Hoff
gabe als Arbeitgeber ist, wenn sie zukunftsfähig bleiben
möchte. Daher müssen die für eine adäquate Kinderbe-
treuung nötigen Haushaltsmittel auch rechtzeitig einge-
plant werden. Ich glaube, dass dem die Mitglieder des
Deutschen Bundestages, wenn dies in einem vernünfti-
gen Rahmen geschieht, Folge leisten werden.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Ich denke nicht, dass sich irgendjemand in diesem
Hause dagegen sperren wird, dass hiermit für unsere
Bundeswehr eine attraktive Zukunftsperspektive eröff-
net wird. Verbesserte Arbeitsbedingungen, wie men-
schenwürdige Unterkünfte, Kinderbetreuungsmöglich-
keiten, moderne Ausrüstung, eine qualitativ hochwertige
Ausbildung und ein nachvollziehbarer politischer Auf-
trag, sind hierfür Grundvoraussetzungen. Mehr Mut und
Kreativität in der militärischen und politischen Führung
der Bundeswehr sind gefragt.

Ich bin froh, dass Sie, sehr geehrter Herr Wehrbeauf-
tragter, in diesem Jahr in Ihrem Bericht erneut und deut-
licher als bisher den Verlust an Vertrauen in die höhere
militärische und politische Führung zum Thema ge-
macht haben. Diese Tendenz können viele meiner Kolle-
ginnen und Kollegen und ich bei unseren Truppenbesu-
chen feststellen. Sie beklagen gegenüber der Presse die
zunehmende Jasagermentalität bei höheren Offizieren.
Diese nehme laut einem von Ihnen zitierten Piloten zu,
je höher der Dienstgrad sei. Ich teile Ihre Auffassung:
Dies sollte ein ständiger Schwerpunkt im Bericht des
Wehrbeauftragten sein.


(Beifall bei der FDP)


Einzelne Passagen des Berichts des Wehrbeauftragten
geben detaillierte Sachverhaltsdarstellungen wieder, die
teilweise wirklich erschreckend und abstoßend sind. Al-
lerdings sollten wir angesichts ihrer breiten Wiedergabe
im Bericht daran denken, dass diese Einzelbeispiele – so
schlimm sie sind und so sehr sie auch eine unverzügliche
Reaktion erfordern – in den meisten Bereichen Gott sei
Dank nicht dem Alltag der Bundeswehr entsprechen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen gut ausgerüstete Soldatinnen und Sol-
daten mit einem klaren politischen Auftrag. Dafür müs-
sen wir politisch geradestehen. Wir brauchen für die in-
nere Disziplin und Motivation der Truppe die
Verantwortung der militärischen Führung. Dies muss
Hand in Hand gehen, damit die beschriebenen Einzel-
fälle nicht zur Regel werden. Ich hoffe sehr, dass die ver-
trauensvolle Zusammenarbeit in Zukunft weitergehen
wird. Ich darf mich noch einmal bei Ihnen, Herr Wehrbe-
auftragter, und Ihren Mitarbeitern sehr herzlich bedan-
ken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621708300

Das Wort hat nun Hedi Wegener für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Hedi Wegener (SPD):
Rede ID: ID1621708400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi-

nister! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Meine Herren und
Damen! Wir diskutieren den 50. Bericht des Wehrbeauf-
tragten. Vor 50 Jahren, am 3. April 1959, wurde der erste
Wehrbeauftragte, Helmuth von Grolman, in sein Amt
eingeführt.

Die Schülerinnen und Schüler müssen sich das so
vorstellen: In eurer Stadt würde vom ganzen Rat ein Be-
treuungslehrer gewählt werden. Zu dem könntet ihr
– völlig anonym – hingehen und euch beschweren, be-
klagen oder Vorschläge einbringen. Dieser müsste dann
einmal im Jahr einen Bericht vorlegen, und euer Rektor
oder eure Lehrer müssten dazu Stellung nehmen. An-
schließend würde dieser Bericht öffentlich diskutiert. So
ungefähr ist das jetzt mit dem Wehrbeauftragten. Er ist
von uns gewählt worden und legt dem Deutschen Bun-
destag einmal im Jahr einen Bericht vor. Das Verteidi-
gungsministerium muss dazu Stellung nehmen. Dann
wird wieder diskutiert. – Da wäre bei euch sicherlich
ganz schön was los.

So war es zu Anfang in der Bundesrepublik auch. Das
Amt des Wehrbeauftragten wurde eingerichtet, weil das
Grundverständnis des Soldaten als Staatsbürger in Uni-
form definiert und durch das Prinzip der Inneren Füh-
rung umgesetzt wurde. Die Bundeswehr unterliegt eben
der strikten demokratischen Kontrolle. Um die demokra-
tischen Kontrollinstrumente des Parlamentes zu stärken,
wurde ihm im Grundgesetz als Hilfsorgan der Wehrbe-
auftragte zugeschrieben.

Eine Armee wäre in Deutschland ohne den Wehrbe-
auftragten überhaupt nicht mehr denkbar, erst recht nicht
eine Bundeswehr, die in Auslandseinsätze geht. Die Be-
richte des Wehrbeauftragten geben uns Abgeordneten je-
des Jahr einen unabhängigen Eindruck vom Zustand der
Bundeswehr, vor allem davon, wie und in welchem
Maße sich veränderte gesellschaftliche und politische
Rahmenbedingungen auf die Bundeswehr auswirken,
wie sie umgesetzt und wie sie verarbeitet werden. Be-
reits der erste Bericht des Wehrbeauftragten sorgte für
Aufsehen und beim zuständigen Minister Strauß für gro-
ßes Missfallen, prangerte doch Herr Grolmann ein zu
schnelles Wachstum der Bundeswehr an; es überfordere
die Soldaten einfach.

Für die unabhängige Darstellung der Probleme der
Bundeswehr, die die Berichte des Wehrbeauftragten aus-
zeichnen, danke ich jetzt auch dem zehnten Wehrbeauf-
tragten, Herrn Reinhold Robbe, und seinen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern. Vielen Dank!


(Beifall im ganzen Hause)


– Genau. Das war doch ein Klatschen wert.

Dass wir in der Bundesrepublik mit dieser Institution
den richtigen Weg eingeschlagen haben, zeigt im Übri-






(A) (C)



(B) (D)


Hedi Wegener
gen das stetige Interesse anderer Nationen am Wehrbe-
auftragten und an der demokratischen Kontrolle der
Bundeswehr. Früher fanden das einige Nationen schon
ein bisschen komisch, sozusagen basisdemokratisch.
Das hat sich inzwischen geändert. Herr Minister Jung
hat schon darauf hingewiesen – auch der Wehrbeauf-
tragte schreibt darüber in seinem Bericht –: Mit vielen
Ländern bestehen inzwischen Kontakte; es gibt eine in-
tensive Zusammenarbeit. Herr Robbe, es ist großartig,
dass im Mai dieses Jahres eine von Ihnen initiierte und
ausgerichtete Konferenz hier in Berlin stattfindet. Meine
Hochachtung!

Ich selber führe jährlich als Vorsitzende der
Deutsch-Zentralasiatischen Parlamentariergruppe mit
dem George-C.-Marshall-Center und dem BMVg eine
Konferenz mit Parlamentariern der GUS durch. Aus
meiner Sicht ist das Gespräch mit dem Wehrbeauftragten
für die Teilnehmer dieser Konferenz im Hinblick auf
eine stabile und demokratische Entwicklung in ihren
Ländern von zentraler Bedeutung. Herr Robbe, es war
Ihnen immer möglich, zu diesem Thema zu sprechen.
Auch dafür herzlichen Dank! Das ist für diese Nationen
ganz besonders wichtig.

Der vorliegende Bericht zeigt, wie viele Baustellen es
bei der Bundeswehr gibt. Er zeigt aber auch, dass wir zu
Recht stolz sein können. Eine der grundlegenden gesell-
schaftlichen Änderungen, die die Bundeswehr zu verarbei-
ten hat, ist, dass Frauen in allen Verwendungen zugelas-
sen sind. Im Hinblick auf das Amt des Wehrbeauftragten
wurde dies – Gesetz von 1990 – schon zehn Jahre vor
dem entsprechenden Gerichtsurteil des Europäischen
Gerichtshofes möglich. 1995 wurde Claire Marienfeld
die erste Wehrbeauftragte in Deutschland.

Die Zahl der Frauen in der Bundeswehr zu steigern,
ist nicht nur Ausdruck unseres politischen Willens; diese
Steigerung wird in Zukunft vielmehr nötig sein, damit
die Bundeswehr ihre Aufgaben erfüllen kann. Der Be-
richt des Wehrbeauftragten zeigt den richtigen Weg dazu
auf. Er macht uns darauf aufmerksam, welche Auswir-
kungen der demografische Wandel auch auf die Bundes-
wehr haben wird.

Wir wollen und wir müssen die Attraktivität des
Dienstes steigern – für Männer und für Frauen gleicher-
maßen. Von den 175 000 Soldatinnen und Soldaten ha-
ben 60 000 ein oder mehr Kinder. Man muss nicht lange
überlegen, um darauf zu kommen, dass ein Schwerpunkt
unserer Arbeit die Verbesserung der Vereinbarkeit von
Familie und Dienst sein muss.

Wir erwarten von unseren Soldatinnen und Soldaten,
mit bester Ausbildung und höchster Motivation in den
Einsatz zu gehen. Um diese Motivation zu stärken, brau-
chen sie auch unsere Unterstützung. Diese Unterstüt-
zung geben wir ihnen gerne. Herr Wehrbeauftragter, wir
danken Ihnen noch einmal. Ich meine im Übrigen, dass
viele stolz sind, als Arbeitgeber die Bundeswehr und da-
mit ein Institut wie das des Wehrbeauftragten zu haben.
Es gibt Arbeitgeber, die noch nicht einmal einen Be-
triebsrat zulassen, geschweige denn irgendwelche Ver-
trauensleute.
Mein Fazit lautet also: Wir hören nicht nur Kritik,
weil die Bundeswehr transparent ist, weil es einen Wehr-
beauftragten gibt. Es gibt ein Parlament, das die Regie-
rung kontrolliert, und eine Führungsebene, die sich
immer und immer wieder den Fragen stellen muss, die
nicht nur Auskunft, sondern auch Rechenschaft geben
muss.

Ganz, ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621708500

Das Wort hat nun Hakki Keskin für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621708600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftrag-
ter Robbe! Jahr für Jahr müssen Sie feststellen, sehr ge-
ehrter Herr Robbe, dass sich an den grundsätzlichen De-
fiziten bei der Bundeswehr nicht sehr viel geändert hat.
Im zurückliegenden Berichtsjahr sind aber zumindest bei
der Sanierung von Bundeswehrkasernen in der Tat Fort-
schritte erzielt worden.

Fest steht: Der Wehrbeauftragte setzt sich unermüdlich
für die Rechte der Soldatinnen und Soldaten und für die
Beseitigung von Missständen ein. Die Linke nimmt dies
zum Anlass, dem Wehrbeauftragten für seine bisher ge-
leistete Arbeit zu danken und ihn zu ermutigen, seine kri-
tische Kontrollfunktion weiterhin voll wahrzunehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Der Wehrbeauftragte weist im Bericht darauf hin,
dass sich manche Soldatinnen und Soldaten aus Angst
vor Benachteiligungen nicht trauen würden, ihn bei Pro-
blemen zu kontaktieren. Sehr geehrter Herr Robbe, Sie
haben das auch hier gerade zum Ausdruck gebracht. Ich
denke, dies sollte nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Hier müssen notfalls Disziplinarvorschriften für Vorge-
setzte verschärft werden, um das Beschwerderecht der
Soldaten vor direkten oder indirekten Einschränkungen
zu schützen.

Darüber hinaus bleibt auch in zahlreichen anderen
Bereichen noch viel zu tun, wie wir hier gehört haben.
Deutliche Verschlechterungen sind laut Bericht bei-
spielsweise beim Sanitätsdienst festzustellen. Die Ab-
wanderungsquote von Sanitätsoffizieren hat sich binnen
eines Jahres nahezu verzehnfacht. In den bundeswehr-
eigenen Krankenhäusern und bei der truppenärztlichen
Versorgung kann die medizinische Grundversorgung oft
nur noch durch die Mitnutzung ziviler Kapazitäten gesi-
chert werden. Dies hängt ganz offensichtlich mit der hö-
heren Attraktivität des zivilen Gesundheitssystems zu-
sammen.

Sehr geehrte Damen und Herren, diese Probleme und
viele andere, von denen wir soeben hier auch vom Wehr-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hakki Keskin
beauftragten gehört haben, resultieren vor allem aus
finanziellen Engpässen, die über mehrere Jahre entstan-
den sind. Ein Grund liegt darin, dass die Bundesregie-
rung den Schwerpunkt auf die Auslandseinsätze gelegt
hat. Diese Gelder fehlen somit für wichtige Vorhaben im
Inland.

Der Gesamtetat der Bundeswehr ist im Vergleich zum
Vorjahr um rund 1,7 Milliarden Euro gewachsen. Trotz-
dem sind Sonderprogramme für dringende Kasernen-
sanierungen erforderlich geworden, um den Investitions-
rückstand abzubauen.

Ich bin dem Wehrbeauftragten außerordentlich dank-
bar, dass er dem Problem der Auslandseinsätze in sei-
nem Bericht breite Aufmerksamkeit schenkt. Der
Bericht charakterisiert die Bundeswehr zutreffend als
Armee im Einsatz. Dies ist genau das Problem, meine
Damen und Herren. Insbesondere der Afghanistan-
Einsatz wird dabei von vielen Bundeswehrsoldatinnen
und -soldaten zunehmend kritisch betrachtet. Dies be-
trifft in erster Linie nicht etwa organisatorische Schwie-
rigkeiten oder Ausstattungsmängel, sondern den Sinn
des Einsatzes.

Neben den zahlreichen Opfern unter der afghanischen
Zivilbevölkerung sind Tötungen und Verletzungen von
Bundeswehrangehörigen beileibe keine Einzelfälle
mehr. Es ist an der Zeit, gerade an dieser Stelle eines
deutlich auszusprechen: Ja, in Afghanistan sterben leider
auch deutsche Soldaten. Laut einer aktuellen Umfrage
der Magazine Spiegel und Focus lehnt in Deutschland
eine klare Bevölkerungsmehrheit von 61 Prozent diese
Auslandseinsätze ab. Zunehmend mehr Menschen sind
davon überzeugt, dass es in Afghanistan keinen Frieden
ohne eine militärische Lösung geben wird.


(Zurufe von der FDP: Guter Versprecher! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das meint hier auch keiner!)


– Entschuldigung: durch eine militärische Lösung. – Die
Linke fordert deshalb den Abzug der Bundeswehr aus
Afghanistan. Wir sollten uns viel intensiver um die in-
ländischen Aufgaben kümmern.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einsatz im Innern? Oh Gott!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621708700

Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621708800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

begrüße auf der Tribüne den neuen Vorsitzenden des
Deutschen BundeswehrVerbands, Herrn Oberstleutnant
Ulrich Kirsch. Herr Kirsch, glückliche Hand für Ihre
sehr verantwortungsvolle Arbeit!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Das Berichtsjahr 2008 war das Jahr, in dem die Bun-
deswehr in Auslandseinsätzen – sprich: in Afghanistan –
so viele Opfer, nämlich Tote, körperlich und seelisch
Verwundete, zu beklagen hatte wie nie zuvor, ein Jahr, in
dem deutsche ISAF-Soldaten zunehmend mit einem
Klein- und Terrorkrieg konfrontiert waren, wogegen sie
sich zur Wehr setzten, aber nicht mit Krieg antworteten.
Vor diesem Hintergrund fragen Soldatinnen und Solda-
ten verstärkt nach dem Sinn des Einsatzes und seinen
Aussichten, nach den materiellen Voraussetzungen des
Einsatzes und ihrer Arbeit sowie nach der Anerkennung
dafür. In fünf Minuten kann ich dazu nur Stichpunkte
nennen.

Beispiel Infrastruktur. Dabei geht es um die Arbeits-
und Lebensbedingungen in den Kasernen hierzulande.
Viel zu oft sind in den Kasernen – gerade in West-
deutschland – Unterkunft, Belegung und sanitäre Ein-
richtungen so, wie man das hierzulande nicht mehr für
möglich gehalten hätte. Weiterhin viel zu langsam laufen
die überfälligen Sanierungs- und Baumaßnahmen.
Diese, wie ich meine, organisierte Langsamkeit spricht
jeder Bemühung um Attraktivitätssteigerung Hohn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Beispiel Führung. Im Einsatzgebiet erfahren die Sol-
datinnen und Soldaten viel zu wenig über die Lage und
Entwicklung im Einsatzgebiet. In Afghanistan sollen sie
den Aufbau absichern, aber erfahren kaum etwas über
die Realität dieser Bemühungen. Es wäre eine Überfor-
derung, wenn dem Zugführer oder Kompanieführer auf-
gegeben würde: Das müsst ihr auch noch im Rahmen der
politischen Bildung machen. – Dafür sollte man sich
neue Modelle des zivil-militärischen Erfahrungsaustau-
sches überlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elke Hoff [FDP])


Ein weiterer Aspekt zur Führung. Kompaniechefs,
Disziplinarvorgesetzte sind in der Regel nur verhältnis-
mäßig kurz in ihrer Position. Dies verhindert Kontinuität
und behindert den Aufbau von Vertrauen und Zusam-
menhalt. Der Wehrbeauftragte berichtet zum wiederhol-
ten Male von sinkendem Vertrauen unter Soldatinnen
und Soldaten in die höhere politische und militärische
Führung. Das ist beunruhigend und auch eine Herausfor-
derung für uns als Parlamentarier gegenüber den Streit-
kräften. Hierzu müssen wir uns einige Fragen stellen.

Hinsichtlich des Führungsverhaltens möchte ich nach
den kritischen Punkten auch ein positives Beispiel an-
sprechen, nämlich das Verhalten des hohen deutschen
NATO-Generals Egon Ramms, der vor einigen Wochen
zusammen mit dem ISAF-Kommandeur in Kabul eine
Weisung des NATO-Oberbefehlshabers nicht ausgeführt
hat, wonach Drogenhändler und Drogenproduzenten
pauschal als militärische Ziele definiert werden sollten.
Respekt vor einer solchen Haltung! Das ist ein Staats-
bürger in Generalsuniform.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
Beispiel gesellschaftliche Anerkennung. Herr Minis-
ter, sie kann nicht durch Appelle und kaum durch Sym-
bole erreicht werden. Am ehesten erreicht man sie durch
offenen – auch kontroversen – Dialog zwischen Politik,
Soldaten und Zivilbevölkerung. Außerdem kann sie
durch Inseln bürgerschaftlicher Zusammenarbeit erreicht
werden. Beispielhaft nenne ich die Initiative „Lachen
helfen“ von Soldaten und Polizisten, die das lobenswerte
Ziel verfolgt, Kinder in Krisen- und Kriegsgebieten zu
unterstützen, sowie die Oberst-Schöttler-Versehrten-Stif-
tung, die Soldaten wie Zivilisten helfen will, die im Aus-
landseinsatz zu Schaden gekommen sind. Das sind vor-
bildhafte Anstrengungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Umgekehrt ist es für das Ringen um gesellschaftliche
Anerkennung von Soldaten absolut schädlich, wenn der
Wehrbeauftragte bedauerlicherweise immer wieder von
rechtsextremen Vorfällen unter Soldaten berichten muss.

Uns liegt hier der 50. Bericht des Wehrbeauftragten
vor. Unter der Leitung von Reinhold Robbe ist das Amt
im besten Sinne jung geblieben.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch wenn unter den hier anwesenden zahlreichen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern des Amtes viele Ältere
sind und ich ebenfalls älter bin, können wir sagen, dass
wir zusammen in unserem Output recht jung geblieben
sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein positives Beispiel ist vorhin schon von Frau Kol-
legin Wegener angesprochen worden, nämlich die erst-
malige internationale Konferenz von für Streitkräfte zu-
ständigen Ombudspersonen in verschiedensten Ländern,
die auf Einladung des Wehrbeauftragten im Mai dieses
Jahres in Berlin stattfinden wird.

Unser aller Dank geht an den Wehrbeauftragten und
seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es wiederholt
sich immer wieder, ist aber wirklich ehrlich gemeint.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Diesem Dank sollten wir allerdings auch Taten folgen
lassen. 50 Jahre nach Entstehung des Amtes des Wehr-
beauftragten sollten wir uns in nächster Zeit angesichts
der enormen Veränderungen bei der Bundeswehr überle-
gen, welche anderen Möglichkeiten der Wehrbeauftragte
heutzutage braucht, um sein Amt zeitgemäß ausüben zu
können.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621708900

Das Wort hat nun Kollegin Anita Schäfer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1621709000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, seit 50 Jahren
haben Sie und Ihre Vorgänger dem Bundestag regelmä-
ßig den Jahresbericht des Wehrbeauftragten vorgelegt,
wie es das Parlament Ihnen im Gesetz über den Wehrbe-
auftragten von 1957 aufgetragen hat. Dieses Amt hat die
Bundeswehr also fast von ihrer Entstehung an begleitet,
und zwar, wie es in Art. 45 b des Grundgesetzes heißt:

Zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des
Bundestages bei der Ausübung der parlamentari-
schen Kontrolle …

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, mit der dem
Amtsinhaber angemessenen Zurückhaltung haben Sie
sich in Ihrem Bericht einer Bewertung dieses Jubiläums
enthalten. Über die Bedeutung der Institution des Wehr-
beauftragten kann es aber keinen Zweifel geben. Sie
wurde geboren aus Gedanken, die uns heute selbstver-
ständlich erscheinen: erstens, dass die Streitkräfte der
Kontrolle des Parlaments unterliegen, und zweitens, dass
ihre Soldaten Staatsbürger in Uniform mit den dazuge-
hörigen Rechten sind, darunter auch dem Recht, sich mit
Sorgen und Problemen direkt an eine unabhängige In-
stanz zu wenden.

Damals war das aber gar nicht so selbstverständlich,
und zwar nicht nur in Deutschland, wo man nach den Er-
fahrungen mit Krieg und Diktatur bewusst neue Kon-
zepte aufbaute. 50 Jahre später ist die Institution des
Wehrbeauftragten Vorbild für andere Nationen gewor-
den. Das veranschaulicht die Bedeutung vielleicht besser
als alles andere.

In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben die Be-
richte des Wehrbeauftragten eine Vielzahl von Themen
behandelt. Einige finden Sie über die Jahre hinweg im-
mer wieder, etwa den Umgang von Vorgesetzten mit Un-
tergebenen. Das ist bei einer Armee in einer Demokratie
unausweichlich; denn militärische Hierarchie steht im
Spannungsverhältnis mit der Selbstbestimmung des Ein-
zelnen. Für die Bundeswehr ist das Konzept der Inneren
Führung die Antwort auf dieses Spannungsverhältnis.
Heutzutage ist auch das eine Selbstverständlichkeit.

Eine Armee besteht aus Menschen. Der Umgang un-
tereinander wird immer vom Faktor Mensch mitbe-
stimmt. So findet sich das Thema Führung und Ausbil-
dung auch im aktuellen Bericht wieder. Das erinnert
daran, dass auch Selbstverständlichkeiten immer wieder
gelebt werden müssen, um bewahrt zu werden.

Andere Themen haben in den letzten Jahren an Be-
deutung gewonnen: die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst, die Situation bei der Unterbringung von Pend-
lern und der Zustand von Kasernen. Es gibt auch einige
Bereiche, die früher keine Rolle spielten. An erster Stelle
ist all das zu nennen, was mit der Wandlung der Bundes-






(A) (C)



(B) (D)


Anita Schäfer (Saalstadt)

wehr zu einer Armee im Einsatz zusammenhängt, etwa
die Ausstattung im Einsatz, insbesondere mit geschütz-
ten Fahrzeugen.

Die letzten Jahresberichte zeigen erfreulicherweise,
dass wir in vielen Bereichen erfolgreich Maßnahmen er-
griffen haben, um Mängel abzustellen; wenn sie dies
auch immer in Form einer Mahnung tun, noch die letzten
Lücken zu schließen. Wir sind entschlossen, dies zu tun.
Das gilt auch für andere aktuelle Problembereiche, wie
die Situation im Sanitätsdienst. Wir werden zu Beginn
der neuen Legislaturperiode ausführlich über die Maß-
nahmen sprechen, mit denen das Verteidigungsministe-
rium auf diesen Bericht reagiert.

Lassen Sie mich genauer auf ein Problem eingehen,
das nicht einfach mit einer Entscheidung der Regierung
zu beheben ist und bei dem es nicht mit mehr Ausrüs-
tung, mehr Geld oder einer Änderung der Vorschriften
getan ist. Es geht um den Wunsch der Soldatinnen und
Soldaten nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz und
Unterstützung.

Herr Wehrbeauftragter, Sie haben diesen Punkt im
Vorwort Ihres Berichtes angesprochen. Sie haben ge-
schrieben, wie sehr das fehlende Interesse der Bevölke-
rung viele Soldaten belastet. Das deckt sich mit dem
Eindruck, den ich selber in zahlreichen Gesprächen ge-
wonnen habe. Ich versuche ständig – wie viele Kollegen
auch –, ein Bild jener täglichen Herausforderungen zu
übermitteln, denen unsere Soldaten gegenüberstehen.
Wer dies tut, weiß, wie schwierig es ist, in der Bevölke-
rung dafür Interesse zu wecken. Leider scheint dieses In-
teresse immer nur dann kurz aufzuflammen, wenn es zu
schweren Anschlägen auf die Bundeswehr gekommen
ist. Ein stabiles Maß an Unterstützung und Anerkennung
für das, was unsere Soldaten leisten, ist das noch nicht,
jedenfalls nicht in der Stärke, wie es in vielen anderen
Nationen der Fall ist.

Herr Robbe, Sie haben auf den Rückhalt hingewiesen,
den beispielsweise die amerikanischen Streitkräfte in der
Bevölkerung erfahren. Ich finde es interessant, welchen
Schluss Sie daraus ziehen, nämlich dass sich die kultu-
rellen Eliten in unserem Land mehr mit den Aufgaben
und dem Berufsprofil der Bundeswehr befassen sollten.
Darüber mache ich mir schon seit einiger Zeit Gedan-
ken.

In den deutschen Unterhaltungsmedien kommt die
Bundeswehr selten vor und wenn, dann wird sie meist
nicht besonders realistisch dargestellt. Da geht es weni-
ger um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den
schwierigen Aufgaben der Streitkräfte, sondern eher da-
rum, Klischeebilder von Soldaten „in Action“ zu nutzen,
die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.

Allerdings gibt es auch Ausnahmen. Kürzlich hat der
Fernsehfilm Willkommen zu Hause durchaus realitätsnah
auf die Probleme von Soldaten aufmerksam gemacht,
die im Einsatz traumatisiert worden sind. Im Verteidi-
gungsausschuss hatten wir uns schon vorher längere Zeit
mit dem Thema der posttraumatischen Belastungsstö-
rung befasst. Aber erst durch den Film drang das Thema
schlagartig in das Bewusstsein der breiten Öffentlich-
keit. Das zeigt, welche Rolle die Unterhaltungsmedien
bei der Vermittlung eines besseren Verständnisses für die
Leistungen unserer Soldaten spielen können. Dabei darf
man natürlich nicht, wie dieser Film, bei einem kleinen
Ausschnitt stehen bleiben. Dieser Film zeigt zum Glück
nicht den Regelfall, sondern eine Extremsituation.

Herr Minister Jung, ich fände es gut, wenn die Bun-
deswehr von sich aus weitere Schritte in diese Richtung
machen und in angemessenem Umfang Unterstützung
für Produktionen leisten würde, die ein realistisches Bild
zeichnen. Natürlich dürfen dafür nicht die Mittel ver-
wendet werden, die unseren Soldaten direkt zugutekom-
men sollen. Selbstverständlich soll uns all das nicht von
der Pflicht entbinden, uns weiterhin mit allen Kräften
darum zu bemühen, dass die Soldaten mehr Interesse
und Akzeptanz erfahren.

Zum Schluss möchte ich – auch im Namen der Unions-
fraktion – dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern ganz herzlich für ihre Arbeit
danken.

Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621709100

Das Wort hat nun Kollegin Petra Heß für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Heß (SPD):
Rede ID: ID1621709200

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Dem vorliegenden 50. Bericht liegen neben den
Auswertungen zahlreicher Truppen- und Standortbesu-
che mehr als 5 000 Eingaben zugrunde. Das heißt: Un-
sere Soldaten und Soldatinnen wenden sich sehr selbst-
bewusst und mit großer Selbstverständlichkeit mit ihren
Anliegen an den Wehrbeauftragten, und das ist gut.

Herr Wehrbeauftragter, ich danke Ihnen, dass Sie sich
in so großem Maße offen und ansprechbar gezeigt ha-
ben, sodass im Laufe der Zeit ein echtes, gegenseitiges
Vertrauensverhältnis wachsen konnte. Der jetzige Be-
richt gibt einen authentischen Einblick in das Innenleben
der Streitkräfte und hält nicht nur der militärischen Füh-
rung, sondern auch der Politik den Spiegel vor.

Die Schwerpunkte des diesjährigen Berichts sind:
Bundeswehr im Einsatz, angespannte Lage im Sanitäts-
dienst – das gilt teilweise auch für die Luftwaffe – und
ihre Auswirkungen sowie die Attraktivität des Soldaten-
berufs – einige Stichworte hierzu: Vereinbarkeit von Fa-
milie und Dienst, Auslandseinsätze und das Problem der
fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz.

Ich möchte in meinem Beitrag den Fokus auf den Be-
reich des Sanitätsdienstes richten. Wie schon in den ver-
gangenen Jahren ist die Lage des Sanitätsdienstes der
Bundeswehr weiterhin schwierig. Besonders der Spagat
zwischen dem Primärauftrag der Einsatzversorgung ei-
nerseits und der truppenärztlichen Grundversorgung an-
dererseits bereitet dem Sanitätsdienst der Bundeswehr






(A) (C)



(B) (D)


Petra Heß
zunehmend Probleme. Der Sanitätsdienst wird in seiner
gegenwärtigen Struktur den veränderten Herausforde-
rungen und dem neuen Aufgabenprofil der Einsatzarmee
nicht gerecht.

Das gilt insbesondere im Hinblick auf die personelle
Ausstattung. Die Bewerberzahl der Sanitätsoffiziersan-
wärter ist erneut um 22 Prozent zurückgegangen. Im Be-
richtsjahr konnten auch erheblich weniger Quereinstei-
ger gewonnen werden, weil die Attraktivität des
Sanitätsdienstes der Bundeswehr im Vergleich mit Stel-
len im zivilen Bereich weiter abgenommen hat.

Mindestens ebenso problematisch wie die reinen Zah-
len, die im Bericht nachzulesen sind, ist die schwindende
Motivation unter den Sanitätsoffizieren. Viele gaben im
Berichtsjahr an – das ist besonders bedauerlich –, inner-
lich bereits gekündigt zu haben. Die Belastung durch
Auslandseinsätze, extensive Arbeitszeiten ohne ange-
messene finanzielle Vergütung und überbordende Büro-
kratie spielen in diesem Zusammenhang die Hauptrolle.

Die seitens des Verteidigungsministeriums ergriffe-
nen Sofortmaßnahmen, zum Beispiel die Stellenzulage
für Fachärzte und Rettungssanitäter, wirken im Ange-
sicht der Lage hilflos und dürften kaum ausreichen, um
eine Trendwende zu erreichen. Die Ergebnisse der ei-
gens dafür eingesetzten Arbeitsgruppe müssen sobald
wie möglich ausgelotet – also nicht erst am 30. Septem-
ber; vorher muss ein Zwischenbericht vorgelegt werden –
und noch vor der Bundestagswahl geeignete Maßnah-
men ergriffen werden. Stillstand aus wahlkampftakti-
schen Gründen können wir uns nicht leisten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Elke Hoff [FDP] und des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Bei zukünftigen Anpassungen der Personalstruktur
muss unbedingt berücksichtigt werden, dass der größere
Teil der Sanitätsoffiziere und -offiziersanwärter weiblich
ist und auch Männer – was positiv ist – zunehmend Be-
treuungsurlaub in Anspruch nehmen. Auf diesem Gebiet
ist bisher zu wenig geschehen. Das Ministerium muss
endlich die Zeichen der Zeit erkennen und eine entspre-
chende Anpassung der Personalstruktur durchsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch die Ausrichtung der Bundeswehrkrankenhäu-
ser auf den Einsatz, das heißt auf die notwendige Auf-
nahme ziviler Patienten und die damit einhergehende
Verwaltungsreform, haben den Betrieb in den Kranken-
häusern noch nicht überall verbessert. Besonders pro-
blematisch sind weiterhin die Personalengpässe in den
Bundeswehrkrankenhäusern, vor allem in den einsatzre-
levanten Bereichen, zum Beispiel der Intensivmedizin,
der Anästhesie und der Rettungsmedizin. Genau diese
Personalengpässe haben weitreichende Folgen für den
Krankenhausbetrieb. Mittelfristig droht uns hier ein Ex-
pertise- und Imageverlust. Deshalb wiederhole ich ganz
eindringlich: Hier können Verbesserungen nur über eine
vernünftige Anpassung der Personalstruktur erreicht
werden. Trotzdem bleibt festzustellen, dass unser Sani-
tätsdienst im Einsatz hervorragende Arbeit leistet und
wir uns hinter unseren Sanitätsdienst stellen können. Wir
brauchen uns da vor anderen Nationen nicht zu verste-
cken.

An dieser Stelle möchte ich mich mit einem herzli-
chen Dankeschön ausdrücklich an die Soldaten wenden,
die Einsatz im Ausland leisten, aber auch an die Solda-
ten, die den Einsatz im Inland zu schultern haben; denn
deren Leistung wird meist vergessen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie mir noch einige Sätze zur Behandlung
von Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Be-
lastungsstörungen. Ihre Zahl ist im Berichtszeitraum si-
gnifikant gestiegen, und die zunehmende Zahl stark be-
lastender Auslandseinsätze lässt zukünftig einen weite-
ren Anstieg erwarten. Ich gebe zu, das hat auch damit zu
tun, dass dieses ehemals heikle Thema in der Truppe in-
zwischen offen angesprochen wird und entstigmatisiert
wurde. Die Zahl der Fälle ist drastisch gestiegen. Allein
im Jahr 2008 gab es 226 Fälle, die auf den ISAF-Einsatz
zurückzuführen sind.

Die Errichtung eines Zentrums für die Erforschung
und Behandlung solcher komplexen Erkrankungen ist
daher ausdrücklich zu begrüßen. Alle Fraktionen hier im
Parlament haben an einem Strang gezogen und darauf
reagiert; das war gut und richtig. Trotzdem erscheint die
Umsetzung angesichts der sich dramatisch zuspitzenden
Lage erneut zu zögerlich. Das Zentrum muss jetzt ge-
schaffen werden. Es muss mit zusätzlichen Mitteln und
zusätzlichem Personal ausgestattet werden, damit es den
Namen Traumazentrum verdient. Es soll ein Zentrum
sein, in dem alle Betroffenen, aktive Soldaten, Reservis-
ten und auch Angehörige, ihren Ansprechpartner finden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir dürfen nicht vergessen: Eine moderne Armee
braucht physisch und psychisch gesunde Soldatinnen
und Soldaten, besonders vor dem Hintergrund der zu-
nehmenden Zahl der Auslandseinsätze.

Lernsysteme zum Umgang mit und zur Bewältigung
von Stress im Einsatz gibt es schon. Sie werden zurzeit
bei Kampfmittelbeseitigern als Pilotprojekt eingesetzt.
Das müssen wir auf das gesamte Verwendungsspektrum
ausdehnen, vor allem auf die, die in den Einsatz gehen.
Wir müssen mit solchen neuen Projekten und Modellen
arbeiten. Also Herr Minister: Jetzt handeln!

Ein letzter Satz: Ich danke Ihnen, Herr Robbe, und Ih-
ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Halten Sie an
dieser Umtriebigkeit, die Sie an den Tag legen, fest.
Denn diese Umtriebigkeit ist gut. Sie ist gut für die
Truppe, gut für die militärische Führung und gut für uns
Politiker.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621709300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12200 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Opferentschädigungsge-
setzes

– Drucksache 16/12273 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln),
Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ausweitung der Opferentschädigung bei
Gewalttaten

– Drucksache 16/1067 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 16/12697 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Gregor Amann

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild
Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Opferentschädigung bei Terrorakten im Aus-
land sicherstellen

– Drucksachen 16/585, 16/12697 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Gregor Amann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort.

F
Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1621709400


Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor
gut einem Monat hat hier die erste Lesung des Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschä-
digungsgesetzes stattgefunden. Ich glaube, dass alle, die
daran beteiligt waren, wenn sie zurückblicken, sagen:
Wir haben sehr lange darüber beraten und uns ange-
strengt, so wie wir das auch schon bei den entsprechen-
den Anträgen getan haben, über die wir vor weit mehr
als einem Jahr hier im Hause beraten haben. Wir wollten
versuchen, möglichst einen Konsens zu finden und ein
gutes parlamentarisches Beratungsverfahren durchzu-
führen.

Die Debatten, die zu diesem Thema geführt worden
sind, waren immer von dem Gedanken geprägt, am Ende
eine möglichst große Zustimmung zu erreichen. Wenn
uns das heute gelingt, dann ist das auch ein gutes Bei-
spiel für parlamentarische Arbeit auf einem sehr schwie-
rigen Themenfeld.

Sicherlich hat es an der einen oder anderen Stelle un-
terschiedliche Auffassungen gegeben; vielleicht gibt es
sie auch heute noch. Aber ich glaube, dass das, was jetzt
vorliegt, zustimmungsfähig ist. Man kann deutlich sagen
– ich hoffe, Regierungs- und Oppositionsfraktionen sind
sich darin einig –: Wenn es uns gelingt, diesen Gesetz-
entwurf heute zu verabschieden, dann wird dies eine
spürbare Verbesserung der Leistungen, die diejenigen er-
halten werden, die Opfer von Gewalttaten geworden
sind, zur Folge haben, und das ist gut so.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Mit dieser Novelle bekräftigen wir: Wer Opfer einer
vorsätzlichen Gewalttat geworden ist, der erfährt in
Deutschland materielle Unterstützung durch die Gesell-
schaft. Auch wenn Sie die einzelnen Punkte, die verbes-
sert werden, aus den bisherigen Debatten bereits kennen,
will ich sie noch einmal nennen:

Bei den Inlandstaten erweitern wir den Kreis der An-
spruchsberechtigten auf ausländische Verwandte dritten
Grades. Dies gilt dann, wenn eine Person ohne deutsche
Staatsangehörigkeit, die sich aber rechtmäßig und nicht
nur vorübergehend in Deutschland aufhält, in Deutsch-
land besucht wird. Über diese Neuregelung wird schon
seit sehr langer Zeit diskutiert, eigentlich schon seit
1993. Schändliche Anlässe waren damals der Grund da-
für, nämlich ausländerfeindliche Übergriffe auf Men-
schen, die in Deutschland lebten oder Verwandte in
Deutschland besuchten.

Solche Übergriffe dürfen wir niemals akzeptieren.
Diejenigen, die zu uns gekommen sind, müssen aller-
dings wissen: Wenn solche Übergriffe geschehen, dann
haben sie ein Recht auf Entschädigung, und dann versu-
chen wir, im Nachhinein so gut wie möglich zu helfen.
Die Einbeziehung ausländischer Verwandter dritten Gra-
des wird vom Arbeits- und Sozialministerium ausdrück-
lich begrüßt, nicht zuletzt deshalb, weil so auch
weiterhin eine rechtliche Abgrenzung zu ausländischen
Touristen und Geschäftsreisenden möglich ist. Diese
Gruppe wird auch in Zukunft weiterhin von der Härte-
fallregelung erfasst.

Über die Einbeziehung geschädigter ausländischer
Lebenspartner, die im Gesetzentwurf ebenfalls vorgese-
hen ist, ist im Plenum, im Ausschuss und bei den Bera-
tungen, die vorher auf interfraktioneller Ebene stattge-
funden haben, bereits sehr intensiv diskutiert worden.
Ich mache überhaupt keinen Hehl daraus – ich glaube, es
ist bekannt, wie unsere und meine Position in dieser
Frage war –, dass wir uns für eine etwas eindeutigere






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Franz Thönnes
Nennung der Lebenspartnerschaften im Gesetzestext
eingesetzt haben.


(Jörg van Essen [FDP]: Wir auch!)


Ich weiß: Manche Dinge im Leben sind machbar, man-
che nicht. Das, was uns alle geprägt hat, nämlich der
Versuch, einen Konsens zu finden, hat dazu geführt, dass
wir mit der vorliegenden Lösung, der mittelbaren Ver-
weisung auf das Bundesversorgungsgesetz, leben kön-
nen und die Menschen, die wir einbeziehen wollten,
auch einbezogen wissen.

Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Entwurfs
des Änderungsgesetzes ist die Ausdehnung des Gel-
tungsbereiches des Opferentschädigungsgesetzes auf
Gewalttaten im Ausland. Rein rechtssystematisch be-
trachtet wird es auch in Zukunft ein Unterschied sein, ob
jemand in Berlin oder Lissabon, in Bonn oder Kairo Op-
fer einer Gewalttat wird. Das Opferentschädigungsge-
setz wird seinen Schutz künftig auch für diejenigen ent-
falten, die im Ausland durch einen tätlichen Angriff
gesundheitlichen Schaden erleiden müssen.

Da der deutsche Staat wirksamen Opferschutz auch
weiterhin nur für sein Hoheitsgebiet garantieren kann
– die Juristen sprechen hier vom Aufopferungstat-
bestand –, sind die im Gesetzentwurf vorgesehenen Re-
gelleistungen bei Auslandstaten geringer als bei Inlands-
taten. Klar ist aber: Die staatliche Fürsorge für Opfer
von Gewalttaten, die in Deutschland ihren festen Wohn-
sitz haben, macht zukünftig nicht mehr an der Staats-
grenze Halt.

Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der,
wie ich finde, wichtig ist: Im Rahmen der Ausschussbe-
ratungen wurde am Entwurf des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Opferentschädigungsgesetzes eine Ergän-
zung vorgenommen, die die Einführung einer Pauschal-
abrechnung von Leistungen nach dem OEG und dem
Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz vorsieht.
Damit reagieren wir auf Probleme, die es bei der Auftei-
lung der Leistungsausgaben zwischen Bund und Län-
dern in der Vergangenheit gegeben hat. So sind Ausga-
ben für Sachleistungen aus dem Bundeshaushalt
abgerufen worden, obwohl die Länder diese hätten tra-
gen müssen. Hintergrund ist die Bestimmung, nach der
sich der Bund an Geldleistungen nach dem OEG und
dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz le-
diglich mit einem Anteil von 40 Prozent beteiligen darf.
Eine Neuregelung, die zu mehr Rechtsklarheit und
Transparenz führt, ist dringend erforderlich und wird
auch vom Bundesrechnungshof vehement gefordert. Die
geplante Pauschalabrechnung wird von einer großen
Mehrheit der Länder begrüßt. Ich sage Dank an die Ko-
alitionsfraktionen, dass sie im Rahmen dieser Novellie-
rung des OEG einen entsprechenden Änderungsantrag
eingebracht haben. Nur auf diesem Weg kann das neue
Abrechnungsverfahren noch in dieser Legislaturperiode
mit einer neuen Rechtsgrundlage versehen werden.

Das OEG lebt davon, dass es zu jeder Zeit auf die Be-
dürfnisse von Gewaltopfern zugeschnitten ist. Die Ein-
standspflicht des Staates für unschuldige Opfer vorsätz-
licher Gewalttaten muss sich an den jeweiligen
gesellschaftlichen Realitäten und Veränderungen messen
lassen. Ich denke, der Entwurf des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Opferentschädigungsgesetzes trägt die-
sem Umstand in besonderem Maße Rechnung. Auch in
Zukunft wird es unser aller Aufgabe sein, dafür zu sor-
gen, dass sich das Opferentschädigungsrecht dadurch
auszeichnet, dass Betroffenen zügig und unbürokratisch
Hilfe und Unterstützung zukommt, dass möglichst un-
mittelbar nach der Gewalttat damit begonnen wird, kör-
perliche, aber auch seelische Schäden medizinisch zu
behandeln. Natürlich muss das Leistungssystem darüber
hinaus transparent sein. Wir werden uns bemühen, dieser
Aufgabe auch in Zukunft gerecht zu werden.

Ich möchte alle Fraktionen im Hause bitten, diesem
guten parlamentarischen Ergebnis heute die Zustim-
mung zu geben. Es kann ein gutes parlamentarisches
Beispiel sein, und es hilft den Menschen, die betroffen
sind. Natürlich hoffen wir immer, dass keiner betroffen
ist; denn die erste Aufgabe besteht darin, Gewalttaten zu
vermeiden bzw. zu verhindern, damit keiner zu Schaden
kommt. Aber wenn etwas passiert, dann soll auf diesem
Weg geholfen werden.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621709500

Das Wort hat nun Kollege Jörg van Essen für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1621709600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie

haben gesehen, dass ich gerade geklatscht habe. Auch
aus Sicht meiner Fraktion ist all das, was der Staatsse-
kretär gerade vorgetragen hat, zu unterstreichen. Was
hier heute verabschiedet werden soll, ist richtig und un-
terstützenswert.

In dem einen oder anderen Punkt kann man immer
Kritik anbringen. Ich habe das in der ersten Lesung auch
getan, und zwar was die Lebenspartnerschaften anbe-
langt. Herr Staatssekretär, Sie haben diesen Punkt auch
noch einmal angesprochen. Auch Lebenspartnerschaften
sind geschützt; das ist die wichtigste Botschaft.

Man erleichtert es den Opfern, wenn sie nachlesen
können, welche Ansprüche sie haben. Ich komme, wie
Sie alle wissen, selbst aus der Justiz. So weiß ich, wie
schwierig es ist, Anspruchsberechtigten die Ansprüche,
die sie nach dem Opferentschädigungsgesetz haben,
klarzumachen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst für Juristen ist das schwierig!)


Gerade deshalb kommt es darauf an, dass wir klare Texte
haben, aus denen die Ansprüche hervorgehen. Aber wie
dem auch sei: Das, was insgesamt geschieht, ist aus mei-
ner Sicht außerordentlich erfreulich.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen
Wir haben als FDP-Bundestagsfraktion schon im
Jahre 2002 den ersten Antrag für einen besseren Schutz
der Deutschen, die im Ausland Opfer werden – insbe-
sondere Opfer von Terroranschlägen – eingebracht. Das
ist jetzt sieben Jahre her. Es hat lange gedauert; aber wir
haben jetzt eine vernünftige Lösung gefunden. Da und
dort sind Kompromisse geschlossen worden – das ist
selbstverständlich, einen habe ich gerade angesprochen –
aber insgesamt ist die Botschaft sehr erfreulich.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1621709700

Dieses Gesetzgebungsverfahren ist ein Beispiel dafür,
dass es möglich ist, dass Regierungskoalition und Oppo-
sition im Deutschen Bundestag gemeinsam zu einer ver-
nünftigen Lösung kommen. Deshalb will ich deutlich sa-
gen: Der Antrag, den wir eingebracht haben, ist
gegenstandslos geworden, weil wir dem Gesetzentwurf
so, wie er heute verabschiedet wird, zustimmen.

Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Erstens. Ich
habe schon von denjenigen gesprochen, die im Ausland
Opfer werden. Ich glaube, dass gerade das Attentat in
Bombay vor wenigen Monaten deutlich gemacht hat,
wie dringlich es ist, dass wir diese Novellierung schnell
verabschieden. Ich habe im März die Hoffnung geäußert,
dass dies nicht zu lange dauert. Ich sehe deshalb mit gro-
ßer Sorge, dass im Hinblick auf das zweite Gesetz zur
Novellierung des Opferrechts eine Anhörung durchge-
führt wird, sodass es fragwürdig wird, ob wir, was dieses
Gesetz angeht, noch zu einer Entscheidung kommen. Ich
hoffe, dass es gelingt. Ich weiß, dass viele daran interes-
siert sind, und deshalb sollten wir uns darum auch bemü-
hen. Ich bin sehr dankbar, Herr Kauder, dass Sie den
Versuch unternommen haben, auf die Anhörung zu ver-
zichten, um Zeit zu gewinnen. Ich bin wie Sie der Auf-
fassung, dass wir uns sehr gut auf ein erweitertes Be-
richterstattergespräch hätten beschränken können, und
bedaure sehr, dass Ihrem sehr guten Vorstoß nicht ge-
folgt worden ist. Trotzdem sollten wir alles unterneh-
men, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kommen.

Wir werden dem Antrag der Grünen nicht zustimmen,
auch wenn er in vielen Punkten mit der Vorlage der Re-
gierungskoalition übereinstimmt. In einem Punkt folgen
wir Ihnen nicht: Wir haben immer großen Wert darauf
gelegt, dass man einen Anspruch hat. Bei Ihnen ist es an-
ders ausgestaltet; Sie heben stärker auf die Härtefallrege-
lung ab. Dies ist für uns nicht zustimmungsfähig. Hier
ist der von der Regierungskoalition vorgeschlagene Weg
der richtige; denn wir müssen beim Opferschutz immer
wieder daran denken, dass diejenigen, die Opfer einer
schweren Straftat geworden sind, nicht aufgrund des
Verfahrens und vieler anderer Dinge das Gefühl haben,
erneut ein Opfer zu werden.

Deshalb unterstreiche ich das, was Sie gesagt haben,
Herr Staatssekretär: Wichtig ist, dass das Ganze unbüro-
kratisch und schnell zu Entscheidungen führt. Wir wer-
den aufpassen müssen, wie die Praxis hinterher sein
wird. Ich werde mich jedenfalls entsprechend engagie-
ren. Von daher lautet mein Fazit für die FDP-Bundes-
tagsfraktion: Es ist heute ein guter Tag für den Opfer-
schutz.
Ich teile aber auch eine Einschätzung von Ihnen, Herr
Staatssekretär: Unsere wichtigste und vordringliche Auf-
gabe ist es, dass niemand zum Opfer wird.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass wir verhindern, dass jemand zum Opfer wird!)


– Richtig, da widerspreche ich Ihnen nicht. Es ist unsere
wichtigste Aufgabe, zu verhindern, dass jemand zu ei-
nem Opfer wird. Aber wenn es dann doch passiert ist
– wir alle wissen, dass es immer wieder passiert, weil
man nicht alles im Griff hat –, dann ist es wichtig, dass
die Menschen zu Recht das Gefühl haben, dass wir sie
nicht allein lassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621709800

Ich erteile dem Kollegen Siegfried Kauder für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der 15. März 1976 war ein
guter Tag für die Opfer von Gewalttaten. An diesem Tag
wurde im Deutschen Bundestag das Opferentschädi-
gungsgesetz verabschiedet. Seither haben Opfer von Ge-
walttaten einen Anspruch gegen den Staat auf eine Op-
ferrente oder eine Unterstützung.

Aber dieses Gesetz wies von Anfang an eine Un-
wucht auf: Wieso bekommt eine deutsche Frau, die in
Spanien von einem Italiener vergewaltigt wird, keine
Opferentschädigung? Sie bekommt sie deshalb nicht,
weil im Opferentschädigungsrecht das Territorialitäts-
prinzip gilt. Irgendwo mag dies im Ansatz richtig sein;
denn nur auf deutschem Hoheitsgebiet kann der deutsche
Staat für innere Sicherheit sorgen. Aber eine spanische
Frau, die in Deutschland von einem Italiener vergewal-
tigt wird, bekommt wegen des in Europa geltenden Dis-
kriminierungsverbots eine Opferrente. Das spanische
Opfer steht in Deutschland besser da als das deutsche
Opfer in Spanien.

Diese Unwucht habe ich am 10. Oktober 1999 bei ei-
ner Veranstaltung des Weißen Ringes angesprochen,
weil es nicht in meinen Kopf hineinwollte, dass diese
deutsche Frau schlechter dasteht. Von einem Ministerial-
beamten wurde mir entgegengehalten, das Territoriali-
tätsprinzip sei in der Opferentschädigung ein unumstöß-
liches Dogma. Angesichts dessen musste man einen
langen Atem haben.

Das Projekt, das Opferentschädigungsgesetz auf Op-
fer im Ausland auszuweiten, verfolge ich seit September
2002. Ich dachte mir, es könne kein Kunststück sein, ei-
nem Paragrafen einen Satz hinzuzufügen, der heißen
muss: Dieses Gesetz ist auch anwendbar, wenn eine
Deutsche oder ein Deutscher im Ausland Opfer einer
Gewalttat wird. Ich sah mich getäuscht. Im Jahre 2002






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

habe ich begonnen, dieses Projekt zu begleiten; jetzt ha-
ben wir 2009. Wieso dauerte das alles so lange? Meine
Damen und Herren, Demokratie ist ein schwieriges und
manchmal schwerfälliges Instrument. Entscheidend ist,
dass man dranbleibt und dass das Ergebnis stimmt.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Es traten immer mehr Fragen auf, die ich am Anfang so
nicht bedacht hatte.

Eine Frage, die sich gestellt hat, lautete: Wer zahlt die
Mehrkosten? Nach dem Opferentschädigungsgesetz wer-
den die Kosten zwischen dem Bund und den Ländern ver-
teilt. 40 Prozent zahlt der Bund, 60 Prozent zahlen die
Länder. Ich kam dann auf eine pfiffige Idee, nämlich die,
dass der Bund für die Fälle zuständig ist, in denen eine
Straftat auf einem deutschen Schiff begangen wird. Dafür
ist ja kein Land zuständig; das kann man keinem Land zu-
ordnen. So sagte ich: Wenn dieser Deutsche das Schiff
verlässt und auf ausländischem Boden steht, dann gilt das
Gleiche wie auf dem Schiff. Also muss der Bund das be-
zahlen. Das hat die Länder gefreut, und ich bin dankbar,
dass das in den Fraktionen genauso gesehen wurde. Ein
Problem war beseitigt.

Es gab aber noch immer die Frage, welche Mehrkos-
ten auftauchen. Das sollte der Bund natürlich schon wis-
sen. Mir kam dabei eine Konstellation zugute, die ich
von Anfang an im Auge hatte: Das Territorialitätsprinzip
ist kein unumstößliches Dogma; denn im Jahre 1972 ha-
ben die Österreicher es mit dem Verbrechensopfergesetz
schon ganz anders gehandhabt.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Sie sagten nämlich, dass es nicht darauf ankommt, auf
welchem Territorium die Straftat begangen wurde, son-
dern darauf, ob das Opfer Österreicher ist oder nicht. Die
Staatszugehörigkeit ist also das Entscheidende.

Deswegen konnte ich mich nach Österreich wenden
und dort nachfragen, welche Kosten auftauchen, wenn
ein Österreicher im Ausland Opfer wird. Das wussten sie
nicht, weil sie keine Statistik darüber geführt haben.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Also gab es wieder ein Problem, das nicht bewältigt wer-
den konnte.

So gab es immer wieder Steine auf dem Weg, auf dem
wir heute das Ziel erreichen wollen. Das alles dauerte
seine Zeit, nämlich über sechs Jahre. Ich freue mich
aber, dass wir am Ende dieser intensiven und langen Dis-
kussion, die noch andere Begleiterscheinungen mit sich
gebracht hat, zu einem sinnvollen und guten Ergebnis
für die Opfer von Straftaten gekommen sind.

Es ist richtig, dass die erste Aufgabe des Staates darin
besteht, Straftaten zu vermeiden. Wir erleben aber im-
mer wieder, dass das nicht gelingt und im Ausland auch
nicht gelingen kann. Wir dürfen dabei nicht nur an die
Opfer terroristischer Straftaten denken, wir müssen auch
an den Einzelfall eines Opfers denken, das von dieser
Straftat psychisch schwer gekennzeichnet ist.
Was sind schon sechs Jahre bei einem Gesetzge-
bungsverfahren? Im Jahre 1997 nahm ein Familienvater
zwei Kleinkinder mit nach Mallorca. Weil er nicht
wollte, dass die Kinder zur Mutter zurückkehren, hat er
sie dort umgebracht. Die Mutter erlitt einen sogenannten
Schockschaden, der nach dem Opferentschädigungsge-
setz zu einer Opferrente führt. Das Versorgungsamt hat
den Antrag dieser Mutter konsequent abgelehnt; denn
der Primärschaden – die Tötung der Kinder – war im
Ausland entstanden. Dass der Schockschaden im Inland
stattfand, war nach der damaligen Gesetzgebung und
Rechtsprechung nicht entscheidend.

Die Mutter hat vor dem Sozialgericht verloren. Vor
dem Landesozialgericht hat sie gewonnen. Im Jahre
2002 hat das Bundessozialgericht erkannt, dass die Ent-
scheidung des Landesozialgerichts aufzuheben ist. Diese
Mutter bekam keine Entschädigung nach dem Opferent-
schädigungsgesetz.

Was mich an diesem Fall so erschüttert hat: Die Tat
war im Jahre 1996, und die Entscheidung des Bundesso-
zialgerichts stammt aus dem Jahr 2002. Über sechs Jahre
musste eine von einer Straftat schwer traumatisierte
Mutter um ihr Recht kämpfen, und sie hat am Ende ver-
loren, weil wir eine Gesetzeslage hatten, die wir heute
hoffentlich mit einer breiten Zustimmung in diesem Par-
lament ändern wollen.

Würde dieser Fall morgen geschehen, müsste diese
Mutter nicht sechs Jahre umsonst kämpfen. Sie würde
ihre Entschädigung bekommen. Ich bin der Meinung,
dass dies ein gutes Signal ist.

Das Opferentschädigungsgesetz muss geändert wer-
den, und das Territorialitätsprinzip muss in diesem Be-
reich aufgegeben werden. Es kommt darauf an, dass wir
Opfern helfen, und nicht darauf, dass wir Dogmen un-
umstößlich aufrechterhalten.

Ich danke den vielen, die mitgeholfen haben, dieses
Gesetz auf den Weg zu bringen: Ich danke den Beamten
des Ministeriums, die uns sehr tatkräftig unterstützt ha-
ben. Ich danke aber auch für die Kooperationsbereit-
schaft vieler, die daran mitgearbeitet haben. Dieses Ge-
setz hat in der Tat viele Väter und Mütter, und ich freue
mich, dass wir den Opfern damit helfen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621709900

Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621710000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das gel-

tende Opferentschädigungsgesetz ist sowohl hinsichtlich
des Kreises der anspruchsberechtigten Personen als auch
hinsichtlich der Entschädigungshöhe von sachlich nicht
zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen geprägt. Der
Kollege Kauder hat Beispiele genannt, die in der Ver-






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
gangenheit Anlass zum Nachdenken gegeben haben.
Daher war eine Reform, die schon in der letzten Legisla-
turperiode geplant war, dann aber aufgrund der vorgezo-
genen Wahl letztlich gescheitert ist, längst überfällig; ich
denke, wir alle hier im Hohen Hause sind darin d’accord.
Grundsätzlich wird auch von meiner Fraktion der Aus-
weitung des Opferschutzes zugestimmt. Dies gilt insbe-
sondere für die Ausweitung auf im Ausland erlittene Ta-
ten.

Schade ist, dass die Lebenspartner vom Gesetzestext
nicht erfasst werden. Herr Thönnes hat dies schon ge-
sagt, und auch in den Berichterstattergesprächen ist dies
angesprochen worden. Manches geht, manches geht
nicht, schade ist es allemal. Ich muss an dieser Stelle
aber auch sagen, dass es nach wie vor Kritikpunkte gibt,
die trotz des nunmehr fast zweieinhalb Jahre laufenden
Gesetzgebungsverfahrens nicht behoben werden konn-
ten oder vielleicht auch nicht behoben werden wollten.
Das Recht der Entschädigung folgt aus dem staatlichen
Gewaltmonopol. Der Staat soll Menschen vor Straftaten
schützen. Anknüpfungspunkt dafür ist das Staatsterrito-
rium und nicht der aufenthaltsrechtliche Status eines
Menschen, sodass es dem Staat obliegt, jeden Menschen,
der sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, vor
Straftaten zu schützen.

Dementsprechend verbieten sich auch Differenzierun-
gen zwischen den Opfern von Straftaten, sofern sich die
Straftaten auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik
Deutschland ereignen. Hier wird immer noch die Unter-
scheidung gemacht, die unter anderem an den aufent-
haltsrechtlichen Status anknüpft. Das sollte entfallen. So
hat es der Deutsche Anwaltverein auch in der Anhörung
dargelegt. Nach wie vor schließt dieses Gesetz Men-
schen, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik
aufhalten, genauso aus wie diejenigen, die sich nur
vorübergehend hier befinden und nicht mit einer deut-
schen oder einer dauerhaft hier lebenden Person verhei-
ratet oder – das ist immerhin eine Verbesserung – bis
zum dritten Grade verwandt sind. Eine solche Aufhe-
bung der Unterscheidungen würde auch die vom Rat am
29. April 2004 verabschiedete Richtlinie zur Entschädi-
gung der Opfer von Straftaten bestmöglich umsetzen.
Das ist die Richtlinie 2004/80/EG.

Ein weiterer nicht behobener Kritikpunkt: Mehr als
18 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen
Staaten werden Opfer von Straftaten in Ost und West im-
mer noch in unterschiedlicher Höhe entschädigt. Nach
wie vor ist es so, dass Opfer von Gewaltverbrechen, de-
ren Wohnsitz in Ostdeutschland liegt, nur eine Grund-
rente in Höhe von 87 Prozent der Grundrente eines
Westdeutschen erhalten. So kann es zum Beispiel inner-
halb der Stadt Berlin eine Frage von nur wenigen Metern
sein, ob das Opfer in den Genuss der höheren Westent-
schädigung kommt, oder ob es sich mit der niedrigeren
Ostentschädigung begnügen muss. Das muss man sich
einmal bildlich vorstellen: Zwei befreundete Familien
machen einen Sommerausflug in den Tiergarten, und es
passiert ein Attentat. Ich hoffe, dass so etwas nie pas-
siert, aber wir sollten uns das einmal vorstellen. Die eine
Familie wohnt in der Fuldastraße in Berlin-Neukölln, im
Westteil, die andere Familie wohnt in der Harzer Straße
in Berlin-Treptow, im Ostteil. Die gleichaltrigen Kinder,
die zusammen spielen und möglicherweise in den glei-
chen Kindergarten gehen, werden gleich schwer verletzt.
Das eine Kind bekommt weniger Rente als das andere.
Wie wollen Sie das den Eltern und den Kindern erklä-
ren? Wie wollen Sie erklären, dass das eine Kind – so
wird es von den Opfern zum Teil empfunden – weniger
wert ist als das andere?

Mit seinem Urteil vom 14. März 2000, abgedruckt in
der Neuen Juristischen Wochenschrift, hat das Bundes-
verfassungsgericht festgestellt, dass die Beschädigten-
grundrente bezogen auf die Kriegsopfer in West und Ost
gleich sein muss. Es ist mit dem Gleichheitsgrundsatz in
Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren,
dass hier Unterschiede gemacht werden. Das war 1998
und sollte über den 31. Dezember 1998 hinaus nicht
mehr gelten. Wir haben jetzt das Jahr 2009. Ich denke,
nach über zehn Jahren ist es Zeit, den Gleichheitsgrund-
satz auch auf die Opfer von Straftaten zu übertragen. Da-
bei kann man auch nicht auf das wirtschaftliche Gleich-
gewicht, die Leistungsfähigkeit und die geringeren
Löhne im Osten verweisen. Dann müsste man auch im
Westen Unterschiede machen und zum Beispiel einem
Opfer, das aus München kommt, eine höhere Entschädi-
gung gewähren als einem Opfer aus dem Bayerischen
Wald. Ich kann mir vorstellen, welcher Aufschrei dann
durch die Republik gehen würde.

Schade ist – das habe ich schon bei der ersten Bera-
tung im November 2006 festgestellt, als ich meine Kri-
tikpunkte vorgebracht habe –, dass sich die Hoffnung,
dass sich durch die Berichterstattergespräche oder durch
die Ausschussberatungen etwas bessern könnte, nicht im
gewünschten Maße erfüllt hat.

Die Linke fordert gleiche Entschädigungsleistungen
für alle Menschen, die auf dem Territorium der Bundes-
republik Deutschland Opfer von Gewalttaten werden,
unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem Auf-
enthaltsstatus, ihrem Wohnort oder ihrem familienrecht-
lichen Status. Von daher werden wir uns bei der Abstim-
mung über den Gesetzentwurf trotz der darin enthaltenen
Verbesserungen – das muss man zugeben – enthalten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1621710100

Das Wort hat nun Kollege Jerzy Montag für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621710200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Staatssekretär Thönnes, bei grundsätzlicher Zustimmung
zu dem Gesetzentwurf – die Grünen werden ihm auch
zustimmen – muss ich, was Ihre Rede angeht, einiges
Wasser in den Wein gießen. Denn Sie haben mit Ihrer
Eingangsbemerkung, vor einem Monat habe die erste
Beratung stattgefunden und heute schon werde die
zweite und dritte Beratung durchgeführt, den Eindruck
erweckt, als sei ein Problem aufgetaucht und schnell er-
kannt worden; die Bundesregierung hätte gearbeitet und
bereits nach einem Monat hätten wir ein gutes Ergebnis
erzielt. So ist es nicht.






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag
Herr Kollege Kauder hat die unendliche Geschichte
dieses Gesetzentwurfs zur Reform des Opferentschädi-
gungsgesetzes dargestellt. Sie ist auch noch nicht zu
Ende. Ich erinnere an Ihre erste Rede vor einem Monat,
in der Sie einiges dazu gesagt haben, Herr Kollege
Kauder.

Die unendliche Geschichte weist darauf hin, dass wir
es mit einem etwas längeren Vorlauf als einem Monat zu
tun haben. Ich bin seit 2002 Mitglied dieses Hohen Hau-
ses, und seitdem bin ich beteiligt an der Diskussion über
die Reform des Opferentschädigungsrechtes. Ich bin im
Übrigen durch die gleichen Beispiele aufgewühlt, die
der Kollege Kauder genannt hat.

Aber wir haben es jahrelang nicht zu einem Gesetz-
entwurf gebracht. Das war uns Grünen einfach zu lange.
Deswegen haben wir nach jahrelangem Diskurs am
28. März 2006 – das war vor über drei Jahren – einen
Gesetzentwurf zur Reform des Opferentschädigungsge-
setzes in den Bundestag eingebracht. Dieser Gesetzent-
wurf ist dann jahrelang im Bermudadreieck der Großen
Koalition und auch des Ministeriums verschwunden. Es
war nicht möglich, zu einer gemeinsamen Lösung zu
kommen, obwohl es eigentlich in den Diskursen, die wir
geführt haben, keine Differenzen gab.

Man muss an dieser Stelle benennen, worin der
Hemmschuh bestand. Er lag weder bei der Regelung des
Auslandsfalles, den Sie, Herr Kollege Kauder, genannt
haben, noch bei der Regelung der Ausweitung des
Schutzes für Ausländerinnen und Ausländer, die sich in
Deutschland befinden. Er ergab sich vielmehr aus fol-
gender Konstellation: Wenn in Deutschland jemand Op-
fer einer Gewalttat wird und getötet wird, der verheiratet
ist, dann haben der Witwer oder die Witwe einen An-
spruch nach dem Opferentschädigungsgesetz. Wenn der
getötete Mensch aber in einer eingetragenen Partner-
schaft lebte, dann hat der eingetragene Lebenspartner ei-
nen solchen Anspruch nicht. Das ist genauso wenig zu
verstehen wie die von Ihnen angesprochene Fallgestal-
tung mit der deutschen oder der spanischen Frau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es war drei Jahre nicht möglich – ich meine nicht Sie
persönlich, Herr Kollege Kauder; ich nehme Sie aus-
drücklich aus –, die Kolleginnen und Kollegen der
Union davon zu überzeugen, dass dieser Fall gleich zu
behandeln ist.

Wir haben im Endeffekt festzustellen, dass die Koali-
tion den Gesetzentwurf der Grünen inhaltlich von A bis Z
übernommen und abgeschrieben hat. Das ist nicht
schlimm. Ein Copyright machen wir nicht geltend. Wir
können auch mit dem Gesetzentwurf leben, den die Ko-
alition eingebracht hat.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621710300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollege Kauder?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621710400

Sehr gerne.
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege Montag, können wir uns vielleicht da-
rauf einigen, dass keiner vom anderen abgeschrieben hat
und dass keiner für sich in Anspruch nehmen darf, er sei
der einzige Urheber dieses Gesetzes? Der Entwurf der
CDU/CSU datiert aus dem Jahr 2002. Sie haben begon-
nen, die Probleme seit dem Jahr 2006 zu schildern. Von
2002 bis 2006 gab es andere Probleme, die ich bereits er-
wähnt habe: Wer zahlt die Kosten? Pauschalen oder Här-
teausgleich? Das waren die Eingangsthemen. Dann kam
das Problem, das Sie erwähnt haben, hinzu. Sagen Sie
also nicht, dass wir abgeschrieben hätten. Das stimmt so
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Unser Antrag ist auch von 2006!)



Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621710500

Lieber Kollege Kauder, ich war gerade so konziliant,

zu sagen: Es macht ja nichts. Wir können auch mit dem
Gesetzentwurf leben, den Sie vorgelegt haben. Aber
zwischen 2002 und 2006 gab es eine Bundestagswahl.
Die Vorschläge, die in der letzten Legislaturperiode ge-
macht worden sind, haben das unrühmliche Schicksal er-
leiden müssen, das alle solche Vorlagen erleiden, die
nicht zu Ende gebracht werden können.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Aha!)


– Nur davon habe ich gesprochen. – Tatsache ist: In die-
ser Legislaturperiode gab es drei Jahre nur unseren Ge-
setzentwurf. – Was nun kommt, muss mir nicht mehr als
Beantwortung Ihrer Frage angerechnet werden. Danke
schön, Herr Kollege Kauder.

Ich komme nun zum nächsten Punkt, den Sie ange-
sprochen haben, Herr Staatssekretär. Sie haben gesagt,
es habe eine wunderbare Form der Zusammenarbeit ge-
geben. Ich muss sagen: Wir wären gerne – genauso wie
die FDP –, nachdem wir eine Vorlage eingebracht hatten,
an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt worden.
Aber nein, die Koalition hat erklärt, eine gemeinsame
Vorgehensweise des Parlaments komme für sie bei die-
ser Problematik nicht infrage. Sie wollten nur einen Ge-
setzentwurf der Koalition. Wir, die Oppositionsfraktio-
nen, hätten uns gerne beteiligt und werden diesem
Entwurf auch zustimmen. Aber tun Sie bitte schön nicht
so, als ob es eine wundervolle Form der Zusammenar-
beit bis zum Schluss gegeben hätte.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Sie wissen doch, dass das falsch ist!)


Diese hat es leider nicht gegeben.

Lieber Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie hät-
ten gerne die eingetragenen Lebenspartnerschaften „et-
was eindeutiger erwähnt gesehen“. Tatsächlich sind
diese Lebenspartnerschaften überhaupt nicht erwähnt,
weder im Gesetz noch in der Gesetzesbegründung, was
für den Juristen, Herr van Essen, sicherlich eine Hilfe






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag
gewesen wäre. Sie haben das Kunststück zustande ge-
bracht, eine kaskadenhafte Verweisungskette zu benen-
nen, bei der man mit der Lupe danach suchen muss, ob
eine Lösung des von mir angesprochenen Problems tat-
sächlich erfolgt ist. Das bleibt kleinlich und schäbig.

Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu; denn wir teilen
den Inhalt dessen, was Sie vorgeschlagen haben.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621710600

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege

Anton Schaaf.


(Beifall bei der SPD)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1621710700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich werde mich an dem
Streit bzw. der Diskussion darüber, wer die Urheber-
schaft für diesen Gesetzentwurf hat, nicht beteiligen.
Vielleicht darf ich Folgendes feststellen: Seitdem ein
Nichtjurist dieses Thema ein Stück weit mit begleiten
durfte – ich meine damit mich; ich habe nämlich vor et-
was über einem Jahr die Berichterstattung übernommen –,
haben wir nicht mehr ganz so lange gebraucht, um die-
sen Gesetzentwurf hier in zweiter und dritter Lesung zu
behandeln. Das stelle ich hiermit fest.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie, Herr Montag, haben völlig recht, wenn Sie sagen, es
gebe jetzt eine Verweiskette, in der die eingetragenen
Lebenspartner als Anspruchsberechtigte dargestellt wür-
den. Ich finde – deswegen kann ich aus Überzeugung
heute hier zustimmen –, dass wir eingetragene Lebens-
partner abgesichert haben und diese als Opfer entschä-
digt werden können. Das war das Ansinnen der SPD-
Bundestagsfraktion, und das ist erreicht worden. Die
Tatsache, dass es in Bezug auf den Verweis hin und wie-
der einmal holpriger wird, hindert uns nicht daran, Rich-
tiges zu tun. Das haben wir mit dem Koalitionspartner
CDU/CSU, vor allem durch den Einsatz von Siegfried
Kauder, hinbekommen. Das will ich hier ausdrücklich
erwähnt haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der Ursprung der Debatte liegt nicht in der Einbrin-
gung eines Gesetzentwurfs, sondern er liegt in schändli-
chen Taten, die stattgefunden haben. Die Diskussion
über die Ausweitung des Opferentschädigungsgesetzes
hat mit den schändlichen Taten in Solingen, Mölln und
auf Djerba begonnen. Damals haben wir festgestellt,
dass es Regelungslücken gibt, die der Nachbesserung
bedürfen. Wir können uns die Situation noch einmal vor
Augen führen: Auf Djerba sind Deutsche Opfer eines
Terroranschlags geworden. Sie fielen nicht unter die Re-
gelung des Opferentschädigungsgesetzes, weil diese Tat
im Ausland stattgefunden hat. Das war der Ursprung.
Wir haben diese Menschen übrigens nicht im Stich ge-
lassen, sondern wir haben die Härtefallregelung ange-
wendet. Sie hatten aber keinen rechtlichen Schutz.

Es gab auch schändliche Diskussionen im Zusam-
menhang mit diesem Gesetz. Mich haben diese Diskus-
sionen sehr betroffen gemacht. Auch von Teilen dieses
Hauses wurde gesagt, dass es dann, wenn es keine
Kriegsbeteiligung Deutschlands im Ausland gäbe, auch
keine Terroranschläge und somit auch keine Opfer gäbe
und wir dann auch kein Opferentschädigungsgesetz
brauchten.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Abstruse Gehirnwindungen!)


Solche unglaublichen Ableitungen mussten wir damals
zur Kenntnis nehmen. Ich weise mit Abscheu zurück,
was damals formuliert worden ist.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gab auch die schändlichen Taten in Solingen, wo
Menschen, die hier dauerhaft lebten, Opfer von rechtsra-
dikalen Straftätern geworden sind. Ein Onkel, der zu Be-
such war und anschauen musste, wie seine Familie getö-
tet worden ist, fiel nicht unter die Regelungen des
Opferentschädigungsgesetzes. Es geht schlichtweg um
Menschen. Es geht nicht um irgendwelche abstrusen Ab-
leitungen, die mit den Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr und eventuellen Terroranschlägen zusammenhän-
gen. Es geht hier darum, Menschen besserzustellen.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen bedaure ich sehr, dass die Linke sich dann,
wenn wir Menschen konkret besserstellen – auch wenn
es ihr nicht ausreicht; das mag durchaus sein –, aus-
drücklich der Debatte enthält. Ich finde das sehr bedau-
erlich.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben es nicht geschafft, einen interfraktionellen
Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt ist das ein Gesetzent-
wurf der Koalition. Auch ich bedaure das, Herr Kollege
Montag. Das sage ich sehr deutlich; denn das Ansinnen
wird von breiten Kreisen getragen und ist von vielen in
den letzten Jahren forciert worden. Es wäre durchaus an-
gebracht gewesen, einen interfraktionellen Gesetzent-
wurf einzubringen. Die Diskussionen, die wir gemein-
sam geführt haben, waren von dem Bemühen geprägt
– davon zeugte die gesamte Atmosphäre –, das Beste he-
rauszuholen. Die Formulierungshilfen des Ministeriums
für Arbeit und Soziales im Januar letzten Jahres bildeten
eine Brücke und waren ein großer Schritt, um das Opfer-
entschädigungsgesetz zu verbessern. Ich bin dem Haus,
dem Parlamentarischen Staatssekretär und auch dem Mi-
nister ausdrücklich dankbar dafür, dass sie uns so kon-
struktiv begleitet und die Angelegenheit oftmals forciert
haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich will mich bei den Berichterstatterinnen und Bericht-
erstattern der vier Fraktionen, die heute dem Gesetzent-
wurf zustimmen, ausdrücklich bedanken. Auch das, was






(A) (C)



(B) (D)


Anton Schaaf
Sie, Herr Montag, uns zu bedenken gegeben haben,
nämlich zu schauen, ob die Verweiskette ausreicht und
ob gesichert ist, dass damit eingetragene Lebenspartner
tatsächlich abgesichert sind, war außerordentlich hilf-
reich, weil wir noch einmal unsere und auch die Formu-
lierungen des Ministeriums überprüft haben.

Mein besonderer Dank gilt gerade beim Thema einge-
tragene Lebenspartnerschaften und dem Umgang damit
dem Kollegen Siegfried Kauder, der in seiner Fraktion
für dieses herausragend gute Gesetz für eine breite Zu-
stimmung gesorgt und sichergestellt hat, dass wir es jetzt
überhaupt durchs Parlament bringen können. Viel zu
lange hat man sich an einem einzigen Begriff festgehal-
ten und aufgehalten. Ich finde, das war dem Schicksal
der Menschen, die wir mit diesem Gesetz besserstellen
wollen, nicht angemessen. Ich bin froh, dass diese
Schwierigkeiten beseitigt sind. Ich danke allen Beteilig-
ten noch einmal und bitte Sie um breite Zustimmung.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621710800

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1621710900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!

Werte Kollegen! Wer Opfer einer Straftat geworden ist,
hat Anspruch darauf, dass ihm geholfen wird, und zwar
möglichst schnell und unbürokratisch. Leider mussten in
den vergangenen Jahren viele Deutsche, die im Ausland
zu Schaden kamen, aber auch Ausländer, die bei uns zu
Opfern wurden, die Erfahrung machen, dass ihnen das
Opferentschädigungsgesetz nur unzureichend helfen
konnte, da es dem sogenannten Territorialitätsprinzip
folgt.

Fraktionsübergreifend haben wir uns in der Vergan-
genheit bemüht, tragfähige Lösungen zu finden, um die-
sem Mangel abzuhelfen. Herr Kollege Siegfried Kauder
hat über die lange Vita dieses Gesetzgebungsverfahrens
bereits ausführlich berichtet. Gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner bringen wir nun ein Gesetz auf den
Weg, das die bisherige Lücke im Opferentschädigungs-
gesetz schließen wird. Wir werden den Opfern tätlicher
Gewalt einen möglichst umfassenden Schutz in Form
staatlicher Entschädigung gewähren. Fälle wie die der
deutschen Opfer beim Bombenanschlag im tunesischen
Djerba oder die der türkischen Opfer beim Brandan-
schlag in Solingen wären nun vom Gesetz umfasst.

Ich freue mich sehr, dass auch die Fraktionen der
Grünen und der FDP im Großen und Ganzen unseren
Gesetzentwurf mittragen und wir als Parlamentarier in
dieser Sache an einem Strang ziehen; das ist nicht immer
so. Über das Wie haben wir lange diskutiert, aber nie
über das Ob. Es geht darum, Menschen zu helfen und
nicht ein zweites Mal Menschen zu Opfern werden zu
lassen, und zwar diesmal zu Opfern einer Gesetzeslücke.
Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, geht in dieselbe Richtung wie der Ent-
wurf der Koalition, aber er geht uns bei Auslandstaten
nicht weit genug; darauf wurde bereits hingewiesen. Ihr
Entwurf sieht bei Straftaten, die im Ausland gegen Deut-
sche und ihnen gleichgestellte Personen begangen wer-
den, lediglich einen Härteausgleich vor. Der Koalitions-
entwurf dagegen enthält im einzufügenden § 3 a des
Opferentschädigungsgesetzes einen Rechtsanspruch auf
Leistungen. Das dem Opferentschädigungsgesetz zu-
grunde liegende Territorialitätsprinzip wird damit durch-
brochen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621711000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Montag?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1621711100

Wollen wir schon wieder ein Privatissimum machen,

Herr Kollege? Bitte.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621711200

Danke schön. – Herr Kollege Lehrieder, nachdem

diese Sache nun schon zum zweiten Mal vorgetragen
wurde – auch der Kollege van Essen hat das ausgeführt –,
möchte ich Sie herzlich bitten, zur Kenntnis zu nehmen
und in Ihrer Antwort auf meine Frage zu bestätigen, dass
es einen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen vom
28. März 2006 mit der Drucksachennummer 16/1067 gibt
und dass es dazu allerdings einen Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt. Dort haben wir
von dem ursprünglichen Härtefonds, auf den wir uns in-
terfraktionell geeinigt hatten, weil das Ministerium sig-
nalisierte, dass es einen Anspruch nicht mittragen will,
Abstand genommen und haben auch einen Anspruch in
unseren Gesetzentwurf aufgenommen, nachdem das Mi-
nisterium erklärt hat, dass es einen solchen Anspruch fi-
nanziell mittragen würde.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1621711300

Gut, Herr Kollege Montag, ich freue mich immer

über einen Erkenntnisgewinn bei den Grünen, keine
Frage.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so arrogant, Herr Kollege!)


Aufgrund des langen Gesetzgebungsverfahrens kenne
ich nicht die Historie sämtlicher Gesetzentwürfe. Lieber
Kollege Montag, ich nehme das zur Kenntnis.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!)


– Bitte. – Die FDP schließlich verlangt lediglich eine
Besserstellung von Personen, die im Ausland bei einem
Terrorakt verletzt werden oder sonstwie Opfer von Straf-
taten geworden sind. Herr Kollege van Essen, Sie haben
bereits ausgeführt, dass Sie Ihren eigenen Antrag für ge-
genstandslos erachten und für unseren Entwurf stimmen
werden. Dafür bedanke ich mich. Die Richtung stimmt.
Der Antrag von den Liberalen bleibt – das habe ich aus-
geführt – knapp hinter unserem Entwurf zurück. Die Be-






(A) (C)



(B) (D)


Paul Lehrieder
lange der Ausländer, die in Deutschland verletzt werden,
bzw. die der Deutschen, die im Ausland verletzt werden,
sind nach unserem Dafürhalten noch nicht ausreichend
berücksichtigt. Unser Entwurf dagegen wird beiden
Gruppen gerecht.

Darüber hinaus haben wir die Kostenaufteilung zwi-
schen Bund und Ländern nach dem Opferentschädi-
gungsgesetz geregelt. Wir sind darin übereingekommen,
die Kosten pauschaliert abrechnen zu lassen. Herr
Staatssekretär Thönnes hat auf die Problematik in sei-
nem Eingangsstatement bereits hingewiesen. Der Bund
erstattet den Ländern demnach pauschal 22 Prozent der
Gesamtkosten nach dem Opferentschädigungsgesetz.
Das entspricht einer Bundesbeteiligung von 40 Prozent
an den Geldleistungen. Strittig zwischen Bund und Län-
dern war zuvor die Beteiligung an den Kosten für statio-
näre Heimpflege, die im Bereich des Opferentschädi-
gungsgesetzes vollständig von den Ländern zu tragen
sind, sowie die sachgerechte Trennung zwischen Geld-
und Sachleistungen im Einzelfall. Problematisch war in
der Planung bisher, dass das verfassungsrechtliche Ge-
bot des Art. 104 a Grundgesetz, wonach sich der Bund
nicht an Sachleistungen beteiligen darf, de facto nicht er-
füllt wurde. Gleichzeitig war ungewiss, ob der Bund sei-
nen Anspruch auf eine korrekte Abrechnung der Geld-
leistungen gegenüber den Ländern erfolgreich würde
durchsetzen können.

Für die Zukunft können Meinungsverschiedenheiten
zwischen Bund und Ländern über die rechtliche Qualifi-
zierung von Leistungsausgaben vermieden werden. Die
pauschalierte Abrechnungsweise wird jeweils nach ei-
nem Zeitraum von fünf Jahren überprüft. So kann ver-
mieden werden, dass sich die Kostenaufteilung in der
Zukunft zuungunsten des Bundes oder der Länder ver-
schiebt.

Ich denke, es ist allen klar geworden, dass das Opfer-
entschädigungsgesetz dringend reformiert werden muss.
Ich bin mir sicher, dass auch die Kolleginnen und Kolle-
gen aus den anderen Fraktionen das so sehen. Deshalb
bitte ich um breite Zustimmung zu unserem Gesetzent-
wurf.

Noch ein Wort zu den Vorrednern. Sie haben darauf
hingewiesen, dass der Schutz vor Gewalttaten natürlich
auch in Zukunft Priorität haben muss und auch haben
wird. Wenn man bedenkt, dass gerade gestern der
Prozess gegen die Mitglieder der sogenannten
Sauerland-Gruppe eröffnet wurde, dann wird einem vor
Augen geführt, dass die Gefährdung auch in Deutsch-
land durchaus real ist. Wir werden weder unseren Bür-
gern noch den sich bei uns rechtmäßig aufhaltenden
Ausländern eine Vollkaskoabsicherung gewähren kön-
nen. Deshalb ist die Fortentwicklung dieses Gesetz von-
nöten.

Ich bedanke mich ebenfalls bei allen, die an diesem
Gesetzgebungswerk konstruktiv mitgearbeitet haben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621711400

Ich schließe die Aussprache.

Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP ha-
ben ihre jeweiligen Gesetzentwürfe für erledigt erklärt. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Änderung des Opferentschädi-
gungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12697, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
sache 16/12273 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Jens
Ackermann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative,
Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz

– Drucksache 16/474 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian
Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes

(Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid)


– Drucksache 16/680 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Petra Pau, Dr. Gregor Gysi,
Dr. Lothar Bisky, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Einführung der
dreistufigen Volksgesetzgebung in das
Grundgesetz

– Drucksache 16/1411 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
– Drucksache 16/12019 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Hartmann (Wackernheim)

Gisela Piltz
Petra Pau
Wolfgang Wieland

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Ingo Wellenreuther für die
CDU/CSU-Fraktion.


Ingo Wellenreuther (CDU):
Rede ID: ID1621711500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Im kommenden Monat feiern wir den
60. Jahrestag unseres Grundgesetzes. Es hat unserem
Land 60 Jahre lang Stabilität, Frieden und Freiheit gege-
ben. Dieser Umstand sollte eigentlich Anlass für uns alle
sein, ein Loblied auf die parlamentarische Demokratie
zu singen, anstatt heute eine verfassungsrechtliche und
politische Grundsatzdebatte darüber zu führen, ob un-
sere repräsentative Demokratie überholt ist.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das könnte Ihnen so passen, dass wir das Thema auslassen! Das wäre schön für Sie, Herr Wellenreuther!)


– Herr Wieland, ich komme nachher noch zu Ihnen.

Die Befürworter von Plebisziten tun gerade so, als sei
unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie eine
minderwertige Form der Demokratie,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt das denn?)


ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert wer-
den muss.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wer sagt das denn?)


Herr Wieland, das ist eine Geisteshaltung, die ich nicht
teilen kann.

Es wird suggeriert, die Einführung von Volksent-
scheiden sei ein Allheilmittel gegen Politikverdrossen-
heit. Es wird behauptet, nur durch die direkte Demokra-
tie könne das bürgerschaftliche Engagement gestärkt
werden und könnten die Wähler wieder an die Wahl-
urnen zurückgeholt werden.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch dadurch!)


Dieser Auffassung ist die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion ausdrücklich nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb halte ich, meine sehr geehrten Damen und
Herren, keinen Zeitpunkt für geeigneter, die Anträge der
Opposition abzulehnen, als diesen, kurz vor dem
60. Jahrestag des Grundgesetzes. Es sprechen nämlich
weiterhin gewichtige Gründe klar gegen Plebiszite auf
Bundesebene und für eine Beibehaltung unserer parla-
mentarisch-repräsentativen Demokratie.

Erstens. Auch wenn Herr Kollege Wieland eine an-
dere Einschätzung der Geschichte hat: Volksabstimmun-
gen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politi-
schen Destabilisierung.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb leitet die CDU sie unentwegt ein, gerade hier in Berlin! Eine nach der anderen kommt von der CDU! Wollen Sie den Staat untergraben?)


– Herr Wieland, der Tag des Bieres rechtfertigt nicht je-
den dumpfen Zwischenruf. –


(Beifall bei der CDU/CSU)


Schon in der Weimarer Zeit haben sie das Volk aufge-
wühlt und gespalten und das Vertrauen ins Parlament zu-
sätzlich erschüttert. Im Nazireich wurden Volksabstim-
mungen missbraucht, um diktatorische Entscheidungen
im Nachhinein zu legitimieren.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie sich aber aufschreiben lassen, Herr Wellenreuther!)


Zweitens können Volksabstimmungen den immer
schwierigeren und komplexeren Fragestellungen unserer
pluralistischen Welt nicht gerecht werden. Ein Volksent-
scheid ist ein primitives Verfahren, bei dem eine Frage
mit Ja oder mit Nein zu beantworten ist. Im Gegensatz
dazu ist unser bestehendes Gesetzgebungsverfahren ein
lernendes Verfahren.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Och! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal den Bayern!)


– Wir sind hier in Berlin und nicht in Bayern, Herr
Montag.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kauder hat heute für „Pro Reli“ geworben! Er hat „primitiv“ für Religion geworben!)


Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineinge-
kommen ist. Nach der ersten Lesung schließt sich eine
intensive Behandlung in Ausschüssen an. Sachverständi-
genanhörungen und Expertengespräche sowie Bericht-
erstattergespräche werden durchgeführt.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich, wie er einfach seinen Text abliest! Peinlich!)


Zudem wird eine Folgenabschätzung vorgenommen.
Teilweise bewertet sogar ein extra eingerichtetes Gre-
mium, der Normenkontrollrat nämlich, den entstehenden
Zuwachs an Bürokratie. Das ist ein gründliches Verfah-
ren, bei dem Kompromisse ausgehandelt werden zum
Wohle der Allgemeinheit, aber auch zum Wohle von






(A) (C)



(B) (D)


Ingo Wellenreuther
Minderheiten. Bei Volksentscheiden ist ein solch ausge-
wogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes Ent-
scheidungsverfahren nicht möglich.

Drittens. Für besonders groß halte ich die Gefahr,
dass wichtige Sachfragen nicht nach sachbezogenen Ge-
sichtspunkten entschieden werden, sondern danach, wel-
che Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht,
wie schlagwortartig Parolen unters Volk gejubelt werden
oder wer welche Prominenten mit entsprechender Wer-
bewirkung für seine Sache gewinnen kann. Die Folge
wäre ein unsachlicher Abstimmungskampf, der auch
noch die Gefahr der Manipulation in sich birgt.

Viertens ist meines Erachtens nicht einzusehen, wa-
rum sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen
und unpopuläre oder schwierige Entscheidungen dem
Volk überlassen sollen. In jeder Legislaturperiode gibt es
richtungsweisende Entscheidungen, für die man Politi-
ker bzw. Parteien alle vier Jahre politisch zur Verantwor-
tung ziehen kann.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621711600

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Wieland?


Ingo Wellenreuther (CDU):
Rede ID: ID1621711700

Gerne, Herr Wieland.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621711800

Herr Kollege Wellenreuther, wenn es bei Volksbegeh-

ren darum geht, wie Sie sagten, in primitiver Weise
schlagwortartig Positionen zur Abstimmung zu stellen,
können Sie mir erklären, warum im Hinblick auf einen
in Berlin am Sonntag stattfindenden Volksentscheid Ihr
Fraktionsvorsitzender Volker Kauder heute in der Zei-
tung Der Tagesspiegel über fünf Zeilen hinweg offenbar
schlagwortartig primitiv versucht, die Menschen an die
Wahlurne zu treiben?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch was ganz anderes!)



Ingo Wellenreuther (CDU):
Rede ID: ID1621711900

Herr Wieland, zu Berlin komme ich nachher noch.

Verfahren, die in Gang sind und betrieben werden, muss
man so betreiben, dass man sie gewinnt.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die CDU in Gang gesetzt, Herr Wellenreuther!)


– Lassen Sie mich bitte ausreden, Herr Wieland. Die
Frage war beendet. – Das heißt aber nicht, dass man des-
wegen das Verfahren als gut empfinden muss.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie haben es doch begonnen!)


Diese Möglichkeit, alle vier Jahre die Politiker und
die Parteien zur Verantwortung zu ziehen, wäre bei der
Gesetzgebung durch Volksentscheide eingeschränkt. Da-
mit würde insgesamt eine Abwertung des Parlaments
einhergehen, und es würde zu einem weiteren Bedeu-
tungsverlust beitragen, der bereits durch die Normenflut
der europäischen Institutionen und die unsägliche Nei-
gung, politisch brisante Debatten mehr in Talkshows als
im Parlament auszutragen, eingetreten ist.

Fünftens. Letztlich wäre die föderale Grundstruktur
unseres Staates tangiert, weil die in Art. 79 Abs. 3 des
Grundgesetzes garantierte grundsätzliche Beteiligung
der Länder an der Gesetzgebung nicht mehr gewährleis-
tet wäre. Eine Konkurrenzvorlage durch den Bundesrat
sehen die Gesetzentwürfe nämlich nicht vor.

Für unsere Fraktion sind damit die Gründe für eine
Ablehnung im Wesentlichen die gleichen, die ich Ihnen
anlässlich der ersten Lesung der vorliegenden Gesetzent-
würfe bereits genannt habe.

Schauen wir uns aber noch einmal die Hauptargu-
mente der Entwurfsverfasser an! Die Entwurfsverfasser
behaupten immer wieder, durch die Möglichkeit von
Plebisziten auf Bundesebene könne man der Politikver-
drossenheit und dem Verlust des Vertrauens in die Politi-
ker entgegenwirken. Den Gegnern von Plebisziten wird
vorgeworfen, sie würden das Wahlvolk für dumm halten
und kein Vertrauen in dessen Entscheidungskompetenz
haben. Beides, Herr Wieland, ist nachweislich falsch und
nichts anderes als plumpe Stimmungsmache und purer
Populismus.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Partei macht eines nach dem anderen!)


Ich habe im Übrigen noch nie verstanden – vielleicht
hören Sie zu; dann verstehen Sie es –, warum der Vor-
schlag, dem Parlament in wichtigen Fragen die gesetzge-
berische Entscheidungskompetenz zu entziehen und dem
Volk zu übertragen, ausgerechnet zu einem höheren Ver-
trauen in die Parlamentarier führen soll.

Was die behauptete höhere Wahlbeteiligung anbe-
langt – jetzt komme ich zu Berlin –, beweisen nicht nur
die in Berlin durchgeführten bzw. bevorstehenden Volks-
entscheide das Gegenteil. 36 Prozent Wahlbeteiligung
bei der Frage „Tempelhof“ und eine in gleicher Höhe er-
wartete Wahlbeteiligung bei der Frage „Pro Reli“ spre-
chen eine deutliche Sprache, nämlich: Direkte Demokra-
tie führt eben nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen doch noch gar nicht, wie viele da hingehen!)


Was das Thema Politikverdrossenheit anbelangt, hat
in diesem Zusammenhang der Regierende Bürgermeister
von Berlin seinen eigenen Beitrag geleistet, indem er im
letzten Jahr vor der Abstimmung verkündete, dass der
Berliner Senat unabhängig von der Entscheidung des
Volkes über Tempelhof den City-Airport schließen
werde.

Neue Argumente sind nicht ersichtlich, auch nicht
durch Herrn Wieland. Deshalb hat sich an meinem Fazit
von vor drei Jahren nichts geändert. Ich fasse zusam-
men: Schon die Ergänzung unserer repräsentativen De-
mokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene
würde die Wesenszüge unserer Demokratie verändern.
Ich kann deshalb nur raten: Erstens. Unterschätzen wir






(A) (C)



(B) (D)


Ingo Wellenreuther
nicht die Gefahr des Populismus, die in Plebisziten
steckt! Zweitens. Geringschätzen wir nicht unsere ge-
schichtlichen Erfahrungen damit! Drittens. Überschät-
zen wir nicht deren Bedeutung im Kampf gegen Politik-
verdrossenheit!

Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes par-
lamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalis-
mus wertzuschätzen. Unsere Bundestagsfraktion lehnt
daher alle vorliegenden Gesetzentwürfe ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621712000

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-

Fraktion.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621712100

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Vor allen Dingen: Sehr geehrte Wahlberechtigte
hier und wo auch immer Sie uns zuschauen! Bei der Be-
ratung heute geht es nämlich um Ihre Interessen.

In den Verfassungen aller 16 Bundesländer finden
sich Elemente direkter Demokratie, und das ist aus unse-
rer Sicht auch gut so.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)


Nach unserer Auffassung ist es gerade nicht gut, dass da-
von im Grundgesetz nichts zu finden ist. Herr Kollege
Wellenreuther, man kann zu allem verschiedene Ansich-
ten haben, aber das als primitives Verfahren zu bezeich-
nen,


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Im Sinne von einfach! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie nicht gesagt!)


finde ich sehr mutig. Bei Ihnen in Baden-Württemberg,
glaube ich, gibt es etwas Analoges, nämlich Kumulieren
und Panaschieren. Das wäre dann ein weitaus primitive-
res Verfahren.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Es geht um die Bundesebene!)


Mal ganz ehrlich: Ob man bei einer Sachfrage mit Ja
oder Nein entscheidet oder alle vier Jahre bei der Bun-
destagswahl ein Kreuz bei einer Partei macht – beides ist
ähnlich einfach, um bei Ihrer Wortwahl zu bleiben. Von
daher finde ich: Wie Sie sich hier dazu geäußert haben,
ist dem Thema nicht angemessen.


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion müs-
sen und sollen grundlegende richtungsweisende Ent-
scheidungen eines Staates vom Bürger mitgetragen und
im Zweifel auch beeinflusst werden können, und zwar
darüber hinaus, dass er alle vier Jahre ein Kreuz machen
kann. Derartige Mitbestimmungsrechte würden nach un-
serer Überzeugung zu einer spürbaren Verbesserung ih-
rer Akzeptanz in der Bevölkerung und auch zu einer Ver-
besserung der Demokratie führen.

Demokratie wurde schon in der Antike als Gleichheit
der Freien verstanden. Vor diesem Hintergrund ist aus
unserer Sicht klar, dass man ohne freie Bürger keine De-
mokratie mehr braucht. Diesen Spruch könnten Sie sich
vielleicht einmal merken.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Was würde wohl Theodor Heuss dazu sagen?)


Es war die FDP-Bundestagsfraktion, die zu Beginn
dieser Legislaturperiode erneut einen Gesetzentwurf
vorgelegt hat mit dem Ziel, plebiszitäre Elemente in das
Grundgesetz einzuführen. Es ist richtig, dass sich auch
andere Fraktionen mit diesem Thema beschäftigt haben,
und dafür sind wir dankbar. Wir haben bis zum Schluss
gehofft, dass der Bundestag vielleicht doch dazu kommt,
in dieser Legislaturperiode endlich wenigstens irgend-
etwas einzuführen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wir auch! – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: „Irgendetwas einführen“? Das ist ja eine Haltung!)


Dazu wird es vermutlich nicht kommen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621712200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Grosse-Brömer?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621712300

Ja, wenn er Spaß daran hat.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1621712400

Frau Kollegin Piltz, ich habe natürlich gehofft, dass

meine Zwischenfrage auch Ihnen Spaß macht; sonst
hätte ich mich gar nicht gemeldet.

Weil Sie fordern, zu ganz wichtigen Themen auch das
Volk zu befragen, möchte ich Sie fragen: Geben Sie mir
in der Retrospektive recht, dass, wenn man damals die
Bevölkerung gefragt hätte, überaus wichtige Entschei-
dungen – ich nenne beispielhaft die Wiederbewaffnung
der Bundeswehr oder den NATO-Doppelbeschluss –, die
sich im Nachhinein geschichtlich als besonders bedeut-
sam erwiesen haben und gravierend positive Auswirkun-
gen für unser Land hatten, von einer Mehrheit von bis zu
70 oder 80 Prozent abgelehnt worden wären, was letzt-
endlich katastrophale Auswirkungen auf die deutsche
Geschichte gehabt hätte?


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621712500

Herr Grosse-Brömer, ich habe so etwas geahnt; des-

wegen macht mir Ihre Frage keinen Spaß.

Erstens unterstellen Sie, dass das Volk dümmer ist als
wir.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!)


Zweitens gehen Sie davon aus, dass wichtige Entschei-
dungen nur vom Parlament getroffen werden können.






(A) (C)



(B) (D)


Gisela Piltz
Drittens behaupten Sie, dass Sie genau wissen, welche
Entscheidungen man dem Volk überlassen kann und
welche nicht. Das alles halte ich für falsch.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE] – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Beantworten Sie doch die Frage!)


Hinterher ist man immer klüger; das ist sicherlich so.
Demokratie ist nicht einfach. Wer Angst davor hat, dem
Volk etwas zu erklären, und sich vor einer Entscheidung
fürchtet, der muss sich gut überlegen, ob er hier richtig
ist.


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621712600

Der Kollege möchte noch einmal nachfragen.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621712700

Meine Antwort war eigentlich so deutlich, dass er

jetzt keinen Spaß mehr haben kann.


(Heiterkeit bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621712800

Wir machen alles davon abhängig, ob man Spaß hat. –

Herr Kollege, die Kollegin möchte mit ihrer Rede fort-
fahren.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Schade!)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621712900

Unser Entwurf – das ist auch ein Teil der Antwort auf

Ihre Frage – ist im Übrigen der einzige, in dem die Vor-
lage von vier Finanzierungsmodellen für finanzwirk-
same Initiativen gefordert wird. Daneben hatten wir
Quoren vorgeschlagen, die aus unserer Sicht nachvoll-
ziehbar, zielführend und in der Praxis durchaus umsetz-
bar gewesen wären; denn gerade die Bestimmung der
Quoren ist eine der Kernfragen bei der Diskussion um
die Einführung von Elementen direkter Demokratie.
Diese Quoren müssen hoch genug sein, um auszuschlie-
ßen, dass Minderheiten bestimmen, was wir hier tun. Sie
dürfen aber nicht so hoch sein, dass nicht die Chance be-
steht, etwas zu entscheiden. Ich halte es für unsere Auf-
gabe, hier einen Ausgleich zu finden, da ansonsten das
Ziel, dass Politik auf eine breitere Akzeptanz stößt und
bürgerschaftliches Engagement gefördert wird, ins Ge-
genteil verkehrt würde.

Diese Gefahr sehen wir insbesondere bei dem Ent-
wurf der Linken. Für die Volksinitiative sind nach Ihrem
Entwurf bereits 100 000 Stimmen ausreichend. Diese
Zahl ist aus unserer Sicht viel zu gering. Da mit dem In-
strument der Volksinitiative unmittelbar auf unsere Ent-
scheidung Einfluss genommen werden kann, ist es not-
wendig, eine solche Entscheidung auf eine breite Basis
zu stellen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD])

Die in unserem Entwurf vorgesehenen 400 000 Stimmen
werden einer solchen Anforderung sicherlich besser ge-
recht.

Dasselbe gilt für das Quorum bei Volksbegehren. Na-
türlich klingt die Zahl von 1 Million Stimmberechtigten
beim ersten Hinhören sehr hoch. Allerdings halte ich es
für klüger, das Quorum für ein Volksbegehren an die
Zahl der Wahlberechtigten zu koppeln; sonst müssten
diese Quoren entsprechend der demografischen Ent-
wicklung immer wieder geändert werden. Wir haben das
in unserem Antrag vorgeschlagen.

Nach unserer Einschätzung birgt Ihr Gesetzentwurf
die Gefahr in sich, Referenden herbeizuführen, die von
der Masse der Bevölkerung nicht gestützt werden. Eine
solche Lobbydemokratie, die wir dann hätten, wollen
wir nicht. Deshalb werden wir Ihrem Gesetzentwurf
nicht zustimmen.


(Beifall bei der FDP)


Letztlich ist auch die fehlende Beschränkung der
Möglichkeit für Volksinitiativen vor den Wahlen ein
Grund dafür, warum wir den Vorschlag der Linken für
nicht zustimmungsfähig halten. Plebiszitäre Elemente
sind das Instrument, um einzelne Sachfragen vom Volk
mitbestimmen zu lassen. Keinesfalls können wir uns da-
mit aus der Verantwortung stehlen. Wir sind das Parla-
ment und müssen auch entscheiden. Sachfragen zu je-
dem Wahltermin zur Abstimmung stellen zu dürfen, an
deren Ausgang der Bundestag dann auch noch förmlich
gebunden wäre, drängt nach unserer Ansicht einzig
Populisten ins Rampenlicht.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Da widerspricht aber der Schluss der Rede dem Anfang!)


– Ein bisschen denken müssen Sie schon, bevor Sie hier
solche Zwischenrufe machen. –


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müsste er ja schweigen!)


Deshalb können wir Ihnen nicht folgen.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der sogenannten Großen Koalition, ich kenne Ihre Voten
aus den Ausschüssen. Wir haben in Berichterstatterge-
sprächen versucht, noch etwas zu bewegen. Das hat lei-
der nicht geklappt. Ich kann nur noch einmal an Sie ap-
pellieren, darüber nachzudenken, ob Sie die aus meiner
Sicht historische Chance, die sich zum 60. Geburtstag
des Grundgesetzes eröffnet, den Bürgerinnen und Bür-
gern Politik näherzubringen – darum geht es doch –, er-
neut verstreichen lassen wollen. Elemente direkter De-
mokratie bilden hierbei einen Ansatz von vielen.

Das Grundgesetz lässt es jedenfalls zu, weiterfüh-
rende direkte Beteiligungsrechte für die Bürgerinnen
und Bürger zu verankern. Dafür brauchen wir eine Zwei-
drittelmehrheit in diesem Haus. Wir schaffen in dieser
Legislaturperiode wie auch schon früher eine Art Min-
derheitenschutz für die CDU/CSU, die mit ihrer Haltung
zu diesem Thema alleine dasteht. Für uns ist es aber ein
wichtiges Thema. Ich hoffe, dass es in der nächsten






(A) (C)



(B) (D)


Gisela Piltz
Legislaturperiode eine breitere Basis dafür gibt, das
ganze Haus.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621713000

Nächster Redner ist der Kollege Michael Hartmann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1621713100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Piltz, vielleicht werde ich wenig Spaß, Lust und
Freude verbreiten.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollten Sie aber!)


Ich denke, es ist unsere Aufgabe, von den alten Denk-
weisen Abstand zu nehmen: Auf der einen Seite wird be-
hauptet, die repräsentative Demokratie in purer Form
bringe das Heil; auf der anderen Seite glaubt man, nur
die Ergänzung der Verfassung um sogenannte plebiszi-
täre Elemente bringe das Heil. Beides ist genauso richtig
wie falsch.

Herr Kollege Wellenreuther, Sie haben in Ihrer Rede
ausgeführt, dass wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag des
Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland be-
gehen werden. Ich bin wie Sie der Auffassung, dass wir
allen Grund haben, klarzumachen, dass dieses Land alles
in allem deshalb so gut funktioniert und deshalb welt-
politisch und innenpolitisch so viel Positives entscheiden
konnte, weil wir die repräsentative Demokratie nach
Weimar erstmals ernst genommen haben. Das ist wahr
und richtig; es verlangt, dass wir Parlamentarier es nicht
zulassen, dass dieses Parlament, parlamentarische Pro-
zesse und Entscheidungen diffamiert werden.

Sehr geehrte Frau Piltz, genauso wahr ist: Wer will,
dass Demokratie – wie dieses immer noch sehr moderne
Grundgesetz – lebt und lebendig bleibt, der muss wie eh
und je bereit sein, Entwicklungen und Veränderungen
zuzulassen. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Dieses Grund-
gesetz lässt es nicht nur zu, sondern hat es verdient, dass
wir die parlamentarische Demokratie weiterentwickeln,
im Vertrauen auf die Entwicklungen der letzten 60 Jahre.
Das heißt, wir Sozialdemokraten sind für Volksinitia-
tiven, Volksbegehren und Volksentscheide. Seien Sie si-
cher: Die Welt würde nicht untergehen, wenn wir die
Einführung solcher Elemente heute beschlössen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jan Mücke [FDP]: Dann müssen Sie zustimmen! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen wir es doch!)


Wir wissen aber, dass sie kein Allheilmittel sind.

Sehr geehrter Herr Wieland, gerade Ihre Fraktion, die
jetzt, post festum, immer wieder beklagt, unter welch
schrecklichen Koalitionszwängen man war, ist nun auch
nicht gerade glücklich, auf der Oppositionsbank zu sit-
zen. Ich gebe gerne zu, dass wir heute deshalb mit unse-
rem Koalitionspartner stimmen werden, weil wir die
Prüfung, die nach der Koalitionsvereinbarung vorgese-
hen war, nicht in der Weise, Intensität und Gründlichkeit
und nicht mit der nötigen Verhandlungsbereitschaft auf-
seiten der Union durchführen konnten, wie wir es uns
gewünscht hätten. Das ist nun einmal so in Koalitionen.
Vielleicht erinnern Sie sich dunkel daran, Herr Ströbele
allemal.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir erinnern uns daran!)


Das heißt aber nicht, dass man das Ziel aufgibt und
daran verzweifelt, wenn andere im Moment vielleicht
noch nicht so einsichtig sind, wie wir es uns wünschen.
Eines sage ich nach ernster Abwägung sehr deutlich in
Richtung der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU: Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema, wenn
wir uns heute dagegen entscheiden, damit noch lange
nicht von der Tagesordnung ist. Ich bin davon überzeugt,
dass auch Sie eines Tages erkennen werden: Es ist gut,
auf diesen Zug aufzuspringen – Herr Beckstein, der
Bundespräsident und der Präsident des Bundesverfas-
sungsgerichts halten plebiszitäre Elemente schon jetzt
für etwas durchaus Gutes und Sinnvolles, dafür muss
man kein Systemgegner sein –; aber in der Lokomotive
werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, leider nicht sitzen.

Ich greife den Gedanken noch einmal auf: Wir wissen
natürlich, dass die Einführung von Volksbegehren,
Volksinitiativen und Volksentscheiden kein Allheilmittel
ist. Wer wäre so vermessen, dies zu behaupten? Wir wis-
sen auch, dass es Risiken, Unwägbarkeiten, Unsicher-
heiten und Gefährdungen gibt. Lassen Sie uns aber doch
darüber diskutieren, wie wir ein Element, das sich in
16 Bundesländern und allen Kommunen bewährt hat
und nicht zum Untergang des Abendlandes geführt hat,
auch auf Bundesebene einführen können.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Genau das ist der Unterschied!)


Wir haben dieses Instrument in allen Ländern. Der Föde-
ralismus ist deswegen nicht untergegangen, geschätzter
Herr Wellenreuther. Wir haben es in allen Kommunen.
Die kommunale Selbstverwaltung und die Entscheidung
durch die Räte bestehen trotzdem fort. Dieses Instrument
wird – jetzt wird es paradox – mit Ihrer Zustimmung
auch in Europa eingeführt. Nur auf der nationalen Ebene
haben wir es nicht. Wie bekommen Sie das logisch zu-
sammen? Warum debattieren wir nicht wenigstens über
die Volksinitiative?

Da ich ein intensives Kopfschütteln wahrnehme, will
ich an dieser Stelle Herrn Beckstein zitieren, der unver-
dächtig ist, weil er kein Sozialdemokrat ist.


(Jan Mücke [FDP]: Regieren Sie eigentlich noch zusammen?)


Er hat im Zusammenhang mit plebiszitären Elementen
ausgeführt – vielleicht ist er deswegen nicht mehr Minis-
terpräsident –:






(A) (C)



(B) (D)


Michael Hartmann (Wackernheim)

Sie hat sich als sinnvolle Ergänzung der repräsenta-
tiven Demokratie bewährt.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat er! – Petra Pau [DIE LINKE]: Wo er recht hat, hat er recht!)


Sie ist außerordentlich wichtig, weil sich die Mit-
wirkung der Bürger nicht darauf beschränkt, alle
vier oder fünf Jahre zur Wahl zu gehen. Die Bürger
können punktuell Änderungen politischer Entschei-
dungen durchsetzen. … Die Volksgesetzgebung be-
lebt die politische Debatte und bringt eine Stabili-
sierung der politischen Mehrheit.

Das rufe ich Ihnen am Tag des Bieres zu.


(Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können auch Seehofer zitieren!)


Wenn es darum geht, die Stärkung plebiszitärer Ele-
mente abzulehnen, werden alle apokalyptischen Reiter
in die Schlacht geführt: die Manipulationsfähigkeit des
Volkes, die Komplexität der Themen, das Ausgeliefert-
sein gegenüber Populisten. Mit dieser Argumentation
können Sie Demokratie generell infrage stellen. Ich
frage leise und selbstkritisch, an unsere eigene Adresse
gerichtet: Durchschauen wir immer alles, worüber wir
zu entscheiden haben, bis ins Detail? Ich will das Wort
Finanzmarktkrise nur in einer Fußnote vermerken. Sind
nicht auch wir Manipulationsversuchen ausgesetzt? Ent-
scheiden wir nach politisch aufgeladenen Diskussionen
wirklich immer nur nach sachlichen Kriterien? Spielen
nicht viele andere Erwägungen dabei auch eine Rolle?
Wer dieses Argument ins Feld führt und mit dem Finger
auf andere zeigt, der muss daran denken, dass drei Fin-
ger auf ihn selbst zeigen.

Gerade weil unsere Welt so kompliziert geworden ist
– was zweifelsohne der Fall ist, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union –, halte ich diese Elemente für
sinnvoll. Wir wären dadurch in Prozessen, in denen sol-
che Entscheidungen anstünden, wenn sie in der Verfas-
sung verankert wären und mit einem hohen Quorum
Realität würden, liebe Frau Piltz, in stärkerem Maße ge-
zwungen, zu erklären, warum wir was wie wollen: einen
NATO-Doppelbeschluss, Steuererhöhungen, Steuersen-
kungen und vieles andere mehr.


(Gisela Piltz [FDP]: Dann wäre die SPD ja mal gefordert!)


Es bleibt dabei – das ist bei Sozialdemokraten nun
einmal so –: Wir werden weiterhin beharrlich an diesem
Thema arbeiten. Es wird weder bei uns noch bei Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, von der
Tagesordnung zu nehmen sein. Wir halten es da ja mit
zwei Kanzlern.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sie wollen ja eine neue Verfassung!)


Der eine Kanzler hat gesagt: Mehr Demokratie wagen.
Er hatte recht; das war Willy Brandt. Die Kanzlerin hat
gesagt: Mehr Freiheit wagen. – Wir wollen mehr Freiheit
für jene, von denen alle Staatsgewalt ausgeht: für das
Volk.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621713200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621713300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe mich sehr gewundert, als der SPD-Vorsitzende
Franz Müntefering kürzlich eine gesamtdeutsche Verfas-
sung anstelle des Grundgesetzes gefordert hat.


(Jan Mücke [FDP]: Da haben wir uns auch gewundert! – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wo hat er das wohl her?)


Seine Begründung war – so wurde er zitiert –, der Osten
leide darunter, dass 1989/90 keine wirkliche Vereinigung
organisiert wurde.

Über die historische Alternative – Vereinigung oder
Beitritt – will ich jetzt gar nicht reden. Komisch finde
ich allerdings, dass der Kollege Müntefering so plötz-
lich, fast 20 Jahre später, von einem Osterleuchten ereilt
wurde,


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sauerländer sind etwas langsamer! – Gisela Piltz [FDP]: Bei manchen dauert es einfach!)


und das ausgerechnet in Wahlkampfzeiten.

Zur Verfassungsfrage. Vielfach vergessen und gern
verschwiegen wird, dass damals der viel gelobte runde
Tisch in der DDR einen Entwurf für eine neue Verfas-
sung der DDR vorgelegt hatte, quasi als Mitgift für eine
Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


In diesem Entwurf standen ganz sonderbare Dinge. Bei-
spiel eins:

Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung …
dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespei-
chert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben
werden.

Ich finde, das ist hochaktuell.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Jan Mücke [FDP]: Das war damals auch hochaktuell! Kurz nach 1989 war das sehr aktuell!)


– Sie haben recht damit, dass es nach 1989 hochaktuell
war. Das war eine Lehre aus dem Scheitern der DDR. Es
wäre durchaus ein gemeinsamer Aufbruch beim Thema
Datenschutz gewesen.






(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau
Beispiel zwei:

Die Staatsflagge der … Republik trägt die Farben
schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die
Darstellung des Mottos „Schwerter zu Pflugscha-
ren“.

Auch das wäre einer aktuellen Debatte würdig.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht ja nicht!)


Der Entwurf wurde allerdings in der Volkskammer
der DDR nicht einmal mehr behandelt. Die Ost-CDU
wollte es nicht, weil die West-CDU es nicht wollte. Weil
auch die West-SPD es nicht wollte, wollte die Ost-SPD
ebenso wenig darüber reden. Auch das gehört zum
Rückblick.

Übrigens gab es nach der Vereinigung ein Kuratorium
für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Län-
der. Wieder ging es um eine moderne Verfassung, die
das neue Deutschland zusammenführen sollte. Wieder
sollte dies durch Volksabstimmungen geschehen. Die
Mehrheit im Kuratorium waren übrigens Juristen sowie
Völker- und Bürgerrechtler aus den alten Bundeslän-
dern. Auch diese Initiative scheiterte. Nun können Sie
raten, an wem. – Richtig: erneut an der CDU/CSU und
an der SPD. Auch das sollte ein SPD-Vorsitzender ei-
gentlich wissen.

Aber auch Detailverbesserungen am Grundgesetz wa-
ren mit der SPD bisher nicht möglich. Über eine mögli-
che EU-Verfassung wurde 2004 rund um uns herum vom
Volke abgestimmt. In Deutschland durfte man das nicht.
Nur in einem kleinen gallischen Dorf in der Eifel fand
eine Abstimmung statt. Übrigens hat die Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger dort der EU-Verfassung zuge-
stimmt. Auf Bundesebene indes führte kein Weg zu
mehr Demokratie. Damals regierten die SPD und die
Grünen. Ich weiß noch genau, wie Joseph Fischer hier
stand und sagte, dass er sich sein EU-Werk doch nicht
vom Volk zerreden lasse. Ich weiß auch, dass der dama-
lige Kanzler, Gerhard Schröder, log, als er hier an die-
sem Pult sagte, Volksabstimmungen seien per Grundge-
setz verboten. Beides war absurd.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Der Kollege Müntefering war seinerzeit übrigens Frak-
tionsvorsitzender der SPD. Ich kann mich an keine Wi-
derworte von ihm erinnern. Dabei steht im Grundgesetz
in Art. 20:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … aus-
geübt.

Genau darum geht es heute. Es liegen drei Anträge
vor: von der FDP, von der Fraktion Die Linke und von
der Fraktion Bündnis 90/Grünen. Alle drei begehren
grundsätzlich, dass Volksabstimmungen auf Bundes-
ebene endlich zugelassen werden. Sie unterscheiden sich
hinsichtlich der Modalitäten und der Quoren; Kollegin
Piltz hat es schon dargestellt. Eines steht jedoch fest: Ich
denke, wir hätten uns – bei entsprechendem politischen
Willen – auf den Einstieg in direkte Demokratie einigen
können.

Letztendlich wird die heutige Abstimmung zum Test
für die SPD. Sie werden gleich Zeugnis ablegen, wie Sie
es mit der Forderung Willy Brandts „Mehr Demokratie
wagen“ halten und wie glaubwürdig Ihr Parteivorsitzen-
der Müntefering mit seinen aktuellen Forderungen ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Stimmen Sie heute mit Nein, dann lassen Sie bitte auch
die Ulkdebatten über eine neue gesamtdeutsche Verfas-
sung. Sollten Sie mit Ja stimmen, dann emanzipieren Sie
sich von der Unionsblockade. Sprengen Sie also Ihre
Fesseln!

Eines möchte ich uns noch ernsthaft zu bedenken ge-
ben: Wir haben es im Lande mit Parteienverdruss, aber
auch – das ist noch viel schlimmer – mit Demokratiever-
druss zu tun. Demokratieverdruss ist ein Einfallstor für
rechtsextreme Kameraden.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Auch für linksextreme!)


Ich denke, sich selbst mehr einzumischen, ist zwar kein
Allheilmittel gegen Demokratieverdruss, aber ein Ein-
stieg in mehr direkte Demokratie.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621713400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Wolfgang Wieland das Wort.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621713500

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und

Herren! Sie alle verbringen, ob gerne oder weniger
gerne, einen Großteil Ihrer besten Jahre in der wunder-
schönen Stadt Berlin. Deswegen wird den meisten von
Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass die öffentli-
che Debatte, die Gespräche der Menschen und das, was
in den Medien steht, nicht, wie sonst üblich, von ver-
müllten Parks und Hundekot, ja noch nicht einmal von
der Weltwirtschaftskrise beherrscht wird, sondern von
einem Thema, das viele Jahrzehnte völlig randständig
war: vom Religionsunterricht. In einer Stadt, von der Ihr
Säulenheiliger Konrad Adenauer einst sagte, hier
komme er sich immer vor wie in einer heidnischen Stadt,


(Heiterkeit bei der LINKEN)


wird auf einmal die Sache mit Gott debattiert.

Dies geschieht zum Teil allerdings in etwas skurriler
Weise. So fragt die Zeit von heute: „Ist Gott ein Wessi?“,
um dann einen langen Artikel über diese Frage zu ver-
fassen. Sicherlich wird das morgen von Bild und B.Z.
noch getoppt, vielleicht mit der Frage: „Bezieht Gott
jetzt auch Hartz IV?“ oder in ähnlicher Weise. Das Ent-
scheidende ist aber – das sollten Sie, Herr Wellenreuther,
einmal zur Kenntnis nehmen –: Ohne direkte Demokra-
tie auf Landesebene gäbe es diese notwendige und rich-






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Wieland
tige Auseinandersetzung um essenzielle ethische Fragen,
die im Übrigen von einem aktiven CDU-Mitglied ini-
tiiert wurde, gar nicht.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ach was! Ohne die schwachsinnige Politik des WowereitSenats gäbe es sie nicht! Das ist doch wohl das Problem! – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist typisch! Sie verwechseln wieder einmal Ursache und Wirkung!)


Obwohl Sie selbst diese Auseinandersetzung erst mög-
lich gemacht haben, stellen Sie sich hier hin und verwen-
den in diesem Zusammenhang Begriffe wie „primitiv“,
„Demagogie“ und „populismusanfällig“. Das, was die
Union hier abliefert, ist eine unglaubliche Heuchelei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir mussten Sie unentwegt treiben, als es darum
ging, die direkte Demokratie einzuführen, zunächst auf
bezirklicher bzw. kommunaler Ebene und dann auf Lan-
desebene. Immer war folgende Beobachtung zu machen:
Sobald die direkte Demokratie eingeführt war, war die
CDU die erste politische Kraft, die sie eingesetzt hat.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das ist allerdings wahr!)


Beispielsweise haben Sie ein Bürgerbegehren gegen die
Rudi-Dutschke-Straße initiiert. Noch am Abend des
Volksentscheids zum Weiterbetrieb des Flughafens Tem-
pelhof ließen Sie Ihren damaligen Chef Friedbert Pflüger
sagen: Wir haben zwar nicht die Mehrheit erzielt, aber
bei dieser Volksabstimmung dennoch gewonnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Keine Partei hat diese Abstimmungen so funktionalisiert
wie die Union. Aber gerade Sie beschwören hier den
Geist von Weimar. Sie argumentieren nach dem Motto:
Für direkte Demokratie auf Bundesebene ist die Bevöl-
kerung zu blöd. – Das darf doch nicht wahr sein.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Nein! So ein Unsinn! Sie bestätigen doch nur Ihre eigenen Vorstellungen!)


– Doch. Das hat auch die Kollegin Piltz gesagt; das war
ihre Aussage. – Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: Ein
Demokrat, der das Demos, das Volk, nicht für fähig hält,
seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, verrät die
Idee der Demokratie. Darüber sollten Sie einmal nach-
denken, Herr Kollege Wellenreuther.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie die Kollegin Piltz schon angedeutet hat, haben
wir, die Opposition, sehr viel Geduld gehabt. Wir, zu-
nächst der Kollege Burgbacher, später ich, haben Ihnen
immer wieder angeboten, informelle Runden durchzu-
führen und dort über alles zu reden. Außerdem haben
wir Ihnen verschiedene Kompensationsangebote ge-
macht, zum Beispiel die Legislaturperiode zu verlän-
gern. Zu einer ernsthaften Verhandlung ist es aber nie
gekommen, weil Sie nicht wollten, ohne Argumente.

Als der Kollege Hartmann das gerade schilderte,
blickte er mitleidheischend zu uns und sagte: Ihr wisst
ja, wie es ist, in einer Koalition geknebelt zu werden. –
Das wissen wir in der Tat sehr genau, Herr Kollege
Hartmann. Aber ich sage Ihnen: Diese Koalition ist in-
zwischen dermaßen zerrüttet, dass das für Sie eigentlich
kein Grund sein dürfte, heute unserem Gesetzentwurf,
der mit dem seinerzeit unter Rot-Grün erarbeiteten Ge-
setzentwurf im Übrigen wortgleich ist, nicht zuzustim-
men.


(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Der von der FDP ist besser!)


Geben Sie sich also einen Ruck. Die Kollegin Pau hat
recht: Stimmen Sie heute einmal mit Ja!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. Auch zu Zeiten der weltwei-
ten Finanz- und Wirtschaftskrise malen wir keine Hor-
rorszenarien an die Wand, und zwar deshalb nicht, weil
wir davon überzeugt sind, dass wir keine Weimarer Ver-
hältnisse haben und sie auch nicht bekommen werden.
Es gibt aber Alarmsignale: So lag die Wahlbeteiligung
bei der Bürgermeisterwahl in Düsseldorf, bei der nur
zwei Personen gegeneinander antraten und somit eine
einfache Entscheidung zu treffen war, bei nur 38 Pro-
zent.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Wie groß war sie denn beim Volksentscheid zu Tempelhof?)


Wahlbeteiligungen bei Landtagswahlen von unter 50 Pro-
zent sind Menetekel. Wenn dann jemand wie der Spie-
gel-Journalist Gabor Steingart hingeht und unverant-
wortlich predigt, man solle gar nicht mehr wählen – und
damit sein Buch verkauft –, kann das im Umkehrschluss
nicht heißen, dass wir aufhören, nachzudenken,


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Sie haben noch gar nicht angefangen, Herr Wieland!)


sondern es muss heißen, dass wir uns bemühen, die De-
mokratie aktiver, vitaler zu machen. Dazu gehört, Instru-
mente, die sich auf kommunaler und auf Landesebene
inzwischen hundertfach bewährt haben, auch auf Bun-
desebene einzuführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621713600

Herr Kollege!


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621713700

Ja, Frau Präsidentin: Das ist mein letzter Satz.






(A) (C)



(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621713800

Einen Moment! Ich wollte Sie fragen, ob Sie, wohl-

wissend, dass Sie ganz knapp vor dem Ende Ihrer Rede-
zeit stehen, noch eine Zwischenfrage zulassen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621713900

Ja, selbstverständlich. Die Zwischenfrage lasse ich

noch zu, und dann komme ich zum Ende.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621714000

Herr Mücke, bitte sehr.


Jan Mücke (FDP):
Rede ID: ID1621714100

Herr Kollege, Sie haben gerade eindrucksvoll darüber

gesprochen, wie wichtig Elemente der direkten Demo-
kratie sind. Wie steht es, was die Akzeptanz von Bürger-
entscheiden angeht, mit der Haltung Ihrer eigenen Par-
tei? Sie haben gesagt, dass sich viele Bürgerinnen und
Bürger dafür entscheiden, nicht zur Wahl zu gehen.
Glauben Sie nicht auch – wie ich –, dass sich der eine
oder andere davon abgeschreckt fühlen könnte, dass sein
Votum bei einem Bürgerentscheid, beispielsweise zum
Bau der Waldschlößchenbrücke in Dresden, nicht ernst
genommen wird, beispielsweise von Ihrer Partei?


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621714200

Herr Kollege, bei der direkten Demokratie gilt gene-

rell: Wenn ich sie nur so lange will, wie ich glaube, dass
sie meinen Zielen dient, wenn ich sie wie beispielsweise
Parteivorsitzender Seehofer – der Vorsitzende der Partei
der Präsidentin – auf Bundesebene befürworte, aller-
dings nur in europapolitischen Fragen, wenn ich das
Ganze also instrumentalisiere, aber nicht bereit bin, auch
Ergebnisse, die mir nicht gefallen, zu akzeptieren, dann
habe ich ein falsches Verhältnis zur direkten Demokra-
tie. Das ist keine opportunistische, das ist eine prinzi-
pielle Frage. Wenn ich direkte Demokratie will, dann
muss ich die Ergebnisse akzeptieren.


(Beifall des Abg. Jan Mücke [FDP])


– Vielen Dank. – Wir werden dahin kommen. In der
nächsten Legislaturperiode liegt das hier wieder auf dem
Tisch.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sie akzeptieren, dass Sie in der Minderheit sind!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621714300

Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621714400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es

ist über drei Jahre her, dass die Oppositionsfraktionen
Gesetzentwürfe zu einer Volksgesetzgebung auf den
Tisch gelegt haben. Es ist schade, dass die Diskussion
darüber nicht zeitnäher verlaufen konnte; das hätte die
Möglichkeit eröffnet, modifizierte Anträge zu diesem
Thema noch in dieser Legislaturperiode zu stellen.
Es gibt in diesem Hause eine breite parlamentarische
Mehrheit für die Einführung einer Volksgesetzgebung.
Die CDU/CSU verweigert sich allerdings, weil sie der
Bevölkerung letztlich nicht traut und ihr auch nichts zu-
traut. Damit diese Partei nicht weiter blockieren kann,
darf sie künftig kein Drittel der Wählerstimmen mehr er-
halten; denn bei Betonköpfen auf einen Sinneswandel zu
hoffen, scheint vergeblich. Dass diese Partei in der Sa-
che total unglaubwürdig ist, sieht man beispielsweise an
der schwächelnden Berliner CDU, die sich ausgerechnet
über Volksentscheide als außerparlamentarische Opposi-
tion neu zu erfinden versucht.

Auch die Haltung der SPD ist unakzeptabel. In der
Begründung der Ablehnung der drei vorliegenden Ge-
setzentwürfe sagen Sie zwar, dass Sie grundsätzlich für
die Einführung von mehr direkter Demokratie sind. Sie
kuschen aber vor Ihrem Koalitionspartner und stimmen
aus Machterhaltungsinteressen gegen Ihre eigene Über-
zeugung. Rot-Grün hat ja, wie wir gehört haben, einen
Gesetzentwurf eingebracht, der mit dem Gesetzentwurf,
den die Grünen heute einbringen, identisch ist. Weil Ih-
nen zur Rechtfertigung Ihres Umfallens nichts Besseres
einfällt, warnen Sie vor Populismus und Demagogie.
Das ist einfach nur irreführend.

Es gibt Gründe dafür, dass das repräsentativ-demo-
kratische System in einer ernsthaften Legitimationskrise
steckt. Ausdruck dafür ist die immer weiter sinkende
Wahlbeteiligung. Einer der Gründe ist, dass sich die
Menschen in die politischen Entscheidungsprozesse
nicht einbezogen fühlen. Sie sagen: Die da oben in Ber-
lin machen sowieso, was sie wollen.

Es muss also darum gehen, den Bürgerinnen und Bür-
gern größere Verantwortung zu übertragen. Elemente der
direkten Demokratie im Grundgesetz können ein erster
Schritt zum Herauskommen aus der Zuschauerdemokra-
tie sein. Sie wären ein Angebot an die Menschen, sich
einzumischen. Einmischen können sie sich heute bereits
in allen 16 Bundesländern. Dies wird bei ganz konkreten
Projekten bereits gemacht. Warum sollen die Menschen
bei Volksabstimmungen auf Bundesebene dümmer als
auf Landesebene sein? Diese Logik der CDU/CSU er-
schließt sich mir nicht.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Hat keiner gesagt!)


– Das haben Sie gesagt.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Nein! Sie haben nichts verstanden!)


Von den drei Oppositionsparteien hätte ich mir eine
gemeinsame Initiative für mehr direkte Demokratie ge-
wünscht, wie es sich die Berichterstatter der FDP und
der Linken im Innenausschuss auch gewünscht haben.
Ein parteiübergreifender Gesetzentwurf zu diesem
Thema wäre für die nächste Legislaturperiode ein quali-
tativer Sprung; dann könnte über die Öffentlichkeit mehr
Druck auf die CDU/CSU ausgeübt werden.

Ich selbst hoffe, dass die Berlinerinnen und Berliner
am kommenden Sonntag mit einem klaren und deutli-
chen Nein zeigen, dass Volksentscheide gegenüber

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Gert Winkelmeier
Populismus und Demagogie durchaus immun machen
können.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621714500

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für

die CDU/CSU-Fraktion.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1621714600

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir Deutschen fei-
ern in diesem Jahr 60 Jahre Bundesrepublik Deutsch-
land, 60 Jahre Grundgesetz und damit auch 60 Jahre
freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Verfas-
sungsväter und die Verfassungsmütter – zu ihnen gehörte
federführend der große SPD-Mann Carlo Schmid, lieber
Herr Kollege Hartmann – haben sich meines Erachtens
ganz bewusst und mit sehr guten Gründen für die parla-
mentarisch-repräsentative Demokratie als unsere Staats-
form entschieden. Es geht nicht darum, ob direkte De-
mokratie besser oder schlechter als die parlamentarisch-
repräsentative Demokratie ist. Mein Hauptvorwurf ge-
gen die drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen
ist, dass allen drei Entwürfen die Behauptung inhärent
ist, dass die Gesetzgebung, die auf direkter Demokratie
basiert, besser oder wahrer sei als die Gesetzgebung, die
auf der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie be-
ruht.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das? Können Sie das zitieren?)


Dies ist nun einmal eindeutig falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie vor, woher Sie das haben!)


Das Leitwort des früheren Kanzlers Willy Brandt ist
genannt worden: „mehr Demokratie wagen“.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie dafür?)


Dieses Zitat war so überflüssig wie vielleicht der Kanz-
ler selbst auch,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das sehe ich nicht so!)


weil wir seit 60 Jahren mit unserer parlamentarisch-re-
präsentativen Demokratie sehr gut gefahren sind. Gerade
anlässlich dieses Jahres können wir auf 60 Jahre parla-
mentarisch-repräsentative Demokratie stolz sein.

Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, dass direkte De-
mokratie dazu führe, dass die Bevölkerung größeren
Anteil an politischen Vorgängen nimmt und größeres In-
teresse an politischen Vorgängen zeigt. An dieser Stelle
ist zu fragen, weshalb die Wahlbeteiligung in allen
16 Bundesländern unabhängig davon sinkt, welche Re-
gierungskonstellation gerade am Ruder ist, obwohl mitt-
lerweile, wie schon erwähnt wurde, in die Verfassungen
aller 16 Länder plebiszitäre Elemente eingefügt wurden.
Das Gegenteil ist also der Fall: Das Interesse, die Anteil-
nahme der Bevölkerung nimmt nicht zu; sie nimmt mei-
nes Erachtens eher ab, wenn man an sie in großem Maße
Verantwortung delegiert, die an sich uns gewählten
Volksvertretern zusteht.

Ich verwahre mich sehr deutlich gegen den Vorwurf,
dass das Volk dümmer sei als die Politiker. Das ist eine
infame Unterstellung. Aber man muss nun einmal zur
Kenntnis nehmen, dass es die Aufgabe von gewählten
Volksvertretern ist – sie verfügen auch über das entspre-
chende Handwerkszeug –, sich teilweise Tag und Nacht
mit den Materien zu beschäftigen, über die wir hier zu
entscheiden haben. Dann müssen wir auch Manns genug
sein, diese Entscheidungen zu treffen und Lösungen für
die Herausforderungen zu finden, die sich Deutschland
stellen. Meines Erachtens wäre es feige und verantwor-
tungslos, wenn wir hingingen und diese Verantwortung
delegierten und an die Bevölkerung zurückgäben.

Sehr verehrter Herr Kollege Hartmann, Sie haben ein
flammendes Plädoyer für eine verstärkte Einführung von
Volksgesetzgebung in das Grundgesetz gehalten.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überhaupt für eine Einführung!)


Mich wundert es nur, warum Sie in sieben Jahren rot-
grüner Regierungskonstellation diesen Wunsch nicht
umgesetzt haben.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine gute Frage!)


Die Grünen sind ja offenbar dafür, wobei sie bei man-
chen Materien eine Ausnahme wollen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der Todesstrafe, Herr Kollege Mayer!)


– Richtig, Herr Kollege. Genau bei diesem Punkt bin ich
auch dagegen. Es wäre fatal, wenn wir die Wiederein-
führung der Todesstrafe zum Gegenstand eines Volks-
entscheids machen würden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder sind wir uns einig!)


Die Tatsache, dass Sie diesen Umstand in Ihrem Ge-
setzentwurf explizit ausgenommen haben, zeigt aber
doch schon eindeutig, worin genau das Gefahrenpoten-
zial von Volksgesetzgebung und direkter Demokratie
liegt:


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Unsinn!)


Bei solchen Themenstellungen, die sich mit Sicher-
heit auch noch in anderer Form ergeben könnten, be-
stünde genau die Gefahr, dass sachfremde Erwägungen
vorangestellt und vielleicht auch aufgrund von aktuellen
Ereignissen Emotionen geschürt und letztendlich Ent-
scheidungen gefällt werden, die alles andere als sachge-
recht und zielführend sind.






(A) (C)



(B) (D)


Stephan Mayer (Altötting)


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir an Kopf-ab-Jäger denken! Deshalb sind wir vorsichtig!)


Diese große Gefahr besteht, und Sie haben sie selbst ge-
sehen. Deswegen haben Sie sie in Ihren Gesetzentwurf
aufgenommen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir an die CSU denken!)


Weil hin und wieder die CSU genannt wurde – ich
freue mich ja über diese populäre Nennung –: Ich ziehe
eine ganz klare Trennlinie zwischen der Einführung von
plebiszitären Elementen auf der kommunalen bzw. auf
der Landesebene und deren Einführung auf der Bundes-
ebene.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das hat Wieland nicht verstanden! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und auf der europäischen? Was ist mit Seehofer?)


Um dies klarzumachen, damit das nicht unterstellt
wird: Ich bin nicht der Meinung, dass die kommunale
Ebene unwichtiger ist als die Bundesebene. Ganz im Ge-
genteil: Viele Entscheidungen und Vorgänge auf kom-
munaler Ebene sind für die Menschen wesentlich erfahr-
barer und unmittelbarer als manches, was wir hier auf
Bundesebene entscheiden.

Ich möchte nur zu bedenken geben, dass es sogar ein
sprichwörtliches Gesetz gibt, das nach dem Vorsitzenden
einer Bundestagsfraktion benannt wurde, wonach kein
Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es in den Bundes-
tag hineingekommen ist.


(Maik Reichel [SPD]: Struck’sches Gesetz! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war vor der Großen Koalition formuliert!)


Dieses Gesetz galt auch schon vor dem genannten SPD-
Fraktionsvorsitzenden.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber leider suspendiert von der Großen Koalition!)


Durch dieses Gesetz wird ganz eindeutig gezeigt, dass
die Materien auf Bundesebene, ob wir wollen oder nicht,
teilweise unheimlich komplex sind und dass es aus un-
terschiedlichen Gründen durchaus auch während eines
laufenden Gesetzgebungsverfahrens Notwendigkeiten
gibt, Änderungsanträge zu stellen und Änderungen an
Gesetzentwürfen vorzunehmen. Diese Möglichkeit ha-
ben Sie nicht, wenn Sie diesen Gesetzentwurf der Bevöl-
kerung zur Entscheidung vorlegen und sie nur eine Ent-
scheidung zwischen Ja und Nein treffen kann.

Viele Fragestellungen auf der kommunalen Ebene
sind nicht unwichtiger als auf der Bundesebene, hin-
sichtlich der Entscheidungsfindung und der Meinungs-
bildung in vielerlei Hinsicht aber doch einfacher als
viele Vorgänge, über die wir hier auf Bundesebene zu
entscheiden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil auch die Positionierung der CSU zu Volksab-
stimmungen auf Europaebene genannt wurde, möchte
ich auch ein ganz klares Wort dazu sprechen: Auch hier
kann ich eine sehr stringente Trennlinie zwischen meiner
ablehnenden Haltung bezüglich plebiszitärer Elemente
auf Bundesebene und dem berechtigten Ansinnen, ver-
stärkt plebiszitäre Elemente auf europäischer Ebene ein-
zuführen, ziehen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erklären Sie einmal!)


Wenn es darum geht, unwiderruflich und irreversibel
Gesetzgebungskompetenzen, die in den Händen der Na-
tionalstaaten liegen, also nationale Hoheitsrechte, an
eine supranationale Ebene abzugeben, zum Beispiel an
die Ebene der Europäischen Union, dann ist es meines
Erachtens durchaus opportun und sogar zwingend not-
wendig,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum schlägt da nicht die Stunde der Demagogen, wie Wellenreuther sagt? Warum ist das nicht die Stunde der Populisten?)


dass neben den vorhandenen Gesetzgebungsorganen, ne-
ben dem Bundestag und dem Bundesrat, auch die Bevöl-
kerung hinzugezogen wird.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Seehofer hat mit Populismus nichts zu tun! Nichts!)


Ich kann ein Erbschaftsteuergesetz und jedes andere
Bundesgesetz sofort wieder ändern, wenn ich eine Mehr-
heit dafür habe. Wenn aber einmal Kompetenzen von der
Ebene der Nationalstaaten an die Ebene der Europäi-
schen Union abgegeben wurden, dann ist dies unwider-
ruflich und nicht rückholbar.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht richtig!)


Ich finde, hier sollte es guter Brauch sein, dass man die
Bevölkerung entsprechend konsultiert.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist sehr kühn!)


Ich spüre keinen großen Druck aus der Bevölkerung
hinsichtlich einer verstärkten Einführung einer Volksge-
setzgebung.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Die Bürgerinnen und Bürger wollen vielmehr, dass wir
ihre Sorgen und Anliegen ernst nehmen. Dafür sind wir
gewählt und müssen wir unseren Kopf hinhalten – auch
mit der Gefahr, nicht mehr wiedergewählt zu werden,
wenn die Entscheidungen nicht nachvollzogen werden.
Ich glaube aber, wir sollten uns hier nicht klammheim-
lich aus der Verantwortung stehlen. Deswegen sind die
drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen meines
Erachtens aus guten Gründen abzulehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621714700

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik

Reichel für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Maik Reichel (SPD):
Rede ID: ID1621714800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich hätte mir zum 60. Geburtstag des Grund-
gesetzes an dieser Stelle und zu diesem Thema eine ganz
andere Debatte gewünscht. Das haben wir heute schon
mehrfach besprochen. Ich gehöre diesem Hause seit
2005 an. Ich habe nicht persönlich miterleben können, in
welcher Konstellation wer wann etwas abgelehnt oder
nicht abgelehnt hat. Ich kann diese Diskussion aber ver-
stehen. Ich denke, dass wir an verschiedenen Stellen die
Möglichkeit haben, darüber zu reden, warum meine
Fraktion auch hier mit einem Bedauern ablehnen wird.
Es gibt eine Koalition, und es gibt eine Koalitionsverein-
barung. Ich muss auf die rechte Seite schauen. Jeder, der
in diesem Hause sitzt, weiß, in welcher Konstellation er
schon einmal etwas gesagt hat und es dann wenig später
ablehnen musste.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wer will mit Ihnen koalieren?)


– Bei Ihnen wird das vielleicht auch einmal der Fall sein,
wenn Sie in eine Koalition müssen und wenn Sie das
umsetzen müssen, von dem Sie vieles sagen. Ich hoffe,
dass Sie dann auch einige Dinge bedauern werden, die
Sie heute gesagt haben, weil es anders hätte gesagt wer-
den können.

Liebe Kollegin Pau, Sie haben vorhin Art. 20 des
Grundgesetzes angesprochen, der es uns ermöglicht, ne-
ben den Wahlen auch die Volksabstimmung einzubezie-
hen. Ich denke, wir sollten uns diese Möglichkeit nicht
nehmen lassen. Ich greife noch einige Themen auf, über
die wir gesprochen haben. Die Politikverdrossenheit
wird hier genannt. Ich gebe zu, dass plebiszitäre Ele-
mente und die direkte Demokratie nicht das Allheilmittel
sind, um die Politikverdrossenheit oder gar eine
schlechte Wahlbeteiligung zu beheben. Ich muss aber
auch sagen: Eine gänzliche Verteufelung unseres parla-
mentarischen repräsentativen Systems ist es auch nicht.
Es hat sich bewährt. Wenn wir in die Länder schauen, in
denen es solche Elemente gibt und wo sie manchmal
mehr, manchmal weniger oder auch gar nicht genutzt
werden, dann sehen wir, dass die Landtage auch nicht
außer Kraft gesetzt wurden. Ich glaube, diese Befürch-
tung werden wir nicht unbedingt erfüllen, wenn wir
mehr darüber sprechen. Das ermöglicht uns aber viel-
leicht, in offenere und breitere Debatten über bestimmte
große Themen einzutreten. Das ermöglicht uns, nicht nur
hier im Raum zu sprechen, sondern mit den Bürgerinnen
und Bürgern wesentlich offener zu sprechen. Wir müs-
sen uns bemühen, offener zu diskutieren und besser zu
erklären, warum wir das eine tun und das andere lassen.
Das ist hier im Raum manchmal etwas einfacher.

Wenn man im Zusammenhang mit Bundestagsreden
in den Computer das Wort „Populismus“ eingeben
würde, fände sich dieses Wort sicher gerade in den Zwi-
schenrufen häufig wieder. Ich glaube, wir müssen sehr
vorsichtig sein. Das, was draußen gilt, gilt auch hier im
Raum und umgekehrt. Ich denke, das gibt uns eine
Chance, offener mit den Menschen ins Gespräch zu
kommen.

Einer der schlimmsten Sätze, den wir alle hören und
der für mich immer sehr erschreckend ist, und zwar egal,
um welche Wahl es geht, ist: Es ändert sich ja doch
nichts. Das ist ein Problem. Dem kann man sicherlich
nicht unbedingt nur mit Volksentscheiden, Volksinitiati-
ven und Volksbegehren begegnen, aber es ist ein Schritt
in diese Richtung, den Menschen, die sonst alle vier oder
fünf Jahre ihr Kreuzchen machen, die Möglichkeit zu
geben, einmal ein bisschen aufzuschreien und zu sagen:
Leute, wir sehen das anders, wir wollen das anders. In
diesen Zwiespalt müssen wir eintreten und diskutieren.
Ich glaube, wir sind hier nicht allzu weit auseinander.

Kollege Wieland, Sie haben es aufgegriffen: Wenn
man die drei Anträge und das, was sowohl meine Frak-
tion als auch die CDU/CSU schon vor Jahren aufgegrif-
fen hat, sieht, dann wird deutlich, dass es Möglichkeiten
gibt, darüber zu sprechen. In diesem Zusammenhang
fällt mir ein Satz von Georg Christoph Lichtenberg ein,
der sagte:

Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders
wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser
werden soll.

Wir haben die Chance, darüber, wie es geht, zu spre-
chen. Auch vor drei Jahren ist in den Reden viel Kontra
gegeben worden. Ich habe damals meine erste Rede an
diesem Pult halten dürfen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann mich erinnern!)


Damals war ich etwas aufgeregter als heute, damals
hatte ich wesentlich mehr Papier hier vorn, aber ich habe
mir angeschaut, was die Punkte sind, die dagegenspre-
chen. Heute ist schon von Missbrauch gesprochen wor-
den. Die Erfahrungen in den Ländern und Kommunen
zeigen, dass damit nicht unbedingt großer Missbrauch
betrieben wurde. Als Historiker will ich auch nicht so
sehr in die NS-Zeit und in die Weimarer Zeit zurückge-
hen, weil es hier noch einige andere Punkte gibt, über
die wir reden könnten. Ich denke, dass unsere Gesell-
schaft heute wesentlich besser und weiterentwickelt ist.
Sie ist vor allem wesentlich demokratischer geworden,
und zwar auch im Umgang mit solchem Missbrauch.
Neben allem anderen ist hier auch Manipulation genannt
worden. Ich denke, wir alle sind aufgerufen, dies auch
bei möglichen Volksinitiativen, Volksbegehren und
Volksentscheiden zu tun.

Ich glaube, jeder, der in Berlin aktiv ist – ich fahre
meist nur an den Wesselmännern vorbei und schaue mir
die Plakate an –, kann bestätigen, dass es dort ein Für
und Wider gibt. Das wurde auch heute schon festgestellt.

Ein weiteres Thema, das hier immer wieder angespro-
chen wird, sind die komplexeren Fragestellungen. Bun-
despolitische Themen sind schwerlich mit einem einfa-
chen Ja oder Nein zu beantworten. Ich glaube, darum






(A) (C)



(B) (D)


Maik Reichel
geht es auch nicht. Man sollte den Inhalt des entspre-
chenden Volksbegehrens, der -initiative oder des Volks-
entscheides abwarten, um darüber zu sprechen. Häufig
ist davon die Rede, dass wir irgendwelche Regelungen
außer Kraft setzen, die die Mitwirkung der Länder bei
der Gesetzgebung nach Art. 79 des Grundgesetzes be-
treffen. Auch das ist nicht möglich.

Es lässt sich alles regeln. Man kann in das Gesetz hi-
neinschreiben, worüber nicht abgestimmt werden darf,
zum Beispiel über Finanzbeziehungen – so wird bei Län-
derentscheiden auch verfahren –, die Todesstrafe oder
andere Themen, die Kollege Mayer angesprochen hat.
Man kann in das Gesetz hineinschreiben, was nicht in ei-
nen Volksentscheid münden darf.

Das alles haben wir leider nicht diskutiert. Ich wäre
froh, wenn es uns gelungen wäre, uns zusammenzuset-
zen und zu sagen, was unsere äußersten und innersten
Grenzen sind. Das haben wir leider nicht geschafft. Man
kann auch über solche Detailfragen reden. Dazu sind wir
nicht gekommen. Ich glaube aber, dass wir damit ein
Stück weitergekommen wären.

Eine Abwertung des Parlaments durch die direkte De-
mokratie kann ich persönlich nicht erkennen. Direkte
Demokratie soll und wird den Deutschen Bundestag, ein
europäisches Parlament oder ein Landesparlament nicht
ersetzen. Man sieht das auch in den Bundesländern, und
es ist auch an der Anzahl der Volksentscheide erkennbar.
Was in den Ländern richtig und gut ist, muss auf Bun-
desebene nicht schlecht und falsch sein. Denn es sind
dieselben Bürgerinnen und Bürger, die abstimmen, ob
bei Entscheiden auf Bundesebene oder in den Ländern.
Unterschiede ergeben sich nur aus administrativen Gren-
zen.

Ich bin auch dankbar, lieber Stephan Mayer, was den
Unterschied zu Abstimmungen in Europa angeht, die
nicht reversibel sind. Man muss aufpassen, dass man
nicht einfach nur dann, wenn einem ein Instrument lieb
ist, sagt, dass man es braucht.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!)


Diese Differenzierung müssen wir klarmachen. Sie ist
vielleicht nicht richtig deutlich geworden. Mit diesen
Schlagworten müssen wir uns noch einmal befassen.

In den 70er-Jahren gab es eine Enquete-Kommission
für mehr Bürgerbeteiligung, die leider nicht in weitere
Volksentscheide gemündet ist. Ich könnte mir vorstellen,
dass wir das in der nächsten Legislaturperiode hinbe-
kommen, dass sich alle hier vertretenen Fraktionen da-
rüber verständigen, ob in einer Enquete-Kommission
oder wie auch immer. Ich glaube, wir sind auf einem gu-
ten gemeinsamen Weg.

Zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes sollten wir
diesem ein besonderes Geschenk machen, nämlich die
Einführung von plebiszitären Elementen in das Grund-
gesetz.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der SPD)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621714900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen damit zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion der FDP zur Einführung von
Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019,
den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/474 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion
der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Damit entfällt nach un-
serer Geschäftsordnung die weitere Beratung dieses Ge-
setzentwurfs.

Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur

(Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid)

ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12019, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/680
abzulehnen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Frak-
tion und bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, der Fraktion Die Linke und dem Abgeordneten
Winkelmeier. Auch hier entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.

Schließlich kommen wir zur Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Ein-
führung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grund-
gesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/1411 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke und des Herrn Abgeordneten Winkelmeier abge-
lehnt. Auch hier entfällt die weitere Beratung.

Damit kommen wir zu den Zusatzpunkten 6 und 7:

ZP 6 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen

– Drucksachen 16/11131, 16/11641 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit (16. Ausschuss)


– Drucksache 16/12465 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Marko Mühlstein
Michael Kauch
Hans-Kurt Hill
Hans-Josef Fell


(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/12466 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Andreas Weigel
Ulrike Flach
Michael Leutert
Anna Lührmann

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill,
Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Bio-
kraftstoffen zurücknehmen – Nachhaltigkeits-
kriterien umgehend einführen

– Drucksachen 16/5679, 16/12699 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Dr. Axel Troost

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so be-
schlossen, und wir können so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Marko Mühlstein für die
SPD-Fraktion.


Marko Mühlstein (SPD):
Rede ID: ID1621715000

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Mit der Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Förderung von Biokraftstoffen stehen wir
am Ende eines langen Diskussionsprozesses, eines Dis-
kussionsprozesses, der nicht nur in den Fraktionen und
zwischen den Fraktionen des Parlaments stattgefunden
hat, sondern der auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbar
war. Medien haben sich mit dem Thema Biokraftstoffe
befasst, genauso wie Sachverständigenräte. Unser Ziel
nach diesem Diskussionsprozess war, im Biokraftstoff-
gesetz Palm- und Sojaöl auszuschließen. Wie Sie wis-
sen, ist uns das durch die Vorgabe der Europäischen
Union nicht mehr möglich. Umso wichtiger ist es, am
heutigen Tag die Ermächtigung für die Bundesregierung
zu einer wirksamen Nachhaltigkeitsverordnung auf den
Weg zu bringen, einer Nachhaltigkeitsverordnung, die
bei Anbau und Verarbeitung der Rohstoffe für Biokraft-
stoffe regelt, dass sowohl ökologische als auch soziale
Kriterien eingehalten werden. Durch das engagierte Auf-
treten der Bundesregierung ist es möglich gewesen,
diese Nachhaltigkeitskriterien auf europäischer Ebene zu
regeln. Bei der nachhaltigen Biomasseproduktion ist
Deutschland – das kann man mit Stolz sagen – Vorreiter.

In diesem Zusammenhang möchte ich alle Beteiligten
auffordern, an der zügigen und wirkungsvollen Umset-
zung der Nachhaltigkeitsverordnung mitzuarbeiten und
mitzuwirken; denn bei der nachhaltigen Bioenergiepro-
duktion leisten wir echte Pionierarbeit. Doch wo Licht
ist, ist auch Schatten. Ich möchte nicht verschweigen,
dass sich viele Kolleginnen und Kollegen meiner Frak-
tion, aber auch anderer Fraktionen darum bemüht haben,
an einigen Stellen dieses Gesetzes andere Lösungen her-
beizuführen. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz
besonders dem Kollegen Jung und Frau Dr. Flachsbarth
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danken. Ich
denke, dass wir weiterarbeiten müssen.

Viele in meiner Fraktion haben für eine Entlastung
der reinen Biokraftstoffe gekämpft. Wir haben vorge-
schlagen, im Bereich des öffentlichen Personennahver-
kehrs und des Schienenpersonennahverkehrs den Bio-
diesel gänzlich von der Biokraftstoffsteuer zu befreien,
wie das bereits heute in der Landwirtschaft gängige Pra-
xis ist. Von dieser Maßnahme hätten nicht nur die Ver-
kehrsbetriebe der Kommunen, die Landwirte und die Bio-
dieselproduzenten profitiert. Vielmehr wäre das auch ein
sinnvoller Beitrag für den Aufbau regionaler und nach-
haltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.


(Beifall bei der SPD)


Doch während die Union in ihren Presseerklärungen
vom 21. März 2007, 16. Januar 2008 und 2. April 2008
Steuerfreiheit für alle reinen Biokraftstoffe gefordert
hatte, war die Union nicht bereit, dieses Teilsegment um-
zusetzen und damit die deutsche Biokraftstoffbranche zu
entlasten. Wie das zusammenpasst, haben wohl nur die
Verantwortlichen in der Union selbst verstanden.

Es ist aus meiner Sicht schwer vermittelbar, dass wir
keine Einigung bei der Einführung des Kraftstoffes E 10
als zusätzliches Angebot erzielen konnten. Insbesondere
ist es mir schleierhaft, warum der ADAC in den vergan-
genen Monaten mit populistischen Aussagen eine Art
E-10-Panik unter den Autofahrern erzeugte. Schließlich
war es nicht unser Ziel, Superbenzin durch E 10 zu erset-
zen; vielmehr ging es darum, dem Verbraucher einen zu-
sätzlichen Kraftstoff anzubieten, der dieselbe Qualität
hat wie die Premiummarken der großen Mineralölkon-
zerne, dabei aber deutlich billiger angeboten werden
könnte. Ich persönlich gehe einmal nicht davon aus, dass
sich die Kooperation des Automobilklubs mit einem Mi-
neralölkonzern auf die politische Arbeit dieses Automo-
bilklubs auswirkt.

Mit dem Gesetzentwurf werden wir heute einen Ent-
schließungsantrag beschließen. In diesem Entschlie-
ßungsantrag werden zwei Dinge deutlich: Erstens. Wir
wollen die schnellstmögliche Einführung der Nachhal-
tigkeitszertifizierung für Biokraftstoffe. Zweitens. Das
Ziel der Regierungsfraktionen ist es, die Einführung hy-
drierter Kraftstoffe unter Parlamentsvorbehalt zu stellen.
Schließlich kann es aus meiner Sicht nicht unser Ziel
sein, mit dem sogenannten Co-Hydrotreating möglicher-






(A) (C)



(B) (D)


Marko Mühlstein
weise unbegrenzte Wettbewerbsverzerrungen zulasten
des Mittelstandes zuzulassen.

Ich hatte vorhin gesagt: Wo Licht ist, ist auch Schat-
ten. Wenn wir in diesem Hohen Hause über den aktiven
Klimaschutz diskutieren, dann reden wir natürlich auch
– ich glaube, da sind wir uns alle einig – über effiziente
und verbrauchsarme Fahrzeuge, und dann reden wir über
alternative Antriebe wie Hybrid- oder Elektromotoren.
Doch auf dem Weg weg vom Öl – auch darüber sind wir
uns einig – sind Biokraftstoffe unersetzbar. Wir werden
auch in den nächsten Jahren noch auf Biokraftstoffe an-
gewiesen sein, gerade im Bereich des Schwerlastver-
kehrs. Deswegen möchte ich ganz deutlich sagen, dass
ich es zutiefst bedauere, dass sich die Koalition nicht auf
die vorgeschlagenen, von mir eben dargestellten und viel
diskutierten Maßnahmen einigen konnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich persönlich werde mich auch weiterhin für eine Zu-
kunft biogener Kraftstoffe einsetzen und werde in diesem
Zusammenhang auch immer die Pioniere der Biokraft-
stoffindustrie und des Biokraftstoffmarktes, nämlich die
kleinen und mittelständischen Produzenten und Händler,
im Auge haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621715100

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1621715200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bio-

kraftstoffe sind weder Himmel noch Hölle. Das ist so die
Bandbreite, in der sich die Diskussion in den letzten
zwei Jahren bewegt hat. Es kommt wesentlich darauf an,
aus welchen Quellen die Rohstoffe für diese Biokraft-
stoffe stammen, und es kommt darauf an, wie effizient
die eingesetzte Biomasse genutzt wird. Beides liegt im
Argen. Die Nachhaltigkeitskriterien für Biomasse stehen
zwar jetzt auf dem Papier, nämlich in der EU-Richtlinie,
aber noch kann sie kein einziges Unternehmen nachwei-
sen; denn die entsprechende Verordnung über diesen
Nachweis von Nachhaltigkeit hat die EU immer noch
nicht auf die Reihe bekommen. EU bedeutet in diesem
Zusammenhang nicht nur Kommission, sondern auch
Ministerrat, in dem die Bundesregierung vertreten ist.

Auch die Effizienz der Verwendung eingesetzter Bio-
masse ist fraglich. Völlig willkürlich werden Förder-
instrumente eingesetzt: Beimischungsquote bei den Bio-
kraftstoffen, Preisgarantien bei der Verstromung und
Anlagensubventionen für Anlagen erneuerbarer Wärme.
Kein Instrument ist auf das andere abgestimmt. Das Zu-
sammenwirken ist zufällig und nicht daran ausgerichtet,
mit den eingesetzten Mitteln so viel CO2 wie möglich
einzusparen.


(Beifall bei der FDP)

Die FDP bleibt bei der Haltung, dass dieser Gesetz-
entwurf das Scheitern dieser Politik dokumentiert.
Gabriel und die Autos – das ist eine lange Geschichte.
Ich sage nur: Partikelfilterskandal, verkorkste Grenz-
wertdiskussion und nicht zuletzt, was den Bereich der
Biokraftstoffe angeht, erst das Scheitern von E 10, dann
wieder die Befürwortung von E 10 nach dem Motto: rein
in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Eine klare Li-
nie der Bundesregierung und dieses Umweltministers
mit Blick auf umweltfreundliche Mobilität kann ich lei-
der nicht erkennen.


(Beifall bei der FDP)


Es freut mich jedoch, dass die Bundesregierung die
von der FDP-Bundestagsfraktion von Anfang an geäu-
ßerte Kritik aufgreift, dass die Quotenerhöhung angesichts
fehlender Nachhaltigkeitszertifizierung in der Praxis
falsch ist. Diese Quotenerhöhung, wie sie ursprünglich
vorgesehen war, würde nur zu einem weiteren Zugriff
auf die globalen Ressourcen führen, der ohne funktionie-
rende Zertifizierung nachhaltigen Anbaus eine Gefahr
für die Regenwälder und damit für den globalen Klima-
schutz darstellt. Aber auch der Weg der Verlangsamung
des Quotenanstiegs, wie er jetzt vorgesehen ist, kann das
Problem einer fehlenden Nachhaltigkeitsverordnung le-
diglich abmildern, aber nicht beseitigen.

Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb die Bun-
desregierung nachdrücklich auf, von einer Quotenerhö-
hung ganz abzusehen, solange die Nachhaltigkeitssys-
teme nicht in der Praxis international funktionieren.
Selbst eine Nachhaltigkeitsverordnung ist noch nicht
ausreichend, um Nachhaltigkeit tatsächlich zu sichern.
Sie muss auch in der Praxis, und zwar international,
funktionieren.


(Beifall bei der FDP)


Nur auf einem effizienten Weg wird die Abhängigkeit
vom Import fossiler Energieträger gemindert. Vor die-
sem Hintergrund müssen die bestehenden Beimi-
schungsquoten auf dem heutigen Stand eingefroren wer-
den.

Es stellt sich die Frage: Was ist die richtige Alterna-
tive? Die Regierung hat im Bereich der reinen Biokraft-
stoffe so einiges verzapft, weil sich der Bundesfinanzmi-
nister die Kassen füllen wollte und die Steuerbefreiung
für die Kraftstoffe vor der Frist aufgehoben hat. Man
kann klar konstatieren: Diese Bundesregierung trägt die
Verantwortung dafür, dass ein Teil der heimischen Bio-
kraftstoffproduzenten in die Pleite getrieben wurde und
der andere Teil kurz davorsteht. Das ist Ihre Verantwor-
tung aufgrund Ihrer Steuerpolitik im Bereich der Bio-
kraftstoffe.


(Beifall bei der FDP)


Es ist putzig, dass die SPD behauptet, die CDU/CSU
wäre schuld gewesen, dass die Steuerbefreiung für den
öffentlichen Nahverkehr nicht wiederhergestellt werden
konnte. Ich frage mich: Wenn Sie der Auffassung sind,
dass die Steuereinführung durch Herrn Steinbrück falsch
war, warum wollten Sie von der SPD sie dann nur für ei-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Kauch
nen bestimmten Teil, nämlich für die kommunalen Un-
ternehmen, aufheben?


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr wahr!)


Es ist ökologisch falsch und es ist Klientelpolitik, was
Sie mit diesem Vorschlag betreiben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Weder noch! – HansKurt Hill [DIE LINKE]: Ihr macht wohl keine Klientelpolitik?)


Deshalb ist es gut, dass man dem Klientelismus nicht
den Weg bereitet hat.


(Beifall bei der FDP)


Aber auch die Fachpolitiker der Union behaupten
gerne, dass man etwas tun müsse, weil die Biokraftstoff-
hersteller pleitegehen. Die Quote führe dazu, dass nur
noch große Händler als Zulieferer der Mineralölindustrie
berücksichtigt werden und die großen Händler die Im-
portbiomasse nehmen. Das Ganze ende dann mit der
Zerstörung der Regenwälder. Ihre Analyse ist zwar rich-
tig, aber was ist denn die Folgerung? Tatsache ist, dass
Sie in der Koalition nichts, aber auch gar nichts durchge-
setzt haben, um den Markt für reinen Biokraftstoff wie-
der zum Laufen zu bringen.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise erfordert
eine ausgewogene und nachhaltige Klimapolitik, dass
wir unsere heimische Produktion, auch die für Biokraft-
stoffe, stärken. Es ist bemerkenswert, dass CDU/CSU
und SPD nicht einmal die Forderung des Bundesrates
aufgegriffen haben, wenigstens für das Jahr 2009 auf die
Steuererhöhung zu verzichten. Es wurde nicht einmal
gefordert, die Steuer zurückzunehmen. Es wurde ledig-
lich gefordert, die Erhöhung nicht durchzusetzen. Selbst
das haben die Bundestagsfraktionen von Union und SPD
abgelehnt. Wir als Liberale werden nach der Bundes-
tagswahl diese gescheiterte Politik ändern.


(Beifall bei der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich gespannt!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621715300

Nun hat der Kollege Andreas Jung das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1621715400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Kauch, ich bin der Meinung, gerade ange-
sichts einer solch komplexen Materie sollten wir uns
nicht gegenseitig vorwerfen, etwas zu „verzapfen“; viel-
mehr sollten wir in einer sachlichen Diskussion überle-
gen, wie viele Biokraftstoffe „gezapft“ werden sollen
und woher diese Biokraftstoffe kommen sollen.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Da die Thematik komplex ist und da sich durchaus
kritische Fragen stellen, möchte ich zunächst feststellen,
dass eines richtig bleibt: Biokraftstoffe können einen
wichtigen Beitrag leisten: zu mehr Klimaschutz – durch
eine Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen im
Bereich des Verkehrs, Stichwort „Kraftstoffe“ –, zu
mehr Unabhängigkeit von Erdölexporten und damit zur
Energiesicherheit sowie zur Wertschöpfung im ländli-
chen Raum, soweit die Biokraftstoffe hier in Deutsch-
land, also national, erzeugt werden.

So richtig es ist, dass die Biokraftstoffe einen wichti-
gen Beitrag leisten können, so wahr ist eben auch, dass
sie dies nicht zwingend tun. Das ist dann der Fall, wenn
Biokraftstoffe nicht nachhaltiger Produktion entstam-
men. Leider gibt es aus etlichen Ländern Nachrichten,
dass Biokraftstoffe aus nicht nachhaltiger Produktion
stammen und nach Deutschland exportiert werden.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil die Beimischungsquote zu hoch war! Deswegen!)


Solche Berichte gibt es aus Südamerika und aus Asien.
Eine Delegation des Deutschen Bundestages hat sich im
Rahmen der Teilnahme an der Klimakonferenz auf Bali
vor Ort eine Plantage angesehen, auf der Regenwald ge-
rodet und stattdessen eine Bioplantage errichtet wurde.
Bei allen unterschiedlichen Positionen in einzelnen Fra-
gen eint uns die Auffassung, dass das nicht sein darf. Es
darf nicht sein, dass für die Natur wichtige Flächen, also
Flächen mit einem hohen Kohlenstoffgehalt – etwa Re-
genwälder oder Moore –, geopfert werden, um Biopflan-
zen anzubauen, diese dann unter grünem Label nach
Deutschland zu importieren und hier als „ökologisch
wertvoll“ zu verkaufen. Ich wiederhole: Das darf nicht
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es ist richtig und es ist wichtig, dass wir überlegen,
wie wir dafür sorgen können, dass solche nicht nachhal-
tigen Produkte nicht in deutschen Tanks landen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gesetz hilft dazu kein bisschen weiter! – Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Mit dem Gesetz aber nicht!)


Im letzten Jahr wollten wir eine Nachhaltigkeitsverord-
nung auf den Weg bringen, die genau das vorgesehen
hat. Wir wollten folgende nationale Regelung: Nach
Deutschland dürfen nur nachhaltige Produkte eingeführt
werden. Die Europäische Union hat das gestoppt. Sie
war der Auffassung, dass ein Nationalstaat das nicht darf
und dass Europa für die Regelung zuständig ist. Es mag
etwas dafürsprechen, dass eine einheitliche europäische
und damit stärkere Regelung besser ist als unterschiedli-
che nationale Regelungen.

Aber Europa hat eben noch nicht gehandelt. Deshalb
war im Entwurf des Gesetzes, das uns heute zur Bera-
tung vorliegt, ebenfalls eine Regelung vorgesehen, die
besagt hat: Der Import von Palmöl und Sojaöl darf nicht
auf die deutsche Quote angerechnet werden, solange be-
stimmte Nachhaltigkeitskriterien nicht in Kraft gesetzt
sind. Auch da hat Europa interveniert. Es hat die Einfüh-
rung dieser Nachhaltigkeitskriterien mit denselben






(A) (C)



(B) (D)


Andreas Jung (Konstanz)

Argumenten und dem Hinweis auf GATT-Regelungen
verhindert und hat wiederum gesagt: Wir werden es sel-
ber regeln. Das Problem ist: Europa wollte im ersten
Quartal dieses Jahres die eigenen Nachhaltigkeitskrite-
rien verabschieden; aber man hat es noch nicht getan.

Wie Kollege Mühlstein zuvor gesagt hat, schaffen wir
mit diesem Gesetz – mit der Ermächtigung zur Umset-
zung der irgendwann auf europäischer Ebene verab-
schiedeten Nachhaltigkeitskriterien – die Voraussetzun-
gen dafür, dass wir diese Kriterien so schnell wie
möglich in deutsches Recht umsetzen können. Ich be-
tone: Wir können das erst, wenn Europa – endlich – ge-
handelt hat. Deshalb sollten wir gemeinsam den ein-
dringlichen Appell an alle in der EU Verantwortlichen
senden: Wir brauchen jetzt europäische Nachhaltigkeits-
kriterien. Wir fordern auch die Bundesregierung auf, al-
les in ihrer Macht Stehende zu tun, damit diese Kriterien
dort so schnell wie möglich verabschiedet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Beifall aus, glaube ich, allen Fraktionen zeigt,


(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Nein, das kann nicht sein!)


dass es ein gemeinsames Anliegen ist. Trotzdem sind wir
heute in einer schwierigen Situation: Wir müssen über
die Höhe der deutschen Quote entscheiden, ohne Ge-
wissheit über die europäischen Nachhaltigkeitskriterien
zu haben. Das ist für sich genommen schon schwierig.

Ein weiteres Problem kommt hinzu. Wir haben Un-
klarheit über eine weitere Entscheidungsgrundlage,
nämlich über die Frage, ob eine höhere Quote, die der
Bundestag eigentlich vorgesehen hatte, durch eine nach-
haltige deutsche Produktion erfüllt werden könnte. Es
gibt Stimmen, die sagen: Ja, das ist möglich; es ist auch
kurzfristig, schon in diesem Jahr, möglich. Es gibt aber
ebenso gewichtige Stimmen, die sagen: Nein, aus Grün-
den der Kapazität und der Preise ist es nicht möglich,
und eine Erhöhung der Quote würde zu mehr Biokraft-
stoffen aus nicht nachhaltiger Produktion führen. – Wir
haben also eine Rechnung mit mehreren Unbekannten,
und wie oft bei Rechnungen mit mehreren Unbekannten
kann man deshalb mit guten Argumenten auch zu unter-
schiedlichen Ergebnissen kommen.

Die Koalition hat sich in dieser Gemengelage dafür
entschieden, die Erhöhung für dieses Jahr um 1 Pro-
zentpunkt zurückzunehmen und die Quote auf 5,25 Pro-
zent festzulegen. Das wurde und das wird sicherlich
auch nachher noch kritisiert. Aber wir müssen auch die
Gegenfrage stellen: Was würde denn passieren, wenn
wir sagen würden, wir haben zwar noch keine Gewiss-
heit, noch keine Klarheit, noch keine Rechtssicherheit,
was Nachhaltigkeitskriterien angeht, erhöhen aber trotz-
dem die Quote und nehmen die damit einhergehenden
Risiken in Kauf? Auch das wäre sicherlich eine schwie-
rige Diskussion.

Ich glaube, wir können heute eines mit Gewissheit sa-
gen: Die Diskussion um die Biokraftstoffstrategie der
Bundesregierung wird und muss sicherlich auf Wieder-
vorlage gelegt werden, nämlich dann, wenn wir Gewiss-
heit über die Nachhaltigkeitskriterien der EU haben,
hoffentlich zu einem baldigen Zeitpunkt. Dann wird si-
cherlich nicht nur die Frage der Quote, sondern auch die
Frage der steuerlichen Behandlung der Biokraftstoffe
wieder auf den Prüfstand kommen. Heute gehen wir ei-
nen Schritt, indem wir die Steuererhöhung um 3 Cent
pro Liter zurücknehmen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer noch 20 Prozent Steigerung!)


Wir werden genau diese Frage, die Sie gerade anspre-
chen, mit Beiträgen aus allen Fraktionen weiter diskutie-
ren. Ich rate uns, dass wir diese Diskussion sachlich und
ohne Schwarz-Weiß-Malerei führen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621715500

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Kurt Hill für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621715600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich darf zunächst eine Besuchergruppe aus Nordrhein-
Westfalen begrüßen.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Die Biospritstrategie der Regierung ist gescheitert.
Das ist eben deutlich gesagt worden, und da stimme ich
Ihnen natürlich zu, Herr Kauch. Sie wollten mit der Bei-
mischung von Biosprit in Höhe von bis zu 10 Prozent
den Energiebauern in Deutschland unter die Arme grei-
fen, Herr Jung. Erreicht haben Sie das Gegenteil. Die
Mineralölmultis kaufen auf dem internationalen Markt,
was billig zu haben ist. Ich sage Ihnen: Das schadet der
Umwelt. Das führt zu Raubbau und zur Vertreibung von
Menschen in den Herkunftsländern.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Wie wollen Sie kontrollieren, dass dabei keine Tro-
penwälder zerstört werden? Sie kriegen ja noch nicht
einmal die Preistreiberei der Spritkonzerne an den Tank-
stellen in den Griff. Die Ölmühlen zum Beispiel in
Mecklenburg-Vorpommern, in Rheinland-Pfalz, im Saar-
land oder an anderer Stelle müssen Konkurs anmelden.
Die Branche liegt am Boden, und daran wird auch die
Änderung am Gesetz nichts ändern. Ihre Biokraft-
stoffstrategie ist wirklich gescheitert, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Zwangsquote ist ein Irrweg zulasten des Natur-
haushaltes und des Klimaschutzes. Ziehen Sie das Gesetz
samt Änderungsvorlage zurück! Fördern Sie die heimi-
sche Biomasseerzeugung und -nutzung! Das ist nachhal-
tig und kontrollierbar. Damit wird der Naturhaushalt






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Kurt Hill
nicht überfordert, und damit wird für zukunftssichere Be-
schäftigung und Wertschöpfung gesorgt.

Das Ziel muss es sein, eine Wende in der Verkehrs-
politik zu organisieren. Herr Mühlstein ist darauf einge-
gangen. Geben Sie ein deutliches Signal an die Kraft-
fahrzeughersteller, dass die Zukunft nicht in großen
Geländewagen liegt!

Ein gutes Beispiel in der Verkehrspolitik ist die Ost-
deutsche Eisenbahn in Berlin-Brandenburg, die ihre
Loks und Busse mit reinem Biokraftstoff betreibt. Hel-
fen Sie den Bundesländern, einen nutzerfreundlichen öf-
fentlichen Nahverkehr zu erhalten und auch auszubauen!


(Beifall bei der LINKEN)


Machen Sie endlich beim Tempolimit auf den Auto-
bahnen mit! Damit erreichen Sie für den Klimaschutz
mehr als mit dieser Beimischungsquote.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hören Sie auf Ihre eigenen Fachleute, Herr Schmitt,
den Wissenschaftlichen Beirat „Globale Umweltverän-
derungen“! Ihre eigenen Berater sagen in Sachen Klima-
schutz als Schlussfolgerung zum Biokraftstoffquotenge-
setz – ich zitiere –:

Durch die Quotenvorgaben für Biokraftstoffe wer-
den zum Teil sogar Bioenergiepfade gefördert, die
zur Verschärfung des Klimawandels beitragen.

Weiter sagen sie:

Bioenergie darf nicht zu einer Gefährdung der Er-
nährungssicherheit führen oder die Zerstörung von
Regenwäldern oder anderen naturnahen Ökosyste-
men auslösen.

Nochmals weiter:

Der Anbau einjähriger Energiepflanzen zur Produk-
tion von Flüssigkraftstoffen für den Verkehr ist zu
wenig an den Zielen des Klimaschutzes ausgerich-
tet.

Schlussendlich plädieren sie daher für einen raschen
Ausstieg aus der Förderung von Biokraftstoffen im Ver-
kehrsbereich.

Die Linke hat sich als einzige Fraktion im Deutschen
Bundestag von Anfang an gegen die Zwangsquote und
für die gezielte, aber begrenzte Förderung von reinen
Biokraftstoffen in dezentralen Strukturen ausgespro-
chen; denn nur regionale, in sich geschlossene Kreis-
läufe zur Herstellung und Verwendung von Biosprit sind
nachhaltig.

Grundsätzlich ist auch ein Umschwenken in der Bio-
energieförderung erforderlich. Die Linke setzt sich des-
halb für eine Stärkung der umweltverträglichen Biogas-
produktion ein. Hierbei sind je Hektar für die Biomasse
genutzter Fläche der Energieertrag und somit auch der
Klimaschutzbeitrag dreimal höher als bei Agrosprit.
Biogas kann für die gekoppelte Erzeugung von Strom
und Wärme genutzt, in Fahrzeugen eingesetzt und ins
Erdgasnetz eingespeist werden.

Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Biokraft-
stoffquotengesetz und die hier vorliegende Änderung der
Quotenregelung müssen als untauglich und klimaschäd-
lich abgelehnt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621715700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621715800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dieses Gesetz, das die Große Koalition heute verab-
schieden lässt, ist schlicht und ergreifend ein schlechtes
Gesetz,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und zwar schlecht für die Umwelt, schlecht für die Ar-
beitsplätze und schlecht für die Entwicklung unserer
ländlichen Regionen.

Besonders schlimm finde ich, dass Sie sehenden Au-
ges eine ganze Branche ruinieren. Wir hatten in der rot-
grünen Regierungszeit die Entscheidung getroffen, die
reinen Pflanzenöle steuerfrei zu stellen, weil wir unsere
Regionen, unsere bäuerliche Landwirtschaft weiterent-
wickeln wollten, weil wir sie unabhängiger vom Öl ma-
chen wollten, weil wir auch strukturell im ökologischen
Sinne weiterkommen wollten. Sie haben die Steuerbe-
freiung, die bis 2009 gegeben war, nicht durchgehalten.
Das Vertrauen derjenigen, die sich darauf verlassen ha-
ben, wurde gebrochen. Das hat die Große Koalition zu
verantworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE])


Weder im Wahlprogramm der SPD noch im Wahlpro-
gramm der Union tauchte das auf. Wenn man weiß, dass
im Bereich der Ölmühlen Investitionen von mehr als
6 Millionen Euro getätigt worden sind, dass dort
50 000 Arbeitsplätze entstanden sind, dass die technolo-
gische Entwicklung in diesem Bereich sowie bei den
Umrüstbetrieben rasant war und man in diesen neuen
Märkten an Rentabilität gewonnen hat, dann ist es fatal,
der Branche dies wieder zu nehmen. Es ist unverant-
wortlich angesichts der Rahmenbedingungen, die die
Politik unter ökologischen Gesichtspunkten auf dem ge-
samten Kraftstoffmarkt und bei den regenerativen Ener-
gien schaffen muss. Das ist unser Job. Wir haben diesen
Job ernst genommen, um etwas Positives zu tun. Die
Große Koalition macht dies wieder zunichte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte es auch für problematisch, dass Herr
Mühlstein und die anderen Kollegen der SPD dann er-
klären, die Verantwortung trage die Union, weil sie sich
nicht bewegt habe, und umgekehrt vonseiten der Union






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel
geäußert wird, die Sozialdemokraten hätten sich nicht
bewegt.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das Erste stimmt aber!)


Meine Damen und Herren, man kann doch wohl er-
warten, dass die Große Koalition sich zu einem positiven
Ergebnis durchringt, die Verantwortung nicht hin und
her geschoben wird und Sie alle am Ende nicht die Hand
für ein schlechtes Gesetz heben. Das muss man deutlich
sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Von knapp 1 900 Tankstellen für Biodiesel sind heute
nur noch 150 übrig geblieben. Auch daran erkennt man
die Entwicklung.

Bei den Steuererhöhungen für Biodiesel haben wir
ebenfalls eine völlig falsche Entwicklung. Der Kollege
von der CDU/CSU hat hier erklärt: Statt die Steuer von
15 Cent auf 21 Cent zu erhöhen, wie wir ursprünglich
vorhatten, nehmen wir künftig nur 18 Cent. – Das ist im-
mer noch eine 20-prozentige Steigerung der Steuerlast.
Sie tun ja so, als hätten Sie die Steuerlast gesenkt. Sie
haben sie aber noch einmal um 20 Prozent erhöht. Da
liegt das Problem. Das sollten Sie der Bevölkerung auch
klipp und klar sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat in ihrem Zwischenbericht
im November 2008 zugegeben, dass der Biodiesel um
10 Cent pro Liter unterkompensiert, das heißt zu hoch
besteuert wird. Ihre eigene Bundesregierung hat also
darauf hingewiesen, dass es so nicht gehen kann.

Herr Kollege Kauch von der FDP hat bereits daran er-
innert, dass der Bundesrat eine Stellungnahme mit der
Aufforderung eingebracht hat, auf diese Erhöhung zu
verzichten – übrigens nicht nur für 2009, sondern auch
für 2010. Auch dem sind Sie nicht nachgekommen. Alle
Agrarminister von Bund und Ländern haben gewarnt
und deutlich gemacht, dass man diese Steuererhöhung
aussetzen muss. Auch auf diese Kollegen und Kollegin-
nen aus Ihren eigenen Reihen hören Sie nicht.

Es ist schon ein Stück weit unfassbar, dass die Regie-
rungskoalition sich gegen berechtigte Kritik aus den ei-
genen Reihen taub stellt. Selbst die berechtigte Kritik
aus den eigenen Reihen wird nicht gehört. Ich sehe heute
einige Kollegen nicht, die in den Fachausschüssen
– auch im Finanzausschuss – vor diesem Vorgehen ge-
warnt haben. Wahrscheinlich wollen sie sich nicht gerne
an dieser Abstimmung beteiligen. Das ist selbstverständ-
lich ihr Recht; es spricht aber doch Bände.

Viele Betriebe sind in einer prekären wirtschaftlichen
Lage. Das wissen Sie auch. Es werden immer wieder
schöne Reden über Klimaschutzziele gehalten. Jetzt ha-
ben Sie von Entschließungsanträgen gesprochen. Ent-
schließungsanträge sind aber keine Gesetze. Es geht da-
rum, hier im Zusammenhang mit der Quotenregelung
und mit der Besteuerung ein Gesetz zu verabschieden.
Ich kann nur an Sie appellieren: Geben Sie Ihrem
Herzen und Ihrem Verstand einen Ruck! Stimmen Sie
diesem Gesetz nicht zu, sondern lehnen Sie es ab! Jetzt
haben Sie noch die Chance dazu.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621715900

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-

sche Staatssekretär Michael Müller das Wort.

Mi
Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1621716000


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man diese Diskussion seit geraumer Zeit verfolgt, fällt
einem schon auf, dass es am Anfang eine unglaubliche
Euphorie und danach einen unglaublichen Pessimismus
gab. Jetzt zerfällt das Ganze in Einzelpositionen.

Herr Hill, lassen Sie mich anhand eines Beispiels Ihre
Widersprüchlichkeit aufgreifen. Was Ihre Meinung zu
den reinen Kraftstoffen angeht, bin ich durchaus bei Ih-
nen. Es ist dann aber schwierig, die wissenschaftlichen
Institute dafür in Anspruch zu nehmen. Der Wissen-
schaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Um-
weltveränderungen“ – WBGU – vertritt beispielsweise
die Position, dass Biomasse im Verkehr überhaupt nicht
verwendet werden sollte. Es ist also schon sehr viel
komplizierter. Ich finde es deshalb wichtig – das will ich
gleich sagen –, diese Diskussion nicht fälschlicherweise
zu verengen und nicht beispielsweise mit der Frage
„Tank oder Teller?“ zu polarisieren, weil uns das über-
haupt nicht weiterhilft.

Wir haben zwei zentrale Probleme. Bei beiden großen
Menschheitsherausforderungen – Energieversorgung
und Ernährungssicherheit – müssen wir versuchen, Kri-
terien zu finden – das ist der richtige Weg –, wie wir zu
einer sinnvollen, tragfähigen und dauerhaften Entwick-
lung kommen können. Alles andere würde sozusagen in
einem Glaubenskrieg enden. Wir brauchen klare Krite-
rien, die – ich weiß, dass dies das größte Problem ist –
verbindlich werden müssen.

Wenn man weiß, dass die Biomasse zum großen Teil
in Entwicklungsländern genutzt wird, dann erkennt man
schnell, dass unsere Einflussmöglichkeiten in vielen Be-
reichen relativ gering sind. Umso wichtiger ist, dass das,
was wir machen, ökologisch sauber und damit sozusa-
gen nicht angreifbar ist. Gleichzeitig müssen wir eine
Entwicklung fördern, die einen Missbrauch im interna-
tionalen Bereich ausschließt.

Ich finde es unehrlich, wenn man die Frage der Er-
nährungssicherheit in der Diskussion auf den Aspekt der
Biokraftstoffe reduziert. Ich will überhaupt nicht verheh-
len, dass es überaus problematische Entwicklungen ge-
geben hat. Eines der übelsten Beispiele dafür habe ich in
einer Anlegerzeitung entdeckt, in der es dezidiert hieß:
Das ist die Knappheit der Zukunft, hier kann man die
höchsten Spekulationsgewinne erzielen. – Das hat es ge-






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Michael Müller
geben. Es gab auch spekulative Einflüsse auf die Preis-
entwicklung in diesem Sektor.

Umgekehrt finde ich es völlig falsch, wenn man die
Ernährungsproblematik auf die Frage der Nutzung von
Biokraftstoffen reduziert;


(Beifall des Abg. Dr. Axel Berg [SPD])


das ist nicht korrekt. Wer die Diskussion so führt, der
muss beispielsweise auch ehrlich über die europäische
Agrarpolitik, über die gesamte Subventionspolitik und
die Zerstörung bestimmter Märkte diskutieren, die zwei-
fellos einen ungleich höheren Einfluss auf die Preisbil-
dung und damit auf die Ernährungssicherheit haben als
die Nutzung der Biokraftstoffe. Wir sollten allerdings
auch nicht so tun, als sei das kein Problem.


(Hellmut Königshaus [FDP]: Eben!)


Insofern sollten wir eine etwas klarere Debatte führen,
und zwar vor dem Hintergrund vier großer Herausforde-
rungen:

Erstens. Im letzten Jahr haben wir wieder erlebt, dass
die CO2-Emissionen deutlich stärker gestiegen sind, als
in allen Prognosen vorausgesagt wurde. Es gab einen
Zuwachs um 3,8 Prozent; das ist oberhalb jeder Pro-
gnose des Weltklimarats. Das zeigt, wie problematisch
die Entwicklung ist. Wir müssen zu anderen Formen der
Energieversorgung kommen. Hierbei hat die Bioenergie
zweifellos einen wichtigen Stellenwert. Umgekehrt müs-
sen wir auch alles tun, um den Naturschutz zu gewähr-
leisten. Im Bereich Klimaschutz stehen wir also vor zwei
großen Aufgaben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU])


Zweitens. Nach Angaben der Internationalen Energie-
agentur wird die Energienachfrage bis 2030 um 50 bis
60 Prozent steigen. Man sieht, dass angesichts knapper
Ressourcen ein hoher Druck entstehen wird. Auch hier
können wir keine einfachen Antworten finden. Wir wer-
den Bioenergie nutzen, aber auch die Energieeffizienz
steigern. Ich warne hier davor, das eine gegen das andere
auszuspielen.

Drittens. Dieselbe Zuspitzung ergibt sich im Bereich
Ernährung. Nach Berichten der FAO müssen wir davon
ausgehen, dass wir die Ernährungsproduktion bis zum
Jahr 2030 um 50 Prozent steigern müssen. Auch hier
wird ein unglaublich hoher Druck herrschen, den wir nur
senken können, wenn wir klare Kriterien haben.

Viertens. Es kommt zu einem unglaublichen Zuwachs
der Weltbevölkerung und zu einer weiteren Industriali-
sierung, und das vor dem Hintergrund, dass 2,5 Milliar-
den Menschen bisher keinen Zugang zu einer sicheren
Energieversorgung haben.

Angesichts dieser großen Herausforderungen warne
ich in dieser Debatte vor Schwarz-Weiß-Malerei; denn
sie hilft uns überhaupt nicht weiter, sondern führt zu ei-
ner falschen Polarisierung. Ich finde es richtig, jetzt Kri-
terien zu entwickeln. Die Europäische Union nimmt
hierbei eine zentrale Rolle in der Weltgemeinschaft ein.
Bei der Entwicklung der Kriterien stehen drei Fragen
im Vordergrund: Erstens: Wie sichern wir die Ernäh-
rung? Zweitens: Wie sichern wir den Naturschutz? Drit-
tens: Wie schützen wir das Klima?

Die Nachhaltigkeitskriterien müssen vor diesem Hin-
tergrund weiterentwickelt werden. Es ist völlig richtig
– Herr Kauch hat es schon gesagt –: Eine entsprechende
Verordnung muss sowohl die Nutzung als auch die Effi-
zienz regeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, eine Verord-
nung zu verabschieden, die mit Blick auf CO2-Emissio-
nen negativ ist; sie muss eindeutig positiv sein. Eine
solche Verordnung müsste als Teil unserer Energie-
außenpolitik verstanden werden.

Ich warne davor, in diesem Bereich keine ehrgeizigen
Ziele zu haben. Wenn die EU dort wackelige Kriterien
festgeschrieben hätte, hätte sich daraus auf dem Welt-
markt eine höchstproblematische Entwicklung ergeben
können.

Die Untersuchungen haben ergeben – das ist die Aus-
gangssituation –, dass etwa 10 Prozent des Weltenergie-
bedarfs mit Bioenergie gedeckt werden können. Die ent-
scheidende Aufgabe ist, in der Europäischen Union
Kriterien zu entwickeln und durchzusetzen, die weltweit
vorbildhaft sind.

Meine Forderung ist schlicht und einfach: Führen wir
die Debatte in der nächsten Zeit so, dass wir unter ökolo-
gischen Gesichtspunkten eine Ernährungs- und Energie-
politik vorantreiben, die nach allen Seiten den Kriterien
gerecht wird.


(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Richtig!)


Lassen Sie uns versuchen, in vielen Bereichen Entwick-
lungsfortschritte zu machen. Dazu gehört für mich auch,
dass wir noch einmal versuchen, die Steuerfreiheit für
Reinkraftstoffe im Bereich begrenzter Märkte einzufüh-
ren. Das halte ich nach wie vor für richtig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1621716100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Da höre ich jetzt aber sehr aufmerksam zu!)



Marie-Luise Dött (CDU):
Rede ID: ID1621716200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2007 er-

schien ein Spiegel Special zum Thema neue Energien.
Auf dem optimistischen Titelblatt war in einem Getrei-
defeld eine grüne Zapfsäule zu sehen. Deren Aufschrift
lautete: AGRAL.

Die Biokraftstoffhersteller haben in den letzten Jahren
Höhen und Tiefen durchschritten. Zu Beginn hieß es:






(A) (C)



(B) (D)


Marie-Luise Dött
„Hosianna!“ und danach: „Kreuzigt ihn!“ Aus „Freedom
Fuel“ wurde Teufelszeug, das auf Kosten der Regenwäl-
der angebaut wird und die Anbaufläche für Lebensmittel
verringert. Der Euphorie der Anfangsjahre – ich glaube,
die Bemerkung, die Landwirte seien die Ölscheichs der
Zukunft, stammt von Frau Künast – folgten Ablehnung
und Desillusionierung.

Die Wahrheit liegt aber wie immer in der Mitte. Ja, es
ist richtig: Biomasse wird in manchen Schwellenländern
unter zum Teil haarsträubenden Bedingungen erzeugt.
Das betrifft auch die Arbeitsbedingungen auf den Fel-
dern und Plantagen. Misereor hat uns das drastisch dar-
gestellt. Biokraftstoffe haben aber, wenn sie richtig er-
zeugt und angewandt werden, ein enormes Potenzial,
über das auch wir in Deutschland in nicht unbedeuten-
dem Umfang verfügen. Langsam versiegen die westli-
chen Ölreserven, und wir werden immer abhängiger von
weniger stabilen Regionen in der Welt, in denen es auch
längerfristig noch Erdöl geben wird. Unsere heimischen
Biokraftstoffe machen uns zwar nicht zu Ölscheichs,
aber doch deutlich unabhängiger von diesen Regionen.

Biokraftstoffe ermöglichen Diversifizierung bei den
Versorgungsregionen und den Energieträgern. Sie tragen
daher in besonderem Maße zur Versorgungs- und Ener-
giesicherheit Deutschlands und Europas bei. Auch er-
möglichen sie es, dass wirtschaftliche Wertschöpfung,
die bisher im Ausland stattfand, zumindest teilweise
nach Deutschland verlagert wird. Damit wird der ländli-
che Raum gestärkt und gestützt.

Beziehen wir die Biomasse für die Biokraftstoffe da-
gegen aus Schwellen- und Entwicklungsländern, dann
stellt sich sofort die Frage der Nachhaltigkeit. Deshalb
ist die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs
auch von so großer Dringlichkeit. Das Biokraftstoffquo-
tengesetz wird die notwendige Ermächtigungsgrundlage
für den Erlass der dringend benötigten Nachhaltigkeits-
verordnung beinhalten, die in der zweiten Jahreshälfte in
Kraft treten könnte.

Dass Biomasse nur dann zur Herstellung von Kraft-
stoffen Verwendung findet, wenn die Nachhaltigkeit ih-
rer Erzeugung und Verarbeitung gesichert ist, ist aus
Sicht der CDU/CSU-Fraktion unerlässlich. Deshalb ha-
ben wir im Gespräch mit Herrn Bundesminister Gabriel,
aber auch in den Gesprächen mit den Staatssekretären
deutlich Wert darauf gelegt und den von Ihnen vorgeleg-
ten Fahrplan für eine Nachhaltigkeitsverordnung zur
Grundbedingung für unsere Zustimmung zum Gesetz
gemacht.

Unsere nationale Diskussion über das Thema Nach-
haltigkeit hat übrigens auch bei den vielgescholtenen
Palmölproduzenten, zum Beispiel in Malaysia, Eindruck
hinterlassen. Ich hoffe, dass es dort und natürlich auch
weltweit gelingt, in Zukunft nachhaltig zu produzieren
sowie die hierfür notwendigen Zertifizierungssysteme so
aufzubauen, dass ein objektiver Nachweis erbracht wer-
den kann. Das Konzept hierzu, welches die malaysische
Regierung vor wenigen Wochen in Berlin präsentierte,
scheint mir ein Schritt in die richtige Richtung zu sein.
All denjenigen, die Biokraftstoffe in die Ecke stellen,
muss gesagt werden, dass Biokraftstoffe eine preisstabi-
lisierende Wirkung haben können. Im letzten Jahr, am
3. Juli 2008, erreichte der Ölpreis sein bisheriges All-
zeithoch mit 145,29 US-Dollar. Laut Presseveröffentli-
chungen hätte der Preis um bis zu 15 Prozent höher, bei
167 US-Dollar, liegen können, wenn uns nicht die Bio-
kraftstoffe als preisdämpfender Faktor zur Verfügung
gestanden hätten. Berücksichtigt man zusätzlich die Tat-
sachen, dass mehr als 50 Prozent aller Privathaushalte in
Deutschland mit Erdgas heizen und dass der Erdgaspreis
– wenn auch zeitlich verzögert – an den Ölpreis gekop-
pelt ist, dann steht fest: Der kalte Winter 2008/2009 wäre
für die Mehrzahl der deutschen Haushalte ohne Biokraft-
stoffe noch teurer geworden, als er ohnehin schon war.

Die Konkurrenz mit dem immer unberechenbareren
Ölpreis ist zugleich ein Fluch für die Hersteller von Bio-
kraftstoffen. Fällt der Preis für Öl oder steigt der Preis
für Getreide, Raps oder andere Grundstoffe, dann sind
Biokraftstoffe, wenn sie nicht beigemischt werden müs-
sen, nicht mehr wettbewerbsfähig. Dies kann je nach
Marktlage dazu führen, dass es sich von Woche zu Wo-
che ändert.

Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetz-
entwurf ermöglicht das, was in der verbleibenden Zeit
dieser Legislaturperiode noch erreichbar ist. Bei aller be-
rechtigten Kritik an den schwerwiegenden handwerkli-
chen Fehlern, die im ersten Anlauf im letzten Jahr im
BMU gemacht wurden, scheint der zweite Anlauf trägfä-
hig zu sein,


(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Herr Staatssekretär, ist das so?)


insbesondere deshalb, weil die Quote, die im Entwurf
des BMU ursprünglich auf 4,8 Prozent abgesenkt war,
durch den Koalitionsausschuss auf Initiative der Union
auf 5,25 Prozent angehoben wurde. Ebenfalls auf unsere
Initiative wurde ein Anstieg der Besteuerung für 2009
von 6 auf 3 Cent pro Liter begrenzt.

Schließlich werden wir in den kommenden Wochen
das sogenannte Hydrotreating, insbesondere von Palm-
und Sojaprodukten, unter Parlamentsvorbehalt stellen.
Dies schützt den Mittelstand vor Wettbewerbsnachteilen,
da dieser das Hydrotreating nicht einsetzen kann. Zudem
wird beim Hydrotreating erheblich mehr Energie ver-
braucht als bei der Herstellung des fossilen Diesels.

Mehr können wir in der verbleibenden Zeit dieser Le-
gislaturperiode bei gleichzeitig notwendiger Notifizie-
rung in Brüssel nicht erreichen. Der vorliegende Gesetz-
entwurf legt die Grundlage für nachhaltige Erzeugung,
insbesondere dafür, dass keine Biomasse mehr nach
Deutschland gelangt, für deren Herstellung Wälder gero-
det wurden. Ebenso schafft er bei der Quote endlich wie-
der Klarheit für die verunsicherten Branchen. Weiterhin
wird die mittelständische Mineralölwirtschaft durch den
Parlamentsvorbehalt für Hydrotreating geschützt wer-
den.

Lassen Sie uns deshalb jetzt diesen wichtigen Schritt
gemeinsam gehen, und stimmen Sie bitte dem vorliegen-
den Gesetzentwurf zu! In der kommenden Wahlperiode






(A) (C)



(B) (D)


Marie-Luise Dött
werden wir das Thema erneut behandeln; denn in Einzel-
fragen besteht noch großer Diskussionsbedarf.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621716300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Förderung von Biokraftstoffen. Zu diesem
Gesetzentwurf liegen uns etliche Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor.1)

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12465, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11131 und
16/11641 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit der Mehrheit der Stimmen der SPD
und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Opposition
angenommen.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auszählen!)


Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? –


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Mehrheit!)


Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit mit der
Mehrheit der Stimmen der SPD und der CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Opposition und etlichen Enthaltun-
gen aus den Reihen der Fraktion der SPD angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12465 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
der FDP angenommen.

Zusatzpunkt 7. Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Bio-
kraftstoffen zurücknehmen – Nachhaltigkeitskriterien um-
gehend einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12699, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5679
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktionen des Bündnis-

1) Anlagen 2 bis 4
ses 90/Die Grünen und der FDP und bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Europäisches Parlament stärken – Sitzfrage
durch Europaparlamentarier entscheiden
lassen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Plenarsitzungen des Europäischen Parla-
ments gänzlich in Brüssel und Tagungen des
Europäischen Rates in Straßburg abhalten

– Drucksachen 16/9427, 16/8051, 16/9697 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth (Heringen)

Markus Löning
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Roth, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1621716400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Telefonieren in Europa wird günstiger. Die Handy-
tarife sinken deutlich ab Juli dieses Jahres. Offen gestan-
den würde ich über dieses erfreuliche Thema, das unmit-
telbar mit dem konkreten Handeln der Europäischen
Union verknüpft ist, lieber reden. Da der Bericht über
die Ergebnisse der Ausschussberatungen allerdings jetzt
vorgelegt wurde, möchte ich mich stellvertretend für
meine Fraktion einer Frage widmen, mit der wir uns und
mit der sich Europäerinnen und Europäer schon seit vie-
len Jahren, ja Jahrzehnten auseinandersetzen: der Frage
des Sitzes des Europäischen Parlamentes.

Sie alle wissen: Es gibt Themen, die sich reinen Kos-
tenargumenten, reinen Finanzargumenten oder einer rein
ökonomischen Sichtweise entziehen. Wer wüsste das
besser als wir? Erinnern wir uns an das Jahr 1991, als der
Deutsche Bundestag in Bonn heftig und intensiv über
den Sitz von Bundestag und Bundesregierung beraten
und dann eine knappe Entscheidung getroffen hat. Da-
mals wurde ein Kompromiss gefunden, der heute nicht
wenigen, zu denen auch ich mich zähle, nicht unbedingt






(A) (C)



(D)


Michael Roth (Heringen)

schmeckt. Denn ein Teil der Bundesregierung mit vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern befindet sich immer
noch in Bonn und nicht am Sitz des Deutschen Bundes-
tages.

Ich beschreibe das deshalb in dieser Ausführlichkeit,
weil wir alle uns in dieser Frage – ganz gleich, wie wir
uns persönlich positionieren – eine gewisse Zurückhal-
tung auferlegen sollten;


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


denn bei diesem Thema geht es auch um Emotionen und
um nationale und europäische Symbole. Wer will den
Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich verdenken,
dass sie sich selbstverständlich mit sehr viel Herzblut
und aus tiefster Überzeugung für die europäische Stadt
Straßburg als Sitz des Europäischen Parlamentes einset-
zen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Thomas Dörflinger [CDU/CSU])


Wer will ihnen das verübeln?

Dennoch sage ich ganz persönlich – darüber haben
wir auch im Ausschuss diskutiert, und dem stimmen si-
cherlich viele Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig
in Straßburg oder Brüssel weilen, zu –, dass viele gute
Gründe für einen Sitz des Europäischen Parlamentes
sprechen, und zwar in Brüssel.

In Brüssel sitzen die Europäische Kommission und
der Ministerrat, und dort arbeiten und wirken viele an-
dere Akteure, die mit der Europapolitik verbunden sind.

Aber so einfach ist es nicht, vor allem deshalb, weil es
hier nicht um das Interesse eines Mitgliedstaates allein
geht. Im Vertrag von Maastricht ist ausdrücklich gere-
gelt, dass der Rat über die Frage des Sitzes des Europäi-
schen Parlaments einstimmig zu befinden hat. Das haben
wir zu respektieren. Deswegen sind nationale Allein-
gänge in dem Sinne, dass die Bundesregierung aufgefor-
dert wird, in Brüssel, im Europäischen Rat oder im Mi-
nisterrat, einmal richtig auf den Putz zu hauen, nur
begrenzt erfolgversprechend. Das wissen auch alle. Das
hat auch schon der eine oder andere Kollege im Europa-
ausschuss gesagt.

Die Debatte kommt, selbst wenn sie aus vielerlei
Gründen durchaus nachvollziehbar sein mag, zur Unzeit.
Wir alle wissen, dass wir momentan ein großes Projekt
zu stemmen haben, mit dem sich viele von uns seit Jah-
ren beschäftigen. Es geht um die Frage: Wie geht es in
der Europäischen Union institutionell und programma-
tisch weiter? Der Vertrag von Lissabon ist immer noch
nicht von allen ratifiziert. Es gibt, wie wir wissen, immer
noch große Probleme in Tschechien, und in Irland steht
uns ein zweites Referendum bevor. In Deutschland steht
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch
aus. Ob es hilfreich ist, gerade in dieser schwierigen
Phase europäischen Handelns die Frage des Sitzes des
Europäischen Parlaments aufzubringen und damit das
Tableau endgültig zu überfrachten, daran haben ich und
viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur meiner Frak-
tion erhebliche Zweifel.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das muss bei allem Respekt gegenüber den Kolleginnen
und Kollegen von FDP und Grünen, die diese Anträge
erarbeitet haben, deutlich gesagt werden.

Lassen Sie mich ein Letztes hinzufügen, das deutlich
macht, wie weit Anspruch und Wirklichkeit manchmal
auseinanderliegen. Erinnern Sie sich noch an unseren
Antrag zu dem sogenannten Agentur-Unwesen in der
Europäischen Union


(Heiterkeit des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


und daran, dass auch in Deutschland gleich die Finger
hochgingen, als eine neue Agentur – wie beispielsweise
das Europäische Technologieinstitut –, eine neue EU-In-
stitution aus der Taufe gehoben wurde? Sind wir heute
nicht alle stolz darauf, dass Frankfurt am Main Sitz der
Europäischen Zentralbank, einer ganz bedeutenden eu-
ropäischen Institution, ist? Ist es nicht selbstverständlich,
dass zu einem föderalen Aufbau der Europäischen Union
gehört, dass Institutionen, Organisationen, Behörden
nicht in einer einzigen Stadt gebündelt sind? Im Übrigen
ist das auch in Deutschland nicht so. Es macht doch ge-
rade die Vielfalt und die Stärke Europas aus, wenn sich
alle Bürgerinnen und Bürger dem vereinigten Europa
durch die Ansiedlung einer Institution oder eines Organs
verbunden fühlen können.

Deshalb bitte ich in der sich anschließenden Debatte
um ein gewisses Maß an Zurückhaltung und an Toleranz
denjenigen gegenüber, die Gründe dafür finden, warum
Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments durch-
aus eine Daseinsberechtigung hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621716500

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Daniel Volk,

FDP-Fraktion.


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1621716600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Michael Roth hat in seiner Rede eine Parallele
zum Umzug des Deutschen Bundestages von Bonn nach
Berlin gezogen.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Vorsicht!)


Diese Parallele ist falsch.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)


Denn im Gegensatz zum Europäischen Parlament durfte
der Bundestag selbst entscheiden. Wir als FDP wollen,
dass auch das Europäische Parlament selbst entscheiden
darf, wo es seinen Sitz haben will.


(Beifall bei der FDP)


Gerade einmal zwölfmal im Jahr tagt das Plenum des
Europäischen Parlaments für jeweils vier Tage an sei-
nem offiziellen Sitz in Straßburg. Brüssel, wo nicht nur
Ausschüsse, Fraktionen und andere parlamentarische
Gremien tagen, sondern auch die Kommission und der

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Daniel Volk
Rat ihren Sitz haben, ist jedoch der wichtigste Arbeits-
ort. Deshalb tritt das Parlament regelmäßig in Brüssel
zusammen. Zu guter Letzt befindet sich fernab von der
eigentlichen parlamentarischen Arbeit in Luxemburg das
Generalsekretariat des Europäischen Parlaments. Damit
ist das Europäische Parlament weltweit das einzige Par-
lament, das nicht nur einen, sondern gleich drei offizielle
Standorte in drei verschiedenen Ländern hat.

Was hat das zur Konsequenz? Zurzeit werden in drei
Städten insgesamt 22 Gebäude unterhalten, darunter
zwei voll ausgestattete Plenargebäude. Hinzu kommen
für jeden der 785 Abgeordneten und deren Mitarbeiter je
ein Büro in Brüssel und in Straßburg. Auch das Parla-
mentssekretariat muss in beiden Städten zusätzliche Ge-
bäude unterhalten. Dies macht unter dem Strich mehr als
4 800 Büros in Brüssel, 2 650 Büros in Straßburg und
2 000 Büros in Luxemburg. Außerdem sind 785 Abge-
ordnete und mehr als 3 000 Mitarbeiter zwölfmal im
Jahr Teil eines riesigen Wanderzirkus,


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist nicht nur beim Europäischen Parlament so!)


bei dem nicht nur sie zwischen Brüssel und Straßburg
pendeln, sondern auch das jeweils benötigte Aktenmate-
rial mit Lastwagen von einem Standort zum anderen
transportiert wird.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)


Das ist nicht nur ein unglaublicher Verlust an Arbeits-
zeit. Hier werden auch Unmengen an Kapazitäten und
damit Steuergelder verschwendet;


(Beifall bei der FDP)


denn die Straßburger Gebäude werden nur an insgesamt
knapp 50 Tagen im Jahr genutzt und stehen im Übrigen
leer, übrigens bei vollen Unterhaltungskosten.

Die angesprochenen Gesamtkosten belaufen sich an
den drei verschiedenen Standorten auf rund 250 Millio-
nen Euro im Jahr. Nun wurden wir in den letzten Mona-
ten wegen der Finanzkrise mit schwindelerregend hohen
Zahlen konfrontiert, gegen die 250 Millionen Euro mög-
licherweise lächerlich wirken. Aber ich setze es Ihnen
einmal in Relation: 250 Millionen Euro sind mehr als
15 Prozent des Gesamtbudgets des Europäischen Parla-
ments. Mit 250 Millionen Euro könnten Sie weitere
100 000 Autokäufer mit Ihrer famosen Abwrackprämie
beglücken. Oder tun Sie doch einmal etwas für die Zu-
kunft: Sie könnten jedem Neugeborenen zum Start ins
Leben 370 Euro schenken. Sie könnten das Geld aber
auch einfach – das mag für Sie, liebe Kollegen von den
Steuererhöhungsparteien, jetzt wie ein Fremdwort klin-
gen – nur sparen und damit Steuern senken.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist so was von populistisch!)


Der eigentliche Skandal ist allerdings, dass das Euro-
päische Parlament, Vertreter des Souveräns, nämlich der
europäischen Bürger – in jeder Demokratie das höchste
Organ –, als einziges Parlament in Europa nicht selbst
über seinen Sitz bestimmen darf, sondern ein fremdbe-
stimmter Wanderzirkus ist.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh je!)


Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir Liberale daher
dem Europäischen Parlament nicht vorschreiben, wo es
seinen ausschließlichen Sitz zu beziehen hat. Wir wollen
dem Europäischen Parlament endlich das ureigene Recht
geben, darüber selbst zu entscheiden.


(Beifall bei der FDP – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Und die EZB?)


Sachlich ist diese Aufspaltung des parlamentarischen
Betriebs auf drei Standorte und die damit verbundene of-
fensichtliche Verschwendung öffentlicher Mittel nicht
mehr zu rechtfertigen. Den Bürgerinnen und Bürgern in
unserem Land ist dieses Verhalten schon lange nicht
mehr zu vermitteln. Deshalb ist diese Frage bei allen Ar-
gumenten, die heute hier im Raum stehen, eine schwere
Hypothek für das Ansehen der Europäischen Union und
ihrer Institutionen. Sie sollten das öffentliche Interesse
an dieser Frage nicht unterschätzen. Nicht umsonst hat
die von der liberalen Europaabgeordneten und heutigen
schwedischen Europaministerin Cecilia Malmström ins
Leben gerufene One-Seat-Initiative in weniger als sechs
Monaten weit mehr als 1 Million Unterstützer gefunden.

Als Fazit bleibt festzuhalten: eine massive Ver-
schwendung von Steuergeldern, ein immenser bürokrati-
scher Aufwand und der Wunsch der Europaabgeordne-
ten, nur noch an einem Ort zu tagen.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Lassen wir doch die entscheiden!)


Geben wir den Abgeordneten doch endlich die Freiheit,
diesen Irrsinn beenden zu können, und suchen wir nicht
immer weiter nach Ausreden, warum das gerade nicht
gehe! Die berechtigte Kritik an der unhaltbaren Aufspal-
tung sollte endlich ernst genommen werden, und es
sollte die Voraussetzung für eine sinnvolle Regelung ge-
schaffen werden. Dies wird aber nur gelingen, wenn das
Recht, über die Sitzfrage zu entscheiden, auf eine breite
parlamentarische Grundlage gestellt wird.


(Beifall bei der FDP)


Dies ist keine Angelegenheit von Regierungen, die
mit einem Veto nationale Sonderinteressen durchsetzen
können, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit der Eu-
ropäischen Union als Ganzes. Außerdem geht es um die
Frage, ob wir dem Europäischen Parlament endlich die
Hochachtung einräumen, die wir auch jedem anderen
Parlament geben. Das Europäische Parlament soll, wie
jedes andere Parlament auch, nur noch an einem Ort ta-
gen, und es sollte diesen Sitz nicht vorgeschrieben be-
kommen, sondern alleine darüber entscheiden dürfen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621716700

Ich gebe das Wort dem Kollegen Thomas Dörflinger,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1621716800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir ei-
nen neutralen, klugen Kopf mit der Analyse von Arbeits-
bedingungen verschiedener Parlamente innerhalb der
Europäischen Union beauftragen würden, dann käme er
vermutlich zu auch für uns überraschenden Erkenntnis-
sen. Ich meine das insbesondere hinsichtlich der infra-
strukturellen Voraussetzungen, unter denen diese Parla-
mente arbeiten. Insofern steht sowohl in dem Antrag der
FDP als auch in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen durchaus etwas Sinnvolles.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Hört! Hört!)


Unter den vielen Parlamenten hat das Europäische
Parlament aufgrund seiner drei Sitzungsorte – sagen wir
es vorsichtig – erschwerte Arbeitsbedingungen gegen-
über vergleichbaren nationalen Parlamenten.

Ich nehme mir die Ratschläge unseres Koalitionspart-
ners ja nicht immer zu Herzen, aber den Ratschlag, eine
zurückhaltende Debatte zu führen, Herr Kollege Roth,
will ich einmal ausdrücklich aufgreifen. Wir sind zwar
zweifelsohne die Vertreterinnen und Vertreter des höchs-
ten deutschen Parlaments, aber mit meinem Urteil da-
rüber, Herr Kollege Dr. Volk, ob uns damit auch das
Recht zuwächst, quasi im Stile eines Zensors über die
Bedingungen von Kolleginnen und Kollegen zu richten,
die in anderen Parlamenten arbeiten, wäre ich zurückhal-
tend.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hellmut Königshaus [FDP]: Wer hat denn das Recht? – Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir wollen ihnen das Recht geben!)


Weil wir eine Debatte im Grundsatz führen, will ich
auch noch einmal einen Blick zurück in die Vergangen-
heit werfen, damit klar wird, aus welchem Grund wir
und die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Par-
lament heute mit diesen drei Sitzungsorten arbeiten müs-
sen bzw. dürfen. Das geht zurück auf die Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im
Jahre 1952, bei der Straßburg als Tagungsort festgelegt
wurde. Später, im Fusionsvertrag der Gemeinschaft von
1965, wurde Straßburg als Parlamentssitz bestätigt.
Brüssel wurde als Standort von Rat und Kommission
und Luxemburg als Standort des Europäischen Gerichts-
hofs und der Parlamentsverwaltung benannt. Das fiel
also nicht vom Himmel.

Wir sollten auch nicht den Eindruck erwecken, als
würden wir daran über eine einfache parlamentarische
Initiative, auf die sich dann eine breite Mehrheit in die-
sem Hause stützen könnte, und durch die Aufforderung
der Bundesregierung kurzfristig etwas ändern können;
denn neben der Historie ist in diesem Falle auch ein
Blick auf die Rechtslage hilfreich.
In diesem Fall geht es um Art. 289 EG-Vertrag. Dort
sind diese drei Standorte unmittelbar festgelegt, ob uns
das gefällt oder nicht. Ich persönlich kann durchaus mit
Kritik an dem Status quo leben, da ich ihn wirklich nicht
für optimal halte. Wir müssen aber zunächst einmal mit
der Rechtslage leben, und dazu gehört – darauf hat der
Kollege Roth schon hingewiesen –, dass die Entschei-
dung unter das europäische Primärrecht fällt und dass in-
sofern Einstimmigkeit unter den 27 Mitgliedstaaten im
Rat erforderlich ist.

Angesichts der Tatsache, dass diese Einstimmigkeit
benötigt wird, glaube ich nicht, dass es der Gesamtbeant-
wortung dieser Frage dienlich ist, wenn ein einzelnes na-
tionales Parlament – auch dann nicht, wenn es das deut-
sche ist, und zwar aufgrund des besonders guten
Verhältnisses zu Frankreich – einen nationalen Vorstoß
unternimmt.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir uns in
diesem Hohen Hause vermutlich weitgehend oder viel-
leicht sogar vollständig darüber einig sind, dass das Eu-
ropäische Parlament in Zukunft auf jeden Fall nur einen
Parlamentsstandort und nicht mehrere haben sollte. Wir
mögen uns darüber unterhalten, welcher der bisher drei
Standorte es in der Zukunft sein sollte; dann sind wir mit
der Einigkeit wahrscheinlich schon wieder am Ende. Da-
mit sind wir im Deutschen Bundestag nicht alleine; auch
bei den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen
Parlaments gibt es in dieser Frage ein breites Meinungs-
spektrum, um das einmal vorsichtig zu formulieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es mir
nachsehen, dass ich als Südbadener mit besonderer geo-
grafischer und auch emotionaler Nähe zu Frankreich und
aufgrund der Tatsache, dass wir unseren direkt gewähl-
ten europäischen Abgeordneten 1979 ins benachbarte
Straßburg entsenden konnten, eine besondere Sympathie
für Straßburg habe, und zwar auch deshalb, weil Straß-
burg zur Genese des Europäischen Parlaments gehört
und ein Stück weit für eine gute Parlamentsgeschichte
auf der europäischen Ebene steht. Die Position der fran-
zösischen Regierung und bestimmt auch der Kollegin-
nen und Kollegen aus der Assemblée nationale hierzu
kann ich durchaus nachvollziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich gebe zu, man kann aus Gründen der Synergie und
der Effizienz durchaus auch zugunsten von Brüssel argu-
mentieren. Ich sage aber noch einmal: Da wir im Rat
Einstimmigkeit brauchen und wenn es unser gemeinsa-
mer Wille ist, dass wir schlussendlich zu einer Lösung
kommen, die tatsächlich nur einen Standort präferiert,
sollten wir unser Augenmerk darauf richten, dass wir
auch mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäi-
schen Parlaments – vorzugsweise jeder mit seiner Frak-
tion – intensive Gespräche darüber führen, wie die Situa-
tion in Zukunft aussehen soll. Wir führen diese
Gespräche nicht auf dem politischen Marktplatz, son-
dern vorzugsweise hinter verschlossenen Türen und
weitgehend intern, weil dies – ich habe darauf hingewie-






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Dörflinger
sen – insbesondere aus Sicht der französischen Regie-
rung ein hochsensibles Thema ist, und zwar nicht nur für
die Kolleginnen und Kollegen aus dem Elsass, sondern
für Gesamtfrankreich. Wenn die Bundeskanzlerin tat-
sächlich in einiger Zeit mit dem französischen Staatsprä-
sidenten ein Gespräch unter vier Augen darüber führen
sollte, was man zukünftig an den Parlamentsstandorten
auf europäischer Ebene zu ändern gedenke, und sich der
Deutsche Bundestag am Schluss der heutigen Debatte
darauf einlassen würde, eine Entschließung zu verab-
schieden, die die Entscheidung der französischen Regie-
rung sozusagen vorwegnimmt, dann sind diese Gesprä-
che zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel
zumindest in diesem Punkt bestimmt nicht sonderlich er-
folgversprechend.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dann sind sie beendet!)


Ich möchte einen Punkt hinzufügen – denn ich sagte
vorhin, wir seien nicht die Zensoren für andere europäi-
sche Parlamente; lassen Sie mich dies in der notwendi-
gen Deutlichkeit auch vor dem Hintergrund der einen
oder anderen Äußerung aus dem Europäischen Parla-
ment in den letzten Tagen sagen –: Ich erwarte, dass die
Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments
in ihren Reihen eine engagierte Debatte erstens darüber
führen, wie die Struktur der Parlamentsstandorte künftig
aussehen soll, und zweitens darüber, wo es zukünftig
rein geografisch langgehen soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies wäre dann die Grundlage für zukünftige Verhand-
lungen; denn wir brauchen an dieser Stelle einen Be-
schluss des Europäischen Rates.

Ich will auf Michael Roth zurückkommen, der im Zu-
sammenhang mit der Forderung, Straßburg zur Disposi-
tion zu stellen, auf den Standort der Europäischen Zen-
tralbank hingewiesen hat. Ich erinnere mich deswegen
sehr gut an die damalige Debatte, weil ein Argument der
Bundesrepublik Deutschland insbesondere war, dass mit
dem Standort Frankfurt, wo die Deutsche Bundesbank
bis zu diesem Zeitpunkt für die Stabilität der D-Mark
eingetreten ist, sozusagen eine Analogie dafür hergestellt
werden könnte, dass sich die Europäische Zentralbank
anschließend in gleicher Weise für die Stabilität des
Euro einsetzt, und zwar auch emotional und atmosphä-
risch.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Genau so!)


Insofern habe ich für all diejenigen großes Verständnis,
die sagen, Straßburg stehe für einen guten Teil der Ge-
schichte des Europäischen Parlaments und dürfe nicht
einfach mir nichts, dir nichts zur Disposition gestellt
werden.

Ich wurde eben im Kollegenkreis darauf hingewiesen
– auch mir ist dies aufgefallen –, dass über die Frage des
Sitzes des Europäischen Parlaments eine Debatte im Par-
lament immer dann geführt wird, wenn die Europawahl
unmittelbar bevorsteht.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist sehr richtig!)


Ich unterstelle niemandem irgendetwas. Aber angesichts
dessen, dass wir am 23. April diese Debatte führen und
die Wahlen zum Europäischen Parlament am 7. Juni des
gleichen Jahres stattfinden, liegt der Verdacht nahe, dass
das eine mit dem anderen in einem inhaltlichen Zusam-
menhang stehen könnte; ich formuliere hier bewusst sehr
vorsichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Zufall! – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehen Sie sich einmal an, von wann die Anträge sind! Die sind über ein Jahr alt! Ein Quark!)


Ich wünschte mir, dass wir angesichts der Tatsache,
dass wir als Deutscher Bundestag an dem von uns für die
Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments
als unbefriedigend angesehenen Zustand nichts ändern
können, zumindest im Benehmen mit ihnen daran arbei-
ten, im Rahmen dessen, was uns möglich ist, für Verbes-
serungen zu sorgen. In der jüngsten Vergangenheit gab
es durchaus Initiativen, die wir hätten nutzen können.
Ich erinnere beispielsweise an eine Initiative aus der
Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen
Parlament – sie ist gerade ein paar Tage alt –, in der vor-
geschlagen wird, die sogenannten Minisitzungen in
Brüssel auf ein Mindestmaß zu beschränken und so den
Aufwand für Logistik und Transport – ich meine, den
Personal- und Gepäcktransport von A nach B – nach
Möglichkeit einzuschränken und am Standort Straßburg
zu konzentrieren. Dann könnten wir –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621716900

Herr Kollege Dörflinger, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Alexander Ulrich?


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1621717000

– lassen Sie mich diesen Satz noch zu Ende bringen,

Frau Präsidentin; dann gerne – den Vorschlag der EVP
zum Gegenstand einer Debatte machen, um im Rahmen
dessen, was möglich ist, in Straßburg, Brüssel und Lu-
xemburg für Verbesserungen zu sorgen.

Jetzt gerne, Herr Kollege Ulrich.


Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621717100

Vielen Dank. – Kollege Dörflinger, es ist sehr lobens-

wert, dass Sie sich Gedanken machen, ob gewisse An-
träge und Formulierungen dem Europawahlkampf ge-
schuldet sind. Sie wissen aber so gut wie ich, dass
gerade die CSU immer Volksentscheide abgelehnt hat.
Sie hat auch einen Volksentscheid über die EU-Verfas-
sung und den Vertrag von Lissabon abgelehnt. Wie beur-
teilen Sie, dass Ihr neuer Ministerpräsident –


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1621717200

Ich habe keinen neuen. Günther Oettinger ist noch im

Amt.






(A) (C)



(B) (D)


Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621717300

– der neue Ministerpräsident der CSU – mittlerweile

sagt, man solle auch bei wichtigen europapolitischen
Entscheidungen Volksentscheide durchführen?


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Der Tagesordnungspunkt liegt zwei Stunden zurück!)


Glauben Sie nicht auch, dass Ihr Partner in der CDU/
CSU-Fraktion den Europawahltermin zu sehr im Blick
hat?


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1621717400

Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, was Ihre Frage mit

dem Inhalt der Debatte zu tun hat, die wir gerade führen.
Der Vorschlag von Horst Seehofer, über den man unter-
schiedlicher Auffassung sein kann – das will ich durch-
aus zugeben –,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Über Horst Seehofer?)


bezog sich darauf, dass wir beispielsweise den Reform-
vertrag von Lissabon auch in der Bundesrepublik
Deutschland im Rahmen eines Plebiszits bestätigen bzw.
ratifizieren. Diese Auffassung teile ich persönlich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich halte das Ratifizierungsverfahren des Deutschen
Bundestags für zielführend.

Gegenstand der Debatte, die wir heute führen, ist die
Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments. Wir sind
uns über die Fraktionsgrenzen hinweg weitgehend einig,
dass dies eine Entscheidung ist, die das Europäische Par-
lament selbst fällen sollte. Da aber die Rechtslage nach
Art. 289 des EG-Vertrages dem gegenwärtig entgegen-
steht, tragen Anträge wie die vorliegenden relativ wenig
– außer zu einer zugegebenermaßen spannenden De-
batte – zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der
Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament
bei. Dazu hat leider auch Ihre Zwischenfrage keinen we-
sentlichen, erhellenden Beitrag geleistet, Kollege Ulrich.

Ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns keine Schau-
fensteranträge einbringen. Lassen Sie uns im Benehmen
mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen
Parlaments darüber nachdenken, was uns im Rahmen
dessen, was uns vorgegeben ist – wir können die Rechts-
lage auch durch noch so gute Anträge unabhängig da-
von, wann der Vertrag von Lissabon in der Bundesrepu-
blik Deutschland ratifiziert wird, nicht innerhalb der
nächsten 14 Tage oder drei Wochen ändern –, möglich
ist. Lassen Sie uns im Benehmen mit den Kolleginnen
und Kollegen in Straßburg, Brüssel und Luxemburg da-
rüber nachdenken, welche Verbesserungen wir unter den
gegebenen Umständen erreichen können. Wir sollten
aber nicht den Eindruck erwecken, als wenn wir mit
Schaufensterdebatten und Schaufensteranträgen im
Deutschen Bundestag irgendetwas an dieser Situation
ändern könnten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621717500

Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen

Dr. Diether Dehm.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621717600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir tei-

len die Meinung, dass das Europäische Parlament nicht
mehr drei offizielle Standorte haben soll. Die Reduktion
auf einen einzigen Standort würde sicherlich Synergieef-
fekte und andere Vorteile mit sich bringen. Der Inhalt
ginge also in Ordnung.

Dennoch bleibt das, was FDP und Grüne vorgelegt
haben, ein Schaufensterantrag, solange Sie mit der CDU/
CSU und der SPD immer noch verzweifelt für den ge-
scheiterten Lissabon-Vertrag kämpfen, der Ihrem Antrag
nämlich eklatant widerspricht. Ich weiß nicht, ob es Ih-
nen aufgefallen ist: Im Protokoll Nr. 6 zu den europäi-
schen Verträgen wurde ausdrücklich geregelt, dass die
Tagungsorte Straßburg und Brüssel bestehen bleiben.
Nahezu unverändert wurde das in den Vertrag von Lissa-
bon übernommen. Es bleiben also beide Arbeitssitze des
Europäischen Parlaments bestehen. Grüne und FDP ha-
ben dem noch vor wenigen Wochen zugestimmt. Ihre
vorliegenden Anträge, in denen Sie so tun, als wollten
Sie einen Ort einsparen, sind wohl eher in Verbindung
mit dem Europawahltermin zu sehen – hier kann ich dem
Vorredner nur zustimmen – und sind deswegen nichts
anderes als pure Augenwischerei. Einem solchen Popu-
lismus kann eine seriöse Kraft wie die Linke selbstver-
ständlich nicht zustimmen.


(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen sagen wir Nein zu beiden Anträgen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Kabarett!)


– Michael Roth ist übrigens genauso eine seriöse Kraft
wie die Linke, die sich immer gegen Populismus wehrt.

Jetzt, in einer solchen Krise, deren Ausmaß Sie vor
der Wahl herunterspielen, aber deren Dimension alle bis-
herigen Vorstellungen übertreffen dürfte, kommen Sie
mit einem solchen – verzeihen Sie – Pipifaxantrag. Re-
den wir also nicht über Schaufenster, sondern über das
Ladeninnere der EU. Eine Krisenlösung in der EU hat
nichts von solchen populistischen Anträgen nach dem
Motto „Politik und besonders Demokratie könnten zu
viel Geld kosten“. Nötig ist jetzt ein Konjunkturpro-
gramm, das seinen Namen verdient, wie es Nobelpreis-
träger Paul Krugman von der EU gefordert hat. Die
Linke will eine europäische Wirtschaftsregierung, damit
die Superreichen und Finanzjongleure endlich besteuert
werden.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist das Manuskript von gestern! – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Thema!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Diether Dehm
Statt der kaufkraftfeindlichen EU-Aufwärtsspirale der
Mehrwertsteuer bei Konsum und Realwirtschaft brau-
chen wir eine europaweite Mehrwertsteuer auf Börsen-
umsätze; das ist gefordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Was wir brauchen, ist eine Europäische Zentralbank, die
die Geldpolitik in den Dienst von Löhnen, Arbeitsplät-
zen und Wachstum stellt, statt einseitig auf Geldstabilität
fixiert zu sein.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Thema!)


Wenn Herr Steinbrück zum jetzigen Zeitpunkt eine
Inflationsdebatte lostritt


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Schauen Sie mal auf das Datum des Redemanuskripts!)


– ich schaue sehr genau auf das Datum, Herr Eisel – und
sich wegen der Inflationsgefahr den Anstrengungen
Barack Obamas und denen wichtiger EU-Staaten ver-
weigert, dann ist das so, als ob er die Wasserspritze beim
Löschen eines brennenden Hauses drosseln möchte und
vor der Gefahr einer Überschwemmung warnte. Sie spre-
chen nicht über die wirklichen Rechte des EU-Parlaments
in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen – diese
Rechte werden auch im Lissabon-Vertrag nicht ange-
messen gestärkt –, sondern Sie legen hier zwei Schau-
fensteranträge vor, um den Wählerinnen und Wählern et-
was Distanz und Korrektur an der jetzigen EU
vorzugaukeln. Die Bundesregierung muss ihre europa-
feindliche Bremserfunktion bei der Krisenbewältigung
aufgeben, wofür Paul Krugman Frau Merkel „Miss
Nein“ nennt und Herrn Steinbrück Holzköpfigkeit vor-
wirft.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Solange diese EU die Superreichen, das große Fi-
nanzkapital und seine Grundfreiheiten über die Mitbe-
stimmungsrechte bei VW, die Tariflohnbindung im Bau-
gewerbe, die von den Gewerkschaften erkämpften
Sozialstandards und die Kleinunternehmen, die jetzt in
ein grausames Insolvenzdomino geraten, setzt, werden
Sie mit solchen Placeboanträgen nichts bewirken. So-
lange Sie am gescheiterten Lissabon-Vertrag festhalten
und die beiden teuren Standorte Straßburg und Brüssel
festschreiben, bleibt auch das Finanzkasino in Europa
geöffnet und bleiben die Herzen und Köpfe der Men-
schen gegenüber der EU verschlossen. Wir wollen ein
soziales und friedliches Europa, das die Menschen in ei-
ner Volksabstimmung einmal wissend bejahen werden.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Der Salto rückwärts landete auf dem Hintern!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621717700

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock,

Bündnis 90/Die Grünen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Rainder, zeig’s ihnen!)


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621717800

Alexander, habt ihr intern solche Probleme, dass ich

das machen muss?


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Dehm war das letzte Aufgebot!)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zur Klarstellung – auch für die Besucherinnen und Be-
sucher dieses Hauses –: Unser Antrag, über den wir
heute abschließend debattieren, ist am 13. Februar letz-
ten Jahres eingebracht worden und hat nun wahrlich
nichts mit dem Termin der Europawahl zu tun. Das gilt
auch für den Antrag der FDP-Fraktion vom 4. Juni letz-
ten Jahres. In diesen Anträgen wird ein ganz konkretes
Problem der europäischen Politik zum Anlass genom-
men, um zu einer Lösung zu kommen. Ich gebe Ihnen
recht, Diether Dehm: Dieses Problem ist gegen die EU
populistisch benutzbar. Die Linke hat hier den populisti-
schen Sermon abgelassen, den sie unsinnigerweise im-
mer zum Lissabon-Vertrag vorträgt. Uns ging es aber um
den Wanderzirkus, den das Europäische Parlament ver-
anstaltet. Dieser ist, populistisch gesehen, extrem be-
nutzbar; denn es geht um Geld, um die Umwelt und da-
rum, dass Ressourcen vergeudet werden, was Sie
nachrechnen können. All dies geschieht aus keinem
nachvollziehbaren Grund. Es wird ohne Ende Manpower
vergeudet.

Ich bitte einmal alle Kolleginnen und Kollegen, sich
vorzustellen, dieser Deutsche Bundestag würde jede
zweite Sitzungswoche in Bonn abhalten. Stellen Sie sich
vor, wir würden diesen Wanderzirkus nachmachen. Das
würde enorme Personalressourcen erfordern. In Deutsch-
land würde eine heftige Debatte ausgelöst, wenn der
Bundestag mit seinen Tausenden von Mitarbeitern hin-
und herziehen würde und Wagenkolonnen mit Akten auf
deutschen Straßen unterwegs wären.

Es gäbe auch historische Gründe dafür, dass der Bun-
destag zum Beispiel in Berlin, in Weimar, in Bonn, in
Frankfurt – wo auch immer – Dependancen hätte.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: In Kassel!)


Es gibt ebenso viele gute Gründe, warum das Europäi-
sche Parlament in Straßburg tagt. Es gäbe für mich auch
gute Gründe dafür, dass das Europäische Parlament nach
der Wiedervereinigung Europas von nun an in Prag tagt.
Es gibt viele Städte, die eine europäische Geschichte ha-
ben und die sich deshalb als Standorte für das Europäi-
sche Parlament qualifizieren.

Darum geht es in dieser Debatte aber nicht. Es geht
darum, dass die Art und Weise, wie wir die europäische
Politik organisiert haben, extrem bürgerfeindlich und
parlamentsfeindlich ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Sie macht dieses Parlament sehr angreifbar; denn Sie
können keinem Menschen hier auf der Tribüne erklären,
warum die Abgeordneten des Europäischen Parlaments
ständig hin- und herfahren. Dieses Hin und Her verur-
sacht Kosten, nimmt Arbeitszeit in Anspruch, ist der
Grund für einen jährlichen CO2-Ausstoß von 20 000






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
Tonnen, erzielt aber überhaupt keinen Effekt. Das macht
die Europäische Union sehr angreifbar. Dies sollten wir
verhindern.

Es gibt keinen Grund, das so zu machen. Von mir aus
können wir die Initiative aus Straßburg – „One City“
heißt sie jetzt – unterstützen, in der gefordert wird, dass
das Parlament ab sofort in Straßburg tagt. Aus Schweden
kommt eine Initiative, in der man sich dafür einsetzt,
dass alles von nun an in Brüssel stattfindet. Beide Initia-
tiven haben ihre Berechtigung.

Es müssen aber Konsequenzen gezogen werden. Die
Bürgerinnen und Bürger haben es satt, dass dies nicht
geschieht. Zu sagen, dass, wenn man sich nicht einigt,
alle Geld bekommen und alle Standorte erhalten bleiben,
ist der falsche Ansatz. Wir müssen uns entscheiden. Wir
als Deutscher Bundestag müssen uns klar und eindeutig
dazu äußern.

Ich finde es völlig richtig, dass die FDP sagt: Auch
das Europäische Parlament muss dazu eine Position fin-
den und darüber abstimmen. – Wir wissen aber ganz ge-
nau, dass die Abstimmungen im Europäischen Parla-
ment den derzeit gültigen Vertrag letztendlich nicht
ändern.

Die Position der nationalen Parlamente ist daher
wichtig. Wir führen zwar viele Debatten über Subsidiari-
tät, also darüber, wer wofür zuständig ist. An dieser
Stelle müssen aber auch die nationalen Parlamente und
ihre Regierungen, die darüber entscheiden, welche Posi-
tion sie einnehmen, Stellung beziehen. Auch wir als natio-
nales Parlament müssen entscheiden, welchen Auftrag
wir unserer Regierung in diesen Verhandlungen geben.
Deshalb ist beides notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Diese Debatte ideologisch zu führen, in den Ruf von
Populismus zu stellen und sie dazu zu nutzen, alles, was
man einmal zum Thema Europa sagen wollte, loszuwer-
den, halte ich für falsch. Wir müssen uns angewöhnen,
die Probleme europäischer Politik Punkt für Punkt und
sachgerecht zu diskutieren. Wir müssen also auch in die-
sem Punkt entscheiden. Dafür sprechen wir uns in unse-
rem Antrag aus. Demokratie kostet Geld. Aber Demokra-
tie ist auch dafür verantwortlich, dass mit Steuergeldern
verantwortlich umgegangen wird und dass Steuergelder
nicht verschleudert werden. An dieser Stelle aber werden
Steuergelder durch wahnsinnig hohe Kosten verschwen-
det. Das ist mit grüner Politik nicht vereinbar. Deshalb
haben wir diesen Antrag gestellt, und ich hoffe, dass in
20 Jahren rückblickend gesagt wird: Die Grünen haben
mit ihrem Antrag wieder einmal recht gehabt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621717900

Ich gebe das Wort dem Kollegen Axel Schäfer, SPD-

Fraktion.

Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1621718000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Deutsche Bundestag hat mit vielen guten Dingen
das Europäische Parlament und die europäische Eini-
gung geprägt. Seit 1952 gab es zum Beispiel die Forde-
rung, dass dieses Parlament direkt gewählt wird; dafür
haben unsere Vorgängerinnen und Vorgänger 25 Jahre
gekämpft.

Es gibt leider auch deutsche Dummheiten, und eine
dieser Dummheiten haben wir bedauerlicherweise von
überzeugten Europäern wie dem Kollegen Volk von der
FDP und dem Kollegen Steenblock von den Grünen ge-
hört. In Bezug auf das Europäische Parlament das Wort
„Wanderzirkus“ zu wählen, ist die Art von Populismus,
der Wasser auf die Mühlen all derjenigen gießt, die Vor-
behalte gegenüber der europäischen Politik haben, und
der im Vorfeld der Europawahl antieuropäisch wirkt.
Das ist die Wirkung des Wortes „Wanderzirkus“.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die gleiche deutsche Dummheit ist es, dass seit Jahr-
zehnten behauptet wird, wir seien der Zahlmeister in Eu-
ropa. Viele Menschen in Deutschland glauben zwar, das
zu wissen; aber letztlich haben sie keine Ahnung von der
realen Situation.

Wir führen heute keine Debatte darüber, dass das Eu-
ropäische Parlament, das zwölfmal im Jahr in Straßburg
tagt und ansonsten in Brüssel arbeitet, enorm viel, was
Verbraucherschutz, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte
usw. anbelangt, auf den Weg gebracht hat; viele Men-
schen und leider auch viele Bundestagsabgeordnete wis-
sen nichts davon. Diese Debatte führen wir mit Blick auf
den 7. Juni, damit die Wichtigkeit eines starken Parla-
ments deutlich wird und viele Bürgerinnen und Bürger
wählen gehen. Das sollte heute das Thema sein und nicht
das, das zufällig am 23. April ansteht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen das Gleiche, was die Linke macht! Setzen Sie sich auch einmal mit den Argumenten auseinander!)


Dies ärgert mich, und ich sage auch noch, warum.

Lassen Sie uns über Respekt sprechen. Seit 30 Jahren
haben wir ein direkt gewähltes Europäisches Parlament.
In den letzten 30 Jahren wurde bei keiner einzigen Ver-
tragsänderung darauf hingewiesen, dass es zur Stärkung
der Demokratie und zur Schaffung von mehr Bürgernähe
in Europa notwendig ist, dass das Europäische Parla-
ment nur einen Sitz hat. Einen solchen Beschluss gibt es
nicht. Warum gibt es ihn nicht? Weil es eine große Mei-
nungsvielfalt usw. gibt. Wir als nationales Parlament
maßen uns jetzt an, bestimmte Dinge vorzugeben, die
zeigen, wie wir es gerne hätten. Wir unterstützen nicht
bestimmte Forderungen des EP nach mehr Rechten oder
nach mehr Bürgerbeteiligung; vielmehr wollen wir dem
Europäischen Parlament etwas vorschreiben. In einer eu-
ropäischen Demokratie, so wie wir sie verstehen, ist das
respektlos. Diese Respektlosigkeit, die ihren Ausdruck






(A) (C)



(B) (D)


Axel Schäfer (Bochum)

in dem Wort „Wanderzirkus“ findet, machen meine
Fraktion und ich nicht mit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Reden wir über Legitimität. Es gibt einige Abgeord-
nete in diesem Hause – Heidi Wieczorek-Zeul, Claudia
Roth, Friedrich Merz, Gerd Müller und auch ich –, die
früher Mitglied des Europäischen Parlaments waren. Wir
reden ab und zu darüber, wie die Arbeitsweise verbessert
werden könnte. Das halte ich für legitim. Ich finde es
aber nicht gut, dass so etwas coram publico gemacht
wird, weil das besserwisserisch klingt, im Sinne von:
Wir sagen euch, wie es zu machen ist.

Wenn niemand auf der Tribüne säße und wir in einer
internen Ausschusssitzung wären, würde ich mich dafür
aussprechen, dass im Europäischen Parlament darüber
diskutiert wird, ob es statt 42 Sitzungswochen mit zwei,
drei oder vier Arbeitstagen – egal wo – nur 24 oder
22 Sitzungswochen – so wie bei uns oder in anderen Par-
lamenten; man könnte darüber intern mit den Kollegen
diskutieren – geben sollte, weil dies zahlreiche Arbeits-
tage und 30 000 Reisen im Jahr einsparen würde. Das
würde zu weit mehr Einsparungen führen als das, was
Sie bezüglich des Standorts Straßburg genannt haben.


(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie nicht an, denen etwas vorzuschreiben! Warum wollen Sie darüber keine öffentliche Debatte? – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Warum wird so etwas nicht öffentlich diskutiert?)


– Ich mache das nicht, weil hier nicht der richtige Ort ist.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben Sie doch gerade gemacht!)


Wenn das Europäische Parlament zu der Entschei-
dung kommt, es sei notwendig, eine Vertragsänderung
herbeizuführen, und wir dann über die Position des Eu-
ropäischen Parlaments im Deutschen Bundestag disku-
tieren, dann hielte ich persönlich das für richtig. Ich halte
es aber für völlig falsch, dem Europäischen Parlament
den besten Weg für seine Arbeit vorzuschlagen. Damit
würde man den Bürgerinnen und Bürgern vorgaukeln,
Bürgernähe bestünde darin, dass man zwölfmal im Jahr
anstatt nach Straßburg nach Brüssel fährt. Das ist der
Unterschied.

Viele Fakten, die Sie aufgezählt haben, stimmen
nicht. Man müsste vieles überprüfen. Die Mitarbeiter des
Europäischen Parlamentes haben beispielsweise kein se-
parates Büro in Straßburg und Ähnliches mehr. Die Dis-
kussion ist ein Stück weit aufgeblasen. Eine solche Dis-
kussion direkt vor der Europawahl ist kontraproduktiv.
Wir wollen vor der Europawahl aber produktiv und kon-
struktiv in allen unseren europäischen Fraktionen wir-
ken. Wir wollen nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen
gießen, die das Europäische Parlament in der Öffentlich-
keit beschämen und nicht darüber reden, in welchem
Maße bereits Demokratie auf der europäischen Ebene er-
reicht worden ist. Darüber müssen wir reden. Das ist die
Aufgabe des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621718100

Herr Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dehm?


Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1621718200

Ich gestatte es.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621718300

Herr Kollege Schäfer, ich habe jetzt gehört, welche

Debatten Sie führen und was Sie alles sagen würden,
wenn die Öffentlichkeit nicht zugegen wäre, wenn wir
unter uns, also in einer geschlossenen Ausschusssitzung,
tagen würden.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Gut, dass die Öffentlichkeit da ist!)


Auch ich war ein bisschen irritiert durch das Wort
„Wanderzirkus“, weil ich ein frei gewähltes Parlament
nie in die Nähe eines Zirkus oder einer Manege rücken
würde. Ich kann einen Teil, aber wirklich nur einen Teil
Ihrer Erregung verstehen. Könnte es sein, dass diese Er-
regung wesentlich geringer wäre, wenn kein Publikum
anwesend wäre?


Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1621718400

Lieber Kollege Dehm, wir gehören lange genug dem-

selben Ausschuss an. Sie wissen, dass ich mich auch im
Ausschuss über manche Sachen aufrege und dass ich
mich besonders bei Dingen engagiere, die mir sehr nahe
gehen. Wer selbst einmal Mitglied des Europäischen
Parlaments gewesen ist, den nehmen manche Debatten
im nationalen Parlament ein bisschen mehr mit als den-
jenigen, der Straßburg und Brüssel nicht aus der Innen-
sicht kennt. Da bitte ich um Verständnis.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Also, die Türen sind zwar zu, aber nicht verschlossen! – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum dann hinter verschlossenen Türen? Das verstehe ich überhaupt nicht!)


– Das mit den verschlossenen Türen, lieber Rainder
Steenblock, war natürlich nur in Anführungszeichen ge-
meint. Ich wollte damit deutlich machen, dass ich diese
Forderung nicht öffentlich erheben würde, sondern im
Dialog mit unseren Kolleginnen und Kollegen, weil ich
sie als frei gewählte Abgeordnete mit einem unabhängi-
gen Mandat genauso respektiere, wie ich jeden anderen
in diesem Haus respektiere, dem ich auch keine Vor-
schriften mache, was die Arbeitsorganisation anbelangt.
Darum geht es: um Respekt.

Wir bekommen die Zustimmung der Bürgerinnen und
Bürger zum Europäischen Parlament nur dann, wenn wir
deutlich machen, was dort erreicht worden ist und was
wir gemeinsam erreichen und verbessern wollen. Zu-
stimmung bekommen wir nicht durch Worte wie „Wan-
derzirkus“, die für Europa kontraproduktiv sind. Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können






(A) (C)



(B) (D)


Axel Schäfer (Bochum)

deshalb – gerade nach dieser Diskussion – die Anträge
mit gutem Gewissen zurückweisen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621718500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf
Drucksache 16/9697. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9427 mit dem
Titel „Europäisches Parlament stärken – Sitzfrage durch
Europaparlamentarier entscheiden lassen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktion der FDP und bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8051 mit
dem Titel „Plenarsitzungen des Europäischen Parla-
ments gänzlich in Brüssel und Tagungen des Europäi-
schen Rates in Straßburg abhalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Vereinbarte Debatte

Jährliche Strategieplanung der EU-Kommis-
sion für 2010

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staats-
minister im Auswärtigen Amt, Günter Gloser.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1621718600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Diese Debatte befasst sich mit der jährlichen
Strategieplanung der EU-Kommission, mit der für das
Jahr 2010. Die Kommission hat sicherlich vor keiner
leichten Aufgabe gestanden: Auf der einen Seite muss
sie die Regel einhalten, eine Planung vorzulegen; auf der
anderen Seite weiß sie, dass sie im nächsten Jahr nicht
mitbestimmen wird, weil nach den Wahlen zum Europä-
ischen Parlament eine neue Europäische Kommission
benannt wird. Die Europäische Kommission, die jetzt im
Amt ist, wollte der neuen Kommission natürlich nicht
vorgreifen. Hinzu kommt, dass die Unsicherheiten über
das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon die Auf-
gabe nicht erleichtert haben. Die Bundesregierung und
die seriösen Fraktionen in diesem Haus – ich greife ei-
nen Begriff des Kollegen Dr. Dehm auf – gehen davon
aus, dass der Lissabon-Vertrag zum Ende dieses Jahres
in Kraft gesetzt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man sich die Strategieplanung anschaut, er-
kennt man, dass sie Kontinuität aufweist, was notwendig
ist angesichts der vielen Probleme, die wir in der Ver-
gangenheit angesprochen haben und für die wir eine Lö-
sung finden müssen. Der erste Schwerpunkt ist die Be-
wältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die im
Zentrum dieser Strategieplanung steht. Die Europäische
Union hat auf dem G-20-Gipfel eindrucksvoll gezeigt,
dass sie ihrer internationalen Verantwortung gerecht
werden kann. Nicht zuletzt auf europäischen Druck wer-
den jetzt auch die internationalen Finanzmärkte stärker
reguliert werden. Wir erinnern uns: Während der deut-
schen EU-Präsidentschaft wollten viele noch nichts da-
von wissen. Nachdem die Krise eingetreten ist, ist die
Erkenntnis gewachsen.

Eine der wichtigsten Aufgaben ist es jetzt, die EU-in-
terne Finanzmarktaufsicht weiterzuentwikkeln. Dazu
wird die Kommission in Kürze, gestützt auf die Ideen
der Expertengruppe unter Leitung von Herrn de
Larosière, Vorschläge vorlegen. Der Europäische Rat
will im Juni bereits erste Beschlüsse fassen.

Die Bundesregierung wird im Vorfeld ihre Vorstellun-
gen zu den geplanten Maßnahmen abstimmen und auf
der Brüsseler Ebene einbringen. Dabei müssen wir deren
Auswirkungen auf die Architektur der Finanzmarktauf-
sicht im Auge behalten und sicherstellen, dass die Euro-
päische Union in Zukunft auch in dieser Frage eine Vor-
reiterrolle spielt.

Die von der Kommission vorgeschlagenen EU-finan-
zierten Konjunkturmaßnahmen vor allem im Energiebe-
reich haben uns zunächst nicht überzeugt – das wissen
Sie –, vor allem, weil sie nur kurz- und mittelfristig in
den Jahren 2009 und 2010 einen konjunkturbelebenden
Impuls gesetzt hätten. Wir haben beim Frühjahrsrat aber
einen vernünftigen Kompromiss gefunden, dass nur die
Projekte mit Gemeinschaftsmitteln gefördert werden, die
in den Jahren 2009 und 2010 tatsächlich begonnen und
umgesetzt werden können.

Die dramatischen Auswirkungen der Wirtschafts- und
Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt machen sich, wie wir
alle auch aus heutigen Nachrichten wissen, immer stär-
ker bemerkbar. Es ist richtig, dass sich die Europäische
Kommission auch dieses Themas annehmen, sich also
der Frage der sozialen Abfederung widmen wird und
nicht nur Banken, Wirtschaft und Autoindustrie im Fo-
kus hat. Deshalb ist wichtig, dass am 7. Mai ein Beschäf-
tigungsgipfel auf europäischer Ebene stattfindet. Es ist
gut, dass die Tarifpartner in diesen Prozess mit einbezo-
gen werden, weil in erster Linie sie Lösungen – mög-
lichst in Form kluger, intelligenter Modelle – für die Un-
ternehmen und Betriebe finden müssen. Angesichts der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirt-
schaft kann unser deutsches Model gut bestehen. „Kurz-
arbeit statt entlassen“ und „Qualifizieren statt entlassen“






(A) (C)



(B) (D)


Staatsminister Günter Gloser
sind Prinzipien, die sich in der Krise tagtäglich bewäh-
ren.

Die Bundesregierung begrüßt natürlich auch, dass die
Kommission im Zusammenhang mit der Lissabon-Stra-
tegie – so hoffe ich zumindest – noch weitere Struktur-
reformen anstoßen wird.


(Beifall bei der SPD)


Wir sehen allerdings ein Defizit, das an keiner Stelle
erwähnt wird. Sosehr es notwendig ist, auf europäischer
Ebene und auf nationaler Ebene jetzt Mittel in die Hand
zu nehmen, um bestimmte Probleme zu lösen, so sehr
fehlt uns doch ein Bekenntnis, dass nach der Krise wie-
der ein konsequenter Kurs der Haushaltskonsolidierung
eingeschlagen wird.

Der zweite Schwerpunkt, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, ist der Klimawandel. Auch hier hat die
Europäische Union in den letzten Monaten vieles zu-
stande gebracht. Ich glaube, das noch einmal unterstrei-
chen zu müssen, weil gelegentlich gefragt wird: Brau-
chen wir gerade in dieser wirtschaftlichen Krise eine
ökologische Umgestaltung? Es ist wichtig, und es ist
auch eine Chance, gerade in dieser Zeit die ökologische
Umgestaltung unserer Industriegesellschaft vorzuneh-
men. In diesem Bereich und auch im Bereich der For-
schung bieten sich Chancen in Bezug auf den Erhalt und
die Schaffung von Arbeitsplätzen.


(Beifall bei der SPD)


Wir werden allerdings auch darauf achten müssen,
dass wir im Vorfeld der Kopenhagener Klimakonferenz,
der Nachfolgekonferenz zu Kioto, entsprechende ausge-
wogene Positionen innerhalb der Europäischen Union
finden. Wir wissen alle, wie schwer es unter französi-
scher Präsidentschaft war, eine einheitliche Position zu
diesem Thema zu erarbeiten.

Die Bereiche Innen und Justiz kann ich nur streifen.
Die Europäische Kommission hat diese Bereiche zu
Recht als weitere Schwerpunkte genannt. Das Stockhol-
mer Programm wird sicherlich eine wichtige Rolle spie-
len, auch im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik.
Allerdings müssen wir auch eine Balance finden zwi-
schen Sicherheit und Terrorismusbekämpfung.

Zum Schluss, Frau Präsidentin, lassen Sie mich kurz
noch Folgendes sagen: Wieder einmal nicht enthalten ist
eine Aussage zur Sprachenpolitik. Wir haben gemein-
sam immer wieder versucht, in Brüssel deutlich zu ma-
chen, dass dies überfällig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich hoffe, dass wir gemeinsam in Brüssel endlich eine
Änderung herbeiführen können. Jedenfalls kann die
neue Kommission, so sie im Amt ist, davon ausgehen,
dass wir sie, wenn gute Vorschläge kommen, bei der
Umsetzung unterstützen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621718700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild

Dyckmans, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1621718800

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Der Herr Staatsminister hat es schon gesagt: Die
Strategieplanung für 2010 war für die Kommission si-
cherlich nicht so einfach. Die Umsetzung wird natürlich
davon abhängen, ob sie schon auf der Basis des Lissa-
bon-Vertrages agieren kann, wie der Übergang zur neuen
Kommission gestaltet wird und wie diese überhaupt aus-
sieht.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Aber über diese wichtigen Fragen dürfen wir nicht die
fachpolitischen Themen vergessen, die in der Strategie-
planung angesprochen werden. Die FDP-Fraktion will
deshalb diese Debatte dazu nutzen, deutlich zu machen,
dass auch wir Fachpolitiker uns in die europäische De-
batte einschalten müssen und einschalten wollen.

Als Rechtspolitikerin möchte ich justizpolitische The-
men und das Stockholmer Programm, das auch der Herr
Staatsminister schon kurz erwähnt hat, ansprechen. Die-
ses Programm wird die europäische Innen- und Rechts-
politik für die Jahre 2010 bis 2014 ganz entscheidend
prägen. Das Jahr 2010, auf das sich die Strategieplanung
bezieht, ist das erste Jahr der Durchführung dieses Pro-
gramms.

Um den Stellenwert der Fünfjahresprogramme richtig
einzuschätzen, erinnere ich nur an das Programm von
Tampere aus dem Jahr 1999, mit dem der Grundsatz der
gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidun-
gen vorgegeben wurde. Erst im Vertrag von Lissabon
wird dieser Grundsatz ausdrücklich ins Recht überführt.
Wir können die Bedeutung der Fünfjahresprogramme
gar nicht hoch genug einschätzen.

Ich halte es deshalb für unverzichtbar, dass wir Abge-
ordnete uns auch während der Sommerpause, selbst
wenn wir alle dann wahrscheinlich im Wahlkampf sind,
mit den Entwürfen dieses Programms befassen und uns
in die europäische Diskussion einschalten. Wir dürfen
damit nicht warten, bis der Europäische Rat das Pro-
gramm während der schwedischen Ratspräsidentschaft
in der zweiten Jahreshälfte endgültig beschlossen haben
wird. Dann ist es nämlich zu spät.


(Beifall bei der FDP)


Aus der Strategieplanung 2010 lässt sich schon erse-
hen, dass es inhaltlich weiter um die gegenseitige Aner-
kennung insbesondere gerichtlicher Entscheidungen so-
wohl in Zivil- als auch in Strafsachen gehen wird.
Selbstverständlich gehört es zu einem Raum der Frei-
heit, der Sicherheit und des Rechts, dass wir gerichtliche
Entscheidungen der Mitgliedstaaten anerkennen. Aber
es gibt hier auch Grenzen zu beachten.

Ich halte es zum Beispiel nach wie vor für unbedingt
erforderlich, dass wir als Deutsche die Anerkennung und






(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans
damit die Vollstreckung eines Urteils ablehnen können,
wenn etwa dem Beklagten kein rechtliches Gehör ge-
währt wurde. Dazu, es zu gewähren, haben sich zwar
alle 27 EU-Mitgliedstaaten in der Europäischen Men-
schenrechtskonvention verpflichtet. Aber der Europäi-
sche Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der
die Einhaltung dieser Verpflichtung überwachen soll, ist
leider nicht arbeitslos. Unter den fünf der 47 Konven-
tionsstaaten, die am häufigsten wegen Verstößen gegen
die Menschenrechtskonvention verurteilt wurden, wa-
ren sowohl 2007 als auch 2008 zwei Mitgliedstaaten der
EU.

Wenn wir uns in einer solchen Situation einfach auf
das gegenseitige Vertrauen, also auf das Vertrauen in die
Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates berufen,
dann treten die Rechte der einzelnen Bürger in den Hin-
tergrund. So, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
können wir kein Europa der Bürger aufbauen. Die
Grundrechte haben gerade die Funktion, für jeden Ein-
zelnen sicherzustellen, dass auch bei Anerkennung aus-
ländischer Entscheidungen sein Recht im Einzelfall gesi-
chert bleibt.

Deswegen ist es einerseits unsere Aufgabe, die euro-
päische Rechtsetzung dahin gehend zu beeinflussen,
dass keine Widersprüche zu den Regelungen unserer
Verfassung auftreten können. Andererseits brauchen wir
bei der Anerkennung ausländischer zivilgerichtlicher
Entscheidungen den Ordre-public-Vorbehalt, um im Ein-
zelfall notfalls eine Ausnahme von der gegenseitigen
Anerkennung zu machen, wenn sonst die Grundrechte
verletzt werden.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: So ist es!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische
Union, der wir als Bundestag von Anfang an mit großer
Mehrheit zugestimmt haben, achtet die nationale Identi-
tät der Mitgliedstaaten. Die europäische Einigung, hinter
der wir alle stehen, beruht auf den Grundsätzen der be-
grenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Da-
nach regeln wir auf europäischer Ebene, was grenzüber-
schreitend geregelt werden muss. Wir nationalen
Parlamentarier bestimmen hingegen in nationaler Viel-
falt über Fragen wie zum Beispiel die strafrechtliche Be-
handlung des Schwangerschaftsabbruchs oder der Ster-
behilfe.

Diese nationale Vielfalt muss auch bei der gegenseiti-
gen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen ge-
wahrt bleiben. Dazu brauchen wir den Grundsatz der
beiderseitigen Strafbarkeit. Wenn ein bestimmtes Ver-
halten bei uns nicht strafbar ist, können wir nicht eine
ausländische Strafe wegen genau dieses Verhaltens voll-
strecken.

Ich kann mir zwar vorstellen, dass wir zu einer Liste
von Delikten gelangen, die in allen EU-Mitgliedstaaten
strafbar sind, sodass wir insoweit auf die Prüfung der
beiderseitigen Strafbarkeit verzichten könnten. Die jetzt
vorliegende Liste der 32 Delikte leidet aber unter einem
ganz entscheidenden Mangel: Sie genügt nicht dem
strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Kommt es nicht zu
einer Präzisierung dieser Delikte, muss sich Deutschland
die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch in Zu-
kunft vorbehalten.

Ein anderes für die europäische Rechtspolitik unver-
zichtbares Vorhaben ist die Einigung über Mindestrechte
der Beschuldigten. Wenn wir die Bürger überzeugen
wollen, dass die Europäische Union eine Union der Bür-
ger und für die Bürger ist, können wir nicht weiter
Rechtsinstrumente zur Zusammenarbeit der Justizbehör-
den verabschieden, ohne parallel ein Rechtsinstrument
zu beschließen, das den von dieser Zusammenarbeit be-
troffenen Bürgerinnen und Bürgern, den Beschuldigten,
ihre elementaren Rechte sichert.


(Peter Albach [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir haben als nationale Parlamentarier wiederholt
Mitwirkungsrechte bei der europäischen Gesetzgebung
eingefordert. Lassen Sie uns diese Rechte, die durch den
Lissabonner Vertrag sogar noch erweitert werden, in Zu-
kunft bitte noch engagierter auch tatsächlich wahrneh-
men.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621718900

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Lamp, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Lamp (CDU):
Rede ID: ID1621719000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Heute beraten wir die von der EU-Kommission
vorgelegte Strategieplanung für 2010. Der Staatsminister
hat die fünf Punkte bereits in etwa umrissen. Wir werten
das Dokument grundsätzlich positiv. Besonders begrü-
ßen wir ganz ausdrücklich, dass dieses Dokument zügig,
frühzeitig und in deutscher Sprache vorgelegen hat.

Leider ist dies nicht die übliche Praxis. Damit komme
ich zu einem Kritikpunkt, den der Staatsminister auch
schon genannt hat. Immer und immer wieder fordern wir
im Ausschuss ein, dass uns die Parlamentsvorlagen aus
Brüssel in deutscher Sprache und in den anderen natio-
nalen Sprachen vorgelegt werden. Es fehlt eine Überset-
zungsstrategie. Für das Funktionieren der Europäischen
Union ist es aber unverzichtbar, dass den Vertretern des
Volkes die zu beratenden EU-Dokumente vollständig,
fristgerecht und in ihrer Muttersprache zur Verfügung
gestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich einen weiteren für mich wichtigen
Kritikpunkt aufführen. Der Staatsminister hat deutlich
gemacht, dass man sich der Überwindung der derzeiti-
gen Finanzkrise widmet. Das ist okay. Es fehlen aber
Wegweisungen zur Haushaltskonsolidierung nach der
Krise. Wie wir alle wissen, wird sie Probleme hinterlas-
sen, die dann zu bewältigen sind. Hier hat uns die Kom-
mission im Moment alleingelassen.






(A) (C)



(B) (D)


Helmut Lamp
Des Weiteren vermisse ich in der Strategieplanung
den Schwerpunkt – besonders weil ich aus Schleswig-
Holstein komme –, die grenzüberschreitende Koopera-
tion im Ostseeraum zu forcieren. Das einzige Binnen-
meer der EU wird sicher eines der zentralen Themen der
kommenden schwedischen EU-Ratspräsidentschaft wer-
den. Die Kommission hätte gut daran getan, auch hier
vorab wegweisende Zeichen zu setzen.

Wir haben aber nicht nur Schatten, sondern auch
Licht. Ich begrüße ausdrücklich die Position der Kom-
mission zur Klima- und Energiepolitik. In der Amtszeit
dieser Kommission wurden im Klimaschutz Meilen-
steine gesetzt, deren Bedeutung für den weltweiten Kli-
maschutz man erst mit gewissem zeitlichen Abstand in
vollem Umfang erkennen wird. Die Europäische Union
ist mit ihren Zielsetzungen, bis 2020 die Energieeffizienz
um 20 Prozent zu steigern, den Anteil der regenerativen
Energien an der Energieversorgung auf 20 Prozent an-
steigen zu lassen und den CO2-Ausstoß um 20 Prozent
zu mindern, Vorreiter auf internationaler Ebene; das
muss sie auch in Zukunft bleiben. Ich hoffe auf eine
Fortsetzung dieser Politik im Rahmen der Klimaschutz-
konferenz Ende des Jahres in Kopenhagen. Ich hoffe auf
ein internationales Klimaschutzabkommen, das diesen
Namen wirklich verdient.

Auch wenn der Punkt nebensächlich erscheinen mag,
begrüße ich es sehr, dass die Kommission beabsichtigt,
bis 2013 keine zusätzlichen Stellen zu schaffen und ih-
ren Personalbedarf mit den derzeit zur Verfügung ste-
henden Mitteln zu bestreiten. Die EU setzt noch immer
mehr als die Hälfte ihres Personals für die Verwaltung
ihrer eigenen Verwaltung ein. Den Personalstand bis
2013 nicht ausweiten zu wollen, ist eine klare Aussage.
Ansonsten sind die Planungsvorgaben häufig relativ of-
fen gehalten, und zwar aus verständlichen Gründen.

Beide Vorredner haben es schon angemerkt: Eine
neue Kommission wird in dem einen oder anderen Punkt
neue Akzente setzen. Möglicherweise wird eine Nach-
justierung der hier vorliegenden EU-Strategieplanung
wegen des Verlaufs der internationalen Finanzkrise und
der Verabschiedung oder – so hoffe ich – Nichtverab-
schiedung des Vertrages von Lissabon ohnehin notwen-
dig sein.

Ich werde nicht mehr für den Bundestag kandidieren.
Vermutlich habe ich hier die letzte Gelegenheit, einige
grundsätzliche europapolitische Zielvorstellungen zu be-
leuchten und über das europapolitisch spannende Jahr
2010 hinauszublicken. Dabei möchte ich mich auf drei
für mich wesentliche Punkte beschränken:

Erstens. Die Europäische Union wird sich in absehba-
rer Zeit auf eine wirklich Gemeinsame Außen- und Si-
cherheitspolitik einigen müssen; ansonsten wird sie sich
mit einer Zuschauerrolle am Rande der Weltpolitik be-
gnügen müssen. Auf der UN-Konferenz zum Thema
Rassismus in dieser Woche gab es leider wieder keine
einheitliche europäische Haltung. Dieses Beispiel für die
Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten wurde welt-
weit sehr aufmerksam registriert.
Zweitens. Die EU sollte neben der gewachsenen Zu-
sammenarbeit mit dem Partner USA auch eine Zusam-
menarbeit mit Russland und China anstreben. Natürlich
ist der Weg zu einer vertrauensvollen Partnerschaft mög-
licherweise lang und mühsam, da noch etliche aktuelle
Probleme zu überwinden sind. Eine wirklich partner-
schaftliche Zusammenarbeit zwischen der Europäischen
Union, den USA, Russland und China wäre in Hinblick
auf die internationalen Friedensbemühungen ein gewal-
tiger Fortschritt. Über die Friedensbemühungen hinaus
gibt es für die EU weitere sehr wichtige, nachvollzieh-
bare Gründe dafür, die Zusammenarbeit mit Russland
und China zu optimieren.

Nur unter Einbeziehung der Energiepotenziale Russ-
lands ist die Wirtschaft der EU zukunftsfähig. Um das
notwendige Vertrauen aufzubauen, ist Russland immer
einzubeziehen, wenn seine vitalen Interessen berührt
werden, sei es beim Ausbau von Verteidigungssystemen
oder bei Fragen der EU-Osterweiterung. Im vergangenen
Jahrzehnt wurden die Empfindlichkeiten Russlands mei-
ner Meinung nach im Westen nicht immer angemessen
berücksichtigt.

Nun zu China: Etwa 330 Millionen EU-Bürger zahlen
heute mit dem Euro. Viermal so viele Chinesen,
1,3 Milliarden, zahlen mit dem Yuan, dessen Kaufkraft
explosionsartig steigt. 350 000 Dollarmillionäre gibt es
in China bereits heute. In jedem Jahr kommen 50 000
weitere hinzu. Die Europäische Union wird schon in ab-
sehbarer Zukunft einem schnell wachsenden Wirt-
schaftskoloss China gegenüberstehen. Die sich abzeich-
nende Entwicklung ist bei allen Zukunftsplanungen zu
berücksichtigen.

Meine ersten zwei Wünsche bezogen sich auf die
Ausweitung der außenpolitischen Kompetenzen der Eu-
ropäischen Union. Meine dritte Empfehlung läuft auf
eine Kompetenzeingrenzung hinaus, und zwar im Be-
reich der Regionalpolitik. Nicht selten wurde in Brüssel
überzogen geregelt, was vor Ort realitätsnäher und sach-
gerechter hätte gelöst werden können. Die Brüsseler Re-
gelungssucht, die bis zu Etiketten auf Marmeladenglä-
sern reicht, die aus bäuerlicher Produktion stammen,
glättet die liebenswerte, in Jahrhunderten gewachsene
Vielfalt unseres Europas und gefährdet die breite Zu-
stimmung zu Europa.

Ich bin seit 40 Jahren selbstständiger Landwirt. Ich
musste relativ früh den Hof meiner Eltern übernehmen.
In diesen 40 Jahren habe ich relativ häufig, insbesondere
in den ersten Jahrzehnten, mit Berufskollegen gegen die
EU protestiert, und zwar aus nachvollziehbaren Grün-
den. Die meisten meiner Berufskollegen haben in diesen
Jahrzehnten ihre Existenzgrundlagen verloren. Doch zu
keinem Zeitpunkt habe ich die EU in ihrer Funktion und
ihrem Wirken grundsätzlich infrage gestellt, nicht nur,
weil wir eine starke europäische Staatengemeinschaft
brauchen, um die wirtschaftlichen Zukunftschancen aus-
schöpfen und Krisen gemeinschaftlich besser überwin-
den zu können, sondern vor allem, weil die Europäische
Union die erfolgreichste Friedensinitiative aller Zeiten
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Helmut Lamp
Meine lieben Freunde, deshalb erwarte ich von allen
verantwortungsbewussten und zukunftsorientierten Mit-
bürgern, dass sie sich am 7. Juni zur Europäischen
Union bekennen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch
machen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621719100

Ich gebe das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621719200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Prioritäten der Europäischen Kommission für 2010
sind: wirtschaftlicher Aufschwung, nachhaltige Entwick-
lung, bürgernahe Politik und Europa als Partner in der
Welt. So schön die Überschriften klingen – wenn man
sich intensiver mit dem Papier beschäftigt und die Stel-
lungnahme der Bundesregierung hinzuzieht, muss man
doch feststellen, dass eine gescheiterte Politik, die uns in
die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit Ende des
Zweiten Weltkrieges geführt hat, durch diese Strategie-
planung gerechtfertigt, legitimiert werden soll. Es ist dra-
matisch, dass ich hier, obwohl viele Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer Angst um ihren Arbeitsplatz haben
und nicht wissen, ob sie mit Kurzarbeitergeld über die
Runden kommen, sagen muss: Herr Staatsminister
Gloser, Europa und Deutschland sind nicht Opfer der
Wirtschaftskrise; sie sind Mitverursacher der Wirtschafts-
krise.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer das nicht einsieht, wird die Krise nicht bekämpfen
können. Es reicht nicht aus, über den großen Teich auf
Amerika zu zeigen. Europa und Deutschland haben die
Massenarbeitslosigkeit und die soziale Verelendung, die
wir derzeit in Europa und Deutschland vorfinden, mit-
verursacht.

Paul Krugman, der Nobelpreisträger, ist schon oft zi-
tiert worden. Er hat Finanzminister Steinbrück holzköp-
fig genannt. Ich möchte Jean-Paul Fitoussi, Mitglied der
Stiglitz-Kommission der UN, zitieren, der über die Re-
gulierung der Finanzmärkte sagte:

Und dieses Problem ist dadurch entstanden, dass es
über zweieinhalb Jahrzehnte eine Umverteilung der
Einkommen von unten nach oben gab. Damit haben
jene plötzlich viel mehr Geld gehabt, die … ohne-
hin nur einen relativ kleinen Teil ihres Geldes aus-
geben und einen hohen Teil sparen. Mit diesen Er-
sparnissen haben sie Vermögenswerte gekauft.
Diese Umverteilung nach oben war ein weltweit
sehr tiefgreifendes Phänomen. Hier liegt die Wurzel
der heutigen Krise, nicht in der Finanzwelt.

Mit anderen Worten – das hat die Bundesregierung
durch Sie heute noch einmal bekräftigt –: Die Fortset-
zung der Lissabon-Strategie verschärft die Wirtschafts-
krise, weil sie die Lohnentwicklung und damit Wachs-
tum bremst. Die Superreichen werden ihr Geld weiterhin
ins Kasino tragen.


(Peter Albach [CDU/CSU]: Was ist „superreich“?)


Die Kommission und die Bundesregierung empfehlen
die Fortsetzung dieser gescheiterten Strategie. Sie soll-
ten den Menschen deutlich sagen, was das bedeutet. Die
Fortsetzung dieser Strategie bedeutet: Lohndumping,
Steuersenkungen für Reiche, Agenda 2010 und Hartz IV.
Das war die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie
in Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wollen diese Strategie fortsetzen und dem Rest Euro-
pas Lohndumping und Sozialabbau empfehlen. Das ist
die Botschaft der CDU/CSU, der SPD und der Bundes-
regierung. Sie sollten den EU-Bürgern aber auch sagen,
dass Deutschland im letzten Jahr Schlusslicht beim
Wachstum war.


(Peter Albach [CDU/CSU]: Aber auf ganz hohem Niveau!)


Sie sollten sagen, dass Länder mit einer niedrigeren
Schuldenquote, zum Beispiel Spanien, aufgrund von
Deutschlands Lohndumping vor dem Staatsbankrott ste-
hen. Die Rechnung werden auch die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland zahlen. Daher brau-
chen wir Euroanleihen, um die Zinskosten für unsere eu-
ropäischen Nachbarn zu senken und teure Staatsban-
krotte abzuwenden.

Das europäische Konjunkturprogramm und die natio-
nalen Maßnahmen bleiben gemessen an der Wirtschafts-
leistung des Bruttoinlandsprodukts mit circa 0,9 Prozent
weit hinter den Maßnahmen vergleichbarer Regionen
wie den USA, Japan oder China zurück. Das ist zu we-
nig. Es werden auch falsche Schwerpunkte gesetzt. Steu-
ergeschenke für Besserverdienende haben keine wirt-
schaftlichen Effekte. Öffentliche Investitionen sind der
bessere Weg.

Leider waren die Staats- und Regierungschefs der
EU, insbesondere auch Bundeskanzlerin Merkel, in die-
ser Hinsicht ein Bremsklotz auf dem G-20-Gipfel. Die
Ankündigung der Kommission, alle Finanzprodukte der
Aufsicht zu unterwerfen, ist vollkommen unglaubwür-
dig. Sie haben auf dem G-20-Gipfel verabredet, Hedge-
fonds erst ab gewissen Schwellenwerten der Aufsicht zu
unterwerfen; Hedgefonds gehören aber verboten. Ohne
Sanktionen gegen Steueroasen ist die Aufsicht völlig un-
wirksam.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Fraktion unterstützt daher die Proteste der eu-
ropäischen Gewerkschaften vom 14. bis 16. Mai in
Brüssel, Berlin, Prag und Madrid. Die Verursacher der
Krise müssen zahlen. Anders ausgedrückt: Die Men-
schen müssen endlich wieder von der EU-Kommission
und den Regierungen in den Mittelpunkt gestellt werden.
Das, was gestern hinsichtlich der Einrichtung von Bad
Banks in Deutschland verabredet worden ist, zeigt, dass
der Bundesregierung die Ackermänner in diesem Land






(A) (C)



(B) (D)


Alexander Ulrich
wichtiger sind als die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer und die sozial Benachteiligten.


(Beifall bei der LINKEN)


Nehmen Sie das ernst, was zurzeit in Frankreich pas-
siert und wovor DGB-Chef Sommer gewarnt hat. Diese
Politik – Sie wollen sie ja fortsetzen – wird dazu führen,
dass es auch in Deutschland soziale Unruhen geben
wird.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Jetzt fangen Sie auch noch so an! Unverantwortlich!)


Die Verantwortung haben nicht die Finanzmärkte, son-
dern diese Bundesregierung und die Koalition, die sie
trägt.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Strategieplanung der Kommission und die Stel-
lungnahmen der Bundesregierung offenbaren: Die EU
und die Bundesrepublik Deutschland werden noch im-
mer von den Finanzmärkten regiert. Die Verkäuferin, die
aufgrund des Vorwurfs, sie habe 1,30 Euro veruntreut,
entlassen worden ist, wird nicht zur Kanzlerin eingela-
den, aber Herr Ackermann wurde gestern eingeladen. Er
weiß, dass diese Bundesregierung ihm weiterhin helfen
wird.


(Beifall bei der LINKEN – Peter Albach [CDU/CSU]: Wenn man mit demokratischen Mitteln nicht zur Macht kommt, muss man es mit Unruhen versuchen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621719300

Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621719400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestatten Sie mir zunächst eine Bemerkung zum Verfah-
ren und zu dieser Debatte. Ich gehöre mit anderen Ob-
leuten zu denen, die sich dafür eingesetzt haben, dass wir
diese Strategiedebatte über die Planung der Europäi-
schen Union jährlich durchführen. Ich finde das richtig.
Es zeigt, dass europäische Themen im Deutschen Bun-
destag eine große Relevanz haben. Diese Debatte zeigt
auch – das hat im Grunde der Beitrag von Frau
Dyckmans deutlich gemacht –, dass wir eigentlich hier
keine Generaldebatte führen müssen. Vielmehr wäre es
besser, wir würden diese Debatte – ähnlich wie eine
Haushaltsdebatte – anhand der Politikfelder der Strate-
gieplanung splitten und einzeln darüber debattieren. Das
würde das von den Europapolitikern häufig beklagte
Problem, dass die Fachpolitiker zu wenig in die europäi-
sche Politik integriert sind, lösen. Solche Strategiedebat-
ten würden es erfordern, dass wir uns ein bisschen mehr
Zeit nehmen, um die Themen ausführlich zu behandeln;
Frau Dyckmans hat dies heute am Beispiel der Justizpo-
litik so gemacht. Mit den anderen Politikfeldern, zum
Beispiel der Umweltpolitik, der Außenpolitik und der
Wirtschaftspolitik, müsste man das auch so machen.

Wenn wir als Deutscher Bundestag auf die Strategie-
planung der EU-Kommission und darauf, wie die Bun-
desregierung dazu Stellung nimmt, tatsächlich Einfluss
nehmen wollen, dann sollten wir diese Debatten so füh-
ren, dass wir am Ende als Deutscher Bundestag zu den
einzelnen Kapiteln eine Stellungnahme abgeben und die
Bundesregierung verpflichten, die Strategieplanung ein-
schließlich des Kommentars des Bundestages und nicht
nur ihre eigene Position zu vertreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN und der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])


Ich stimme dem Kollegen Lamp zu, dass diese De-
batte eine Konsequenz haben muss: Wir müssen die Bür-
gerinnen und Bürger aufrufen, zur Europawahl zu gehen.
Diese Wahl ist von zentraler Bedeutung. Die Europäi-
sche Union ist alternativlos, und wir müssen sie stärken.
Wir Grüne haben uns immer dafür ausgesprochen. Der
Lissabon-Vertrag ist ein Instrument, um die Europäische
Union zu stärken. Aber die Europäische Union mit ih-
rem Parlament und ihrem Rat ist natürlich eine politische
Veranstaltung. Uns geht es darum, ihre Politik so zu än-
dern, dass die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bür-
ger eine größere Rolle spielen. Das, was Kollege Ulrich
dazu sagte, kann ich in Teilen unterstützen, allerdings
nicht in allen Teilen.

Wir brauchen eine Europäische Union, die die Sozial-
politik nicht nur als Stichwort behandelt, sondern sich
dafür einsetzt, europaweite Mindeststandards zu definie-
ren. Wir brauchen auch auf europäischer Ebene eine Ei-
nigung über die Einführung von Mindestlöhnen. Auch
uns in Deutschland hat dieses Thema in den letzten Wo-
chen sehr beschäftigt. Wir wollen die Forderung „Glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit!“ auf europäischer Ebene
nicht nur institutionalisieren, sondern auch durchsetzen.
In den einzelnen Nationalstaaten werden diese Themen
durchaus behandelt. Daraus müssen allerdings europäi-
sche Standards werden. Im anstehenden Wahlkampf ist
es wichtig, dass wir für die Rechte der Menschen in so-
zialen Fragen kämpfen und deutlich machen, wer die
Bremser sind. Die Diskussion über Europa ist eine poli-
tische Debatte. Dabei geht es allerdings auch um die
Umweltpolitik auf europäischer Ebene.

Wenn man sich die Strategieplanung für Umwelt- und
Klimaschutz, also für eines der größten Probleme so-
wohl innerhalb der Europäischen Union als auch global,
ansieht – ich will jetzt nicht über all das sprechen, was in
den letzten Jahren geschehen ist und worüber wir sicher-
lich sehr unterschiedliche Auffassungen haben –, stellt
man fest: Im Grunde gibt es für diesen Politikbereich nur
noch zwei kleine Ansätze. Zum einen geht es darum, den
Aktionsplan Energieeffizienz durchzusetzen – das ist
zwar richtig; es handelt sich dabei aber nur um einen
sehr geringen Teil –, zum anderen geht es darum, noch
einmal neu zu überlegen, ob die transeuropäischen Ener-
gienetze vernünftig organisiert sind, und diese eventuell
zu reformieren. Diese beiden Ansätze sind zu wenig, um
der Bedeutung der Umwelt- und Klimapolitik in der Eu-
ropäischen Union und auf globaler Ebene gerecht zu
werden. Wir brauchen in Europa ehrgeizigere Ziele, die






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
wir in den Planungen durchsetzen müssen. Hierbei er-
warte ich von der Bundesregierung Unterstützung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In ihrer Stellungnahme zur Strategieplanung hat die
Bundesregierung sogar diese winzigen Ansätze noch un-
ter einen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Herr Gloser,
Sie möchte ich dafür nicht verantwortlich machen. Unter
der Ägide von Frau Merkel hat die Bundesregierung im
letzten Jahr allerdings sehr häufig als Bremserin fun-
giert, gerade im Bereich der Klimapolitik und im Hin-
blick auf die Autoindustrie.

Sie haben im Jahre 2008 eine Klimapolitik betrieben,
durch die die großen CO2-Schleudern geschont wurden.
Sie haben sich dagegen gewehrt, diese Politik zu ändern.
Im Rahmen der Finanzkrise haben Sie nun feststellen
müssen, welche Folgen diese Politik hat. Ich erwarte,
dass Sie daraus Konsequenzen ziehen und auf europäi-
scher Ebene eine ehrgeizigere Umwelt- und Klimapoli-
tik formulieren, nicht im Sinne der großen Automultis,
sondern im Interesse der Menschen, die unter dieser
Krise, die auch eine Umweltkrise ist, zu leiden haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch einen
weiteren wichtigen Punkt, den ich zum Schluss anspre-
chen möchte – Kollege Lamp und andere haben darauf
bereits hingewiesen –: Wir brauchen eine stärkere ge-
meinsame Außenpolitik der Europäischen Union. Was
die Zusammenarbeit mit unseren östlichen Partnern be-
trifft, gibt es sehr viele Probleme, die zu Recht angegan-
gen werden. Unsere Beziehungen zu unseren südlichen
Partnern im Mittelmeerraum befinden sich in einer Blo-
ckade. Diese Probleme müssen überwunden werden.

Herr Staatsminister Gloser, die Bundesregierung ist
aufgefordert, in ihrer Planung darauf hinzuwirken, dass
die EU in Zukunft im Hinblick auf ihre Beziehungen zu
den östlichen Partnerländern und zu den Partnern im
Mittelmeerraum sowie bezüglich der Nahostkrise eine
größere Rolle spielt. Ich erwarte von der Bundesregie-
rung, dass sie sich auch in ihrer Stellungnahme zur Stra-
tegieplanung zu diesem Themen äußert.

Ein allerletztes Wort.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621719500

Nein, Herr Kollege.


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621719600

Es ist wirklich ein letztes Wort, Frau Präsidentin.

Bürgernahe Politik in Europa heißt auch, dass die
Rechte des Einzelnen gegenüber staatlichen Strukturen
gestärkt werden müssen. Was ist im Bereich Telefon-
überwachung überlegt worden! Wie sind da Rechte des
Einzelnen staatlichen Informationsstrukturen geopfert
worden! So etwas werden wir nicht mitmachen. Hier
sind die Rechte des Einzelnen, die Freiheitsrechte und
die Informationsgrundrechte der Menschen, zu schützen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621719700

Zu ihrer ersten Rede im Hohen Hause gebe ich das

Wort der Kollegin Dr. Eva Högl, SPD-Fraktion.


(Beifall)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1621719800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist gut, dass uns die Strategieplanung hier in jedem
Jahr beschäftigt und dass wir ausführlich über sie disku-
tieren.

In diesem Jahr haben wir – das ist schon angespro-
chen worden – eine besondere Situation: Wir alle wissen
nicht, wie es weitergeht, vor welche Herausforderungen
uns die Wirtschafts- und Finanzkrise noch stellen wird.
Wir wissen auch nicht, ob es gelingt – wir hoffen es na-
türlich –, dass der Vertrag von Lissabon in allen Mit-
gliedstaaten ratifiziert wird.

2010 wird eine neue Europäische Kommission im
Amt sein. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine
große Chance für uns hier im Bundestag. Wir haben da-
mit die Möglichkeit, der neuen Kommission unsere For-
derungen und Vorschläge mit auf den Weg zu geben.

Die Kommission setzt die Priorität zu Recht auf den
wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Aber wie in
den vergangenen Jahren und somit unabhängig von der
Krise – das darf ich ausdrücklich kritisieren – legt die
Kommission den Schwerpunkt wieder hauptsächlich auf
wirtschaftspolitische Themen und blendet den sozialen
Fortschritt und sozialen Zusammenhalt weitgehend aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: Leider wahr!)


Doch gerade in der Wirtschaftskrise muss es darum ge-
hen, auch auf der europäischen Ebene die drängenden
Fragen von Beschäftigung und sozialem Schutz zu be-
antworten. Lassen Sie uns deshalb die Kommission auf-
fordern, bei all ihren Vorschlägen die soziale Dimension
zu berücksichtigen!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Europa muss gerade in den Bereichen Beschäftigung
und Soziales handlungsfähig sein und deutlich machen,
dass es dafür sorgt, dass Beschäftigung geschaffen und
soziale Sicherheit gewährleistet wird.

Wir alle sind gerade unterwegs und werben dafür, zur
Europawahl zu gehen. Wir wollen die Bürgerinnen und
Bürger von Europa begeistern. Dies wird uns aber nicht
gelingen, wenn sich Europa nicht um soziale Themen
kümmert; denn diese stehen für die Bürgerinnen und
Bürger ganz oben auf der Agenda. Deshalb ist die Strate-
gieplanung der Kommission in diesem Punkt unzurei-
chend. Da helfen keine Kommunikationsstrategie und
kein Bekenntnis zum bürgernahen Europa, da hilft nur
gute Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit Blick auf 2010 darf es meiner Meinung nach kein
„Weiter so!“ geben. Wir müssen unsere Themen – sozia-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Eva Högl
le Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit – mit Le-
ben erfüllen und zum Maßstab unseres Handelns ma-
chen, und zwar auch auf der europäischen Ebene.

Sozialpolitik ist nicht nur dazu da, wirtschaftliche
Fehlentwicklungen zu korrigieren oder im Notfall einzu-
springen. Wir brauchen ein Zusammenwirken der Berei-
che Wirtschafts-, Finanz-, Beschäftigungs-, Sozial- und
Umweltpolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diese Bereiche sind untrennbar miteinander verbunden.
Wir brauchen daher einen integrierten Ansatz. Genau
das war der Ansatz der Lissabon-Strategie vom Jahr
2000. Diesen Ansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen,
müssen wir wiederbeleben.

Ich möchte es nicht bei allgemeinen Bekenntnissen
belassen, sondern vier Punkte nennen, die, wie ich
denke, konkrete Bestandteile der Strategie für 2010 sein
sollten: Wir brauchen eine Initiative im Bereich des Ar-
beitsrechts. Europa muss sich darum kümmern, dass der
Arbeitnehmerdatenschutz und die Mitbestimmung gesi-
chert werden. Wir müssen das Prinzip „Gute Arbeit“
nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der europäi-
schen Ebene zum Leitmotiv machen. Im Sinne des Fle-
xicurity-Ansatzes, über den wir schon viel diskutiert ha-
ben, müssen wir einen Ausgleich zwischen
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen finden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen eine europäische Initiative gegen Lohn-
dumping. Arbeit muss fair entlohnt werden, und zwar in
ganz Europa, und sie muss es ermöglichen, den Lebens-
unterhalt zu bestreiten. An dieser Stelle darf ich sagen:
Da kann Deutschland von Europa lernen. Wir sollten,
wie es uns unsere Nachbarstaaten vormachen, endlich
den Schritt wagen, ein Bekenntnis zu gerechten Löhnen
abzulegen und einen gesetzlichen Mindestlohn einzufüh-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich weise darauf hin – heute ist der Girls’ Day; Kol-
lege Steenblock hat es schon gesagt –, dass es unerträg-
lich ist, dass es trotz des Bekenntnisses zu gleichem
Lohn für gleichwertige Arbeit, das seit 1958 in den Eu-
ropäischen Verträgen steht, im europäischen Durch-
schnitt immer noch Lohnunterschiede zwischen Män-
nern und Frauen von 17 Prozent gibt. In Deutschland
sind es sogar 22 Prozent. Darum müssen wir uns küm-
mern.


(Beifall bei der SPD)


2010 wird auch das Europäische Jahr zur Bekämp-
fung von Armut und sozialer Ausgrenzung sein. Dies ist
ein ernstes Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu
dem ich mir deutlichere Aussagen der Kommission in
ihrer Strategieplanung gewünscht hätte; denn es ist bis-
her leider nicht gelungen, die Armut in Europa signifi-
kant zu reduzieren. Auch weiterhin leben in Europa noch
viel zu viele Menschen in Armut oder sind von Armut
bedroht; nach aktuellen Untersuchungen sind es 16 Pro-
zent. Deshalb brauchen wir eine Strategie zur Bekämp-
fung von Armut und sozialer Ausgrenzung, insbeson-
dere von Kinderarmut. Wir brauchen in Deutschland wie
in Europa nicht nur allgemeine Bekenntnisse, sondern
klare Vorgaben mit klaren Zielen und konkrete Maßnah-
men, und wir dürfen uns nicht dahinter zurückziehen,
dass diese Themen keine Aufgabe der europäischen
Ebene seien, sondern müssen anerkennen, dass die Mit-
gliedstaaten gefordert sind. Hier erwarten die Bürgerin-
nen und Bürgern etwas von uns, und hier muss Europa
seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich noch einen Punkt anschließen: Das
Thema Soziales ist auch im Hinblick auf die externe Di-
mension, die die Kommission in ihrer Strategieplanung
anspricht, von Bedeutung. Es ist wichtig, wie Europa
sich beim Thema Soziales und Beschäftigung in der
Welt aufstellt. Hier geht es weniger um Wettbewerb und
Konkurrenz als vielmehr um Partnerschaft und Koopera-
tion. Nach meiner Auffassung muss Europa dafür Sorge
tragen, dass Prinzipien wie fairer Welthandel und die
Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards auch im
Rest der Welt zum Maßstab werden. Hier muss Europa
Vorbild sein.

Ich komme zu folgendem Ergebnis – gestatten Sie
mir, dass ich so kritisch bin –: Bezogen auf Beschäfti-
gung sowie auf soziale Sicherheit und sozialen Fort-
schritt gibt die Kommission in ihrer Strategieplanung
nur unzureichende Antworten auf die drängenden Fra-
gen, die uns gerade in der Wirtschaftskrise sehr bewe-
gen. Deshalb sollten wir im Bundestag die Gelegenheit
wahrnehmen und uns intensiv mit dem Arbeitspro-
gramm der Kommission, das noch folgen wird, ausei-
nandersetzen. Den Vorschlag des Kollegen Steenblock
finde ich sehr gut, einmal zu überlegen, ob wir dabei
nicht der Gliederung folgen, um uns substanziell mit den
einzelnen Themen befassen zu können. Ich persönlich
halte dies für sehr lohnenswert.

Wenn wir diese Debatte engagiert führen und der
Kommission etwas mit auf den Weg geben, dann haben
wir uns damit zugleich für die kommende Debatte über
die Lissabon-Strategie gerüstet, die 2010 auslaufen wird.
Wir müssen uns überlegen, welche Strategie wir für die
nächsten zehn Jahre für Europa entwickeln. Ich erhoffe
mir, dass wir darüber in ausreichendem Maße diskutie-
ren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621719900

Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu

Ihrer ersten Rede in unserem Parlament und wünsche Ih-
nen für die Zukunft alles Gute. Ich hoffe, dass Sie hier
noch viele Reden werden halten können.


(Beifall)


Ich gebe dem Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1621720000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Europäische Kommission benennt in ihrer
Strategieplanung für 2010 durchaus die richtigen
Schwerpunkte und Maßnahmen, die angegangen werden
können, um die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewälti-
gen. Mindestens genauso interessant ist aber auch, was
nicht in dieser Strategieplanung steht. Es ist schon ange-
sprochen worden, dass sich dort zur Haushaltskonsoli-
dierung kein Wort findet. Weil es stattdessen neue Aus-
gabenvorschläge für den Globalisierungsfonds und den
Sozialfonds gibt, muss hier ganz deutlich gesagt werden:
Die Zeit ist vorbei, in der wir über neue Konjunkturpro-
gramme reden konnten. Wir müssen jetzt darangehen,
die öffentlichen Haushalte zu sanieren und zur Konsoli-
dierung zurückzukehren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung gehört
auch, dass die Bürger wissen, dass wir mit den öffentli-
chen Finanzen vernünftig umgehen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Deshalb muss im Rahmen dieser Strategieplanung ein
ganz klares Signal zur Haushaltskonsolidierung, zu einer
soliden Finanzpolitik und zu einer stabilen Geldpolitik
gesetzt werden. Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten
sollte die Kommission baldmöglichst die Signale setzen,
damit wir nach der akuten Phase der Krise dazu kommen
werden, dass die Maastricht-Kriterien wieder eingehal-
ten werden und die Verschuldung der nationalen Haus-
halte begrenzt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich wiederhole mich, wenn ich hier sage, dass auch
durch den Bürokratieabbau ein substanzieller Beitrag da-
für geleistet werden kann, wieder mehr Wachstum zu ge-
nerieren. Die Vorschläge der Hochrangigen Gruppe un-
ter Leitung von Edmund Stoiber müssen jetzt von der
Kommission umgesetzt werden. Ich rate, dass auch die
neue Kommission von uns in die Verpflichtung genom-
men wird, sich um die Umsetzung dieser Vorschläge zu
kümmern und sich verbindliche Ziele beim Bürokratie-
abbau zu setzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommission
widmet dem Thema bürgernahe Politik in der Strategie-
planung ein eigenes Kapitel, sie schlägt in der Asylpoli-
tik aber gleichzeitig Maßnahmen vor, die nach meiner
tiefen Überzeugung von einem Großteil unserer Bürge-
rinnen und Bürger nicht mitgetragen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Kommission hat die Stirn, uns vorzuschlagen, die
Sozialleistungen für Asylbewerber an das nationale Ni-
veau der Sozialhilfe anzugleichen, und schlägt gleichzei-
tig vor, die Wartezeit der Asylbewerber für den Zugang
zum Arbeitsmarkt von einem Jahr auf sechs Monate zu
verkürzen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Bitte ein bisschen mehr Barmherzigkeit!)

Damit schafft sie in einer Situation, in der absehbar ist,
dass die Arbeitslosigkeit in ganz Europa steigen wird,
zusätzliche Anreize zur Migration. Dadurch erreicht sie
auch keine Lastenverteilung in Europa, weil völlig klar
ist, dass die Asylbewerber dann dorthin gehen werden,
wo die höchsten Sozialleistungen geboten werden, was
insbesondere bei uns der Fall ist. Schließlich kündigt
man den nationalen Konsens in der Asylpolitik auf, den
wir 1993 in Deutschland gefunden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem Asylkompromiss von 1993 haben wir, ohne
dass es eine Große Koalition gegeben hat, einen gemein-
samen Weg zwischen der Union und der SPD gefunden,
um die Anzahl der meist unberechtigten Asylbewerber
– es waren über 400 000 – zu senken. Wir haben das ge-
schafft, ohne dass einem wirklich politisch Verfolgten
Asyl verweigert worden ist.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Barmherzigkeit! – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das hatte doch etwas mit den Bürgerkriegen zu tun!)


Damit haben wir überhaupt erst den Spielraum dafür ge-
schaffen, denjenigen, die wirklich verfolgt werden, tat-
sächlich helfen zu können. Deswegen tun wir bis heute
mehr, als wir tun müssen, beispielsweise dadurch, dass
wir erst vor kurzem Flüchtlinge aus dem Irak in
Deutschland aufgenommen haben.

Wer das alles infrage stellen will, der wird zu den Dis-
kussionen zurückkommen, die wir in den 90er-Jahren
geführt haben und durch den Asylkompromiss gottlob
beilegen konnten, nämlich zu den Diskussionen darüber,
ob man sich das Individualgrundrecht auf Asyl, das eine
deutsche Besonderheit ist und meiner Meinung nach auf-
rechterhalten werden muss, noch weiter leisten kann,
und auch zu den Diskussionen darüber, in welchem Um-
fang wir Flüchtlinge über unsere Verpflichtungen hinaus
aufnehmen können, wie wir das tun.

Die Kommission sichert nun fadenscheinig mündlich
zu, dass wir in Deutschland das Asylbewerberleistungs-
gesetz nicht ändern müssen. Das ist ein Stück Verdum-
mung, der man scharf entgegentreten muss. Lieber Herr
Gloser, ich erwarte auch von Ihnen, dass die Bundes-
regierung gegen diese Vorschläge der Kommission ent-
schiedenen Widerstand leistet und verhindert, dass sie in
der vorliegenden Form in Kraft treten können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Andere sagen etwas anderes, Herr Silberhorn!)


– Da ich hier Widerstand aus der SPD-Fraktion höre,
sage ich ganz klar, dass die Wählerinnen und Wähler
auch wissen müssen: Wer am 7. Juni 2009 zur Europa-
wahl geht, der muss wissen, dass wir uns über die Rich-
tung der europäischen Politik in der Sache auch streiten
müssen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Barmherzigkeit!)







(A) (C)



(B) (D)


Thomas Silberhorn
Wer nicht will, dass der Asylkompromiss, der von uns
unter schwierigen Voraussetzungen gefunden worden ist
und mit dem wir seit 16 Jahren gut leben, durch die Hin-
tertür und die Europäische Kommission ausgehebelt
wird, der muss am 7. Juni 2009 bei der Europawahl
CDU bzw. CSU wählen, weil wir das mit unseren Abge-
ordneten im Europäischen Parlament verhindern wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Setzen!)


– Beruhigen Sie sich. Sie können Zwischenfragen stel-
len,


(Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: So weit geht es nicht!)


wenn Sie mir widersprechen wollen.

Herr Kollege Steenblock, Sie haben vorhin etwas bei-
läufig gesagt, diese Bundesregierung sei in der Umwelt-
politik ein Bremser in Europa.


(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gewesen, ja!)


Ich glaube, auch der Letzte in Deutschland hat gemerkt,
dass es diese Bundesregierung gewesen ist, die schon im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 da-
für gesorgt hat, dass wir in der Umweltpolitik und im
Klimaschutz in der gesamten Europäischen Union und
weltweit ein neues Kapitel aufgeschlagen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel verkündet, aber nichts erreicht!)


Es ist auch die persönliche Autorität der Bundeskanz-
lerin gewesen, die dazu geführt hat, dass wir im Klima-
schutz weltweit eine Vorreiterrolle eingenommen haben.
Ich glaube, dass wir dies mit offensiver Kraft gut vertre-
ten können. Wir alle haben daran mitgewirkt. Ich glaube,
es ist ganz wichtig, dass wir diese Rolle, die wir europa-
weit und weltweit in der Umweltpolitik einnehmen, wei-
ter gut ausfüllen.

Frau Präsidentin, wenn es gestattet ist, lassen Sie
mich noch einen Punkt zur Sprache sagen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621720100

Herr Kollege, Sie haben bereits überzogen.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1621720200

Wenn es gestattet ist, Frau Präsidentin?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621720300

Zwei Sätze.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1621720400

Ich freue mich, dass wir uns fraktionsübergreifend da-

rin einig sind, dass wir die deutsche Sprache in der Euro-
päischen Union fördern müssen und dass die Bundes-
regierung dies ausdrücklich in ihre Kommentierung zur
Strategieplanung der Kommission aufgenommen hat.
Wenn irgendwelche abseitigen Vorschläge lauten, wir
sollten in Europa nur noch Englisch reden, dann freue
ich mich, dass wir uns in diesem Hause in allen Fraktio-
nen darin einig sind, dass die Vertretung deutscher Inte-
ressen in der Europäischen Union anders ausschaut.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Herr Lammert hat das vorgeschlagen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1621720500

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gen-
technik ermitteln und offenlegen

– Drucksachen 16/7903, 16/10578 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Johannes Röring, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Röring (CDU):
Rede ID: ID1621720600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

volkswirtschaftlichen Kosten der Grünen Gentechnik
waren bereits Thema der Kleinen Anfrage der Fraktion
Die Linke vom 8. November 2007. Ich denke, die Fra-
gen wurden durch die Bundesregierung bereits hinrei-
chend beantwortet. Dennoch hat die Linke es für not-
wendig erachtet, hierzu noch einmal einen Antrag zu
formulieren, den wir im Mai letzten Jahres bereits debat-
tiert haben und heute erneut debattieren werden, nach-
dem wir dieses Thema heute Morgen schon einmal auf
der Tagesordnung hatten.

Meine Damen und Herren, die Biotechnologie hält
wahrscheinlich mehr Antworten auf die dringenden Fra-
gen der Menschheit, nämlich auf Fragen der Gesundheit,
der Energie und der Nahrung, bereit als jede andere Spit-
zentechnologie. Die Wertschöpfung verschiebt sich der-
zeit in vielen Ländern hin zu forschungsintensiven In-
dustrien und zu wissenschaftlichen Dienstleistungen.
Diese Bereiche tragen erheblich mehr zu Wachstum und
Produktion sowie zu Außenhandel und Beschäftigung
bei als andere Bereiche der Wirtschaft. Gerade in der






(A) (C)



(B) (D)


Johannes Röring
heutigen Zeit können wir es uns nicht erlauben, Arbeits-
plätze in Zukunftsbranchen zu verhindern.

Die Gegner der Grünen Gentechnologie führen stets
an, diese Technologie sei zu wenig erforscht. Sie spre-
chen sogar von einer Risikotechnologie. Nun wollen die
Kollegen von der Fraktion Die Linke mit ihrem Antrag
aber offensichtlich die Kosten der Erforschung, zum
Beispiel der Sicherheitsforschung, anprangern. Irgend-
wie passt das nicht zusammen. Aus meiner Sicht sollten
Sie positiv zur Kenntnis nehmen, dass in Forschung und
Analyse investiert wird. An dieser Stelle wiederhole ich
mein Lob von heute Morgen, dass ich mich sehr darüber
freue, dass das Bundeslandwirtschaftsministerium und
das Bundesforschungsministerium in den nächsten fünf
Jahren Projekte in der Bioenergie-, der Agrar- und der
Ernährungsforschung an Hochschulen und außeruniver-
sitären Forschungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit
Partnern aus der Wirtschaft mit bis zu 200 Millionen
Euro fördern werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Zukunft und nicht nach hinten gerichtet!)


Dabei wird die Grüne Gentechnik eine wichtige Rolle
spielen, denn das in Forschung und Lehre investierte
Geld wird aus volkswirtschaftlicher Sicht einen Nutzen
bringen und kein negativer Kostenfaktor sein. Dass die
Linke von solchen wichtigen volkswirtschaftlichen Zu-
sammenhängen für die zukünftige Entwicklung des
Standortes Deutschland keine Ahnung hat, dokumentiert
sie im Plenum regelmäßig, sodass mich dieser Antrag
nicht verwundert.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das kommt immer, wenn es sonst keine Argumente gibt!)


Im Übrigen, Frau Tackmann, haben Ihre politischen Vor-
bilder mit solchen Überzeugungen ganze Volkswirt-
schaften ruiniert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sollen die volkswirtschaftlichen Kosten einer Tech-
nologie ermittelt werden, ohne sich mit den Chancen
und dem Nutzen zu beschäftigen, hat dies keinen Sinn.
Die Entscheidung für die Grüne Gentechnik ist doch
längst gefallen. Sie wurde auch deshalb positiv getrof-
fen, da diese Technologie nach breiter wissenschaftli-
cher Einschätzung enorme Potenziale besitzt und damit
ein großer volkswirtschaftlicher Nutzen von ihr zu er-
warten ist.

Auch liegt es in der Natur der Sache, dass forschende
Institutionen – ob staatlich oder privat – Innovationen
immer nur mit entsprechenden Vorleistungen auf den
Weg bringen können. Wir stehen weltweit vor großen
Herausforderungen. Bedingt durch die wachsende Welt-
bevölkerung steigt der Bedarf an Lebensmitteln, Roh-
stoffen und Energie in den nächsten Jahrzehnten stark
an; ja, er wird sich sogar verdoppeln.

Ich kann nur immer wieder betonen – auch wenn das
einige von Ihnen nicht wahrhaben wollen –, dass die ver-
fügbare Anbaufläche für landwirtschaftliche Produkte
weltweit pro Erdenbewohner drastisch abnehmen wird.
Sie wird sich laut wissenschaftlichen Prognosen bis zum
Jahr 2050 auf dann 2 000 Quadratmeter pro Erdenbe-
wohner halbieren. Ich glaube, diese Dramatik ist vielen
von Ihnen nicht bekannt. Ich fasse es noch einmal zu-
sammen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir ziehen aber andere Schlussfolgerungen daraus!)


– Die doppelte Menge auf halber Fläche heißt für mich
Faktor 4, Frau Tackmann. Ich weiß nicht, wie Sie das
sonst schaffen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Gleichzeitig müssen wir den großen ökologischen
Herausforderungen wie der CO2-Minderung oder dem
Ersatz fossiler Brennstoffe gerecht werden. Hierbei steht
die Pflanze als zentraler Organismus im Mittelpunkt.
Damit ist es unabdingbar, die Leistungsfähigkeit unserer
Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Landwirt-
schaft entscheidend zu steigern, zum Beispiel für
Pflanzen mit verbessertem Nährstoffgehalt, höherer
Energiedichte, größerer Widerstandsfähigkeit gegen kli-
matischen Stress – zum Beispiel die Eignung für wasser-
arme Standorte – oder Widerstandsfähigkeit gegen
Schädlinge und Krankheiten und damit der Möglichkeit
zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten.

Hierbei wird – das betone ich – die konventionelle
Züchtung sehr stark gefordert sein und die Hauptarbeit
übernehmen müssen. Aber zur Erreichung der oben ge-
nannten Ziele kann die Grüne Gentechnik einen großen
Beitrag leisten. Wir sollten uns daher diese Option nicht
nehmen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Breite Wissenschaftskreise in Deutschland und Eu-
ropa sprechen aus diesem Grund von der Biotechnologie
als einer der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts.
Die Kosten von innovativen Technologien können zu
einem frühen Zeitpunkt keinesfalls für eine volkswirt-
schaftliche Kosten-Nutzen-Analyse herangezogen werden.
Vielmehr gilt es, durch intensive begleitende Forschung die
Nutzungsmöglichkeiten umfassend auszuloten. Es ist
selbstverständlich, dass auch die sicherheitsrelevanten
Fragen mit gleicher Intensität untersucht werden müs-
sen. Der gesamte volkswirtschaftliche Nutzen hängt
letztlich von einer durchgehenden, verantwortungsvol-
len Nutzen-Risiko-Abwägung ab.

Dennoch müssen wir auch die Frage beantworten, wie
hoch die Kosten sein können, die durch die Verhinde-
rung einer solchen Technologie entstehen. Auch diese
Frage muss gestellt werden. Wir haben schließlich in
Deutschland bereits negative Erfahrungen gemacht. Ich
denke zum Beispiel an die Rote Biotechnologie. Hier
wurden in den 70er- und 80er-Jahren fatale Fehlent-
scheidungen getroffen. Deutschland war einst die Apo-
theke der Welt. Aber wir haben auch hier längst den An-
schluss verloren.

Eine Studie der EU-Kommission kam kürzlich zu
dem Ergebnis, dass im Jahr 2005 lediglich sechs von






(A) (C)



(B) (D)


Johannes Röring
140 neu zugelassenen Medikamenten in deutschen Fir-
men entwickelt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis
kam eine Analyse im Rahmen der Hightech-Strategie
der Bundesregierung.

1986 stoppte der damalige hessische Umweltminister
Joschka Fischer den Bau von zwei bereits genehmigten
Anlagen für die Produktion von nebenwirkungsarmem,
biotechnologisch erzeugtem Humaninsulin.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unglaublich!)


1998, 14 Jahre nach der ursprünglichen Genehmigung
und zahlreichen Prozessen vor dem Hessischen Verwal-
tungsgerichtshof, konnte das Unternehmen schließlich
die Produktion aufnehmen. Der Schaden lag im dreistel-
ligen Millionenbereich.

Was noch schlimmer ist: Heute muss der Staat den auf
dem Gebiet der Roten Biotechnologie tätigen Unterneh-
men mit Milliardenbeträgen Unterstützung gewähren,
damit diese den Anschluss nicht für immer verlieren.
Der volkswirtschaftliche Schaden an dieser Stelle ist un-
ermesslich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Der Vertrauensschaden auch!)


Dies darf uns – davon bin ich überzeugt – bei der Grü-
nen Gentechnik nicht passieren. Deshalb setzt sich die
Union nachdrücklich für die Intensivierung der For-
schung zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und der
Standortanpassung von Pflanzen ein. Dies gilt sowohl
für die herkömmlichen Züchtungsverfahren als auch für
die moderne, zukunftsorientierte Pflanzenbiotechno-
logie. Deswegen lehnen wir den Antrag der Linken ab.

Ich bedanke mich für das Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621720700

Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat jetzt

das Wort für die FDP-Fraktion.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1621720800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Röring, ich befürchte, dass der volks-
wirtschaftliche Schaden, den das Wirken der vorange-
gangenen rot-grünen Regierung sowie der jetzigen
schwarz-roten Regierung Deutschland an dieser Stelle
zugefügt hat, schon jetzt sehr hoch ist und dass er, so wie
sich die CSU aufgestellt hat, noch höher werden wird.


(Ulrich Kelber [SPD]: Hier ist doch keiner von der CSU, der sich so aufführt!)


Ich fordere die CDU auf, an ihrem Kurs festzuhalten und
deutlich zu machen, dass wir diese Züchtungsmethode
weltweit und auch in Deutschland brauchen.


(Beifall bei der FDP)


Es ist völlig legitim, nach den Kosten einer Züch-
tungsmethode zu fragen. Ich finde das in Ordnung. Aber,
Frau Kollegin Tackmann, üblicherweise stellt man den
Kosten den Nutzen entgegen.

(Zuruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


– Sie könnten vielleicht bei Ihren Zurufen ab und zu ein
bisschen disziplinierter sein. Aber das ist wohl nicht Ihre
Sache.

Man sollte einen Blick über Deutschlands Grenzen
hinaus werfen und über den Tellerrand schauen. Wir
müssen feststellen, dass diese Züchtungsmethode auf
kontinuierlich zunehmenden Flächen angewandt wird,
inzwischen auf über 125 Millionen Hektar. Das ist drei-
mal so viel wie die Fläche der Bundesrepublik Deutsch-
land. Das ist für zwölf Jahre ein ganz bedeutender Er-
folg. Seit 1996 ist auch die Zahl der Länder, in denen
gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden,
kontinuierlich auf über 20 gestiegen. Weltweit ist die
Zahl der Kulturpflanzen, die mit gentechnischen Metho-
den bearbeitet werden, auf über zehn gestiegen. Genauso
ist die Zahl der Ziele gestiegen, die mit dieser Züch-
tungsmethode verfolgt werden. War es ehemals die Her-
bizidtoleranz, ist es heute die Schädlingsresistenz. Insbe-
sondere die Bt-Sorten stehen im Vordergrund.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist keine Resistenz!)


Mit der Amflora haben wir ein verbessertes Produkt für
die industrielle Verwertung. Ich glaube, dass die Erfolgs-
bilanz dieser Züchtungsmethode sehr eindeutig ist. Sie
löst nicht alle Probleme – das ist mir bewusst, Herr
Kelber –, wohl aber sehr viele. Angesichts der Perspek-
tive, dass wir demnächst 9 Milliarden Menschen auf der
Erde zu ernähren haben, ist es ein Erfolg, wenn wir eine
Züchtungsmethode haben, die die Probleme der Men-
schen auf dieser Erde teilweise lösen kann.


(Beifall bei der FDP)


Es ist ziemlich durchsichtig, wenn die Grünen, die
SPD, die Linke


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CSU!)


und – Frau Kollegin Höfken, Sie haben völlig recht – lei-
der auch die CSU


(Ulrich Kelber [SPD]: Leider sitzt von der CSU hier keiner, der dagegen ist!)


– das stimmt doch überhaupt nicht – immer höhere büro-
kratische Hürden für diese erfolgreiche Züchtungsme-
thode aufbauen, die dem Potenzial möglicher Schäden in
keiner Weise gerecht werden. Ich finde, wir sollten in
diesem Haus endlich den Bericht des International Food
Policy Research Institute zur Kenntnis nehmen, der auf-
zeigt, dass mit dem Anbau von Bt-Baumwolle in Indien
die Zahl der Selbstmorde indischer Bauern deutlich ge-
sunken ist. Ich finde es sehr zynisch, solche Erfolge
kleinzureden, anstatt zu sagen: Eventuell müssen wir un-
sere Position überdenken. – Wir sollten einmal sehen,
wie viele Flächen zusätzlich insbesondere mit Bt-Baum-
wolle bestellt werden, da sich diese Methode bewährt
hat.

Zu Recht weist der Kollege Röring darauf hin, wie
wir die Biotechnologie aus Deutschland vertrieben ha-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christel Happach-Kasan
ben, insbesondere dadurch, dass biotechnologische Insu-
linerzeugung verhindert wurde. Dadurch sind Milliar-
denschäden entstanden. Wer sich heutzutage darüber
beklagt, dass mehr Menschen arbeitslos sind, der muss
auch daran denken, dass er damals eine Technologie aus
Deutschland vertrieben hat, die inzwischen anerkannt ist
und sich bereits hundertfach bewährt hat.

Wenn ich mir heutige Pressemeldungen ansehe, finde
ich es schon bemerkenswert, dass Bundeskanzlerin
Merkel eine Wissenschaftsausstellung eröffnet und dazu
sagt, dass die Grüne Biotechnologie und die neu indus-
triell erzeugten Lebensmittel Auswege versprechen. Sie
macht zwar deutlich, dass wir die Welternährung mit
dieser Technologie verbessern können, ergreift aber
gleichzeitig nicht das Wort, wenn ihre Landwirtschafts-
ministerin ein absolut unsägliches Verbot des Anbaus
von MON 810 ausspricht. Das ist meines Erachtens un-
terirdisch. Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern die
Kanzlerin auf, endlich Flagge zu zeigen.


(Beifall bei der FDP)


Ich freue mich sehr, dass der bayerische Wissen-
schaftsminister seine Stimme erhoben und ganz deutlich
gesagt hat: Ein verantwortungsbewusster Umgang mit
der Grünen Gentechnik setzt weitere intensive For-
schung voraus. – Sehr wohl, Herr Wissenschaftsminister
Wolfgang Heubisch, Sie haben in diesem Bereich abso-
lut recht!

Ich freue mich auch, dass es in der SPD noch vernünf-
tige Stimmen gibt. Die rheinland-pfälzische Umweltmi-
nisterin Margit Conrad von der SPD hat sich immerhin
für den Versuchsanbau der Amflora eingesetzt. Ich finde,
dass es richtig ist, dies zu tun.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: BASF lässt grüßen!)


Denn wir wissen, welche Erfolge wir mit dem Anbau
dieser Kartoffel erzielen können. Sie zu ächten, wie es
von einigen gewollt wird, ist absolut falsch.


(Ulrich Kelber [SPD]: Da haben Sie aber lange gesucht für eine Stimme, oder?)


Ich freue mich, dass mein Kollege Dieter Kleinmann
aus Baden-Württemberg Folgendes deutlich gemacht
hat: Wir sind ein Land, in dem inzwischen über
2 Millionen Hektar Mais stehen. Die Bekämpfung von
Schädlingen beim Mais mit Bt-Pflanzen ist eine sehr
sinnvolle, eine sehr umweltschonende und eine naturver-
trägliche Methode. Ich wünsche mir, dass diese vermehrt
angebaut werden.

Zum Schluss möchte ich –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621720900

Ganz zum Schluss, Frau Happach-Kasan.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1621721000

– Franz Josef Strauß zitieren, an dem Sie sich so er-

freuen:

Dem Menschen aufs Maul schauen, aber nicht nach
dem Mund reden.
Das ist das Gebot der Stunde. Ich fordere Sie auf, da-
nach zu handeln.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721100

Die Kollegin Drobinski-Weiß hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1621721200

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Auf ein Neues: Über
den vorliegenden Antrag der Linken zu den volkswirt-
schaftlichen Kosten der Grünen Gentechnik haben wir
bereits debattiert, und wir, die SPD-Fraktion, haben auch
unsere Gründe dargelegt, warum wir ihn ablehnen.

Zwar halten wir es auch für richtig und wichtig, dass
nach über 20 Jahren Debatte über das Für und Wider der
Grünen Gentechnik endlich systematisch Daten gesam-
melt werden, die eine sozioökonomische Analyse er-
möglichen. Unserer Meinung nach muss aber auf EU-
Ebene angesetzt werden.

Auch das Büro für Technikfolgenabschätzung beim
Deutschen Bundestag hat im Rahmen der Untersuchung
des Projekts „Auswirkungen des Einsatzes transgenen
Saatguts auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
politischen Strukturen in Entwicklungsländern“ zum
wiederholten Male festgestellt, dass eine sozioökonomi-
sche Bewertung der Grünen Gentechnik bisher fehlt und
dringend nottut. Dabei wurde aber auch sehr deutlich ge-
macht, wie schwer es ist, die für eine Gegenüberstellung
des gesellschaftlichen Nutzens und der Kosten nötigen
Daten zu ermitteln. Nach unserer Auffassung muss dies
auf EU-Ebene angegangen werden. Das EU-Zulassungs-
verfahren für GVO-Pflanzen muss um sozioökonomi-
sche Aspekte erweitert werden.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es reicht nicht aus, die wissenschaftliche Kompetenz
der zuständigen Behörden zu stärken und die Transpa-
renz zu erhöhen. Vielmehr müssen die wirtschaftlichen
und die sozialen Auswirkungen der Einführung eines
neuen GVOs, die ökologischen Effekte des GVO-An-
baus im Gesamtsystem und die Akzeptanz sowie die
Kontrollmöglichkeiten in die Entscheidung mit einbezo-
gen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Vor einer Zulassung sollten Aspekte wie die mögliche
Gefährdung traditioneller Anbauformen, die Auswir-
kung auf Naturschutzgebiete und Kulturlandschaften so-
wie die Folgen für einzelne Landwirte, den Wettbewerb
und ganze Regionen geprüft und in einer Folgenabschät-
zung bewertet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Elvira Drobinski-Weiß
Eine Bewertung auch unter Einbeziehung der gesell-
schaftlichen Kosten könnte dafür sorgen, dass die Mittel
angesichts knapper Kassen effektiv eingesetzt werden.

Nach der derzeitigen EU-Zulassungsregelung muss
der Verdacht auf mögliche Umwelt- oder Gesundheitsri-
siken durch naturwissenschaftliche Studien untermauert
werden, damit sie in die Bewertung einfließen können.
Aber für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Nutzen eines GVO-Konstruktes muss es keinerlei Nach-
weis bzw. keine Untersuchung geben. Das müssen wir
ändern, wenn wir die Diskussion auf eine sachliche Ba-
sis stellen wollen, und das wollen wir.

Die CSU in Bayern hat nun ganz plötzlich ihre ethi-
schen Bedenken gegen den Einsatz der Grünen Gentech-
nik entdeckt, allerdings nur in Bayern. Während dort
sogar von einem Eingriff der Unternehmen in die Schöp-
fung die Rede ist, sieht die CSU in Berlin die Grüne
Gentechnik als große Chance, die vorangebracht werden
muss. Wie wir gerade gehört haben, trifft das nicht nur
für die CSU zu.

Jegliche Kritik wird als Bedrohung für den Wirt-
schaftsstandort Deutschland abgeschmettert. Wir wollen
einen klaren Kurs in der Gentechnik. Wir wollen im
Rahmen des EU-Zulassungsverfahrens eine Bewertung
des Nutzens und der Risiken von GVO auf breiter Basis,
auf einer Basis, die auch ökologische, soziale und wirt-
schaftliche Auswirkungen stärker berücksichtigt. Das ist
derzeit nicht der Fall. Deshalb muss die Bundesregie-
rung sich dafür starkmachen, dass nach dem MON-810-
Verbot auch die Zulassung der GVO-Maissorten Bt 11
und 1507 verhindert wird.

Die Entscheidung hierüber steht in Kürze an. Wir sa-
gen Ministerin Aigner unsere Unterstützung zu. Die
Grüne Gentechnik darf den Bürgerinnen und Bürgern
nicht aufgezwungen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721300

Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621721400

Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Lassen wir den Grundsatzstreit über die
Agro-Gentechnik beiseite. Der Antrag der Linken ver-
langt doch eigentlich etwas Selbstverständliches: die Er-
mittlung und Offenlegung der volkswirtschaftlichen
Kosten der Agro-Gentechnik. Ich verstehe nicht, dass
man dem nicht zustimmen kann. Selbst diejenigen, die
davon ausgehen, dass der Anbau von gentechnisch ver-
änderten Pflanzen keine Mehrkosten für die Volkswirt-
schaft verursacht, müssten doch eigentlich zustimmen,
damit ihre Auffassung bestätigt wird. Das Gleiche gilt
für die Gegenseite, die gegebenenfalls auch bestätigt
werden würde.

(Beifall bei der LINKEN)


Die Relevanz dieses Themas ist eindeutig. Das zeigt
der vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft vor-
gelegte Schadensbericht Gentechnik. Zusätzliche Kosten
entstünden zum Beispiel bei der Trennung von Ernte-,
Transport- und Verarbeitungstechnik, die ohne Agro-
Gentechnik gar nicht nötig wäre. Die Produktionskosten
steigen zum Beispiel durch Entnahme und Analyse von
Proben zur Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit und
der Kennzeichnung.

Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen
der Verfügbarkeit von gentechnisch unverändertem Saat-
gut und dem Preisniveau. Die Beispiele Soja und Mais
machen das deutlich: In einigen großen Anbauländern ist
fast kaum noch gentechnisch unverändertes Saatgut ver-
fügbar. Die Erträge stiegen dort in den vergangenen
30 Jahren um den Faktor 1,7. Die Saatgutpreise stiegen
dagegen um stattliche 500 Prozent. Im Gegensatz dazu
stellt sich die Lage bei Reis oder Weizen dar, für die es
derzeit keine gentechnisch veränderten Sorten auf dem
Markt gibt: Die Saatgutpreise und die Ertragssteigerun-
gen halten sich auf dem gleichen Niveau.

Noch eine eindrucksvolle Zahl aus dem Bericht: Auf
bis zu 1,285 Milliarden US-Dollar wird der Schaden ge-
schätzt, der im Jahr 2006 durch die illegale Verbreitung
der gentechnisch veränderten Reissorte LL 601 über die
ganze Welt entstanden ist. Das war ein Super-GAU. Nun
misstrauen manche einem solchen Bericht allein schon
deswegen, weil er von einem Ökoverband stammt. Nur:
Diejenigen müssten doch erst recht unserem Antrag zu-
stimmen, damit das behördlich festgestellt wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Aus Sicht der Linken ist es durchaus plausibel, dass
Agro-Gentechnik die gentechnikfreie Landwirtschaft
und Imkerei verteuert.

Das ist auch völlig unnötig; denn sie wird nicht ge-
braucht und von kaum jemandem gewollt – außer von
ein paar Agrar- und Saatgutkonzernen, die sich mit dem
Patentrecht die Kassen etwas schneller füllen. Es lässt
sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass mit der Agro-
Gentechnik einige wenige sehr viel Geld auf Kosten sehr
vieler verdienen.

Mit unserem Antrag fordern wir einfach Klarheit,
auch für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Das ist
doch die ureigene Aufgabe des Parlaments. Es ist doch
wichtig, zum Beispiel zu hinterfragen: Wie viele Proben
müssen Imkerinnen und Imker untersuchen lassen, um
sicher zu sein, dass ihr Honig frei von Genpollen ist?
Wie lange dauert die Reinigung von Erntemaschinen,
um zu sichern, dass dort kein Genmais mehr enthalten
ist? Welche logistischen Schwierigkeiten entstehen bei
der Lebensmittelproduktion, wenn transgenes von kon-
ventionellem Soja getrennt werden muss? Solche Fragen
sind absolut legitim und gehören zu einer Diskussion
über diese Risikotechnologie.

Die Ermittlung der zusätzlichen Kosten ist außerdem
die Voraussetzung dafür, dass die Verursacher sie auch
tragen. Damit meine ich vor allen Dingen die Saatgut-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Kirsten Tackmann
konzerne; denn vor allem sie profitieren vom Anbau und
sollten für die volkswirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Kosten aufkommen.


(Beifall bei der LINKEN)


In zweiter Linie meine ich allerdings auch die Land-
wirtschaftsbetriebe, die genetisch veränderte Pflanzen
anbauen. Da unser Antrag die Kosten für die gesamte
Volkswirtschaft erst einmal nur ermitteln und offenlegen
will, kann man ihm eigentlich nur zustimmen, es sei
denn, man will diese Wahrheit einfach nicht wissen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Zustimmung der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721500

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Ulrike Höfken

das Wort.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Man kann nur sagen: In der CDU/CSU
herrscht fortgeschrittener Spaltungsirrsinn; anders kann
man das nicht bezeichnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer hat eigentlich heute Morgen geredet? Stichwort
Humaninsulin – gebetsmühlenartig wird davon gespro-
chen –: Die entsprechenden Gesetze sind in Hessen, und
zwar zu Recht, gestoppt worden; denn man braucht zu-
nächst Regeln für die Produktion von Gentechnik in ge-
schlossenen Systemen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben diese Gesetze auch in Ihrer Regierungszeit un-
terstützt. Ich möchte einmal sehen, wie die Bundeslän-
der, in denen Sie regieren, auf die Barrikaden gehen,
wenn Sie gegen gesetzliche Regelungen eintreten. So ein
Schwachsinn!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nun einmal so, dass wir nicht deswegen Milliar-
denschäden haben, weil wir Gesetze verabschiedet ha-
ben, sondern weil es durch die Agro-Gentechnik zu Kon-
taminationen, zu Verunreinigungen, die Frau Tackmann
erwähnt hat, gekommen ist: bei Reis, bei Zucchini, bei
Honig. Ich verweise auf die Kontrollen, auf die Untersu-
chungen, auf die Bürokratie und die Milliardensubven-
tionen. Zur Hightech-Strategie von Ministerin Schavan
– darüber habe ich schon heute Morgen gelästert; ich
kann es mir nicht verkneifen – gehört auch die Entwick-
lung von Weihnachtssternen, und zwar unter dem Etikett
„Sicherheitsforschung“. Gefördert wird das Unterneh-
men Klemm + Sohn mit 270 000 Euro. Das gehört wahr-
scheinlich nur deswegen zu Deutschlands Hightech-Stra-
tegie, weil ein Mitglied dieser Firma im Vorstand des
Verbandes der Pflanzenzüchter sitzt.
Wir fordern dazu auf – darin unterstützen wir die Linke –,
diese Kosten offenzulegen. Wir wollen allerdings – das
unterscheidet uns von der Linken – nicht auf die Bewer-
tungen durch die Bundesregierung selbst vertrauen; denn
wir sind einigermaßen misstrauisch, wenn Behördenver-
treter gemeinsam mit Mitarbeitern der Gentechnikindus-
trie wissenschaftliche Artikel veröffentlichen, in denen
sie ankündigen, die Risikoprüfung – entgegen den gelten-
den Gesetzen – „schnell und kostengünstig“ zu vereinfa-
chen. Es sind zumindest einige Fragezeichen erlaubt, ob
eine Bewertung vonseiten dieser Behörden selbst richtig
wäre.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Man kann das ja korrigieren!)


– Ich schließe mich der in dem Bericht zur Technikfol-
genabschätzung gestellten Forderung an: Wir wollen
eine unabhängige Evaluation. Wir warten darauf, dass
sich die Bundesregierung dieser Forderung endlich an-
schließt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721700

Frau Kollegin Höfken, Ihre Kollegin Cornelia Behm

möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zu-
lassen?


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist wirklich wieder ein Filibuster hier! Vier Minuten sind vier Minuten!)



Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721800

Bitte. – Ich bin gespannt. Sie nicht?


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621721900

Ich bin jetzt über eine Aussage gestolpert, Frau

Höfken. Sie haben die Behördenvertreter erwähnt, die
mit der Industrie zusammen agieren. Das irritiert mich.
Vielleicht können Sie Ihre Aussage noch etwas stärker
untersetzen. Ich habe auch einmal in einer Behörde gear-
beitet. Auch Frau Aigner verlässt sich bei ihren Ent-
scheidungen auf Behörden. Da muss doch Transparenz
sein. So etwas kann doch nicht passieren. Können Sie
das vielleicht klarstellen?


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621722000

Es ist natürlich von Wichtigkeit, inwieweit die Be-

wertungen, die jetzt zu den Entscheidungen geführt ha-
ben, tragfähig sind, und natürlich ist auch wichtig, in-
wieweit die Bundesregierung zu ihrer Haltung steht.

Ich habe heute Morgen angesprochen, dass ich ges-
tern in Mecklenburg-Vorpommern war.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gestern? In der Sitzungswoche? Das finde ich bemerkenswert!)


Man muss sich einmal genau vor Augen führen, was dort
passiert. Dort gibt es zwei Personen, nämlich Kerstin
Schmidt und die Professorin Inge Broer, die – da werden
die Verflechtungen eben deutlich – in einer Vielzahl von
sich ergänzenden Funktionen auftreten. Einerseits tritt
Frau Professor Broer, Professorin an einer Universität,






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Höfken
als Anmelderin von gentechnischen Freisetzungen auf.
Gleichzeitig gehört sie dem Gentechnikgremium des
Bundesinstituts für Risikobewertung an, das an der Ge-
nehmigung solcher Versuche beteiligt ist. Zugleich ist
Frau Professor Broer finanziell beteiligt an Firmen wie
Biovativ, ebenso aber auch an zahlreichen Patentanmel-
dungen, wiederum in Verbindung mit der Bayer AG oder
auch der Hoechst AG.


(Ulrich Kelber [SPD]: Was für ein Zufall, dass Sie die Antwort auf die „spontane“ Frage schon auf dem Zettel stehen haben!)


Man sieht dann eben auch die engen Verbindungen zu
dem AgroBioTechnikum in Groß Lüsewitz, das wie-
derum finanziert wird – da sind wir genau wieder bei
dem Punkt der Subventionen; hier geht es nur um die
verhältnismäßig kleine Summe von 9 Millionen Euro –
durch EU, Bund und eben auch das Land Mecklenburg-
Vorpommern. Es gibt weitere Verbindungen zu einer
Vielzahl von Forschungs- und Förderungsaktivitäten,
zum Beispiel zu einem Schüler-Gentechniklabor, das
von dem Verein FINAB initiiert wurde. Solche Verflech-
tungen haben wir aber nicht allein an diesem Standort.
Wir haben ja noch andere, zum Beispiel Gatersleben.


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ist das die Antwort auf die Frage?)


Interessant wäre, den Ministerpräsidenten von Sachsen-
Anhalt, Herrn Böhmer, einmal einzuladen, der gesagt
hat, mit den 65 Millionen, die vom Land Sachsen-Anhalt
in die Agro-Gentechnik geflossen sind, seien verdammt
wenig Arbeitsplätze entstanden.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich meine, damit ist die Frage beantwortet!)


Selbst Herr Böhmer, der Ministerpräsident, sagt, er
möchte nicht in der Zeitung lesen, welche Gelder die lei-
tenden Angestellten dieses Bereiches bekommen haben.

So viel zur Beantwortung der Frage. Ich glaube, das
ist ein Bereich, der noch intensiv vertieft werden kann.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aber nicht heute Abend!)


Zu der Diskussion von heute Morgen, die Sicherstel-
lung der Welternährung erfordere eine Steigerung der
Produktivität in der Landwirtschaft, möchte ich noch er-
wähnen: Die heute Morgen beschriebenen Chancen sind
Märchen, die schon 2004 von der FAO, aber jetzt auch
noch einmal in einer aktuellen Studie widerlegt worden
sind. Die Studie aus den USA – 20-jährige Forschung,
Auswertung eines 13-jährigen kommerziellen Anbaus in
den USA – kommt zu dem Ergebnis, dass in den USA
angebauter Genmais und gentechnisch veränderte Soja-
sorten keinesfalls höhere Erträge liefern als konventio-
nelle Sorten. Man könnte – dazu reicht meine Redezeit
nicht – noch eine Vielzahl solcher Märchen ansprechen.
Letztendlich kommen wir immer zum gleichen Schluss.

Es ist wichtig, die durch die Agro-Gentechnik verur-
sachten Kosten auch denen anzulasten, die diese anwen-
den wollen – das ist verursachergerecht –, und nicht dem
Ökolandbau, der mit seinen 150 000 Arbeitsplätzen viel
mehr Arbeitsplätze als die Agro-Gentechnik mit ihren
500 bietet, der durch die Agro-Gentechnik aber in Ge-
fahr gerät. Wir brauchen also eine Veränderung bei der
Kostenbelastung durch die Agro-Gentechnik.

Ich warte auf eine vernünftige Evaluation dieses Be-
reiches, damit wir dann vielleicht endlich einmal ge-
meinsam zu anderen Bewertungen kommen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621722100

Jetzt hat der Kollege Ulrich Kelber das Wort für die

SPD-Fraktion.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1621722200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegin Höfken, bei aller inhaltlichen
Gemeinsamkeit beim Thema Gentechnik: Sich eine
„spontane“ Frage stellen zu lassen und dann die Antwort
vom Zettel abzulesen, das ist aus meiner Sicht ein Miss-
brauch des Parlaments. Das tut man nicht. Das schadet
auch dem gemeinsamen Anliegen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Heute Mittag gab es die Aktuelle Stunde. Es ist gut,
dass wir über dieses Thema sprechen. Stichwort jetzt:
volkswirtschaftliche Kosten. Wenn man diese betrachtet,
darf man nicht nur über die eigene Volkswirtschaft spre-
chen. Ich tue das deswegen gern, weil ich vor der Oster-
pause die Chance hatte, einige Tage in Sambia bei einer
Kleinbauernfamilie zu leben und zu arbeiten und danach
zu einer Konferenz über agrarische Entwicklung, Welt-
handel und Gentechnik zu fahren. Da hat man was er-
lebt.

Als die Bundesrepublik Deutschland die Entschei-
dung getroffen hat, den Mais MON 810 nicht anbauen
zu lassen, haben wir erlebt, dass deswegen der deutsche
Botschafter einbestellt wurde. Können Sie sich das auch
bei einer anderen Entscheidung von ähnlicher monetärer
Größenordnung vorstellen? Sicherlich nicht. Das hat mit
dem Ziel zu tun: der Monopolisierung von Lebensmit-
teln, der Monopolisierung von Saatgut, der Monopolisie-
rung von Landwirtschaft.

Etwas Ähnliches ist in Sambia passiert. Dort hat die
katholische Kirche so lange Druck auf die Regierung
ausgeübt, bis diese ein Einfuhr- und Anbauverbot für
gentechnisch veränderte Organismen ausgesprochen hat.
Daraufhin hat der damalige Außenminister der Vereinig-
ten Staaten von Amerika persönlich im Vatikan angeru-
fen und gebeten, die katholischen Priester in Sambia zu
stoppen. Das zeigt die strategische Bedeutung, die die-
sem Thema beigemessen wird. Es geht darum, einen
ganzen Bereich für ein Land, für eine bestimmte Firma
zu monopolisieren. Das wird volkswirtschaftliche Kos-
ten ungeahnter Größenordnung für den wichtigsten Be-
reich, nämlich die Ernährung von Menschen, nach sich
ziehen; das ist nicht zu akzeptieren.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
Ich habe nun eine Bitte an das Landwirtschaftsminis-
terium, die Ministerin oder an die Staatssekretäre. Ich
habe hier leider nur eine kleine eigene Auswahl von
Schreiben. Die Kenntnisnahme biete ich Ihnen, Frau
Happach-Kasan, aber auch den Kollegen der CDU und
der CSU an. Herr Seehofer kann sie Ihnen ebenfalls zur
Verfügung stellen.

Als wir das Gentechnikgesetz novelliert haben, ist öf-
fentlich nur von Herrn Hipp gesprochen worden, der
nämlich gesagt hat: Wenn der Anbau von solchen Pflan-
zen in diesem Land zunimmt, muss ich dieses Land ver-
lassen, um meinen Kunden ein bestimmtes Produkt an-
bieten zu können. – Wer ein bisschen eingeweiht ist,
weiß – Peter Bleser, du kannst das bestätigen, denke ich,
weil du an Sitzungen teilgenommen hast, in denen das
erwähnt wurde –, dass dies nicht die einzige Firma war,
die sich bei uns gemeldet hat. Auch viele andere nam-
hafte Lebensmittelproduzenten in Deutschland, große
Firmen, haben sich gemeldet.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Andere haben die Werbemöglichkeit auch genutzt!)


Sie haben allerdings gesagt: Wir gehen nicht wie Herr
Hipp in die Öffentlichkeit, weil wir den Namen unserer
Firma nicht in einem Atemzug mit der Grünen Gentech-
nik genannt haben wollen, weil sich die Menschen nach-
her vielleicht falsch erinnern. – Es war das Who’s who
der deutschen Lebensmittelwirtschaft. Sie haben gesagt:
Uns geht es um die Rohstoffversorgung für unsere Le-
bensmittel. Wir sind bereit, dieses Land zu verlassen,
wenn wir hier nicht in der Lage sind, gentechnikfreie
Rohstoffe zu beziehen.

Ich glaube, dass Sie sich unter Zusage der Einhaltung
der Vertraulichkeit diese Schreiben im Ministerium an-
sehen können. Sie werden erstaunt sein, zu erfahren, was
das für die Volkswirtschaft hier bedeutet.

Noch einmal zur Hightech-Strategie und zur Menge
des Geldes, das in den nächsten Jahren in den Lebens-
mittelbereich, in die Agrarforschung investiert wird. Ich
bin der Meinung, dass wir als Bundesrepublik Deutsch-
land deutlich zu wenig Geld in die Agrarforschung in-
vestieren.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn investiert wird, sollte das in einer Technologieof-
fenheit geschehen. Es geht nicht an, dass wir dann festle-
gen: 95 Prozent des Geldes gehen in die Lösung des Pro-
blems durch Grüne Gentechnik und eben nicht in
integrierten Anbau, nicht in Smart Breeding und nicht in
konventionelle Züchtung.

Das hat einen einfachen Grund. Es gibt typische Kul-
turpflanzen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland
von den Alpen bis zum Meer anpflanzen. Wir pflanzen
aber nicht eine Sorte an. In den Mittelgebirgen Baden-
Württembergs, liebe Elvira Drobinski-Weiß, werden an-
dere Sorten angebaut als in der Jülicher Börde, meiner
Heimat, im Rheinland, mit den wesentlich besseren Bö-
den. Wenn es aber zu gentechnisch veränderten paten-
tierten Pflanzen kommt, wird in der Regel nur eine Sorte
angeboten, die über viele Jahre nicht mehr verändert
werden kann, die zum Teil schon uralt ist, wenn sie auf
den Markt kommt. Demgegenüber können konventionell
gezüchtete Pflanzensorten, in die ebenfalls Trockenresis-
tenz, Salzresistenz oder Hochwasserresistenz hineinge-
züchtet werden können, sofort an die verschiedenen Ni-
schen und die unterschiedlichen Kulturräume unserer
Heimat angepasst werden. Das ist der Unterschied.

Noch einmal zum aktuellen Verbot der Maissorte der
Firma Monsanto. Der Landwirt, der diese Maissorte
kennt, wundert sich nicht darüber, dass sie auf den
Äckern geringere Erträge liefert als moderner konventio-
nell gezüchteter Mais.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Warum bauen die Landwirte ihn dann an?)


Dafür gibt es nämlich einen einfachen Grund. Die Mais-
sorte ist eigentlich 15 Jahre alt; damals hat ihr die Firma
Monsanto eine Eigenschaft, nämlich die Produktion ei-
nes Pestizids, aufgestülpt. In den letzten 15 Jahren hat
sich aber der Ertrag der Maissorten um etwa 2 bis 3 Pro-
zent pro Jahr erhöht. Deswegen haben die konventionel-
len, der Gemeinschaft gehörenden Maissorten, die heute
auf dem Markt angebaut werden, ein höheres Ertragspo-
tenzial als alle Maissorten, die aus den Gentechniklabo-
ren stammen.

Es geht darum, eine Dinosauriertechnologie, die die
Monopolisierung unserer Lebensgrundlagen zum Ziel
hat, nicht zum Zug kommen zu lassen. Das sollte weiter-
hin Politik in Deutschland sein.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621722300

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Volkswirtschaftli-
che Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenle-
gen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/10578, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7903 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-
empfehlung bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-

(Kinderschutzgesetz)


– Drucksache 16/12429 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist eine
dreiviertelstündige Debatte vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich unserer
Kollegin Maria Böhmer herzlich zum Geburtstag gratu-
lieren. Ich finde es sehr erfreulich, dass sie ihn heute
Abend hier mit uns verbringt. Das muss ausdrücklich ge-
würdigt werden.


(Beifall – Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin: Danke schön, Frau Präsidentin!)


Als Erster in dieser Debatte hat der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Hermann Kues für die Bundesregie-
rung das Wort.

Dr
Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1621722400


Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Mit dem Kinderschutzgesetz setzen wir Maßstäbe
für den Kinderschutz in Deutschland. Wir sind alle stets
aufs Neue von Fällen extremer Kindeswohlgefährdung
erschüttert, die uns immer wieder in dramatischer Weise
vor Augen geführt haben, dass wir unsere Anstrengun-
gen für Kinder in Not weiter verstärken müssen. Die
Analyse solcher Fälle zeigt uns Schutzlücken auf, die es
zu vermeiden gilt; denn diese Lücken haben Kindern das
Leben gekostet.

Gefährdete Kinder drohen vor allem dann durchs
Netz zu fallen, wenn verschiedene Systeme oder Organi-
sationen zusammenarbeiten und ihren Schutz sicherstel-
len müssen. Das nehmen wir auch auf Ebene der poli-
tisch Verantwortlichen sehr ernst. Der Schutz von
Kindern und Jugendlichen ist eine Aufgabe, die Bund
und Länder in gemeinsamer Verantwortung wahrneh-
men. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der
Länder haben deshalb auf ihrer Konferenz am 12. Juni
2008 gemeinsam ein Programm zur Verbesserung des
Kinderschutzes in Deutschland erarbeitet. Mit dem Ent-
wurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschut-
zes liefern wir einen zentralen Baustein, um die Be-
schlüsse der Kanzlerin und der Länderchefs in die Praxis
zu überführen.

Das Kinderschutzgesetz soll als Bundesrecht die ge-
meinsamen Beschlüsse umsetzen, wonach erstens ge-
setzliche Regelungen dafür Sorge tragen müssen, dass
der Datenschutz den Kinderschutz nicht behindert,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und zweitens jedes gefährdete Kind persönlich durch
eine Fachkraft in Augenschein genommen werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Einen zentralen Schwerpunkt des Gesetzentwurfes
bildet deshalb die ausdrückliche Befugnisnorm für Be-
rufsgeheimnisträger zur Weitergabe von Anhaltspunkten
für eine Kindeswohlgefährdung. Insbesondere für Ärzte
und Beratungsfachkräfte entsteht dadurch Sicherheit,
wie sie damit umgehen, wenn sie bei einem Kind Hin-
weise auf Misshandlung oder Vernachlässigung feststel-
len. Sicherheit im Umgang mit relevanten Wahrnehmun-
gen ist für einen relevanten Kinderschutz unerlässlich.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Im Gesetzentwurf ist daher vorgesehen, Gefährdungs-
hinweise für eine Beratung der Eltern zu nutzen und ih-
nen Unterstützung anzubieten. Ärzte wie auch andere
Berufsgeheimnisträger können dabei externe Fachbera-
tung in Anspruch nehmen. Erst wenn solche Bemühun-
gen bei den Eltern erfolglos bleiben, ohne dass die Be-
fürchtung einer Gefährdung ausgeräumt ist, dürfen die
erforderlichen Daten an das Jugendamt weitergegeben
werden. Gleiches gilt im Übrigen, wenn die Einbezie-
hung der Eltern dem Schutz des Kindes widerspricht.

Werden Informationen auf dieser Grundlage weiter-
gegeben, müssen Berufsgeheimnisträger künftig nicht
mehr befürchten, wegen Bruchs der Schweigepflicht
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Insofern sorgt dieses Gesetz für Klarheit. Wir weisen da-
mit den Weg, wie Kinderschutz gelingen kann, ohne die
Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patienten zu
zerstören. Stattdessen nutzen wir diese Vertrauensbezie-
hung für den gezielten Schutz von Kindern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Gesetzentwurf regelt auch die Weitergabe von
Gefährdungshinweisen durch Angehörige solcher Be-
rufsgruppen, die Kinder und Jugendliche ausbilden, er-
ziehen und betreuen. Kinder und Jugendliche sind näm-
lich darauf angewiesen, dass die Personen
Verantwortung übernehmen, die sie jeden Tag sehen und
erleben, die Veränderungen im Verhalten wahrnehmen
und ihre Entwicklung aufmerksam verfolgen. Diese Per-
sonen haben als Erste und manchmal als Einzige außer-
halb der Familie die Möglichkeit, gewichtige Anhalts-
punkte für Gefährdungen von Kindern wahrzunehmen.
Für sie besteht bislang große Unsicherheit, wie sie mit
solchen Hinweisen umgehen sollen und dürfen. Deswe-
gen geben wir mit diesem Gesetzentwurf Antworten.
Auch diese Personen werden dazu aufgerufen, mit den
Eltern eines gefährdeten Kindes in Kontakt zu treten.
Zur Klärung der Kindeswohlgefährdung können sie ex-
terne Fachberatung in Anspruch nehmen. Wird über
diese Zugänge der Schutz eines Kindes nicht sicherge-
stellt, so dürfen die erforderlichen Hinweise dem Ju-
gendamt übermittelt werden.

Mit diesen gesetzlichen Regelungen zur Zusammen-
arbeit im Kinderschutz werden wir künftig die Sensibili-
tät der betroffenen Berufsgruppen für Hinweise auf eine
Kindeswohlgefährdung schärfen und ihre Bereitschaft
zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch das führt zu Rechtssicherheit. Die notwendige
Rechtssicherheit kann nur über eine bundeseinheitliche
Rechtslage geschaffen werden. Ob und wie ein Kind am






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
besten geschützt wird, kann und darf nicht davon abhän-
gen, ob es an der Nordsee oder in den Alpen aufwächst.
Das muss in Deutschland einheitlich geregelt werden.
Einigkeit zwischen Bund und Ländern besteht auch über
die Notwendigkeit, die Pflichten des Jugendamtes bei
der Wahrnehmung des Schutzauftrages konkreter zu fas-
sen.

Wir setzen das um, was zwischen Bundeskanzlerin
und Länderchefs politisch abgesprochen wurde. Tragi-
sche Fälle offenbaren immer wieder Lücken und Defi-
zite bei der Einschätzung der Gefährdung des Kindes-
wohles. Dies gilt insbesondere für kleine Kinder, bei
denen eine Gefährdung in kürzester Zeit zu einer Frage
von Leben und Tod werden kann. Nehmen die Fach-
kräfte des Jugendamts das Kind nicht selbst in Augen-
schein, lassen sie sich vertrösten und vertrauen den un-
zuverlässigen Eindrücken Dritter, kann es ganz schnell
zur Katastrophe kommen. Das ist leider keine Theorie,
sondern eine schreckliche Erfahrung, etwas, was wir im-
mer wieder erleben. Deswegen muss der Hausbesuch als
Regelfall gesetzlich festgeschrieben werden. Das
Schutzbedürfnis gerade der Kleinsten gebietet es in den
allermeisten Fällen, dass Fachkräfte das gefährdete Kind
und dessen persönliches Umfeld in Augenschein neh-
men.

Der Gesetzentwurf berücksichtigt selbstverständlich
auch die Ausnahmefälle, in denen ein Hausbesuch den
wirksamen Schutz des Kindes infrage stellen würde. In-
sofern laufen die kritischen Kommentare ins Leere. Ein
Hausbesuch muss nicht unter allen Umständen durchge-
führt werden; gerade wenn die Gefahr besteht, dass da-
durch die Dinge eskalieren – das kann zum Beispiel bei
sexuellem Missbrauch der Fall sein –, kann auf den
Hausbesuch verzichtet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es wird jedoch festgelegt, dass sich die Fachkräfte in der
Regel einen unmittelbaren Eindruck von Kind und El-
tern verschaffen müssen. Wir müssen hier Mut zu einem
aktiven und offensiven Kinderschutz haben. Hierfür ist
auch der persönliche Kontakt mit betroffenen Familien
notwendig.

Das Gleiche gilt im Prinzip für das Phänomen des Ju-
gendamt-Hoppings durch Umzüge. Ziehen Eltern um,
dürfen Informationen über die Gefährdung ihres Kindes
nicht auf der Strecke bleiben. Das gilt unabhängig da-
von, ob der Verlust der Informationen von den Eltern be-
absichtigt wird oder nur unerwünschte Folge eines Um-
zugs ist. Deshalb regeln wir verbindlich, dass beim
Wohnortwechsel einer Familie die erforderlichen Daten
dem neuen Jugendamt übermittelt werden müssen. Dies
wird künftig in einem gemeinsamen Gespräch der Fach-
kräfte unter Beteiligung der Eltern und ihres Kindes er-
folgen. Häufig stellt sich erst im Gespräch heraus, wel-
che Schwierigkeiten in einem Fall vorhanden sind und
welche Konsequenzen gezogen werden müssen. Solche
Informationen entziehen sich oft einer schriftlichen Do-
kumentation. Wenn diese Informationen verloren gehen,
beeinträchtigt das den Kinderschutz. Mit der ausdrückli-
chen Regelung zur Fallübergabe werden wir unser ge-
meinsames Anliegen einer nachhaltigen Qualifizierung
der Fallübergabe in Kinderschutzfällen erreichen.
Als verbesserungswürdig sehen wir schließlich auch
den präventiven Schutz von Kindern und Jugendlichen
in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe an. Auch
in solchen Institutionen kommt es vor, dass sich Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter in ihrem unmittelbaren Kon-
takt zu Kindern und Jugendlichen fehlverhalten. Häufig
wird aufgrund falsch verstandener Kollegialität von kri-
tischen Fragen und offener Diskussion abgesehen. Wird
dieses Thema jedoch tabuisiert, sind betroffene Kinder
und Jugendliche zusätzlich gefährdet.

Um diesen präventiven Schutz zu stärken, wird mit
der Änderung des Bundeszentralregistergesetzes ein mit
Blick auf den Kinder- und Jugendschutz erweitertes
Führungszeugnis für kinder- und jugendnah Beschäftigte
eingeführt. Künftig kann auch von strafrechtlichen Ver-
urteilungen mit besonderem Bezug zur Gefährdung jun-
ger Menschen Kenntnis genommen werden, die bislang
nicht in Führungszeugnissen enthalten waren. Das Kin-
der- und Jugendhilferecht verweist auf die Möglichkei-
ten des Bundeszentralregisters, dass das erweiterte Füh-
rungszeugnis vorgelegt werden muss, wenn es um eine
Beschäftigung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe
geht. Ich finde, auch das gehört zur Prävention.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bund und Länder sind sich einig: Wir wollen neue
Maßstäbe für einen wirksamen Kinderschutz in Deutsch-
land setzen. Mit dem Kinderschutzgesetz haben wir uns
auf den Weg gemacht. Das Kinderschutzgesetz stellt ei-
nen wichtigen Schritt zur Verbesserung des Kinderschut-
zes dar. Wir fordern Verantwortlichkeit nicht nur ein,
sondern wir geben auch Wege vor, wie diese Verantwor-
tung wahrgenommen werden kann. Wir präzisieren Vor-
schriften und den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag.
Ich möchte Sie deshalb ganz herzlich bitten, diese Fort-
schritte zu unterstützen und aktiv für das Gesetz einzu-
treten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621722500

Miriam Gruß ist die nächste Rednerin für die FDP-

Fraktion.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1621722600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Es ist wichtig und richtig, dass wir uns
heute mit diesem Thema befassen.

Gleich einmal ein Lob vorweg – so viel dazu, dass die
Opposition konstruktiv ist –: Die Idee, dieses Gesetz
Kinderschutzgesetz zu nennen, finde ich sehr gut. In un-
serem politischen Alltag erleben wir allzu oft, dass Ge-
setze auf den Markt kommen, deren Titel kein Mensch
versteht, bei denen niemand weiß, was eigentlich dahin-
tersteckt. Es ist gut und richtig, dass bei diesem wichtigen
Thema, das alle Bevölkerungsschichten angeht – alle
Kinder und Jugendlichen ebenso wie alle Erwachsenen
in diesem Land –, ein solcher Titel gewählt wurde.
Nichtsdestotrotz habe ich in Ihrer Rede, Herr Kues, das






(A) (C)



(B) (D)


Miriam Gruß
Herzblut vermisst. Ich glaube, dass wir bei diesem
Thema noch tiefgründiger sein müssen. Wir müssen zum
Ausdruck bringen, dass es uns an die Nieren geht, wenn
wir von diesen Fällen hören oder darüber lesen.


(Beifall bei der FDP)


Es ist ein sehr ernstes Thema, mit dem wir uns intensiv
befassen müssen. Aus diesem Grund hat sich die Oppo-
sition mit dem vorliegenden Entwurf eingehend befasst.
Wir haben ebenso wie andere Fraktionen in der Aus-
schusssitzung angeregt, dass wir uns mit diesem Thema
noch intensiver beschäftigen und eine Expertenanhörung
durchführen. Ich glaube, das ist nötig, weil noch viele
Fragen offen sind.

Ich möchte einige Punkte ansprechen, die aus unserer
Sicht zu hinterfragen sind:

Ich beginne mit der Prävention. Uns gehen die Vor-
schläge zur Prävention noch nicht weit genug. Es ist
wichtig, dass das Gesetz nicht erst wirkt, wenn es schon
lichterloh brennt, wenn es quasi schon zu spät ist; die
derzeitigen Vorschläge scheinen aber darauf hinauszu-
laufen. Wir sind der Meinung, dass die Prävention die
Maxime allen Handelns sein muss. Familienhebammen
beispielsweise dürfen nicht nur punktuell eingesetzt wer-
den, sondern müssen die Chance bekommen, flächende-
ckend zu arbeiten. Betreuung vor der Geburt ist extrem
wichtig, um früh vertrauensvolle Beziehungen zwischen
Mutter, Vater, Familie und den entsprechenden Stellen
aufzubauen.


(Beifall bei der FDP)


Zweitens. Mit dem Gesetz sollen – Sie haben darauf
hingewiesen – Meldesysteme etabliert werden, sei es
durch die Jugendämter oder die Ärzte. Wir sind der Mei-
nung, dass die Weitergabe von Informationen an das Ju-
gendamt nicht das Ende sein darf, sondern der Beginn
des Prozesses sein muss. Die weitere Zusammenarbeit
der Ebenen wird in diesem Gesetzentwurf aber nicht the-
matisiert.

Drittens. Viele Kernbereiche des Entwurfs des Kin-
derschutzgesetzes betreffen die Jugendämter. Sie wissen,
Herr Kues: Die finanzielle und personelle Ausstattung
der Jugendämter obliegt den Ländern. Auch da haben
wir noch ein Defizit; ich werde später ausführlich darauf
eingehen. Ich will Ihnen Beispiele nennen: Vor Kevins
Tod wurde ein Drittel des Personalbestandes in der Ab-
teilung „Junge Menschen und Familie“ gekürzt. In
Schwerin, wo die fünfjährige Lea-Sophie qualvoll ver-
hungerte, hatte man innerhalb von zehn Jahren ein Vier-
tel der Sozialarbeiter abgeschafft. In Berlin hat sich seit
Anfang der 90er-Jahre die Zahl der Familien, die vom
Jugendamt betreut werden, versechsfacht. Die Folge:
Zum Beispiel im Berliner Bezirk Wedding betreut jeder
Mitarbeiter des Jugendamtes rund 80 Fälle.


(Zuruf von der FDP: Zu viel!)


Damit bleiben für jeden Klienten genau 24 Minuten in
der Woche, abzüglich der Aktenbearbeitung zwölf Mi-
nuten.

(Zuruf von der SPD: Wie ist das in NordrheinWestfalen?)


Gleiches gilt für den neu geregelten Informationsaus-
tausch beim Zuständigkeitswechsel von Jugendämtern;
auch das haben Sie angesprochen, Herr Kues. Allein die
Informationen auszutauschen, wird keinem Kind helfen.
Entscheidend ist auch hier, dass die Betreuung weiter ge-
währleistet wird. Dreh- und Angelpunkt ist die bessere
personelle und finanzielle Ausstattung der Jugendämter.
Sie obliegt den Ländern, aber wir können den Ländern
doch nicht etwas übertragen, ohne zu sagen, wie es fi-
nanziert und ausgestattet werden soll.


(Caren Marks [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Gleichzeitig wäre es wünschenswert, im Rahmen der
Jugendministerkonferenz – auch das ist Ländersache –
einheitliche Qualitätsstandards für die Kinder- und Ju-
gendhilfe festzulegen. Sie haben davon gesprochen, dass
es keinen Unterschied machen darf, ob ein Kind – ich
kann mich nicht mehr genau an Ihre Beispiele erinnern –
an der Ostsee oder in Bayern aufwächst. Das ist so, aber
um das zu erreichen, muss man Standards einführen und
muss die Qualität in regelmäßigen Abständen evaluiert
werden. Mithilfe von Fehlermanagement sollte man he-
rausfinden, welche Prozesse nicht optimal ablaufen,
strukturelle Mängel identifizieren und Optimierungs-
möglichkeiten finden. Außerdem wäre es wichtig – das
ist ein mittelfristiger Aspekt –, die Forschung zu den In-
dikatoren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine
Kindeswohlgefährdung verweisen, zu intensivieren.

Mein vierter und letzter Punkt: Das vertrauensvolle
Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Ärzten ist mei-
nes Erachtens elementar wichtig. Es sollte vermieden
werden, dass Betroffene aufgrund der fehlenden ärztli-
chen Schweigepflicht gar keine Hilfe suchen.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Diese Punkte zeigen, dass wir noch sehr viel Arbeit
vor uns haben. Deswegen freue ich mich über die ge-
plante Expertenanhörung am 25. Mai dieses Jahres. Nur
so können wir einzelne Fragen sachlich erörtern, wie
zum Beispiel – das ist mein letztes Beispiel – die Haus-
besuche, über die kontrovers diskutiert wird. Die einen
sagen, dass deren verstärkter Einsatz ein richtiger Schritt
ist. Die anderen befürchten, dass das Jugendamt dadurch
zur Kontrollinstanz degradiert wird. Ich bin auf das Er-
gebnis der Anhörung gespannt.

Auch wenn wir unterschiedlichen Parteien angehören,
auch wenn unterschiedliche Ansichten geäußert werden,
ist es wichtig, dass von hier das Signal ausgeht, uns auf
das folgende Ziel zu verständigen: Wir wollen die Kin-
der in Deutschland besser als bisher vor Missbrauch und
Verwahrlosung schützen. Lassen Sie uns deshalb das
Kinderschutzgesetz nach der Expertenanhörung gemein-
sam zu einem guten Gesetz werden lassen, nicht nur zu
einem, das nicht mehr hinterlässt als ein gutes Gefühl.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621722700

Die nächste Rednerin ist Caren Marks für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1621722800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Wer Eltern und Kindern einen Zugang zur Hilfe
schaffen will, muss sich ihnen zuwenden und sie
einbeziehen. Wir versuchen, das Verhalten der Fa-
milie nicht von den Verhältnissen, unter denen sie
lebt, abzuspalten, sondern die Familie mit ihren
spezifischen Bedürfnissen wahrzunehmen und ge-
meinsam Lösungswege zu erarbeiten.

Das ist auf der Internetseite der Kinderschutz-Zentren zu
lesen.

Gemeinsame Lösungswege zu erarbeiten, ist beim
Kinderschutz ganz besonders wichtig. Wir wollen, dass
die Hilfen auch tatsächlich bei den Eltern und ihren Kin-
dern ankommen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bie-
tet ein ganzes Bündel an solchen Lösungswegen. Es
reicht von frühen präventiven Hilfen über ambulante Be-
ratung und Therapie bis hin zu langfristigen Maßnah-
men. Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Prävention.
Eltern sollen besser befähigt werden, ihren Kindern gute
Eltern zu sein. Kinder und Jugendliche müssen – hier
sind wir uns alle einig – vor Vernachlässigung, Miss-
brauch und Misshandlung geschützt werden, und zwar
effektiv und umfassend.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das sind hohe Maßstäbe. Nun, Herr Staatssekretär, müs-
sen wir uns fragen, ob der vorliegende Gesetzentwurf
diese Maßstäbe wirklich erfüllt.


(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Mehrzahl der Kinderschutzexpertinnen und -ex-
perten kritisiert diesen Gesetzentwurf. In Anbetracht
dessen dürfen wir nicht abtauchen und weghören. Die
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe sagt:

Die vorgeschlagenen Neuregelungen bleiben in ih-
ren Formulierungen jedoch vielfach unpräzise und
werden den fachlichen Herausforderungen im Kin-
derschutz nicht gerecht.

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Für-
sorge sagt:

Der vorliegende Gesetzentwurf geht an den tatsäch-
lichen Erfordernissen eines effektiven Kinderschut-
zes vorbei.

Auch das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Fami-
lienrecht sowie der Deutsche Kinderschutzbund warnen
vor problematischen Folgen. Diese geballte Kritik der
Fachleute nimmt die SPD-Fraktion sehr ernst. Deshalb
werden wir diesen Gesetzentwurf im parlamentarischen
Verfahren auf Herz und Nieren prüfen.
Kinderschutzexpertinnen und -experten sind sich ei-
nig: Eine Gefährdung des Kindeswohls kann nur im
Rahmen komplexer fachlicher und rechtlicher Beobach-
tungs- und Bewertungsprozesse festgestellt werden.
Hausbesuche sind dabei in vielen Fällen durchaus sinn-
voll und notwendig. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz
ermöglicht Hausbesuche da, wo sie Sinn machen, aber
schon heute.


(Jürgen Kucharczyk [SPD]: So ist das!)


Ob Hausbesuche sinnvoll oder schädlich sind, ist eine
von vielen Fragen, die verantwortliche Jugendamtsmit-
arbeiterinnen und -mitarbeiter in jedem Einzelfall sorg-
fältig prüfen und klären müssen. Die nun vorgesehene
Regelung zu verpflichtenden Hausbesuchen ist zu starr
und wird dem Einzelfall deswegen gerade nicht gerecht.
Gut gemeint ist leider nicht immer gut gemacht. So
warnt der Deutsche Kinderschutzbund zu Recht: Solche
einzelnen Maßnahmen „im Detail vorschreiben zu wol-
len, kann eher weniger als mehr Kinderschutz bedeu-
ten“.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in der Kin-
der- und Jugendhilfe brauchen wir eine Balance zwi-
schen Hilfe und Kontrolle. Wichtig sind dabei die frühen
Hilfen. Dazu gehören vielfältige Angebote, angefangen
bei Angeboten an Schwangere und an junge Eltern wie
Willkommensbesuche und Elternberatung. Wichtig sind
auch gute Netzwerke vor Ort. Frühe Hilfen müssen im
Gemeinwesen verankert sein. Ärzte, Hebammen, Kin-
dergärten, Schulen, Jugendämter und Gesundheitsämter
müssen eng zusammenarbeiten. Der Präsident des Deut-
schen Kinderschutzbundes sagt zu Recht:

Jede frühe Hilfe ist wirksamer und kostengünstiger
als jede späte Hilfe.

Ich frage mich, warum solche präventiven Ansätze im
vorliegenden Gesetzentwurf fehlen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Wir müssen die Bereitschaft der Familien fördern,
Hilfen anzunehmen. Das ist das Fundament eines effek-
tiven Kinderschutzes. Das Kinder- und Jugendhilferecht
gibt den Jugendämtern differenzierte Instrumente zur
Unterstützung von Familien an die Hand. Klar ist: Wenn
Hilfeangebote nicht ausreichen, um gravierende Schä-
den von einem Kind bzw. Jugendlichen abzuwenden,
muss in das Elternrecht eingegriffen werden. Jugend-
ämter müssen dabei sorgfältig zwischen Kindeswohl und
Elternrecht abwägen. Darin liegt eine sehr große Verant-
wortung.

Tausende von Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mit-
arbeitern leisten täglich Enormes; das möchte ich an die-
ser Stelle betonen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Trotzdem hat es in der Vergangenheit – das wissen wir
alle – dramatische Fälle von Kindeswohlgefährdung ge-






(A) (C)



(B) (D)


Caren Marks
geben. Hier sage ich ganz deutlich: Vor Ort muss ausrei-
chendes und gut geschultes Personal zur Verfügung ste-
hen. Auch müssen Verfahrensabläufe in den Behörden
klar geregelt sein – das wurde schon gesagt –, und fach-
liche Standards müssen eingehalten werden.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol-
len, dass jedes einzelne Kind einen guten Start ins Leben
bekommt und gesund aufwächst. Dazu gehört zweifels-
ohne ein funktionierender Kinderschutz. Was brauchen
wir zusätzlich? Wir brauchen gute und ausreichende Bil-
dungs- und Betreuungsangebote, eine gut ausgestattete
Kinder- und Jugendhilfe und ein gutes Beratungs- und
Hilfenetzwerk vor Ort, und wir brauchen Kinderrechte
im Grundgesetz.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Es wäre konsequent, endlich Kinderrechte in der Verfas-
sung zu verankern.


(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damit würden wir die Bedingungen, unter denen unsere
Kinder aufwachsen, weiter verbessern. Ich wünsche mir,
dass wir alle in diesem Hause uns darin einig sind.

Bund, Länder und Kommunen haben den Kinder-
schutz in den letzten Jahren deutlich verbessert. Ich
nenne die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfege-
setzes 2005, die zahlreichen Kinderschutzgesetze in den
Ländern und die guten Netzwerke vor Ort. Nun liegt er-
neut ein Gesetzentwurf vor. Verbessern wir den Kinder-
schutz damit wirklich? Die Fachwelt sagt: Nein. Lassen
Sie uns deshalb den Entwurf im Interesse unserer Kinder
zu einem Gesetz machen, das den Namen Bundeskinder-
schutzgesetz wirklich verdient!

Ich wünsche mir gute parlamentarische Beratungen
und bedanke mich ganz herzlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621722900

Diana Golze hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621723000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Zu Recht ist dem Thema Kinder-
schutz in den letzten Jahren ein höherer Stellenwert
zugekommen. Niemand kann und darf sich der Verant-
wortung der Gesellschaft für den Schutz des Wohles un-
serer Kinder entziehen. Der Kinderschutz muss Vorrang
haben.

Das ist natürlich auch Anliegen und Ziel der Linken.
Wir haben dies mit verschiedenen Initiativen deutlich
gemacht. Ich nenne zum Beispiel unsere vorbehaltlose
Unterstützung des Aktionsbündnisses für die Aufnahme
von Kinderrechten ins Grundgesetz.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD])


Kinderrechte – Frau Marks hat das angesprochen – sind
die Grundlage für eine Stärkung des Kindeswohls. Ich
sage gerne und – vor allem an die Adresse der Unions-
fraktion gerichtet – immer wieder: Wer den Kinder-
schutz ernst nimmt, muss die Kinderrechte ernst neh-
men. Deshalb müssen sie ins Grundgesetz.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Was ist mit der Familie?)


– Ach, Herr Singhammer, Sie verstehen es einfach nicht.

Das Ministerium hat nun einen Gesetzentwurf vorge-
legt, in dem, wie es der Bundesverband für Erziehungs-
hilfe treffend benennt, Selbstverständlichkeiten formu-
liert sind. In diesem Gesetzentwurf sind aber auch
Regelungen vorgesehen, die an der Realität vorbeigehen;
ich komme darauf noch zu sprechen.

In den Stellungnahmen finde ich – von der Stellung-
nahme der Diakonie über die des Deutschen Kinder-
schutzbundes und die der AWO bis hin zur Stellungnahme
der Kinderschutz-Zentren – zum Teil vernichtende Ab-
sagen an dieses Vorhaben. Dies beginnt bereits bei der
Vorfeldarbeit. Ich kann mich gut an die großtönenden
Worte erinnern, mit denen die Bundesfamilienministerin
hier die Ergebnisse des sogenannten Kindergipfels gefei-
ert hat. Die Diakonie zeigt in ihrer Stellungnahme auf,
wie wichtig der Ministerin die Suche nach effektiven
Wegen zum Kinderschutz wirklich ist: Die berufene Ex-
pertengruppe hat ihre Arbeit bereits nach einer Sitzung
wieder eingestellt. Wie können sachlich fundierte und
ausdiskutierte Vorlagen zustande kommen, wenn man so
an die Sache herangeht?


(Beifall bei der LINKEN)


Die Kinderschutz-Zentren haben – ich zitiere – die ge-
planten Veränderungen in § 8 a des SGB VIII mit Sorge
zur Kenntnis genommen. Der Deutsche Verein warnt vor
weiteren gesetzlichen Verfahrensvorgaben. Die Diakonie
sagt Ihnen, dass Sie Ihr selbstgestecktes Ziel nicht errei-
chen. Die AWO tut Selbiges.

Nach Kinderzuschlag und Kinderförderungsgesetz ist
dies ein weiterer Gesetzentwurf, der von der Fachwelt in
hohem Maße kritisiert wird. Bei einer Schülerin würde
diese Beurteilung wahrscheinlich zu einem Elternbesuch
führen, weil die Versetzung gefährdet wäre.


(Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Fachverbände versuchen mit ihren Stellungnahmen,
uns dabei zu helfen, einen besseren Gesetzentwurf da-
raus zu machen. Ich hoffe auf die Anhörung und darauf,
dass Sie die Kritik und die Vorschläge annehmen.

Genügend Gesprächs- und Klärungsbedarf gibt es
auch von unserer Seite, zum Beispiel bei der Rolle der
Jugendämter. Wer die Situation in den Kommunen nur
ein bisschen kennt, weiß, dass sie schon jetzt am äußers-
ten Level ihrer Möglichkeiten arbeiten. Sie unterlagen






(A) (C)



(B) (D)


Diana Golze
personell und finanziell einem Kürzungsdruck in Grö-
ßenordnungen, sodass sie die Einsparungen kaum noch
überbrücken können. Das Ergebnis ist traurig: Den An-
laufstellen fehlen die Mittel und das Personal, um quali-
fizierte Angebote machen zu können. Wenn Sie ein Sys-
tem aufbauen wollen, das einen effektiven Schutz von
Kindern gewährleistet, dann müssen Sie da anfangen,
wo Sie in den letzten Jahren den Rotstift angesetzt ha-
ben. Doch statt endlich diese Richtung der Politik zu
korrigieren, brummen Sie den Jugendämtern nun neue
Aufgaben auf, ohne zu sagen, wie sie es bewerkstelligen
sollen.

In diesem Zusammenhang nenne ich nur den ganz ak-
tuellen Fall von Lara aus Hamburg. Die Mitarbeiter des
Allgemeinen Sozialen Dienstes schreiben in einem offe-
nen Brief:

Wir haben die Nase voll davon, als Sündenböcke
für eine Politik herzuhalten, die es jahrelang ver-
säumt hat, den ASD qualitativ und quantitativ aus-
reichend auszustatten.

Sie arbeiten mit 90 Fällen pro Mitarbeiter in der Ver-
waltung. Dies kann und darf so nicht weitergehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch neben der Frage, wie die in dem Gesetzentwurf
enthaltenen verpflichtenden Hausbesuche personell ge-
stemmt werden sollen, bleibt unsere Skepsis, ob diese
Hausbesuche überhaupt dazu führen, den Kinderschutz
zu erhöhen. Aus meiner Sicht wird damit vielmehr Ver-
trauen zerstört, und es birgt die Gefahr, dass Hilfepro-
zesse abgebrochen werden, sodass es kontraproduktiv
im Hinblick auf die Kinder wirkt, die wir eigentlich un-
terstützen wollen. Wir dürfen die sozialstaatlich ausge-
richtete Jugendhilfe nicht durch ein kontrollierendes
System ersetzen. Genau dies sieht aber dieser Gesetzent-
wurf vor.


(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damit wird das Sozialgesetzbuch VIII untergraben,
das eigentlich einen vorsorgenden, unterstützenden und
helfenden Charakter hat. Es soll durch Kontrolle und
Vertrauensbrüche ersetzt werden, und die Jugendhilfe
wird durch weitere Aufgaben auch noch überfordert und
weiterhin kaputt gemacht. Damit muss endlich Schluss
sein. Dazu braucht es auch ein Verständnis dafür, dass
ein besserer Kinderschutz zum Nulltarif nicht zu haben
ist. Hier setzt einen das Vorblatt des Gesetzes schon sehr
in Erstaunen; denn dort steht, das Gesetz werde keine
Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! – Zuruf von der CDU/CSU: Ein Gesetz, das nichts kostet, taugt nichts?)


– Dazu ist sicherlich kein weiterer Kommentar notwen-
dig.

Ich freue mich auf die bevorstehenden Diskussionen
und hoffe, dass wir aus dem Entwurf noch ein Kinder-
schutzgesetz machen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Schade, dass die Ministerin nicht da ist!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621723100

Jetzt ist Ekin Deligöz für Bündnis 90/Die Grünen an

der Reihe.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621723200

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Das Ministerium hat sich bemüht; das kann ich ihm at-
testieren. Das Wort „Kind“ kommt in dem Gesetzent-
wurf fast 40-mal vor. Es werden auch die richtigen Fra-
gen gestellt: Wie kommen wir zu einer Politik des
Hinschauens und Helfens? Wie binden wir alle ein, da-
mit wir Kindern helfen können? Das sind wichtige Fra-
gen; aber Antworten auf diese Fragen, Herr Staatssekre-
tär, geben Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe darüber hinaus sogar das Gefühl, dass Sie in
Zugzwang sind, etwas liefern zu müssen, weil Sie nicht
zuletzt auf einem großen Gipfel vieles versprochen ha-
ben, aber nicht richtig wissen, wie Sie agieren sollen.
Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass Sie aus dem Blick ver-
loren haben, worum es geht. Es geht nicht darum, mehr
Presse zu bekommen, sondern darum, Kinder zu schüt-
zen, also den Kinderschutz voranzubringen. Das tun Sie
mit diesem Gesetz nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was brauchen Kinder? Kinder brauchen einen Kin-
derschutz, der im Notfall klar, zielgenau und schnell re-
agiert, aber vor allem – das ist das Entscheidende – prä-
ventiv breit angelegt ist, damit es erst gar nicht zu sol-
chen Notfällen kommt, damit wir Kinder schützen kön-
nen und nicht nur reagieren müssen. Damit uns dies
gelingt, brauchen wir präventive, frühe Hilfen. Als Bei-
spiel nenne ich die Familienhebammen. Wir brauchen
flächendeckende Angebote überall in Deutschland. Wir
müssen aber auch die Ausstattung der Jugendhilfe ver-
bessern. Schließlich brauchen wir Vertrauen der Mütter
und der Jugendlichen, die sich ebenfalls an das Jugend-
amt wenden, in niedrigschwellige Angebote und auch in
das Jugendamt selbst.

Was machen Sie mit diesem Gesetzentwurf? – Sie
kreieren ein Schema F, egal, was bereits in der Familie
passiert ist und ob er sinnvoll ist oder nicht: Ein Hausbe-
such wird vorgeschrieben.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Einfach Quatsch!)


Der Kinderschutzbund hat viele Beispiele dafür genannt,
dass das eben nicht immer das Beste ist.

Sie wecken Misstrauen bei den Hilfesuchenden. Sie
sagen, dass Sie die Schweigepflicht lockern, und hinter-
fragen nicht, was damit noch alles passieren kann, so-
dass sich manche Menschen erst nicht mehr hilfesu-






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz
chend an die Ärzte wenden. Sie verdreifachen die Arbeit
der Jugendämter. Ja, das könnte man rechtfertigen, wenn
die Kinder unter dem Strich tatsächlich geschützt wer-
den würden. Was passiert denn nach dem ersten Hausbe-
such? Wer ist dann da, um das nach der ersten Inaugen-
scheinnahme fortzusetzen? Wer wird sich dann um diese
Familie kümmern? Welche Antworten geben wir nach
dem ersten Besuch? Darauf geben Sie keine einzige Ant-
wort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das Schlimmste ist, dass Sie nicht einmal bereit sind,
einen Cent dafür auszugeben. Sie sagen, das würde
nichts kosten. Doch, natürlich wird das etwas kosten:
Gutes, qualifiziertes Personal kostet Geld.

Eine wirklich konstruktive Antwort wäre gewesen,
wenn Sie beim Gipfel einen runden Tisch gestaltet hät-
ten, um zu prüfen, wie wir die vorhandenen Ressourcen
effektiv und besser einsetzen können und wie wir durch
die Zusammenarbeit in Netzwerken Strukturen für den
Kinderschutz in Deutschland schaffen können, wo sich
die Kommunen, Träger, Bund und Länder zusammenset-
zen, um dort, wo es Schwächen gibt, nach einem Aus-
weg zu suchen, zum Beispiel wenn es darum geht, mehr
Personal zu finanzieren, wenn es um eine bessere Quali-
fizierung, Supervision oder um Kooperationen geht,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


wenn es um Prävention geht und wenn es um die Men-
schen geht, die den Kinderschutz tatsächlich voranbrin-
gen. Genau das tun Sie aber nicht. Sie schaffen keine
neuen Unterstützungsangebote, sondern Sie schaffen
neue Zugangshürden.

Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass Ihnen
21 von 26 Verbänden attestiert haben, dass Ihr Gesetz-
entwurf nichts bringen bzw. nutzen wird und dass da-
durch kein Kind geschützt wird. Das ist die Kurzfassung
der 21 Stellungnahmen, die uns bereits vorliegen. Das
wird von Tag zu Tag mehr.

Die Fälle Kevin und Lea-Sophie sind schlimm. Das
gilt auch für den aktuellen Fall, mit dem wir es heute zu
tun haben, bei dem die Eltern ein zehn Monate altes, ein
vierjähriges und ein sechsjähriges Kind einfach so in ei-
ner Pizzeria haben stehen lassen. Das ist grausam und
schlimm.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Grauenhaft!)


Man will das nicht mehr hören. Wir müssen reagieren
und agieren. Wir müssen helfen und unterstützende
Strukturen anpassen. Sie bevormunden, kontrollieren
und haken ab. Abhaken können wir genau dieses Thema
nicht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621723300

Jetzt spricht Michaela Noll für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1621723400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zunächst ein paar Worte an unsere Kollegin
Marks: Ich erinnere daran, dass es die erste Lesung die-
ses Gesetzentwurfs ist. Eine Anhörung liegt vor uns, und
Sie können sicher sein, dass die Union nur etwas auf den
Weg schickt, was Hand und Fuß hat. Das sehe ich ge-
nauso wie Kollegin Gruß.

Auch wenn es Stellungnahmen und ein paar kritische
Stimmen gibt: Es gibt auch andere Stimmen, die viele
Punkte begrüßen. Lassen Sie uns also bitte offen in die
Anhörung gehen. Ich glaube, es ist im Interesse aller
Kollegen hier, für den Kinderschutz etwas Sinnvolles zu
tun und Kinder zu schützen; denn das ist unsere Auf-
gabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wurde eben von der Kollegin Gruß gesagt, dass ein
wenig Herzblut fehlt.


(Dr. Max Stadler [FDP]: Das stimmt auch! – Caren Marks [SPD]: Das Ministerium hat keines!)


Überlassen Sie das mit dem Herzblut mir. Ich habe mir
heute im Vorfeld zu dieser Debatte noch einmal die Fälle
angeschaut. Wenn ich über Jessica und Lea-Sophie spre-
che – ich habe die Akten darüber gelesen und in den Zei-
tungen die Bilder gesehen –, dann muss ich sagen: Es ist
unvorstellbar, was die Eltern mit diesen Kindern bis zu
ihrem Tod angerichtet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das sind leider keine Einzelfälle. Der Kinderschutz-
bund schätzt, dass in Deutschland jährlich 100 000 Kin-
der vernachlässigt werden. Deshalb sage ich: Hier
besteht dringender Handlungsbedarf. Ob es die abgema-
gerte, entkräftete siebenjährige Jessica war, ob es die
Leiche des zweijährigen Kevin im Kühlschrank des Va-
ters war, ob es Lea-Sophie war, die verhungert und ver-
durstet ist, oder ob es jetzt die kleine, acht Monate alte
Siri ist: Für alle kam die Hilfe zu spät.

Durch eine Betroffenheitsbekundung alleine wird den
Kindern nicht geholfen. Deswegen bin ich froh, dass wir
jetzt etwas auf den Weg gebracht haben, mit dem den
Kindern tatsächlich geholfen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben bereits 2007 einen Antrag formuliert: „Ge-
sundes Aufwachsen ermöglichen – Kinder besser schüt-
zen – Risikofamilien helfen“. Die Ministerin hat sich für
die frühen Hilfen eingesetzt. Es ist nicht so, dass nichts
geschehen wäre. Trotzdem haben wir auf dem Kinder-
gipfel gesagt: Im Kinderschutz sind Lücken da, die müs-
sen wir identifizieren. Wir brauchen Maßnahmen zur






(A) (C)



(B) (D)


Michaela Noll
Stärkung des Kinderschutzes. Das ist veranlasst worden.
Keiner von uns stellt sich hier hin und prangert an, dass
die oder die die Schuldigen sind. Uns geht es darum,
Fehler anzusprechen, sie offenzulegen und zu versuchen,
sie auszuschließen; denn das ist wirklicher Kinder-
schutz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Professor Fegert vom Universitätsklinikum Ulm hat
dargelegt, wo das Problem liegt. Er sagte, manche Ju-
gendämter verlassen sich allein auf die Akten. Ich
glaube, es ist etwas anderes, wenn Sie einen persönli-
chen Eindruck von den Kindern haben und wenn Sie die
Vorgeschichte der Eltern kennen. Wir Fachpolitiker wis-
sen: Wenn Erwachsene in ihrer Kindheit Gewalt erfah-
ren haben, dann ist das Risiko relativ hoch, dass sie die
Gewalt, die sie erfahren haben, an die Kinder weiterge-
ben. Wir wissen genauso, dass diese Risikofamilien ten-
denziell relativ häufig ihren Wohnort wechseln. Deshalb
ist es wichtig, dass das Jugendamt, das diese Familien
bisher betreut hat, seine Informationen an das nächste
Jugendamt weitergibt.

Eben wurde etwas kritisch gesagt, Hausbesuche wä-
ren Pflicht. Nein, sie sollen zur Regel werden. Ich
glaube, Schreibtischdiagnosen helfen den Kindern tat-
sächlich nicht. Kinder müssen sichtbar werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das sagt doch keiner!)


Das gilt vor allem für Säuglinge. Schauen Sie sich
doch die Statistik an. Ein Drittel der Kinder ist jünger als
ein Jahr. Wenn ich dann sehe, dass die häufigste Todes-
ursache ein Schütteltrauma ist und dass 17 Prozent der
betroffenen Kinder schon nach der Geburt getötet wer-
den,


(Sönke Rix [SPD]: Das stimmt nicht!)


dann kann es nicht sein, dass man dann, wenn das Ju-
gendamt kommt, sagt, die Kleine schläft oder ist gerade
bei der Oma untergebracht. Wir müssen darauf bestehen,
dass das Jugendamt wirklich sieht, in welchem Zustand
das Kind ist und in welchem Umfeld es lebt, um auch ei-
nen Eindruck davon zu erhalten, wie die Interaktion zwi-
schen Eltern und Kindern stattfindet.


(Caren Marks [SPD]: Das kann man heute schon alles machen!)


Dass ich damit nicht allein stehe, bestätigt das Krimi-
nologische Institut in Niedersachsen, das festgestellt hat,
dass bei 200 Kindstötungen eindeutige Hinweise darauf
vorhanden sind, dass das Jugendamt die Kinder nicht an-
geschaut hat. Das gilt auch für Lea-Sophie, die eben
schon thematisiert worden ist. Die Eltern sind zwar zu
dem Termin im Jugendamt hingegangen, aber nicht mit
Lea-Sophie, sondern mit dem neugeborenen Bruder. Das
Jugendamt hat Lea-Sophie nie gesehen. Ich glaube:
Wenn es einen Hausbesuch gegeben hätte, wenn Lea-
Sophie sichtbar geworden wäre, dann hätte man das
Kind vielleicht retten können;


(Sönke Rix [SPD]: Aber der wäre möglich gewesen!)

denn ein fünfjähriges Kind verhungert nicht in 24 Stun-
den. Das ist ein langsamer Prozess. Deswegen glaube
ich, dass der Ansatz sein muss, dass wir uns die Kinder
in der Regel anschauen. Es gibt Ausnahmesituationen,
die ebenfalls geregelt sind. Wenn zum Beispiel eine Ge-
fährdung durch sexuelle Gewalt im Haushalt stattfindet,
dann muss es andere Lösungen geben. Die Regel muss
aber sein, dass wir uns die Kinder anschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich hatte eben das „Jugendamt-Hopping“ angespro-
chen. Das heißt, Risikofamilien neigen dazu, unterzutau-
chen und den Wohnort zu wechseln. Deswegen halte ich
es für wichtig, dass derjenige, der diese Familie betreut
hat, das persönliche Gespräch mit dem zuständigen Ju-
gendamt sucht; denn nicht alles, was Sie im persönlichen
Gespräch austauschen könnten, landet in den Akten. Ich
möchte einfach, dass die Kinder mehr Gesicht bekom-
men, als es nach Aktenlage möglich ist. Deshalb halte
ich es für wichtig, dass wir das entsprechend auf den
Weg bringen.

Liebe Kollegen, nicht nur den gefährdeten Kindern
läuft die Zeit davon. Wir alle wissen, die Legislaturperio-
de nähert sich dem Ende. Ich bitte deswegen noch ein-
mal alle inständig: Nutzen wir die Anhörung, um ein gu-
tes Gesetz auf den Weg zu bringen. Helfen Sie alle mit,
denn ich finde, jedes Kind in Deutschland verdient es,
geliebt, geschützt, beschützt und unterstützt zu werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Aber nicht mit diesem Gesetz! – Sönke Rix [SPD]: Der letzte Satz war richtig! – Diana Golze [DIE LINKE]: Zur Ausstattung der Jugendämter kein Wort!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621723500

Jetzt spricht Marlene Rupprecht für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1621723600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung ei-
nen Gesetzentwurf, dessen Inhalt wie kaum ein anderes
Thema in der Öffentlichkeit Furore macht. Es geht um
den Schutz unserer Kinder. In den Medien werden fast
täglich gravierende Fälle von Kindesmisshandlung, Kin-
desvernachlässigung oder gar von Kindstötung gezeigt.

Diese Nachrichten – Sie wissen selber, wie es Ihnen
dabei geht – machen uns unheimlich betroffen, ja
manchmal wütend über unsere Ohnmacht, dass wir nicht
helfen konnten oder nicht geholfen haben. Wir haben
den starken Wunsch, ja sogar den Druck, etwas zu ver-
ändern und zu handeln.

Leider finden sich bei diesen schrecklichen Nachrich-
ten über Kinder stets selbsternannte Fachleute, die genau
wissen, wer Schuld daran hat. Ich will nur zwei Bei-
spiele von heute und gestern nennen. Heute war in der
Presse von einem Verbandsvertreter zu lesen, der ohne






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Kenntnis der Hintergründe sofort die Schuldigen identi-
fizieren kann, und zwar in seinem Fall fast immer die
Mitarbeiter des Jugendamtes.

Gestern wurde im Hamburger Abendblatt und ande-
ren Zeitungen über die mögliche Beteiligung des Allge-
meinen Sozialen Dienstes am Tod des Kindes Lara be-
richtet. Auch diese Meldung macht deutlich, wie
schwierig es für die Mitarbeiter der zuständigen Behörde
ist, sich angesichts schlechter beruflicher Bedingungen
und einer völlig unzureichenden Personalausstattung im-
mer am Kindeswohl zu orientieren. Für die finanzielle
Ausstattung der Jugendämter sind aber nicht die Mitar-
beiter zuständig und verantwortlich, sondern die, die po-
litisch entscheiden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich bin seit 1996 im Bundestag und mache vor Ort Ju-
gendhilfe und habe mit Kindern gearbeitet. Was die
letzte Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes be-
trifft, kam ich mir in den letzten zehn Jahren vor wie ein
Berserker, der sich vor das Kinder- und Jugendhilfege-
setz stellt, um die Zerstörer dieses Gesetzes abzuwehren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die letzten Initiativen kamen aus den Bundesländern.
Eine davon hieß KEG: Kommunalentlastungsgesetz. In-
halt dieses Gesetzes war, Leistungen der Jugendhilfe nur
noch nach Kassenlage zu gewähren.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Das ist Fakt. Unter diesen Bedingungen arbeiten die
Mitarbeiter in den Jugendämtern. Man outsourct und
holt Honorarkräfte. Die Menschen, die dort arbeiten,
sind ständig in Grenzsituationen. Sie müssen nach fach-
lichen Standards entscheiden. Dazu gehört nicht nur der
Hausbesuch. Zu den fachlichen Standards gehört min-
destens das Vieraugenprinzip. Im Gesetz sind übrigens
auch Hilfeplanverfahren und Hilfeplankonferenzen vor-
gesehen. Es ist fachlicher Standard, Absprachen zu tref-
fen. Auch die Dokumentation und die Überprüfung der
Absprachen ist fachlicher Standard. Wann soll das je-
mand machen, wenn er fast 100 Fälle zu betreuen hat?
Über dieses Problem müssen wir reden.

Ich denke, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbei-
ten oft oberhalb der Belastungsgrenze und der eine oder
andere ist ausgebrannt. Er kann nicht mehr. Meiner An-
sicht nach brauchen sie keine skandalisierenden Äuße-
rungen in den Medien und auch keinen Aktionismus.
Wer auf Bundesebene, in den Ländern oder in den Kom-
munen politisch entscheidet, muss sich fragen – an die-
ser Stelle muss man das Ganze vom Bauch in den Kopf
verlagern –: Wie sehen unsere gesetzlichen Grundlagen
aus, und was ist für einen wirksamen Kinderschutz not-
wendig? Diese Fragen sind zu beantworten.

Herr Singhammer, Sie haben vorhin gefragt, wo die
Familie bleibt, als wir die Forderung nach Aufnahme
von Kinderrechten ins Grundgesetz beklatscht haben.
Der Schutz der Familie ist in Art. 6 des Grundgesetzes
garantiert. Darin ist auch das Wächteramt des Staates ge-
regelt. Kinder gelten aber darin als Objekte der elterli-
chen Erziehung; sie sind nicht dezidiert als Subjekte er-
kennbar. Wir möchten, dass als Appell an die
Gesellschaft und an die Entscheidungsträger gesetzlich
festgeschrieben wird, Kinder nicht als Objekte anzuse-
hen. Das halte ich für richtig.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Grundgesetz ist unsere erste rechtliche Grundlage.

Die zweite Grundlage ist das BGB. Dort haben wir
verankert: Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Kinder
haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Sie sind
Subjekte. Das wurde das erste Mal so niedergeschrieben.

Die dritte Grundlage ist das Kinder- und Jugendhilfe-
gesetz. 2005 haben wir durch das Kinder- und Jugend-
hilfeweiterentwicklungsgesetz, das KICK, in Art. 1 den
§ 8 a, den Kinderschutzparagrafen, in das SGB VIII ein-
geführt. Wir haben zudem § 42, die Inobhutnahme, neu
geregelt und in § 72 a die persönliche Eignung einge-
führt. Wir wussten um den Präzisierungsbedarf. Genau
den haben wir erfüllt.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben im letzten Jahr die familiengerichtlichen
Maßnahmen so geregelt, dass die Gerichte, bevor ein
Kind aus seiner Familie herausgenommen wird – das
stellt einen enormen Eingriff in das Leben eines Kindes
dar; wir wissen aber auch, dass manche Eltern nicht mit-
arbeiten wollen –, angerufen werden können. Ein Rich-
ter kann Eltern verordnen, Hilfe und Beratung anzuneh-
men. Dies hat er auch zu kontrollieren. Das sehen die
familiengerichtlichen Maßnahmen vor. Es gibt des Wei-
teren – das ist internationales Recht, das wir ratifiziert,
gezeichnet und anerkannt haben – Art. 3 der UN-Kinder-
rechtskonvention, in dem steht, dass alles vom Kindes-
wohl dominiert wird. Art. 19 sieht den Schutz vor Ge-
waltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung vor.

Wie sieht also ein wirksamer Kinderschutz aus? Da
ich aus Bayern komme – man muss auch sagen, wenn et-
was klappt –, möchte ich auf die Publikation Kinder-
schutz braucht starke Netze hinweisen; das kann man im
Internet nachlesen. Es gibt ähnliche Beispiele aus Rhein-
land-Pfalz, Thüringen und Schleswig-Holstein. Auch
dort hat man sich auf den Weg gemacht. Das heißt, die
Bundesländer beginnen, das, was wir 2005 auf den Weg
gebracht haben, umzusetzen. Deutlich wird hier der fa-
milienbezogene Ansatz. Auf jeder Seite der Internetprä-
sentation kommt positiv besetzter Kinderschutz zum
Ausdruck. Es gibt Hilfe, aber natürlich auch Kontrolle.
Kein Mensch kann das ohne Kontrolle schaffen. – Frau
Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss.

Wer soll im Kindernetz mitarbeiten? Auch das ist klar
geregelt. Das Jugendamt ist die entscheidende Behörde.
Ich bin froh, dass es endlich von einer Eingreifbehörde
mit polizeirechtlicher Gewalt zu einer beratenden Insti-
tution wurde. Alles andere – auch die Zusammenarbeit –
ist in § 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes geregelt,
das seit 18 Jahren in Westdeutschland und seit 19 Jahren
in Ostdeutschland in Kraft ist. Ich finde es schön, dass
wir endlich alles umsetzen.






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621723700

Frau Kollegin!


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1621723800

Ich wünsche mir, dass die Ergebnisse der Auswertun-

gen der Fachhochschule Coburg und des bayerischen
Landgerichtstages betreffend die Wirkungen und die
Mängel im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes auf
bayerischer Ebene berücksichtigt werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621723900

Frau Kollegin!


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1621724000

Wir haben festgestellt, dass die Mängel nicht im Ge-

setz, sondern im Vollzug bestehen. Ich wünsche mir,
dass wir dies bei den Beratungen und der Anhörung be-
rücksichtigen. Ich hoffe, dass wir alle in diesem Sinne
zusammenarbeiten werden.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Entschuldigung, das kommt, wenn man als Letzte redet,
Frau Präsidentin. – Ich hoffe, dass wir dies schaffen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621724100

Frau Kollegin, wollen Sie noch die Dinge mitnehmen,

die Sie auf dem Pult haben liegen lassen?


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1621724200

Für jeden Interessierten ist das eine empfehlenswerte

Lektüre: das Grundgesetz und die UN-Kinderrrechts-
konvention.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621724300

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell ist Überweisung des Gesetzentwurfes
auf Drucksache 16/12429 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es
offenbar keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b
sowie Zusatzpunkt 8 auf:

13 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Abrüstung in Privatwohnungen – Maßnah-
men gegen Waffenmissbrauch

– Drucksache 16/12477 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer,
Bodo Ramelow und der Fraktion DIE LINKE

Keine Schusswaffen in Privathaushalten – Än-
derung des Waffenrechts

– Drucksache 16/12395 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Max Stadler,
Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes

– Drucksache 16/12663 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Silke Stokar von Neuforn für Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Fraktion hat sich entschieden, einen inhaltlich umfassen-
den Antrag zur Verschärfung des Waffenrechts in den
Bundestag einzubringen.

Ich weiß sehr wohl, dass wir auch aufgrund der Bera-
tungen der AG der Innenministerkonferenz wenig
Chancen haben, dass der Bundestag in dieser Legisla-
turperiode tatsächlich noch handeln wird. Ich möchte
aber deutlich machen, dass wir uns mit ein paar Placebos
– Amnestie für illegale Waffen oder irgendwelchen bio-
metrischen Schlössern – nicht zufriedengeben werden.

Ich habe den Eindruck, dass die Botschaft aus der Zi-
vilgesellschaft nach dem schrecklichen Amoklauf von
Winnenden bei Ihnen überhaupt nicht angekommen ist.
Wir befinden uns heute in einer anderen Situation. Es
sind nicht mehr die Waffenlobbyisten, die diese Debatte
beherrschen, sondern es sind die Schülerinnen und Schü-
ler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer vor Ort – nicht nur in
Baden-Württemberg, sondern überall –, die sich melden
und deutlich sagen: Wir sind nicht mehr bereit, mit dem
Risiko von großkalibrigen Waffen zu leben, die einige
Menschen noch immer als Sportwaffen bezeichnen und
in ihren Privatwohnungen aufbewahren.






(A) (C)



(B) (D)


Silke Stokar von Neuforn
Das ist der Kern der Debatte. Die Mehrheit der Ge-
sellschaft will nicht mehr, dass jeder Mensch durch die
Mitgliedschaft in einem oder mehreren Sportschützen-
vereinen die Möglichkeit hat, sich zu Hause ein Waffen-
arsenal mit unbeschränkter tödlicher Munition anzule-
gen. Meine Damen und Herren, dies ist nicht kontrollier-
bar. Sie werden nicht in der Lage sein, 1,6 Millionen pri-
vate Waffenbesitzer zu Hause zu kontrollieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Antwort auf diese Situation ist: Wir brauchen
ein radikales Umdenken beim Thema Waffengesetz. Wir
wollen in einer Gesellschaft leben, in der der Grundsatz
gilt: keine Waffen im öffentlichen Raum, keine Waffen
in privaten Wohnungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben heute Girls’ Day. Das Problem der Bewaff-
nung der Bevölkerung mit gefährlichen Schusswaffen ist
ein Männerproblem in unserer Gesellschaft.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das mit dem Girls’ Day in Verbindung zu bringen, ist Quatsch!)


Ich habe in den letzten Tagen und Wochen Gespräche
mit einigen Sportschützinnen geführt. Ich fand diese Ge-
spräche sehr interessant; denn auch ich bin der Auffas-
sung, dass Schießsportvereine weiterhin eine Existenz-
berechtigung in unserer Gesellschaft haben. Ich habe bei
diesen Gesprächen vor Ort nicht mit den Funktionären
der Schießsportverbände gesprochen; denn mit denen
kann man in dieser Frage nicht reden.

Wenn man vor Ort ist, stellt sich die Situation anders
dar. Eine Sportschützin hat zu mir gesagt: Überhaupt
kein Problem, ich brauche keine scharfe Waffe. Für mich
ist Sportschießen Präzisionssport. Für mich heißt das:
Konzentration und Präzision. Das geht auch mit einer
Laserwaffe. – Das ist kein Unsinn.


(Zuruf von der CDU/CSU: Keine Ahnung!)


In der olympischen Disziplin des Fünfkampfs hat man
aus Sicherheitsgründen längst die Entscheidung getrof-
fen, die scharfen Waffen nicht mehr als Sportwaffen zu-
zulassen. Wir brauchen an dieser Stelle eine völlig an-
dere Diskussion.

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. In
meiner Fraktion bin ich auch für den Datenschutz zu-
ständig. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die
buchstäbliche Hemmung der Innenminister, die doch
sonst scharf darauf sind, jeden Bürger und jede Bürgerin
in Hunderten von Dateien zu erfassen. Es gibt nicht ein
einziges vernünftiges Argument dafür, warum es in
Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in
Europa nach wie vor nicht möglich ist, dass Waffenbesit-
zer erfasst werden, dass wir erfassen, welche Waffen in
privaten Wohnungen legal vorhanden sind und dass wir
die Berechtigung des Waffenbesitzes überprüfen. Das
sind Kontrolldefizite in unserer Gesellschaft, die nicht
länger hinzunehmen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Abschließend stelle ich fest: Mir reicht die Hand-
lungsunfähigkeit der Innenpolitiker. Wir werden alle Ini-
tiativen, die sich derzeit bilden, ob das Onlinepetitionen,
Unterschriftensammlungen oder sogar die Vorbereitung
von Volksentscheiden sind, fördern und unterstützen,
weil das Ziel eine Entwaffnung in der Bevölkerung sein
muss. Wir wollen, dass das Gewaltmonopol des Staates
wieder zum Tragen kommt. Wir wollen eine öffentliche
Sicherheit, die dadurch gewährleistet wird, dass wir die
Überbewaffnung in Privatwohnungen abbauen.

Über nichts anderes werden wir mit Ihnen diskutie-
ren. Wir werden uns nicht länger auf diese Scheindebat-
ten einlassen. Wenn das Parlament nicht in der Lage ist,
zu handeln, dann werden wir diese Frage durch öffentli-
che Unterschriftensammlung klären.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621724400

Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1621724500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unmittelbar nach dem unfassbaren Amoklauf von Win-
nenden haben wir im Deutschen Bundestag im Rahmen
einer Aktuellen Stunde eine, wie ich finde, sehr gute De-
batte geführt, die von Nachdenklichkeit und nicht von
reflexartigen Scheinlösungen geprägt war. Wir waren
uns alle einig, dass es bei der Reaktion auf diesen Amok-
lauf um eine neue Kultur des Hinsehens, des Kümmerns
und der Zuwendung, des Bemerkens von Hass und Ver-
zweiflung gehen muss und nicht nur um eine Verschär-
fung des Waffenrechts.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch!)


An diesem Befund hat sich bis zum heutigen Tage nichts
geändert.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir nach Erfurt auch schon ertragen müssen!)


Natürlich hat die fahrlässige Aufbewahrung einer
Waffe den Amoklauf in Winnenden begünstigt. Aber die
eigentliche Frage bleibt doch: Was macht in unserer Ge-
sellschaft aus relativ unauffälligen 16-jährigen Jugendli-
chen Amokläufer, die sich mit unglaublicher Kaltblütig-
keit Mitschüler vorknöpfen und erschießen?


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das ist die zentrale Frage!)


Was ist da passiert, wenn in Eislingen ein Jugendlicher,
den alle als unauffällig schildern und der einen guten
Eindruck gemacht hat, zunächst mit einer unglaublichen
Grausamkeit seine beiden Schwestern und Stunden spä-
ter seine Eltern erschießt? Sachverständige sagen uns in
diesen Tagen, dass solche Taten in aller Regel in einer
Vorbereitungszeit von drei bis sechs Monaten reifen und






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Grindel
dass der Täter dann aber auch entschlossen ist, zu han-
deln. Sinnvolle Verbesserungen des Waffenrechts kön-
nen solche Taten vielleicht erschweren, aber wer, Frau
Kollegin Stokar, will ernsthaft behaupten, dass wir sie
durch gesetzgeberische Maßnahmen allein verhindern
könnten.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behauptet niemand! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie doch nicht gesagt!)


Insofern ist das, was Sie heute gesagt haben, dem Pro-
blem, um das es hier geht, unangemessen. Sie haben die
Tiefe des Problems überhaupt nicht erfasst.


(Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Verantwortung, die Risiken zu minimieren!)


Ich will gar nicht auf die Flut illegaler Waffen verwei-
sen, die ohnehin dazu führt, dass es hundertprozentig
wirksame Lösungen gar nicht geben kann. Ich will aber
darauf verweisen, dass bei der grausamen Tat in Eislin-
gen die Waffen aus dem Stahlschrank des örtlichen
Schützenvereins entwendet wurden. So weit zu denjeni-
gen, die sich für eine zentrale Lagerung von Waffen ein-
gesetzt haben. Die Tat wurde mit Kleinkaliberwaffen
verübt. Es ist also nur eine scheinbare Sicherheit, wenn
man Großkaliberschießen generell verbieten würde.


(Zuruf von der CDU/CSU: Allerdings!)


Trotzdem ist es richtig, eine substanzielle Verbesse-
rung des Waffenrechts zu untersuchen, wie das jetzt in
einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe geschieht, die nach
meinem Kenntnisstand auch noch keine Ergebnisse vor-
gelegt hat, weshalb mir manche Pressemeldung heute
übereilt erscheint.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Grindel, wir haben eine eigene Verantwortung!)


Nicht zuletzt sind wir den Angehörigen der Opfer von
Winnenden eine Überprüfung des Waffenrechts schul-
dig,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist richtig!)


die sich in zwei bemerkenswerten Briefen an uns ge-
wandt haben. Sie haben einen Anspruch darauf, dass die
Politik alles in ihrer Kraft Stehende für eine wirkliche
Verbesserung des Waffenrechts tut und ihnen eine ange-
messene Antwort gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Unsere Überlegungen, die wir dabei anstellen, müs-
sen allerdings tatangemessen sein. Ich unterstütze die
vom baden-württembergischen Innenminister Heribert
Rech und anderen vorgeschlagene Amnestie für illegale
Waffenbesitzer. Dabei ist der Einwand, eine vergleich-
bare Aktion nach dem Amoklauf von Erfurt habe keinen
großen Erfolg gehabt, für mich nicht überzeugend. Jede
einzelne illegale Waffe, die aus dem Verkehr gezogen
wird, bedeutet ein kleines Stückchen mehr Sicherheit,
und dagegen kann niemand ernsthaft etwas einwenden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt auch für jede legale Waffe!)


Ich würde es unterstützen, wenn sich die zuständigen
Ordnungsbehörden etwa bei älteren Menschen bereit er-
klärten, die entsprechenden Waffen abzuholen. Ich halte
aber eine Abwrackprämie für illegale Waffen, wie Sie,
Frau Kollegin Stokar, sie gefordert haben, nun wirklich
nicht für die richtige Maßnahme. Wir dürfen rechtswid-
riges Verhalten zum einen nicht auch noch prämieren,
und zum anderen finde ich die Wortwahl völlig indisku-
tabel. Angesichts der Tragödien von Winnenden und
Eislingen brauchen wir den Umständen der Tat ange-
messene Antworten. Die Schaffung einer solchen Ab-
wrackprämie ist schon von der Wortwahl her eine völlig
unangemessene Reaktion auf das eigentliche Problem,
mit dem wir es zu tun haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann finden Sie einen anderen Begriff!)


Die Koalition wird im Lichte der Ergebnisse der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, verehrte Frau Kollegin
Stokar, schon in der nächsten Sitzungswoche darüber be-
raten, in welchen Bereichen es gesetzgeberischen Hand-
lungsbedarf gibt und ob dieser noch in dieser Legislatur-
periode umgesetzt werden kann. Dabei sind die
Vorschläge, die die Angehörigen der Opfer von Winnen-
den gemacht haben, in alle Überlegungen einzubeziehen.

Die Angehörigen haben die Frage der Altersbegren-
zung beim großkalibrigen Schießen problematisiert. Ich
will offen bekennen: Die Schützenvereine in meinem
Wahlkreis machen eine sehr verantwortungsvolle Nach-
wuchsarbeit wie viele andere Schützenvereine in ganz
Deutschland. Da darf niemand unter Generalverdacht
gestellt werden. Ich finde es im Übrigen auch besser,
wenn Jugendliche mit Laser- oder Luftdruckwaffen im
Schützenverein schießen, als wenn sie mit Softair- oder
Paintball-Waffen in den Wald ziehen und dort ohne jede
Hemmung und vor allen Dingen ohne jede fachliche
Aufsicht schießen.

Ich will aber auch betonen: Ich kann nicht erkennen,
dass für diese wichtige Nachwuchsarbeit in den Schüt-
zenvereinen das Schießen mit Großkaliber zwingend er-
forderlich ist. Deshalb bin ich dafür, dass wir die Alters-
grenze auf 18 Jahre heraufsetzen. Ich bin sehr dankbar,
dass der Deutsche Schützenbund diese Überlegungen
mitträgt. Es ist nicht so, dass die Verantwortlichen an der
Spitze des Deutschen Schützenbundes und auch des
Deutschen Jagdschutz-Verbandes für diese Gespräche
nicht offen wären und uns in unserem Bemühen, sinn-
volle Verbesserungen des Waffenrechts durchzusetzen,
nicht unterstützen würden. Sie tun es sehr wohl, und Sie
haben das, was hier vonseiten der Verbände Positives ge-
leistet wird, nicht richtig gewürdigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Grindel
Ich finde ebenso richtig, dass wir alle neuen techni-
schen Möglichkeiten im Bereich der Biometrie nutzen,
um Waffen und Waffenschränke gegen den Zugriff Un-
befugter besser zu sichern. Bei einem Gespräch mit den
Verbänden der Schützen und Jäger, das wir von der
CDU/CSU in dieser Woche geführt haben, wurde eben
auch berichtet, dass diejenigen Firmen, die Waffen-
schränke bauen und vertreiben, mit der Auftragsbearbei-
tung nach Winnenden kaum noch nachkommen und teil-
weise Lieferzeiten von einem halben Jahr haben. Diese
Waffenschränke sind aber seit 2003 verbindlich zur Auf-
bewahrung vorgeschrieben. Insofern müssen wir uns der
Frage der besseren Kontrolle der bereits bestehenden
Aufbewahrungsvorschriften zuwenden.


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!)


Wir sollten auch die Mitwirkungspflichten der Waf-
fenbesitzer ausweiten, etwa wenn es um den präzisen
Nachweis der sicheren Aufbewahrung geht. Da kann das
Übersenden der Rechnung für einen Waffenschrank si-
cherlich nicht ausreichen.

Ich will noch einmal betonen: Ich bin sehr dankbar,
dass sowohl der Deutsche Jagdschutz-Verband als auch
der Deutsche Schützenbund den Ansatz unterstützen,
dass wir hier bei der Überwachung der Mitwirkungs-
pflichten im Rahmen des nach Art. 13 Grundgesetz
Möglichen auch zu verdachtsunabhängigen Kontrollen
kommen. Ich halte das für eine ganz wesentliche Verbes-
serung des Gesetzesvollzugs. Ich bin dankbar dafür, dass
uns die Verbände unterstützen. Das wird uns auch vor
Ort, also bei den Jägerschaften und den Schützenverei-
nen, helfen. Wir können dann sagen: Wir haben von eu-
ren Repräsentanten auf Bundesebene, die unsere An-
sprechpartner in dieser Frage sind, Unterstützung. Das
begrüße ich ausdrücklich. Das hilft uns.

Ebenso müssen wir über eine effektivere Prüfung des
waffenrechtlichen Bedürfnisses nachdenken, damit
wirklich nur der Waffen hat, der tatsächlich aktiv im
Schützenverein in der jeweiligen Disziplin schießt. Frau
Kollegin Stokar, Sie wissen ganz genau, dass die Frage
des zentralen Waffenregisters in einer entsprechenden
EU-Richtlinie behandelt wird. Diese Richtlinie hätten
wir bis 2014 umzusetzen. Das wird man jetzt natürlich
zeitlich beschleunigen. Es ist zweifellos ein Sicherheits-
gewinn, wenn insbesondere unsere Sicherheitskräfte
wissen, dass sie in einen Haushalt kommen, in dem Waf-
fen vorhanden sind.

Frau Kollegin Stokar, ich will angesichts dessen, was
Sie hier gesagt haben, und vor allen Dingen angesichts
der Art und Weise, wie Sie es gesagt haben, Ihnen mit
auf den Weg geben: Das Thema Waffenrecht eignet sich
in diesen Wochen und Monaten gerade vor dem Hinter-
grund der aktuellen Ereignisse überhaupt nicht für klein-
liche Geländegewinne im politischen Wettbewerb.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Die Anträge von Linkspartei und Grünen haben sich
schon durch die Tatumstände im Mordfall von Eislingen
als unzureichend erwiesen. Hessens Innenminister
Volker Bouffier hat heute zu Recht vor Aktionismus ge-
warnt. Wir brauchen wirksame Verbesserungen des Waf-
fenrechts, die wir gemeinsam mit den Ländern und den
Verbänden von Schützen und Jägern erarbeiten wollen.
Darauf können sich die Angehörigen der Opfer, darauf
können sich alle Bürger dieses Landes verlassen.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht nicht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621724600

Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

schockierende Verbrechen von Winnenden und Wendlin-
gen hat uns alle betroffen gemacht. Wir fragen uns, wie
wir uns in Zukunft vor ähnlichen Untaten schützen kön-
nen. Inzwischen ist es zu weiteren Straftaten mit Waffen
in Landshut und Eislingen gekommen. Diese Fälle wer-
fen ein bezeichnendes Licht auf die nach Winnenden re-
flexartig erhobenen politischen Forderungen. Einige
hiervon haben die Linken und die Grünen vorgelegt.

Zunächst einmal ist jedoch festzuhalten: Ein General-
verdacht gegen alle Sportschützen, Waffensammler, Jä-
ger oder Berufswaffenträger ist nicht gerechtfertigt


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den hat doch auch niemand!)


und kann eine Diskussion um die wirklichen Ursachen
kriminellen oder gewaltsamen Handelns nicht ersetzen.


(Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN)


Nicht zuerst die Waffe ist das Problem, sondern der
Mensch, der sie einsetzt.


(Dr. Max Stadler [FDP]: Leider ist es so!)


Insofern muss die gesellschaftspolitische Frage der Ge-
walt- und Kriminalprävention vor der Frage der waffen-
rechtlichen Verschärfung gestellt werden.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben auf Bundesebene mit dem Deutschen Forum
für Kriminalprävention eine wichtige Einrichtung, die es
zu stärken gilt.

Gleichwohl hält die FDP stringente Regeln im deut-
schen Waffenrecht für wichtig. Derzeit erschweren Bü-
rokratie und die Kompliziertheit des Waffenrechts den
gesetzlichen Vollzug. Einfache, wirkungsvolle und an-
wendbare Gesetze nützen der Sicherheit mehr als immer
neue Vorgaben.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie Vorschläge!)


Nach Auskunft der Bundesregierung stammen ledig-
lich 2 bis 3 Prozent aller bei Schusswaffenkriminalität






(A) (C)



(B) (D)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

eingesetzten Waffen aus legalem Besitz. Da sieht man
die Grenzen eines Waffenrechts. Ziel der FDP ist es des-
halb, den illegalen Waffenbesitz einzuschränken. Des-
halb fordert die FDP heute mit dem von ihr vorgelegten
Gesetzentwurf, den illegalen Schusswaffenbesitz einzu-
dämmen, indem eine Abgabe illegaler Waffen bis zum
Stichtag straffrei gestellt werden soll.


(Beifall bei der FDP – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Ausweichdebatte!)


– Das allein reicht selbstverständlich nicht. Schauen Sie
sich den Gesetzentwurf an, Frau Kollegin.

Die Forderung nach einem zentralen Waffenregister
ist Rechtslage der EU. Ob ein Vorziehen vor den Termin
zur Umsetzung der EU-Regelung praktikabel ist, wird
sicherlich zu prüfen sein. Allerdings sollten wir ehrlich
zugeben: Das Waffenregister hätte keine der erschre-
ckenden Straftaten in den vergangenen Wochen verhin-
dert.


(Dr. Max Stadler [FDP]: So ist es!)


Allein die Registrierung wirkt nicht wirklich präventiv.

Von verschiedener Seite wurde ein Totalverbot priva-
ter Schusswaffen gefordert. Das Beispiel aus Großbri-
tannien, wo 1997 nach dem Amoklauf eines 43-Jährigen
in Dunblane alle Handfeuerwaffen in Privatbesitz verbo-
ten wurden, zeigt, dass damit die Schusswaffenkrimina-
lität nicht nachhaltig eingedämmt werden konnte. Wer
ein generelles Verbot von Waffen in Privatbesitz fordert,
sollte klar sagen: Dann kann es keinen Schützenverein,
keine Sammler historischer Waffen und keine Jäger
mehr geben.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So ist es, und das wollen wir nicht! – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: All das gibt es in England und auch in Australien!)


Ob diese Zerstörung des Vereinslebens einen Sicher-
heitsgewinn bedeutet, darf wohl bezweifelt werden. Jä-
ger und Schützen zu kriminalisieren, Frau Kollegin, hält
die FDP vor diesem Hintergrund nicht für sinnvoll.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht doch niemand! – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch in England gibt es Jäger!)


Grüne und Linke fordern, die Schusswaffenverwah-
rung in Privathaushalten zu unterbinden. Das ist eine
Wiedergängerdebatte, die wir schon aus den letzten Jah-
ren kennen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben! Sie sind immer dagegen!)


Selbst mit vielleicht verfügbarer besserer Sicherheits-
technik wären solche zentralen Waffendepots in Randla-
gen ein verlockendes Ziel für Kriminelle. Das zeigt ge-
rade die Tat von Eislingen, wo vor der Tat in ein solches
Schützenheim eingebrochen wurde. Der entscheidende
waffenrechtliche Ansatz zur Erhöhung der öffentlichen
Sicherheit ist aus Sicht der FDP vor allem die Beseiti-
gung der Vollzugsdefizite.

Wir brauchen regelmäßige Kontrollen der Aufbewah-
rung von Waffen. So wie zum Beispiel der Privathaus-
halt durch Schornsteinfeger oder wie Gewerberäume
durch den Wirtschaftskontrolldienst überprüft werden,
sollte die sichere Aufbewahrung der Waffen durch die
Ordnungsbehörden überprüft werden. Dazu bedarf es ei-
ner personell und materiell besseren Ausstattung dieser
Behörden.

Regelmäßige Kontrollen auf breiter Basis, die bei
Verstößen den konsequenten Entzug der Waffenbesitz-
karte zur Folge haben, dürften sich wegen der Abschre-
ckung recht rasch als wirksames Instrument gegen den
fahrlässigen Umgang mit den Aufbewahrungsvorschrif-
ten herausstellen.


(Beifall bei der FDP)


Ich sage aber auch: Das Sanktionssystem muss gegebe-
nenfalls angepasst werden.

Meine Damen und Herren, als Abgeordneter aus dem
Wahlkreis von Winnenden hat es mich besonders betrof-
fen gemacht, dass Kolleginnen und Kollegen schon we-
nige Stunden nach der Tat mit politischen Rezepten bei
der Hand waren; einige haben das schon angesprochen.
Ich meine, es wäre richtiger gewesen, wenn wir, die
hauptamtlichen Politiker dieser Republik, einmal inne-
gehalten hätten.

Wir sind nicht allmächtig. Wir können keine absolute
Sicherheit garantieren. Wir sollten auch nicht den Ein-
druck erwecken, wir könnten es. Das gilt umso mehr, als
bis heute nicht einmal die Waffenrechtsänderungen nach
der Bluttat von Erfurt evaluiert sind, geschweige denn
die vom vorigen Jahr. Wir können nur Gesetze machen.
Aber kein Gesetz kann schützen, wenn es nicht beachtet
und vollzogen wird.

Der Respekt vor den Opfern sollte es eigentlich ver-
bieten, die immer wieder gleichen vermeintlichen Heils-
rezepte aufzuwärmen, erst recht unmittelbar nach einer
solch schrecklichen Bluttat.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621724700

Gabriele Fograscher ist die nächste Rednerin für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1621724800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen!

Wir wollen, dass sich etwas ändert in dieser Gesell-
schaft, und wir wollen mithelfen, damit es kein
zweites Winnenden mehr geben kann.

Dieses Zitat aus dem offenen Brief der Eltern der Op-
fer des Amoklaufs von Winnenden an die Politik neh-






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Fograscher
men wir ernst. Amokläufe in Zukunft zu verhindern,
können wir nicht versprechen, aber wir müssen alles da-
für tun, sie zu erschweren.

Die Ursachen, die einen jungen Mann dazu bringen,
eine solch sinnlose Tat zu begehen, werden nie wirklich
aufgeklärt werden können. Persönlichkeitsstörungen,
Frustrationen, Männlichkeitswahn, Aggression, Hass,
Probleme im sozialen Umfeld, das Herabsetzen der
Hemmschwelle für Gewalt durch sogenannte Killer-
spiele – dies alles können Ursachen sein, aber möglich
wurde die grausame Tat durch das grob fahrlässige He-
rumliegenlassen einer Schusswaffe und der dazugehöri-
gen Munition.

Wir müssen uns der Frage stellen: Wie wachsen junge
Männer in unserem Land auf? Warum spielen sie Killer-
spiele? Warum schauen sie Gewaltvideos? Was muss als
Auslöser dazukommen, damit aus der virtuellen Gewalt
grausame Realität wird?

Verantwortung der Medien bei der Berichterstattung
über Amokläufe, aber auch Eindämmung von Gewalt im
Fernsehen und auf Internetplattformen einzufordern, ist
schwieriger, als die Forderung nach gesetzlichen Rege-
lungen im Waffenrecht zu erheben; umso mehr gilt das
für die Erfüllung solcher Forderungen. Deshalb kann die
derzeitige Diskussion über Änderungen im Waffenrecht
nur ein Baustein sein, wenn es darum geht, solche Taten
in Zukunft zu erschweren. Die Änderungen liegen in der
Zuständigkeit des Bundes, des Bundestages; der Vollzug
des Waffenrechts und die Kontrolle der gesetzlichen
Vorschriften aber obliegen den Ländern. Deshalb ist es
zu begrüßen, dass sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe
gebildet hat, die sich mit den vielfältigen Vorschlägen
zur Änderung des Waffenrechts befasst.

Ich will Ihnen die Überlegungen der SPD-Bundes-
tagsfraktion zu möglichen Änderungen darstellen. Ich
betone, dass wir keine Placebos oder Scheinlösungen an-
bieten wollen.

Wir sollten die augenblickliche Sensibilität der Be-
völkerung nutzen, um möglichst viele illegale Waffen
aus dem Verkehr zu ziehen. Deshalb wollen wir eine be-
fristete Amnestieregelung und unterstützen entspre-
chende Initiativen.


(Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD])


Eine weitere Maßnahme, die wir noch in dieser Legis-
laturperiode auf den Weg bringen könnten, ist die Schaf-
fung eines zentralen Waffenregisters. In diesem Zusam-
menhang sollten wir überlegen, wie es bei
Vorhandensein solcher Waffenregister gelingen könnte,
Warnzeichen, Signale oder auffälliges Verhalten, zum
Beispiel geäußerte Gewaltfantasien, und die Informa-
tion, dass sich im Umfeld der Person Waffen befinden,
zu nutzen, um schon vor einer Tat einschreiten zu kön-
nen.

Ein Gesetz braucht Kontrolle. Das heißt, dass die ord-
nungsgemäße Aufbewahrung der Waffen und der ord-
nungsgemäße Transport stärker kontrolliert werden müs-
sen. Zum einen könnte es Informationen und Kontrollen
durch die Schützenvereine selbst geben. Zum anderen
könnte man die Zuverlässigkeitsprüfung zum Waffener-
werb mit einer Einwilligung zu Kontrollen verbinden.
Damit wäre den zuständigen Behörden die Möglichkeit
gegeben, stichprobenartig die gesetzeskonforme Aufbe-
wahrung der Waffen zu überprüfen. Diesem Vorschlag
würde auch der Deutsche Schützenbund zustimmen.

Im derzeit geltenden Waffengesetz wird der Nachweis
des Bedürfnisses für den Waffenerwerb nach drei Jahren
neu geprüft. Danach ist keine weitere Prüfung des Be-
dürfnisses vorgesehen. Wir können uns vorstellen, in re-
gelmäßigen Zeitabständen eine erneute Prüfung vorzu-
nehmen.

Den Vorschlag der zentralen Lagerung von Waffen
und Munition oder beidem im Schützenhaus halte ich
derzeit für nicht praktikabel. Die Verfügbarkeit in Privat-
haushalten wäre dann zwar nicht mehr gegeben. Es wür-
den aber neue Sicherheitsprobleme für solche zentralen
Waffen- oder Munitionsdepots auftreten. In diesen De-
pots würden jeweils mehrere Hundert Waffen und meh-
rere Zehntausend Schuss Munition lagern. Erst kürzlich
– es ist schon angesprochen worden – wurden aus einem
Schützenhaus Waffen entwendet. Dadurch wurden Fa-
milientragödien mit mehreren Toten ausgelöst.

Das Verbot von großkalibrigen Waffen, vor allem
Kurzwaffen, im Schießsport halten wir für eine Maß-
nahme zur Eindämmung der Anzahl besonders gefährli-
cher Waffen. Es ist kein Zufall, dass die olympischen
Disziplinen bis auf die Flinte zum Skeet- oder Trap-
Schießen ausschließlich aus sportlichem Schießen mit
Druckluft- und Kleinkaliberwaffen gebildet werden. Es
gibt auch kein gesellschaftlich anerkanntes Bedürfnis,
mit großkalibrigen Waffen, wie sie etwa von Polizeibe-
hörden oder Streitkräften genutzt werden, Sport zu be-
treiben.

Die Entwicklung technischer Sicherungssysteme für
Waffen hat in den letzten Jahren Fortschritte gemacht.
Waffen können sowohl im Lauf als auch im Abzug und
auch im Patronenlager elektronisch, mechanisch und bio-
metrisch gegen unbefugten Zugriff gesichert werden.
Die Kosten hierfür halten sich inzwischen in einem über-
schaubaren Rahmen. Eine so erreichte Schussunfähig-
keit der Waffe bietet das größte Maß an Sicherheit vor
unberechtigtem Zugriff.

Wir fordern auch ein Verbot von gefechtsähnlichen
Schießsportübungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Bereits nach geltendem Recht ist kampfmäßiges Schie-
ßen im Sport verboten. Es haben sich aber einzelne
Schießsportdisziplinen entwickelt, die zwar nicht unmit-
telbar als kampfmäßiges Schießen eingestuft werden
können, die aber dessen Charakter sehr nahe kommen.
Bei diesem IPSC- oder Western-Schießen wird auf be-
wegliche Ziele, die Menschen darstellen oder symboli-
sieren, geschossen. Es ist nicht ersichtlich, wie das
Schießen aus der Bewegung, ein Stellungswechsel unter
Ausnutzung von Deckungsmöglichkeiten sowie die Ein-
beziehung von Schieß- und Nicht-Schießelementen in






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Fograscher
die Übung als sportliches Schießen angesehen werden
können. Dabei handelt es sich um die Nachahmung
dienstlichen Schießens von militärischen und polizeili-
chen Spezialeinheiten.

Außerhalb des Waffenrechts stehend, aber mit der
Thematik verwandt ist das sogenannte Paintball- oder
Gotcha-Schießen. Hierbei wird mit Farbkugeln auf an-
dere Menschen geschossen. Dieses „Spiel“ verletzt in
meinen Augen die Menschenwürde.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb wird in der schon erwähnten Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe mit Recht über Möglichkeiten für ein Verbot
nachgedacht.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
einmal betonen, dass vor den Amokläufen in Emsdetten,
Erfurt und Winnenden grob fahrlässig gegen geltendes
Waffenrecht verstoßen wurde. Alle gesetzlichen Rege-
lungen können nur dann wirksam sein, wenn sie einge-
halten und kontrolliert werden.

Neben den von mir genannten Überlegungen zu Än-
derungen im Waffenrecht brauchen wir eine breit ange-
legte und intensive Diskussion über gesellschaftliche Ur-
sachen und Fehlentwicklungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621724900

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Ulla

Jelpke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621725000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Amoklauf von Winnenden hat deutlich gemacht, dass es
dringenden politischen Handlungsbedarf gibt. Die Frak-
tion Die Linke will erreichen, dass Schusswaffen aus
Privathaushalten entfernt werden. Herr Grindel, niemand
behauptet hier – auch wir nicht –, dass man durch Geset-
zesänderungen oder -verschärfungen solche tragischen
Ereignisse in Zukunft verhindern könnte; aber wir kön-
nen auch nicht den Mord an 15 Menschen durch einen
Amokläufer einfach hinnehmen, ohne uns über Konse-
quenzen Gedanken zu machen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das tut ja niemand! – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das tut wirklich keiner!)


– Das habe ich Ihnen auch nicht vorgeworfen. Bleiben
Sie einmal sachlich!

Wir haben in den letzten Wochen zahlreiche Briefe
zum Beispiel von Schützen, Jägern und Waffensamm-
lern erhalten. Sie alle enthielten die Befürchtung, dass
jetzt vor allem die Schützen pauschal bestraft und vor-
verurteilt werden sollen. Ich möchte hier für die Linke
klar sagen, dass es uns nicht darum geht, ein generelles
Misstrauen gegenüber Sportschützen, Waffensammlern
und Jägern zu schüren. Wir wollen schlicht und einfach
Folgendes erreichen: Der spontane Zugriff auf Schuss-
waffen soll erschwert werden. Wir schlagen vor, Schuss-
waffen grundsätzlich nur noch in Schützenvereinen oder
an anderen geeigneten Stellen aufzubewahren, wo sie
selbstverständlich bewacht werden müssen.


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Wenn der Wächter der Täter ist, was passiert dann?)


Für all jene, die ihre Waffen legal nutzen, beispiels-
weise für Sportschützen, stellt das wirklich nur eine
kleine Hürde dar. Wozu sollten sie denn ihre Waffen un-
bedingt zu Hause lagern? Im Garten dürfen sie sowieso
nicht schießen. Für all jene aber, die spontan und wider-
rechtlich zu Waffen greifen wollen, um damit Verbre-
chen zu begehen, würde unser Vorschlag eine große
Hürde darstellen. Auch die Gefahr, dass Einbrecher in
den Besitz von Schusswaffen kommen – das ist hier
schon erwähnt worden –, würde unseres Erachtens deut-
lich verringert. Natürlich kann man es nicht gänzlich
verhindern, dass am Aufbewahrungsort eingebrochen
wird; aber es ist, wie gesagt, wichtig, eine Hürde aufzu-
bauen.

Wie Sie wissen, hat der Amokläufer von Winnenden
wie andere vor ihm davon profitieren können, dass sein
Vater eine Schusswaffe ungesichert zu Hause aufbe-
wahrte, zusammen mit der Munition. Es ist schon gesagt
worden: Das hätte nicht sein dürfen; die Gesetze sind
nicht eingehalten worden. Die Linke sagt hier ganz klar:
Der Gesetzgeber muss dafür Sorge tragen, dass so etwas
nicht mehr sein darf.

Unser Antrag greift weit weniger in die Rechte der
Bürgerinnen und Bürger ein, als es viele andere Vor-
schläge tun. Wir wollen Waffenbesitzern nicht zumuten,
dass alle paar Tage eine unangekündigte Inspektion statt-
findet. Herr Wolff, ein Schornsteinfeger kommt ange-
meldet, oftmals nur einmal im Jahr. Wenn man eine In-
spektion ankündigen würde – das wissen auch Sie –,
dann wäre der Waffenschrank natürlich abgeschlossen.


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das war nicht sein Vorschlag!)


Inspektionen wären keine Lösung; sie würden eine
Misstrauenserklärung gegenüber all denen darstellen,
die verantwortungsvoll mit ihren Waffen umgehen. Wir
wollen, dass die Waffen aus den Wohnungen verschwin-
den und in einbruchssicheren, bewachten Safes gelagert
werden. Uns ist völlig klar, dass unser Antrag dem Miss-
brauch illegaler Waffen, von denen hier heute schon die
Rede war – schätzungsweise sind etwa 20 Millionen sol-
cher Waffen im Umlauf –, nicht beikommen kann.

Ich möchte am Ende meiner Rede darauf verweisen,
dass die Angehörigen der Opfer von Winnenden einen
sehr wichtigen offenen Brief an die Politikerinnen und
Politiker, an die Gesellschaft verfasst haben, in dem es
um sehr viel mehr als nur um das Waffenrecht geht. Ich
meine, die eigentliche Debatte muss sich mit den Ursa-
chen und mit der Frage beschäftigen: Wie können wir es
zukünftig verhindern, dass Amokläufe wie die von Er-
furt und Winnenden anderswo stattfinden?






(A) (C)



(B) (D)


Ulla Jelpke
Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621725100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12477, 16/12395 und 16/12663 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann wird die
Überweisung so beschlossen.

Jetzt komme ich zu einer längeren Vorlesung mit Ihrer
Beteiligung, weil die übrigen Reden zu Protokoll gege-
ben werden.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wissenschaftlich?)


– Nicht wissenschaftlich, aber doch spannend.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht

(Tuchenbach), Renate Gradistanac, Angelika

Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Frauen und Mädchen mit Behinderungen
wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsan-
gebote verbessern

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Lage der Frauen mit Behinderungen in der
Europäischen Union
Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit
Behinderungen in der Europäischen Union

(2006/2277 – Drucksachen 16/11775, 16/6041 Nr. 1.7, 16/12545 – Berichterstattung: Abgeordnete Antje Blumenthal Marlene Rupprecht Ina Lenke Diana Golze Irmingard Schewe-Gerigk Es ist vorgeschlagen worden, die Reden zu Protokoll zu geben. – Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Antje Blumenthal, Marlene Rupprecht, Ina Lenke, Dr. Ilja Seifert und Irmingard Schewe-Gerigk.1)


(EuB-EP 1492)


1) Anlage 5
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 16/12545. Der Aus-
schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch
die Bundesregierung den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/11775 anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Die Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD
und Die Linke ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung
von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 15:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Potenziale der Tourismusbranche in der Ent-
wicklungszusammenarbeit durch Aufgaben-
bündelung im Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie ausschöpfen

– Drucksachen 16/8176, 16/12185 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Reinhold Hemker
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Jürgen Klimke,
Dr. Reinhold Hemker, Ernst Burgbacher, Dr. Ilja Seifert
und Bettina Herlitzius.2)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Potenziale der Tourismusbranche in
der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufgabenbün-
delung im Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-
nologie ausschöpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12185, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8176
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist damit bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange-
nommen. Es gibt keine Enthaltungen.

Zusatzpunkt 9:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Kontopfändungsschutzes

2) Anlage 6






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
– Drucksache 16/7615 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12714 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von Michael
Grosse-Brömer, Dirk Manzewski, Mechthild Dyckmans,
Dr. Barbara Höll, Jerzy Montag sowie dem Parlamenta-
rischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12714, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/7615 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. – Die Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die
Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher
angenommen.

Tagesordnungspunkt 17:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Alexander Ulrich, Monika Knoche, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus
dem Europäischen Entwicklungsfonds

– Drucksachen 16/4490, 16/5984 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Andreas Weigel
Hellmut Königshaus
Heike Hänsel
Thilo Hoppe

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Anette
Hübinger, Bärbel Kofler, Hellmut Königshaus, Heike
Hänsel und Thilo Hoppe.

1) Anlage 7

Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1621725200

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke be-

zieht sich auf den Beschluss des AKP-EG-Ministerrats
aus 2004, mit dem die Einrichtung der Afrikanischen
Friedensfazilität ermöglicht wurde, die den Aufbau einer
afrikanischen Eingreiftruppe und die Durchführung frie-
denserhaltender Maßnahmen der Afrikanischen Union
unterstützt. Aufgrund dessen wurde für die Laufzeit von
2004 bis 2007 die Afrikanische Friedensfazilität mit
250 Millionen Euro ausgestattet. Diese Mittel sind im
Rahmen des Cotonou-Abkommens im 9. Europäischen
Entwicklungsfonds bereitgestellt worden. Auch im
10. EEF ist diese Fazilität enthalten und wurde um
50 Millionen Euro aufgestockt. Die Fraktion Die Linke
nimmt diese Beschlusslage zum Anlass, die Finanzierung
der Afrikanischen Friedensfazilität aus EEF-Mitteln als
Zweckentfremdung von Mitteln zu bezeichnen und zudem
deren Auftrag als Militäreinsatz zu bezeichnen. Eine Fi-
nanzierung dieser wichtigen Friedensmaßnahme, die
Grundlage für eine weitere Entwicklung ist, soll nach
dem Willen der Linken nicht aus Mitteln des Europäi-
schen Entwicklungsfonds finanziert werden. Die Linke
verschweigt aber, woher die Mittel kommen sollen. Das
ist leider bei ihnen nichts Neues. Alle erdenklichen Ver-
sprechen, aber kein Wort dazu, woher das Geld kommen
soll. Das ist in meinen Augen Augenwischerei.

Wie auch die Ausschussberatung klar aufzeigte, ver-
kennt die Fraktion Die Linke zudem den hohen Stellen-
wert, den die Afrikanische Friedensfazilität ganz im
Sinne unserer Entwicklungspolitik zu leisten imstande ist,
gerade auch bei der Bewältigung von Konflikten, nämlich
als ein flankierendes Instrument zu notwendigen – und
ich betone: zu notwendigen! – militärischen Einsätzen.
Ihre Behauptung, die Mittel seien für Militäreinsätze ver-
wendet worden, ist völlig haltlos. Im Rechtsakt zur Ein-
richtung der Afrikanischen Friedensfazilität ist eindeutig
geregelt, wofür diese Mittel verwendet werden dürfen. Ich
zitiere: „Der Betrag kann mobilisiert werden, um die
Kosten zu decken, die den afrikanischen Ländern aus dem
Einsatz ihrer Friedenstruppen in einem oder mehreren
afrikanischen Ländern entstehen: Kosten für die Beförde-
rung der Truppen, Aufenthaltskosten für die Soldaten,
Kapazitätsausbau.“ Und es ist explizit erwähnt, dass
diese Mittel – ich zitiere – „in keinem Fall für Militär-
und Rüstungsausgaben verwendet werden können“. Die
Unterstützung der Afrikanischen Union durch Mittel der
Afrikanischen Friedensfazilität war gerade zu der dama-
ligen Zeit in der Region Darfur im Sudan aufgrund der
bis dato größten humanitären Katastrophe von größter
Wichtigkeit. Die benötigten Mittel stiegen sogar weit über
die veranschlagten Mittel hinaus. Die Bundesregierung
hatte daraufhin im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft
2007 sich für eine zusätzliche Unterstützung der AU-Mis-
sion durch bilaterale Beiträge der einzelnen Mitglied-
staaten über den EEF hinaus eingesetzt. Der Antrag der
Fraktion Die Linke als selbsternannte „Friedenspartei“
verkennt, dass in Krisen- und Konfliktregionen Afrikas
Friedensmissionen der Afrikanischen Union entschei-
dend zur Verkürzung von militärischen Einsätzen beitra-
gen, und das aufgrund ihres friedenssichernden und sta-
bilisierenden Charakters. Eine weitere Forderung des
Antrages nach dem Aufbau eines europäischen zivilen


(A) (C)



(B) (D)


Anette Hübinger
Friedensdienstes ist leider auch sehr realitätsfern. Denn
nicht alle zivilen Friedensdienste in Europa haben dieses
gemeinsame Ziel. Sie befürchten eine zu starke Verein-
nahmung durch die Politik und so den Verlust ihrer Un-
parteilichkeit. Sie streben im Gegensatz zu ihnen einen lo-
sen Netzwerkverbund an. An dieser Stelle möchte ich
auch darauf hinweisen, dass ich den Zivilen Friedens-
dienst durchaus unterstütze, weil deren Mitarbeiter in
vielen Teilen der Welt unschätzbare Arbeit leisten, oft
auch in nicht ungefährlichen Situationen für ihr eigenes
Leben.

Seit der Einrichtung des Zivilen Friedensdienstes vor
zehn Jahren wurde dieser mit Haushaltsmitteln des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in

(1999 bis 2007)

kräften in 43 Ländern finanzieren konnten. Zivile Frie-
denskräfte leisten in Krisen- und Konfliktsituationen ei-
nen unschätzbaren Beitrag für einen gewaltfreien Um-
gang mit Konflikten. Ich muss hier aber auch entschieden
dem Eindruck, den Sie, sehr verehrte Damen und Herren
von den Linken immer wieder verbreiten, entgegentreten,
nämlich der Annahme, dass in Konflikt- und Krisensitua-
tionen ausschließlich auf zivile Friedensdienste gesetzt
werden sollte und könnte. Das ist schlicht und einfach
falsch und verkennt völlig die oft lebensbedrohlichen Si-
tuationen, denen die Menschen in Konfliktsituationen
ausgesetzt sind. Der Zivile Friedensdienst ist ein wichti-
ges Instrument, aber eben nur eines unter anderen bei der
Bewältigung von Krisensituationen. Und das sollten auch
Sie zur Kenntnis nehmen. Meine Kollegen von der Frak-
tion Die Linke, in Ihrem Antrag zeigen Sie einmal mehr,
dass Sie eine fehlgeleitete Politik verfolgen, die den Men-
schen viele Versprechungen macht, die aber von der Rea-
lität weit entfernt ist. Die Fraktion der CDU/CSU lehnt
diesen Antrag ab.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1621725300

Anlass zur heutigen Debatte gibt ein Antrag der Lin-

ken, der in seinen Forderungen weder politisch richtig
noch aktuell ist. „Keine Unterstützung von Militäreinsät-
zen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds“ lautet die
Überschrift des Antrags vom März 2007. Ein unnötiger
Appell, schon damals, da aus dem Europäischen Entwick-
lungsfonds (EEF) niemals Militäreinsätze finanziert wur-
den.

Worum es eigentlich geht, ist die Unterstützung einer
Friedensmission der Afrikanischen Union (AU), die im
Jahr 2004 zur Überwachung des Waffenstillstandsab-
kommens in Sudan/Darfur entsandt wurde. Es handelte
sich dabei um die AU-Mission AMIS. Und bei dieser Frie-
densmission ohne robustes Mandat handelte es sich eben
nicht um einen Militäreinsatz. Äpfel sind Äpfel, und Bir-
nen sind Birnen, das müsste auch die Linke wissen. Im
Antragstext selbst wird dann auch nicht von Militärein-
sätzen gesprochen, da ist von einer Mission der Afrikani-
schen Union die Rede und der Durchführung friedenser-
haltender Maßnahmen. Aber auch Friedensmissionen
wurden und werden nicht aus Mitteln der Entwicklungs-
zusammenarbeit finanziert. Dies war auch bei der Frie-
densmission im Sudan nicht der Fall! Ziel der Mission
Zu Protokoll
war es, durch eine erhöhte Präsenz von Beobachtern die
Einhaltung eines Waffenstillstands zwischen den Kon-
fliktparteien zu überwachen, damit zur Stabilisierung der
Lage beizutragen und humanitäre Hilfeleistungen zu er-
möglichen. Die Mittel, die damals aus dem EEF über die
Afrikanische Friedensfazilität für diese Mission bereitge-
stellt wurden, finanzierten keine militärischen Maßnah-
men. Der Beitrag aus dem EEF finanzierte dabei aus-
drücklich nur nichtmilitärische Begleitkosten des
Friedenseinsatzes der Afrikanischen Union. Das sind bei-
spielsweise Transport und Logistik sowie medizinische
Versorgung der Einsatzkräfte. Zudem war ein erheblicher
Finanzierungsanteil für den Kapazitätenaufbau auf afri-
kanischer Seite eingeschlossen.

Lassen Sie mich kurz auf die Arbeit der AU und auf die
eigens eingerichtete Afrikanische Friedensfazilität einge-
hen. Die Afrikanische Friedensfazilität ist vom Rat der
Europäischen Union auf ausdrücklichen Wunsch der
Afrikaner im Rahmen des EEF eingerichtet worden. Der
Rat hat dies in dem Verständnis getan, dass es sich um
eine vorübergehende Lösung handelt, bis in der EU alter-
native Finanzierungsmechanismen etabliert werden kön-
nen. Dies ist mittlerweile erreicht worden. Noch unter
dem 9. EEF hat der Rat, nicht zuletzt auf Betreiben der
deutschen Entwicklungsministerin, die Möglichkeit ge-
schaffen, dass die Mitgliedstaaten auch bilaterale Bei-
träge zur Afrikanischen Friedensfazilität leisten können,
die dann von der Europäischen Kommission verwaltet
werden. Durch eine vorübergehende Finanzierung der
Afrikanischen Friedensfazilität aus dem EEF reagierte
die EU damals entschlossen und rasch auf den Antrag der
AU. Vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophe
in Darfur und dem geringen Respekt, den die sudanesi-
sche Regierung der internationalen Gemeinschaft entge-
genbrachte, hatte die AU eine führende Rolle bei der Be-
wältigung des Darfur-Konflikts übernommen. Es galt, die
Erfolge des Waffenstillstands umgehend und ohne Zögern
zu sichern sowie die AU als maßgebliche Organisation
für die Beilegung von Konflikten auf dem Afrikanischen
Kontinent zu stärken. Ziel war es, die Friedensfazilität als
ein Instrument auszugestalten, das die EU in die Lage
versetzt, Lösungen einer afrikanischen Institution wie der
AU für die Probleme und Krisen des afrikanischen Kon-
tinents zu unterstützen. Hier geht es auch um die Förde-
rung und Anerkennung einer Eigeninitiative der afrikani-
schen Länder, sich der Lösung ihrer innerstaatlichen und
regionalen Konflikte selber anzunehmen. Es besteht aber
längst eine Finanzierungsoption für die Afrikanische
Friedensfazilität außerhalb des EEF, nämlich durch die
bereits erwähnten bilateralen Beiträge der Mitgliedstaa-
ten. Noch im Jahr 2007 leistete die Bundesregierung da-
her aus dem Etat des Auswärtigen Amtes 28 Millionen
Euro für die AU-Mission im Sudan. Zudem besteht auf eu-
ropäischer Ebene das gemeinsame Verständnis, dass bis
2010 die zugesagte Finanzierung der Friedensfazilität
aus dem EEF ausläuft und dies ein letztmaliger Finanzie-
rungsbeitrag aus dem EEF sein wird.

Man sollte auch nicht den Blick dafür verlieren, wozu
der EEF eigentlich Beiträge leistet. Das Volumen des der-
zeitigen 10. EEF liegt für den Zeitraum von 2008 bis 2013
bei insgesamt 23 Milliarden Euro. Davon werden für die



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler
Jahre 2008 bis 2010 insgesamt 300 Millionen Euro für
die Afrikanische Friedensfazilität beansprucht. Dass die-
ser Anteil nicht auf die ODA-Quote anrechenbar ist, ver-
steht sich. Eine Änderung der OECD-Richtlinien, um
Friedenseinsätze als Entwicklungsgelder anrechenbar zu
machen, ist mit der SPD nicht denkbar und war zu keiner
Zeit gewollt. Im Wesentlichen ist der EEF ein Finanzie-
rungstopf der EU-Kommission, der langfristige Entwick-
lungszusammenarbeit mit den Staaten Afrikas, der Kari-
bik und des Pazifikraums (AKP) unterstützt und eine
Reihe von umfangreichen Programmen, zum Beispiel im
Infrastrukturbereich, insbesondere in der Region Subsa-
hara-Afrika finanziert. Die EU ist einer der wichtigsten
Geber für den afrikanischen Kontinent.

An dieser Stelle möchte ich noch auf eine weitere For-
derung des Antrags eingehen. Die Bundesregierung wird
aufgefordert, eine Initiative zur Einrichtung eines afrika-
nischen oder europäischen Friedensdienstes zu ergreifen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass auf Betreiben der SPD
1999 der Zivile Friedensdienst, kurz ZFD, gegründet
wurde. Mit diesem sehr erfolgreichen deutschen Modell
eines Friedensdienstes dienen wir auch im europäischen
Raum für andere EU-Mitgliedsländer bereits als Anre-
gung. Ein Erfolgsrezept des ZFD ist dabei, dass er aus
der Mitte der Gesellschaft kommt und von sowohl zivilge-
sellschaftlichen, kirchlichen wie auch staatlichen Ent-
wicklungsorganisationen getragen wird. Und dies in de-
zentraler Weise! Diese Struktur sollte auch für einen
europäischen Friedensdienst gelten. Es wäre falsch, eine
zentralistische Institution in Brüssel zu etablieren.

Auch der Aufwuchs des Titels „Ziviler Friedensdienst“
im diesjährigen Haushalt war und ist mir besonders
wichtig. Für dieses Jahr sind dem ZFD weitere
11 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden, und der
Titel ist somit auf 30 Millionen Euro aufgewachsen. Frie-
densarbeit aus dem Entwicklungshaushalt zu fördern,
war schon immer ein Anliegen der Sozialdemokratie;
denn Friedensarbeit ist ein Wegbereiter für alle weitere
Entwicklung. Wie wichtig die Arbeit des ZFD ist, konnte
ich auf meiner Reise in den Osten der Demokratischen
Republik Kongo im vergangenen Jahr selber sehen. Um
Entwicklung im Kongo möglich zu machen, müssen die
Muster der dort vorherrschenden Gewaltökonomien
durchbrochen werden. Gerade in einer solchen Situation,
in der ständig Feindbilder aufgebaut werden – eine Eth-
nie gegen die andere, Einheimische gegen Flüchtlinge,
Nord gegen Süd –, bedarf es einer Friedensförderung und
Konfliktbearbeitung. Die Friedensfachkräfte des ZFD
vor Ort gehen auf diese Aufgabe zu. Mithilfe unterschied-
licher Lösungsansätze wird es Menschen wieder ermög-
licht, aufeinanderzuzugehen. Auch mit spielerischen
Methoden oder unkonventionellen Mitteln wird ein fried-
liches Miteinander angeregt und gewaltfreie Konfliktbe-
wältigung gefördert. Um den verloren gegangen Dialog
zwischen verschiedenen Ethnien wieder aufzubauen, kön-
nen beispielsweise Theatergruppen genauso hilfreich
sein wie Fußballturniere zwischen zerstrittenen Dorfge-
meinschaften. Ebenso leisten die Fachkräfte gute Arbeit
im Bereich psychosoziale Betreuung und Traumaarbeit
bei Kriegs- und Gewaltopfern.
Zu Protokoll
Allerdings müssen wir uns auch der Grenzen eines
Friedensdienstes bewusst sein. Seine Aufgabe liegt in der
Prävention von Gewaltausbrüchen oder in der Arbeit in
Postkonfliktsituationen. Im unmittelbaren Moment der
bewaffneten Auseinandersetzung sind Friedensfach-
kräfte nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. In
Situationen von offener bewaffneter Gewalt, von staatlich
geduldeter oder verschuldeter Willkür privater Gewalt-
akteure gegen die Bevölkerung und bei Völkermord sind
die Fachkräfte eines Friedensdienstes am Ende ihrer
Möglichkeiten. Solchen Gewalteskalationen allein mit
Entwicklungszusammenarbeit begegnen zu wollen, geht
an den Realitäten vorbei und schafft keine Lösung für das
menschliche Leid vor Ort. Einem Grundsatz bleibt die
SPD dabei aber immer verpflichtet: Die Finanzierung
von militärischen Maßnahmen, auch im Rahmen einer
Friedensmission, darf nicht aus Mitteln der Entwick-
lungszusammenarbeit erfolgen. Dafür sind andere Res-
sorts in die Pflicht zu nehmen!


Hellmut Königshaus (FDP):
Rede ID: ID1621725400

Der Antrag der Fraktion Die Linke geht teilweise in

die richtige Richtung. Auch die FDP ist gegen die Finan-
zierung von Militäreinsätzen aus Mitteln der Entwick-
lungszusammenarbeit. Das Ziel der für die Entwicklungs-
zusammenarbeit eingesetzten Mittel ist nicht der Einsatz
von militärischer Gewalt, sondern der Aufbau stabiler
Strukturen in den betreffenden Regionen. Dies soll eine
nachhaltige Gestaltung durch die ansässige Bevölkerung
ermöglichen. Und dies trifft nicht nur auf die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit zu, sondern auch – und be-
sonders – auf die europäische.

Die FDP-Fraktion ist nicht nur im Zusammenhang mit
den hier in Rede stehenden Fragen der Auffassung, dass
die europäische Entwicklungszusammenarbeit diejenige
der Mitgliedstaaten nur ergänzen soll. Sie sollte im Übrigen
nur dort koordinierend tätig werden, wo mehrere Länder
gemeinsame Projekte oder Programme durchführen und
dies sinnvoll erscheint. Nach dem allgemein geltenden
Prinzip der Subsidiarität ist Entwicklungspolitik zunächst
Sache der Mitgliedstaaten, nicht der Europäischen Union.

Die Unsinnigkeit der Verlagerung der entwicklungs-
politischen Verantwortlichkeiten nach Brüssel zeigt nicht
zuletzt die Ausgestaltung des Europäischen Entwicklungs-
fonds, EEF, um den es auch in dem hier behandelten An-
trag geht. Denn nur dadurch wird es möglich, dass mit
deutschen Steuermitteln entwicklungspolitische Aktivitä-
ten finanziert werden, die wir fraktionsübergreifend im
Deutschen Bundestag ablehnen. Dies gilt gerade für die
Zweckentfremdung von Entwicklungsmitteln für die Fi-
nanzierung solcher Militärausgaben. Dies widerspricht
im Übrigen auch dem Grundsatz der Haushaltswahrheit
und der Haushaltsklarheit.

Aber gerade dort liegt ein zentrales Problem des EEF:
Er ist ja gerade nicht in den vom Europäischen Parlament
kontrollierten Haushalt integriert. Er unterliegt über-
haupt keiner parlamentarischen Kontrolle, und die Linke
sollte vor allem hier im Grundsätzlichen ansetzen. Die
FDP-Fraktion hat bereits mehrfach gefordert, die deut-
schen Mittel für den EEF zu sperren, bis eine hinrei-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hellmut Königshaus
chende parlamentarische Kontrolle gewährleistet ist.
Das hat die Linke bisher stets abgelehnt, und deshalb
muss sie sich jetzt auch nicht über solche Ergebnisse
wundern.

Die grundsätzliche Ausrichtung des EEF kritisiert die
FDP-Fraktion ebenfalls schon seit langem. Für eine Son-
derbehandlung der AKP-Staaten gibt es keine entwick-
lungspolitische Rechtfertigung. Die Ausdehnung der Ak-
tivitäten des EEF auf die Finanzierung militärischer
Maßnahmen ist auch unter diesem Gesichtspunkt kritisch
zu bewerten und bereits in ihrem Grundsatz abzulehnen.

Entwicklungspolitisch wird durch die Ausdehnung der
Finanzierung der europäischen Entwicklungszusammen-
arbeit auf militärische Maßnahmen deren Zielrichtung in
ihr Gegenteil verkehrt. Entwicklungszusammenarbeit
muss eine ethische Grundlage haben, sie ist schließlich
aus dem Gedanken der Humanität entstanden. Ihre
Grundlage sind die unveräußerlichen Rechte eines jeden
Menschen. Unter dem Deckmantel der Entwicklungs-
zusammenarbeit dürfen wir keine Militäreinsätze finan-
zieren. Auch steht für uns eine Anrechnung von aus dem
EEF finanzierten Militäraktionen auf die ODA-Quote
nicht zur Diskussion. Militär muss auch weiterhin das
letzte Mittel der Politik bleiben. Eine leichtfertige oder rein
finanzpolitisch motivierte Legitimation durch ein intrans-
parentes Instrument wie den EEF ist strikt abzulehnen.

Damit ist zunächst nichts gegen die Zielsetzung der
Afrikanischen Friedensfazilität gesagt. Anders als die
Linke hält die FDP-Fraktion begleitende Militäreinsätze
zur Sicherung entwicklungspolitischer Maßnahmen für
vertretbar und mitunter deren Mitfinanzierung auch für
unvermeidbar. Doch sind diese nach unserer Auffassung
auch klar im Haushalt auszuweisen und nicht in Fonds
wie dem EEF zu verstecken.

Daher kann die FDP-Fraktion dem Antrag der Linken
nicht zustimmen. Militäreinsätze sind zwar das letzte Mittel
der Politik, aber dennoch in bestimmten Fällen ein legi-
times oder gar unvermeidbares Mittel. Beispielsweise ist
ein erfolgreiches entwicklungspolitisches Engagement in
Afghanistan ohne eine militärische Unterstützung über-
haupt nicht denkbar – auch wenn das von einigen Seiten
ständig behauptet und gefordert wird. Das internationale
Engagement in Afghanistan hat nicht nur dazu beigetragen,
dass das Land aktuell nicht mehr zentraler Rückzugsort
international agierender Terrorgruppen ist, sondern diese
auch gehindert, die Aufbaubemühungen zu blockieren.

Wir kritisieren wie die Linken die Finanzierung militäri-
scher Maßnahmen aus einem parlamentarisch unkontrol-
lierten und intransparenten Fonds. Einen grundsätzlichen
Ausschluss von Militäreinsätzen im Rahmen der Begleitung
entwicklungspolitischer Zielsetzungen lehnen wir jedoch
ab. Insofern können wir dem Antrag der Fraktion Die
Linke nicht zustimmen.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621725500

Als vor genau fünf Jahren die Afrikanische Friedens-

fazilität (AFF) eingerichtet wurde, haben viele kritisiert,
dass diese Fazilität, die, anders als ihr Name suggeriert,
nicht etwa zivile Konfliktbearbeitung, sondern Mili-
Zu Protokoll
tärmissionen der Afrikanischen Union unterstützt, aus
dem 9. Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) gespeist
wurde. Zu den energischsten Kritikerinnen an der Euro-
päischen Kommission gehörte damals die deutsche
Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul. „Die Grenze
zwischen militärischen und entwicklungspolitischen Auf-
gaben und Aktivitäten muss klar sein“, forderte die Mi-
nisterin damals zu Recht. Dennoch wurde schließlich die
Finanzierung der Fazilität aus dem EEF mit dem Hinweis
auf fehlende Alternativen als vorläufige Ausnahmelösung
vereinbart. Bis heute hat diese Ausnahmelösung Bestand.
Und leider hat es auch die Ministerin versäumt, während
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Schritte zu unter-
nehmen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Mit-
tlerweile hat schon die Laufzeit des 10. EEF begonnen
und zumindest bis 2010 wird darin weiterhin die Finan-
zierung der AFF abgewickelt. Frau Wieczorek-Zeul nennt
jetzt die Abwicklung der Afrikanischen Friedensfazilität
im Entwicklungsfonds nicht mehr „Zweckentfremdung“

(wie in einem Beitrag in der „FR“ im November 2003),


(wie in ihrer Abschlussbilanz zur deutschen Ratspräsidentschaft im Dezember 2007)


Die Bundesregierung muss darauf drängen, dass der
Europäische Entwicklungsfonds nicht länger die Finan-
zierung der Friedensfazilität tragen muss. Erstens wer-
den die Mittel des Entwicklungsfonds dringend für andere
Aufgaben benötigt, zum Beispiel für die Unterstützung zi-
viler Konfliktprävention und -bearbeitung. Die Linke hat
vorgeschlagen, die Gelder für eine Initiative zur Einrich-
tung eines Afrikanischen Zivilen Friedensdienstes umzu-
widmen. Wir fordern außerdem, dass die Bundesregie-
rung einen Vorstoß für einen Europäischen Zivilen
Friedensdienst unternimmt. Das ist schon lange in der
Diskussion und wäre ein positiver Schritt auf EU-Ebene –
weg von der zunehmenden Militarisierung, hin zu einer
wirklich zivilen Friedenspolitik. Spätestens im angekün-
digten Überprüfungsverfahren nach der ersten Hälfte der
Laufzeit des 10. EEF muss die Finanzierung der AFF aus
dem EEF herausgenommen werden. Militärpolitik ist
keine Entwicklungspolitik!

Zweitens geht es bei dieser Frage um Grundsätzliches:
Unter dem Begriff „vernetzte Sicherheitspolitik“ wird
von Mitgliedern der Bundesregierung und Abgeordneten
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, aber auch der
FDP und der Grünen einer engeren Verflechtung von
Entwicklungszusammenarbeit mit der Sicherheitspolitik
das Wort geredet. Wir lehnen das ab! Extremstes Beispiel
für diese unheilvolle Vermischung ist die sogenannte zi-
vil-militärische Zusammenarbeit, die in Afghanistan in
den Provincial Reconstruction Teams (PRTs) zur Anwen-
dung kommt und zu einer echten Gefahr für die zivilen
Aufbauhelfer und Aufbauhelferinnen geworden ist. Die
Linke fordert die Auflösung der PRTs und den Rückzug
der Bundeswehr aus Afghanistan. Frieden kann nicht mi-
litärisch herbeigeführt oder gesichert werden.

Die „vernetzte Sicherheit“ ist ein Holzweg, auf den
sich leider auch die Grünen begeben haben. Deren Au-
ßenpolitikerin Müller hat seinerzeit nicht nur allgemein
die Vernetzung militärischer und ziviler Aufgaben, son-
dern auch ganz konkret die Finanzierung der Afrikani-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Heike Hänsel
schen Friedensfazilität aus dem EEF begrüßt. Ich habe
mich deshalb sehr gefreut, dass die Grünen jetzt im Ent-
wicklungsausschuss unserem Antrag zugestimmt und da-
mit ein Umdenken angedeutet haben.

Drittens kritisieren wir auch ganz grundsätzlich die
Militarisierung der Beziehungen zwischen Europäischer
Union und Afrika. Die drückt sich nicht nur in der Afri-
kanischen Friedensfazilität aus, sondern auch in der Un-
terstützung für den Aufbau einer afrikanischen schnellen
Eingreiftruppe und natürlich in den militärischen Einsät-
zen der EU in Afrika, die in Häufigkeit und Umfang zu-
nehmen – und nicht zuletzt auch in der Abschottung und
Aufrüstung der Grenzen zwischen der EU und Afrika, der
jährlich Hunderte Flüchtlinge zum Opfer fallen, die ver-
suchen, über das Mittelmeer oder den Atlantik Europa zu
erreichen.

Die Linke sieht in all dem keinen Beitrag zu einer
friedlichen Entwicklung oder zur Stabilisierung der be-
troffenen Regionen. Den könnte die EU leisten, wenn sie
ihre Fangflotten aus den afrikanischen Gewässern zu-
rückziehen, auf die Durchsetzung von Freihandel ver-
zichten, endlich die Agrarexportsubventionen abschaffen
und massiv in die ländliche Entwicklung in Afrika inves-
tieren würde.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621725600

Wir alle haben in den vergangenen Monaten gelernt,

zumindest verbal, mit riesigen Beträgen zu hantieren. Da
können einem die 250 Millionen Euro, die aus dem neun-
ten Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) in die Afrika-
nische Friedensfazilität geflossen sind, klein und unwich-
tig vorkommen. Das wäre aber ein Trugschluss! 250 Mil-
lionen Euro sind in der Entwicklungszusammenarbeit
nach wie vor eine Menge Geld. 250 Millionen sind ein
Drittel dessen, was Deutschland 2009 für die technische
Zusammenarbeit ausgibt. 250 Millionen sind 50 Millio-
nen Euro mehr, als wir dieses Jahr in den Globalen Fonds
zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose ein-
zahlen. 250 Millionen sind mehr als zehn Mal so viel, wie
wir an das Welternährungsprogramm der Vereinten Na-
tionen zahlen. Es handelt sich hier also nicht um einen
Kleckerbetrag.

Aus vielen zähen Haushaltsverhandlungen weiß ich,
wie schwer es ist, Mittel für die Entwicklungszusammen-
arbeit zusammenzubekommen. Aus dem Haushalt des
BMZ geht jedes Jahr ein beachtlicher Teil an den EEF.
Zuletzt waren es 820 Millionen Euro. Dieses Geld ist für
die Entwicklungszusammenarbeit der EU bestimmt. Des-
halb habe ich mich schon vor Jahren dagegen ausgespro-
chen, dass Gelder aus dem 9. EEF in die Afrikanische
Friedensfazilität fließen. Wir Grünen haben uns von An-
fang an für die Unterstützung des Aufbaus einer afrikani-
schen Friedenstruppe im Rahmen der Afrikanischen
Union ausgesprochen. Wir wollen, dass Afrika selbst in
der Lage ist, für die regionale Sicherheit zu sorgen. Und
das meint eben ganz eindeutig, einen relevanten finan-
ziellen Beitrag hierfür zur Verfügung zu stellen. Trotzdem
muss es gerade in diesen Zeiten eine Selbstverständlich-
keit sein, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenar-
beit gerade in Afrika für die Erreichung der Millenniums-
entwicklungsziele eingesetzt werden. Deshalb ist es
falsch, für dieses sinnvolle Projekt der Friedensfazilität
Geld zu verwenden, das für den Kampf gegen Hunger, Ar-
mut, Aids, Analphabetismus und für den Erhalt der Um-
welt vorgesehen ist. Es ist falsch, dass Entwicklungsgel-
der der EU für die Bewältigung immer mehr neuer
Aufgaben und für militärische Einsätze zweckentfremdet
werden. Dies war schon beim 9. EEF falsch. Jetzt erleben
wir beim 10. EEF erneut die Nutzung – und dies sogar in
gesteigertem Maße – von Mitteln aus dem Fonds für die
Fortsetzung der Unterstützung der Afrikanischen Frie-
densfazilität.

Wir fordern – wie auch bereits in der vergangenen Le-
gislaturperiode – eine eigenständige, verlässliche Finan-
zierung für die Afrikanische Friedensfazilität aus dem
Gesamthaushalt der EU. Aus diesem Grund haben wir
von der Bundesregierung gefordert, sich im Rahmen der
Finanziellen Vorausschau der EU von 2007 bis 2013 da-
für einzusetzen, eine eigenständige Budgetlinie auf den
Weg zu bringen, die nicht zulasten des EEF geht. Das Ge-
genteil ist aber passiert: Es gibt immer noch keine eigen-
ständige Finanzierung. Der EEF wird weiter geplündert.
Und der Betrag, der aus dem 10. EEF kommt, ist dazu
noch auf 300 Millionen Euro gestiegen! Die Finanzie-
rung von Militäreinsätzen geht damit weiterhin zulasten
der Entwicklungsaufgaben.

Meine Fraktion wird dem Antrag der Linken aus den
eben genannten Gründen zustimmen. Das soll aber nicht
heißen, dass wir die ablehnende Position der Linken und
ihres Vorsitzenden Lafontaine zu friedenserhaltenden
Einsätzen wie etwa UNAMID und UNMIS teilen. Die ab-
lehnende Position der Linken halten wir für fundamental
falsch. Die Vorstellung, dass ohne eine solche Unterstüt-
zung die Lage zu verbessern sei, war und ist abenteuer-
lich. Anders als die Linke, die Friedenseinsätze dogma-
tisch ablehnt, setzen wir Grünen uns detailliert mit den
einzelnen Einsätzen auseinander. Für uns Grüne gilt das
Primat des Zivilen. Das darf auf keinen Fall ausgehebelt
werden! Militär darf nur als letztes Mittel eingesetzt wer-
den, wenn es ein völkerrechtliches Mandat gibt, wenn der
Einsatz zur Eindämmung von Gewalt beiträgt und wenn
er hinsichtlich der Risiken und Fähigkeiten verantwort-
bar ist. Die Kernaufgabe von internationalen Truppen
muss es dabei sein, Menschen zu schützen und in Krisen-
situationen zu stabilisieren. Konflikte lassen sich nicht
mit Militär lösen. Das geht nur mit einem umfassenden
politisch-zivilen Ansatz.

Zusammenfassend sagen wir Ja zur finanziellen För-
derung der Afrikanischen Friedensfazilität, aber Nein zur
Finanzierung aus dem Etat für Entwicklungszusammen-
arbeit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621725700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/5984, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4490 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustim-
mung durch CDU/CSU, SPD und FDP, Gegenstimmen






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen
ohne Enthaltungen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008
über Streumunition

– Drucksache 16/12226 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)


– Drucksache 16/12698 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)


Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Eduard
Lintner, Andreas Weigel, Florian Toncar, Inge Höger
und Winfried Nachtwei.1)

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Aus-
wärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12698, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12226 anzunehmen.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf
stimmen will, möge sich erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Gibt es keine. Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit der Zustimmung aller Fraktionen
angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/12710. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der
einbringenden Fraktion und der Fraktion Die Linke und
Ablehnung im übrigen Haus abgelehnt.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

1) Anlage 8
Abschottungspolitik beenden – Volle Arbeit-
nehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hartfrid
Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und
unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutsch-
land gewähren

– Drucksachen 16/10237, 16/10310, 16/10688 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle-
gen und Kolleginnen Thomas Bareiß, Josip Juratovic,
Hartfrid Wolff, Kornelia Möller und Brigitte Pothmer.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1621725800

Am 1. Mai 2004 sind der Europäischen Union zehn

neue Länder beigetreten. Am 1. Januar 2007 traten mit
Bulgarien und Rumänien zwei weitere neue Staaten der
Union bei. Jedem der 15 „alten“ EU-Staaten wurde die
Möglichkeit eingeräumt, von der Möglichkeit einer Be-
schränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen
Mitgliedsländer Gebrauch zu machen, außer in Bezug
auf Malta und Zypern. Um der Notwendigkeit einer
schrittweisen Anpassung der nationalen Arbeitsmärkte
nachzukommen, hat man sich dabei auf ein flexibles
2+3+2-Modell geeinigt. Das heißt, jedes EU-Mitglied
kann im eigenen Ermessen entscheiden, wie schnell eine
komplette Öffnung des nationalen Arbeitsmarktes erfol-
gen soll. Spätestens aber bis 2011 beziehungsweise 2013
im Falle Bulgariens und Rumäniens wird aber eine volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit für den gesamten EU-Raum
bestehen.

Mit dem Antrag der Fraktion der FDP wird nun ver-
langt, auf eine schrittweise Anpassung des deutschen Ar-
beitsmarktes zu verzichten und ab dem nächsten Monat
die komplette Freizügigkeit für alle mittel- und osteuro-
päischen EU-Mitglieder zu gewährleisten. Ich muss offen
sagen, dass ich eine gewisse Sympathie für den Antrag
nicht verhehlen kann. Als liberaler Wirtschaftspolitiker
stehe ich natürlich ausdrücklich hinter der Arbeitneh-
merfreizügigkeit als einem der vier Eckpfeiler des EU-
Binnenmarktes.

Allerdings können wir es uns bei diesem Thema nicht
so einfach machen, wie es in dem Antrag der FDP vorge-
schlagen wird. Vielmehr müssen wir uns unserer Ver-
antwortung bewusst sein und sorgfältig die Folgen ab-
schätzen. Dazu gehört die Notwendigkeit, unseren
Arbeitsmarkt so gut wie möglich auf die eintretenden Ver-
änderungen vorzubereiten, die durch die volle Arbeitneh-
merfreizügigkeit der neu beigetretenen mittel- und osteu-
ropäischen Mitgliedstaaten entstehen werden.

Lassen Sie mich im Folgenden zunächst klarstellen,
dass ich nicht das Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit
für die EU-Mitgliedsländer infrage stelle. Das Prinzip
gehört als Eckpfeiler zu den „vier Freiheiten“ des EU-
Binnenmarktes, zu denen neben der Freizügigkeit von


(A) (C)



(B) (D)


Thomas Bareiß
Personen auch der freie Verkehr von Waren, Dienstleis-
tungen und Kapital gehört. Mit der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit wird ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, dass ein
einheitlicher europäischer Binnenmarkt mit all seinen
enormen Vorteilen für die Bürger der EU verwirklicht
werden kann.

Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, wie die
Politik dafür sorgen kann, dass es am Stichtag der Frei-
zügigkeit keine Struktureinbrüche gibt und wie Gefahren
für den deutschen Arbeitsmarkt gebannt werden können.
Aus diesem Grund wurde eine flexible Lösung geschaffen,
um den nationalen Regierungen die Entscheidung zu
überlassen, wie der Übergang zur vollen Arbeitnehmer-
freizügigkeit unter Einbindung der neuen mittel- und ost-
europäischen Mitgliedstaaten am besten gestaltet werden
kann.

Die deutsche Bundesregierung hat sich dabei nicht
etwa für eine totale Abschottungspolitik in den nächsten
zwei Jahren entschieden, wie es in dem vorliegenden An-
trag suggeriert wird. Vielmehr ist es gelungen, einen
Kompromiss zu finden, um die Vorteile der Freizügigkeit
bereits jetzt zu nutzen, ohne dabei vorschnell Risiken für
den deutschen Arbeitsmarkt einzugehen.

Schauen wir einmal auf die drei Optionen, die für
Deutschland infrage kommen: Erstens eine sofortige Auf-
hebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in vollem Umfang,
zweitens eine Verlängerung der Beschränkung der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit ebenfalls in vollem Umfang, drit-
tens eine Zusammenführung der beiden Optionen durch
eine sinnvolle gezielte und schrittweise Öffnung des Ar-
beitsmarktes. Ich bin der festen Überzeugung, dass die
Bundesregierung mit der Wahl von Option drei die rich-
tige Entscheidung getroffen hat.

Um Deutschland im internationalen Wettbewerb um
die besten Köpfe weiter zu stärken, wurde das Aktionspro-
gramm „Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der
Fachkräftebasis in Deutschland“ beschlossen. Dieses
enthält ein Maßnahmenbündel zur Sicherung des Fach-
kräftebedarfs, da es in Deutschland sowohl kurz- als auch
mittel- und langfristig zusätzlichen Bedarf an Hochquali-
fizierten geben dürfte, unabhängig von der aktuellen
wirtschaftlichen Situation. Auf den umfangreichen Maß-
nahmenkatalog will ich an dieser Stelle nicht ausführli-
cher eingehen. Lassen Sie mich nur zwei Punkte heraus-
greifen, um die Tragweite des Konzepts zu verdeutlichen.

So soll mit dem Aktionsprogramm zur Sicherung der
Fachkräftebasis in Deutschland der mittel- und langfris-
tig entstehende Bedarf an Hochqualifizierten hierzulande
gedeckt werden. Entsprechende Änderungen dazu wur-
den vorgenommen. Zum Beispiel wird der Zugang zum
Arbeitsmarkt für Akademiker aus Drittstaaten über den
IT-Bereich hinaus für alle Fachrichtungen unter Verzicht
auf das nach geltendem Recht bisher geforderte öffentli-
che Interesse an der Beschäftigung mit Vorrangprüfung
geöffnet.

Auch geduldete Hochschulabsolventen, deren Studien-
abschluss in Deutschland anerkannt ist und die zwei
Jahre lang durchgehend in einem ihrer Qualifikation ent-
sprechenden Beruf gearbeitet haben, können einen siche-
Zu Protokoll
ren Aufenthaltsstatus erhalten. Gleiches gilt für geduldete
Fachkräfte, die drei Jahre lang durchgehend in einem Be-
schäftigungsverhältnis standen, das eine qualifizierte Be-
rufsausbildung voraussetzt.

Die Vorteile der Freizügigkeit für Deutschland werden
durch den Maßnahmenkatalog der Bundesregierung so-
mit bereits jetzt genutzt, indem eine gezielte Öffnung des
Arbeitsmarktes vorgenommen wird. Verhindert werden
dadurch eine Überforderung unseres Arbeitsmarktes und
Struktureinbrüche am Stichtag der Öffnung.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch darauf hin-
weisen, dass wir mit der Freizügigkeit in der EU ja bereits
sehr weit sind. In vielen Bereichen haben wir volle Arbeit-
nehmerfreizügigkeit. Der Vorwurf, Deutschland schotte
sich gegenüber dem Ausland ab, ist völlig ungerechtfer-
tigt. Das Problem ist dabei ein ganz anderes: Trotz der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer haben wir oft Schwierig-
keiten, passende Arbeitskräfte in Deutschland zu finden.
Dies ist sicherlich ein Problem, mit dem wir uns in
Deutschland auseinandersetzen werden müssen.

Ich will die Zeit nun noch nutzen, um auf den Antrag
der Fraktion der FDP genauer einzugehen. Es wird unter
anderem argumentiert, dass ja andere EU-Mitglieder
eine sofortige Öffnung ihrer Arbeitsmärkte vorgenommen
haben und damit gute Erfahrungen gemacht hätten. So
zum Beispiel Großbritannien. Es lohnt sich aber, hier ein-
mal genauer hinzuschauen.

Die Erfahrungen in Großbritannien waren anfangs in
der Tat positiv. Allerdings kam es dort bald zu einer Än-
derung der Sichtweise. So wurde, beispielsweise die Aus-
beutung der Arbeitnehmer und die schlechte soziale Ver-
sorgung der Migranten beklagt. Übrigens trotz des
staatlichen Mindestlohns, den es in Großbritannien be-
kanntlicherweise gibt. Selbst offizielle Stellen in Großbri-
tannien räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migra-
tion überfordert sind.

Wenig überraschend ist es daher auch, dass nicht nur
Großbritannien, sondern alle EU-Mitgliedstaaten außer
Schweden aus ihren Fehlern gelernt haben und die sofor-
tige Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht auch für Bulgarien
und Rumänien gewährt haben, die ja zwei Jahre später
der EU beigetreten sind.

Auch in Bezug auf den Wettbewerb um die besten
Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa ist mehr Augenmaß an-
gebracht. In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe,
und die Bundesregierung hat mit ihrem Maßnahmenkata-
log darauf die richtige Antwort gegeben. Auch hier lohnt
es sich, die Statistiken aus Großbritannien anzuschauen
und zu prüfen, wer zugewandert ist und in welchen Tätig-
keitsbereichen diese Migranten in Großbritannien einge-
setzt werden. Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker und
Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Service-
kräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Prozent,
Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind sicherlich keine
Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen, wenn Sie
mir diese Anmerkung gestatten.

Lassen Sie mich zum Abschluss nochmals eines deut-
lich sagen: Ab dem 1. Mai 2011 gilt für die Länder Polen,
Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Slowakei, Tsche-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Thomas Bareiß
chien und Ungarn die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Für
Bulgarien und Rumänien gilt dasselbe ab dem 1. Januar
2014. Dass Deutschland von der Möglichkeit einer
schrittweisen Anpassung seines Arbeitsmarktes an die
veränderten Bedingungen einer EU-27 Gebrauch ma-
chen will ist richtig und gut zu begründen. Damit werden
bereits jetzt die Vorteile für unsere Wirtschaft genutzt und
gleichzeitig verhindert, dass es unnötigerweise zu einer
Überforderung unseres Arbeitsmarktes und zu überhaste-
ten Maßnahmen mit unvorhersehbaren Folgen kommt.
Der deutsche Arbeitsmarkt muss so weit wie möglich für
die bevorstehende Arbeitnehmerfreizügigkeit fit gemacht
werden. Dazu müssen Maßnahmen ergriffen werden, um
Veränderungen abzufedern und notwendige Reformen
und Strukturanpassungen durchzuführen.


Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1621725900

Wir beraten heute abschließend die Anträge der Frak-

tionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Arbeitneh-
merfreizügigkeit. Beide Fraktionen fordern in ihren
Anträgen, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen ost- und
mitteleuropäischen EU-Mitgliedsländern zum Mai 2009
herzustellen. Die Regierungskoalition hat dies in den
Ausschussberatungen aus gutem Grund abgelehnt.

Es ist richtig, dass die Bundesregierung im letzten
Jahr bei der EU-Kommission die Verlängerung der Be-
schränkung des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt bis
Ende April 2011 beantragt hat. Es ist doch offensichtlich,
dass wir heute eine erhebliche Störung auf dem Arbeits-
markt haben. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise
macht unserem Arbeitsmarkt schwer zu schaffen. Die
Arbeitslosenzahl erreichte im März dieses Jahres schon
fast die Marke von 3,6 Millionen, und sie steigt auch in
den Monaten, in denen in anderen Jahren die Zahl der Ar-
beitslosen saisonbedingt gefallen ist. Angesichts der
Weltwirtschaftskrise können wir also froh sein, dass wir
die Übergangsfristen noch haben.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch ein-
mal die Forderung von Handwerkspräsident Hanns-
Eberhard Schleyer aus dem letzten Sommer zurückwei-
sen, polnische und tschechische Auszubildende nach
Deutschland anwerben zu können. In Deutschland gibt es
auch heute über 100 000 Altbewerber, die immer noch
keine Lehrstelle haben. Solange diese Jugendlichen kei-
nen Ausbildungsplatz bekommen haben, stellt sich die
Frage nach Bewerbern aus Polen oder Tschechien poli-
tisch nicht. Hier müssen sich alle der gesellschaftlichen
Verantwortung stellen und unserer Jugend eine Chance
geben.

Auch wenn jetzt die Arbeitnehmerfreizügigkeit bis
2011 eingeschränkt bleibt, so ist der deutsche Arbeits-
markt deshalb nicht abgeschottet. Mit dem Arbeitsmigra-
tionssteuerungsgesetz, das seit 1. Januar 2009 gilt, haben
wir den Arbeitsmarkt für Akademiker aus allen EU-Staa-
ten geöffnet. Die Beschäftigung von Akademikerinnen
und Akademikern aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ist
damit seit Jahresbeginn durch den Verzicht auf Vorrang-
prüfung inländischer Arbeitnehmer erheblich erleichtert.
Gleiches gilt für Hochqualifizierte mit einem Jahresein-
Zu Protokoll
kommen über der Beitragsbemessungsgrenze der Renten-
versicherung. Schon seit 2005 können Unionsbürger aus
den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa zu
qualifizierten Beschäftigungen, die üblicherweise eine
mindestens dreijährige Ausbildung voraussetzen, mit
Vorrangprüfung zugelassen werden. Außerdem kommen
jedes Jahr rund 290 000 Neu-Unionsbürgerinnen, vor-
wiegend aus Polen und Tschechien, als Saisonarbeits-
kräfte ins Land. Von Abschottung kann also keine Rede
sein.

Auch sehe ich nicht, dass die Arbeitsmarktbeschrän-
kung dem Ziel des kulturellen Austausches und der Völ-
kerverständigung schadet. Dass dies nicht so ist, sieht
man an der Tatsache, dass allein aus dem polnischen
Sprachraum rund 1 Million Menschen unter uns lebt und
arbeitet.

Es ist doch nur folgerichtig, erst diejenigen Fachkräfte
zu uns ins Land zu lassen, die Arbeitsplätze schaffen, also
Akademiker und Hochqualifizierte. Der Zuzug von hoch-
qualifizierten Fachkräften nützt gerade den Geringquali-
fizierten. Eine neue hochqualifizierte Fachkraft schafft
zwei bis drei Stellen für weniger qualifizierte Fachkräfte
im Land. So gewinnen wir auch Akzeptanz für Zuwande-
rung. Wir müssen die Zeit, die wir bis 2011, bis zur voll-
ständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit haben, dafür
nutzen, um mehr Akzeptanz für die Zuwanderung aufzu-
bauen – und wir brauchen diese Zeit. Wenn ich in meinem
Heilbronner Wahlkreis unterwegs bin, spüre ich deutlich
die Sorgen der Menschen. Für eine völlige EU-weite Öff-
nung des Arbeitsmarktes ist in der Bevölkerung Überzeu-
gungsarbeit zu leisten, damit Integration auch gelingt.
Diesen Aspekt vermisse ich völlig in den vorliegenden
Anträgen.

Der Antrag der FDP blendet die Gefahren des Lohn-
dumpings völlig aus. Das Wort Mindestlohn kommt im
Antrag der Liberalen überhaupt nicht vor, obwohl wir vor
einer EU-weiten Öffnung des Arbeitsmarktes einen
Schutz vor Lohndumping aufbauen müssen, und dieser
Schutz heißt Mindestlohn. Sonst dreht sich die Lohnspi-
rale nach unten.

Wir haben bereits für rund 3,5 Millionen Menschen in
der Pflegebranche, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, in
der Abfallwirtschaft, bei den Bergbauspezialdiensten,
den industriellen Großwäschereien und in der Weiterbil-
dung einen Mindestlohn durch die Aufnahme ins Entsen-
degesetz erreichen können. Wenn die Unionsfraktion ver-
tragstreu bleibt, werden wir auch für die Branche der
Leiharbeit sehr bald eine Lohnuntergrenze vereinbaren
können. Nur mit einem Mindestlohn können wir Lohn-
dumping vermeiden und den Druck auf die untersten
Lohngruppen entschärfen. Wir haben jetzt noch eine
Schonfrist bis 2011. Bis dahin gilt es, die entsprechenden
Vorbereitungen für die Öffnung zu treffen.

Die SPD-Fraktion hat sich intensiv mit den Themen
Migration und Arbeitnehmerfreizügigkeit auseinander-
gesetzt. In einer Querschnittsarbeitsgruppe haben wir zu
diesen Themen intensiv gearbeitet und unsere Position
bezogen. Eine moderne Migrationspolitik muss zwei
Herausforderungen annehmen: Wir müssen Zuwande-
rungsprozesse in unserem eigenen Interesse steuern und



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Josip Juratovic
gestalten, ohne unsere humanitären Verpflichtungen zu
vernachlässigen. Die Integration von Migrantinnen und
Migranten ist eine wichtige Daueraufgabe von Politik
und Gesellschaft. Um diese Aufgaben zu bewältigen und
die Menschen nicht zu überfordern ist es richtig, schritt-
weise die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EU-
Beitrittsländern herbeizuführen, damit Integration auch
gelingen kann.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung aus

CDU/CSU und SPD ist Stückwerk. Die Bundesregierung
bleibt halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschan-
cen für unsere Gesellschaft und für die deutsche Wirt-
schaft geht. Die bürokratische Vorrangprüfung für Hoch-
qualifizierte bleibt ein Problem: Einmal soll die
Vorrangprüfung gelten, ein anderes Mal nicht. Wie sollen
gerade kleine und mittelständische Unternehmen so ihre
Personalplanung betreiben? Sie sind in diesem Punkt von
der deutschen Arbeitsverwaltung abhängig. Freies Un-
ternehmertum geht anders. Auch die nach wie vor zu ho-
hen Einkommensgrenzen sind Hürden, die dem Hoch-
technologiestandort Deutschland insgesamt und unserem
Mittelstand schaden.

Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmer-
freizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen
Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik Deutschland ist
kontraproduktiv. Die Beantragung der erneuten Verlän-
gerung der Einschränkung bis 2011 bei der EU-Kommis-
sion durch die Bundesregierung ist kontraproduktiv. Viel-
mehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für
Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erforderlich.
Großbritannien profitiert davon mit einer niedrigen Ar-
beitslosigkeit. Auch Frankreich will sich das zum Vorbild
nehmen. Dagegen will unsere Regierung eine falsche Re-
gelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk.

Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europa-
politischen Aspekt hinzufügen: Die Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen
Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Verstän-
digung ist deshalb diese Abschottungspolitik kontrapro-
duktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und Part-
nerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den neuen
Partnerstaaten der EU nicht länger diskriminieren. Wir
sollten mit Offenheit unseren neuen europäischen Part-
nern begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ihren
Bürgern misstrauen!

Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir
uns weiterentwickeln können und die entsprechenden Ka-
pazitäten hierfür haben. Dazu müssen wir das Problem
des Fachkräftemangels dringend beheben. Gewerkschaf-
ten und Arbeitgeberverbände sind sich einig, dass der
stärkere Zuzug von Fachkräften nach Deutschland über
ein Punktesystem ein Beitrag zur Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit bei uns ist. Denn der Einsatz jeder weiteren
Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Ge-
braucht werden nicht nur Hochqualifizierte, sondern
auch Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Land-
wirtschaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische
Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplet-
Zu Protokoll
tes Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier le-
diglich ungerechtfertigte Ängste. Die Erfahrungen aus
den anderen EU-Staaten zeigen, dass eine überbordende
Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt nicht er-
folgen wird. Hier wäre die Bundesregierung in der
Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsgetreu aufzuklären,
anstatt die Angstmache durch Verlängerung der Über-
gangsregelungen zu verstärken. Ohne ein einheitliches
System droht Deutschland den Wettbewerb um die klügs-
ten Köpfe zu verlieren. Aber anstatt die bewusste Gestal-
tung dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu neh-
men, wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel
aufgemacht.

Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass
wir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nicht mehr
werden halten können, wenn wir uns nicht für qualifi-
zierte Zuwanderung öffnen. Das bisherige Ausländer-
recht zeigt nach wie vor deutlich: Die Bundesregierung
will eigentlich keine Zuwanderung. Das Gegenmodell zur
restriktiven Politik hat die FDP vorgelegt: Wir brauchen
ein Punktesystem, das die Zuwanderung nach klaren Kri-
terien steuert und auch unsere Interessen und Erwartun-
gen an die Zuwanderer klar definiert. Dabei spielen vor
allem die Qualifikation, die berufliche Erfahrung, das Al-
ter und die Kenntnisse der deutschen Sprache eine große
Rolle. Entscheidend ist: Wen wollen wir nach Deutsch-
land einladen? Wer kann unsere Gesellschaft weiterbrin-
gen? Für diese brauchen wir eine Willkommenskultur, die
es für Hochqualifizierte und Fachkräfte aus dem Ausland
leichter macht, sich für Deutschland zu entscheiden. Die
Bundesregierung will steuern, aber sie steuert mit stot-
terndem Motor auf Zickzack-Kurs. Deutschland braucht
nicht das angstgeleitete zuwanderungspolitische Stück-
werk von CDU/CSU und SPD, sondern eine moderne,
klare, nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus ei-
nem Guss.


Kornelia Möller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621726000

Heute stehen zwei Anträge zur Debatte, die sich gegen

eine erneute Verlängerung der Übergangsbestimmungen
für die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Rahmen der EU
aussprechen.

Die FDP hat in einem Punkt recht: Die Arbeitnehmer-
freizügigkeit muss voll gewährleistet werden. Fehlende
Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet im Grunde, eine vom
EU-Gemeinschaftsrecht garantierte Grundfreiheit zu be-
schränken. Dies ist aber auch der einzige Punkt, dem man
zustimmen kann. Die in der FDP-Begründung genannten
Zielstellungen lehnen wir als Linke jedoch ab, denn sie
entsprechen voll und ganz der neoliberalen Ausrichtung
von Deregulierung und völliger Marktöffnung. Ihre Posi-
tion, meine Damen und Herren von der FDP, zielt letztlich
auf eine weitere Schwächung der Rechte von Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern. Bei Ihnen steht allein die
Kapitalverwertungslogik im Vordergrund. Wer den euro-
päischen Wettbewerb um die besten Köpfe absolut in den
Mittelpunkt stellt – was die Grünen in ihrem Antrag in
ähnlicher Weise tun –, dem ist es völlig gleichgültig, ob
Beschäftigte unterschiedlicher europäischer Länder ge-
geneinander ausgespielt werden – natürlich im Interesse
der Unternehmensgewinne! Ihnen geht es nicht in erster



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Kornelia Möller
Linie um globale Freizügigkeit aller Menschen mit sozia-
len Rechten, Ihnen geht es nicht um Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit ohne soziale Verwerfungen!

Auch Ihre Argumentation zum Fachkräftemangel in
der BRD ist nicht haltbar, denn der ist hausgemacht. Es
gibt genug qualifiziertes Personal in Deutschland – und
was noch entscheidender ist: Deutschland und seine Un-
ternehmen sind reich genug, einen Fachkräftemangel
überhaupt nicht zuzulassen!

Problematisch ist jedoch die Beschäftigungssituation.
Viele gut qualifizierte und hochmotivierte Berufsanfänger
haben Schwierigkeiten beim Berufseinstieg. Sie müssen
Tätigkeiten aufnehmen, die ihren Qualifikationen nicht
entsprechen und vielfach im Niedriglohnbereich angesie-
delt sind. So haben über 75 Prozent der im Niedriglohn-
bereich beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer eine abgeschlossenen Berufsausbildung oder sogar
einen Hochschulabschluss. Wenn Ihnen, meine Damen
und Herren von der FDP, tatsächlich die weitere Qualifi-
zierung und der Aufbau von Fachkräften am Herzen lie-
gen, setzen Sie sich dafür ein, dass in Deutschland künftig
nicht mehr die soziale Herkunft über den Bildungsweg
und über die spätere Erwerbsbiografie entscheidet!

Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, sehen
zumindest den Zusammenhang zwischen der vollständi-
gen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes und bisher
fehlenden Mindestlöhnen. Allerdings bleiben Sie hinter
den Forderungen nach einem gesetzlichen und flächende-
ckenden Mindestlohn zurück. Auch auf die Höhe eines
Mindestlohns gehen Sie nicht ein.

Die Linke sieht sehr wohl die Notwenigkeit, die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit für alle in der EU Lebenden sofort
herzustellen, da fehlende Arbeitnehmerfreizügigkeit viel-
fach zu Diskriminierung führt und auch die Ausweitung
von Schwarzarbeit fördert, wodurch viele Menschen in
absolut unwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse und
rechtlose Illegalität gedrängt werden. So wichtig und
wünschenswert es auch ist, Arbeitnehmerfreizügigkeit
rasch durchzusetzen und die nationale Abschottungspoli-
tik zu beenden: Es kann dies erst dann geschehen, wenn
bestimmte Regelungen auf nationaler Ebene erfüllt sind.
Und diesbezüglich muss die Bundesregierung unter
Druck gesetzt werden. Dazu gehört als wichtigster Punkt
ein gesetzlicher flächendeckender Mindestlohn von min-
destens 10 Euro sowie Mindeststandards für alle Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer – aus welchem Land sie
auch kommen mögen! Wenn diese unabdingbaren Forde-
rungen keinen Eingang finden, so wird Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit immer mit sozialen Verwerfungen verbunden
sein. Lohndumping wird noch viel extremer betrieben, als
es jetzt schon der Fall ist. Völlige Arbeitnehmerfreizügig-
keit ist nur dann möglich, wenn die Koalition ihre Haus-
aufgaben macht und dem dringenden Erfordernis eines
gesetzlichen Mindestlohns endlich nachkommt. Zwar ist
mit der vor zwei Monaten getroffenen Ausweitung des
Entsendegesetzes ein erster kleiner Schritt in die richtige
Richtung getan worden, doch ist dies nicht mehr als ein
kleiner Tropfen auf dem heißen Stein. Es gibt immer noch
über sechs Millionen Menschen, die im Niedriglohnbe-
reich beschäftigt sind.
Zu Protokoll
Und noch etwas möchte ich an Ihre Adresse sagen:
Wenn Sie, meine Damen und Herren von den anderen bei-
den Oppositionsparteien, sich so vehement für Arbeitneh-
merfreizügigkeit einsetzen, dann setzen Sie sich bitte auch
mit dem gleichen Nachdruck und umfassend dafür ein,
dass auch in Deutschland die notwendigen Rahmenbe-
dingungen für eine Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne so-
ziale Verwerfungen geschaffen werden. Statt eines flä-
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns mit seiner
sozial stabilisierenden Wirkung haben wir in den vergan-
genen Jahren eine Bewegung erlebt, die das Land zuneh-
mend in Niedriglohn, Mini- und Midijobs, 1-Euro-Jobs
und prekäre Beschäftigung führte. Über die Zunahme von
Armut und Kinderarmut musste deswegen in diesem
Hause in den letzten Jahren oft gesprochen werden. Wenn
Sie es also ehrlich meinen mit Ihren Anträgen und dabei
die Situation derjenigen im Auge haben, um deren Frei-
zügigkeit es geht, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, dann müssen Sie helfen, alle Hindernisse aus
dem Weg zuräumen, die heute einem gesetzlichen Min-
destlohn entgegenstehen. Dazu gehören auch die Hartz-
Gesetze, die insgesamt das Lohn- und Gehaltsgefüge
deutlich nach unten gedrückt haben. Wenn Sie in diesem
Sinne handeln würden, dann wären Ihre Anträge ehrlich
und wir könnten ihnen ohne Bedenken zustimmen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621726100

„Kein Bürger der neuen Mitgliedstaaten geht ohne

Aussicht auf einen Job in ein anderes EU-Land.“ So
schlicht und zutreffend begegnet die Europäische Kom-
mission denen, die Angst haben, dass ein offener
deutscher Arbeitsmarkt überrannt würde von billigen Ar-
beitskräften aus Osteuropa. Trotzdem hat die Bundesre-
gierung beschlossen, Deutschland über den 1. Mai 2009
hinaus weiter abzuschotten und die volle Freizügigkeit in
Europa weiter zu blockieren. Das ist nicht nur ein
schlechtes europäisches Signal, sondern auch ein
schlechtes arbeitsmarktpolitisches Signal, das Sie und
Ihre Bundesregierung ausgerechnet zum Tag der Arbeit
setzen. Das machen Sie gegen den Willen vieler Bundes-
länder, wie zum Beispiel Berlin, Mecklenburg-Vorpom-
mern oder Brandenburg, und das machen Sie trotz aller
positiven Erfahrungen, die unsere europäischen Nach-
barn mit ihren offenen Grenzen gemacht haben.

Andere haben von diesen Erfahrungen gelernt: Frank-
reich hat schon im letzten Jahr vorzeitig alle Beschrän-
kungen aufgehoben, Belgien und Dänemark kommen am
1. Mai dazu. Und um das auch gleich deutlich zu machen:
Diese Länder sind keine Inseln der Glückseligen in der
Krise, die sind genauso betroffen wie Deutschland, aber
diese Länder haben offensichtlich verstanden, was in die
Köpfe der schwarz-roten Bundesregierung nicht hinein
will: Die Beschränkung der europäischen Arbeitnehmer-
freizügigkeit ist kein Schutz-, sondern ein Ausgrenzungs-
instrument, das dafür sorgt, dass Deutschland sich selbst
aus dem Rennen nimmt. Statt mit offenen Grenzen und
klaren Regeln um die besten Köpfe und Hände zu werben,
bleibt die Bundesregierung sich treu und frickelt mal hier
und frickelt mal da, wenn irgendwo ein Fachkräfteman-
gel öffentlich wird. Das hat sich, wie wir alle wissen, noch
jedes Mal als erfolglose Strategie erwiesen.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
Auch wenn der Bauernverband kürzlich vermeldete,
dass sich im Gegensatz zu den Vorjahren 2009 kein
Saisonarbeiter-Engpass in der Spargelernte abzeichnet:
Sie alle wissen, dass dieser Zustand nur vorübergehender
Natur sein wird. Bei einer Erholung des britischen Pfunds
werden viele dieser Arbeitskräfte sofort wieder nach
Großbritannien ziehen, weil sie dort bessere Arbeitsbe-
dingungen als in Deutschland vorfinden.

Zu diesen besseren Bedingungen zählt auch der Min-
destlohn, auf den die meisten Beschäftigten in Deutsch-
land nach wie vor warten. Diese Tatsache ist einer der
großen arbeitsmarktpolitischen Sündenfälle der schwarz-
roten Bundesregierung. Kolleginnen und Kollegen von
SPD und Union, es ist nicht glaubwürdig, wenn Sie hier
über den vermeintlichen Schutz einheimischer Beschäf-
tigten reden, den sie durch die weitere Abschottung
Deutschlands sicherstellen wollen. Wenn Sie Beschäftigte
– und dabei ist es egal, woher sie kommen – wirklich
schützen wollen, dann müssen sie für faire und verbindli-
che Arbeitsbedingungen für alle sorgen. Das erfordert an
erster Stelle flächendeckende und allgemeingültige Min-
destlöhne. Weinen Sie hier also keine Krokodilstränen. Es
ist Ihr Versäumnis, dass wir hier in den vergangenen Jah-
ren nicht einen Schritt weitergekommen sind. Wir Grünen
verbinden die Herstellung der Freizügigkeit unauflöslich
mit der Frage von Mindestlöhnen, im Gegensatz zur FDP,
die hier zwar ebenfalls für die Freizügigkeit auftritt, Min-
destlöhne aber für des Teufels hält. Mit dieser Laissez-
faire-Politik erweisen Sie der europäischen Freizügigkeit
einen Bärendienst, und das ist auch der Grund dafür, dass
wir Ihren Antrag ablehnen. Für halbe Sachen stehen wir
nicht zur Verfügung. Ich kann an dieser Stelle nur noch
einmal an alle appellieren: Stimmen Sie mit uns Grünen
für die volle Freizügigkeit, stimmen Sie für Mindestlöhne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621726200

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 16/10688. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/10237. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die
Beschlussempfehlung bei Zustimmung von CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke an-
genommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/10310. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung bei Ablehnung durch die Fraktion
der FDP und Zustimmung durch die übrigen Fraktionen
des Hauses angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von
Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich,
Gert Weisskirchen (Wiesloch), Gerd Andres, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunter-
nehmen kontrollieren

– Drucksachen 16/10846, 16/12479 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Internationale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot der Erbringung militärischer Dienst-
leistungen durch Privatpersonen und Unter-
nehmen

– Drucksachen 16/11375, 16/12134 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Zu Protokoll gegeben habe ihre Reden die Kollegen
Holger Haibach, Wolfgang Wodarg, Jörg van Essen,
Paul Schäfer und Omid Nouripour.1)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Nichtstaatliche
militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12479, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/10846 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Ent-
haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP und Gegen-
stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Internationale Ächtung des
Söldnerwesens und Verbot der Erbringung militärischer
Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unterneh-
men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/12134, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/11375 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Ge-
genstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist die Be-

1) Anlage 9






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
schlussempfehlung bei Ablehnung durch die einbrin-
gende Fraktion und Zustimmung der übrigen Fraktionen
des Hauses angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin,
Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Gewerkschaften in der Türkei stärken

– Drucksachen 16/11248, 16/12655 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Bareiß
Dr. Lale Akgün
Dr. Daniel Volk
Dr. Hakki Keskin
Rainder Steenblock

Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kolle-
ginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Lale Akgün,
Markus Löning, Hakki Keskin und Claudia Roth vor.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1621726300

Gegenstand der heutigen Debatte ist die Rolle der Ge-

werkschaften in der Türkei und die Notwendigkeit ihrer
Stärkung. Die Situation der türkischen Gewerkschaften
ist aber kein isoliertes Problem, sondern spiegelt den Re-
formbedarf wider, der in der Türkei auch nach über drei
Jahren Beitrittsverhandlungen vorherrscht. Im Oktober
2005 wurden unter der damaligen rot-grünen Bundesre-
gierung Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Die CDU/
CSU hat sich von Anfang an skeptisch gegenüber einer
Vollmitgliedschaft der Türkei geäußert und mit der privi-
legierten Partnerschaft ein Gegenkonzept vorgestellt, das
der Bedeutung einer engen Beziehung angemessen ist
und für beide Seiten große Vorteile bietet. Auch nach dem
Beginn der Beitrittsverhandlungen sind die Grundsätze
dieses Konzepts aktuell angesichts des offen gestalteten
Verhandlungsprozesses, der ausdrücklich keine EU-Mit-
gliedschaft am Ende garantiert.

Unabhängig von der Diskussion, die wir hier führen,
will ich an dieser Stelle aber auch klarstellen, dass die
Türkei ein enorm wichtiger Partner für die Europäische
Union ist. Lassen Sie mich dazu zunächst einige Ausfüh-
rungen machen, ehe ich anschließend zu den innertürki-
schen Problemen und einer Bewertung des Antrags der
Linken zu sprechen komme. Zunächst einmal ist die Tür-
kei ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstand-
ort, gehört sie doch mit einem Bruttosozialprodukt von
659 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 zu den 20 größ-
ten Volkswirtschaften der Welt. Das Außenhandelsvolu-
men betrug 277 Milliarden Euro. Die Türkei ist mit ihren
76 Millionen Einwohnern ein wichtiger Handelspartner
für Europa und vor allem auch für Deutschland. So war
die Bundesrepublik mit einem Anteil von rund 10 Prozent
an den gesamten türkischen Wareneinfuhren im Jahr
2007 nach Russland zweitgrößter Lieferant der Türkei.
Eine enge wirtschaftliche Kooperation bietet für beide
Seiten große Vorteile. Das sehr junge Durchschnittsalter
von rund 28 Jahren verdeutlicht, dass die Türkei nicht nur
wirtschaftlich über ein enormes dynamisches Potenzial
verfügt. Darüber hinaus ist die Türkei durch ihre geogra-
fische Lage ein wichtiges Bindeglied zwischen den Märk-
ten Europas und den Erdöl und Erdgas exportierenden
Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie der Re-
gion um das Kaspische Meer. Für die Energieversorgung
Europas spielt die Türkei damit eine immer wichtigere
Rolle. Ein Beispiel ist die Nabucco-Gasleitung, die West-
europa unabhängiger von Russland machen soll. Der
Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine im vergan-
genen Winter hat die Dringlichkeit dieses Projekts unter-
strichen.

Vor allem ist die Türkei aber ein wichtiges NATO-Mit-
glied, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie die zweit-
größte Armee des Bündnisses besitzt. Durch die Nähe
zum arabischen Raum stellt sich die Türkei als ein wich-
tiger Partner in geostrategischer Hinsicht dar. Die Türkei
grenzt an Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak
und Syrien. Die Türkei hat sich in den letzen Monaten als
wichtiger vermittelnder Brückenstaat zu diesen Ländern
mit den dortigen Krisenherden entwickelt: Die Kaukasus-
Initiative der türkischen Regierung zur Verbesserung der
Beziehungen im Kaukasus, die Gespräche um den Berg-
Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbai-
dschan, eine stärkere westliche Einbindung der Turkstaa-
ten durch die Türkei sowie die türkische Vermittlerrolle
zwischen Israel und Syrien zeugen von einer neuen ver-
antwortungsvollen türkischen Sicherheits- und Außenpo-
litik. Die Türkei mit ihrer Staatsform und ihrer außenpo-
litischen Ausrichtung ist als starke Mittelmacht in der
Region somit eine wichtige Brücke zum Nahen Osten und
der islamischen Welt.

Bei meinen Gesprächen mit türkischen Politikern und
Delegationen stelle ich immer wieder fest, wie wichtig es
ist, die enge Partnerschaft zwischen Europa und der Tür-
kei hervorzuheben und zu festigen. Zu einem ehrlichen
Umgang miteinander gehört aber auch, die Frage einer
EU-Mitgliedschaft mit der gebotenen Sachlichkeit zu dis-
kutieren und auf die Reformnotwendigkeit hinzuweisen.
Ein Beispiel ist der Umgang mit den Gewerkschaften in
der Türkei, was in dem Antrag der Linken auch zur Spra-
che kommt. Der Antrag greift aber ein einzelnes Problem
auf, ohne die Lage in der Türkei insgesamt zu beleuchten
und blendet damit bewusst andere Bereiche aus. Aus die-
sem Grund will ich an dieser Stelle die Situation der Ge-
werkschaften in der Türkei in einen Gesamtrahmen ein-
betten, indem ich in aller Kürze auf die nach wie vor
großen Demokratiedefizite aufseiten der Türkei eingehe.
Auf dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenhagen
wurden die Kriterien beschlossen, die potenzielle Bei-
trittsländer zur Europäischen Union erfüllen müssen. Es
handelt sich dabei neben der Aufnahmefähigkeit der
Union um drei Gruppen von Kriterien, die von den Bei-
trittskandidaten erfüllt werden müssen, und zwar erstens
wirtschaftliche Voraussetzungen, zweitens das Acquis-
Kriterium und drittens die politischen Beitrittsvorausset-
zungen. Die politischen Voraussetzungen, die nach dem
Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993
eigentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen


(A) (C)



(B) (D)


Thomas Bareiß
hätten erfüllt sein müssen, sind dabei die entscheidenden.
In der Türkei herrschen nach wie vor enorme Defizite in
zentralen Demokratie-Beitrittskriterien. Dazu gehören
unter anderem der Schutz von Minderheiten, Frauen-
rechte, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Erst vor kur-
zem wurde uns wieder deutlich vor Augen geführt, wie
weit es um die Pressefreiheit in der Türkei bestellt ist: Die
Dogan-Mediengruppe hatte kritisch über die Regierung
Erdogan berichtet, worauf der Ministerpräsident die Do-
gan-Zeitungen als „Lügenpresse“ bezeichnete und zum
Boykott aufrief. Zudem wird die Dogan-Gruppe durch
eine drastische Steuerstrafe in ihrer Existenz bedroht.
Der Vorwurf lautet, die Dogan-Gruppe habe im Zuge ei-
nes Anteilsverkaufs an den Springer-Verlag Steuern hin-
terzogen, und sie wurde zu Zahlungen in Höhe von 390
Millionen Euro aufgefordert. Das Ziel ist eindeutig, dass
die „unbequeme“ Mediengruppe vom Markt verschwin-
den soll. Im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit ist
auch der mehr als eingeschränkte Handlungsspielraum
türkischer Gewerkschaften zu sehen. Bis die Türkei diese
Grundwerte westlicher Demokratien nicht nur auf dem
Papier verabschiedet hat, sondern die Gerichte und die
Menschen diese Prinzipien auch verinnerlicht haben,
wird wohl noch eine lange Zeit vergehen. Nicht nur ange-
sichts des morgigen Jahrestages des Völkermordes an
den Armeniern möchte ich zudem deutlich sagen, dass zu
einer Demokratie auch die Aufarbeitung der eigenen Ge-
schichte und die sich daraus ergebende Verantwortung
gehören. Der Genozid an den Armeniern in den Jahren
1915 bis 1917 kostete Schätzungen zufolge über 1,5 Mil-
lionen Armeniern das Leben. Dieses Kapitel der türki-
schen Geschichte zu verleugnen, kann nicht hingenom-
men werden. Problematisch ist darüber hinaus auch der
Zypern-Konflikt zu sehen. Bei aller Verantwortung, die
auch von der griechischen Seite wahrzunehmen ist, muss
deutlich gesagt werden, dass die Türkei in der Zypern-
Frage gegen Völkerrecht verstößt, indem sie den Norden
besetzt hält und sich einer Einigung Zyperns nach wie vor
entgegenstellt. Das Ankara-Protokoll zur Ausweitung der
Zollunion mit der EU auf Zypern hat die Türkei zwar
Ende Juli 2005 unterzeichnet, sie weigert sich aber bis
heute, ihre See- und Flughäfen für zyprische Schiffe und
Flugzeuge zu öffnen. Mit dem Wahlsieg der türkischen
Nationalisten in Nordzypern am vergangenen Wochen-
ende dürfte eine Einigung des Konflikts mit den Vertre-
tern des griechischen Teils Zyperns in noch weitere Ferne
gerückt sein.

Nahezu unerträglich ist für mich aber, dass in der Tür-
kei das Recht auf freie Religionsausübung nicht gewähr-
leistet ist. Nach wie vor sind Christen und Angehörige an-
derer religiöser Minderheiten in der Türkei äußerst
schwierigen Bedingungen ausgesetzt, da sie allein auf-
grund ihrer Religion oft als Feinde der Türkei bzw. des
Türkentums angesehen werden. Von Religionsfreiheit ist
die Türkei gerade auch unter der reformorientierten
AKP-Partei noch weit entfernt. Bestes Beispiel dafür ist
die heftige Debatte um das jüngst verabschiedetet Stif-
tungsrecht in der Türkei. Dieses sieht die Rückgabe staat-
lich enteigneten Besitzes an kirchliche Stiftungen vor.
Türkische Politiker fürchteten in diesem Zusammenhang
den „Ausverkauf nationaler Interessen an die Christen
und Juden“. Zudem verbessert das Gesetz die Stellung
Zu Protokoll
der Christen nur unwesentlich, da der türkische Staat die
Anerkennung eines öffentlich-rechtlichen Status für die
Kirchen nach wie vor verweigert. Erst letzte Woche habe
ich mir bei einer Reise in die Türkei ein Bild von den
Missständen machen können, als ich mit Kollegen meiner
Fraktion dem christlichen Kloster Mor Gabriel einen Be-
such abgestattet habe. Das Kloster gehört zu den ältesten
der Christenheit und steht als geistiges Zentrum der welt-
weit verzweigten syrisch-orthodoxen Kirche von Antio-
chia geradezu symbolisch für die schlimme Lage der
Christen in der Türkei. Mor Gabriel muss um das Über-
leben kämpfen, da gegen das Kloster wegen angeblicher
Aneignung fremden Bodens auch von staatlichen Stellen
Anzeige erstattet wurde. Dadurch droht dem Kloster die
Entziehung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Es
kann nicht angehen, dass ein EU-Beitrittskandidat wie
die Türkei so massiv gegen Religionsfreiheit als zentrales
Demokratieprinzip verstößt. In der Verantwortung steht
daher vor allem auch der türkische Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdoğan. Wer wie Erdoğan mehr Rechte für
Muslime in Deutschland fordert, der muss auch dafür
Sorge tragen, dass Christen in der Türkei ihre Religion
frei ausüben können. Angesichts der nach wie vor enor-
men Demokratiedefizite ist es völlig unverständlich, dass
die EU-Kommission ihre Scheuklappen weiter aufbehält
und unter der tschechischen Ratspräsidentschaft nun
zwei weitere Beitrittskapitel eröffnen will. Hier muss
auch einmal unseren türkischen Freunden deutlich ge-
macht werden, dass die zahlreichen Menschenrechtsver-
letzungen und der Reformstillstand in der Türkei nicht
ohne Folgen für den Beitrittsprozess bleiben können.

Ich will nun aber zurückkommen auf den Antrag der
Fraktion der Linken zur Stärkung der Gewerkschaften in
der Türkei. Wie gesagt stehen sicherlich richtige Dinge in
diesem Antrag. So wird zu Recht kritisiert, dass die türki-
schen Gewerkschaften aufgrund restriktiver gesetzlicher
Regelungen nur über einen sehr eingeschränkten Hand-
lungsspielraum verfügen. Hinzu kommen institutionelle
und rechtliche Hürden, wie kostenverursachende Beglau-
bigungs- und Registrierungspflichten von Gewerk-
schaftsmitgliedern oder strenge Voraussetzungen für die
Bejahung der Tariffähigkeit. Bislang werden also weder
die Standards in der EU noch die Übereinkommen der In-
ternationalen Arbeitsorganisation IAO in Bezug auf die
uneingeschränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte er-
füllt. Dies betrifft insbesondere das Organisationsrecht,
das Streikrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen.
Nicht regierungskonforme Gewerkschaften werden un-
terdrückt und ihre Funktionäre politisch verfolgt.

Dem Antrag kann aber dennoch aus folgenden Grün-
den nicht zugestimmt werden: Zunächst einmal weist der
Antrag handwerkliche Fehler auf, die so nicht stehen ge-
lassen werden können. So geht der Antrag stets von EU-
Standards im Gewerkschaftsrecht aus. Diese gibt es im ei-
gentlichen Sinne aber gar nicht. Die Regelungen der Mit-
bestimmung von Gewerkschaften sind national geregelt
beziehungsweise in den Konventionen der Internationa-
len Arbeitsorganisation IAO verankert und zudem sehr
unterschiedlich ausgeprägt. Aus diesem Grund kann da-
her, wenn überhaupt, höchstens von Standards in der EU
gesprochen werden. Vor allem aber greifen die Antrag-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Thomas Bareiß
steller ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage in der
Türkei insgesamt zu beleuchten, wie ich es Ihnen geschil-
dert habe. Ohne eine solche Einbettung in einen Gesamt-
rahmen kann man das Problem aber nicht stehen lassen.
Schließlich ist die Situation mit den Gewerkschaften Teil
eines größeren Problems, nämlich der Mangel an Demo-
kratie im Allgemeinen und die Defizite im Bereich der
Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit im Besonderen.
Diese Defizite zeigen deutlich, dass zum jetzigen Stand-
punkt die Türkei nach wie vor weit davon entfernt ist, die
Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Dies in
der Konsequenz klar und deutlich zu nennen, scheuen
sich aber die Linken mit ihrem Antrag.


Dr. Lale Akgün (SPD):
Rede ID: ID1621726400

In dieser Woche haben sich Vertreter der Europäischen

Union und der Unterhändler der türkischen Regierung in
Prag getroffen, um über die Zukunft der Beitrittsverhand-
lungen zwischen der EU und der Türkei zu beratschlagen.
Die Europäische Union hat dabei der Türkei vorgeschla-
gen, im Juni zwei neue Verhandlungskapitel, und zwar
aus dem Bereich des Steuer- und Sozialrechtes, zu öffnen.
Die Vertreter der Europäischen Union haben am 21. April
unmissverständlich deutlich gemacht: Eine Öffnung
neuer Verhandlungskapitel wird es nicht zum Nulltarif ge-
ben. Bevor die Kapitel eröffnet werden, muss die Türkei
handfeste Fortschritte im Reformprozess vorweisen. Vor
allem müssen die Gewerkschaften endlich mehr Rechte
erhalten. Die Europäische Kommission hat damit im Vor-
feld der Feierlichkeiten zum 1. Mai der Türkei deutlich
signalisiert: Wenn sie Mitglied in der Europäischen
Union werden will, kann es so mit den Gewerkschafts-
rechten in der Türkei nicht weitergehen.

Ich begrüße es daher auch sehr, dass wir heute im
Deutschen Bundestag über die Lage der Gewerkschaften
in der Türkei diskutieren. Grundlage unserer Debatte ist
der Antrag der Fraktion der Linken „Gewerkschafts-
rechte in der Türkei stärken“. Schon bei den Beratungen
im Europaausschuss haben wir als SPD-Fraktion deut-
lich gemacht, dass das Thema der Gewerkschaften für
uns sehr wichtig ist. Es ist daher einfach schlicht falsch,
wenn die Abgeordneten der Linken uns im Europaaus-
schusses vorgehalten haben, wir seien in dieser Frage
„zurückhaltend“. Für die SPD-Fraktion stimmt das
nicht! Im Gegenteil: Wir haben die schrecklichen Aus-
schreitungen auf dem Istanbuler Taksim-Platz vom letz-
ten Jahr noch sehr gut vor Augen. Eine Delegation der
SPD-Bundestagsfraktion hat sich daher im Rahmen einer
Delegationsreise nach Ankara im Januar dieses Jahres
vor Ort einen Eindruck von der Situation der Gewerk-
schaften verschafft und mit Gewerkschaftsvertretern die
Lage erörtert. Wir als SPD-Abgeordnete im Europaaus-
schuss haben daher auch einen Koalitionsantrag zu den
Gewerkschaftsrechten formuliert, der in seinen Forde-
rungen sogar noch über Ihren Antrag, meine Damen und
Herren von der Linken, hinausgeht. Die SPD ist also
nicht zurückhaltend, was die Gewerkschaften in der Tür-
kei anbelangt; ich kann es nur noch einmal sagen: im Ge-
genteil. Das Zustandekommen dieses Antrages ist dabei
nicht an unserer Zurückhaltung, sondern – und auch das
möchte ich einmal offen sagen – er ist an der Zurückhal-
Zu Protokoll
tung unseres Koalitionspartners von der CDU/CSU ge-
scheitert.

Aus Gründen, die ich bis heute nicht ganz nachvollzie-
hen kann, war die CDU/CSU nicht bereit, einen Koali-
tionsantrag zu Gewerkschaftsrechten in der Türkei mitzu-
tragen. Es wurde vonseiten der CDU/CSU argumentiert,
dass man sich zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht zu Einzel-
fragen des Beitrittsprozesses äußern wolle. Wenn dem
aber so ist, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
wieso widmen Sie sich dann in einem Antrag der Situation
um das Kloster Mor Gabriel in der Türkei? Dabei handelt
es sich doch wohl auch um eine Einzelfrage des EU-Bei-
trittes! Eine solche Argumentationsweise ist für mich
nicht einsichtig.

Daher liegt uns heute nun also nur ein Antrag der Lin-
ken zur Abstimmung vor. Und diesem Antrag können wir
als SPD – auch wenn wir mit der Situationsbeschreibung
und einigen der Forderungen der Linken übereinstim-
men, nicht zustimmen; denn der Antrag geht uns nicht
weit genug. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich
zunächst die Lage der Gewerkschaften in der Türkei aus
unserer Sicht darstellen. Wir stimmen mit der Linken da-
rin überein, dass in der Türkei bei der Verwirklichung der
Rechte von Gewerkschaften immer noch erhebliche Män-
gel bestehen.

Die türkische Verfassung garantiert zwar den Arbeit-
nehmern das Recht, sich frei in einer Gewerkschaft zu-
sammenschließen zu dürfen. Aber die Realität sieht an-
ders aus. Die rechtliche Stellung der Gewerkschaften hat
sich mit dem Militärputsch von 1980 gravierend ver-
schlechtert und ist bis heute nicht ausreichend gesichert.
Reformen wurden dabei lange durch die mächtigen
staatsnahen Gewerkschaften und Arbeitgeber blockiert.
Die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und die Gewerkschaftsrechte in der Türkei stehen heute
immer noch nicht im Einklang mit einschlägigen Über-
einkommen der Internationalen Arbeitsorganisation

(IAO) und dem EU-Recht. Vor allem beim Vereinigungs-

und Streikrecht und bei dem Recht auf Kollektivverhand-
lungen gibt es große Probleme. Die Internationale Ar-
beitsorganisation und der Internationale Gewerkschafts-
bund kritisieren, dass Gewerkschaften in der Türkei an
Tarifverhandlungen nur dann teilnehmen können, wenn
mindestens 10 Prozent der Beschäftigen in einer Branche
im Land in einer Gewerkschaft organisiert sind und zu-
gleich mehr als 50 Prozent der Beschäftigten eines Be-
triebes in dieser Gewerkschaft organisiert sind. Diese so-
genannte Ermächtigungsklausel stammt aus dem Jahr
1983 und ist immer noch in Kraft. Diese Regelung er-
schwert die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte in
extremer Weise. So sind bis zum heutigen Tag nur circa
25 Prozent der Arbeitnehmer nach einem gewerkschaftli-
chen Tarif beschäftigt. Das kann und darf nicht sein!
Auch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist nach
wie vor mangelhaft ausgeprägt. So wird offiziell von einer
Unabhängigkeit der Gewerkschaften gesprochen, in rea-
litas jedoch nimmt die Regierung durchaus immer noch
Einfluss auf die Gründung, die Struktur und die finan-
zielle Situation der Gewerkschaften. So brauchen die Ge-
werkschaften eine Erlaubnis des Arbeitsministeriums,
wenn sie in einem Unternehmen tätig werden wollen.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Lale Akgün
Auch für die Abhaltung von Versammlungen oder De-
monstrationen wird eine Erlaubnis gebraucht, an Ver-
sammlungen nimmt immer ein Regierungsvertreter teil.

Als letztes möchte ich hier noch das Streikrecht erwäh-
nen. Dieses darf in der Türkei nur bei Tarifverhandlungen
ausgeübt werden. Alle Formen von Warn-, General- oder
Unterstützungsstreiks sind seit 1980 grundsätzlich verbo-
ten. Dazu kommt noch: Die Gewerkschaften des öffentli-
chen Dienstes besitzen weder Streik- noch Tarifrecht. Sie
dürfen bei Gehaltsverhandlungen nur beraten. Und ei-
nige Bereiche, wie zum Beispiel der Bildungs-, der Kran-
ken- und der Pflegebereich haben gar kein Streikrecht.

Diese Situation ist für die türkischen Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer überhaupt nicht zufriedenstellend.
Sie entspricht weder den Standards der EU, noch denen
der Internationalen Arbeitsorganisation. So weit gehen
wir also d’accord mit einer Einschätzung der Lage, wie
sie auch von der Fraktion der Linken in ihrem Antrag vor-
genommen wurde. Wir können uns daher auch der Auffor-
derung der Linken an die Bundesregierung anschließen,
sich sowohl im bilateralen Rahmen als auch auf EU-
Ebene dafür einzusetzen, dass eine Angleichung der Ge-
werkschaftsrechte in der Türkei an die Normen der EU
und der IAO erfolgt. Auch wir als SPD wollen, dass das
geplante Gesetz über die Gewerkschaftsrechte in der Tür-
kischen Nationalversammlung verabschiedet wird und
fordern die Bundesregierung auf, sich hierfür einzuset-
zen. Faire Tarifverhandlungen, ein umfassendes Recht
auf Streik und das Verbot von Aussperrungen sind wich-
tige Bereiche, die es neu zu regeln gilt.

So wichtig diese Forderungen aber sind – sie gehen
uns nicht weit genug. Die Situation der Gewerkschaften
in der Türkei ist schließlich durch eine starke Zersplitte-
rung und durch ein Nebeneinander von vier Dachverbän-
den, den staatsnahen, den islamisch orientierten, den
Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und den revo-
lutionären Gewerkschaften, geprägt. Dabei sind die
meisten Arbeitnehmer immer noch in den staatsnahen
Gewerkschaften organisiert.

Dies möchten wir betonen, und wir halten es auch für
wichtig, dies ausdrücklich in einem Antrag auszuformu-
lieren. Die Stellung der nicht staatsnahen Gewerkschaf-
ten muss gestärkt werden; denn gerade sie sind immer
wieder Repressionen ausgesetzt. So ist im letzten Jahr das
Büro der DISK, des Bundes Revolutionärer Gewerkschaf-
ten, angegriffen worden. Deshalb halten wir es zum Bei-
spiel für wichtig, dass Vertreter anderer Gewerkschaften
als des nur staatsnahen Bundes der Türkischen Arbeiter-
gewerkschaften, Türk-İş, an offiziellen und anderen Ge-
sprächskreisen bei der Internationalen Arbeitsorganisa-
tion miteinbezogen werden. Neben diesem Punkt kommt
uns im Antrag der Linken auch die europäische Dimen-
sion etwas zu kurz. Gewerkschaftsrechte in der Türkei
können nur im Rahmen der Verhandlungen zwischen der
EU und der Türkei verwirklicht werden. Deshalb ist es
auch so wichtig, dass – wie eingangs erwähnt – die EU
weitere Verhandlungskapitel erst dann eröffnet, wenn
endlich das neue Gewerkschaftsrecht verabschiedet wird.

Meine Damen und Herren, mit Blick auf den anstehen-
den Tag der Arbeit gilt es, das noch einmal ganz deutlich
Zu Protokoll
auszusprechen. Wir fordern die türkische Regierung auf,
das Verbot der Maifeiern, wie es seit den blutigen Aus-
einandersetzungen seit 1970 besteht, endlich aufzuheben.
Wir fordern sie auf, das neue Gewerkschaftsrecht zu ver-
abschieden. Dann können auch die Verhandlungen zwi-
schen der Türkei und der EU wieder neuen Schwung
bekommen. Dann kann die EU im Juni die Verhandlungs-
kapitel zur Steuer- und Sozialpolitik eröffnen. Und dann,
meine Damen und Herren, wird auch die Beitrittsper-
spektive wieder ein Stück realistischer. Zum EU-Beitritt
der Türkei stehen wir Sozialdemokraten im Bundestag
weiterhin!

Den türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern, vor allem den Gewerkschafterinnen und Gewerk-
schaftern unter ihnen, wünschen wir von hier aus einen
erfolgreichen und friedlichen 1. Mai 2009.


Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1621726500

Die FDP wird diesen Antrag ablehnen. In der Türkei

gibt es einiges gesellschaftlich und politisch zu verbes-
sern. Aber Ihr Antrag ist einseitig, unausgewogen und
kurzsichtig. Dieser Antrag ist von der ersten bis zur letz-
ten Zeile ein Gefälligkeitsantrag für Gewerkschaftsfunk-
tionäre in der Türkei mit zweifelhafter politischer Einstel-
lung. Ihr Kalkül ist doch ganz klar, Sie wollen die
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei politisch aufladen.
Darin unterscheiden Sie sich nicht von der CSU.

Wir Liberale nehmen die Verhandlungen mit unserem
Partner Türkei ernst. Wir lehnen es ab, sie zum Spielball
von Populisten im Wahlkampf zu machen. Wir werden
langfristige deutsche und europäische Interessen nicht in
der Wahlkampfarena auf Berliner Straßen opfern. Denn
es ist ganz klar Ihre Absicht, in den traditionell sozialde-
mokratischen Gefilden türkischer Verbände in Deutsch-
land zu wildern. Die Folgen sind Ihnen egal. Sie wissen
genau, dass das, was wir hier im Bundestag zum Thema
Türkei machen, eins zu eins in den türkischen Medien Wi-
derhall findet. Und ob es zu innenpolitischen Spannungen
in der Türkei kommt oder zu Belastungen der Beitrittsver-
handlungen, ist Ihnen offensichtlich egal. Dieses Spiel-
chen ist kurzsichtig und höchstgradig unseriös, wie Ihre
gesamte Europapolitik.

Der vorliegende Antrag leidet zudem daran, dass er
die Situation der Gewerkschaften einseitig hervorhebt
und daraus einen generalisierenden Blick auf die innen-
politische Situation in der Türkei ableitet. Von einem se-
riösen Antrag wäre zu erwarten gewesen, dass er die
politischen und wirtschaftlichen Fortschritte seit Auf-
nahme der Beitrittsverhandlungen anerkennt. Davon ist
im Antrag absolut nichts zu finden. Stattdessen rekurrie-
ren Sie auf amerikanischen Einfluss beim ersten türki-
schen Gewerkschaftsgesetz 1947. Verehrte Kollegen, in
welcher Zeit leben Sie denn? Soll ich Ihnen antworten,
dass die Sowjets 1947 damit begonnen haben, die Ge-
werkschaften zum Werkzeug der vereinigten Arbeiterpar-
tei zu organisieren, was ihnen mit dem gleichgeschalteten
FDGB bis 1989 auch gelungen ist? Diese Art der Argu-
mentation ist doch selbst unter Ihrem – zugegeben sehr
niedrigen – Niveau.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Markus Löning
Noch ein Wort zum Thema Versammlungsfreiheit in
der Türkei. Damit keine Missverständnisse entstehen:
Für die FDP ist die Versammlungsfreiheit ein elementa-
res Grundrecht, an dem es nichts zu rütteln gibt. Uns ist
auch die Situation in der Türkei sehr wohl bekannt. Ihr
Verhalten ist jedoch unfassbar scheinheilig. Denn Sie ver-
suchen mit solchen Anträgen, die laufenden Beitrittsver-
handlungen zu stören, die ja gerade die Verpflichtung der
türkischen Seite auf die europäischen Grundrechte – und
damit auch das Recht auf Versammlungsfreiheit – fest
verankern sollen.

Auch der Vertrag von Lissabon, den Sie gemeinsam mit
dem Kollegen Gauweiler und in einem Boot mit der NPD
so leidenschaftlich bekämpfen, erklärt die EU-Grund-
rechtecharta für rechtsverbindlich und damit auch
Art. 12 der Charta. Da Sie den Text offensichtlich nicht
kennen, lese ich Ihnen den Text vor: „Jede Person hat das
Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftli-
chen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen
frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit
anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Per-
son umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften
zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“ Ihre Ab-
lehnung des Lissabonner Vertrages ist nichts als dumpfer
Populismus.

Wenn Sie sich hier also als Rächer der Gewerkschafts-
funktionäre aufspielen, ist das scheinheilig, kurzsichtig
und auch gefährlich. Denn wir alle wissen, warum Sie
hier voller Pathos ins Gewerkschaftshorn blasen und im
Vorfeld nicht bereit waren, einen gemeinsamen Antrag zu
formulieren. Denn der 1. Mai steht vor der Tür. Und da
wollen Sie sich gerne etwas revolutionär aufhübschen.
Und da scheinen Ihnen Straßenschlachten wie im letzten
Jahr in Istanbul ganz gut in den Kram zu passen. Dies
sollte nicht der Stil politischer Auseinandersetzung in
diesem Haus sein. Ich fordere Sie deshalb auf: Legen Sie
ihre Scheinheiligkeit ab, denn in Wirklichkeit schaden Sie
mit diesem Antrag den Interessen Deutschlands, aber ge-
nauso den Interessen der türkischen Gewerkschaften.


Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621726600

In wenigen Tagen feiern wir wieder den 1. Mai, einen

durch die internationale Arbeiterbewegung erkämpften
Feiertag. Mit Freude und großer Zustimmung habe ich
vernommen, dass das türkische Parlament gestern den
1. Mai zum offiziellen Feiertag erklärt hat. Dieser Schritt
war schon seit Jahren notwendig, und trotzdem freut es
mich, dass in Zukunft auch in der Türkei der „Tag der Ar-
beit und Solidarität“ offiziell gefeiert werden wird.

Wenn dies auch eine positive Entwicklung ist, dürfen
die Bilder des vergangenen 1. Mai nicht vergessen wer-
den. Das brutale Vorgehen der Polizei am 1. Mai 2008 in
Istanbul war der Beweis für einen willkürlichen und ge-
walttätigen Umgang mit den Demonstranten und den Ver-
tretern der Gewerkschaften. Menschen erlebten die poli-
zeilichen Eingriffe in Form von Tränengas und
körperlicher Gewalt. Dieses unverhältnismäßige Vorge-
hen hat gezeigt, dass unabhängige und starke Gewerk-
schaften von der türkischen Regierung weiterhin als Ge-
fahr wahrgenommen und nicht als Elemente einer
Zu Protokoll
demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden. Dabei
brauchen die türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer gerade jetzt starke Gewerkschaften. Insbeson-
dere in den vergangenen Jahren kam es angesichts der
massiven Privatisierung unter der Regierung Recep
Tayyip Erdoğans immer wieder zu Massenentlassungen
und einem stetigen Wachsen des Niedriglohnsektors.

Als EU-Erweiterungsbeauftragter der Fraktion Die
Linke frage ich mich, warum die Situation der Gewerk-
schaften im Beitrittsland Türkei in den jährlichen Kom-
missionsberichten völlig ignoriert wird. Durch eine Viel-
zahl institutioneller und rechtlicher Hürden werden
Gewerkschaften daran gehindert, die Interessen von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern entsprechend zu
vertreten und sich gegenüber der Arbeitgeberseite zu be-
haupten. Sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und die bestehenden rechtlichen Hürden für effektive Ge-
werkschaften nicht wichtig genug für die Europäische
Union? In unserem Antrag fordern wir, dass in künftigen
EU-Kommissionsberichten die Lage der Gewerkschaften
intensiv beobachtet und ausführlich bewertet wird. Insbe-
sondere die mangelnde Versammlungs- und Vereini-
gungsfreiheit sowie die rechtlichen Hürden für eine Mit-
gliedschaft in einer Gewerkschaft sollten dabei im
Mittelpunkt stehen. Auch sollte auf EU-Ebene eine zeit-
nahe Angleichung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei
an die Konventionen der Internationalen Arbeitsorgani-
sation (ILO) und die Standards der EU gefordert werden.

Ich rufe dazu auf, den Umgang der Polizeikräfte unter
der Order der AKP-Regierung am 1. Mai aufmerksam zu
beobachten. Sollten sich die Gewaltaktionen vom vergan-
genen Jahr wiederholen, wäre dies ein weiteres Armuts-
zeugnis für die AKP-Regierung mit Blick auf ihr Demo-
kratieverständnis.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Die Geschichte der Gewerkschaften in der Türkei ist
eine leidvolle und zugleich kämpferische Geschichte. In
Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerkschaften im
NATO-Land Türkei unter einem fortwährenden General-
verdacht. Dies führte zu unglaublichen Restriktionen und
Einschränkungen von selbstverständlichen und funda-
mentalen Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern. Die Entrechtung und Kriminalisierung von Ar-
beitnehmern fand ihre traurigen Höhepunkte in der
brutalen Unterdrückung und dem blutigen Vorgehen der
Sicherheitskräfte gegen Aktivistinnen und Aktivisten der
Gewerkschaften und gegen Arbeitnehmervertretungen.
Die Erinnerung an die Erschießung von über 30 Demon-
strierenden am 1. Mai des Jahres 1977 auf dem Istanbuler
Taksim-Platz ist in der Türkei immer noch sehr lebendig
und weiterhin Gegenstand von politischen Auseinander-
setzungen. Wir unterstützen die Forderungen der türki-
schen Gewerkschaften, die Aufklärung der Umstände
dieses grauenhaften Ereignisses einem gemeinsamen Un-
tersuchungsausschuss anzuvertrauen, der endlich zur
Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der türkischen Ge-
schichte beitragen könnte.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Claudia Roth (Augsburg)

Auch die Position der türkischen Regierung und der
Istanbuler Stadtbehörden im Streit um die Genehmigung
von 1.-Mai-Kundgebungen auf dem zentralen Taksim-
Platz in Istanbul ist trotz aller Symbolik unverständlich.
Die tragischen Folgen eines solchen Streits haben wir am
1. Mai 2008 zur Kenntnis nehmen müssen: Das gewalt-
same Vorgehen der Polizei gegen Demonstrierende und
Gewerkschaftler mit zahlreichen Leidtragenden hat auch
in Deutschland Entsetzen ausgelöst. Dieses Verhalten
verhöhnt die Grundsätze von Demokratie und Rechts-
staatlichkeit. Denn das Recht auf Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit ist ein Grundrecht, das überall und
insbesondere auch in einem Land, das EU-Beitrittskandi-
dat ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, ge-
währleistet werden muss.

Die türkische Regierung muss umgehend dafür Sorge
tragen, dass die gegenwärtige Rechtlosigkeit der Ge-
werkschaften in der Türkei überwunden und die Restrik-
tionen im Bereich von Grundrechten beseitigt werden. Sie
steht in der Pflicht, die Reformen mit mehr Leidenschaft
im Sinne der Beitrittsverhandlungen voranzutreiben. Das
gilt auch für die Öffnung zweier neuer Verhandlungska-
pitel zur Steuer- und Sozialpolitik, die im Sommer erfol-
gen soll. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regie-
rung auffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte
einzuräumen und Reformen fortzusetzen, die das Gewerk-
schaftsrecht in der Türkei an die Konventionen der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation und die Standards der EU
angleicht. Es ist nicht nur im Interesse der EU, sondern
vor allem im Interesse der Türkei und der türkischen De-
mokratie, dass die Türkei ein modernes Gewerkschafts-
Gesetz verabschiedet. Denn Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe und Partizipa-
tionsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türkische
Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationalen und
europäischen Konzerne und die EU müssen in ihren Wir-
kungsbereichen bzw. Betrieben die Einhaltung moderner
Arbeits- und Sozialstandards garantieren.

Es gab und gibt keine Entschuldigung für den Re-
formstau, der in den letzten zwei Jahren so viel politi-
schen Schaden angerichtet hat. Erfreulich ist allerdings,
dass die türkische Regierung in diesen Tagen eine alte
Forderung der Gewerkschaften erfüllt hat: Nachdem be-
reits das nach den blutigen Auseinandersetzungen in
Istanbul 1977 ausgesprochene Verbot der Maifeier zu-
rückgenommen wurde, wird von diesem Jahr an der
1. Mai ein gesetzlicher Feiertag für alle türkischen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein.

Unsere Kritik an der Lage der türkischen Gewerk-
schaften und am Reformstau geht mit Anerkennung und
Ermutigung für das Vorhaben der Regierung und ihres
neuen Chefunterhändlers Bagis einher, nach dem Kabi-
nettsbeschluss über ein nationales Reformprogramm mit
mehr als 130 Gesetzesänderungen nun schnell mit den
parlamentarischen Beratungen zu beginnen. Nur so kön-
nen die beschlossenen Reformen in angemessenem
Tempo umgesetzt werden.

Große Sorgen bereitet uns das aktuelle Vorgehen der
türkischen Justiz gegen die kurdische Partei DTP und
ihre Spitzenpolitiker, gegen die mit großen Mehrheiten
gewählten Bürgermeister kurdischer Städte und gegen
kurdische Aktivistinnen und Aktivisten. Die türkische Re-
gierung steht in der Pflicht, alles zu tun, um der nationa-
listischen Stimmungsmache, die gegenwärtig zu beob-
achten ist, ein Ende zu setzen. Sie muss die Einhaltung
der demokratischen Rechte aller türkischen Staatsbürge-
rinnen und -bürger gewährleisten. Die zügellosen Natio-
nalisten und Demokratiefeinde in der Justiz und anderen
Bereichen, die an einer alten, längst überholten Türkei
festhalten wollen, kann die Regierung Erdoğan mit einer
vorbehaltlosen Abschaffung und Streichung von Zensur-
und Unterdrückungsparagrafen ins Leere laufen lassen.
Die Regierungspartei AKP ist selbst aber reformmüde
und damit Teil der Kräfte, die die Reformdynamik brem-
sen. Die EU sollte der entsprechenden Forderung an die
türkische Regierung mehr Nachdruck verleihen, verbun-
den mit einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive für die
Türkei und einer ehrlichen Verhandlungspolitik.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1621726700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die

Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12655,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/11248 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Die Gegenprobe! – Die Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD und Gegenstimmen
durch Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke angenommen.

Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung der abfallrechtlichen Pro-
duktverantwortung für Batterien und Akku-
mulatoren

– Drucksachen 16/12227, 16/12301 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 16/12721 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen

– Drucksachen 16/11917, 16/12721 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göhring-Eckardt
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl

Hier sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Michael Brand, Gerd Bollmann, Horst Meierhofer, Eva
Bulling-Schröter und Sylvia Kotting-Uhl zu Protokoll
gegeben.1)

Wir kommen zur Abstimmung.

Zunächst zu Tagesordnungspunkt 18 a. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12721, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/12227
und 16/12301 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung
durch die Koalition, Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
FDP angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, werden gebeten, aufzuste-
hen. – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher angenommen.

Nun zu Tagesordnungspunkt 18 b. Unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12721
empfiehlt der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11917 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-
empfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen und die FDP und Ablehnung durch Bündnis 90/
Die Grünen und die Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 23:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Uschi Eid, Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sanitäre Grundversorgung international ver-
bessern

– Drucksachen 16/11204, 16/11812 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen)

Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Marina Schuster

1) Anlage 10
Monika Knoche
Dr. Uschi Eid

Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kolle-
ginnen und Kollegen Sibylle Pfeiffer, Brunhilde Irber,
Gabriele Groneberg, Karl Addicks, Hüseyin-Kenan
Aydin und Uschi Eid vor.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1621726800

Sanitäre Grundversorgung – oft ein Tabuthema: Die

sanitäre Grundversorgung gehört in der Entwicklungszu-
sammenarbeit nicht gerade zu den „sexy“ Themen. Ja,
ich habe manchmal den Eindruck, dass dieses Thema re-
gelrecht tabuisiert wird. Und dieses Tabu muss gebrochen
werden. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, das
Thema in die Öffentlichkeit zu rücken. Denn hierbei geht
es um einen Komplex, der gerade für die armen Länder
lebenswichtig ist: Sanitäre Grundversorgung umfasst
Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung.

Sanitäre Anlagen – wichtig für Gesundheit: Über
1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem
Trinkwasser. Über 2,5 Milliarden Menschen, darunter
1 Milliarde Kinder, haben keinen Zugang zu ausreichen-
den sanitären Einrichtungen. Sie müssen offene Latrinen,
Eimer oder unhygienische Gemeinschaftstoiletten benut-
zen. In den Slums der Großstädte haben sie oft überhaupt
keine Toiletten.

Sanitäre Anlagen sind kein Luxus, sondern eine
Grundvoraussetzung für gesundes Leben. Sanitäre
Grundversorgung ist die beste Prävention gegen viele
Krankheiten. Doch nicht nur das. Sanitäre Anlagen sind
eine Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung. Nicht
von ungefähr hat man den verbesserten Zugang zu sau-
berem Trinkwasser und sanitären Anlagen zusätzlich in
die Millenniumsziele aufgenommen.

Ein weiteres Millenniumsziel ist: „Kindersterblichkeit
verringern“. Wie wollen wir das ohne geeignete Sanitär-
versorgung und ohne sauberes Wasser erreichen? Jeden
Tag sterben 5 000 Kinder an Durchfallerkrankungen, die
auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen sind. Dabei
wären Gegenmaßnahmen einfach. Studien belegen, dass
durch regelmäßiges Händewaschen mit sauberem Wasser
und Seife die Durchfallerkrankungen um fast 50 Prozent
gesenkt werden können.

Wie wollen wir das Millenniumsziel „Müttergesund-
heit verbessern“ ohne fließendes Wasser und ohne Toilet-
ten erreichen? Hierzu zwei Beispiele: In Äthiopien haben
wir zusammen mit einer Delegation ein Krankenhaus be-
sucht, in dem Frauen mit Scheidenfisteln behandelt wer-
den. Bei dieser Krankheit leiden die Frauen unter ande-
rem an Inkontinenz. Es ist nicht vorstellbar, wie diese
Frauen leiden, weil sie keine Toiletten aufsuchen können.
In Sambia haben wir ein Krankenhaus besucht, in dem
die Toiletten kaputt waren. Frauen mussten kurz vor der
Entbindung ihre Notdurft im Freien verrichten.

Frauen sind besonders anfällig. In unseren Breiten-
graden können wir uns heute nicht vorstellen, was es
heißt, wenn ein Mensch ohne Schutz und ohne jegliche
Privatheit seine Notdurft verrichten muss. In Entwick-
lungsländern kann dies für Mädchen und Frauen Gefahr


(A) (C)



(B) (D)


Sibylle Pfeiffer
für Leib und Leben bedeuten. Viele können sich aus
Scham nur in der Dunkelheit erleichtern. Dabei werden
sie oft Opfer von sexuellen Übergriffen.

Noch ein weiteres Millenniumsziel ist in diesem Zu-
sammenhang betroffen: die Schulbildung. Es werden
viele Pläne für die verbesserte Schulbildung von Mäd-
chen in Entwicklungsländern entworfen. Dabei wird aber
oft das Naheliegende vergessen. In vielen Schulen fehlt es
an Toiletten bzw. an für Jungen und Mädchen getrennten
Toiletten. So verlassen in manchen Ländern 10 Prozent
der Mädchen die Schule, wenn sie in das Menstruations-
alter kommen.

Fazit: Die oben genannten Verhältnisse sind in meinen
Augen ein Angriff auf die Würde der Frauen und Kinder.
Eine Verbesserung der Grundversorgung mit sanitären
Anlagen bedeutet verstärkten Schutz für Frauen und
Mädchen. Das wiederum bedeutet auch eine Verringe-
rung der Armut.

Deutschland engagiert sich sehr stark in dem Bereich
der sanitären Grundversorgung. Viele Forderungen aus
dem vorliegenden Antrag werden von der Bundesregie-
rung bereits erfüllt. Daher können wir dem Antrag nicht
zustimmen. Nichtsdestotrotz misst die CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion diesem Thema eine besondere Bedeutung
bei. Daher haben wir dem interfraktionellen Antrag zu-
gestimmt, dass das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr
der sanitären Grundversorgung“ ausgerufen wird.

Pro Jahr gibt das BMZ derzeit 350 Millionen Euro im
Bereich Wasser und Abwasser aus. Meiner Meinung nach
ist es wichtig, dass dabei der Grundsatz gilt, dass jedes
Trinkwasserprojekt auch Abwasser berücksichtigen
muss. Rund 30 Prozent der gesamten bilateralen Förder-
summe des Wassersektors werden in den Abwasserbe-
reich investiert. Deutschland ist seit vielen Jahren in der
Welt einer der größten Geber im Abwasser- und Sanitär-
bereich.

An dieser Stelle möchte ich auf einen entscheidenden
Punkt hinweisen. Die Hauptverantwortung für sanitäre
Grundversorgung tragen die Partnerländer selbst.
Deutschland kann nicht einfach in ein Land gehen und sa-
gen: So, wir machen jetzt sanitäre Grundversorgung. Wir
orientieren uns bei der bilateralen entwicklungspoliti-
schen Zusammenarbeit eng an den Strategien der Part-
nerländer, was übrigens in der Pariser Erklärung gefor-
dert wird. Und wir müssen feststellen, dass für viele
Partnerländer der Wasser- und Abwassersektor keine be-
sonders hohe Priorität hat.

Am Ende möchte ich folgende Punkte zusammenfas-
sen: Erstens. Eine Verbesserung der sanitären Grundver-
sorgung trägt zur Reduzierung der Armut bei. Zweitens.
Sanitäre Grundversorgung stärkt Frauen und Kinder.
Drittens. Das Thema sanitäre Grundversorgung ist zu
wichtig, als dass es vernachlässigt und tabuisiert werden
darf. Wir alle müssen mitwirken, damit das Tabu durch-
brochen wird.


Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1621726900

Die Bedeutung der sanitären Grundversorgung wird in

der internationalen Entwicklungspolitik unterschätzt.
Zu Protokoll
Tatsächlich klingt es in den Ohren der meisten Menschen
hierzulande erst einmal sonderbar, vielleicht sogar al-
bern, wenn sie hören, dass Deutschland Klohäuschen in
Afrika oder Asien baut. Bei näherem Hinsehen stellt sich
dann schnell heraus, dass es sich hier nicht um ein alber-
nes Thema handelt. Im Gegenteil: Das Thema Toiletten
und Abwasserentsorgung ist sehr ernst. Täglich sterben
rund 5 000 Kinder an den Folgen fehlender sanitärer
Grundversorgung und leicht vermeidbarer Krankheiten,
die durch verschmutztes Trinkwasser und mangelnde Hy-
giene entstehen. Obwohl dieser Mangelzustand wohl
mehr Menschenleben fordert als bewaffnete Konflikte,
hört man in den Medien wenig darüber. Es ist hierzulande
fast niemandem bekannt, dass 18 Prozent der Weltbevöl-
kerung – das sind rund 1,2 Milliarden Menschen – über
keinen Zugang zu Toiletten in irgendeiner Form haben.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Trinkwasser-
brunnen und Gewässer mit Cholerabakterien verseucht
sind. Allein eine funktionierende Sanitärversorgung
könnte daher die Kindersterblichkeit mehr als halbieren.

Um dieses Problem effektiv anzugehen, braucht es ei-
nen offenen Umgang mit dem Thema Toilette und Abwas-
serentsorgung. Politiker in den ärmsten Ländern der Welt
tun sich schwer, ein „schmutziges Thema“ wie Toiletten
in ihren Wahlkampf aufzunehmen. Politischer wie auch
zivilgesellschaftlicher Wille werden offensichtlich durch
das „Toilettentabu“ gehemmt. Doch auch in unserem
Land tun sich die Menschen schwer, Geld für den Bau von
Toiletten und Abwasserbehandlung zu spenden. Entwick-
lungspolitisch orientierte Unternehmen oder Berühmt-
heiten bevorzugen in der Regel den Einsatz ihrer Mittel in
Schul- oder Brunnenbauprojekten.

Um die Scheu vor dem Thema sanitäre Grundversor-
gung zu überwinden und ein Bewusstsein für richtiges hy-
gienisches Verhalten zu fördern, hat die SPD-Bundes-

(gemeinsam mit den Grünen sowie der CDUund der FDP-Bundestagsfraktion)

Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Mit die-
sem Antrag forderte sie die Bundesregierung auf, sich bei
der Generalversammlung der Vereinten Nationen dafür
einzusetzen, dass das Jahr 2008 zum „Internationalen
Jahr der sanitären Grundversorgung“ ausgerufen wird.
Es galt hierbei, nicht nur ein unpopuläres Tabu-Thema zu
brechen, sondern auch ein Bewusstsein für richtiges hy-
gienisches Verhalten zu vermitteln.

Trotz sichtbarer Verbesserungen in den Bereichen
Siedlungshygiene und Abwassermanagement bleiben die
Fortschritte in zahlreichen Ländern deutlich hinter den
Erwartungen zurück. In Subsahara-Afrika ist die Anzahl
der Menschen ohne Zugang zu menschenwürdigen sani-
tären Einrichtungen aufgrund des schnellen Bevölke-
rungswachstums sogar gestiegen. Setzt sich der Trend
fort, wird das Millenniumsentwicklungsziel der Vereinten
Nationen zur Sanitärversorgung verfehlt werden. Die
Bundesregierung setzt sich deshalb intensiv für eine Ver-
besserung der Wasser- und Sanitärversorgung ein. Sie
orientiert sich dabei an den Millenniumsentwicklungszie-
len und den Prinzipien des Integrierten Wasserressour-
cenmanagements.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Brunhilde Irber
Deutschland gehört weltweit zu den führenden Natio-
nen im Wassermanagement, dessen Erfahrung und
Know-how weltweit gefragt sind. Das spiegelt sich auch
in der Entwicklungszusammenarbeit wider. Wasser und
Abwasser gehören seit über 30 Jahren zu den wichtigsten
Arbeitsfeldern. Gemessen an der bilateralen Förder-
summe von rund 350 Millionen Euro pro Jahr ist der Was-
ser- und Abwasserbereich der zweitgrößte Investitionsbe-
reich der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. In
Afrika ist Deutschland der größte bilaterale Geber. Circa
40 Prozent dieses Betrags werden für Maßnahmen im Be-
reich Sanitärversorgung und Abwassermanagement ein-
gesetzt. Im Regelfall enthalten Trinkwasserprojekte im-
mer auch eine Abwasserkomponente. Die deutsche
entwicklungspolitische Zusammenarbeit erreicht mit den
derzeit laufenden Projekten in den Bereichen Sanitärver-
sorgung und Abwassermanagement rund 35 Millionen
Menschen.

Wir werden das Problem der unzureichenden sanitä-
ren Grundversorgung in weiten Teilen unserer Welt nicht
allein schultern können. Der Schlüssel zum Erfolg ist da-
her eine effektive internationale Zusammenarbeit. Deutsch-
land setzt sich daher seit einigen Jahren verstärkt in in-
ternationalen Organisationen und Initiativen für das
Thema nachhaltige Sanitärversorgung ein. Ich möchte
hier keine ausführliche Aufzählung der deutschen Initia-
tiven zur Förderung der sanitären Grundversorgung auf
internationalem Parkett abliefern. Ein kleiner Überblick
über die deutschen Aktivitäten während des vergangenen
Jahres, des „Internationalen Jahres der sanitären Grund-
versorgung“, soll hier genügen. So hat die Bundesregie-
rung auf der 16. Sitzung der Kommission für nachhaltige
Entwicklung der Vereinten Nationen in New York, wäh-
rend des Gipfeltreffens der acht großen Industriestaaten

(G 8) in Japan im August 2008 sowie mit der Organisa-

tion einer Veranstaltung zum Thema „Water and Sani-
tation“ am Rande des VN High Level Event zu den Mil-
lenniumsentwicklungszielen im September 2008 ihre
führende Rolle im Bereich Sanitärversorgung unterstri-
chen. Ferner setzt sich Deutschland im Rahmen der Was-
serinitiative der Europäischen Union sowie im Dialog mit
internationalen Partnern wie dem Afrikanischen Rat der
Wasserminister (AMCOW) aktiv für das Thema ein.

Ob und wann alle Menschen weltweit in den Genuss
einer sanitären Grundversorgung kommen werden, ist
leider noch nicht abzusehen. Dass wir heute über das
Thema sanitäre Grundversorgung diskutieren, ist aber
ein Zeichen dafür, wie stark das Thema in den letzten Jah-
ren an Bedeutung gewonnen hat. Ich bin daher optimis-
tisch, dass wir in den nächsten Jahren weltweit eine deut-
liche Ausweitung der Sanitärversorgung und parallel
dazu einen Rückgang der wasserbedingten Erkrankun-
gen erleben werden.

Vor diesem Hintergrund hat sich das Anliegen des vor-
liegenden Antrages der Grünen erledigt. Ich bitte Sie da-
her, den Antrag abzulehnen.


Gabriele Groneberg (SPD):
Rede ID: ID1621727000

Der Antrag und die Große Anfrage von Bündnis 90/

Die Grünen haben einen guten Zweck erfüllt: Sie haben
Zu Protokoll
erneut den Fokus auf das Thema Trinkwasser und sani-
täre Grundversorgung gelenkt, sodass wir heute die Mög-
lichkeit haben, darüber zu reden und nicht zuletzt auch
Öffentlichkeit für dieses Thema herzustellen. Das ist
wichtig; denn wie wir alle wissen, gibt es bei diesem
Thema noch immer zu viele Berührungsängste.

Trotzdem lehnen wir den Antrag ab. Nehmen wir zum
Beispiel die Forderung, dass zukünftige Trinkwasserpro-
jekte in der internationalen Zusammenarbeit in Zukunft
immer eine Sanitärkomponente enthalten sollen. Das ist
nicht neu. Das wird dort, wo es mit den Partnerländern
realisiert werden kann, auch so gehandhabt, und es wird
auch in Zukunft so sein. Diesbezüglich möchte ich unsere
p
Karin Kortmann (SPD):
Rede ID: ID1621727100
„Es gibt im BMZ die
Maßgabe: Keine Trinkwasserversorgung ohne eine ent-
sprechende Abwasserversorgung.“ Auch das siebte Mil-
lennium Development Goal der UN (MDG) beinhaltet
diese Verknüpfung. Dabei geht es um die Halbierung der
Anzahl von Menschen, die keinen Zugang zu sauberem
Trinkwasser und zu sanitärer Grundversorgung haben.
Viele Länder sind dank des MDGs „on track“ – also auf
gutem Wege, das Ziel zu erreichen, zum Beispiel in Süd-
ostasien die Philippinen, Myanmar, Vietnam. Da konnte
bislang die Versorgung mit sanitären Anlagen um 17 Pro-
zent gesteigert werden. Ähnlich positiv sieht es im Norden
Afrikas aus. Sicher ist richtig: Das Ziel der Halbierung ist
auch in diesen Ländern noch nicht erreicht, aber es sind
Fortschritte erkennbar. In vielen anderen Ländern, vor
allem in Subsahara-Afrika, stellt sich die Situation aller-
dings noch ganz anders dar.

Und genau aus diesem Grund treiben wir den Dialog
mit unseren Partnerländern voran – übrigens eine wei-
tere Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
der bereits nachgegangen wird. Wir alle wissen wie wich-
tig die MDGs sind, welche Signalwirkung auch von ihnen
ausgeht. Ich kann daher aus meiner eigenen Erfahrung
sagen, dass das Thema Trinkwasser und Abwasserentsor-
gung sowie Sanitärversorgung bei Gesprächen mit den
Partnerländern immer auf der Tagesordnung steht. Die
Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen werden also in
den laufenden Prozessen bereits berücksichtigt. Sie müs-
sen nicht neu formuliert werden.

Dennoch: Auch wenn sanitäre Grundversorgung auf
diversen Konferenzen diskutiert und behandelt wird und
sich Ministerinnen und Minister sowie Abgeordnete Ge-
danken und Pläne zur Verbreitung des Themas machen,
heißt das noch lange nicht, dass damit die Akzeptanz des
Themas in allen Kulturen erfolgt ist. Erst letztens musste
ich beispielsweise in Sambia feststellen, dass die Verwen-
dung von menschlichen Fäkalien als Biomasse aus kultu-
rellen Gründen abgelehnt wird. Dabei wäre diese
Verknüpfung von Ver- und Entsorgung so wichtig, insbe-
sondere in der ländlichen Entwicklung. Hier können
Exkremente beispielsweise für die Betreibung von Bio-
gasanlagen genutzt werden. Ich habe dies in meiner Rede
am 5. Dezember 2008 ausführlich beschrieben: Ohne
ökologisch nachhaltige Kreislaufsysteme wird die Reali-
sierung der verschiedenen MDGs kaum möglich sein.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir – wenn wir mit
unseren Lösungen in den Partnerländern wegen kulturel-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Groneberg
ler Differenzen nicht weiterkommen – dieses erkennen
und nach anderen Wegen suchen. Nur mit den Menschen
und nicht gegen sie kann eine nachhaltige Entwicklung
auch auf diesem Gebiet stattfinden. Die Versorgung mit
sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen – als
Schlüssel für mehr Entwicklung und weniger Armut – ist
zu wichtig, um daran zu scheitern.


Dr. Karl Addicks (FDP):
Rede ID: ID1621727200

Wir reden heute über ein anrüchiges Thema, ein

Thema, das man gerne vermeidet, wenn nicht gar tabui-
siert. Aber das Thema ist zu wichtig, als dass es einem
Tabu zum Opfer fallen könnte: Wir reden über menschli-
che Exkremente, die in vielen Teilen dieser Welt zum Him-
mel stinken. Das ist nicht nur unangenehm, das verur-
sacht auch schlimme Folgen, vor allem für die Kinder
dieser Welt: Von unsachgemäß abgelagerten Fäkalien
transportieren Fliegen Amöben und andere Krankheits-
erreger direkt in die Häuser, auf den Tisch und die Spei-
sen, sogar direkt auf den Mund der Kinder, Sie kennen
doch alle diese Bilder. Der Weg vom Darmausgang des
einen zum Mund des anderen ist kürzer, als man gewöhn-
lich denkt. Und dann entwickeln sich in den unsachgemäß
abgelagerten Fäkalien Wurmlarven: Die klettern an
Grashalmen hoch, warten dort auf einen, der vorüber-
kommt, und dringen dann aktiv durch die Haut in den
Körper ein, wo sie eine Wanderung machen und sich dann
wieder im Darm ansiedeln. Dies hatten wir früher auch
hier bei uns, es war eine anerkannte Berufskrankheit der
Bergleute. Unter Tage waren früher auch schlechte Sani-
tärverhältnisse.

Des Weiteren sickern die Erreger in unsachgemäß ab-
gelagerten Fäkalien mit dem Regenwasser in die Brunnen
und gelangen so ins Trinkwasser. Dann kommt kontami-
niertes Wasser aus den Trinkwasserleitungen, Trinkwasser,
das die Leute in gutem Glauben trinken. Dadurch kommt
es in großen Teilen der Welt immer noch zu großen Mas-
senepidemien, Cholera, Typhus etc. Besonders für Kin-
der, die schon schutzlos den Malariamücken ausgesetzt
sind oder aus anderen Gründen schon an Blutarmut lei-
den, zum Beispiel durch eine Wurmerkrankung, ist
schmutziges Trinkwasser das Todesurteil. Auch die Mala-
riamücke selber könnte durch ein verbessertes Wasser-
management reduziert werden. Wir haben es alle schon
gesehen. In fast jedem Dorf Afrikas stehen Wassergefäße
herum, oft tagelang. Diese sind eine ideale Brutstätte für
die Moskitomücke, den Überträger des Malariaparasi-
ten.

All das kann mit relativ einfachen Mitteln ganz schnell
abgestellt werden: Dazu braucht es vor allem erst mal
eine Aufklärungskampagne. Überall müssen die Men-
schen diese Zusammenhänge lernen. Vielen ist gar nicht
bewusst, dass regelmäßiges Händewaschen oder auch
die sachgerechte Entsorgung des Abwassers schon ein
erster wichtiger Schritt zu Vermeidung von Krankheiten
sein kann. Dazu reichen am Anfang auch ganz einfache
Latrinen, die man sogar fliegensicher mit einfachen Mit-
teln anlegen kann.

Auch der Deutsche Bundestag hat sich mit einem inter-
fraktionellen Antrag im September 2006 für „Das Jahr
Zu Protokoll
2008 als internationales Jahr der sanitären Grundversor-
gung“ ausgesprochen. Ziel dieses UN-Jahres ist es zum
einen, das „Toiletten-Tabu“ zu durchbrechen. Zum ande-
ren gilt es, sich für nachhaltige Sanitärlösungen stark zu
machen.

Immer noch haben rund 2,6 Milliarden Menschen
laut WHO keinen Zugang zu menschenwürdigen sani-
tären Einrichtungen. Das ist mehr als ein Drittel der
Weltbevölkerung! Die Folgen dieser Unter- bzw.
Nichtversorgung mit sauberem Trinkwasser bzw. man-
gelnder Abwasserentsorgung sind verheerend! Gesund-
heit: 1,8 Millionen Menschen sterben jährlich an den
Folgen von Durchfallerkrankungen, über 90 Prozent sind
Kinder unter 5 Jahren. Umwelt: Circa 90 Prozent der
Abwässer weltweit gelangen ungeklärt oder nicht ausrei-
chend gereinigt in die Gewässer. Wirtschaft/Armutsbe-
kämpfung: hoher zeitlicher Aufwand bei der Trinkwas-
serbeschaffung, hohe Kosten für die Behandlung von
Krankheiten.

Wie Sie sehen, die Auswirkungen sind enorm und be-
treffen alle Bereiche des Lebens. Insbesondere die ge-
sundheitlichen Folgen sind gravierend. Ich habe es am
Beginn meiner Rede schon gesagt. Doch nicht nur aus hu-
manitärer Motivation, sondern gerade auch zur Verhin-
derung von Konflikten um Wasservorräte müssen die Ver-
sorgung der Menschen mit sauberem Trinkwasser sowie
eine funktionierende Abwasserentsorgung weltweit si-
chergestellt werden. Einer sich immer weiter verschär-
fenden Wasserkrise auf dem afrikanischen Kontinent
kann nur durch eine Optimierung der Wassernutzung be-
gegnet werden. Für eine nachhaltige Wasserwirtschaft ist
ein Wasserbedarfsmanagement erforderlich, um das zur
Verfügung stehende Wasser unter sozialen, ökologischen
und ökonomischen Aspekten – mithin unter dem Leitge-
danken der Nachhaltigkeit – optimal zu nutzen. Zu
berücksichtigen sind unter anderem die Aspekte Wasser-
verfügbarkeit, Wassernutzung, Wasserversorgung, Wasser-
qualität und Landnutzung. Hier sind alle Akteure gefragt:
Nicht nur die Geberländer müssen ihren Beitrag leisten,
sondern gerade Entwicklungsländer sollten ein vitales
Interesse daran haben, wie die wasserreichen und wirt-
schaftlich entwickelten Länder ihr Wasser schützen,
Trinkwasser aufbereiten und Abwasser behandeln. Lei-
der ist dies noch nicht in allen Ländern angekommen.
Hier gibt es Nachholbedarf.

Wie Sie sehen, müssen wir mehr tun. Aus diesem
Grund stimmen wir auch dem Antrag der Grünen zu.


Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621727300

Im Dezember letzten Jahres haben wir hier im Plenum

in erster Lesung den Antrag der Grünen „Sanitäre
Grundversorgung international verbessern“ beraten. Ich
habe Ihren Reden aufmerksam zugehört. Heute sage ich
Ihnen, liebe Kollegen von SPD und CDU/CSU: Ich bin
– wieder einmal – verständnislos und wütend über die rie-
sige Kluft zwischen Ihren schönen Worten und Ihren Ta-
ten!

Mit welcher Begründung haben Sie diesen Antrag ab-
gelehnt? Mit gar keiner, denn es gibt keinen einzigen
Grund dafür! In Ihren eigenen Reden finde ich nicht ein



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hüseyin-Kenan Aydin
Wort der Ablehnung, nicht ein Wort der Kritik. Woher
kommt dieser Sinneswandel? Oder ist es gar kein Sinnes-
wandel, sondern genau kalkulierte öffentliche Verschlei-
erungstaktik?

Rekapitulieren wir noch einmal:Weltweit steht genü-
gend Wasser zur Verfügung. Ob es jedoch sauber und
trinkbar ist und wie es verteilt wird, hat mit dem sozialen
Gefälle in der Gesellschaft zu tun. Weltweit leben
2,6 Milliarden Menschen ohne menschenwürdige Toilet-
ten. Das ist mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung. Es
ist ein menschenunwürdiges Leben. Es braucht wenig, um
das Leben menschenwürdig zu machen: Zugang zu sau-
berem Wasser, zu sanitären Einrichtungen, elementarste
Hygiene. Aber das braucht es. Die meisten Menschen
ohne sanitäre Anlagen leben auf dem Land oder in armen
Stadtregionen. Über die Hälfte der Betroffenen leben in
Süd- und Ostasien. Die Weltbank hat in einer Studie die
Folgen dieser katastrophalen Zustände in einigen südost-
asiatischen Ländern analysiert, zum Beispiel in Kambod-
scha. Hier leben 84 Prozent der Menschen in ländlichen
Regionen, davon besitzen nur 15 Prozent eine sanitäre
Grundversorgung. Von den 16 Prozent der in den Städten
lebenden Menschen weisen 56 Prozent eine Grundver-
sorgung auf. Dabei sind über 12 Prozent der Menschen
Kinder unter fünf Jahren. Der Anteil der Menschen, die
unterhalb der Armutsgrenze leben, liegt bei 35 Prozent.

Menschen ohne Zugang zu angemessenen Toiletten
sind einem Kreislauf aus Krankheit und Armut ausge-
setzt. In Zahlen ausgedrückt, bedeutet der Verlust an Ein-
kommen und Ausgaben für die Gesundheit für die ohne-
hin schon benachteiligten Menschen in Kambodscha
7,2 Prozent des Bruttosozialproduktes. 7,2 Prozent! Die
Fortschritte in zahlreichen Ländern bleiben deutlich hin-
ter den Erwartungen zurück. In Subsahara-Afrika ist die
Anzahl der Menschen ohne Zugang zu menschenwürdi-
gen sanitären Einrichtungen sogar gestiegen. Hier sind
es zwei von drei Menschen, die in solch menschenunwür-
digen Situationen leben.

Das Recht auf Wasser ist unteilbar mit dem Recht auf
sanitäre Grundversorgung verbunden. Besonders sind
dabei Kinder und Frauen betroffen. Alle zwanzig Sekun-
den stirbt ein Kind unter fünf Jahren an einfachen Er-
krankungen wie Durchfall. Mangelnde Privatsphäre und
Scham führen zu Erkrankungen, da die Mädchen erst im
Schutz der Dunkelheit auf Toilette gehen. Leider schützt
sie das nicht vor sexuellen Übergriffen. Viele Mädchen
besuchen mangels eigener Toiletten spätestens ab der Pu-
bertät keine Schulen mehr.

Das alles wissen wir schon länger. Wir brauchen de-
zentrale, technisch einfache Sanitärkonzepte, die zusam-
men mit Konzepten in der Landwirtschaft und im Ener-
giebereich entwickelt werden. Einfache übergreifende
Konzepte bedeuten Würde für die Menschen. Der Antrag
der Grünen hat dieses Thema angesprochen und viele un-
terstützenswerte Forderungen aufgestellt. Wie, meine
Damen und Herren von SPD und CDU, wie können Sie
morgens beim Händewaschen noch in den Spiegel
schauen und sich nicht schämen dafür, dass Sie diesen
Antrag ablehnen? Frau Groneberg sagte in ihrer Rede
vom 5. Dezember 2008: „Insofern ist es schön, dass wir
Zu Protokoll
darüber geredet haben, aber wir sollten nicht nur darü-
ber reden, sondern auch eine Menge tun.“ Belangloser
geht es nicht. Frau Pfeiffer sagte in ihrer Rede: „Auch un-
sere Durchführungsorganisationen sehen in der sanitä-
ren Grundversorgung nicht die erste Priorität.“ Und sie
fragte: „Ich bin mir nicht sicher, wie wir mit dem vorlie-
genden Antrag weiter verfahren sollen.“ Ich habe Ihnen
damals schon die einzig mögliche Antwort gegeben: „Zu-
stimmen, Frau Pfeiffer!“

Sie hätten etwas tun und diesem Antrag zustimmen
können. Die Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stim-
men der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen ist absolut unverständlich. Ich hoffe, dass Sie für
Ihre falschen Reden im September von den Wählerinnen
und Wählern zur Verantwortung gezogen werden.


Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621727400

Das internationale Jahr für sanitäre Grundversorgung

ist vorbei, und es ist Zeit, ein Resümee zu ziehen. Das Jahr
war insofern ein Erfolg, als sich eine Menge bewegt hat.
Das Thema Toiletten und Abwasser wurde endlich entta-
buisiert. Experten und Politiker wurden wachgerüttelt
und haben angefangen, zu erkennen, dass sie dieses
Thema nicht länger vernachlässigen dürfen, wenn sie die
Lebensbedingungen der ärmsten Teile der Weltbevölke-
rung verbessern wollen. Zu lange wurde die Tatsache ver-
nachlässigt, dass wir dauerhaft nicht genügend Trink-
wasser zur Verfügung haben werden, wenn wir uns nicht
um Abwasserentsorgungssysteme und Zugang zu anstän-
digen Toiletten kümmern.

Besonders zwei Themen, die auch weiterhin unsere
Aufmerksamkeit benötigen, möchte ich heute hervorhe-
ben: die Bedeutung der sanitären Grundversorgung für
die Verbesserung der Situation der Frauen und die Ent-
wicklung alternativer, nachhaltiger Abwasserkonzepte.
Beim diesjährigen Weltwasserforum in Istanbul wurde
endlich auch die Bedeutung von sanitärer Grundversor-
gung für die Gleichstellung der Frauen diskutiert; denn
es sind besonders die Frauen und Mädchen, die unter
dem Mangel an Toiletten und Hygiene leiden. Für sie
stellt mangelnder Zugang zu sauberem Trinkwasser und
sanitärer Grundversorgung einen Teufelskreis dar: Sie
verlassen vorzeitig schon während der Pubertät die
Schule, da ihnen dort keine abschließbaren und nach Ge-
schlechtern getrennten Toiletten zur Verfügung stehen.
Sie sind ständig der Gefahr von sexuellen Überfällen aus-
geliefert, wenn sie nachts buchstäblich in den Busch
gehen müssen, um sich zu erleichtern. Sie verbringen
täglich Stunden mit dem Schleppen von Trinkwasserka-
nistern von weit entlegenen Trinkwasserquellen. Sie sind
meistens verantwortlich dafür, die Kinder und Angehöri-
gen zu pflegen, wenn diese wegen verunreinigtem Trink-
wasser und unhygienischen Toiletten an Durchfall und
anderen Infektionen erkranken.

Die Chancen für Frauen, eine Schulausbildung abzu-
schließen, selbst erwerbstätig zu sein oder einflussreiche
Funktionen in der Gesellschaft einzunehmen, werden da-
durch erheblich eingeschränkt. Ich fordere daher die
Bundesregierung nachdrücklich auf, sich im Rahmen der



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Uschi Eid
G 8 für ein Programm zur Ausstattung von Schulen mit
abschließbaren und nach Geschlechtern getrennten Toi-
letten einzusetzen und damit einen Anstoß für die Verbes-
serung der Lebenssituation und Gleichstellung der
Frauen zu geben.

Im internationalen Jahr für sanitäre Grundversorgung
wurden auch andere als die herkömmlichen Abwasserent-
sorgungssysteme diskutiert. Dies war allerhöchste Zeit;
denn unsere auf großem Wasserverbrauch basierenden
Systeme zur Entsorgung des Urins und der Fäkalien sind
bei sinkenden Grundwasserspiegeln und abnehmenden
Regenfällen nicht nur in den trockenen Weltregionen,
sondern auch bei uns in Europa langfristig nicht haltbar.
Allein für die Toilettenspülung werden in Deutschland
täglich pro Person circa 45 Liter Trinkwasser verschwen-
det. Damit verschmutzen wir nicht nur unnötig viel Was-
ser, sondern vergeuden auch die darin enthaltenen wich-
tigen Nährstoffe, insbesondere Phosphate. Dadurch
gehen weltweit jährlich wiederverwertbare Stoffe im Wert
von 15 Milliarden Dollar verloren. Spätestens wenn die
weltweiten Phosphatvorkommen endgültig erschöpft
sind, werden wir diese Verschwendung sehr bedauern.
Wir müssen daher zukünftig auf eine Wiederverwendung
und Weiterverwertung der Abwässer setzen und der Ent-
wicklung alternativer Methoden, wie sie unter dem Be-
griff Ecosan bekannt sind, mehr Aufmerksamkeit schen-
ken. Mit Hilfe dieser Konzepte kann nicht nur immens viel
Wasser eingespart werden, sondern aus den menschli-
chen Fäkalien können auch circa 40 Kilogramm Dünger
pro Person gewonnen werden.

Um diese Methoden auch bei uns umsetzen zu können,
wäre es aber notwendig, unsere Gesetzesgrundlagen den
zukünftigen Anforderungen anzupassen und die legalen
Voraussetzungen für eine flächendeckende Modernisie-
rung unserer Systeme zu schaffen. Welche Folgen die
Missachtung zukünftiger Bedarfe und Entwicklungen ha-
ben kann, sehen wir durch den Zusammenbruch der deut-
schen Autoindustrie derzeit nur allzu deutlich. Gleichzei-
tig zeigt sich der Nutzen von Investitionen in die Zukunft
für unsere Wirtschaft im Bereich erneuerbarer Energien.
Wir müssen daher dringend dafür sorgen, dass unsere
Gesetzeslage dem flächendeckenden Einsatz alternativer
und zukunftsfähiger Abwassersysteme nicht im Wege
steht, um unsere Wasser- und Nährstoffressourcen zu
schonen, Innovationen zu begünstigen und diesen Wirt-
schaftszweig – auch in Deutschland – zu fördern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621727500

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11812, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11204 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition
und Ablehnung durch die Opposition angenommen.

Tagesordnungspunkt 20:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und
Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen
Verbraucherschutzes

– Drucksache 16/12232 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 16/12518 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Elvira Drobinski-Weiß
Hans-Michael Goldmann
Karin Binder
Nicole Maisch

Hier liegen uns die Reden der Kolleginnen und Kol-
legen Kurt Segner, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-
Michael Goldmann, Karin Binder und Nicole Maisch
vor.


Kurt Segner (CDU):
Rede ID: ID1621727600

Im Dezember 2006 ist das EG-Verbraucherschutz-

durchsetzungsgesetz in Kraft getreten. Ziel dieses Gesetzes
ist es, den kollektiven Verbraucherschutz im europäischen
Binnenmarkt zu stärken. Das Gesetz dient der Umsetzung
der EG-Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbrau-
cherschutz. Als deutsche Verbindungsstelle zu den Verbrau-
cherschutzbehörden in den anderen EU-Mitgliedstaaten
wird das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
mittelsicherheit, BVL, bestimmt.

Die gesetzlichen Grundlagen, auf denen das BVL in-
ternational tätig ist und mit seinen Partnerbehörden in
den anderen EU-Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, sind
ergänzungsbedürftig. Aus diesem Grund hat die Bundes-
regierung den heute zur Beratung anstehenden Entwurf
eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und
Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucher-
schutzes vorgelegt. Mit diesem Gesetzentwurf sollen sowohl
Änderungen am EG-Verbraucherschutzdurchsetzungs-
gesetz als auch am BVL-Gesetz vorgenommen werden.

Das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz soll
dahingehend verändert werden, dass das BVL bestimmte
Auskünfte von Post-, Telekommunikations- oder Tele-
mediendiensten verlangen darf. Um fragwürdigen Ange-
boten für Verbraucher besser auf den Grund gehen zu
können, soll das BVL das Recht erhalten, bei diesen
Diensten Name und Anschrift von Personen zu erfragen.
Wie wichtig das ist, wird am Beispiel verbraucherrechts-
widriger Angebote im Internet deutlich: Durch die Geset-
zesänderung wird das BVL in die Lage versetzt, von dem
Internetprovider Namen und Anschrift des Anbieters zu
verlangen. Dem BVL wird durch die Gesetzesänderung
ermöglicht, entsprechende Anfragen ausländischer Ver-
braucherschutzbehörden zu beantworten. Bislang konnten
bei derartigen Informationsersuchen ausländischer
Verbraucherschutzbehörden die gewünschten Daten
nicht festgestellt und übermittelt werden.

Die vorgeschlagene Neuregelung ist sinnvoll, weil sie
den Informationsaustausch zwischen den ausländischen
Verbraucherschutzbehörden und dem BVL verbessert.


(A) (C)



(B) (D)


Kurt Segner
Für Post-, Telekommunikations- oder Telemediendienste ist
die entstehende Belastung vertretbar: Das BVL erhält ver-
gleichbare Auskunftsansprüche, wie sie den Verbraucher-
zentralen bereits jetzt nach dem Unterlassungsklagengesetz
zustehen. Wenn ein Post-, Telekommunikations- oder Tele-
mediendienst eine Auskunft erteilen muss, erfolgt eine
Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und -ent-
schädigungsgesetz. Zudem ist nur mit wenigen Anfragen
im Jahr zu rechnen. Die Unternehmen werden nicht ver-
pflichtet, neue Daten zu erheben; sie müssen nur Daten
zur Verfügung stellen, über die sie ohnehin verfügen. Der
Auskunftsanspruch des BVL bezieht sich also nur auf die
Bestandsdaten. Die sogenannten Verkehrsdaten, die zum
Beispiel Auskunft über einzelne Telefonverbindungen ge-
ben, dürfen vom BVL nicht abgefragt werden.

Des Weiteren möchte die Bundesregierung das BVL-
Gesetz geändert sehen. Der Gesetzentwurf schlägt zwei
wichtige Ergänzungen vor: Erstens soll das BVL an der
Erstellung eines Informationsportals mitwirken, das zur
Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in Deutsch-
land erforderlich ist. Über dieses Portal sollen Informa-
tionen über den Verbraucherschutz in anderen Mitglied-
staaten bereitgestellt werden. Aufgrund der Vernetzung
des BVL mit den anderen Verbraucherschutzbehörden in
der EU ist es wichtig, das BVL in die Erstellung des
Informationsportals mit einzubeziehen und dafür die
gesetzliche Grundlage zu schaffen.

Zweitens soll im BVL-Gesetz festgelegt werden, dass
diese Behörde in internationalen Verbraucherschutz-
organisationen mitarbeitet. Dabei ist insbesondere an die
Mitarbeit im International Consumer Protection and
Enforcement Network (ICPEN) zu denken. Das ICPEN ist
ein internationales Netzwerk von Behörden, die mit Ver-
braucherschutz befasst sind. Durch das EG-Verbraucher-
schutzdurchsetzungsgesetz nimmt das BVL bereits jetzt
wichtige Aufgaben im grenzüberschreitenden Verbrau-
cherschutz wahr und ist zudem Verbindungsstelle zu
anderen Verbraucherschutzbehörden in der EU. Deshalb
ist es zweckmäßig, beim BVL die Zuständigkeit für die
internationale Zusammenarbeit im Verbraucherschutz zu
konzentrieren. Dies wird die Handlungsfähigkeit des BVL
auf internationaler Ebene stärken.

Aus meiner Sicht ist der Gesetzentwurf insgesamt
positiv zu bewerten: Er enthält kleine, aber dennoch
notwendige Schritte, um die Mitwirkung Deutschlands an
der europäischen und internationalen Zusammenarbeit
beim Verbraucherschutz auszubauen. Auch für den
Verbraucherschutz gilt: In dem Maße, wie Grenzen ihre
Bedeutung verlieren, muss die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit der staatlichen Behörden zunehmen. Dem
trägt der Gesetzentwurf Rechnung und setzt damit den Weg
fort, der vor über zwei Jahren mit der Verabschiedung des
EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes begonnen
wurde. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.


Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1621727700

Um den Aufgabenbereich und die Kompetenzen des

Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittel-
sicherheit (BVL) zu verändern, stehen heute sowohl Än-
Zu Protokoll
derungen im BVL-Gesetz als auch im EG-Verbraucher-
schutzdurchsetzungsgesetz zur Abstimmung.

Das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz, in
Deutschland am 21. Dezember 2006 in Kraft getreten, re-
gelt die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchset-
zung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationa-
len Behörden. Grundlage ist die Verordnung (EG)

Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Ra-
tes vom 27. Oktober 2004, deren Ziel es ist, die Zusam-
menarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden zu verbes-
sern.

Im Falle eines Verdachtes eines innergemeinschaftli-
chen Verstoßes gegen die Umsetzung oder Durchführung
von Vorschriften ist – je nach Themenbereich – eine zu-
ständige nationale Behörde als Ansprechpartner festge-
legt worden. Zusätzlich sind die Aufgaben und Befugnisse
der Behörde sowie die Duldungs- und Mitwirkungspflich-
ten im Gesetz definiert. Irreführende Werbung, Verdachts-
momente im Bereich Lebensmittelsicherheit, bei außer-
halb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, bei
Verbraucherkrediten oder bei Vertragsabschlüssen im
Fernabsatz fallen beispielsweise in den Tätigkeitsbereich
des BVL.

In der Praxis offenbarten sich jedoch in den letzten
Jahren Vollzugsprobleme. Den zuständigen Behörden
fehlte bisher die ausdrückliche Ermächtigungsgrund-
lage, Informationen über Bestandsdaten von Anbietern
von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiens-
ten zu erhalten. Mit der heute zur Abstimmung stehenden
Änderung soll eine ausdrückliche Befugnisnorm für die
zuständigen Behörden zur Erlangung von Bestandsdaten
geschaffen werden.

Ich verweise hier ausdrücklich darauf, vom Auskunfts-
anspruch nicht erfasst sind nach Art. 10 des Grundgeset-
zes geschützte Verkehrsdaten wie zum Beispiel die Aus-
kunft über einzelne telefonische Verbindungen. Und es
geht um Daten, die beim Auskunftspflichtigen bereits vor-
handen sind. Eine Pflicht zur Beschaffung oder Speiche-
rung von Daten ergibt sich aus der Vorschrift nicht.

Neben den Kompetenzen des BVL soll auch dessen
Aufgabenbereich vergrößert werden. Zukünftig wird das
BVL auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Verbraucher-
schutzes stärker in die Aufgaben des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
eingebunden. Als zusätzlich mögliche Tätigkeitsbereiche
werden zum Beispiel die Erfüllung des Informationsbe-
darfs der Verbraucherinnen und Verbraucher nach
Art. 21 der EG-Dienstleistungsrichtlinie oder die Mitar-
beit an internationalen Netzwerken und Organisationen
aufgezählt, ohne jedoch eine abschließende Regelung zu
treffen.

Ich unterstütze sowohl die Änderungen im BVL-Gesetz
als auch die im EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsge-
setz. Die vielfältigen Skandale im Lebensmittelbereich,
Klagen im Bereich Verbraucherschutz und Finanzdienst-
leistungen haben gezeigt, wie wichtig schlagkräftige Ver-
waltungen sind, um einerseits schnell über bestehende
Mängel europaweit zu informieren und andererseits die
Verantwortlichen zu ermitteln bzw. haftbar zu machen.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1621727800

Zu einem Europa der Verbraucher gehört auch eine

ständig enger werdende Kooperation derjenigen Behör-
den, die in Europa für Verbraucherschutz zuständig sind.
Deutschland kann zu Recht stolz darauf sein, dass Ver-
braucherrechte nicht durch eine bürokratische Behör-
denstruktur verwaltet werden, sondern dass wir bei der
Durchsetzung der Verbraucherrechte auf eine effiziente
Struktur von Verbraucherorganisationen und privaten
Vereinen für Wettbewerbsschutz zurückgreifen können.

Innerhalb Europas allerdings ist das deutsche Modell
in der Minderheit. Der Verbraucherschutz ist dabei, im-
mer stärker von Europa aus entwickelt zu werden. Ich
weise hier nur auf die geplante Richtlinie zu den Verbrau-
cherrechten hin. Hier strebt die Europäische Kommission
einheitliche europäische Regeln für Verbraucherverträge
an, insbesondere für solche, die im Wege des Fernabsat-
zes abgeschlossen werden. Damit wird in diesem Bereich
eine Abkehr von dem bisher geltenden Grundsatz der
Mindestharmonisierung eingeleitet, die in der Praxis zu
27 verschiedenen Verbraucherschutzregimen in der EU
führt. Die FDP-Fraktion trägt diesen Fortschritt in Rich-
tung einheitliche europäische Verbraucherrechte dort
mit, wo es um Kernbereiche der Verbraucherrechte in
Verträgen geht, insbesondere bei Widerrufsrechten und
Belehrungspflichten.

Es ist daher nur folgerichtig, die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit in der EU stärker zu institutionalisie-
ren. Nur so können letztlich in einem Binnenmarkt betrü-
gerische Aktivitäten, die nicht an der Landesgrenze
haltmachen, wirksam verfolgt werden. Bereits bei der
Aufsicht der Länder über die Produktsicherheit hat sich
die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden gegensei-
tigen Information über gefährliche Produkte erwiesen,
die dann in die Schaffung des Warn- und Informations-
dienstes RAPEX mündete. Deswegen ist es folgerichtig,
dass wir das Bundesamt für Verbraucherschutz und Le-
bensmittelsicherheit noch stärker in die Erfüllung euro-
päischer Anforderungen im Zusammenhang mit dem
wirtschaftlichen Verbraucherschutz einbinden.

Den anderen Teil des Gesetzes, in dem es um stärkere
Eingriffsrechte der Behörden geht, bewerte ich erheblich
kritischer, da sich hier der Trend zur Schaffung spezieller
Auskunftsansprüche fortsetzt. Immer mehr Unternehmen
werden verpflichtet, eigentlich vertrauliche Daten zu ih-
ren Kunden an Behörden herauszugeben. Ohne zurei-
chende Entschädigung ist eine solche Regelung zudem
mit unverhältnismäßigen Belastungen für die Unterneh-
men verbunden. Die FDP-Fraktion stimmt daher mit Ent-
haltung.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621727900

Der vorliegenden Gesetzentwurf, das sogenannte EG-

Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz (VSchDG), soll
den Verkehr zwischen Behörden und Einrichtungen ande-
rer Staaten und dem Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit (BVL) erleichtern. Dieser Be-
hördenverkehr müsste sonst wie bisher über das zustän-
dige Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz (BMELV) laufen. Nun erhalten
Zu Protokoll
die zuständigen Behörden das Recht, direkte Auskünfte
einzufordern, Bestandsdaten von Anbietern wie der Post,
Telekommunikations- oder Telemediendiensten einzuho-
len. Das erspart Zeit und mindert den bürokratischen
Aufwand. Auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden
wirtschaftlichen Verbraucherschutzes soll das Bundes-
amt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit

(BVL) darüber hinaus auch stärker in die Aufgaben im

Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eingebun-
den werden. Hier ist das BVL im europäischen Handels-
verkehr verantwortlich für die Bereiche irreführende und
vergleichende Werbung, Haustürgeschäfte, Verbraucher-
kreditgeschäfte, Pauschalreisen, missbräuchliche Klau-
seln in Verbraucherverträgen, Teilzeitnutzungsrechte an
Immobilien, Fernabsatzgeschäfte, Verbrauchsgüterkauf,
elektronischer Geschäftsverkehr und unlautere Geschäfts-
praktiken.

Die Entbürokratisierung und die Aufgabenerweite-
rung sollen den Verbrauchern und Verbraucherinnen mit
rascheren und aussagefähigen Auskünften zugutekom-
men. Die Fraktion Die Linke begrüßt grundsätzlich den
Willen der Regierung, Verbraucherrechten zu mehr
Durchsetzungskraft zu verhelfen. Beim vorliegenden Ge-
setzentwurf ist dies jedoch nur bedingt der Fall. Die
Durchsetzung des innerstaatlichen Verbraucherschutzes
obliegt weiterhin den finanziell und personell schlecht
ausgestatteten Verbraucherverbänden. Für eine effektive
Durchsetzung von EG-Verbraucherrechten ist nicht nur
eine Kompetenzverlagerung von einer Behörde auf eine
andere notwendig. Wichtig sind auch effektive Mittel zur
Rechtsdurchsetzung. Hier besteht Handlungsbedarf, wie
schon der Europäische Gerichtshof anmerkte; denn
durch rechtliche Lücken und Schlupflöcher im Verbrau-
cherrecht lässt sich auch weiterhin leicht Geld verdienen.
Wichtig wäre daher die Weiterentwicklung von Muster-
und Gruppenklagen und eine echte Gewinnabschöpfung
von unlauter erlangten Gewinnen, die den Verbraucher-
verbänden zufließen müsste. Dazu kommt, dass die hier
vorgeschlagene Regelung den Griff nach Daten von Kun-
dinnen und Kunden von Post-, Telekommunikations- oder
Telemediendiensten erlaubt.

Hier sieht Die Linke ein generelles Problem. Die
Rechte von Bürgerinnen und Bürgern in Fragen des Da-
tenschutzes wurden in den letzten Jahren auf europäi-
scher und deutscher Ebene massiv beschnitten und die
Eingriffsrechte der Behörden dagegen ungehindert er-
weitert.

Dies ist auch im vorliegenden Gesetzentwurf der Fall.
Es wird eine neue Befugnisnorm für eine Behörde ge-
schaffen. Zwar beruft sich die Bundesregierung auf die
bereits vorhandenen Herausgaberechte für Verbraucher-
und Wirtschaftsverbände nach § 13 des Gesetzes über
Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und ande-
ren Verstößen (Unterlassungsklagengesetz). Diese Rechte
sind jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden,
nämlich daran, dass die Verbände schriftlich zusichern,
dass die Daten erstens zur Durchsetzung eines Anspruchs
benötigt werden und zweitens anderweitig nicht zu be-
schaffen sind. Diese Konkretisierung bzw. Einschränkung
soll im vorgeschlagenen EG-Verbraucherschutzdurchset-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Karin Binder
zungsgesetz jedoch nicht vorgenommen werden. Hier
kann die Behörde pauschal die Daten ohne Anknüpfung
an Voraussetzungen verlangen.

In der Begründung zum Gesetzentwurf beruft sich die
Bundesregierung auf den Grundsatz der Verhältnismä-
ßigkeit. Eine gesetzliche Klarstellung, die mit den Rege-
lungen im Unterlassungsklagengesetz vergleichbar ist,
bietet der Gesetzentwurf nicht.

Die Linke kann deshalb dem Gesetz nicht zustimmen
und wird sich aufgrund der unklaren Situation zum Da-
tenschutz enthalten.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621728000

Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur Ergänzung

behördlicher Aufgaben und Kompetenzen im Bereich des
wirtschaftlichen Verbraucherschutzes, einen Entwurf,
den uns die Bundesregierung offensichtlich als einen
„großen Wurf“ verkaufen möchte. Wir sind gespannt, ob
die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland
auch etwas davon haben werden.

„Mehr Schlagkraft für den wirtschaftlichen Verbrau-
cherschutz“ hieß die Pressemitteilung der Ministerin vom
21. Januar 2009 anlässlich der Verabschiedung des Ge-
setzes im Kabinett. Das hört sich zunächst einmal gut an.
Und wir Grünen begrüßen selbstverständlich jede Ver-
besserung des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes, so-
fern sie in der Praxis auch ihre Wirkung entfaltet.

Durch das Gesetz wird eine neue Informationspflicht
für die Wirtschaft eingeführt. Das Bundesamt für Ver-
braucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat in Zu-
kunft das Recht, bestimmte Auskünfte von Post-, Telekom-
munikations- oder Telemediendiensten zu verlangen. So
kann das Bundesamt beispielsweise von unseriösen Inter-
netprovidern Informationen über die Firmen und die Per-
sonen anfordern. Durch die Kompetenzerweiterungen
sollen in Zukunft Verbraucherrechtsverstöße besser ge-
ahndet werden können.

So weit, so gut. Allerdings hat das Gesetz in seiner bis-
herigen Form nur mäßige praktische Relevanz gezeigt.
Das zeigt die Antwort auf unsere schriftliche Anfrage vom
26. März 2009. Seit Dezember 2006 hat das Bundesamt
für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit insge-
samt nur 71 sogenannte Amtshilfeersuchen erhalten. In
15 Fällen wurden abschließend auch Abmahnungen ge-
gen die Unternehmen ausgesprochen. Das ist vergleichs-
weise gering, wenn man sich überlegt, wie viele unzählige
Anfragen und Streitfälle die Verbraucherzentralen in
Deutschland jeden Tag bearbeiten müssen.

Inwieweit die jetzigen Ergänzungen im Gesetz tatsäch-
lich zu mehr Schlagkraft für den wirtschaftlichen Ver-
braucherschutz und einer besseren Durchsetzung der
Verbraucherrechte führen, wird sich in der Praxis zeigen
müssen. Sogar das Ministerium rechnet nur mit wenigen
Anwendungsfällen.

Wir hätten uns von der Bundesregierung gewünscht,
dass sie in Sachen wirtschaftlicher Verbraucherschutz
nicht nur an den kleinen Stellschrauben dreht, sondern
die wirklich brisanten Probleme angeht. Dazu zählt für
uns unter anderem auch, dass die Verbrauchervertretun-
gen mehr Mittel erhalten, dass das Verbraucherinforma-
tionsgesetz endlich so reformiert wird, dass es seinen Na-
men auch verdient, und dass der Verbraucherschutz auf
den Finanzmärkten gestärkt wird, damit sich die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher wieder sicher fühlen können.
Eine richtige Prioritätensetzung beim wirtschaftlichen
Verbraucherschutz würden ihnen auch die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher danken, die durch die derzeitige
Finanz- und Wirtschaftkrise erheblich verunsichert sind.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621728100

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12518, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 16/12232 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. – Die Gegenstimmen? – Die Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen,
ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen möchte, der möge bitte aufstehen. – Die Gegen-
stimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Anreizregulierung im Strom- und Gassektor
nachbessern – Benachteiligung von städti-
schen Versorgern verhindern

– Drucksachen 16/11878, 16/12167 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer

Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Joachim
Pfeiffer, Rolf Hempelmann, Gudrun Kopp, Hans-Kurt
Hill und Thea Dückert ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1621728200

Die Linken spielen mit ihrem Antrag die alte Leier.

Entweder sie fordern direkt Verstaatlichung oder sie for-
dern, wie mit diesem Antrag, einen Zwischenschritt, der
im Weiteren zur Verstaatlichung führt. Dabei stürzen sie
sich mit Vorliebe auf Bereiche, in denen der Wettbewerb
noch nicht so funktioniert, wie es für den Verbraucher
wünschenswert wäre. Das ist der einfachste Weg. Sie rei-
ßen das zarte Bäumchen, welches erste Knospen trägt,
aus der Erde, statt es zu gießen.


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Joachim Pfeiffer
Dabei hat die Bundesregierung schon für viel Wettbe-
werb im Energiemarkt gesorgt. Ich möchte nur daran er-
innern, wo wir eigentlich herkommen. Seit 1998 wächst
der EU-Energiemarkt sukzessive zu einem Binnenmarkt
zusammen. Die Vorteile, die den Verbrauchern durch den
EU-weiten Wettbewerb bei anderen Produkten und
Dienstleistungen schon lange zugutekamen, sollten auch
für den Strom- und Gasbereich Nutzen bringen.

Leider ist insbesondere Deutschland unter der dama-
ligen rot-grünen Regierung mit angezogener Hand-
bremse gestartet. Zwar sind bis 2001/2002 die
Strompreise gesunken, aber das war eher ein Marktberei-
nigungseffekt der großen vier Erzeuger als wirklicher
Wettbewerb. Der verhandelte Netzzugang hemmte jede
Entwicklung, vom Gassektor will ich gar nicht erst reden.

Mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes im
Jahr 2005 haben wir einen Paradigmenwechsel im Ener-
giemarkt eingeläutet. Der Union ist es im Vermittlungs-
verfahren gelungen, durch Regulierung der Netze und ein
vereinfachtes Marktmodell im Gasbereich dem Wettbe-
werb mit dem Gesetz wichtige Impulse zu geben.

Seit November 2005 ist die Bundesnetzagentur für
Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisen-
bahnen, kurz Bundesnetzagentur, BNetzA, per Gesetz der
neutrale Schiedsrichter, der die Netzentgelte vorab an-
hand eines präzisen Kostenkatalogs genehmigt und für
einen fairen Zugang zu den Netzen sorgt.

Das heißt, staatliche Regulierung wurde auf den Be-
reich eingeschränkt, wo die Mechanismen des Marktes
versagt haben. Dazu gehört der natürliche Monopolbe-
reich der Netze, nicht aber die Erzeugung oder der Ver-
trieb. Und das Netz bleibt ein Monopol, egal ob in staat-
licher oder privater Hand. Dem Wettbewerb und den
Verbrauchern ist durch eine staatliche Übernahme der
Netze nicht geholfen, ganz im Gegenteil. Nennen Sie mir
doch einen Bereich, in dem es ein Staat geschafft hat,
effizienter zu wirtschaften als private Unternehmen.

Wir brauchen eine Regulierung, die diesem natürli-
chen Monopol entsprechende Rahmenbedingungen setzt
und einen Als-ob-Wettbewerb darstellt. Hier haben wir
gehandelt und sind den Weg des regulierten Netzzugan-
ges gegangen. Die Ex-ante- und die Anreizregulierung
sind Markenzeichen des Paradigmenwechsels. Damit
wurde klar der Pfad zu mehr Wettbewerb betreten. Das ist
zukunftsweisend und trägt bereits erste Früchte:

Ohne die Absenkung der Netzentgelte in den letzten
zwei Jahren wäre der Strompreis heute deutlich höher.
Für Haushaltskunden wäre er um insgesamt 21,7 Pro-
zent, für die stromintensive Industrie um 15 Prozent ge-
stiegen. Dies entspricht einer Entlastung für Haushalts-
kunden von über 1,6 Milliarden Euro.

Das Pflänzchen Anreizregulierung haben wir erst die-
ses Jahr angepflanzt. Natürlich ist es zu früh, die Früchte
zu ernten. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war und ist es,
dass zukünftig Anreize für einen effizienteren Betrieb der
Strom- und Gasversorgungsnetze gesetzt werden. Die
Verordnung zur Anreizregulierung wird aus Sicht der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion über anspruchsvolle Effi-
zienzziele nicht nur den Interessen der Verbraucher ge-
Zu Protokoll
recht, sondern berücksichtigt auch die berechtigten An-
liegen der kleineren und mittleren Stadtwerke.

Entgegen der ursprünglichen Planungen haben wir
zahlreiche Anpassungen zugunsten der Netzbetreiber
vorgenommen. Statt acht Jahren haben die Unternehmen
nun zehn Jahre Zeit, um die Effizienzvorgaben zu erfüllen.
Die Deckelung des Effizienzwertes wurde auf 60 Prozent
erhöht und der allgemeine Produktivitätsfaktor für die
gesamte Branche wurde für die erste Regulierungsperi-
ode auf 1,25 Prozent gesenkt. Zusätzlich enthält die Ver-
ordnung eine ganze Reihe von Sicherheitselementen zu-
gunsten der Netzbetreiber, die die Erreichbarkeit und
Übertreffbarkeit der Effizienzvorgaben sicherstellen.
Dazu gehören mehrere Härtefallklauseln und die Berück-
sichtigung struktureller Besonderheiten der Unterneh-
men.

In der Diskussion um die Anreizregulierung haben wir
im Bundestag ausgiebig über die Frage diskutiert, wie
kleinere Netzbetreiber vom übermäßigen Bürokratieauf-
wand und ungerechten Härten entlastet werden können.
Dazu sieht die Verordnung nun ein stark vereinfachtes
Verfahren vor, durch welches sie von zahlreichen Be-
richts- und Informationspflichten befreit sind. Zusätzlich
wird ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich vor Beginn der
Anreizregulierung keiner erneuten aufwendigen Kosten-
prüfung zu unterziehen, soweit sie keine Erhöhung ihrer
bisherigen Entgelte beantragen. Die Effizienzvorgabe für
die erste Regulierungsperiode beträgt für die Unterneh-
men nur die allgemeine Vorgabe von 1,25 Prozent. Erst
ab der zweiten Regulierungsphase müssen sie sich einem
Vergleich stellen, doch auch nur für einen gemittelten
Effizienzwert der übrigen Unternehmen. Gleichzeitig
können die Netzbetreiber jetzt vor jeder Regulierungspe-
riode wählen, ob sie am vereinfachten Verfahren teilneh-
men oder nicht.

Die Grenze für die Teilnahme am vereinfachten Ver-
fahren wurde vom Bundeswirtschaftsministerium auf
30 000 angeschlossene Strom- und 15 000 angeschlos-
sene Gaskunden festgelegt. Damit können praktisch drei
Viertel der Unternehmen am vereinfachten Verfahren teil-
nehmen.

Eine besondere Bedeutung misst die Verordnung der
Sicherstellung von Investitionen bei. Sie enthält eine
Reihe von Elementen zur Gewährleistung des notwendi-
gen Erhalts und Ausbaus der Netze, wie zum Beispiel
pauschale Investitionszuschläge, Investitionsbudgets
oder die Einführung eines Erweiterungsfaktors zur An-
passung der Erlösobergrenzen bei Netzausbaumaßnah-
men. Das Zusammenspiel mit den anderen Maßnahmen
der Bundesregierung zur Intensivierung des Wettbewerbs
zeigt sich insbesondere bei der Kraftwerk-Netzanschluss-
Verordnung. Diese dient der Verbesserung der kurz- und
mittelfristigen Angebotsstrukturen der Stromversorgung
in Deutschland. Hiervon können gerade Stadtwerke pro-
fitieren, sei es als Stromabnehmer oder als Stromerzeu-
ger. Die Anreizregulierungsverordnung sichert in diesen
Fällen die notwendigen Netzausbaumaßnahmen. Glei-
ches gilt beim Anschluss von Anlagen zur Stromerzeu-
gung aus Kraft-Wärme-Kopplung und aus erneuerbaren
Energien. Zur Qualitätssicherung sieht der Verordnungs-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Joachim Pfeiffer
entwurf ergänzend die zeitnahe Einführung eines Quali-
tätselements vor, das Zu- oder Abschläge auf die
Erlösobergrenzen bei guter oder minderwertiger Versor-
gungsqualität ermöglicht.

Damit hat die Bundesregierung viele Bedenken der
Branche aufgenommen und berücksichtigt. Die Effizienz-
vorgaben sind ohne Zweifel anspruchsvoll. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich die Ori-
entierung an den effizientesten Unternehmen. Die Anreiz-
regulierung simuliert den Wettbewerb in einem natürli-
chen Monopol. Auch im echten Wettbewerb anderer
Branchen orientieren sich die Unternehmen nicht am
Durchschnitt.

Ohne Zweifel betritt Deutschland mit der Anreizregu-
lierung energiepolitisches Neuland. Die Auswirkungen
des neuen Regulierungssystems können trotz aller Mo-
dellrechnungen nicht sicher vorausgesagt werden. Umso
wichtiger ist es deshalb, dass das System frühzeitig und
regelmäßig überprüft wird, um Fehlentwicklungen recht-
zeitig zu erkennen und bei Bedarf gegensteuern zu kön-
nen. Deshalb hat die Bundesnetzagentur nach § 112 a
Abs. 3 des Energiewirtschaftsgesetzes zwei Jahre nach
Einführung der Anreizregulierung eine Evaluierung
durchzuführen und einen entsprechenden Erfahrungsbe-
richt der Bundesregierung vorzulegen. Weitere Evaluie-
rungspflichten setzen unmittelbar in der ersten Regulie-
rungsperiode ein.

Insgesamt trägt die Verordnung den Interessen aller
Beteiligten in ausgewogener Weise Rechnung und stellt
gleichzeitig die Weichen für mehr Wettbewerb auf den
Strom- und Gasmärkten. Gerade für kleinere Netzbetrei-
ber haben wir in die Verordnung viele Elemente aufge-
nommen, um vorhandene Befürchtungen auszuräumen.
Hinzu kommen die neuen Chancen auf einem noch stär-
ker vom Wettbewerb geprägten Markt. Hier eröffnen sich
neue Möglichkeiten, etwa aus Kooperationen zusätzliche
Synergien zu schöpfen oder verstärkt in die Eigenerzeu-
gung einzusteigen.

Entgegen den Befürchtungen der Linken haben Stadt-
werke im Wettbewerb gute Chancen. Die liegen unter an-
derem in Erzeugung und Vertrieb. Investitionen in erneu-
erbare Energien, Kraft-Wärme-Kopplung und vor allem
innovative, horizontale Kooperationen können die eigene
Marktposition festigen. Keiner kann die Möglichkeiten
von erneuerbaren Energien vor Ort so gut beurteilen wie
Stadtwerke. Durch Kooperationen können Kostenstruktu-
ren optimiert und andere Synergieeffekte genutzt werden.
Eine weitere Chance bietet der Energieservice. Dazu ha-
ben wir die Voraussetzungen geschaffen, wie beispiels-
weise die Einführung von intelligenten Stromzählern. Das
eröffnet einen riesigen Markt an Serviceleistungen. Hier
können Stadtwerke ihren größten Vorteil nutzen: die Nähe
zum Kunden.

Die Große Koalition hat in dieser Legislaturperiode
bereits viele Maßnahmen getroffen, um den Wettbewerb
auf dem Energiemarkt zu fördern. Wir haben unter ande-
rem eine neue Gasnetzzugangsverordnung verabschiedet,
das Wettbewerbsrecht novelliert, die Gasmarktgebiete re-
duziert und das besagte Mess- und Zählerwesen liberali-
siert. In den nächsten Wochen werden wir das Energielei-
Zu Protokoll
tungsausbaugesetz verabschieden, das zur besseren
Integration erneuerbarer Energien in das Stromnetz bei-
tragen wird.

Auch die Anreizregulierung kommt langsam zur Ent-
faltung. Sie und die anderen Maßnahmen müssen wir
durch richtige Rahmenbedingungen weiter fördern und
dürfen sie nicht zerstören. Das ist der einzig richtige Weg
zu mehr Wettbewerb und Effizienz auf dem Energiemarkt.
Die Stadtwerke haben in diesem Wettbewerb große Chan-
cen.

Der Antrag der Linken ist völlig kontraproduktiv und
überflüssig. Daher lehnt die Union ihn ab.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1621728300

Es ist zweifelsohne richtig, dass die zum Jahresbeginn

2009 eingeführte Anreizregulierung der Strom- und Gas-
netze eine Herausforderung insbesondere für kleine und
mittlere Netzbetreiber darstellt. Die Koalition hat daher
kleinen Netzbetreibern mit weniger als 30 000 ange-
schlossenen Kunden – davon weniger als 15 000 im Gas-
bereich – die Möglichkeit eröffnet, bei der Bestimmung
der Erlösobergrenzen ein vereinfachtes Verfahren zu
wählen und so das aufwändige Antrags- und Festle-
gungsverfahren zu vermeiden.

Bis Mitte März hatten im Strombereich von 243 Ver-
teilnetzbetreibern 136 – und damit deutlich mehr als die
Hälfte – das vereinfachte Verfahren gewählt und so für
die erste Periode der Anreizregulierung einen Effizienz-
wert von 87,5 Prozent akzeptiert. Im Gasbereich waren es
mit 140 Verteilnetzbetreibern von insgesamt 214 Verfah-
ren sogar fast zwei Drittel, die sich für das vereinfachte
Verfahren entschieden haben. Dies zeigt, dass die Koali-
tion schon bei der Erarbeitung der Anreizregulierungs-
verordnung ein besonderes Augenmerk auf die kleinen
Netzbetreiber gelegt hat.

Die im Antrag aufgestellten Behauptungen, Lohnkos-
ten und Betriebsrenten würden von der Bundesnetzagen-
tur als Teil der beeinflussbaren Kosten angesehen,
wodurch es im Rahmen der Anreizregulierung zu einer
Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialleistungen kommen
könne, wurde zwischenzeitlich von der Bundesnetzagen-
tur widerlegt. Zusammen mit den ersten Bescheiden zur
Anreizregulierung hat die Bundesnetzagentur Ende März
öffentlich erklärt, dass sie im Rahmen der Anreizregulie-
rung Kosten wie Pensionsansprüche, Berufsausbildung,
Abgaben, Steuern und sogar Ausgaben für den Be-
triebskindergarten als nicht beeinflussbar anerkennt und
damit dem Auftrag des Gesetz- und Verordnungsgebers
nachkommt.

Die Regulierung unterliegt gelegentlich allerdings
durchaus der Gefahr, den Rahmen des Gesetzes zu verlas-
sen und Vorgaben, die beispielsweise im Rahmen des
dritten EU-Energie-Binnenmarktpakets für Übertra-
gungsnetzbetreiber gefordert werden, bereits heute auf
Verteilnetzbetreiber zu übertragen. Hier ist es die Auf-
gabe des Gesetzgebers, die Regulierungsbehörden auf
die geltende Gesetzeslage zu verweisen. Dazu bedarf es
allerdings keiner Änderung der Verordnung. Entspre-
chende – möglichst gemeinsame – Aktivitäten der Mit-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Rolf Hempelmann
glieder im Beirat der Bundesnetzagentur sind da
zunächst der sinnvollere Weg und haben in der Vergan-
genheit auch schon zum Erfolg geführt.

Die von der Bundesnetzagentur vor Einführung der
Anreizregulierung durchgeführten zwei Entgeltgenehmi-
gungsrunden haben im Übrigen gezeigt, dass es sehr
wohl kleine und mittlere Netzbetreiber gibt, die genauso
gut oder sogar besser abschneiden als die großen Netz-
betreiber. Vorgabe der Anreizregulierungsverordnung ist,
dass die Effizienzvorgaben erreichbar und übertreffbar
sein müssen – dies gilt auch für kleine und mittlere Netz-
betreiber. Im Zusammenhang mit der Anreizregulierung
von „marktbeherrschenden Energiekonzernen“ zu reden,
grenzt an Irreführung. Der Netzbetrieb ist ein natürliches
Monopol – und das ganz unabhängig davon, ob sich das
Netz in der Hand eines kleinen Stadtwerks oder eines gro-
ßen Energiekonzerns befindet. Das Diskriminierungs-
potenzial im Netzbereich ist daher grundsätzlich ganz un-
abhängig von der Größe eines Netzes vorhanden. Genau
aus diesem Grund sind sowohl Übertragungs- als auch
Verteilnetzbetreiber in die Netzentgeltregulierung einbe-
zogen worden.

Vollkommen unverständlich bleibt die Aussage des An-
trags, die Anreizregulierung sei für die Regulierung der
Übertragungsnetze ungeeignet und man müsse daher zur
bisherigen Entgeltgenehmigung zurückkehren. Die Bun-
desnetzagentur hat die Effizienzvorgaben für die vier
deutschen Übertragungsnetzbetreiber anhand eines in-
ternationalen Effizienzvergleichs unter Einbeziehung von
Übertragungsnetzbetreibern aus anderen EU-Mitglied-
staaten ermittelt. Dies halte ich für ein faires und aus-
sagekräftiges Vergleichskriterium.

Ebenso unverständlich ist die in diesem Zusammen-
hang erhobene Forderung, die Strom-Übertragungsnetze
sollten wegen ihres preislichen Missbrauchspotenzials in
die öffentliche Hand überführt werden. Die Fraktion Die
Linke irrt, wenn sie meint, staatliche Netzbetreiber könn-
ten sich einer wirksamen Regulierung entziehen, weil so
kein Missbrauchspotenzial mehr bestünde. Die Netze un-
terliegen – ganz unabhängig davon, ob sie sich in priva-
tem, staatlichem oder gemischtem Eigentum befinden –
der Aufsicht durch die Regulierungsbehörden. Den Regu-
lierungsbehörden kommt dabei allerdings eine doppelte
Aufgabe zu. Sie haben einerseits den Auftrag, die Netzent-
gelte über die Regulierung auf ein angemessenes Niveau
zu bringen, das sich im Wettbewerb ergeben hätte. Dabei
ist selbstverständlich darauf zu achten, dass die Vorgaben
des Gesetzgebers aus dem Energiewirtschaftsgesetz und
der Anreizregulierungsverordnung so exakt wie möglich
umgesetzt werden.

Darüber hinaus ist es allerdings auch die Aufgabe der
Regulierungsbehörden, angemessene Rahmenbedingun-
gen für Investitionen in die notwendige Erneuerung sowie
den Aus- und Umbau der Netze zu schaffen. Vor dem Hin-
tergrund der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise, in
der der Staat Milliardensummen zur Stützung von Banken
und Konjunktur in die Hand nimmt, gilt heute stärker
denn je, dass die Regulierungsbehörden dem Komplex In-
vestitionen im Rahmen der Anreizregulierung ein beson-
deres Gewicht einräumen müssen. Kurz-, mittel- und
Zu Protokoll
langfristig haben wir erheblichen Erneuerungs- und Aus-
baubedarf in unseren Strom- und Gasnetzen. Ein ent-
scheidendes Kriterium ist eine angemessene Verzinsung
der Investitionen, die dem Risiko angemessen und inter-
national vergleichbar sein muss. Eine der wichtigsten
Aufgaben der Bundesnetzagentur der kommenden Mo-
nate sehe ich außerdem darin, im Rahmen der Anreizre-
gulierung eine Qualitätsregulierung einzuführen, die ei-
nen Anreiz für Investitionen in den Erhalt und Ausbau der
Netze schafft.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1621728400

Erst seit Januar 2009 gelten für Netzbetreiber neue Ef-

fizienzanforderungen an den Betrieb von Strom- und Gas-
netzen. Dazu gehört die Orientierung an den Branchen-
besten und die Setzung von Anreizen bei der Vornahme
von Effizienzverbesserungen. Der Antrag der Fraktion
Die Linke fordert nun, die angebliche strukturelle Be-
nachteiligung von Stadtwerken im Rahmen des neuarti-
gen Systems der Anreizregulierung zu beseitigen. Durch
die im Antrag geforderten Eingriffe in wesentliche Stell-
schrauben der Anreizregulierung würde das System prak-
tisch unterlaufen.

Die Grundlage der Anreizregulierung ist ein Vergleich

(Kostendes Benchmarkings. Würden sämtliche Lohnkosten und dazu noch die Kapitalkosten für den Betreiber bzw. Käufer eines Netzes dem Effizienzvergleich entzogen, würden zentrale Kostenfaktoren bei der Festlegung der Effizienzanforderungen fehlen. Darüber hinaus erstaunt es mich, dass die Linke mit diesem Antrag die Übertragungsnetzbetreiber vor staatlicher Regulierung beschützen – und gleichzeitig enteignen will. Statt in übereilten Aktionismus zu verfallen, sollte jetzt genau beobachtet werden, welche Wirkung die Anreizregulierung in der Praxis entfaltet. Wir haben es hier mit einem Instrument zu tun, dessen Wirkung – insbesondere auf die Investitionstätigkeit – von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Regulierung insgesamt ist. Das vorhandene Instrumentarium erlaubt bereits eine mögliche Anpassung bei unvorhergesehenen Änderungen, um unzumutbare Härten zu vermeiden. Außerdem ist die Bundesnetzagentur bei der Verzinsung des Eigenkapitals und in anderen Punkten den Forderungen der Netzbetreiber erheblich entgegengekommen. Die Bonner Behörde hat mit Beginn der sogenannten Anreizregulierung Anfang 2009 erstmals Erlösobergrenzen für die Netzbetreiber festgelegt. Dabei wurden den meisten Netzbetreibern höhere Erlöse zugestanden als in der vergangenen Genehmigungsrunde. Die Bundesnetzagentur hat in den vergangenen Jahren bei der Regulierung des natürlichen Monopols „Energienetze“ ihre Arbeit sehr gut gemacht. Insbesondere vor dem Hintergrund gewaltiger Erwartungen und großer Informationsasymmetrien zwischen Regulierer und Netzbetreiber ist das keine leichte Aufgabe, die noch dazu in einem dynamisch sich entwickelnden rechtlichen Umfeld geleistet werden muss. Das Thema Anreizregulierung ist ein Jahr lang von der Bundesregierung verschleppt worden, sodass die notwendige Verordnung erst Anfang 2009 gegebene Reden Gudrun Kopp umgesetzt wurde. Obwohl die entsprechenden Vorschläge der Bundesnetzagentur durch die Bundesregierung dann auch noch in wesentlichen Punkten abgeschwächt wurden, was wir in diesem Hause bereits ausdrücklich kritisiert haben, muss die Anreizregulierung nun in der Praxis genau beobachtet werden. Voreilige Versuche, nun die gesamten Regulierungsinstrumente auszuhebeln, so wie es in dem Antrag der Linken vorgeschlagen wird, lehnen wir Liberalen strikt ab. Ein künstlich veranstalteter Wettbewerb zwischen den Stromund Gasnetzbetreibern geht zulasten der Stadtwerke. Es zeigt sich auch, dass diese „Anreizregulierung“ ein bürokratisches Monster ist. Dennoch kann die Bundesnetzagentur keinen echten und fairen Wettbewerb erzeugen. Das Problem: Die Anreizregulierung beschränkt sich auf betriebswirtschaftliche Effizienz. Und das bedeutet: Investitionen, die über das Notwendige hinausgehen, werden zusammengestrichen, Löhne werden gedrückt, Kundenservice und Klimaschutz kommen zu kurz. Das Dilemma für kleine Stadtwerke ist immer das gleiche: Die Kleinen kommen gegen die großen Konzerne nicht an. Das ist wie auf dem Wochenmarkt. Der Bauer aus der Region bietet frische, schmackhafte Tomaten aus der Region. Aber bei den Dumpingpreisen der Discounter kann er nicht mithalten. Wenn aber der Preis der einzige Maßstab ist, können die Kleinen einpacken. Hinzu kommt: Das Verfahren zur Bewertung der einzelnen Netzbetreiber ist überaus komplex und intransparent. Kleine Stadtwerke haben deshalb oft nicht das Wissen und das Personal, die Entscheidungen der Bundesnetzagentur nachzuvollziehen. Wenn dann die Behörden massive Ertragsminderungen vorschreiben, kann so mancher kommunale Versorger einpacken. Die Anreizregulierung stellt die kleinen Netzbetreiber vor kaum lösbare Herausforderungen: Der Handlungsspielraum wird massiv eingegrenzt, Investitionen können nicht getätigt werden. Löhne und Betriebsrenten müssen gekürzt werden. Letzteres ist faktisch ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Man muss sich schon fragen, welche Aufgaben die Bundesnetzagentur eigentlich hat! Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass der Monopolbildung im Stromund Gassektor weiter Vorschub geleistet wird. Die Linke fordert deshalb zumindest eine faire Ausrichtung der Anreizregulierung: Erstens. Das Verfahren zur Durchführung der Anreizregulierung muss gegenüber allen Teilnehmern einschließlich der Offenlegung aller Basisdaten und der Methodik transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Zweitens. Vor allem Lohnkosten, Betriebsrenten, bisher getätigte Netzkaufkosten sowie Investitionen, die zur Servicequalität und zum Klimaschutz beitragen, dürfen von der Anreizregulierung nicht negativ beeinflusst werden. Drittens. Die Übertragungsnetze müssen als ungeeignet aus der Anreizregulierung herausgenommen und bis zu einer Überführung in die öffentliche Hand wie bisher über eine wirksame Netzentgeltgenehmigung reguliert werden. Zu Protokoll Ich will das noch einmal erläutern: Die Bundesnetzagentur simuliert zwar eine genaue Wettbewerbssituation für jeden einzelnen Netzbetreiber, stellt diesen aber nicht alle Informationen und Daten uneingeschränkt und in nachvollziehbarer Form zur Verfügung. Wie sollen die kleineren Stadtwerke auf dieser Basis die Richtigkeit der Behördenentscheidung überprüfen? Die jetzigen Regeln in der Anreizregulierungsverordnung führen zu einer Schlechterstellung der mittleren und kleinen städtischen Netzbetreiber gegenüber den großen Unternehmen. Das führt zu einer Wettbewerbsverzerrung und befördert die Kartellbildung. Besonders bei den Übertragungsnetzbetreibern, die ein marktfernes Oligopol darstellen, ist die Anwendbarkeit der Anreizregulierung völlig sinnlos. Sie sind mit anderen europäischen Netzbetreibern nicht vergleichbar, da die Unterschiede zu groß sind. Darüber hinaus wird mittlerweile eine bundesweit einheitliche Regelzone für die Übertragungsnetze vorgeschlagen. Eine Anreizregulierung mit nur einem Teilnehmer im Bereich der Übertragungsnetze wäre dann gänzlich unwirksam. Die Übertragungsnetzbetreiber sind deshalb aus der Anreizregulierung herauszunehmen. Das Ziel muss letztendlich die Überführung der Höchstspannungstrassen in die öffentliche Hand sein. Die Linke hat einen Showantrag vorgelegt. Die Ver ordnung zur Anreizregulierung wurde im Juni 2007 vom Bundeskabinett beschlossen und ist seit Januar 2009 in Kraft. Sie war im Bundesrat zustimmungspflichtig, aber nicht im Bundestag. Insofern kann der Antrag der Linken allenfalls appellativen Charakter haben. An dem im April 2007 veröffentlichten Entwurf hatte es tatsächlich starke Kritik aus den Stadtwerken gegeben. Sie befürchteten, die Anforderungen, die sich aus der Anreizregulierung ergeben, nicht erfüllen zu können. Die Kommunen hatten Sorge, dass sie Stadtwerke verkaufen müssten und forderten, die Effizienzanforderungen abzuschwächen. Bündnis 90/Die Grünen haben diese Sorgen ernst genommen und sich dafür eingesetzt, dass den Bedenken Rechnung getragen wird, ohne die Effizienzziele aufzugeben. Uns war wichtig, sowohl die Wünsche der Verbraucher nach günstigeren Tarifen und umweltfreundlichem Strom als auch die Interessen der Kommunen und ihrer Stadtwerke zu berücksichtigen. Gegenüber dem Entwurf vom April 2007 ist das Wirtschaftsministerium in der im Juni verabschiedeten Fassung den Kritikern weit entgegengekommen. Es können jetzt mehr Unternehmen am vereinfachten Verfahren teilnehmen, nach dem dauerhaft nicht beeinflussbare Kostenanteile wie Konzessionsabgaben, Betriebssteuern, genehmigte Investitionsbudgets, Kosten für Betriebsund Personalräte etc. nicht einzeln nachgewiesen werden müssen, sondern pauschal mit 45 Prozent der Gesamtkosten angesetzt werden. Auch die Fristen für die Antragstellung für das vereinfachte Verfahren wurden gelockert. Alle kleineren Netzbetreiber – das sind besonders die gegebene Reden Dr. Thea Dückert Stadtwerke – können an diesem vereinfachten Verfahren mit weniger Bürokratie teilnehmen. Zudem wurde inzwischen von der Bundesnetzagentur die Verzinsungsobergrenze der Netze auf 9,25 Prozent angehoben. Das führt zu mehr Einnahmen, auch bei kommunalen Energieunternehmen. Allerdings sollten die Erlöse nicht vorwiegend aus der Ausnutzung des Netzmonopols kommen. Wenn die Einnahmen nicht ausreichen, dann weist das darauf hin, dass beim Verkauf von Energie und Energiedienstleistungen etwas schiefläuft. Bündnis 90/Die Grünen haben sich massiv dafür eingesetzt, dass die Bedeutung regenerativer Energien bei den Effizienzkritierien besonders berücksichtigt wird. Auch das wurde in die Verordnung aufgenommen und ist ein Feld, auf dem sich die Stadtwerke besonders profilieren können. Zudem gibt es für kleine Unternehmen die Möglichkeit, dem Kostendruck wirksam zu begegnen, indem sie sich zum Beispiel regional zusammenschließen, um die Betriebskosten zu optimieren. Die Anreizregulierung ist ein wichtiges Instrument für mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt und wird dazu beitragen, die Kosten zu senken. Sie kann aber zum Beispiel nicht gewährleisten, dass die Unternehmen schnell dort investieren, wo Engpässe im Netz herrschen. Darum müssen wir weitergehen auf dem Weg zu mehr Wettbewerb im Energiemarkt. Wir wollen, dass die Übertragungsnetze eigentumsrechtlich von der Versorgung bzw. der Erzeugung von Strom und Gas getrennt werden. Dazu wollen wir die Netze in eine einheitliche Netzgesellschaft überführen, die sich aber nicht, wie von der Linken gewollt, vollständig in öffentlicher Hand befinden muss. Zusätzlich wollen wir, dass Energieunternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung bei der Erzeugung von Strom entflochten werden. Es ist überfällig, dass die Bundesregierung endlich im Sinne der Verbraucher aktiv für Wettbewerb auf den Stromund Gasmärkten eintritt. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12167, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11878 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben alle Fraktionen des Hauses bis auf die Fraktion Die Linke, die dagegengestimmt hat. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Rates 2008/615/JI vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität – Drucksache 16/12585 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Rechtsausschuss Wir haben zu Protokoll bekommen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens Binninger, Wolfgang Gunkel, Max Stadler, Ulla Jelpke und Wolfgang Wieland. Sicherheit ist mehr als je zuvor eine Angelegenheit in ternationaler und europäischer Zusammenarbeit. Die Terroranschläge und Anschlagsvorbereitungen der letzten Jahre, die OK-Prozesse in Deutschland, Schleuserei und Menschenhandel, aber auch Großereignisse wie Fußballweltund -europameisterschaften oder jüngst der NATO-Gipfel zeigen, warum die grenzüberschreitende Kooperation von Polizeiund Sicherheitsbehörden elementar ist. Kriminalität und Terrorismus sind in einer globalisierten Welt zunehmend international und machen keinen Halt an Landesgrenzen und vor nationalen Zuständigkeiten. Binnen Sekunden können Bauanleitungen für Bomben via E-Mail verschickt oder Geldtransaktionen über das Internet getätigt werden. Wegfallende Grenzkontrollen führen zu größerer Bewegungsfreiheit terroristischer und krimineller Gruppierungen. Wenn die Vernetzung immer mehr zunimmt, wird das nationalstaatliche Regelungsmonopol ein Stück weit obsolet, dafür aber enge Abstimmung und Zusammenarbeit auf europäischer Ebene unverzichtbar. Das stellt uns vor neue Herausforderungen. Ein einzelner Staat kann hier nicht viel ausrichten. Vielmehr müssen wir gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn wirksame Lösungen finden. Hierzu existiert bereits heute eine ganze Reihe von gemeinsamen Projekten – sei es im Rahmen von Europol, der Schengen-Informationssysteme oder der gemeinsamen Grenzschutzagentur Frontex. In diese Reihe gehört auch der 2005 geschlossene und mittlerweile erweiterte Vertrag von Prüm und der sogenannte Prüm-Beschluss der EU aus dem Jahr 2008, der neue Standards in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden setzt. Kernstück des Informationsverbundes, der mit dem Ratsbeschluss zu Prüm 2008 für alle EUStaaten verbindlich ist und mit dem vorliegenden Gesetz in nationales Recht umgesetzt werden soll, ist der gegenseitige Austausch von Informationen zwischen den EUMitgliedstaaten. Erlauben Sie mir einen Blick in die Vergangenheit: Bereits im Jahr 2003 regten mehrere EU-Staaten – darunter Deutschland – eine verstärkte Zusammenarbeit insbesondere beim Informationsaustausch an. Hintergrund waren die guten Erfahrungen, die man mit bilateralen Polizeiund Justizverträgen in diesem Bereich gemacht hatte. Im Mai 2005 wurde schließlich in Prüm in der Eifel zwischen Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Österreich ein Vertrag zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unterzeichnet. Mit dem Abgleich von DNA-Datenbanken, dem Austausch von Fingerabdruckdaten und dem grenzüberschreitenden Zugriff auf Kraftfahrzeugregister stehen den Vertragspartnern wichtige Instrumente der Krimina Clemens Binninger litätsbekämpfung zur Verfügung. Auch die Übermittlung von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten und auch im Fall der terroristischen Ausbildung eröffnet neue Handlungsräume für Polizeibehörden. Nicht zuletzt ermöglicht der Vertrag auch die operative polizeiliche Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Die Kooperation der Vertragspartner hat sich als effektiv und erfolgreich erwiesen. Beim DNA-Datenaustausch zwischen Deutschland, Österreich, Spanien und Luxemburg zum Beispiel sind allein auf deutscher Seite bereits weit über 3 000 Treffer erzielt worden, davon etliche Treffer im Bereich Tötungsdelikte. Mehrere Sexualund Tötungsdelikte konnten bei den Prüm-Partnern in den letzten Jahren so aufgeklärt werden. Und es sind Erfolge wie die angesprochenen, die zu einer dynamischen Entwicklung des Prüm-Vertrages geführt haben. Trotz Skepsis und Kritik von verschiedenen Seiten traten dem Prüm-Vertrag weitere Staaten bei. Dass wir heute über diesen Prüm-Beschluss beraten können, geht zurück auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und die Initiative des Bundesinnenministers. Deutschland hat sich im Jahr 2007 entschieden, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, um mit den Vertragsund Beitrittsstaaten des Prümer Vertrages, den „Prüm-Partnern“, einen entsprechenden Beschluss des Rates mit besonderem Nachdruck voranzutreiben. Mit einem beeindruckenden Ergebnis: Innerhalb weniger Monate kam eine Einigung aller 27 Mitgliedstaaten zustande, und fast alle Inhalte des Prümer Vertrages wurden in das Gemeinschaftsrecht übernommen. Der Beschluss sieht vor, dass im Sommer 2009 alle EU-Staaten den Prüm-Beschluss in nationales Recht umzusetzen haben. Bis Ende 2011 soll ein automatisierter Datenaustausch auf der Grundlage des Prüm-Beschlusses realisiert werden. Natürlich sind im Prüm-Beschluss wie auch schon im Prüm-Vertrag umfangreiche Datenschutzbestimmungen enthalten, die insbesondere für den automatisierten Datenaustausch maßgeschneidert wurden. Mit dem heute von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir die Grundlagen für die Umsetzung des Prüm-Beschlusses. Im Wesentlichen geht es dabei um den Umbau von Organisationsstrukturen, detaillierte Bestimmungen zum Datenaustausch, die Schaffung neuer Stellen für Kooperation und Informationsaustausch sowie technische Voraussetzungen. Der PrümBeschluss bietet ein funktionierendes Gesamtpaket für die polizeiliche Zusammenarbeit, eine erhebliche Beschleunigung beim grenzüberschreitenden Datenaustausch und ein Datenschutzsystem für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Sicherheitsinteressen und Grundrechtsschutz. Mit seinen rechtlichen und technischen Standards leistet das Prüm-System einen entscheidenden Beitrag zu einem modernen und praxistauglichen Informationsverbund in einem Europa der 27. Deshalb unterstützt die CDU/CSUFraktion den vorliegenden Gesetzentwurf. Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundesre gierung zur europaweiten Zusammenarbeit im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität. Der Entwurf formuliert die Umsetzung des Ratsbeschlusses Prüm vom Juni vergangenen Jahres in nationales Recht. Bei diesem RatsZu Protokoll beschluss wiederum handelte es sich um die Überführung des 2005 geschlossenen Prümer Vertrages in EU-Recht. Insofern ist die politische Auseinandersetzung um den Inhalt des Abkommens bereits weitgehend erfolgt. Die Umsetzung in nationales Recht stellt in erster Linie eine Formsache dar. Überwiegend enthält er redaktionelle Anpassungen, die sich aus der Überführung des Prümer Vertrages in einen europäischen Rechtsakt ergeben. Lassen Sie mich also die Möglichkeit zu einer kritischen Würdigung der Erfolge des Prümer Vertrages beziehungsweise des Ratsbeschluss von Prüm nutzen: Am 27. Mai 2005 schlossen Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Österreich den Prümer Vertrag. Das Abkommen hat die amtliche Bezeichnung „Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration“. Das Vertragswerk sollte die grenzüberschreitende Zusammenarbeit vereinfachen und damit effektiver machen. Es steht außer Zweifel, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden mit einer engeren Koordination und einem intensiveren Informationsaustausch auf die Bedrohung durch global agierende terroristische Netzwerke und weltweit organisierte Kriminalität reagieren müssen. Der Vertrag ermöglichte einen einfacheren Datenaustausch der Polizeiund Strafverfolgungsbehörden untereinander. So kann auf Datenbanken mit DNA-Daten und Fingerabdrücken oder elektronische Register mit KfzDaten der Behörden anderer Staaten zugegriffen werden. Darüber hinaus wurden unterschiedliche andere Formen der Zusammenarbeit geregelt, unter anderem bei Großereignissen, Katastrophen, zur Verhinderung terroristischer Straftaten oder zur Bekämpfung der illegalen Migration. Im Februar 2007 beschlossen die Justizund Innenminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Regelungen des Prümer Vertrags in das EU-Recht zu überführen. Auf der Tagung des Rates am 12./13. Juni 2007 einigten sie sich auf einen Beschluss zur Überführung der wesentlichen Vertragsregeln des Prümer Vertrags in den Rechtsrahmen der EU. Vor allem die für die polizeiliche Zusammenarbeit bedeutsamen Inhalte wurden so in den Rechtsrahmen der EU überführt und müssen nun in nationales Recht übersetzt werden. Das Abkommen hat die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Behörden maßgeblich effektiviert und schon zahlreiche Erfolge gezeitigt: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden bis Ende September 2008 bereits rund 4 170 Treffer in DNA-Datenbanken anderer Vertragsstaaten erzielt. Noch größer ist der Vorteil für kleinere Mitgliedstaaten, die nun auf die Datensätze ihrer „großen Nachbarn“ zugreifen können. Diese Vernetzung von Daten birgt natürlich Risiken für den Datenschutz: Hier muss in Zukunft genau hingesehen und gegebenenfalls nachgebessert werden! 14 Jahre, nachdem in Großbritannien die erste nationale DNA-Datenbank eingerichtet wurde, sind mittlerweile die genetischen Fingerabdrücke von mehr als 5,5 Millionen Menschen in der EU erfasst. Diese Zahl ist ein großes gegebene Reden Wolfgang Gunkel Potenzial in der effektiven Verbrechensbekämpfung, birgt aber gleichzeitig ein hohes Missbrauchsrisiko! So erfolgt der Datenabgleich beispielsweise der DNA-Datenbanken nach dem sogenannten Hit/No Hit-Verfahren: Die abfragende Polizeidienststelle erhält nur die Mitteilung, ob zu dem gesuchten Profil ein Eintrag in einem anderen Vertragsstaat vorliegt oder nicht. In einem zweiten Schritt müssen die Dienststellen in Kontakt treten bzw. ein Rechtshilfegesuch einleiten, um Informationen zur Identität der gesuchten Person zu erhalten. Dabei ist allerdings nicht festgelegt, wie viele Übereinstimmungen es zwischen zwei DNA-Sätzen geben muss, bevor das System einen Treffer meldet, was schon der europäische Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx kritisierte. Er forderte mehrfach klarere Datenschutzauflagen beim Prümer Abkommen, so etwa Auflagen darüber, wie in die Datenbank aufgenommene irrelevante Datensätze behandelt werden. Auch das EU-Parlament fordert in seiner Stellungnahme, „ein angemessenes Datenschutzniveau“ zu gewährleisten und dieses Niveau zwischen den Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Daten, die sensible Persönlichkeitsbereiche wie etwa die sexuelle Ausrichtung, die Gesundheit oder die politische Einstellung betreffen, dürften nur dann verarbeitet werden, „wenn dies absolut notwendig“ sei. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bescheinigte dem Abkommen einen hohen datenschutzrechtlichen Standard. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass dies auch so bleibt und die Datenschutzgrundsätze der Mitgliedsländer endlich harmonisiert werden. Mit der Überführung des Prümer Vertrages in den Rechtsrahmen der Europäischen Union wird eine erhebliche Beschleunigung und Effektivitätssteigerung beim europaweiten Datenaustausch einhergehen. Von daher ist es wünschenswert, dass der Gesetzentwurf noch diese Legislatur umgesetzt wird, wenn das notwendige Augenmerk auf die angesprochenen datenschutzrechtlichen Bedenken gelegt wird. Der heute zu beratende Gesetzentwurf der Bundesre gierung zur Umsetzung des Beschlusses des Rates vom 23. Juni 2008 geht auf den sogenannten Prümer Vertrag zurück. Dieser Vertrag ist durch ein entsprechendes Vertragsgesetz in das deutsche Recht transformiert worden. Damals hat sich die FDP der Stimme enthalten. Die Gründe, die seinerzeit dafür maßgeblich gewesen sind, gelten weiter fort. Deshalb ist die Haltung der FDP zur heute vorliegenden Änderung des Ausführungsgesetzes zum Prümer Vertrag und zu weiteren Folgeänderungen unverändert. Der Ratsbeschluss vom 23. Juni 2008, der mit dem heutigen Gesetz umgesetzt werden soll, entspricht nämlich im Wesentlichen dem Inhalt des Vertrages selbst. Den Vertrag hat die FDP im Grundsatz begrüßt, weil damit eine verbesserte internationale Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen Arbeit in der Europäischen Union zum Zwecke der Gefahrenabwehr, insbesondere Zu Protokoll zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität beabsichtigt war. Allerdings haben mehrere Einzelpunkte nicht die Zustimmung der FDP gefunden. Wir haben kritisiert, dass die Anforderungen für die Übermittlung von DNA-Daten nicht ausreichend definiert worden sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dabei nicht vollständig beachtet worden. Die Rechtsschutzmöglichkeiten der EUBürgerinnen und EU-Bürger sind nicht ausreichend ausgestaltet worden. Nach wie vor gibt es übrigens auch keine zufriedenstellenden Kontrollrechte des EU-Parlaments bezüglich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit. Ferner hat die FDP damals kritisiert, dass dem Vertrag von Prüm auch andere, sogar außereuropäische Staaten beitreten können, deren Datenschutzniveau nicht hinreichend ist. Es ist klar, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf im Wesentlichen Rechtstechnik betrifft, gleichwohl kann man nicht darüber hinweggehen, dass Ausgangspunkt hierfür eben der Vertrag von Prüm ist, der in seiner konkreten Ausgestaltung trotz grundsätzlich richtiger Zielsetzung von der FDP nicht mitgetragen werden konnte. Deshalb ist es folgerichtig, dass sich unsere Fraktion auch bei dem jetzt zur Debatte stehenden Gesetzentwurf der Stimme enthält. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein Ratsbe schluss der EU in deutsches Recht umgesetzt werden, der die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Europa ausdehnen soll. Ursprünglich hatten sieben EU-Staaten diese Ausdehnung im Alleingang beschlossen, 2006 im Vertrag von Prüm. Dieser Vertrag wurde durch den Ratsbeschluss 2008 für alle EU-Staaten verbindlich. Es ist wohl wenig überraschend, dass die Fraktion Die Linke diesen Gesetzentwurf ablehnt. Im Ratsbeschluss finden sich sämtliche negativen Entwicklungen der europäischen Innenpolitik wieder. Es wurde die Chance verpasst, dringend notwendige Korrekturen am Prümer Vertragswerk vorzunehmen. Nach dem Motto „erst schießen, dann fragen“ werden den Sicherheitsbehörden weitreichende Befugnisse erteilt. Grundrechtsschutz und Datenschutz spielen höchstens die zweite Geige. Eine der zentralen Fehlentwicklungen der europäischen Innenpolitik sehen wir im automatisierten Datenaustausch nach dem „Grundsatz der Verfügbarkeit“. Schickt ein EU-Staat ein DNA-Identifizierungsmuster an einen anderen, bekommt er automatisch die dazu gespeicherten Daten. Von der Stelle, die die Daten ursprünglich erhoben hat, wird nicht geprüft, was mit diesen Daten anschließend passiert. Erst recht sind die Betroffenen des Datenaustauschs von jeder wirksamen Kontrolle ausgeschlossen. Letztlich ist nicht mehr zu überblicken, wo welche Daten innerhalb der EU eigentlich landen. Angesichts moderner technologischer Möglichkeiten ist der Datenaustausch so einfach wie nie zuvor. Dem entspricht das derzeitige Datenschutzrecht der EU bei weitem nicht, und auch in Deutschland diskutieren wir immer noch recht ergebnislos über die Stärkung des informationellen Selbstbestimmungsrechts der Bürgerinnen und Bürger. gegebene Reden Ulla Jelpke Der Datenaustausch bleibt aber nicht bei den DNAIdentifizierungsmustern stehen. Auch auf die Fingerabdruckdateien der verschiedenen Behörden sollen statt bisher sieben nun alle EU-Staaten untereinander zugreifen können. Das Gleiche gilt für Fahrzeugregisterdaten. In Deutschland sind das immerhin fast 50 Millionen Datensätze. Zum automatisierten Abgleich kommt noch die Möglichkeit der spontanen Datenübermittlung hinzu. Bei den sogenannten Großereignissen von grenzüberschreitender Bedeutung kann das Bundeskriminalamt von sich aus Daten übermitteln. Es wird also beispielsweise den französischen Behörden mitgeteilt, welche potenziellen Störer sich von deutscher Seite aus zu Protesten gegen einen internationalen Gipfel im Nachbarland aufmachen. Denen wird dann vielleicht die Einreise verweigert, ohne dass sie so recht wissen, warum. Durch das fehlende Datenschutzregime gibt es keinerlei Möglichkeit für die Betroffenen, die Löschung ihrer Daten in Frankreich durchzusetzen. Das war bereits der Webfehler des Vertrages von Prüm. Und wie bei allen EU-Entscheidungen im Bereich der „Inneren Sicherheit“ setzt sich dieser Webfehler nun auch in dem Ratsbeschluss fort. Ein anderer Aspekt des Vertrages ist nicht minder bedrohlich: Beamte des einen Staates sollen mit Einwilligung eines anderen Staates Exekutivbefugnisse auf fremdem Territorium erhalten. Schon bei gemeinsamen Einsätzen zur Strafverfolgung bringt dies zahlreiche Schwierigkeiten durch das unterschiedliche Polizeirecht mit sich. Aber wie wird das erst bei Großereignissen? Von Beamten selbst begangene Straftaten werden in dem Land verfolgt, das Einsatzort war – faktisch wird dadurch der Rechtsschutz ausgehöhlt. Neuestes Beispiel für die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit war die Repression gegen den Protest zum NATO-Gipfel in Kehl und Straßbourg. Aus zahlreichen Berichten und eigener Anschauung wissen wir, dass dort auch mal Daten auf dem „kleinen Dienstweg“ übermittelt wurden. Wir wissen vom Einsatz deutscher Wasserwerfer auf französischem Boden. Durch den grenzüberschreitenden Charakter dieser Einsätze wird aber letztlich vernebelt, wer dafür die politische Verantwortung zu tragen hat. Auch hier gilt wieder: Was schon im Vertrag von Prüm falsch war, wird durch einen EURatsbeschluss nicht richtiger. Für uns bleibt es dabei: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entpuppt sich mit diesem EURatsbeschluss ein weiteres Mal als Raum ohne Grundrechte, ohne Datenschutz und ohne demokratische Kontrolle. Gegen diese Politik werden wir auch weiterhin unsere Stimme erheben! Was fast ewig lange währte, wird nun am Ende doch nicht besonders gut. Schon bald nachdem im Mai 2005 der Prümer Vertrag unterzeichnet wurde, wollte insbesondere die deutsche Bundesregierung ihn zum Teil des EU-Rechtsrahmens machen. Das hat nun aber wesentlich länger gedauert: langes Hin und Her, abwägen, neu ansetzen – fast so, wie man es von der Großen Koalition hierzulande kennt. Zu Protokoll Das Umsetzungsgesetz, das wir heute diskutieren, ist als solches nicht der großen Debatte wert: Es verändert die schon bestehenden Regelungen in der Bundesrepublik vor allem redaktionell. Überall, wo „Vertrag von Prüm“ stand, soll dann auch noch „Ratsbeschluss Prüm“ stehen. Insofern ändert sich an der deutschen Rechtslage nichts Bedeutendes. Aber dennoch sollte man an dieser Stelle noch einmal über die im Prümer Vertrag und nun auch im Ratsbeschluss Prüm enthaltenen Schwierigkeiten sprechen. Denn die darin liegenden Defizite und Probleme wirken sich durch dieses Umsetzungsgesetz ja nun direkt in Deutschland aus. Herzstück des Prümer Vertrages und des Ratsbeschlusses ist das Prinzip der Verfügbarkeit. Man könnte es kurz beschreiben als: alle Daten immer und überall. Im Ratsbeschluss geht es konkret um DNA-Profile, Fingerabdrücke und Kfz-Halterdaten. Das Verfügbarkeitsprinzip bedeutet, dass bei der Arbeit mit diesen Daten und der Weitergabe an Behörden anderer Länder ein Grundprinzip des Datenschutzes auf den Kopf gestellt wird. Bisher wurde davon ausgegangen, dass Daten nicht weitergegeben werden dürfen, und dann wurden begründete Ausnahmen von diesem grundsätzlichen Verbot ausgehandelt und die Bedingungen dafür definiert. Nun heißt die Regel: Es wird ausgetauscht, und die Nichtweitergabe ist zu begründen. Ein besonderes Problem bei der Anwendung des Verfügbarkeitsprinzips sind die unterschiedlichen Standards der Datenführung. Warum DNA oder ein Fingerabdruck in einer Datei gespeichert sind, ist in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt. Auch die Qualität der Daten ist unterschiedlich. Das kann durchaus zu fehlerhaften Treffern im sogenannten Hit-/No-hit-Verfahren führen – mit den entsprechenden Folgeproblemen. Auch nicht unbedenklich ist die vorgesehene Weitergabe von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten. Diese kann der datenführende Staat nach eigenem Ermessen vornehmen. Er kann – und das ist auch richtig so – Nutzungsbegrenzungen mit übermitteln; das ist wichtig, weil sonst wegen der unterschiedlichen Sicherheitsarchitekturen in den Mitgliedstaaten die Grenzen zwischen Geheimdiensten und Polizei, wie wir sie kennen und wollen, nicht zu garantieren sind. Aber solche Beschränkungen müssen dann auch durchgängig gemacht werden, und sie müssen eingehalten werden. Das wird sehr schwer zu kontrollieren sein. Das alles wirft dringende Fragen nach dem Datenschutz auf. Denn wenn so weitgehend der gegenseitige Zugriff gestattet wird, wenn Daten in andere EU-Mitgliedstaaten weitergegeben werden, dann ist der Datenschutz nur schwer zu kontrollieren. Deshalb muss hier wirklich alles wasserdicht geregelt sein. Die entsprechenden Artikel des Ratsbeschlusses enthalten jeweils datenschutzrechtliche Regelungen. Aber es fehlt nach wie vor eine wirklich bindende und starke europäische Datenschutzregelung im Bereich der inneren Sicherheit. Es gibt den Rahmenbeschluss vom November 2008, aber der lässt auch erhebliche Lücken. Der Ratsbeschluss Prüm gegebene Reden Wolfgang Wieland sieht leider auch keine ausreichende Kontrolle des Austausches und Evaluierung des gesamten Systems durch unabhängige Beauftragte vor. Wegen dieser immer noch nicht bereinigten Defizite werden wir dem Umsetzungsgesetz nicht zustimmen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent wurfs auf Drucksache 16/12585 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da es keine anderweitigen Vorschläge zu geben scheint, ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 28: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss)





(A) (C)


(B) (D)

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621728500
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621728600







(A) (C)


(B) (D)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621728700
Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1621728800

(A) (C)


(B) (D)

Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1621728900




(A) (C)


(B) (D)

Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1621729000
Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621729100




(A) (C)


(B) (D)

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621729200







(A) (C)


(B) (D)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621729300

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Humanitäre Entschädigungslösung für mit
HCV infizierte Hämophilieerkrankte schaf-
fen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth,
Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Entschädigungsregelung für durch Blutpro-
dukte mit HCV infizierte Bluter schaffen

– Drucksachen 16/10879, 16/11685, 16/12515 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Kleiminger

Zu Protokoll gegangen sind die Reden von Jens
Spahn, Christian Kleiminger, Konrad Schily, Frank
Spieth und Harald Terpe.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1621729400

In der heutigen Debatte geht es um die abschließende

Beratung der beiden Anträge zu einer Entschädigungsre-
gelung für die durch Blutprodukte mit HCV infizierten
Bluter. Es ist unbestritten, dass diese Infektionen ein
schweres Schicksal für die Betroffenen darstellen. Sie und
ihre Angehörigen hatten und haben eine große gesund-
heitliche und psychische Belastung zu tragen. Deshalb
gilt ihnen unser Mitgefühl. Die vorliegenden Anträge ent-
halten aber keine neuen Ansätze. Mit der Wiederholung
der seit langem bekannten Positionen ist niemandem ge-
holfen.

Die Hämophilen, die aufgrund ihrer Erkrankung re-
gelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten ange-
wiesen sind, gehören zu der Gruppe, die am stärksten von
den Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus in den 1980er-
Jahren, die durch die Anwendung von Blutprodukten aus-
gelöst wurden, betroffen ist. Aber auch andere Patienten
sind durch Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden.

Es bleibt festzuhalten, dass es weiterhin keinen Grund
für eine staatliche Entschädigungsregelung gibt, wie sie
nun in den vorliegenden Anträgen gefordert wird. Die
dazu erforderliche Verletzung staatlicher Rechts- oder
Prüfungsaufsichten liegt nicht vor. Eine staatliche Ver-
antwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrecht-
lich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Ent-
schädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik
Deutschland nicht. Auch die Rechtsprechung kommt zum
selben Ergebnis und hat in den bisherigen Verfahren die
Entschädigungsansprüche gegen den Bund unter ande-
rem aufgrund mangelnder Kausalitätsnachweise abge-
lehnt.

Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich bei dem In-
fektionsgeschehen um – so hart es ist – unvermeidbare
Ereignisse. Schließlich ließ sich bis weit in die 80er-Jahre
kein Verfahren finden, welches eine Infizierung von Blut-
produkten mit HC-Viren vollständig ausschließen konnte.
Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht eindeu-
tig feststellen. Auch die häufig angeführte sogenannte
ALT-Testung und andere damals bekannte Verfahren wa-
ren nicht hinreichend spezifiziert, um eine sichere
Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu treffen.
Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland vorge-
schriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss auf
das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese
Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird,
bei deren Herstellung Tausende Einzelspenden gepoolt
werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasma-
pools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizier-
ten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen
aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test
konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert
werden.

Auch die häufig vorgenommene Bezugnahme in der
Argumentation für eine Entschädigungsregelung auf die
finanzielle Hilfe für die durch Blutprodukte HIV-infizier-
ten Personen, wie sie auch in den vorliegenden Anträgen
stattfindet, stiftet eher Verwirrung. Der vom Deutschen
Bundestag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIV-
Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Le-
gislaturperiode kam bezüglich der Infektionen mit HIV
und HCV durch Blutprodukte zu unterschiedlichen Be-
wertungen. Er erhob die Forderung nach einer finanziel-
len Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infi-
zierten, welche der Bund auch umgehend erfüllte. Eine
Entschädigungsregelung oder humanitäre Hilfe für die
durch Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Per-
sonen forderte er jedoch nicht.

Insofern stellt sich die Sachlage bei den HIV-Infektio-
nen anders da. Es wurde eindeutig eine seinerzeitige Ver-
antwortung des Staates durch den Untersuchungsaus-
schuss zugewiesen. Zudem ist eine HIV-Infektion trotz
aller Fortschritte in der medizinischen Behandlung im
Gegensatz zur HCV-Infektion noch immer in jedem Fall
ein Todesurteil. Auch dies muss zu einer anderen Bewer-
tung führen. Losgelöst von der Frage der Entschädi-
gungsregelungen muss in jedem Falle sichergestellt sein,
dass die HCV-Infizierten Zugang zu einer flächendecken-
den, hochwertigen Versorgung haben. Dies ist bei uns in
Deutschland auch der Fall.


(A) (C)



(B) (D)


Jens Spahn
Immer wieder wird auch auf die Entschädigungsrege-
lungen anderer Länder verwiesen. Solche Vergleiche
müssen differenziert betrachtet werden, weisen doch
andere Länder im Vergleich zur Bundesrepublik eine ab-
weichende staatliche Verantwortung für das Gesund-
heitswesen und die Versorgung von Patienten auf. So sind
Anbieter der Blutprodukte innerhalb Deutschlands weit-
gehend private Unternehmen oder Einrichtungen, welche
nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutsch-
land grundsätzlich eigenverantwortlich handeln und zi-
vil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die sta-
tionäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung ist in
der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich organi-
siert.

Wenn überhaupt, kann für den Kreis der HCV-infizier-
ten Personen nur eine soziale Entschädigungslösung in
Betracht kommen. Diese setzte jedoch ein Engagement
der beteiligten Unternehmen der pharmazeutischen In-
dustrie, der Blutspendedienste sowie der Länder voraus.
Die Bundesregierung hat sich wiederholt um eine ge-
meinsame Initiative für humanitäre Hilfe für durch Blut-
produkte HCV-infizierte Personen bemüht, ist jedoch bis-
her auf Ablehnung gestoßen. Die Bundesregierung sollte
diese Bemühungen fortsetzen und mit den genannten
Partnern, darunter natürlich auch den betroffenen
Patientenverbänden, weiter im Gespräch bleiben. Die
vorliegenden Anträge lehnt die Fraktion der CDU/CSU
hingegen ab.


Christian Kleiminger (SPD):
Rede ID: ID1621729500

In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der

Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses
für Gesundheit zu einer von der Linken und den Grünen
geforderten Entschädigungslösung für mit HCV infizierte
Hämophilieerkrankte. Die beiden Anträge wurden im
Ausschuss für Gesundheit und in den mitberatenden
Ausschüssen mehrheitlich abgelehnt.

Ich möchte die Sicht meiner Fraktion kurz begründen,
allerdings bereits zu Beginn noch einmal ausdrücklich
unterstreichen, dass das Schicksal der betroffenen Men-
schen sehr bedauerlich ist. Doch es handelt sich hier um
eine menschlich schwierige und eben andererseits außer-
ordentlich komplexe Materie, die in beiden Anträgen nur
unzureichend gewürdigt wird. Die Anträge weisen insbeson-
dere in ihren Begründungen unakzeptable Verkürzungen
auf. Zudem werden sie der Vielschichtigkeit der mit einer
Entschädigungsregelung verbundenen offenen Fragen
und der Verantwortung gegenüber den Betroffenen nicht
gerecht. So möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen,
dass es nicht gerecht wäre, die von Hepatitis-C betroffene
Patientengruppe undifferenziert mit der HIV-infizierten
Patientengruppe gleichzusetzen.

Als diese Stiftung gegen den anfänglichen Widerstand
auch der Pharmaindustrie eingerichtet wurde, war Aids
bekanntermaßen noch eine in jedem Falle tödlich verlau-
fende Krankheit. Und nur deshalb konnten Bund und Län-
der, die Pharmaindustrie und die Blutspendedienste von
der Unumgänglichkeit einer solchen Stiftung überzeugt
werden. Zudem gibt es entgegen den Behauptungen der
Fraktion Die Linke und auch der Grünen keinen hinrei-
Zu Protokoll
chenden Beleg dafür, dass im betreffenden Zeitraum in den
70er- und 80er-Jahren nach damaligem Kenntnisstand
eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätte verhindert
werden können. Man macht man es sich deshalb zu ein-
fach, die Problematik allein aus heutiger Sicht zu
betrachten – mit den Kenntnissen und den Chancen der
modernen Medizin. Auch wenn sich im Nachhinein he-
rausgestellt hat, dass Präparate zur Verfügung gestanden
hätten, ändert dies nichts daran, dass zum damaligen
Zeitpunkt große Unsicherheiten bei den Beteiligten be-
standen.

Um es aber noch einmal zu betonen: Keiner möchte
das Leid, das den Betroffenen durch eine Infizierung mit
Hepatitis-C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine – meist
chronisch verlaufende – Krankheit, die auch zu schwer-
wiegenden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch
Leberkarzinomen führen kann. Auch mich persönlich
macht der Leidensweg einiger Erkrankter sehr betroffen.
Deshalb haben wir uns ja auch in der Vergangenheit immer
wieder in den verschiedensten Gremien mit der Materie
befasst. Wir haben im Ausschuss mehrfach darüber gespro-
chen, wir haben die Betroffenen getroffen und mit ihnen die
Problematik erörtert und wir haben versucht, Lösungen
zu finden.

Um die Leidtragenden mit ihrem Schicksal nicht allein zu
lassen, haben wir in der Vergangenheit auch die Bemühun-
gen der Bundesregierung für eine angemessene humanitäre
Hilfe unterstützt. Aber alle bisherigen Bemühungen, zu einer
gemeinsamen freiwilligen Regelung mit den Ländern, den
pharmazeutischen Unternehmen und den Blutspende-
diensten zu kommen, scheiterten. Sie scheiterten an der
Pharmaindustrie, am Roten Kreuz und nicht zuletzt an
den Ländern, und das im Übrigen auch in der Zeit, in der
die Grünen die Bundesgesundheitsministerin stellten. Ne-
benbei gesagt, ist mir auch nach gründlicher Recherche
keine Initiative aus den Jahren bekannt, in denen die PDS
die Verantwortung für das Gesundheitsressort in meinem
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern innehatte. Wir
sollten deshalb den Betroffenen nicht immer wieder mit
derartigen Anträgen Hoffnungen auf eine allein vom
Bund getragene Entschädigungszahlung machen.


Dr. Konrad Schily (FDP):
Rede ID: ID1621729600

Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es

im Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von über-
wiegend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und
Patienten durch die Anwendung von mit HCV-Viren ver-
seuchtem Blut bzw. Blutprodukten zu HCV-Infektionen
gekommen ist.

Aus Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist
auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch un-
ternommen worden, eine humanitäre Lösung zu finden. In
Analogie zu dem HIV-Hilfefonds wurde zusammen mit
pharmazeutischen Unternehmen, Blutspendediensten
und Ländern eine einvernehmliche Lösung im Sinne der
Betroffenen zu finden versucht. Dies ist jedoch nicht ge-
lungen.

Wir halten es weiterhin für relevant, darauf hinzuwei-
sen, dass bis zum heutigen Tag kein Gerichtsurteil die
Schuldhaftigkeit der Handlungen beweisen konnte.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Konrad Schily
Auch der Bund setzte sich immer wieder für eine Ent-
schädigungslösung auf freiwilliger Basis ein, zu der es
leider nicht gekommen ist. Die seinerzeit Verantwort-
lichen zeigten immer weniger Bereitschaft zu handeln, je
länger die Ereignisse zurückliegen. Im Hinblick darauf,
dass auch nicht zu erwarten ist, dass sich an dieser Hal-
tung etwas ändert, werden mit dem Antrag falsche Hoff-
nungen geweckt.

Insofern sind die beiden Anträge abzulehnen.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621729700

Der HIV-Untersuchungsausschuss des Deutschen

Bundestages hat im Jahre 1994 festgestellt, dass nicht nur
die Arzneimittelhersteller, die Blutspendedienste und die
Behandler, sondern auch die Bundesrepublik Deutsch-
land verantwortlich dafür war, dass eine Gruppe von
mehreren Tausend Blutern durch Blutprodukte mit HCV
infiziert worden ist. Diese relativ kleine Gruppe, die
durch diesen Medikamentenskandal mit dem Hepatitis-C-
Virus infiziert wurde, bekommt keinerlei Entschädigung für
ihre Leiden. Die Bundesregierung und die Große Koalition
drücken sich mit mehr oder minder irreführenden Erklä-
rungen um Entschädigungsleistungen.

Als wir im Februar in der ersten Lesung über diese
Fragestellung debattiert haben, wurde uns unterstellt,
dass unser Antrag – wie ein SPD-Redner mutmaßte –
„dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet“ sei. Einen
größeren Unsinn kann man nicht behaupten. Für Wahl-
kämpfe gibt es deutlich geeignetere Themen. Ein Kollege
der FDP meinte, dass unser Antrag „falsche Hoffnungen“
wecke. Wir wollen keine falschen Hoffnungen wecken.
Die Linke will, dass den Betroffenen, wie es weltweit auch
geregelt wurde, endlich geholfen wird. Wir wecken keine
falschen Hoffnungen, ganz im Gegenteil. Sie schaffen
durch Ihre ablehnende Haltung große Enttäuschung bei
den Betroffenen.

Die Linke will, dass den Betroffenen endlich Gerech-
tigkeit widerfährt und eine Entschädigungsregelung be-
schlossen wird. Wenn behauptet wird, dass die Erkennt-
nisse aus dem Untersuchungsausschuss uns zu falschen
Schlussfolgerungen führten, sei den Kritikern das Stu-
dium der Ergebnisse empfohlen.

Ein Kollege von der CDU sagte in der Debatte, die
Infektionen seien zum damaligen Zeitpunkt unvermeid-
lich gewesen. Erst sehr viel später habe man den Erreger,
das Hepatitis-C-Virus, mit verbesserten technischen
Möglichkeiten zweifelsfrei identifizieren können. Hier
werden einige wichtige Tatsachen verdreht: Seit den
1970er-Jahren war die Infektionsgefahr bekannt. Ende
der 1970er-Jahre wurden Verfahren erforscht, die eine
Infektion durch Blutprodukte nahezu ausschließen konn-
ten. Diese Verfahren funktionieren unabhängig davon, ob
man das Virus kennt, weil sie gegen alle Viren wirken.
Richtig ist, dass genau deshalb die mit dem alten Verfahren
hergestellten Blutprodukte seit Ende 1983 nicht mehr in
Verkehr hätten gebracht werden dürfen. Grundlage dafür
war § 5 des Arzneimittelgesetzes. Dennoch wurden die
Medikamente zum Teil bis 1987 weiter verabreicht. Ich
bin wie der Untersuchungsausschuss der Auffassung,
dass hier ein Versagen des Bundesgesundheitsamtes vor-
Zu Protokoll
liegt. Auch der damalige Bundesgesundheitsminister und
heutige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sah
das damals offenbar so: Wie in der Wochenzeitung „Die
Zeit“ vom 28. Januar 1994 nachzulesen ist, war für Herrn
Seehofer dieser Medikamentenskandal sogar der Anlass,
das Bundesgesundheitsamt aufzulösen.

Die Betroffenen müssen in mühsamen Prozessen versu-
chen, zu ihrem Recht zu kommen. Aktuell wird in den USA
ein internationaler Prozess geführt, an dem auch etwa 60 bis
70 deutsche Opfer beteiligt sind. Es sieht derzeit so aus, dass
sich die Pharmaindustrie außergerichtlich zu Zahlungen be-
reiterklären könnte – ein möglicher Erfolg, aber immerhin
erst ein Vierteljahrhundert nach den Infektionen. Und was
bedauerlich ist: in Deutschland weiterhin Fehlanzeige!

Ich kann die Haltung der Bundesregierung und der
Koalition nicht nachvollziehen: Selbst wenn man der Auf-
fassung ist, dass im rechtlichen Sinn keine eindeutige
Schuld bei den Beteiligten vorliegt, und in dieser Frage
eine andere Auffassung vertritt als der damalige Unter-
suchungsausschuss, muss man doch fragen, warum keine
Entschädigungslösung ermöglicht wird. Andere Staaten
waren in der Lage, das zu regeln.

In denselben Blutprodukten steckte oft auch das Aids-
Virus. Für die Personengruppe, die sich mit HIV infizierte,
wurde 1995 – wie ich finde, vollkommen zu Recht – das
HIV-Hilfegesetz verabschiedet. Die Ansteckung mit Aids
hätte sich durch die veränderten Herstellungsverfahren
genauso vermeiden lassen können wie die Hepatitis-C-
Infektionen. Was macht also den Unterschied aus?

Der Unterschied bestand ganz offenkundig darin, dass
davon ausgegangen wurde, dass es gegen Aids keine
Behandlungsmöglichkeiten gibt und diese Krankheit töd-
lich ist. Aids ist auch noch heute tödlich, allerdings hat
sich durch die Behandlung die Lebenserwartung deutlich
vergrößert. Für die Hepatitis-C-Infektionen gilt das im
Grunde genommen auch. Im Vergleich zu Aids gibt es
aber einen deutlichen Unterschied: Hepatis C ist nicht im
Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Mittlerweile
weiß man, dass auch diese Krankheit die Lebenserwar-
tung um 15 bis 18 Jahre verringert und die verbleibende
Lebenszeit zudem durch die Erkrankung in ihrer Qualität
stark beeinträchtigt ist. Deshalb fordert die Linke, ob nun
ein Staatsverschulden vorliegt oder nicht, endlich auch
dieser Betroffenengruppe eine Entschädigungsregelung
zukommen zu lassen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621729800

Vor 25 Jahren haben sich durch verseuchte Blutpro-

dukte viele Menschen mit dem HIV-Virus infiziert. Sie
wurden dafür mit finanzieller Beteiligung des Staates ent-
schädigt, weil im Ergebnis der Erkenntnisse eines parla-
mentarischen Untersuchungsausschusses die Mehrheit
des Deutschen Bundestages die politische Verantwortung
für Versäumnisse des Bundesgesundheitsamtes übernom-
men hatte. Vor 25 Jahren haben sich durch gleichartige
verseuchte Blutprodukte aber auch viele Menschen mit
dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Sie wurden bisher dafür
nicht entschädigt, obwohl der genannte Untersuchungs-
ausschuss bezüglich der mit HCV verseuchten Blutpro-
dukte dieselben Versäumnisse wie im Falle der mit HIV



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Harald Terpe
verseuchten Produkte festgestellt hatte. Und dennoch
verweigern das Bundesgesundheitsministerium, Union,
SPD und FDP diesen Menschen eine Entschädigung.
Und schlimmer noch: Sie behaupten, die Infektionen
seien ein unvermeidbares Ereignis gewesen. Man muss
das so klar sagen: Das entspricht nicht der Wahrheit. Im
Bericht des Untersuchungsausschusses von 1995, den
auch SPD und Union damals beschlossen haben, steht
wörtlich das Gegenteil:

Das Fehlen jeglicher Reaktionen seitens des Bun-
desgesundheitsamtes auf die Gefahr der Hepatitis-
infektionen muss als Versäumnis und folglich als
Amtspflichtverletzung gewertet werden.

Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bun-

(Non A/ Non B)Hepatitis durch infizierte Blutspenden und Blutprodukte übertragen werden konnte. Spätestens ab 1981 standen alternativ virusinaktivierte Präparate zur Verfügung, bei denen eine solche Gefahr nicht bestand. Dennoch wurden bis 1985 auch weiterhin nicht inaktivierte Produkte zugelassen, obwohl beispielsweise Faktor-VIIIHochkonzentrate spätestens ab 1983 als bedenkliche Arzneimittel hätten eingestuft und ihre Verkehrsfähigkeit verlieren müssen. Erst 1990 mussten alle nicht inaktivierten Produkte aus dem Verkehr gezogen wurden. Das Bundesgesundheitsamt ist damals auf dieses Risiko wiederholt hingewiesen worden. Dennoch verharrte es in seiner Untätigkeit – fast wie jetzt die Bundesregierung im Hinblick auf die Schaffung einer angemessenen Entschädigungsregelung. Das Bundesgesundheitsamt hat es damals weder für notwendig erachtet, die Zulassung solcher Risikoprodukte zu widerrufen oder ruhen zu lassen, noch die Auflage zu erteilen, derartige Produkte zukünftig nur noch nach einer Inaktivierung auf den Markt zu bringen. In diesem Zusammenhang ist es auch völlig unerheblich, ob damals bereits ein entsprechender Antikörpertest zur Verfügung stand oder nicht. Zu Recht hat der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids diese Untätigkeit auch im Falle der Infektionen mit Hepatitis C als schuldhafte Amtspflichtverletzung gewertet. Die Entschädigung der Menschen, die in diesem Zeitraum infiziert wurden, ist dringend notwendig. Das Leid, das diese Menschen durch ihre Infektion erfahren haben, kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber angesichts der bislang von der Bundesregierung, von Union, SPD und FDP gezeigten Verweigerungshaltung wäre der Einsatz für eine solche Entschädigung auch und in erster Linie ein Zeichen politischer Reife, weil sie die staatliche Mitverantwortung für das Geschehene nicht mehr kategorisch leugnet – und ein überfälliger Ausdruck des Bedauerns. Der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids hat 1995 klare Versäumnisse des damaligen Bundesgesundheitsamtes festgestellt. Auf dieser Grundlage wurde eine Entschädigungsregelung für diejenigen Menschen geschaffen, die sich durch verseuchte Blutprodukte mit HIV infiziert hatten. Ursache dieser Infektionen waren exakt dieselben Versäumnisse, die zur Infektion der Hämophilieerkrankten mit Hepatitis C führten. Es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung die Erkenntnisse dieses parlamentarischen Untersuchungsausschusses ignoriert. Und es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung seit Jahren versucht, statt eine gerechte Entschädigungslösung zu schaffen, den Sachverhalt immer weiter zu vernebeln. Es ist vor allem aber eine Ungeheuerlichkeit, wie die Bundesregierung Tatsachen leugnet und diesen Menschen Gerechtigkeit verwehrt. Fiskalische Erwägungen vermögen dieses sture Beharren nicht zu erklären – ebenso wenig wie die Angst vor weiteren juristischen Auseinandersetzungen. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass es hier in erster Linie um einen verzweifelten Versuch der Gesichtswahrung handelt, die ein vor 25 Jahren stattgefundenes staatliches Versagen einfach negieren will. Verlierer sind dabei die Betroffenen. Es ist an der Zeit, eine gerechte Entschädigungsregelung zu schaffen und dabei alle damals beteiligten Akteure – den Bund, die Länder, pharmazeutische Unternehmen und Blutspendedienste – mit einzubeziehen. Ein Vorbild gibt es dafür bereits: das 1995 beschlossene HIV-Hilfegesetz. Ich fordere daher die Bundesregierung und die Fraktionen von Union, SPD und FDP auf, endlich die Tatsachen zu akzeptieren und sich schnellstmöglich für eine humanitäre Entschädigung der Erkrankten einzusetzen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss empfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 16/12515. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegengestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11685 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt. Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Drucksache 16/12596 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Hier liegen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Rauen, Wolfgang Grotthaus, Heinrich Kolb, Katja Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Kipping, Markus Kurth und des Parlamentarischen Staatssekretärs Klaus Brandner vor. Heute ist ein wirklich guter Tag für die Bauwirtschaft – aber auch für die Wirtschaft im Allgemeinen. Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf wird die 2002 von Rot-Grün in der Bauwirtschaft eingeführte Generalunternehmerhaftung endlich von dem Ballast quälender Bürokratie befreit. Verwaltungsintensive und uneinheitliche Regelungen werden beseitigt. Dies bringt Erleichterung für viele Baubetriebe und deren Beschäftigte und sollte zugleich Vorbild für andere Branchen sein, wenn es um Vereinfachung von Strukturen und Verwaltungswegen geht. Lediglich eine Unstimmigkeit bezüglich der Gleichbehandlung von kleinen und größeren Unternehmen müssen wir im Gesetzesverfahren noch etwas präziser regeln. Darauf werde ich aber später noch genauer eingehen. Konkret werden wir im Baugewerbe die haftungsrechtliche Entlastung für den Generalunternehmer vorrangig durch Präqualifizierung im vereinfachten Verfahren einführen, die Generalunternehmerhaftung für die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung vereinheitlichen und die Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung auf ein Gesamtbauvolumen von 275 000 Euro senken. Die von uns vorgelegte Einbeziehung des Präqualifikationsverfahrens in die Generalunternehmerhaftung wird zu einer deutlichen Vereinfachung und zu einem massiven Abbau von Verwaltungslasten für die Bauwirtschaft in Deutschland führen; denn seit 2002 muss ein Generalunternehmer für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch einen von ihm mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragten Nachunternehmer geradestehen. Zahlt dieser Nachunternehmer seine Sozialversicherungsbeiträge nicht, haftet der Hauptunternehmer, sofern er nicht nachweist, dass er von der Erfüllung der Zahlungspflicht eines Nachunternehmers ausgehen konnte. Dieser Nachweis erfolgt derzeit noch durch sogenannte Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die die Unternehmer bei den Sozialversicherungsträgern mehrmals im Jahr für alle Arbeitnehmer beantragen müssen. Dieses Verfahren verursacht Bürokratiekosten in Höhe von rund 11 Millionen Euro pro Jahr. Künftig jedoch entfällt die Generalunternehmerhaftung nicht nur bei der Vorlage von Unbedenklichkeitsbescheinigungen, sondern auch dann, wenn präqualifizierte Bauunternehmen eingesetzt werden. Das bedeutet, dass ein Betrieb bereits eine Präqualifikation im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge nach § 8 der Vergabeund Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A zertifiziert hat, VOB/A. Dabei wird überprüft, ob ein Betrieb für die öffentliche Vergabe nach der VOB geeignet ist. Der Nachweis der Präqualifikation reicht also zukünftig aus, um für den Generalunternehmer in der Haftung Rechtssicherheit zu schaffen und gleichsam seiner sozialen Verantwortung nachzukommen. Zudem ist die Präqualifikation schnell und unproblematisch über Internet abrufbar. Letztlich wird das ursprünglich nur für das Vergaberecht gedachte Präqualifikationsverfahren mit der Generalunternehmerhaftung verknüpft und führt so zu einer Entlastung vieler Baubetriebe. Zu Protokoll Doch wie war es zuvor? Von der Einführung der Generalunternehmerhaftung im August 2002 bis Ende 2008 gab es insgesamt 34 Fälle, in denen die Generalunternehmerhaftung geltend gemacht wurde. In neun Fällen sind die erlassenen Haftungsbescheide rechtskräftig geworden. Die Summe der daraus resultierenden Gesamtversicherungsbeträge belief sich auf rund 213 000 Euro, wovon ein Drittel tatsächlich realisiert werden konnte. So der Bericht der Bundesregierung vom Dezember 2008. Die Zahlen sprechen für sich, nämlich zum einen für eine durchaus funktionierende Selbstkontrolle der Bauwirtschaft, zum anderen vor allem aber für eine spürbare Präventionswirkung dieser Maßnahme. Dennoch: Mit diesen knappen Daten allein war der auftretende Verwaltungsaufwand bei den Unternehmen der Bauwirtschaft nicht zu rechtfertigen. Das gesteht sogar der erste Bericht der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung an die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes über die Erfahrungen mit entsprechenden Regelungen des Sozialgesetzbuches ein, Bundestagsdrucksache 15/4599. Zwar ist mit den genannten Zahlen kaum belegbar, in welchem Umfang die Haftung der Hauptunternehmer zur Beitragsehrlichkeit in der gesetzlichen Sozialversicherung und damit zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung beitrug, die Erfahrungen zeigen jedoch, dass Hauptunternehmer positiv beeinflusst wurden, Nachunternehmer einzusetzen, die in der Vergangenheit ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Sozialversicherungsträgern nachgekommen sind. Es ist zumindest offensichtlich, dass die bestehende Regelung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung entgegenwirkt. Insofern ist es keineswegs unser Ziel, die Generalunternehmerhaftung zu unterlaufen, sondern vielmehr durch Strukturund Verwaltungsvereinfachung die positive Wirkung weitgreifend zu optimieren; denn diejenigen Stimmen, die die völlige Abschaffung der Generalunternehmerhaftung fordern, sind nicht zielführend. Schließlich hat jeder Unternehmer, der zu seinen eigenen Gunsten einen Subunternehmer einstellt, auch eine subsidiäre Verantwortung für dessen Arbeitnehmer. Es darf dem Generalunternehmer auch keinesfalls egal sein, ob die nachgeordneten Arbeitnehmer ihr Geld bekommen und sozial abgesichert sind oder nicht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass legal arbeitende Unternehmen es im Lohnund Preiskampf gegenüber illegal agierenden Firmen sehr schwer haben. Aber gerade deshalb sollte es im eigenen Interesse legaler Arbeitgeber liegen, dass die Haftung des Hauptunternehmers durchgreift. Erst wenn die Haftungskette Bauherr-GeneralunternehmerNachunternehmer etc. funktioniert, ist eine faire Preisgestaltung im Bieterverfahren möglich. Weitere Rechtsklarheit bietet zudem die Generalunternehmerhaftung gemäß Arbeitnehmer-Entsendegesetz, nach dem ein Bauunternehmer auch für tarifliche Lohnzahlungen des Subunternehmers gerade stehen muss, AentG § 1 a. Ein Arbeitnehmer des Subunternehmers hat somit seinen tariflichen Mindestlohnanspruch beim Generalunternehmer. Kurzum: Wenn die Haftung des Generalunternehmers wegfiele, dann könnte es diesem egal sein, wen er als Subunternehmer beauftragt. Er würde auch nicht gegebene Reden Peter Rauen darauf achten, ob das einer ist, der Schwarzarbeit organisiert. Dass wir hier nicht von Nebenschauplätzen der Bauwirtschaft reden, zeigen uns die vorhandenen Daten: Das Baugewerbe hatte 2007 mit circa 1,87 Millionen abhängig Beschäftigten ein Bauvolumen von insgesamt circa 166 Milliarden Euro. Es setzt sich zusammen aus dem Bauhauptgewerbe mit 74 765 Unternehmen und circa 714 000 Beschäftigten und dem Ausbaugewerbe mit circa 255 000 Betrieben und circa 1,15 Millionen Beschäftigten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes über die Anzahl von Bauvorhaben, die von Generalunternehmern durchgeführt werden, bewerben sich jährlich rund 76 000 Baubetriebe im Schnitt viermal im Jahr um einen Auftrag. Jährlich werden – auch für andere Zwecke – etwa 2,15 Millionen Unbedenklichkeitserklärungen erstellt. Und hierin liegt eine gewisse Schwierigkeit. Wohlgemerkt: Nicht die schwarzen Schafe werden veröffentlicht, sondern jeder Bauunternehmer muss sich dem Zertifizierungsverfahren unterziehen oder vierteljährlich Unbedenklichkeitserklärungen einholen, um zu den weißen Schafen gerechnet zu werden. Die Präqualifikation kostet bei der erstmaligen Registrierung Gebühren von rund 450 Euro und für die jährliche Aufrechterhaltung Gebühren von anschließend circa 350 bis 400 Euro. Sie bietet den Vorteil, dass sich die Unternehmen unter Hinweis auf die zertifizierte Zulassungsbescheinigung unbegrenzt bewerben können. Wer dieses Verfahren als Bauunternehmer zum Beispiel für öffentliche Aufträge benutzt, hat somit keine weiteren Kosten. Bei Vorlage einer Unbedenklichkeitsbestätigung anstelle einer Präqualifizierung entstehen zwar keine Kosten; diese muss jedoch für jede einzelne Bewerbung erneut angefordert werden, was einen weitaus größeren Verwaltungsaufwand bedeutet. Für Betriebe, die sich gewohnheitsgemäß um öffentliche Aufträge bemühen, ist diese Situation von großem Vorteil. Im Nachteil sind allerdings vor allem kleine Betriebe aus den Ausbauhandwerken, die sich selten um öffentliche Aufträge bemühen, da sie zumeist privat beauftragt sind. Sie müssen – im Nachteil zu den automatisch präqualifizierten Betrieben – immer wieder neue Unbedenklichkeitsbescheinigungen heranschaffen, wenn sie als Subunternehmer tätig werden wollen. Im Malerund Lackiererhandwerk haben sich beispielsweise von den circa 40 000 bestehenden Betrieben aufgrund der hohen Kosten, die anfallen, erst 100 präqualifizieren lassen. Hier besteht nach meiner Auffassung noch Bedarf, eine sinnvolle Regelung im Rahmen des kommenden Gesetzgebungsverfahrens zu erarbeiten und im Gesetz zu implementieren. Mit der Einbringung dieses Gesetzentwurfes beabsich tigt die Bundesregierung die Einführung einer Präqualifikation im Rahmen der Generalunternehmerhaftung. Dieses Vorhaben wird von meiner Fraktion sehr begrüßt, da dadurch nicht nur ein eindeutiger und rechtssicherer Nachweis für die einfache und damit unbürokratische Überprüfung der Nachunternehmer und etwaig beaufZu Protokoll tragter Verleiher ermöglicht wird. Die Handhabung des Präqualifikationsverfahrens hat den Vorteil, dass es in einer allgemein zugänglichen Internetliste aufgeführt wird und so die Unternehmen bundesweit ihre Eignung nachweisen können. Ergänzend zu der Einführung der Präqualifikation sollen auch die unterschiedlichen Haftungsgrenzen in der Unfallversicherung und in den übrigen Zweigen der Sozialversicherung vereinheitlicht werden. Auch diese Regelung ist begrüßenswert. Besonders hervorzuheben ist, dass diese Regelung auf die Zustimmung der Spitzenverbände der Bauwirtschaft und der IGBau stoßen. Übergangsregelung zur Beitragshaftung und Regelung zur Gleitzone sind in diesem Gesetz ebenfalls sichergestellt. Da es sich um ein sogenanntes Omnibusgesetz handelt, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass auch die weiteren von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesänderungen bzw. redaktionellen Änderungen auf unsere Zustimmung stoßen. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Erweiterung des Unfallversicherungsschutzes für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Freiwilligendienstes „weltwärts“. Mit diesen Maßnahmen wird das besondere Engagement der jungen Menschen, das sich in der Übernahme eines solchen Dienstes zeigt, anerkannt und sie erfahren damit den Schutz der Solidargemeinschaft. Insgesamt handelt es sich um einen Gesetzentwurf, den wir positiv begleiten werden, in den wir aber auch als Koalition noch einige aus unserer Sicht geringfügige Änderungen von bestehenden Gesetzen einbringen werden. Lassen Sie mich zunächst feststellen: Es ist schon be merkenswert, was der Bundeswirtschaftsminister als „wesentlichen Schritt zum Bürokratieabbau“ ankündigt. Da soll die Generalunternehmerhaftung durch die Herabsetzung der Mindestgrenzen auf unzählige kleine und mittelständische deutsche Baubetriebe ausgedehnt werden; und die Bundesregierung verkauft es als Wohltat für die Betriebe. Die FDP hat die Generalunternehmerhaftung schon bei ihrer Einführung – im Jahr 2002 im Rahmen des Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit – abgelehnt; denn schon damals war absehbar, dass der bürokratische und finanzielle Aufwand der Regelung in keinem Verhältnis zum Nutzen – der Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung – steht. Auch mit dem aktuellen Gesetzesvorschlag wird keine Abhilfe geschaffen: Denn unter den Schlagworten „Vereinheitlichung“ und „Vereinfachung“ der Generalunternehmerhaftung verbirgt sich eine Ausweitung und Verschärfung der Haftung. Besonders augenscheinlich wird dies durch die vorgeschlagene Senkung der Haftungsgrenze für die Generalunternehmerhaftung von derzeit 500 000 Euro auf 275 000 Euro pro Gesamtbauvolumen. Damit werden nunmehr auch diejenigen Baubetriebe von der Regelung erfasst, deren Aufträge sich im Rahmen eines Gesamtbauvolumens unterhalb von 500 000 Euro bewegen. Bisher entstehen den Betrieben des Baugewerbes und den Einzugsstellen insgesamt Kosten von circa 70 Millionen Euro im gegebene Reden Dr. Heinrich L. Kolb Jahr. Die Einzugsstellen selber teilen mit, dass der Verwaltungsaufwand bei der Prüfung, ob eine Generalunternehmerhaftung in Betracht kommt, erheblich, teilweise sogar „immens“ sei. Gleichzeitig gab es bis Ende 2008 insgesamt 34 Fälle, in denen die Generalunternehmerhaftung geltend gemacht wurde. Dabei belief sich die Summe der aufgrund der Generalunternehmerhaftung angeforderten Sozialversicherungsbeiträge auf rund 213 000 Euro, wovon ein Drittel tatsächlich realisiert werden konnte. Das Missverhältnis zwischen Aufwand und Nutzen der Haftungsregelung könnte größer nicht sein! Die FDP wird den aktuellen Entwurf der Bundesregierung allein schon aus diesen Gründen ablehnen. Dabei sieht die FDP sehr wohl, dass der Gesetzentwurf auch einige tatsächliche Verbesserungen gegenüber der geltenden Rechtslage – beispielsweise bei den Entlastungsmöglichkeiten der Betriebe – beinhaltet. Dies sind jedoch lediglich Korrekturen an einem von vornherein falschen Regulierungsansatz. Die FDP bleibt deshalb dabei: Die Generalunternehmerhaftung ist eine Gängelung der Betriebe ohne erkennbaren Nutzen weder für die Sozialkassen noch für die Betriebe und die Arbeitnehmer. Sie belastet die Unternehmen in Millionenhöhe und zeigt einmal mehr, dass der Staat allzu oft dort in die Wirtschaft eingreift, wo er sich besser zurückhielte, während er an anderen Stellen wegschaut oder durch mangelnden Sachverstand erheblichen Schaden anrichtet. Für die FDP sage ich: Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind nicht hinnehmbar und müssen bekämpft werden. Ich sage für die FDP-Fraktion aber genauso klar: Die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen ändern nichts daran, dass die Generalunternehmerhaftung insgesamt ineffektiv, zu bürokratisch, zu teuer und sogar dazu angetan ist, reguläre Arbeitsplätze zu vernichten. Es ist nicht zielführend, die Unternehmer unter einen Generalverdacht zu stellen und den ehrlichen Unternehmen zusätzliche bürokratische Belastungen aufzuerlegen, um die schwarzen Schafe zu bekämpfen. Dadurch werden die seriösen Firmen mit zusätzlichen Kosten belastet. Die Bundesregierung sollte aufhören, Vorschläge zu erarbeiten, um die Generalunternehmerhaftung zu retten. Sie sollte sie abschaffen. Anstatt an den Symptomen herumzukurieren, muss man das Übel an der Wurzel bekämpfen. Wir brauchen effektive und unbürokratische Maßnahmen, um illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit und Lohndumping zu verhindern. Das wirksamste Mittel ist die Senkung der Lohnnebenkosten und Zurückhaltung bei der Mehrwertsteuer. Das hilft letztlich Unternehmen und Arbeitnehmern am besten. Hierfür hat die große Koalition in mehr als drei Jahren schwarz-roter Regierungsverantwortung in der Summe nichts bewirkt. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen brauchen die Betriebe andere politische Signale als diese. Die FDP Bundestagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf ab. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht – neben verschiedenen anderen Regelungen – vor allem eine einheitliche und vereinfachte Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft sowie endlich auch Zu Protokoll die Einbeziehung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ in die gesetzliche Unfallversicherung vor. Vor allem die Ausweitung des Unfallversicherungsschutzes auf die mittlerweile mehr als 10 000 jungen Menschen, die nun seit mehr als einem Jahr freiwillige Hilfe im Ausland leisten, begrüße ich sehr. Bislang konnten sich die Teilnehmenden dieses vom Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit ins Leben gerufenen Programms lediglich privatrechtlich versichern. Mit dem aktuellen Entwurf werden sie unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung mit Zuständigkeit der Unfallkasse des Bundes gestellt. Prinzipiell befürwortet meine Fraktion auch den zweiten zentralen Punkt, die Neugestaltung der Generalunternehmerhaftung, den Drucksache 16/12596 regeln möchte. Die Generalunternehmerhaftung ist 2002 eingeführt worden, um Schwarzarbeit zu vermeiden. Mit dieser Art von Haftung sind Generalunternehmer in der Pflicht, wenn die Nachunternehmen ihren sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten nicht ordnungsgemäß nachkommen. Das vorliegende Gesetz will das Verfahren nun verändern, laut Bundesregierung vereinfachen. Erreicht werden soll das dadurch, dass die Generalunternehmerhaftung für die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung vereinheitlicht wird. Die vorgesehene Absenkung der Haftungsgrenze von 500 000 Euro auf 275 000 Euro erweitert die Reichweite der Generalunternehmerhaftung und kann auch eine präventive Wirkung entfalten. Hauptunternehmer werden von vornherein dazu veranlasst, nur Nachunternehmer einzubinden, die in der Vergangenheit ihren Zahlungsverpflichtungen nachgekommen sind. Eine haftungsrechtliche Entlastung wird in Zukunft nur noch über den Weg der Präqualifikation möglich sein, das heißt, Subunternehmer können sich einer Zertifizierung unterziehen. Die Liste mit den präqualifizierten Bauunternehmen kann dann im Internet eingesehen werden. Diese Präqualifikation der Subunternehmer entlastet den Generalunternehmer. Diese Vorhaben sind durchaus positiv zu bewerten. Kritisieren muss ich aber an dieser Stelle, dass die Regelungen im Gesetzentwurf in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt sind. Meine Fraktion hat schon im Antrag „Verstöße gegen den Mindestlohn im Baugewerbe wirksam bekämpfen“ mit der Drucksachennummer 16/9594 einen Ausbau der Generalunternehmerhaftung gefordert und auf ihre strikte Anwendung gedrängt. Wir wollen, dass die Generalunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge, die in § 28 Abs. 3 des Vierten Sozialgesetzbuches geregelt wird, mit der Generalunternehmerhaftung für die Zahlung der Mindestentgelte nach § 1a Arbeitnehmerentsendegesetz harmonisiert wird. Dazu gehört eine komplette Abschaffung der Bagatellgrenze. Ebenso darf die Möglichkeit der Exkulpation, also einer Befreiung von der – subsidiären – Haftungspflicht, in Anlehnung an § 1a Arbeitnehmerentsendegesetz nicht mehr möglich sein. Zwar wird uns die Bauwirtschaft wieder mit Klagen über den – nach ihrer Meinung – unzumutbaren Verwaltungsaufwand für die Betriebe, der mit dem Exkulpationsverfahren mittels Unbedenklichkeitsbescheinigung verbunden ist, in den Ohren liegen. Allerdings wird dieser Aufwand spätestens gegebene Reden Katja Kipping Parl. Staatssekretär Klaus Brandner 2011 durch die Einrichtung von Weiterleitungsstellen erheblich geringer werden. Das eröffnet den Betrieben die Möglichkeit, nur noch mit einer Stelle zu kommunizieren. Bislang müssen sie sich noch regelmäßig mit mehreren Krankenkassen verständigen. In diesem Zusammenhang wäre auch noch zu klären, inwieweit die Zuständigkeit für die Geltendmachung der Generalunternehmung von den Krankenkassen auf die Deutsche Rentenversicherung übertragen werden sollte. Die IG Bau als zuständige Interessenvertretung fordert das seit längerem. Die Krankenkassen stehen untereinander im Wettbewerb, sodass die Annahme nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Rentenversicherung in diesem Fall die zuverlässigere Kontrollinstanz wäre. Unser Vorschlag einer Ausweitung der Generalunternehmerhaftung auf alle beteiligten Subunternehmer stellt ebenfalls eine sinnvolle Ergänzung des vorliegenden Gesetzentwurfs dar. Dadurch bleibt die Haftung nicht mehr auf die nächste Ebene der Subunternehmerkette beschränkt. Heute stehen noch viele Möglichkeiten einer Haftungsvermeidung offen. Gerade die Einschaltung von „Zwischenhändlern“, die nicht der Baubranche angehören und im Ernstfall nicht auffindbar oder ohne zu verwertendes Vermögen sind, stellt heute einen beliebten Weg dar, sich billig aus der Affäre zu ziehen. Diese Schlupflöcher werden nun geschlossen oder zumindest deutlich verbaut. Besonders die Bundesregierung – als Einreicherin des vorliegenden Gesetzentwurfes – ist aber noch die Antwort auf die Frage schuldig, wer das Haftungsrisiko in den Fällen trägt, in denen eine Präqualifikation der Subunternehmen erfolgt ist, die Sozialversicherungsbeiträge von den Subunternehmen aber dennoch nicht abgeführt werden. Ich hoffe, die Diskussion bringt uns auch darüber Klarheit. Illegale Beschäftigung schädigt die Wirtschaft in er heblichem Maße. Noch unter der rot-grünen Bundesregierung haben wir im Jahr 2002 gesetzlich festgeschrieben, dass Unternehmen im Baubereich für die Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten in Subunternehmen haftbar gemacht werden. Diese sogenannte Generalunternehmerhaftung kommt nur dann zur Geltung, wenn der Generalunternehmer seiner Sorgfaltspflicht unzureichend nachgekommen ist. Dies ist bislang dann der Fall, wenn das Unternehmen im Vorfeld nicht überprüft hat, ob ein Subunternehmen bei den Lohnkosten die Sozialversicherungsbeiträge zutreffend kalkuliert hat. Zu seinem Schutz kann der Generalunternehmer ferner die regelmäßige Vorlage der Beitragsnachweise durch Subund Leihunternehmer vereinbaren oder sich deren vorschriftsmäßiges Verhalten schriftlich zusichern lassen. In der Praxis haben sich diese Regelungen als recht kompliziert gezeigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung möchte die Möglichkeiten für den Generalunternehmer, sich von der Haftung zu entlasten, vereinfachen. So soll die haftungsrechtliche Entlastung vorrangig nur noch im Wege der sogenannten Präqualifikation geschehen. Somit können Unternehmen in einer Zu Protokoll allgemein zugänglichen Internetliste sehen, welche Bauunternehmen ihre Eignung bundesweit nachgewiesen haben. Wir begrüßen diesen Ansatz der Bundesregierung. Ob das Instrument der Präqualifikation das einzig sinnvolle bleibt – mit Ausnahme der Unbedenklichkeitsbescheinigung für den Übergang –, werden wir in den Ausschussberatungen evaluieren. Der Gesetzentwurf sieht zudem eine sozialversicherungsübergreifende Vereinheitlichung der Regeln vor. So wird die Generalunternehmerhaftung auf die gesetzliche Unfallversicherung ausgedehnt. Auch dies halten wir für geboten. Bündnis 90/Die Grünen begrüßen ferner die Absenkung der Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung auf 250 000 Euro je Gesamtbauvolumen. Die Absenkung von derzeit 500 000 Euro hat zur Folge, dass künftig mehr Unternehmen für ihre Subunternehmer haftbar gemacht werden. Der Gesetzentwurf sieht neben den haftungsrechtlichen Fragen vor, den Unfallversicherungsschutz auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ auszuweiten. Diese Änderung ist im Sinne der Betroffenen zu begrüßen; denn schon zu rot-grünen Zeiten haben wir den Versicherungsschutz in der Unfallversicherung auf freiwillig Engagierte im Inland ausgeweitet. Dass nun auch Menschen, die während ihres freiwilligen Einsatzes im Ausland besonderen Gefahren ausgesetzt sind, den Schutz erhalten, ist eine konsequente Fortentwicklung dieses Ansatzes. K Wenn zu später Stunde ein mehr technisch anmutender Gesetzentwurf wie das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze aufgerufen wird, ist es schwierig, einen solchen Entwurf noch spannend darzustellen. Dabei haben gerade sogenannte Omnibusgesetze angemessene Aufmerksamkeit verdient. Während die beiden Vorgängergesetze mit erheblichen Bürokratiekostenentlastungen aufwarten konnten, beläuft sich die messbare Bürokratiekostenentlastung von Informationspflichten durch dieses Gesetz auf „nur“ rund 1 Million Euro für das Verwaltungsverfahren der Künstlersozialkasse. Wichtiger als große Zahlen ist daher die Senkung der gefühlten Bürokratiebelastung, hier speziell bei den Informationspflichten zur Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft. Die im Jahr 2002 eingeführte Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft für Beitragsausfälle in der Sozialversicherung soll die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung erleichtern. Ziel der Regelung war es, den Generalunternehmer zu veranlassen, seine Nachunternehmer dazu anzuhalten, ihren sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten nachzukommen. Die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten für den Generalunternehmer, sich von dieser Haftung zu entlasten, sollen vereinfacht werden. Außerdem sollen für Haftungsgrenze und Entlastung künftig einheitliche Regelungen für alle Sozialversicherungszweige gelten. Hierzu ergreifen wir folgende Maßnahmen: erstens die Vereinheitlichung der Generalunternehmerhaftung im gegebene Reden Parl. Staatssekretär Klaus Brandner Vierten und Siebten Buch Sozialgesetzbuch, das heißt für die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung; zweitens die haftungsrechtliche Entlastung für den Generalunternehmer vorrangig nur noch im Wege der Präqualifikation, das heißt durch ein Zertifizierungsverfahren; drittens die Absenkung der Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung von bisher 500 000 Euro auf künftig 275 000 Euro je Gesamtbauvolumen. Mit der Präqualifikation nutzen wir einen eindeutigen und rechtssicheren Nachweis, der künftig auch für die Generalunternehmerhaftung eine einfache und damit unbürokratische Überprüfung der Nachunternehmer und beauftragten Verleiher ermöglicht. Bei der Präqualifikation handelt es sich um eine vorwettbewerbliche Eignungsprüfung, bei der potenzielle Auftragnehmer nach speziellen Vorgaben unabhängig von einer konkreten Ausschreibung ihre Fachkunde und Leistungsfähigkeit vorab nachweisen. Die Durchführung der Präqualifikation von Bauunternehmen erfolgt nach der Leitlinie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für die Durchführung eines Präqualifikationsverfahrens. Für die Unternehmen bietet das Präqualifikationsverfahren den Vorteil, dass sie in einer allgemein zugänglichen Internetliste des Vereins für die Präqualifikation von Bauunternehmen e.V. aufgeführt sind und so ihre Eignung bundesweit nachgewiesen ist. Die Generalunternehmerhaftung kommt künftig einheitlich ab einem geschätzten Gesamtwert aller für ein Bauwerk in Auftrag gegebenen Bauleistungen von 275 000 Euro zur Anwendung. Damit wird der bisher in der allgemeinen Sozialversicherung geltende Betrag von 500 000 Euro deutlich abgesenkt. Gleichzeitig wird die Regelung auch auf die gesetzliche Unfallversicherung erstreckt, für die in der Vergangenheit keine Mindestgrenze galt. Da die reinen Baukosten für ein konventionelles Einfamilienhaus laut Bautätigkeitsstatistik in 2007 bundesdurchschnittlich bei 178 000 Euro lagen, ist gewährleistet, dass private Eigenheimbauer weiterhin vor dem Risiko der Haftung geschützt bleiben. Die Bundesregierung hat in ihrem zweiten Bericht zur Generalunternehmerhaftung beschlossen, zeitnah die Notwendigkeit, Wirksamkeit und Reichweite der Generalunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge im Baugewerbe unter Beteiligung des Normenkontrollrates aus ihrer Sicht abschließend zu bewerten. Dies soll im Jahr 2012 in einem Bericht an die gesetzgebenden Körperschaften erfolgen. Bis dahin kann davon ausgegangen werden, dass aussagekräftige Erkenntnisse mit der Neuregelung aus der betrieblichen Praxis vorliegen. Eine weitere wichtige Änderung durch diesen Gesetzentwurf betrifft die schon oben erwähnte Einführung einer gesonderten Meldung der Künstlersozialkasse an die Krankenkassen. Ab dem 1. Januar 2009 erhalten die Krankenkassen von der Künstlersozialkasse aufgrund der Beitragsabführung an den Gesundheitsfonds keine Beitragsnachweise mehr und damit auch keine Informationen über die Höhe des voraussichtlichen Arbeitseinkommens und zu einer eventuell bestehenden Rentenversicherungspflicht für die über die Künstlersozialkasse versicherten Zu Protokoll Personen. Für die Krankenkassen und die Künstlersozialkasse führt dies zu einem erheblichen Mehraufwand. Für rund ein Viertel des Versichertenbestandes müssten ohne die Neuregelung zum Beispiel im Falle von Entgeltersatzleistungen Einzelmitteilungen erfolgen. Bisher konnten die erforderlichen Daten den monatlichen Beitragsnachweisen entnommen werden, nunmehr wäre mit einer Vielzahl von Einzelaufklärungen bei der Künstlersozialkasse zu rechnen. Durch einen automatisierten monatlichen Meldeund Beitragsnachweis an die zuständige Krankenkasse durch die Künstlersozialkasse kann dieser zusätzliche Bürokratieaufwand vermieden werden. Hierfür wurde eine Einsparung von Verwaltungskosten bei der Künstlersozialkasse von rund 1 Million Euro berechnet. Durch die erhebliche Vereinfachung des Verfahrens ist auch eine zügigere Leistungsgewährung für die Versicherten möglich. Das dritte zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes ist es, einen gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für den Freiwilligendienst „weltwärts“ zu schaffen. Durch die Erweiterung der einschlägigen Vorschrift erhalten nunmehr auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ umfassenden gesetzlichen Unfallversicherungsschutz. Das besondere Engagement der jungen Menschen, das sich in der Übernahme eines solchen Dienstes zeigt, erfährt damit Anerkennung sowie den Schutz der Solidargemeinschaft. Die Einbeziehung in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ist insbesondere erforderlich im Hinblick auf die mit der Tätigkeit im Ausland einhergehenden gesteigerten Gefährdungsrisiken, die besondere Anforderungen an die Prävention stellen. Da es sich zudem um einen Dienst handelt, der festen Rahmenbedingungen unterliegt und mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, ist die Erweiterung zugunsten der jungen Menschen, die im Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ Aufgaben im Ausland übernehmen, gerechtfertigt. Zuständig wird die Unfallkasse des Bundes. Die alleinige Zuständigkeit eines Unfallversicherungsträgers ist erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Versicherungsschutzes, insbesondere auch der Prävention, zu erreichen. Die gesetzliche Zuweisung ist darüber hinaus auch sachgerecht, da die Unfallkasse des Bundes durch ihre langjährige Erfahrung im Hinblick auf den Versicherungsschutz von Entwicklungshelfern sowie von Mitarbeitern der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH besondere Kenntnisse im Bereich der weltweiten Gesundheitsgefahren und der erforderlichen Prävention hat. Zudem wird dieser Dienst mit öffentlichen Mitteln gefördert. Bei den weiteren Änderungen im Gesetzentwurf – das liegt im Charakter eines „Omnibusgesetzes“ – handelt es sich um kleinere Anpassungen in einer Vielzahl von gesetzlichen Vorschriften, die jede für sich keine zentrale politische Bedeutung haben, aber trotzdem für die tägliche Verfahrenspraxis unserer Sozialversicherungsträger und der Sozialgerichte von Bedeutung sind. Diese Vorschläge gehen auf Anregungen aus der Praxis zurück und werden mit diesem Gesetz zeitnah umgesetzt. gegebene Reden Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent wurfs auf Drucksache 16/12596 an die Ausschüsse, die in der Tagesordnung aufgeführt sind, vorgeschlagen. – Dazu gibt es offenbar keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 29: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen – Drucksachen 16/11663, 16/12514 – Berichterstattung: Abgeordnete Maria Eichhorn Rolf Koschorrek, Mechthild Rawert, Konrad Schily, Frank Spieth und Elisabeth Scharfenberg haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Die Einschränkungen der Kostenübernahme für Maß nahmen der künstlichen Befruchtung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen, die im Rahmen des GKVModernisierungsgesetzes zum 1. Januar 2004 eingeführt wurden, erfolgten primär aus finanziellen Gründen. Zu diesem Zeitpunkt wurden aus finanziellen Gründen auch andere Kostenbeteiligungen erhöht bzw. eingeführt. Die Einschränkungen hinsichtlich der Höchstund Mindestaltersgrenzen für die künstliche Befruchtung sowie die Begrenzung von vier auf drei Versuche wurden keineswegs willkürlich und auch nicht unter rein finanziellen Aspekten gewählt. Vielmehr wurden die Beschränkungen aufgrund einschlägiger Forschungsergebnisse festgelegt. Maßgeblich waren dabei die medizinische Notwendigkeit und die Erfolgsaussicht der Behandlungen. Wie mein Kollege Hubert Hüppe bereits anlässlich der ersten Beratung des vorliegenden Antrags im Februar dieses Jahres ausführte, hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen den Altersbegrenzungen wie auch der Beschränkung auf drei Versuche ausdrücklich zugestimmt. Die derzeitige Regelung für die eingeschränkte Kostenübernahme durch die GKV-Kassen wurde darüber hinaus vom Bundessozialgericht bestätigt. Während die Diagnostik der ungewollten Kinderlosigkeit sowie die Behandlungen, Medikamente und Eingriffe für eine Herstellung der Zeugungsund Empfängnisfähigkeit ebenso wie die psychotherapeutische Behandlung in diesem Kontext fraglos von den gesetzlichen Krankenversicherungen getragen werden, ist die Unterstützung und finanzielle Förderung für die Erfüllung des Kinderwunsches durch künstliche Befruchtung auch eine familienpolitische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie ist nicht ausschließlich eine gesundheitspolitische Maßnahme, die von der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen ist. Dies dürfte vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Geburtenrückgangs und der weitreichenden gesellschaftlichen und sozialen Folgen dieser demografischen Entwicklung, die eine Reihe von weitreichenden Veränderungen mit sich bringt und unser Sozialsystem vor große Herausforderungen stellt, ganz klar sein. Insofern ist die Kostenübernahme für Maßnahmen der reproduktiven Medizin eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die durch Steuermittel und nicht durch die GKV zu tragen ist. Eine weitere Erhöhung der GKV-Beiträge für eine bessere und vollständige Finanzierung der Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, so wie sie die Fraktion der Linken in dem hier vorliegenden Antrag fordert, wäre für die Beitragszahler weder einsehbar noch zumutbar. In der CDU/CSU besteht Konsens darüber, dass es unser Wunsch und Ziel ist, einer noch größeren Zahl von Paaren zur Erfüllung ihres Kinderwunschs mithilfe der künstlichen Befruchtung zu verhelfen. Dabei stehen wir auch einer vollen Finanzierung reproduktiver Maßnahmen im Grundsatz absolut positiv gegenüber. Da die Finanzierung jedoch bei realistischer und ehrlicher Betrachtung von den öffentlichen Haushalten nicht im vollen Umfang für alle Betroffenen zu leisten sein wird, ist es zum Beispiel denkbar, einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss einzuführen, der nach finanzieller Bedürftigkeit gestaffelt wird. So könnten wir es künftig verhindern, dass Paare wegen der nicht unerheblichen Kostenbeteiligung von 50 Prozent an den ersten drei Versuchen auf eine reproduktionsmedizinische Behandlung verzichten oder die Versuche hierzu vorzeitig abbrechen. Dafür tritt auch unsere CDU-Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ein. Um Paaren mit Kinderwunsch auch in schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen den Zugang zu den Methoden der modernen Reproduktionsmedizin zu ermöglichen, begrüßt sie ganz ausdrücklich die von der CDU-geführten Landesregierung in Sachsen beschlossene Regelung zur Kostenübernahme für die Kinderwunschbehandlung. Die Ministerin prüft, inwieweit ergänzend zu einem Länderanteil zur Finanzierung einer Kinderwunschbehandlung gegebenenfalls auch Mittel aus dem Haushalt des Bundesfamilienministeriums bereitgestellt werden können. Sachsen hat als erstes Bundesland eine zusätzliche Förderung der künstlichen Befruchtung aus den Mitteln seines Landeshaushaltes beschlossen und damit eine Vorreiterrolle übernommen. Das Land zahlt seit März dieses Jahres für die zweite und dritte Behandlung zur künstlichen Befruchtung jeweils bis zu 900 Euro und für die vierte bis zu 1 800 Euro. Die ebenfalls CDU-geführten Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Hessen wollen daraufhin eine ergänzende finanzielle Unterstützung für die Kinderwunschbehandlung aus den Haushalten ihrer jeweiligen Länder prüfen. Aber im rot-roten Berliner Senat, der Landesregierung, wo die Linken an der Regierungsverantwortung beteiligt sind, wird eine finanzielle Unterstützung für die ungewollt kinderlosen Paare nicht einmal in Erwägung gezogen, sondern mit Hinweis auf die angespannte Haushaltslage abgeschmettert. Wir können uns glücklich schätzen, in einer Zeit zu leben, in der der medizinische Fortschritt uns eine Viel Dr. Rolf Koschorrek zahl von neuen und stetig wachsenden Möglichkeiten zur Diagnose und Therapie von Krankheiten erlaubt. Dies bedeutet für viele Menschen eine verbesserte Lebensqualität und dass sie ein höheres Lebensalter erreichen. Auch auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin verfügen wir heute über neue, modernste Methoden und können bereits Erfolge erzielen, die noch vor einigen Jahren utopisch erschienen. Zugleich möchte ich gerade im Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung davor warnen, bei den ungewollt kinderlosen Paaren zu hohe Erwartungen zu wecken und den Eindruck zu vermitteln, eine Erfüllung des Kinderwunschs sei heute in jedem Falle machbar, wenn man nur genügend Versuche zur künstlichen Befruchtung auf sich nehme. Vielmehr muss ins Bewusstsein gerufen und in die Beratung einbezogen werden, wie der jeweils besonderen und individuellen Situation der betroffenen Paare angemessen Rechnung zu tragen ist. Hier müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, um die Rahmenbedingungen für die Entscheidungen der Paare zu verbessern. Wir dürfen keine unrealistischen Hoffnungen wecken, sondern wir müssen die Paare mit Kinderwunsch realistisch über die Erfolgsaussichten, die medizinischen Risiken und die körperlichen und psychischen Belastungen der Kinderwunschbehandlung aufklären. Was bedeutet aktive Familienpolitik heute? Wenn es nach dem vorliegenden Antrag „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ der Fraktion Die Linke geht, Rückschritt. Die Behebung ungewollter Kinderlosigkeit durch künstliche Befruchtung ist jedoch sehr viel mehr als Gesundheitspolitik, sie ist eine Herausforderung für eine aktive Familienpolitik. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, den alten Rechtszustand von vor 2004 im Hinblick auf die Finanzierung der künstlichen Befruchtung che, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 27. Januar zum wiederholten Mal bestätigt hat, dass die assistierte Reproduktion keine Krankheit ist, deren Kosten voll von der Solidargemeinschaft der Versicherten zu tragen ist, beweist: Der Antrag der Linksfraktion geht fehl. Mir ist sehr wohl bewusst: Die Belastung ungewollter Kinderlosigkeit ist für viele Menschen sehr groß ist. Vor allem für wirtschaftlich schlechter gestellte Paare ist es oft schwer, die erforderlichen Eigenleistungen für die Zyklen der assistierten Reproduktion aufzubringen. Der Rückgang der durch Maßnahmen der künstlichen Befruchtung erzielten Geburten von circa 19 000 auf gut 10 000 ist ein Indiz dafür. Deshalb ist hier eine aktivere Familienpolitik der zuständigen Bundesfamilienministerin nötig! Ich habe Frau von der Leyen deshalb im Rahmen der ersten Lesung dieses Antrags aufgefordert, sich bei diesem Thema eindeutig zu positionieren und eine aktive Familienpolitik zu betreiben. In der Folge wurden die Initiativen einzelner Bundesländer zur Förderung der künstlichen Befruchtung von der Ministerin zwar begrüßt, und es wurde angekündigt, für eine bundesweit einheitliche Regelung eine mögliche Finanzierung durch ihr Haus prüfen zu lassen. Bisher jedoch ist es leider nur Zu Protokoll bei einer Prüfung ohne politische Konsequenzen seitens des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend geblieben. Wenn Frau von der Leyen weiter meint, sie hätte die Diskussion um die künftige Finanzierung der künstlichen Befruchtung belebt, dann ist mir das eindeutig zu wenig. Wer A sagt, muss dann auch irgendwann B sagen. Konkrete Pläne der Bundesfamilienministerin sind aber leider auch aus den aktuellen Äußerungen des Staatssekretärs Kues vom 17. April 2009 nicht zu erkennen. Eine Gesamtlösung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist aber notwendig, um einen föderalen Flickenteppich, wie er sich jetzt leider andeutet, zu vermeiden. Deshalb gilt: Ein einheitliches familienpolitisches Konzept des zuständigen Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur künstlichen Befruchtung muss noch vor der Bundestagswahl im September auf den Tisch! Ein solches Konzept wäre auch eine logische Konsequenz der aktuellen Rechtsprechung der Bundesverfassungsrichter und -richterinnen. Diese haben mit ihrem Beschluss erneut begründet, dass die seit dem 1. Januar 2004 geltende Begrenzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft einen Zuschuss von 50 Prozent verfassungsgemäß ist und bleibt. Nach Ansicht der Karlsruher Richter beseitigt die künstliche Befruchtung aus dem Reagenzglas keinen regelwidrigen körperlichen Zustand, sondern umgeht ihn mithilfe medizinischer Technik, ohne auf dessen Heilung zu zielen. Damit wird auch der von den CDU-geführten Ländern Saarland, Sachsen und Thüringen in den Bundesrat eingebrachte und von der Länderkammer am 3. April 2009 erneut beschlossene Antrag zu diesem Thema relativiert. Darin fordert der CDU-dominierte Bundesrat die volle Kostenübernahme der künstlichen Befruchtung durch die Krankenkassen. Die zusätzlichen Kosten für die Krankenkassen werden auf 100 bis 150 Millionen Euro geschätzt. Im Hinblick auf die schon erwähnte demografische Entwicklung seien alle Maßnahmen zu unterstützten und zu fördern, die „ansonsten nicht realisierbare“ Kinderwünsche ermöglichen helfen könnten, heißt es in diesem Antrag. Die Karlsruher Richter und Richterinnen sehen die derzeitige Regelung auch in Einklang mit Art. 3 des Grundgesetzes, da das GKV-Modernisierungsgesetz von 2004 alle Versicherten rechtlich gleich behandle. Zwar könne es leider vorkommen, dass finanziell schwache Personen die Kosten für die künstliche Befruchtung (pro Zyklus bis zu 3 500 Euro)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621729900

(A) (C)


(B) (D)

Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1621730000




(A) (C)


(B) (D)

Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1621730100
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1621730200




(A) (C)


(B) (D)

Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621730300




(A) (C)


(B) (D)

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621730400
Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1621730500




(A) (C)


(B) (D)

Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1621730600







(A) (C)


(B) (D)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621730700

(14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

Dr. Rolf Koschorrek (CDU):
Rede ID: ID1621730800

(A) (C)


(B) (D)

Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1621730900
ten Umfang finanzieren können. In Bezug auf Maßnah-
men der künstlichen Befruchtung bestehe jedoch keine
staatliche Verpflichtung des Gesetzgebers, die Entste-
hung einer Familie aus dem Finanzierungstopf der Bei-
tragsgelder der gesetzlichen Krankenversicherung zu
fördern. Es handle sich um eine in seinem Ermessen ste-
hende Leistung, die nicht medizinisch für eine Therapie
notwendig sei, sondern die Wünsche einer/eines Versi-
cherten für ihre/seine individuelle Lebensgestaltung be-
treffe. Soweit die Rechtsprechung, die für viele ungewollt
Kinderlose – das ist mir aus vielen Gesprächen bewusst –



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Rawert
schwer zu ertragen ist. Nicht zu ertragen sind aber auch

(wie zum Beispiel vom Bundesvorsitzenden der Senioren-Union, Otto Wulff)

Abtreibungen durch die Krankenkassen zulasse, der Kin-
derwunsch jedoch finanziell bestraft werde. Das macht
deutlich, welch Geistes Kind einige ältere Herren aus den
Reihen der Christdemokraten sind. Man könnte fast den
Eindruck gewinnen, die Solidargemeinschaft hätte sich
aus der Finanzierung von medizinischer Hilfe bei Kinder-
losigkeit komplett zurückgezogen. Deshalb hier noch mal
zu Erinnerung: Alle Mitglieder der GKV haben – unter
anderem aufgrund des § 27 SGB V – bei ungewollter Kin-
derlosigkeit weiterhin einen Leistungsanspruch auf
Krankenbehandlung! Die Kosten für die Diagnostik der
ungewollten Kinderlosigkeit werden grundsätzlich über-
nommen und durch Beitragsgelder und Steuerzuschüsse
finanziert. Dies gilt auch für medizinische Maßnahmen
zur Herstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit
beispielsweise durch chirurgische Eingriffe, die Verord-
nung von Medikamenten oder auch durch eine psychothe-
rapeutische Behandlung. Die beschriebenen Maßnahmen
haben Vorrang vor der künstlichen Befruchtung durch
zum Beispiel intrauterine Insemination (IUI), durch die
In-vitro-Fertilisation (IVF) und/oder intrazytoplasmati-
sche Spermieninjektion (ICSI). Wenn diese Maßnahmen
nicht greifen, übernimmt die zuständige Krankenkasse
für Ehepaare 50 Prozent der Behandlungskosten und Me-
dikamente für bis zu drei Versuche. Grundlage ist der von
ihr im Vorfeld zu bewilligende Behandlungsplan. Die
übrigen 50 Prozent sind als Eigenanteil zu erbringen.

Doch zurück zum Antrag der Linksfraktion. Bei der
Lektüre der Begründung des Antrags der Fraktion Die
Linke fühlte ich mich auch an ein Zitat von Adalbert
Stifter erinnert, das da lautet:

Das Leben scheint unendlich lang, solang man
noch jung ist. Man meint noch viel Zeit vor sich zu
haben und erst einen kurzen Weg gegangen zu sein.
Vieles schiebt man deshalb auf die lange Bank, in
dem Glauben, es jederzeit nachholen zu können.
Aber wenn man es vornehmen will, ist es zu spät,
und man merkt, dass man alt ist.

Lassen Sie mich kurz erläutern, was ich damit meine:
Die Linke spricht sich in ihrem Antrag „Kürzungen bei
künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ unter anderem
dafür aus, die Altersgrenzen bei der sogenannten assis-
tierten Reproduktion wieder anzuheben. Die volle Kos-
tenübernahme für Versuche der künstlichen Befruchtung
soll bei Männern über das 50. Lebensjahr und bei Frauen
über das 40. Lebensjahr hinaus greifen. Die derzeit gül-

(bei Frauen von 25 bis 40 Jahren, bei Männern von 25 bis 50 Jahren)

GKV-Modernisierungsgesetzes im Jahr 2004 im Bereich
der künstlichen Befruchtung als letzte Förderungsmög-
lichkeit der gesetzlichen Krankenversicherungen festge-
legt. Hebt man diese Altersgrenzen jedoch wieder an, wie
es Die Linke mit ihrem Antrag beabsichtigt, kann ich nur
einmal mehr Adalbert Stifter in Erinnerung rufen: Dann
nämlich kann es für so manche Frau und manchen Mann
erst recht zu spät sein, sich ihren Kinderwunsch zu erfül-
len. Der Antrag der Fraktion Die Linke bedeutet deshalb
Zu Protokoll
ein vollkommen falsches gesellschafts- und familienpoli-
tisches Signal an die Frauen und Männer in unserem
Land.

Was heißt das für die Kinder und die Eltern in der Zu-
kunft? Unsere Gesellschaft wird, diese Tatsache ist un-
strittig und höchst positiv zu bewerten, immer älter. Dafür
sorgt auch der medizinische Fortschritt. Heißt das aber
zwangsläufig auch, dass Eltern immer älter werden müs-
sen und – bitte verzeihen Sie die Polemik – ihre Kinder
künftig bevorzugt nach dem eigenen Renteneintritt ein-
schulen? Wer die Altersgrenze, bis zu der Paare mit staat-
licher Unterstützung Eltern werden können, immer weiter
nach hinten verschiebt, gibt dem Primat der ökonomi-
schen Verwirklichung einen zu weiten Raum. Viele Bürge-
rinnen und Bürger denken doch heute schon: Kinder und
Familiengründung müssen warten, bis ich im Beruf er-
folgreich und fest verankert bin. – Darum schieben sie die
Entscheidung für Kinder und für eine Familiengründung
oft so weit auf, bis ihnen die Biologie die Entscheidung
auf oft schmerzliche Weise abnimmt.

Ich hatte diesen entscheidenden Punkt, der meiner
Meinung nach in der gesamten Debatte noch zu kurz
kommt, bereits in meiner Rede vom Februar angespro-

(vergleiche meine Plenarrede zum Antrag der Fraktion Die Linke „Kürzungen bei künstlichen Befruchtungen zurücknehmen“ in der 1. Lesung vom 12. Februar 2009)

Frauen, aber eben auch Männer in ihrem Wunsch unter-
stützen, möglichst frühzeitig Familie und Karriere mit-
einander verbinden zu können. Wir müssen zusammen mit
den Kolleginnen und Kollegen auf Länderebene noch
bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Frauen und
Männer nicht vor dem Dilemma „Karriere oder Kind“
stehen. Hier ist aber nicht nur der Gesetzgeber im Bund
und in den Ländern gefragt. Auch Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber müssen, zum Beispiel mit der Ausgestaltung
flexiblerer Arbeitszeitmodelle, ihren Teil dazu beitragen.
Die Gesellschaft insgesamt muss kinderfreundlicher wer-
den. Gerade weil wir alle viel mehr Kinder in unserem
Land wollen, ist für eine erfolgreiche und lebenswerte Zu-
kunft unseres Gemeinwesens eine verbesserte Familien-
politik vorrangig. Ich begrüße in diesem Zusammenhang
noch einmal die Initiative des Bundeslandes Sachsen, wo
die künstliche Befruchtung bei Frauen als familienpoliti-
sche Leistung unter bestimmten Voraussetzungen ab dem
zweiten Versuch finanziell gefördert wird. Andere Länder
prüfen in ihren Budgets die Spielräume für ähnliche Maß-
nahmen. Es muss jedoch eine bundeseinheitliche Lösung
der Familienpolitik geben, damit nicht der Wohnort da-
rüber bestimmt, ob Frauen und Männer eine künstliche
Befruchtung finanziert bekommen oder nicht.

Bei der ganzen, oft emotional geführten Debatte soll-
ten wir auch folgende Punkte nicht aus den Augen verlie-
ren. Viele Faktoren spielen für eine erfolgreiche künstli-
che Befruchtung eine Rolle: Neben dem Alter entscheidet
auch die gesundheitliche Verfassung über Erfolg und
Misserfolg. Vor allem die psychische und physische Be-
lastung der Frauen und Männer ist während einer Be-
handlung enorm hoch. Nicht selten sind es auch seelische
Gründe, die einer Schwangerschaft im Wege stehen. Hier
helfen in vorbildlicher Weise – auch in Berlin – Selbsthil-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Rawert
fegruppen weiter, die bei der psychologischen Betreuung
und Beratung von Betroffenen helfen. Ebenso wenig
sollte verschwiegen werden, dass es mit der Verbreitung
der sogenannten assistierten Reproduktion zu vermehrten
Mehrlingsschwangerschaften kommt. Insgesamt 40 Pro-
zent der Kinder, die in Deutschland nach assistierter Re-
produktion geboren werden, sind Mehrlinge. Das Pro-

(erhöhtes Risiko für Kaiserschnittentbindung)

fungsdefizite, niedriges Geburtsgewicht, Kindstod und
Behinderung) steigt bei Mehrlingsgeburten deutlich. Bei
allen medizinischen Möglichkeiten der Moderne: Die
Hauptursache für ungewollte Kinderlosigkeit ist und
bleibt die Verschiebung der Familienplanung in spätere
Lebensphasen. Hier muss auch die Politik dringend Ant-
worten finden. Die SPD war und ist der Motor des fami-
lienpolitischen Paradigmenwechsels der vergangenen
zehn Jahre – nicht die Fraktion Die Linke und auch nicht
Ministerin von der Leyen. Wir waren die Partei, die in den
vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen hat,
dass Frauen und Männer Beruf und Familie besser unter
einen Hut bekommen. Doch noch ist hier nicht das Ende
der Fahnenstange erreicht: Nach wie vor sind es die
Frauen, die für die Familie und den Haushalt hauptver-
antwortlich sind. Nach wie vor sind sie es, die den Groß-
teil der Elternzeit nehmen und dafür aus dem Beruf
aussteigen. Wir brauchen ein neues Verständnis von Fa-
milien ein Familienverständnis von zwei gleichberechtig-
ten Partnern, für die Kinder nicht zum Karrierehemmnis
werden und im schlimmsten Fall den Ausstieg aus dem
Erwerbsleben bedeuten. Hierfür brauchen wir auch eine
Neugestaltung unseres Steuerrechts, gleiche Karrierechan-
cen für Frauen durch ein Gleichstellungsgesetz für die
Privatwirtschaft, mehr Väter in der Familie, den Ausbau
staatlicher Infrastruktur und vieles mehr. Auch das ist ak-
tive Familienpolitik!

Mein Fazit: Die Linke glaubt, der Komplexität der Ma-
terie durch den einseitigen Fokus auf die Finanzierung
gerecht zu werden. Hier irrt sie. Die Linke will die finan-
ziellen Hilfen bei künstlichen Befruchtungen aus Bei-
tragsgeldern erhöhen. Zur Ausweitung der jetzigen Leis-
tungen bei künstlicher Befruchtung auf alle, hetero- und
homosexuellen, Lebensformen und damit die familienpo-
litische Gleichstellung von Regenbogen- und anderen Fa-
milien findet sich in der Begründung des Antrags aber
nur die vage Formulierung, dass „die derzeitige Begren-
zung auf verheiratete Paare einer erweiterten Regelung
bedarf“. Klar ist, dass im Sinne ungewollt kinderloser
Paare die Diskussion fortgeführt werden muss. Wer aber
den Betroffenen wirklich helfen und nicht nur ein Thema
besetzen will, muss ein stringentes gesundheits- und vor
allem familienpolitisches Maßnahmebündel schnüren
und es entsprechend formulieren. Das aber erfüllt der An-
trag der Fraktion Die Linke zu „Kürzungen bei künstli-
cher Befruchtung zurücknehmen“ weiterhin nicht. Die
SPD-Fraktion lehnt den Antrag deshalb ab.


Dr. Konrad Schily (FDP):
Rede ID: ID1621731000

Wie wir alle wissen, ist die Kinderlosigkeit ein sehr

emotional diskutiertes Thema in Deutschland. Künstliche
Befruchtungen scheinen die glückbringende Lösung für
Zu Protokoll
den biografischen „Störfall“ der Kinderlosigkeit zu sein.
Das ist ein Trugschluss! Ich bin als Arzt davon überzeugt,
dass die medizinisch-psychologischen Risiken und die
Komplexität der Problematik einer sensiblen Betrach-
tung bedürfen. Nur eine Rücknahme der im GKV-Moder-
nisierungsgesetz vorgenommenen Einschränkungen der
Kostenübernahme für Maßnahmen zur künstlichen Be-
fruchtung – wie es der Antrag der Linken vorsieht – greift
hier zu kurz. Zudem ist ein originär familien- und sozial-
politisches Problem wie die Kinderlosigkeit nicht allein
auf technischem Wege zu lösen. Vielmehr sollte diese sen-
sible Thematik über eine Ausweitung von Informations-
und Aufklärungsangeboten auch über gesundheitliche
Risiken und Folgeschäden ergänzt werden.

Wir vertreten die Position, dass die Finanzierung der
künstlichen Befruchtung nicht in den Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenkassen gehört, sondern, wenn
bevölkerungspolitisch erwünscht, eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe ist, die aus Steuermitteln finanziert
werden muss.

Den vorliegenden Antrag lehnen wir aus den darge-
legten Gründen ab.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621731100

Eine künstliche Befruchtung darf nicht vom Geldbeutel

der betroffenen Paare abhängen. Seit 2004 müssen die
Betroffenen jedoch die Hälfte der Kosten selbst tragen.
Diese finanzielle Hürde, die CDU/CSU, SPD und Grüne
geschaffen haben, wollen wir wieder abschaffen.

Die Betroffenen müssen zahlen, können es aber oft
nicht. Durch die Gesetzesänderung 2004 sind die Geburten
nach künstlicher Befruchtung um etwa die Hälfte einge-
brochen und verharren seitdem auf diesem Niveau. Im
Klartext bedeutet das: Dahinter stecken Tausende Betrof-
fene, die gerne ein Kind bekämen, aber das Geld für die
künstliche Befruchtung nicht auftreiben können. Knapp
50 000 Behandlungen pro Jahr werden seitdem weniger
durchgeführt. Pro Versuch müssen die Betroffenen etwa
1 750 Euro draufzahlen. Da der vierte Versuch seit 2004
gar nicht mehr übernommen wird, sind dies nach vier
Versuchen etwa 8 750 Euro Eigenbeteiligung. Das können
viele Paare mit Kinderwunsch nicht aufbringen.

Seit wir dies fordern und aus den Bundesländern ähnli-
che Vorschläge kommen, gibt es wieder eine breite öffent-
liche Debatte zum Thema. Noch vor eineinhalb Jahren, als
wir die künstliche Befruchtung auch für nichtverheiratete
Paare gefordert haben, hat dieses Thema kaum jemanden
interessiert. Ich finde es gut, dass dies jetzt anders ist. Offen-
kundig wird in allen Fraktionen die Begrenzung der künst-
lichen Befruchtung auf drei Versuche und die 50-prozentige
Kostenbeteiligung der Betroffenen als problematisch an-
gesehen.

Selbst die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf.
Leider mit vollkommen unterschiedlichen Lösungsansätzen.
Die Bundesgesundheitsministerin sagt, die Finanzierung
der künstlichen Befruchtung sei eine gesamtgesellschaft-
liche Aufgabe und daher aus Steuermitteln zu bezahlen
und nicht durch Krankenversicherungsbeiträge. Sie will,
dass das Bundesfamilienministerium dies regelt. Ja, diesem



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
Lösungspfad kann man folgen. Dann muss aber endlich
gehandelt werden. Die Familienministerin fordert mehr
Unterstützung für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch.
Ja, dann frage ich: Warum machen Sie das nicht endlich?
Sie sind die Regierung. Sie haben im Bundestag fast drei
Viertel der Sitze. Sie haben die Mehrheit im Bundesrat.
Die Bundesländer haben ja im Bundesrat gefordert, wieder
zum alten Gesetzeszustand des Jahres 2003, also vor der
Kürzung, zurückzukehren. Die einzigen, die hier bremsen,
sind die Bundesregierung und die große Koalition aus
Union und SPD.

Ich habe den Eindruck, es wird getarnt, getäuscht, ge-
trickst, und das auf dem Rücken der Betroffenen. Das ist
nicht christdemokratisch und auch nicht sozialdemokra-
tisch. Das ist absurd und zynisch.

Die Bundesfamilienministerin hat angekündigt, in die
nächsten Haushaltsgespräche die Frage der Finanzierung
der künstlichen Befruchtung einzubringen. Weshalb so
zögerlich? Bei anderen Projekten der Bundesregierung
wird ganz schnell und ohne formale Haushaltsberatung
deutlich mehr Geld eingestellt. Ich will an dieser Stelle gar
nicht über die 500 Milliarden Euro für den Bankenret-
tungsschirm reden. Einen Vergleich möchte ich allerdings
ziehen, und zwar zu Ihrer Handlungsfähigkeit im Rahmen
des Konjunkturpaketes II und der darin verabredeten
Abwrackprämie. Den Umtausch von alten Autos in neue
fördert die Bundesregierung mittlerwelle insgesamt mit
einem Finanzvolumen von 5 Milliarden Euro. Die Kür-
zungen bei der künstlichen Befruchtung zurückzunehmen,
würde etwa 100 Millionen Euro pro Jahr kosten. Wir
könnten also mit dem gleichen Mittelansatz wie bei der
Abwrackprämie 50 Jahre lang die Vollfinanzierung der
künstlichen Befruchtung sicherstellen. Fürwahr ein
humanitäres und soziales Zukunftsprojekt für unsere Ge-
sellschaft.

Es geht also wie so oft um die Gretchenfrage: „Was
sind uns Kinder, was Familien wert?“ Wir schlagen vor,
dass die Krankenkassen zukünftig wieder vier Versuche
voll übernehmen, dafür aber als Ausgleich einen entspre-
chend erhöhten Steuerzuschuss erhalten sollen. Faktisch
soll also zukünftig die Hälfte der Gesamtkosten von der
gesetzlichen Krankenversicherung, die andere Hälfte aus
Steuern bezahlt werden. Die Koalitionsfraktionen lehnen
dies bislang ab.

Genau bei dieser Gretchenfrage zeigen sich die tatsäch-
lichen Prioritäten der Bundesregierung und der Koalition.
Es geht nicht darum, dass kein Geld da ist, sondern dass
man es nicht für die künstliche. Befruchtung bereitstellen
will.

Ich befürchte, dass die Mehrheit in diesem Hause unse-
ren Antrag ablehnen wird. Und dies nur deshalb, weil er
von der Linken kommt. Auf die Inhalte kommt es der Ko-
alition sehr wahrscheinlich nicht an. Wenn Sie aber schon
unseren Antrag ablehnen, dann hören Sie wenigstens auf
den Bundesrat, der in seiner Sitzung am 3. April 2009 er-
neut gefordert hat, die Kürzungen zurückzunehmen. Der
Bundesrat fordert die komplette Übernahme der Kosten,
aber ausschließlich durch die Krankenkassen. Dies ent-
spricht nicht ganz unseren Vorstellungen, wäre aber für
die Betroffenen eine große Hilfe.
Zu Protokoll
Eine solche Änderung ließe sich in dem derzeit laufenden
Verfahren zum Arzneimittelgesetz ganz einfach unterbrin-
gen. Das ist die letzte Chance vor der Bundestagswahl, den
Betroffenen zu helfen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne wissen, dass das Thema der künstlichen Be-
fruchtung die Menschen, die ungewollt kinderlos sind
und sich sehnlich ein Kind wünschen, sehr stark belasten
kann. Sie sind bereit, alles erdenklich Mögliche dafür zu
tun, und erwarten dafür die uneingeschränkte gesell-
schaftliche Solidarität durch die Krankenversicherung.
Sie stoßen jedoch auf rechtliche Beschränkungen, wie die
Beteiligung an einer eingeschränkten Anzahl von Versu-
chen, vergleichsweise hohe Zuzahlungen oder Alters-
grenzen bei der künstlichen Befruchtung. Dies empfinden
die Betroffenen als zusätzliche Belastung und als rein
technokratische Hemmnisse.

Der Antrag der Linken wie auch der entsprechende
Antrag des Bundesrates geben vor, diese Empfindungen
aufzugreifen und eine Lösung dafür anzubieten. Auch wir
Grüne können die Belastung der Betroffenen sehr gut
nachvollziehen und wollen sie keineswegs wegreden.
Dennoch lehnen wir den Antrag der Linken ab. Wenn-
gleich das Thema natürlich sehr emotional ist, halten wir
es für wichtig, das Für und Wider in dieser Debatte genau
und sachlich abzuwägen. Und dabei liegt uns das Wohl
der betroffenen Frauen und Männer sehr wohl am Her-
zen. Wir in der Politik müssen aber bei unseren Entschei-
dungen das Problem abstrahieren und dabei auch die In-
teressen anderer in den Blick nehmen, zum Beispiel die
der Beitragszahlerinnen und -zahler, für die der Vor-
schlag der Linken eine Mehrbelastung bedeuten würde.
Gleichzeitig bestehen hier auch wirtschaftliche Interes-
sen von Pharmaunternehmen und Praxen .

Bereits in der ersten Lesung des Antrags im Februar
haben wir deutlich gemacht, dass die Linke nicht weiß,
was sie will. Erst im Jahr 2008 forderte sie in einem An-
trag zum selben Thema, dass der von den Krankenkassen
zu übernehmende hälftige Anteil der Kosten der künstli-
chen Befruchtung nicht nur Ehepaaren, sondern auch
nichtehelichen Partnern zugute kommen müsse. In ihrem
aktuellen Antrag fordert die Linke, dass die Krankenkas-
sen wieder die vollen Kosten der künstlichen Befruchtung
übernehmen – aber nur für Ehepaare. Diesen merkwür-
digen, konservativen Sinneswandel zu erklären, unter-
lässt die Linke, weil sie es vermutlich gar nicht kann.
Alleinstehende Frauen oder Lesben sollen von dem
aktuellen Vorschlag der Linken nicht profitieren. Doch
auch sie können selbstverständlich stark unter einem un-
erfüllten Kinderwunsch leiden. Wo bleibt das Verständnis
der Linksfraktion für diese Frauen? Spielt bei ihnen das
Selbstbestimmungsrecht, mit dem die Linke argumentiert,
keine Rolle?

Alle Änderungen zur künstlichen Befruchtung, die mit
der Gesundheitsreform 2003 vorgenommen wurden, sol-
len nach Ansicht der Linken pauschal zurückgenommen
werden. Auch die Altersgrenzen für Frauen wie Männer
sollen wieder abgeschafft werden. Diese Altersgrenzen



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Elisabeth Scharfenberg
sind 2003, entgegen der Meinung der Linken, nicht etwa
willkürlich, sondern nach reiflicher Überlegung ins Ge-
setz aufgenommen worden. Die Altersgrenzen sollen
junge Frauen bis zum 25. Lebensjahr davor schützen, wo-
möglich überstürzt eine unnötige Maßnahme der künstli-
chen Befruchtung vornehmen zu lassen. Genauso sollen
Frauen nach dem 40. Lebensjahr vor solchen Maßnah-
men bewahrt werden, denn mit steigendem Alter steigt
auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlung erfolg-
los bleibt. Denn es handelt sich keineswegs um Bagatell-
behandlungen. Und viele Behandlungen führen nicht zum
gewünschten Ergebnis – einem Kind. Auch dies sollte klar
ausgesprochen werden. Eben darum warnen wir Grüne
vor einer zu unkritischen Haltung gegenüber Methoden
der künstlichen Befruchtung, wie der ICSI oder der IVF.
Und eben darum stehen wir zu den geltenden gesetzlichen
Bestimmungen, die Bestandteil eines damaligen Kompro-
misspaketes zwischen SPD, CDU/CSU und Grünen wa-
ren.

Die Altersgrenzen wie auch der zu zahlende Eigenan-
teil sind im Übrigen in verschiedenen Urteilen des BSG
für rechtmäßig erklärt worden. Das bestätigt, dass der
Gesetzgeber damals wohlüberlegt und nicht etwa will-
kürlich gehandelt hat. Für uns ist die Debatte deshalb je-
doch nicht erledigt. Das haben wir bereits in der ersten
Lesung zu diesem Antrag deutlich gemacht. Wir sind sehr
wohl im Interesse der Betroffenen dafür, weiter zu disku-
tieren und neue Erkenntnisse zu erzielen. Dabei jedoch
ausschließlich über die finanziellen Rahmenbedingungen
der künstlichen Befruchtung zu streiten, ist viel zu kurz
gesprungen und wird auch den Betroffenen nicht gerecht.
Es geht um mehr als um die Finanzierung der Behand-
lung, nämlich auch darum, wie riskant und wie wirksam
die Behandlungen wirklich sind.

Nicht zuletzt darum haben wir Grüne und auch die
SPD – nicht etwa die Linke – vorgeschlagen, dass wir ei-
nen Bericht über den Stand, die Vorteile, Risiken und die
Perspektiven der Fortpflanzungsmedizin brauchen. Die-
sem Vorschlag ist der Forschungsausschuss des Bundes-
tages gefolgt. Das Büro für Technikfolgenabschätzung,
TAB, wird eine entsprechende Studie erstellen. Darin sol-
len Methoden der Fortpflanzungsmedizin, aber auch
nichttechnische Maßnahmen, zum Beispiel die psychoso-
ziale Beratung, in ihrer Wirksamkeit auch im internatio-
nalen Vergleich beleuchtet werden. Nicht zuletzt soll
daraus abgeleitet werden, ob die rechtlichen und auch
nichtrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland
ausreichend oder womöglich verbesserungswürdig sind.

Die Ergebnisse dieser Studie sollen etwa Mitte nächs-
ten Jahres vorliegen. Dies ist ein absehbarer Zeitraum.
Wir plädieren nochmals dafür, diesen Bericht und seine
Empfehlungen abzuwarten, um dann auf dieser Grund-
lage die Debatte fortzuführen. In der Zwischenzeit sollte
man auf widersprüchliche und wenig durchdachte Vor-
stöße wie den der Linken doch bitte verzichten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621731200

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-

schlussempfehlung auf Drucksache 16/12514, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11663
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die
Beschlussempfehlung bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Zustimmung des Hauses im Übrigen an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 26:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung von Bürgerportalen und zur Änderung
weiterer Vorschriften

– Drucksache 16/12598 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien

Clemens Binninger, Michael Bürsch, Gisela Piltz, Jan
Korte und Silke Stokar von Neuforn haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1621731300

Unser Kommunikations- und Informationsverhalten

verändert sich. Dem tragen wir mit dem sogenannten
Bürgerportalgesetz Rechnung. Hinter dem Bürgerportal-
gesetz steht das Projekt De-Mail – ein sicherer und zuver-
lässiger Weg, Informationen per E-Mail zu verschicken.
Ergänzt wird De-Mail mit einer sicheren Dokumenten-
ablage namens De-Safe und dem elektronischen Identi-
tätsnachweis De-Ident.

Das Internet ist aus dem täglichen Leben der meisten
Deutschen nicht mehr wegzudenken. Rund 70 Prozent al-
ler Privathaushalte in Deutschland haben einen Internet-
zugang. Das ist fast ein Fünftel mehr als noch 2003. Alle
Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten und auch die
meisten kleineren Unternehmen verfügen über einen In-
ternetzugang. Das bietet neue Möglichkeiten und neue
Herausforderungen, vor denen auch die öffentliche Ver-
waltung steht. Bereits 2007 nutzten rund die Hälfte der
Unternehmen mit Internetzugang e-Government-Ange-
bote. Beim e-Government sind 14 500 Kommunen, die
16 Länder und der Bund aktiv.

Wir erfahren es täglich: Mit der Nutzung moderner
Kommunikations- und Informationstechnologie ist im
Privaten wie im Geschäftlichen vieles einfacher, schnel-
ler und kostengünstiger geworden. Einkaufen, Bankge-
schäfte erledigen, Reisen buchen – all das ist heute für die
meisten von uns nicht mehr ohne Internet und E-Mail
denkbar. Aber: Die Entwicklung der Informations- und
Kommunikationssysteme hat nicht nur positive Seiten.
Unsere IT-Infrastrukturen sind zunehmend auch Ziel von
Angriffen, von denen jeder Nutzer betroffen ist. Bereits
4 Millionen Deutsche sind Opfer von Internetkriminalität
geworden. Beispiele könnte man viele nennen: Laut Um-
fragen aus dem Medien- und Kommunikationsbericht der
Bundesregierung sind von rund 100 empfangenen E-Mails
durchschnittlich gerade einmal 1,5 Mails gewünscht.
Personenbezogene Daten, Passworte und Zugangsinfor-
mationen werden gestohlen, missbraucht und zu Geld ge-
macht. Ich denke, gerade diese Gefahren spiegeln sich im
Bewusstsein der Öffentlichkeit und in der Wahrnehmung


(A) (C)



(B) (D)


Clemens Binninger
des einzelnen Nutzers nicht ausreichend wider. Diese Ge-
fährdungen bedrohen in steigendem Maße private Kom-
munikation und wirtschaftliche Aktivitäten.

Deshalb müssen private Nutzer, Wirtschaft und Ver-
waltung ein großes Interesse an sicherer Kommunikation
haben. Eine ganz wesentliche Voraussetzung für mehr Si-
cherheit in der elektronischen Kommunikation sind dabei
sichere Verfahren, die ohne hohen technischen und finan-
ziellen Aufwand genutzt werden können. Das spielt ge-
rade für die private Nutzung und für viele kleine und mitt-
lere Unternehmen eine große Rolle. Solche Verfahren gibt
es heute praktisch nicht. Eine Folge: Mangels Alternati-
ven werden viel zu oft persönliche, sensible oder interne
Informationen über E-Mails verschickt – und das, obwohl
fast jede normale E-Mail mit der nötigen kriminellen
Energie und begrenztem Aufwand auf dem Weg durchs
Internet wie eine Postkarte mitgelesen werden kann.
Möchte man derartige Sicherheitslücken vermeiden, wird
oft ausgedruckt und über den Postweg versendet.

Die Bundesregierung setzt daher im Rahmen der
Hightech-Strategie die Rahmenbedingungen für eine effi-
ziente und sichere vernetze Kommunikation. Das Gesetz
zur Regelung von Bürgerportalen, über das wir heute
sprechen, ist hier ein ganz wesentlicher Baustein. Kern
des Bürgerportalgesetzes ist De-Mail. Unter dem Stich-
wort De-Mail kann sicher, zuverlässig und vertraulich
über das Internet kommuniziert werden. Den Bürgerin-
nen und Bürgern und der Wirtschaft wird in Deutschland
damit die Möglichkeit gegeben, eine authentische elek-
tronische Adresse anzulegen, die mit der normalen An-
schrift vergleichbar ist. Hinter allen De-Mail-Adressen
stehen jeweils sicher identifizierte Kommunikationspart-
ner. Ergänzt wird De-Mail durch eine sichere Dokumen-
tenablage, den De-Safe, und einen benutzerfreundlichen,
elektronischen Identitätsnachweis, De-Ident.

Für die Kommunikation mit den unter De-Mail zusam-
mengefassten Diensten werden besondere Sicherheits-
standards gelten, die der Bund vorgibt. Diese Vorausset-
zungen müssen Anbieter von De-Mail erfüllen, um
zugelassen zu werden. Die Kommunikation wird ge-
schützt vor unerwünschtem Mitlesen, vor Datendiebstahl,
vor Internetbetrug und Spam. Damit können sensible und
vertrauliche Inhalte sowie rechtlich relevante Dokumente
künftig genauso effizient, schnell und kostengünstig ver-
sandt werden wie mit einer herkömmlichen E-Mail. Der
große Vorteil: De-Mail und die damit verbundenen Ange-
bote sind sicher, die Daten sind geschützt!

Das Bürgerportalgesetz schafft den dafür notwendi-
gen Rechtsrahmen. De-Mail wurde zusammen mit der
Wirtschaft entwickelt. Versicherungen, Banken, Sparkas-
sen, Handwerk, Steuerberater, Anwälte und natürlich
auch Unternehmen aus der IT-Wirtschaft haben ein gro-
ßes Interesse an diesem Projekt. Zusammen mit Daten-
schützern und Datenschutzverbänden wurden die Sicher-
heitsstandards entwickelt. Das Gesetz regelt, welche
Kriterien ein Unternehmen, das die Infrastruktur für De-
Mail anbieten will, erfüllen muss. Dazu gehören insbe-
sondere die Einheitlichkeit, Sicherheit und der Daten-
schutz der angebotenen Postfach-, Versand- und Spei-
cherdienste. Es regelt zudem zum Beispiel die Aufsicht,
Zu Protokoll
Deckungsvorsorge und die Modalitäten zur Eröffnung
und Sperrung von De-Mail-Konten. Wichtig ist mir da-
bei: Die Anbieter von De-Mail-Diensten werden kontrol-
liert und vom Staat zertifiziert, um höchste Sicherheits-
standards zu garantieren.

Mit dem elektronischen Personalausweis, den wir im
letzten Jahr beschlossen haben, und auch mit De-Mail
bieten wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei ganz we-
sentliche Elemente, die zu mehr Sicherheit beitragen und
das Vertrauen in e-Government und elektronische Kom-
munikation erhöhen.

De-Mail bietet aber nicht nur mehr Sicherheit und Da-
tenschutz, sondern hat auch einen ganz wesentlichen
wirtschaftlichen Aspekt. Unternehmen in Deutschland
werden in Zukunft durch Umstellung auf sichere elektro-
nische Kommunikation und beschleunigte Geschäftspro-
zesse mehrere Hundert Millionen Euro pro Jahr einsparen
können. Darüber hinaus wird mit dem Bürgerportalge-
setz ein neuer Markt für sichere elektronische Kommuni-
kation geschaffen, der in Deutschland einen Wachstums-
impuls für innovative ITK-Technologien geben wird.
Auch die öffentliche Verwaltung wird mit De-Mail über
eine einfachere und schnellere rechtsverbindliche Kom-
munikation mit Bürgern und Unternehmen 100 bis
150 Millionen Euro jährlich einsparen können.

Deutschland ist das erste Land weltweit, das mit einem
Konzept wie De-Mail an den Start geht. Wir bauen damit
unsere Vorreiterrolle, die wir bereits mit dem e-Personal-
ausweis unter Beweis gestellt haben, weiter aus. Wir tra-
gen mit dem Bürgerportalgesetz zu mehr Sicherheit und
Datenschutz in der elektronischen Kommunikation bei.
Und wir leisten unseren Beitrag, dass Deutschland zu ei-
nem international führenden IT-Standort mit großer Bür-
gernähe, hoher Verwaltungseffizienz und geringen Büro-
kratiekosten wird.


Dr. Michael Bürsch (SPD):
Rede ID: ID1621731400

Die Bundesregierung hat sich dem Ziel verschrieben,

Verwaltungsabläufe bürgernah zu gestalten. Dazu gehört
im Rahmen des sogenannten e-Government-Programms
2.0 und der High-Tech-Strategie der Bundesregierung
auch die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger, aber auch
Unternehmen auf sicherem Wege die elektronische Kom-
munikation mit Behörden erledigen können. Im Zeitalter
des Internets und der mittlerweile sehr gebräuchlichen
Kommunikation via E-Mail erlangt diese Frage zuneh-
mend Bedeutung. Wenn sich neue Medien wie E-Mail und
Internet etablieren, dann ist es Aufgabe des Gesetzgebers,
verlässliche Rahmenbedingungen, insbesondere im Hin-
blick auf Datensicherheit und Datenschutz, für die Nut-
zung dieser Medien zu schaffen. Und genau hier gibt es
aktuellen Regelungsbedarf.

Bislang ist die Kommunikation über E-Mail und Inter-
net dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar schnell und
einfach abgewickelt, aber auch leicht manipuliert werden
kann. E-Mails können von unbefugten Dritten abgefan-
gen, mitgelesen und verändert werden. Die Vertraulich-
keit der Kommunikation und die Identität der Kommuni-
kationspartner sind mit ihnen nicht ohne Weiteres
gewährleistet bzw. nicht sicher nachvollziehbar. Rechts-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Bürsch
verbindliche Kommunikation zwischen Bürgerinnen und
Bürgern bzw. Wirtschaftsunternehmen einerseits und
staatlichen Stellen andererseits erfordert aber die Garan-
tie unverfälschter Übermittlung sowie eindeutiger Identi-
fizierung der Kommunikationspartner und die Möglich-
keit einer rechtssicheren Zustellung elektronischer
Dokumente.

Diesen Erfordernissen will der vorliegende Gesetzent-
wurf gerecht werden: Er sieht gesetzliche Rahmenbedin-
gungen und technische Grundlagen für die Schaffung so-
genannter Bürgerportale im Internet vor. Diese Portale
sollen wie eine Art E-Mail-Intranet funktionieren. Dazu
müssen Privatpersonen oder Unternehmen ein elektroni-
sches Postfach eröffnen, über das sie später mit staatli-
chen Stellen kommunizieren können und das so mit tech-
nischen Sicherheitsvorkehrungen versehen sein soll, dass
unbefugte Zugriffe durch Dritte ausgeschlossen werden
können. Zudem ist eine einmalige Akkreditierung bzw.
Identifizierung durch den Nutzer erforderlich, wie sie
heute beispielsweise bei der Eröffnung eines Bankkontos
erfolgt. Danach lässt sich ein solcherart gesichertes
Postfach wechselseitig für alle Angelegenheiten mit
rechtlich verbindlichem Charakter nutzen, also etwa für
Widersprüche gegen Steuerbescheide, Kaufverträge,
Mahnungen usw.

Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass Bürger-
portale von privaten Anbietern betrieben werden, die
durch das Bundesamt für die Sicherheit in der Informa-
tionstechnik (BSI) akkreditiert, zertifiziert und kontrol-
liert werden sollen. Damit soll ausgeschlossen werden,
dass unseriöse Anbieter sich im Feld der Bürgerportale
bewegen können.

Alles in allem halten wir die Einrichtung von Bürger-
portalen für einen guten Weg, der technischen Entwick-
lung und dem zunehmenden Bedürfnis nach zeit- und kos-
tensparender Kommunikation mit Behörden gerecht zu
werden. Wer von Bürgernähe und guten Bedingungen für
Unternehmen redet, darf sich den Zeichen der Zeit nicht
verschließen: Verbesserte Kommunikationskanäle und
ein verbesserter Datenschutz müssen Bestandteile mo-
dernen Regierens sein. Deshalb unterstützt die SPD-
Fraktion das Vorhaben der Bundesregierung, das im Üb-
rigen durch ein vom Bundesministerium des Inneren
sorgfältig vorbereitetes Pilotprojekt in Friedrichshafen
ab Mitte dieses Jahres getestet werden soll.

Allerdings gibt es noch eine Reihe von Punkten bzw. of-
fenen Fragen, die geklärt werden müssen, bevor das Ge-
setz zur Regelung von Bürgerportalen verabschiedet wer-
den kann. Dazu abschließend einige Anmerkungen: Bei
der Akkreditierung und Zertifizierung privater Betreiber
von Bürgerportalen muss sichergestellt werden, dass sie
datenschutzrechtliche Standards auf jeden Fall einhalten.
Die Nutzer müssen sicher sein können, dass ihre Daten
nur für Zwecke des Bürgerportals und zum Beispiel nicht
für Werbezwecke genutzt werden. Es darf nicht möglich
sein, dass Nachrichten bei den Portalbetreibern durch
unbefugte Dritte gelesen oder manipuliert werden kön-
nen. Die Einführung von Bürgerportalen darf nicht zur
Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern führen,
die keinen Zugang zu elektronischer Kommunikation ha-
Zu Protokoll
ben. Die herkömmlichen Zustellungswege müssen auch
künftig gleichberechtigt erhalten bleiben. Auch die Ver-
quickung privater Dienstleistungen mit hoheitlichen Auf-
gaben muss genau abgewogen werden. Wenn private Be-
treiber von Bürgerportalen amtliche Schriftstücke
rechtsverbindlich zustellen dürfen, muss sichergestellt
werden, dass privates Interesse und Handeln im hoheitli-
chen Auftrag eindeutig voneinander getrennt bleiben.

Wegen dieser und anderer Punkte liegt es nahe, nach
der Überweisung des Gesetzentwurfs in die zuständigen
Ausschüsse eine öffentliche Anhörung zu veranstalten,
um dann nach sorgfältiger Abwägung aller offenen Fra-
gen zu einem guten Gesetz zu gelangen. Den Bemühun-
gen der Bundesregierung um ein bürgerfreundliches
Deutschland mit modernen Kommunikationsstrukturen
würde dies zugute kommen.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621731500

Initiativen zur Förderung des E-Government sind

richtig und wichtig. Es ist gut, dass die Bundesregierung
das Potenzial des E-Government für die Modernisierung
der Verwaltung und für Bürokratieabbau nutzen will. Im
Mittelpunkt muss beim E-Government die Sicherheit und
Vertraulichkeit der Kommunikation mit Behörden stehen.
E-Government braucht vor allem das Vertrauen der Bür-
gerinnen und Bürger wie auch der Wirtschaft. Daher ist
es auch gut, dass die Bundesregierung die Schaffung si-
cherer Kommunikation mit Behörden zum zentralen An-
liegen des vorliegenden Gesetzentwurfs erhebt.

Allerdings leidet der Gesetzentwurf an gravierenden
Mängeln. Schon ganz grundsätzlich ist nicht nachvoll-
ziehbar, warum neben bestehenden auf dem Markt entwi-
ckelten Technologien zur sicheren Kommunikation mit
De-Mail ein neues Mammutprojekt aus der Taufe geho-
ben werden muss. Mit der Größe eines solchen Projekts
steigert sich proportional auch die Wahrscheinlichkeit
des Scheiterns. Damit wäre aber E-Government über-
haupt nicht geholfen. Das Prinzip, dass derartige Mam-
mutprojekte weniger bringen, als es einfach und prak-
tisch zu gestalten, hat sich bei der Maut gezeigt – diese
Gefahr besteht bei De-Mail ebenso. Der Staat ist nicht
der bessere Anbieter von neuen Technologien. In anderen
Staaten, die Deutschland hinsichtlich E-Government weit
voraus sind, werden gängige sichere Kommunika-
tionstechnologien genutzt, die sich am Markt bewährt ha-
ben und auch am Markt beständig fortentwickelt werden.
Würden die Behörden den Bürgerinnen und Bürgern an-
bieten, mit ihnen unter Nutzung von solchen am Markt
vorhandenen Technologien zu kommunizieren, die be-
stimmte Mindeststandards erfüllen, würde sich ein Markt
eröffnen, der die Weiterentwicklung dieser Technologien
beflügeln würde.

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Bun-
destagsfraktion „Planungen zur Einführung von De-
Mail“ (Bundestagsdrucksache 16/11542) konnte die Bun-
desregierung über die Initialkosten der Einführung von
De-Mail bei den Behörden noch keine Auskunft geben.
Auch zu den Kosten, die auf die Bürgerinnen und Bürger
bei der Nutzung zukommen, gibt es nur vage Vermutun-
gen. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die Kosten ei-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gisela Piltz
nes marktorientierten Modells niedriger liegen würden.
Hierfür spricht schon die allgemeine Lebenserfahrung.
Es besteht daher die Gefahr, dass De-Mail sich als
Bremse bei der Entwicklung von E-Government erweist
und zu einer Abkopplung der Sicherheit in der Behörden-
kommunikation im Bereich der elektronischen Kommuni-
kation vom allgemeinen Markt führt.

Und die Bundesregierung wäre nicht die Bundesregie-
rung, insbesondere der Bundesinnenminister nicht der
Bundesinnenminister, wie wir ihn kennen, wenn nicht
auch noch ein paar Gefahren für die Bürgerrechte enthal-
ten wären. Nach § 16 des Gesetzentwurfs besteht unter
sehr weiten Voraussetzungen ein Auskunftsanspruch für
Dritte, also private wie auch öffentliche Stellen, gegen
den Dienstebetreiber hinsichtlich personenbezogener
Daten des Nutzers. Das öffnet nicht nur dem Adresshan-
del mit den De-Mail-Adressen Tür und Tor, sondern hat
mit Datenschutz überhaupt nichts zu tun. Da kann dann
jede Behörde in Deutschland und auch sonst jeder private
Dritte kommen und vom Provider verlangen, Auskunft
über persönliche Daten zu erteilen, wohlgemerkt beim
Provider, nicht bei einer Behörde. Der Provider soll dann
prüfen, ob glaubhaft dargelegt ist, dass das Ersuchen der
Verfolgung eines Rechtsanspruchs dient und nicht offen-
sichtlich rechtsmissbräuchlich ist. Das ist eine Aufgabe,
die ein privates Telekommunikationsunternehmen, also
ein Provider, nicht leisten kann – und in einem Rechts-
staat, mit Verlaub, auch nicht leisten sollte. Was ist, wenn
die Daten unrichtigerweise an eine Werbefirma weiterge-
geben wurden? Dann bleibt dem Kunden wohl nur die er-
neut kostenpflichtige Einrichtung einer neuen Adresse –
oder die Alternative, einen Spam-Filter einzurichten.

Mit De-Mail schafft sich der Staat im Übrigen ein
neues Anwendungsfeld für den E-Personalausweis. Da
dieser Voraussetzung zur Nutzung von De-Mail sein wird,
wird die Freiwilligkeit der Funktionen, die nur in Verbin-
dung mit der Speicherung biometrischer Daten vorhan-
den ist, zur Farce. E-Government nur gegen persönliche
Daten – das untergräbt das Vertrauen in diese Anwen-
dungen und ist im Hinblick auf die informationelle Selbst-
bestimmung sehr fragwürdig. Würde ein privater Anbie-
ter so handeln, läge ein klarer Verstoß gegen das
„Kopplungsverbot“ vor, das verbietet, den Zugang zu
Diensten im Internet nur gegen Preisgabe persönlicher
Daten zu gewähren, die nicht für die Diensteerbringung
zwingend erforderlich sind.

Die akkreditierten Diensteanbieter haben nach § 21
Abs. 1 des Entwurfs auch eine umfassende Mitwirkungs-
pflicht gegenüber dem BSI. So ist der Behörde das Be-
treten der Geschäftsräume während der üblichen
Betriebszeiten zu gestatten, auf Verlangen die in Betracht
kommenden Bücher, Aufzeichnungen, Belege, Schriftstü-
cke und sonstigen Unterlagen in geeigneter Weise zur
Einsicht vorzulegen, auch soweit sie elektronisch geführt
werden, Auskunft zu erteilen und die erforderliche Unter-
stützung zu gewähren.

Damit geht die Bundesregierung weiter auf dem Weg,
das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik,
BSI, schleichend zu einer Sicherheitsbehörde mit erhebli-
chen Eingriffsbefugnissen umzubauen. Zugleich soll das
Zu Protokoll
BSI auch als zentraler Dienstleister im Bereich der IT-
Technik von Bund und Ländern eine immer kritischere
Rolle einnehmen. Das BSI soll die Technik für die öffent-
lichen Stellen bereitstellen, die IT-Sicherheit kontrollie-
ren und zudem auch noch mit Hoheitsbefugnissen ausge-
stattet die Teilnehmer an den IT-Systemen überwachen.
Mit dem parallel eingebrachten Gesetzentwurf für ein
neues BSI-Gesetz soll diese Behörde unter anderem die
Befugnis erhalten, jede elektronische Kommunikation
zwischen Behörden und Bürgern ebenso wie Unterneh-
men aufzuzeichnen und auszuwerten. Im Zusammenspiel
mit den Befugnissen aus dem Bürgerportalgesetz verfolgt
die Bundesregierung also weiterhin ihre Pläne, das BSI
zu einer Art NSA umzugestalten, zu einer NSA allerdings,
die zugleich noch auf dem Markt auftritt und dort Wirt-
schaftsunternehmen im IT-Bereich Konkurrenz macht.
Das ist eine sehr unglückliche Verquickung.

Zunächst positiv erscheint die Eröffnung zusätzlicher
Möglichkeiten für die Zustellung von Dokumenten im
Rechtsverkehr. Allerdings liegt auch hier der Teufel im
Detail. Die Zustellung kann zukünftig durch die „Nieder-
legung“ in einem virtuellen Postfach erfolgen. Bislang
musste der Absender aktiv die Zustellung bewirken und
sie in den Kenntnisnahmebereich des Empfängers brin-
gen. Durch das Bürgerportal wird diese Sphäre zulasten
des Empfängers verschoben. Dieser ist nun gezwungen,
sich regelmäßig in seinem Bürgerportalkonto anzumel-
den, um nicht in die Gefahr einer Unanfechtbarkeit we-
gen Fristversäumnis, so zum Beispiel bei Mahnbescheid
oder Gerichtsurteil, zu geraten. Denn es handelt sich ja
nicht um einen Briefkasten, an dem man regelmäßig vor-
beikommt und bei dem man im Urlaub den Nachbarn mit
der Leerung beauftragen kann. Da die Weitergabe des
Passworts unzulässig wäre, ist dies nämlich ausgeschlos-
sen. Die vorgeschlagene Niederlegung ist dann auch
keine Erleichterung, sondern eine Zumutung für die Bür-
gerinnen und Bürger. Mindestens müsste sichergestellt
sein, dass eine elektronische Mitteilung, etwa per Mail
oder SMS, erfolgt, wenn eine Niederlegung erfolgt ist.

E-Government ist für die Zukunft zu bedeutsam, als
dass man seine Weiterentwicklung durch Fehlsteuerun-
gen gefährden darf. Die FDP-Bundestagsfraktion wird
daher im Weiteren parlamentarischen Verfahren auf eine
kritische Würdigung der Vorschläge dringen und eine
Sachverständigenanhörung beantragen.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621731600

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der heute

Gegenstand der Beratungen ist, sieht rechtliche Rahmen-
bedingungen für eine sichere und vertrauenswürdige
Kommunikation zwischen den Bürgerinnen und Bürgern
auf der einen und der Wirtschaft und der Verwaltung auf
der anderen Seite im Internet vor. In der Öffentlichkeit
wird dieser Gesetzentwurf vor allem mit den Begriffen
De-Mail und De-Safe diskutiert und transportiert.

E-Mails, so weit so richtig im Gesetzentwurf der Bun-
desregierung, sind zu einem Massenkommunikationsmit-
tel geworden. E-Mails sind preiswert, schnell, einfach
und ortsunabhängig, heißt es in dem Entwurf weiter. Die-
ser Aussage ist vonseiten der Linken nicht in allen Details



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Jan Korte (Die Linke)

zuzustimmen. Denn die Nutzung von E-Mails setzt meist
die Bereitstellung geeigneter technischer Gerätschaften
und Infrastrukturen voraus, über die wir hier im Plenum
bereits mehrfach gesprochen haben. Denn nicht alle Re-
gionen der Republik können entsprechende Infrastruktu-
ren zur barrierefreien und schnellen Nutzung von E-Mail-
Diensten bereitstellen. Zudem ist es vielen Bürgerinnen
und Bürgern, vor allem aber sozial Benachteiligten, nicht
möglich, die technischen Gerätschaften, die für die Kom-
munikation im Internet notwendig sind, zu erwerben oder
bereitzustellen.

An diesen Punkt greift auch die Entschließung der
Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und
der Länder vom 16. April des Jahres ein. Hierin wird kri-
tisiert, dass durch den Gesetzentwurf eine Benachteili-
gung von Bürgerinnen und Bürgern, die über kein Bür-
gerkonto verfügen, nicht ausgeschlossen wird. Zu Recht
mahnt die Bundesregierung die Kostenersparnis durch
eine sichere Kommunikationsplattform im Internet für
viele Bereiche des öffentlichen und privatwirtschaftlichen
Lebens an. Dieses richtige Argument darf aber nicht den
Blick darauf verstellen, dass sowohl aus finanziellen als
auch aus sozialen und gesundheitlichen Gründen nicht
alle Bürgerinnen und Bürger des Landes die ins Ge-
spräch gebrachten Bürgerplattformen nutzen werden
oder können. Diesen darf jedoch daraus kein Nachteil
oder gar ein Zwang zur technischen Nachrüstung oder
persönlichen Nachschulung entstehen. Dazu allerdings
findet sich im Gesetzentwurf kein Wort.

Überhaupt hat die Konferenz der Datenschützer meh-
rere Kritikpunkte formuliert, die dringend beachtet wer-
den müssen und ohne die der vorgelegte Gesetzentwurf
das Parlament nicht passieren darf. Zwar stellt der Ent-
wurf darauf ab, dass Voraussetzung für eine Akkreditie-
rung von Dienstanbietern von sogenannten Bürgerporta-
len der Nachweis der technischen und administrativen
Sicherheit gegenüber dem Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik, BSI, ist, jedoch wird nicht gere-
gelt, dass auch die tatsächliche Einhaltung der daten-
schutzrechtlichen Standards kontinuierlich vorgenom-
men wird. Gerade die Datenschutzverstöße bei der Bahn,
der Telekom, Airbus, Müller, Lidl und Daimler haben uns
allen vor Augen geführt, dass ein Datenschutzrecht gut
und schön ist, es aber systematisch umgangen wird. Re-
gelmäßige Kontrollen sind also nötiger als jemals zuvor.

In Zeiten der zunehmenden Technisierung der Kom-
munikation steigt auch die sogenannte Internetkriminali-
tät besorgniserregend an. Vor allem im elektronischen
Geschäftsverkehr kommt es vielfach zu Missbrauch und
Betrugsversuchen. Dem einen Riegel vorzuschieben und
die Nutznießer derartiger Kriminalität zur Rechenschaft
zu ziehen, war auch immer Anliegen der konsequenten
Bürgerrechts- und Datenschutzpolitik der Linken. Um je-
doch der Internetkriminalität das Leben zumindest etwas
schwerer zu machen, reicht es eben nicht aus, wie vorge-
schlagen, lediglich die Vertraulichkeit, die Integrität und
die Authentizität von Nachrichteninhalten durch einen
verschlüsselten Transport zu gewährleisten. Nein, viel-
mehr muss auch ausgeschlossen werden, dass Nachrich-
ten bei den Portalbetreibern oder Dienstanbietern von
Dritten eingesehen, manipuliert oder gar gelöscht wer-
Zu Protokoll
den können. Hier besteht ein großes Defizit im Gesetzent-
wurf, das dringend behoben werden muss. Auch die vor-
gesehene Möglichkeit der Anmeldung bei Bürgerportalen
durch Passwörter öffnet Angriffen durch Schadsoftware
Tür und Tor. Dadurch wird das gesamte Projekt des siche-
ren Bürgerportals diskreditiert.

Für die weitere Debatte möchte ich deshalb auf die
zahlreichen Stellungnahmen der Datenschützer in diesem
Lande verweisen und hoffe, dass die Regierung nach den
Beratungen in den Ausschüssen in der Lage ist, eine deut-
lich korrigierte Fassung ihrer im Grundsatz zu begrüßen-
den Initiative auf den Tisch zu legen. Andernfalls kann
Die Linke diesem Gesetzentwurf nicht nur nicht zustim-
men, sondern muss erneut darauf verweisen, dass die
Bundesregierung dem Datenschutz in diesem Lande le-
diglich mit Desinteresse und Unfähigkeit begegnet.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Bundesregierung in ihren letzten Zügen hat es
wieder einmal fertig gebracht, ein gutes Vorhaben so zu
vermurksen, dass man nur hoffen kann, dass dieses Ge-
setz das Ende der Legislaturperiode nicht mehr erreicht.
Wie üblich werden auch hier wichtige Fragen der techni-
schen Ausgestaltung der Bürgerportale unter Rechtsver-
ordnungsvorbehalt gestellt. Das ist die gleiche Methode
wie beim Audit-Gesetz. So geht es aber nicht. Gesetze
sind dazu da, normenklar die wirklich wesentlichen Fra-
gen zu klären. Gesetzliche Bestimmungen sind keine
Leerstellen, die von der Exekutive nach Gutdünken am
Parlament vorbei geregelt werden können.

Ein Bürgerportal ist eine sinnvolle Einrichtung. Die
Bürgerinnen und Bürger brauchen ein sicheres System,
um mit Behörden, aber auch mit anderen Privaten zu
kommunizieren. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen
Container, in denen sie sensible Daten sicher ablegen
können, und der Staat muss die Sicherheit des Internets
genauso gewährleisten wie die Sicherheit auf öffentlichen
Straßen. Wir leben im Informationszeitalter. Da unterstüt-
zen gesetzlich festgelegte Standards eine sichere Kommu-
nikation mit öffentlichen Behörden.

Gut gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht.
Was die Datensicherheit angeht, ist der Gesetzentwurf
mangelhaft. Hier muss erheblich nachgebessert werden,
und ich bin überzeugt, dass der Bundesdatenschutzbeauf-
tragte hier gerne behilflich ist. Sie müssen seine Anregun-
gen allerdings auch aufnehmen und umsetzen. Allerdings
fehlt mir beim Thema Datenschutz mittlerweile der
Glaube, dass Sie wirklich ernsthaft bemüht sind, den Da-
tenschutz zu stärken. Defizite haben wir hier nicht nur in
der Privatwirtschaft, sondern, wie wir hier wieder deut-
lich sehen, auch bei jedem Gesetz dieser Großen Koali-
tion.

Mir fehlt in dem Gesetzentwurf eine wirksame Garan-
tie dafür, dass die datenschutzrechtlichen Standards auch
tatsächlich eingehalten werden. Ich habe im Gesetzent-
wurf vergeblich nach diesen Mindestanforderungen ge-
sucht. Ich teile hier die Forderung der Konferenz der Da-
tenschutzbeauftragten, dass die Akkreditierung der
Anbieter erst dann erfolgen darf, wenn auch eine unab-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Silke Stokar von Neuforn
hängige Prüfstelle bescheinigt, dass die Anforderungen
erfüllt sind. Die Bundesregierung will ganz offensichtlich
verhindern, dass Externe dem BSI auf die Finger
schauen. Wir beobachten den Ausbau des BSI mit immer
größerer Sorge. Hier entsteht eine Behörde, die immer
mehr Zugriff auf Daten erhält und die sich gleichzeitig
immer stärker einer Kontrolle entzieht. Ohne Transpa-
renz kann hier kein Vertrauen entstehen.

Die Datensicherheit ist beim Bürgerportal in keiner
Weise gewährleistet. Ein Gesetz, das keine Ende-zu-
Ende-Verschlüsselung festschreibt, ist nicht zustim-
mungsfähig. Hier muss es im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger Verbesserungen geben. Es muss klar verboten
sein, dass die Nachrichten durch Dritte gelesen oder ma-
nipuliert werden können. Was hier an Verschlüsselung
angeboten wird, reicht nicht aus. Wenn Verschlüsselung
tatsächlich die Zukunft der Datensicherheit ist, dann ha-
ben Sie noch nicht verstanden, was die Grundsätze einer
sicheren Verschlüsselung sind.

Es stellt sich überhaupt die Frage, ob auch das vom
Bund angebotene System einer Bürger-E-Mail-Adresse,
„De-Mail“ ebenso wie der „De-Safe“ als Zwischenlager
für Unterlagen bereits hinlänglich technisch ausgereift
ist. Bei allem Verständnis dafür, die Menschen an die mo-
derne elektronische Kommunikation mit der Verwaltung
heranzuführen: Hier brauchen wir solide technisch aus-
gereifte Konzepte und keine Optionen auf erhoffte künf-
tige Entwicklungen.

Wie, meine Damen und Herren von der Regierungs-
koalition, schützt das neue Gesetz die Nutzerinnen und
Nutzer während des Anmeldevorgangs vor einer Schad-
software? Mit dem höchst unsicheren Zugang durch ein
Passwort können Sie uns doch nicht zufriedenstellen. Das
knackt doch ein Informatikstudent in den Anfangssemes-
tern.

Wir treffen Vorsorge für die moderne elektronische
Kommunikation. Das ist richtig. Wir dürfen aber auch die
Menschen nicht am Wegesrand stehen lassen, die hier
nicht mehr mitkommen. Ich denke nicht nur an ältere
Menschen, sondern auch an Menschen, die aus vielerlei
Gründen mit der modernen Technik nicht mehr zurecht-
kommen. Auch die haben einen Anspruch, mit Behörden
zu kommunizieren, ohne einen Nachteil zu haben. Leider
fehlt hier jede Sicherheit, dass sie ohne den Zugriff auf ein
Bürgerportal nicht diskriminiert und benachteiligt wer-
den.

Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Nutzerinnen
und Nutzer aufgeklärt und über die Rechtsfolgen dieser
Nutzung hinreichend informiert werden. Auch hier reicht
der Gesetzentwurf nicht aus. Die Betroffenen müssen wis-
sen, was die Nutzung der neuen technischen Möglichkei-
ten für den Rechtsverkehr bedeutet.

Die Vielzahl der offenen Fragen und Kritikpunkte ver-
bietet einen parlamentarischen Schnelldurchlauf. Wir
brauchen, auch wenn die Zeit in den Ausschüssen lang-
sam knapp wird, eine parlamentarische Anhörung, in der
auch die vielfältigen Bedenken aus den Bundesländern
zur Sprache kommen müssen. Es macht überhaupt keinen
Sinn, so ein wichtiges Vorhaben ohne ausführliche Bera-
tung durch das Parlament zu jagen. So fehlerhaft, wie das
Gesetz derzeit ist, können wir ihm nicht zustimmen. Wir
wollen Bürgerportale mit staatlichen Standards, aber
bitte mit Datensicherheit und mit Datenschutz, sonst wird
das Ganze ein Flop.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621731700

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/12598 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschla-
gen. – Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge.
Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 30:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Unabhängige Beauftragte zur Untersuchung
von Polizeigewalt

– Drucksache 16/12683 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Helmut
Brandt, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Ulla Jelpke und
Wolfgang Wieland.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1621731800

Wir debattieren heute über einen Antrag der Fraktion

Die Linke, in dem diese die Einrichtung eines unabhän-
gigen Beauftragten zur Untersuchung von Polizeigewalt
fordert.

Bevor ich inhaltlich im Einzelnen auf den Antrag ein-
gehe, lassen Sie mich zunächst ein paar allgemeine Be-
merkungen zu dem hier zu beratenden Antrag der Links-
fraktion äußern. Insbesondere die Begründung des
vorliegenden Antrags soll offensichtlich den Eindruck er-
wecken, als seien alle deutschen Polizisten gewalttätige
Rassisten, die sich an keine rechtsstaatlichen Regeln hiel-
ten. Ich möchte daher zunächst einmal klarstellen, dass
davon hier in Deutschland keine Rede sein kann. Ganz im
Gegenteil, unsere Polizei verhält sich in aller Regel ab-
solut korrekt gegenüber jedermann, ganz gleich, ob er
Deutscher oder Ausländer ist. Wir von der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion lassen deshalb nicht zu, dass Sie
deutsche Polizisten unter einen Generalverdacht stellen
und derartig verunglimpfen.

Dennoch ist richtig, dass es in der Vergangenheit auch
zu Vorfällen gekommen ist, wo einzelne – ich betone
nachdrücklich: einzelne – Polizeibeamte sich nicht rich-
tig beziehungsweise sogar rechtswidrig verhalten haben.
Wir alle wissen, dass Polizeibeamte tagtäglich unter
enormem Druck stehen und sich Beleidigungen, Anfein-
dungen und gewalttätiges Verhalten gefallen lassen müs-
sen, Tendenz steigend. Die Innenminister haben dieses
Problem erkannt und werden sich im Rahmen einer der
nächsten IMK-Sitzungen mit diesem Problem befassen.
Dass angesichts solcher Anfeindungen und gewalttätigen


(A) (C)



(B) (D)


Helmut Brandt
Verhaltens auch ein Polizist die Beherrschung verlieren
kann, ist definitiv nicht gerechtfertigt, aber doch in eini-
gen Fällen menschlich nachvollziehbar.

Nicht dass Sie mich missverstehen: Ein rechtswidriges
oder strafbares Verhalten einzelner Polizeibeamter ver-
urteilen auch wir aufs Schärfste. Wie ich jedoch schon
sagte, handelt es sich dabei um Einzelfälle. Meine Erfah-
rung ist außerdem, dass die Polizeibeamten, die sich in
unserem Land nicht an Gesetze halten, von Staatsanwäl-
ten und Gerichten dafür zur Verantwortung gezogen wer-
den. Mit der Dienstaufsichtsbeschwerde steht außerdem
jedermann eine innerbehördliche Kontrollmöglichkeit
zur Verfügung. Ich habe vollstes Vertrauen in die Justiz
bei der Aufklärung und Ahndung polizeilichen Fehlver-
haltens. Auch bezweifle ich, dass ein unabhängiger Be-
auftragter in der Lage wäre, den vermeintlichen polizei-
lichen Korpsgeist, der Ihrer Beschreibung nach die
Aufklärung eventueller Straftaten von Polizisten unmög-
lich machen soll, zu verhindern. Denn wollten wir einmal
davon ausgehen, dass es solch ein „Mauern“ und einen
von Ihnen beschriebenen Korpsgeist seitens der Polizei
gäbe, ist mir nicht ersichtlich, inwiefern Ihr Beauftragter
diese Mauer des Schweigens eher durchbrechen könnte
als ein von Amts wegen unabhängiger Staatsanwalt.
Selbst unter diesem Gesichtspunkt bedeutete die Einrich-
tung des Beauftragten also keinen Fortschritt.

Nun zum Inhalt Ihres Antrages: Es erstaunt, dass Sie
Ihre Forderung nach einem unabhängigen Beobachter
auf einen Bericht von Amnesty International aus dem
Jahre 2004 stützen. Wir alle schätzen die Arbeit von Am-
nesty International und wissen um das Engagement die-
ser Organisation. Dass Amnesty International offenbar
seitdem keinen neuen Bericht vorgelegt hat, lässt für mich
nur einen Schluss zu: nämlich den, dass das von Ihnen
beschriebene Problem der mutmaßlichen Polizeigewalt
in unserem Lande bislang jedenfalls marginal ist. Wie ich
bereits sagte: Einzelfälle gibt es immer.

Auf Bundesebene ist mir übrigens bislang kein Fall be-
kannt, in dem es zu rechtswidrigem oder strafbarem Han-
deln eines Polizisten gegenüber Einzelnen gekommen
wäre. Die Vorwürfe, die Amnesty International erhebt,
richteten sich bislang ausschließlich gegen Beamte der
Länderpolizeien. Das System der Gewaltenteilung, das
unserem Grundgesetz zugrunde liegt, erlaubt es uns gar
nicht, den Ländern die Einrichtung eines unabhängigen
Beauftragten vorzuschreiben. Ich bin deshalb ebenfalls
etwas erstaunt über Ihre Forderung, im Rahmen der In-
nenministerkonferenz eine entsprechende Initiative zur
Einrichtung eines unabhängigen Beobachters zu starten.

Sie fordern in Ihrem Antrag, dem Beauftragten Ein-
griffsbefugnisse zuzugestehen. Das bedeutet, Sie wollen
dem Beauftragten Befugnisse bei den Ermittlungen zutei-
len, die denen des Staatsanwalts in so gut wie nichts nach-
stehen. Wir sehen da die Gefahr der Einrichtung einer
Paralleljustiz, die dem Gang der staatsanwaltlichen Er-
mittlungen abträglich wäre, da es zu einer Konkurrenz in
den Kompetenzen kommen würde, welche die Autorität
des Staatsanwaltes untergraben würde. Und das kann
wohl kaum in unserem Interesse sein.
Zu Protokoll
Schließlich legen Sie besonderen Nachdruck darauf,
dass der Beauftragte unbedingt unabhängig von den Po-
lizeibehörden sein sollte. Davon einmal abgesehen, dass
ich der Überzeugung bin, dass kaum ein Polizist bei der
Ahndung von Straftaten seiner Kollegen, wie Sie sagen,
„mauert“, möchte ich darauf hinweisen, dass auch die
Beauftragten, wie Sie sie sich vorstellen, nicht vollkom-
men unabhängig sind. Vielmehr schlagen Sie in Punkt 3 d
vor, dass auch der Sachverstand von NGOs wie Amnesty
International oder Komitee für Grundrechte und Demo-
kratie auf ehrenamtlicher Basis eingeholt werden soll. Sie
können doch nicht einerseits diesen Beauftragten weitrei-
chende quasi-staatsanwaltliche Befugnisse bei den Er-
mittlungen geben und andererseits NGOs zu Rate ziehen.
Wo bleibt dann die Unabhängigkeit, wenn die Beauftrag-
ten von der Meinung von NGOs abhängen? Der Staats-
anwalt ist seinerseits durch die strikte Gewaltenteilung in
Deutschland gänzlich unabhängig, sei es von der Polizei
oder von NGOs. Somit wäre die Einrichtung solcher Be-
auftragter nicht nur kein Gewinn, nein, sie bedeutete gar
einen Rückschritt gerade in Bezug auf die Unabhängig-
keit in der Strafverfolgung.

Ich glaube, es ist klar geworden, dass wir einen in Ih-
rem Antrag geforderten unabhängigen Beauftragten zur
Untersuchung von Polizeigewalt nicht benötigen. Wir le-
ben in einem funktionierenden Rechtsstaat, in dem unab-
hängig von der Person begangene rechtswidrige und
strafbare Handlungen konsequent verfolgt und geahndet
werden. Wir verfügen hierzu über genügend unabhängige
Kontrollmöglichkeiten. Die Medien beobachten im Übri-
gen sehr genau Veranstaltungen und das polizeiliche Vor-
gehen im Allgemeinen. Wir lehnen Ihren Antrag folglich
ab.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1621731900

Heute beraten wir einen Gesetzesentwurf der Bundes-

tagsfraktion Die Linke: Unabhängige Beauftragte zur
Untersuchung von Polizeigewalt. Der Antrag nimmt die
Kritik unterschiedlicher internationaler Institutionen wie
dem UN-Menschenrechtsausschuss, des Europaratsko-
mitees gegen Rassismus und Intoleranz, dem UN-Aus-
schuss und der Europaratskommission zur Verhinderung
von Folter und erniedrigender Behandlung oder Strafe
sowie von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty
International an der Praxis der deutschen Strafver-
folgungsbehörden auf. Diese Kritik wird zum Aus-
gangspunkt für die Einrichtung polizeiunabhängiger
Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen zur Un-
tersuchung insbesondere der Polizeigewalt in Deutsch-
land genommen. Die in dem Antrag aufgezählten Todes-
fälle, die in polizeilicher Obhut erfolgten, bedaure ich
sehr. Wenn Menschen in staatlicher Obhut ums Leben
kommen, müssen die Umstände, unter denen dies ge-
schah, aufgeklärt werden. Es darf keine Entschuldigung
dafür geben, solche Ermittlungen zu behindern. Die
Ziele, die in dem Antrag benannt werden, sind zweifels-
ohne unterstützenswert: Potenzielles polizeiliches Fehl-
verhalten soll möglichst schon im Vorfeld verhindert wer-
den; polizeilich begangene Straftaten sollen aufgedeckt
werden. Auch strukturelle Probleme innerhalb der Poli-
zeiorganisation aufzudecken, die Überforderung von Po-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Gunkel
lizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu benennen und in
Zukunft zu verhindern mit dem Ziel, Lösungsvorschläge
für die Optimierung polizeilicher Handlungs- und Orga-
nisationsstrukturen zu benennen, teile ich voll und ganz.
Dass neutrale Beobachter polizeiliche Großeinsätze wie
beispielsweise Demonstrationen begleiten und durch ih-
ren offensichtlichen Beobachterstatus präventiv und de-
eskalierend wirken, halte ich für sinnvoll. Diese Praxis
existiert bereits und hat sich in der Vergangenheit auch
als erfolgreich herausgestellt. Nichtregierungsorganisa-
tionen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie
oder der Arbeitskreis Kritischer JuristInnen führten diese
Demobeobachtungen seit Jahren durch, sodass in meinen
Augen kein Anlass besteht, diese erfolgreiche und per se
vom Staat unabhängige Arbeit durch eine staatliche In-
stanz zu ersetzen. Das Gleiche gilt für die Feststellung,
dass immer wieder Beschwerden eingehen, die überprüft
werden sollten. Nichtregierungsorganisationen wie Am-
nesty International oder das Komitee für Grundrechte
und Demokratie erfüllen diese Aufgabe hinreichend. Da-
her sehe ich keine Notwendigkeit, einen weiteren admi-
nistrativen Wasserkopf zu errichten, wie ihn dieser
Antrag mit eigenen Diensträumen und einem Mitarbei-
terstab aus hauptamtlichen und ehrenamtlichen Perso-
nen fordert.

In der vorliegenden Form fordert der Antrag geradezu
die Schaffung von Parallelstrukturen zur Staatsanwalt-
schaft, auch wenn er gerade dies bestreitet. Doch was ist
eine Behörde, der Eingriffsbefugnisse zustehen sollen wie
ein „uneingeschränktes und sofortiges Akteneinsichts-
recht, ein Betretungsrecht für dienstliche Räume sowie
ein Befragungsrecht“ anderes als eine Parallelinstitution
zur Staatsanwaltschaft? Mit der Unterstellung, die
Staatsanwaltschaft ermittle nicht unabhängig, kann ge-
nauso gut die Überprüfung aller anderen Ermittlungen
der Staatsanwaltschaft gefordert werden. Falls berech-
tigte Zweifel an der Objektivität der Staatsanwaltschaft
bestehen, steht es Anwälten offen, dagegen vorzugehen.
Ein Generalverdacht, der in einer Behörde institutionali-
siert werden soll, trifft aber einen Kernbestand rechts-
staatlicher Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit der
Justiz darf keiner Politjustiz geopfert werden! Dass deut-
sche Staatsanwaltschaften natürlich in keiner Weise
unfehlbar sind und genau kontrolliert werden müssen, da-
ran besteht kein Zweifel. Außerdem müssen die Staats-
anwaltschaften ihre Ermittlungsergebnisse einem Ge-
richt vorlegen, das dann entsprechend entscheidet.

Der im Antrag formulierte Unmut über das Aussage-
verhalten der Polizei ist nachvollziehbar. Mehr als frag-
lich ist jedoch, ob eine „unabhängige Untersuchungs-
stelle“ mit der Aufgabe, polizeiliche Verfehlungen
aufzudecken, daran etwas ändern würde. Deswegen und
wegen der anderen formulierten Bedenken ist der Antrag
abzulehnen.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1621732000

Der Antrag, den die Fraktion Die Linke hier heute vor-

gelegt hat, spricht in jeder Zeile, in jedem Satz von einem
tiefen Unverständnis für den Rechtsstaat und die freie
Gesellschaft, in der mündige Bürgerinnen und Bürger im
Vertrauen auf den Rechtsstaat Zivilcourage beweisen.
Zu Protokoll
Die Polizei in Deutschland steht wie keine andere Be-
hörde an vorderster Front für die Wahrung des Rechts-
staats und des Rechts. Die Polizistinnen und Polizisten
riskieren oft genug ihre Gesundheit, wenn sie engagiert
Tag und Nacht und auch am Wochenende für Recht und
Gesetz, für öffentliche Sicherheit und Ordnung sorgen.
Die Polizei in Deutschland hat es nicht verdient, von Mit-
gliedern des Deutschen Bundestags, von einer ganzen
Fraktion, hingestellt zu werden, als wäre sie die Vollstre-
ckerin eines Willkür- und Unrechtsstaats.

Die Fraktion Die Linke wirft den Polizistinnen und
Polizisten vor, dass sie Korpsgeist beweisen. Korpsgeist,
was heißt das denn? Korpsgeist bei der Polizei ist ein an-
deres Wort für Teamgeist, für das Vertrauen aufeinander
und das Sich-Verlassen-Können in Gefahrensituationen.
Einer für alle und alle für einen. Daraus einen Vorwurf zu
konstruieren, ist unzulässig. In allen anderen Bereichen
wird Teamgeist eingefordert. Aber bei der Polizei soll es
vorwerfbar sein, gerade bei der Polizei, bei der das ge-
genseitige Vertrauen notwendige Voraussetzung einer
reibungslosen Arbeit ist.

Wenn hier so getan wird, als wäre es ein spezielles Pro-
blem der Polizei, dass Kollegen sich nicht gegenseitig an-
zeigen, ist das eine Verdrehung der Tatsachen. Wenn eine
Kassiererin die andere beim Stehlen beobachtet und das
nicht zur Anzeige bringt, dann wirft keiner pauschal den
Kassiererinnen Deutschlands Strafvereitelung vor. Wenn
aber ein Polizist seinen Kollegen beim Rechtsbruch er-
wischt, gilt auch in diesem Falle für ihn der Amtsermitt-
lungsgrundsatz, und er muss Anzeige erstatten – denn an-
sonsten macht er sich wegen Strafvereitelung im Amt
schuldig. Ein bei jedem anderen Berufsstand als mensch-
lich angesehenes Verhalten, Kollegen nicht „verpfeifen“
zu wollen, ist bei Polizistinnen und Polizisten also straf-
bewehrt.

Hinzu kommt, dass es ja gerade dem Berufsethos eines
Polizisten entspricht, sich für Recht und Gesetz einzuset-
zen. Gerade hier ist doch die Sensibilität für Rechtstreue
besonders hoch. Oft genug kommt es vor, ja, ich würde so-
gar sagen, in der Regel ist es so, dass Polizistinnen und
Polizisten anzeigen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin
zu weit gegangen ist oder sich eines Vergehens oder Ver-
brechens schuldig gemacht hat.

Die Fraktion Die Linke stellt es in ihrem Antrag so dar,
als seien bei der Polizei insbesondere Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit zu Hause. Das ist eine nachgerade
infame Unterstellung. Die Polizei ist sehr sensibel, wenn
es um Fremdenfeindlichkeit in den eigenen Reihen geht.
Rassismus oder rechtsextremen Tendenzen wird inner-
halb der Polizei engagiert entgegengetreten.

Natürlich gibt es auch unter den 271 000 Polizistinnen
und Polizisten in Deutschland nicht nur Engel. Die Frak-
tion Die Linke benennt zwei Fälle konkret und verweist
daneben auf ungeklärte sowie „zahlreiche“ weitere, nicht
näher bestimmte Fälle. Auch der genannte Bericht von
Amnesty International bleibt diesbezüglich im Vagen.
Dort heißt es, dass kein verlässliches Zahlenmaterial vor-
liege.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gisela Piltz
Natürlich muss in unserem Rechtsstaat jede Straftat,
die durch Polizistinnen und Polizisten begangen wird, zu-
mal im Amt, geahndet werden. Hierzu stellt unsere
Rechtsordnung zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung.
Die Polizei steht unter Fach- und Dienstaufsicht der
übergeordneten Behörden und schließlich der jeweiligen
Innenministerien. Die deutsche Staatsanwaltschaft ist die
unabhängigste Behörde der Welt. Das ist nicht nur ein
fast schon geflügeltes Wort, sondern die Beschreibung
der rechtsstaatlichen Realität. Die Staatsanwaltschaften
sind mitnichten auf einem Auge blind, sondern im Gegen-
teil sehr sensibel, wenn es um Vergehen oder Verbrechen
geht, die möglicherweise durch Staatsdiener selbst be-
gangen wurden. Die Justiz prüft unabhängig und ohne
Ansehen der Person alle Fälle, in denen möglicherweise
Recht gebrochen wurde.

Es ist schon erstaunlich, vor allem aber sehr erschre-
ckend, dass die Fraktion Die Linke hier mit einem derar-
tigen Misstrauen auf unseren Rechtsstaat blickt und
Staatsanwaltschaften, Justiz und Polizei gleichermaßen
nicht zutraut, das zu tun, was ihre Aufgabe ist, nämlich
Recht und Gesetz zur Geltung zu verhelfen. Im Gegenteil
tut die Linke so, als trügen diese quasi im kollusiven Zu-
sammenwirken dazu bei, das Recht zu brechen und
Rechtsbruch zu vertuschen.

Schließlich darf man nicht übersehen, dass gerade die
Polizei – völlig zu Recht angesichts der ihr übertragenen
Eingriffsbefugnisse in grundrechtlich geschützte Positio-
nen – unter Beobachtung von Öffentlichkeit und Medien
steht. Diese gesellschaftliche Kontrolle ist notwendig und
zugleich die Gewähr dafür, dass Missstände nicht unter
der Decke gehalten werden können. Im Gegensatz zur
Fraktion Die Linke hat die FDP-Bundestagsfraktion gro-
ßes Zutrauen in die freie und verantwortungsvolle Bür-
gergesellschaft, in der Zivilcourage und Achtung der
Bürgerrechte sowie die Kontrolle staatlicher Gewalt
durch das Volk gelebt werden.

Neben den genannten Kontrollmöglichkeiten wird die
Polizei auch noch intern kontrolliert. In einigen Bundes-
ländern gibt es Innenrevisionen, in einigen Ländern wie
in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen ein landes-
weit agierendes eigenes Kommissariat für Beamtende-
likte. Bei Verdacht wird so unabhängig und objektiv er-
mittelt. In Nordrhein-Westfalen ist es beispielsweise auch
üblich, dass die Staatsanwaltschaft sich einer der umlie-
genden Polizeibehörden bedient, wenn es um Ermittlun-
gen gegen Polizistinnen und Polizisten geht, um so zu ver-
meiden, dass in der eigenen Behörde ermittelt werden
muss.

Auch das Disziplinarrecht steht zur Verfügung, sodass
auch in Fällen, in denen Fehlverhalten unterhalb der
Strafbarkeitsschwelle vorliegt oder auch ein strafbares
Verhalten nicht beweisbar war, aber dennoch gewichtige
Anhaltspunkte für Fehlverhalten vorliegen, ein geeigne-
tes Instrumentarium zur Verfügung steht. Die Polizei setzt
so innerhalb der eigenen Reihen regelmäßig ein klares
Zeichen, dass gerade von Polizistinnen und Polizisten
einwandfreies Verhalten gefordert ist.
Zu Protokoll
Die Fraktion Die Linke blendet übrigens die Kehrseite
der Medaille völlig aus. Das Land Sachsen hat gerade im
Bundesrat eine Initiative eingebracht, um der Gewalt ge-
gen Polizistinnen und Polizisten zu begegnen. Unabhän-
gig von der kritisch zu beleuchtenden Frage, ob, wie von
Sachsen vorgeschlagen, das Strafrecht der richtige Rah-
men zur Lösung des Problems ist, ist die Initiative ein hilf-
reicher Beitrag zu einer notwendigen Debatte. Die Bun-
desregierung hat gerade im vergangenen Monat auf
meine schriftlichen Fragen zu Gewalt gegen Polizistin-
nen und Polizisten des Bundes dargelegt, dass Bundes-
polizei und Bundeskriminalamt sowie der Zoll der The-
matik Gewalt gegen Polizeibeamte seit Jahren besondere
Aufmerksamkeit widmen – und angesichts von circa
1 000 Übergriffen pro Jahr allein gegen Bundespolizei-
beamte auch widmen müssen. Gerade im Rahmen von
Demonstrationen ist es in den letzten Jahren immer wie-
der zu gewaltsamen Übergriffen auf die Polizei gekom-
men, insbesondere aus dem linksextremistischen Lager.

Eine derart einseitige Befassung mit dem Thema wie
hier von der Fraktion Die Linke vorgelegt, ist aus Sicht
der FDP-Fraktion jedenfalls nicht nachvollziehbar.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621732100

Dass es auch in Deutschland Rassismus gibt, muss

endlich klar erkannt und benannt werden. Ein Problem
kann erst bearbeitet werden, wenn es benannt wird. Ge-
nau davor drückt sich die Bundesregierung immer noch,
und das trotz steigender Zahlen rassistischer Übergriffe.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Minister, ein Mi-
nisterpräsident oder die Bundeskanzlerin in den letzten
Jahren gesagt hätte: Ja, wir haben ein Problem mit Ras-
sismus! Nach wie vor reduziert die Bundesregierung Ras-
sismus auf ein Problem von Rechtsextremisten. Solange
rassistische Vorfälle als Einzelfälle und Ausnahme von
der Regel begriffen werden, wird sich aber an der Wurzel
des Problems nichts ändern.

Der UN-Menschenrechtsrat empfahl dem deutschen
Gesetzgeber, endlich eine klare und umfassende Defini-
tion von Rassismus und rassistischer Diskriminierung ge-
setzlich zu verankern. Zudem müsse die Bundesregierung
Maßnahmen zur Verbesserung und Fortschreibung des
Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus ergreifen. Ge-
rade der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus zeigt,
wie schlampig die Bundesregierung mit dem Thema Ras-
sismus umgeht. Diskriminierende und ausgrenzende
Gesetze und Vorschriften stehen gar nicht erst zur Diskus-
sion, obwohl Migrantinnen und Migranten durch Ein-
schränkungen ihrer Rechte gegenüber Deutschen als
„nicht gleichwertig“ stigmatisiert werden. In Togo war es
der Bevölkerung während der deutschen Kolonialzeit
verboten, ihr Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige
Sondergenehmigung zu verlassen. Die heutige Residenz-
pflicht für Flüchtlinge bedeutet im Kern nichts anderes.
Daneben weist auch das Asylbewerberleistungsgesetz
rassistische Schikanen auf. Die Leistungen liegen rund
35 Prozent unter dem Sozialhilfesatz und werden oft nur
in Form von Sachleistungen gewährt. Dass Abschie-
bungshäftlinge für Kosten der Haft und der Abschiebung
auch noch zahlen müssen, ist der zynische Höhepunkt ei-
ner rassistischen Abschiebepraxis in Deutschland.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Ulla Jelpke
Und so wie die Bundesregierung die in der Abschluss-
erklärung der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban
2001 geforderte Beseitigung aller „diskriminierenden
Politiken und Praktiken gegenüber Migranten“ ignoriert,
will sie auch nicht der Aufforderung nachkommen, Akte
des Rassismus insbesondere von Strafverfolgungsbeam-
tinnen und -beamten zu erfassen. Doch der UN-Men-
schenrechtsrat empfahl dem deutschen Gesetzgeber eben
auch, gegen rassistische Polizeiübergriffe Maßnahmen
zu ergreifen. Insbesondere im Bereich Justiz und Polizei
ist die Bundesregierung wiederholt von internationalen
Gremien in deutlicher Form kritisiert worden, zuletzt im
August 2008 vom UN-Ausschuss zur Beseitigung der ras-
sistischen Diskriminierung CERD. Die Europäische
Kommission gegen Rassismus und Intoleranz – ECRI –
wies in ihrem dritten Bericht zu Deutschland gleichfalls
auf Erscheinungen des Rassismus in Staat und Gesell-
schaft hin, ebenso die Menschenrechtsbeauftragte des
Europarats.

Immer wieder gehen auch Beschwerden bei Flücht-
lingsräten und Opferberatungsstellen von Menschen ein,
die geltend machen, dass sie ohne ersichtlichen Grund
und offenbar anknüpfend allein an die Hautfarbe durch
die Polizei kontrolliert, diskriminiert und gedemütigt
werden. Rassistische Kontrollen, Pauschalverdächtigun-
gen, Entrechtung sowie politische und juristische Verfol-
gung sind für viele Flüchtlinge, Migrantinnen und
Migranten alltägliche Erfahrungen. Für die Betroffenen
bedeutet der Übergriff häufig das Gefühl völliger Ohn-
macht gegenüber Polizei und Staat. Dies wird durch die
geringe Chance einer strafrechtlichen Ahndung des
Übergriffs noch verstärkt. Aufgrund einer ungerechtfer-
tigten Gegenanzeige und einer systematischen Nichtver-
folgung und Nichtsanktionierung von Übergriffen hat
meistens nicht der Täter, sondern das Opfer mit einer Ver-
urteilung zu rechnen. Immer das gleiche Schicksal einer
Strafanzeige gegen die Täter: Gegenanzeigen, interne
Untersuchungen, die diese Bezeichnung nicht verdienen,
Staatsanwälte, die kaum ermitteln und schon gar nicht
anklagen.

Ein solches Opfer ist Erdal R., dessen Wohnung von ei-
nem Berliner Spezialeinsatzkommando gestürmt wurde.
Er wurde eines bewaffneten Überfalls verdächtigt – irr-
tümlich, wie sich bald herausstellte. Sein Zustand nach
erfolgter Festnahme legt hingegen den Gedanken nahe,
er selbst sei Opfer eines bewaffneten Überfalls geworden.
Fotos zeigen ihn mit blutigem, zugeschwollenem Gesicht
und einem ausgeschlagenen Schneidezahn. Die darauf-
folgende Arbeit der Staatsanwaltschaft lässt sich eher als
Vertuschungsmanöver denn als ernsthafte Ermittlungstä-
tigkeit beschreiben. Hätte nicht die Mutter des Zeugen
geistesgegenwärtig Fotos ihres Sohnes nach erfolgter
„Festnahme“ gemacht, dann wäre wohl kaum jemand
vor Gericht gestellt worden. Doch auch so war noch ein
langjähriges Klageerzwingungsverfahren erforderlich,
das letztlich Anfang 2008 mit Freispruch endete. Aller-
dings hielt es der Richter der ersten großen Strafkammer
des Landgerichts Berlin-Moabit für „unfassbar“, wie die
Berliner Staatsanwaltschaft und ihr unterstellte Polizei-
beamte von der Dienststelle für Interne Ermittlungen die
Aufklärung schwerer Vorwürfe gegen drei Polizisten be-
Zu Protokoll
trieben – oder besser gesagt: nicht betrieben – haben. Lü-
ckenhafte Untersuchungen, offensichtliche Widersprüche
in den Vernehmungsprotokollen, viel zu späte Ermittlun-
gen – alles in allem, sagt der Richter laut „Die Zeit“ vom
1. Mai 2008, hätten die Behörden „die Wahrheitsfindung
massiv erschwert“.

Man muss sich nicht lange umschauen, um ähnliche
Fälle zu finden. In Hagen starb 2007 ein junger Mann mit
türkischem Migrationshintergrund auf einer Polizeiwa-
che. Vermutet wurde ein „lagebedingter Erstickungstod“.
Er war bäuchlings liegend an Händen und Füßen zusam-
mengebunden worden, eine Fesselungstechnik, die in den
USA seit 20 Jahren verboten ist. Es bedurfte aber erst po-
litischen Drucks aus Deutschland und der Türkei, damit
die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachging. Und vor
dem Landgericht Dessau wurde der Tod von Oury Jalloh
verhandelt, der unter mehr als zweifelhaften Umständen
im Polizeigewahrsam verbrannt war. Der Fall des in
Polizeigewahrsam zu Tode gekommenen Oury Jalloh hat
einmal mehr gezeigt, dass die Aufklärung unzulässiger
und/oder unverhältnismäßiger staatlicher Gewaltanwen-
dung mit den vorhandenen Mitteln nur schwer zu errei-
chen ist. Wie in zahlreichen anderen Fällen von unzuläs-
siger Polizeigewalt oder unzulässigem Handeln der
Polizei kam es auch in diesem bundesweit beachteten Fall
zu keiner wirklichen Aufklärung des Geschehens, bei dem
immerhin ein Mensch im Polizeigewahrsam verbrannte.
Im konkreten Fall wurden vom Vorsitzenden Richter vor
allem die (Nicht-)Aussagen der beteiligten Polizeibeam-
ten dafür verantwortlich gemacht, dass es zu keiner be-
friedigenden Rekonstruktion des Tathergangs kommen
konnte. Der spektakuläre Fall aus Sachsen-Anhalt reiht
sich ein in weitere Fälle unverhältnismäßiger Polizeige-
walt. In Bremen unterstellte die Polizei Laya Alama
Condé, er sei ein Drogendealer und hätte Kügelchen ver-
schluckt – mit tödlicher Folge. Im Zuge eines sogenann-
ten Brechmitteleinsatzes starb Laya Alama Condé 2005.
Auch N’deye Mareame Sarr, Halim Dener, Michael Paul
Nwabuisi genannt John Achidi, Laye Konde, Zdravko
Nikolov Dimitrov, Aamir Ageeb, Arumugasamy
Subramaniam, Dominique Koumadio starben in staatli-
cher bzw. polizeilicher Obhut. In nicht allen Fällen wurde
eindeutig aufgeklärt, wie es zum Tod dieser Menschen
kommen konnte.

All das zeigt, dass die Bereitschaft der Polizei in der
Bundesrepublik, Fehlhandlungen und strukturelle Pro-
bleme von außen betrachten zu lassen, derzeit gering bis
gar nicht vorhanden ist. Zahlreiche Expertinnen und Ex-
perten fordern deshalb die Einrichtung polizeiunabhän-
giger Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen zur
Untersuchung insbesondere auch rassistischer Polizei-
gewalt in Deutschland. Die Empfehlung zur Einrichtung
eines polizeiunabhängigen Kontrollmechanismus ist wie-
derholt auch von internationaler Ebene – von den Verein-
ten Nationen und dem Europarat – an Deutschland er-
gangen. Zuletzt hat der Europaratskommissar Thomas
Hammarberg in seinem im Juli 2007 veröffentlichten Be-
suchsbericht zu Deutschland deutlich gemacht, dass die
Polizei in einer demokratischen Gesellschaft bereit sein
muss, ihre Maßnahmen überwachen zu lassen, und für
diese zur Verantwortung gezogen zu werden. Der Euro-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Ulla Jelpke
paratskommissar ruft die deutschen Behörden auf, zu die-
sem Zweck unabhängige Beobachtungs- und Beschwer-
degremien einzurichten.

Damit würde das Bemühen deutlich, begangene Feh-
ler und absehbare Fehlentwicklungen zu erkennen und zu
beseitigen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundes-
regierung auf, im Rahmen der Innenministerkonferenz
eine Initiative mit dem Ziel zu starten, in allen Bundeslän-
dern und im Bund polizeiunabhängige Beschwerde- und
Untersuchungsmechanismen durch die Einrichtung un-
abhängiger Beauftragter zur Untersuchung von Polizei-
gewalt einzurichten, die sich mit der Anwendung unge-
setzlicher und unverhältnismäßiger sowie insbesondere
rassistischer Polizeigewalt beschäftigen soll. Diese müs-
sen unabhängig sein, das heißt frei von Einflussnahmen
und Weisungen durch Polizei, Staatsanwaltschaft,
Ministerien oder politisch Verantwortliche. Die Beauf-
tragten – wie unter anderem von Amnesty International
vorgeschlagen – sollen die Polizei auf Defizite und Fehl-
handlungen aufmerksam machen und zu Lösungen für de-
ren Beseitigung beitragen. Diese Aufgabe kann mit der
Aufarbeitung von Einzelfällen polizeilichen Fehlverhal-
tens erfüllt werden, bei denen sie eigeninitiativ, aufgrund
von Beschwerden Betroffener und Zeugen, Medienbe-
richten oder aufgrund von Hinweisen aus der Polizei-
organisation tätig werden können.

Wenn sich die demokratische Verfasstheit einer Gesell-
schaft besonders an ihrem Umgang mit Migrantinnen und
Migranten bemessen lässt, steht es derzeit schlecht um
die Bundesrepublik. Mit der Einrichtung unabhängiger
Polizeibeauftragter, könnte sie einen Schritt tun, um ras-
sistischer Gewalt vonseiten der Polizei konsequent entge-
genzutreten.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621732200

Es stimmt. Es gibt immer wieder Fälle von Polizeige-

walt. Leider. Wir haben heute zwar im Großen und Gan-
zen eine gut funktionierende und dem Rechtsstaat ver-
pflichtete Polizei in den Ländern und im Bund. Dennoch
kommen Übergriffe vor, und es gibt zu harte und exzessive
Einsätze. Davon sind in der Tat überproportional Mi-
grantinnen und Migranten betroffen. Auch das ist zutref-
fend, und es zu leugnen, ist nicht nur dumm, sondern so-
gar gefährlich. Betrachten Sie es einmal aus der Sicht der
Polizistinnen und Polizisten. Sie versehen einen harten
Dienst, müssen nicht selten den Kopf für andere hinhal-
ten, begegnen zunehmend einem aggressiven Gegenüber
und werden zuweilen auch noch schlecht geführt. So
kommt es allzu häufig vor, dass sie auf Kritik reflexartig
mit Abschottung und Korpsgeist reagieren. Dazu kommt:
Polizistinnen und Polizisten, die Verfehlungen offenlegen
wollen, droht entweder die Strafbarkeit bei eigenem Fehl-
verhalten oder bei Nichtanzeige der Taten von Kollegen
die strafbare Strafvereitelung im Amt. Und den Betroffe-
nen stehen mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei
keine Ansprechpartner zur Seite, die außerhalb des Appa-
rates angesiedelt sind und jenseits des Strafverfolgungs-
zwanges agieren können.
Zu Protokoll
Das ist ein Übel, dem nur mit Transparenz und Kon-
trolle beizukommen ist. Ein unabhängiger Beauftragter
für Fälle von Polizeigewalt, ein Ombudsmann, eine Poli-
zeibeschwerdestelle oder wie immer man eine solche
Kontrollinstanz nennen will, ist nicht dafür da, die Polizei
vorzuführen. Sie arbeitet nicht gegen die Beamtinnen und
Beamten. Polizeikontrolle geht nach meinem Verständnis
nur mit der Polizei, nicht gegen sie. Umgekehrt gilt:
Polizei im demokratischen Rechtsstaat darf die Kontrolle
nicht fürchten, sondern muss sie fördern. Und Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser. Da hat die Linke ausnahms-
weise einmal recht. Das hilft auch der Polizei, weil es ihr
Ansehen in der Bevölkerung hebt. Umso unverständlicher
ist es, dass sich Innenpolitiker in Bund und Ländern im-
mer noch gegen eine Kontrolle wie der Teufel gegen das
Weihwasser wehren und alle Arbeit dem Disziplinarrecht
und erst dann, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden
lässt, mehr schlecht als Recht dem Strafrecht überlassen
und damit die Polizisten letztlich sich alleine überlassen.

Wir hatten unter Rot-Grün eine Kommission in Ham-
burg als historisch erste Kontrollinstanz in Deutschland.
Sie litt noch unter zu geringer Mittelausstattung und trug
die erschwerende Last einer ausschließlich ehrenamt-
lichen Arbeit der Kontrolleure. Dennoch hat die Kommis-
sion gearbeitet und hatte auch Erfolge. Der nachfolgende
Justizsenator mit Namen Roland Barnabas Schill zertrat
diese zarte Pflanze. Die Hamburger Grünen haben dieser
Idee wieder Leben eingehaucht und im Koalitionsvertrag
mit der CDU eine „Zentralstelle für Transparenz und
Bürgerrechte“ vereinbart. Die wird auch kommen; denn
die Mittel sind schon in den Haushaltsplan eingestellt. In
Sachsen-Anhalt startete SPD-Innenminister Hövelmann
im letzten Jahr zumindest eine Spar-Beschwerdestelle.
Auch da ist Kritik angebracht, aber es ist schon ein
Schritt in die richtige Richtung. In den übrigen 14 Bun-
desländern gibt es gar nichts, und auch der Bund hält es
beim Thema Polizeigewalt immer noch nach der Methode
der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Das ist falsch verstandene Solidarität. Damit helfen Sie
den Beamten vor Ort nicht. Anderswo in Europa funktio-
niert es besser. Die Kritik aus dem UN-Bericht ist daher
gerechtfertigt. In Sachsen-Anhalt hatten wir im letzten
Jahr eine sehr informative Veranstaltung mit zwei Om-
budsmännern der nordirischen Polizei. Die mussten in
Nordirland die Folgen eines Bürgerkrieges bekämpfen
und das Vertrauen in eine Polizei wiederherstellen, der
sehr viel schwerwiegendere Dinge als der deutschen
Polizei vorgeworfen wurden. Das ist ihnen gelungen.
Aber nicht, indem sie eine Mauer des Schweigens aufge-
baut haben, sondern indem sie sich über ein Melde- und
Kontrollsystem systematisch das Vertrauen der Bevölke-
rung wieder erworben haben. Die 1,7 Millionen Nordiren
können sich jederzeit an einen der 150 Mitarbeiter dieser
Stelle wenden. Vertrauen kann man aber nur bilden, wenn
Missstände – und die gibt es in jeder Institution – offen
angesprochen und bei Bestätigung des Verdachts besei-
tigt werden. Wir brauchen eine echte Bürgerpolizei und
nicht eine durch falsche Laissez-faire-Politik in ihrer
Cop-Culture alleingelassene Polizeitruppe. Ich habe im-
mer gesagt, es darf keine rechtsfreien Räume geben, erst
recht nicht bei der Polizei!



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621732300

Hier wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck-

sache 16/12683 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. – Damit sind Sie einverstan-
den. Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 31:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,
Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Gewerbesteuerumlage – An den Bund ab-
schaffen, an die Länder schrittweise auf Null
absenken

– Drucksachen 16/11373, 16/12700 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Scheelen
Dr. Axel Troost

Antje Tillmann, Bernd Scheelen, Frank Schäffler,
Katrin Kunert und Britta Haßelmann haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1621732400

Die Behauptung der Linken, durch eine Abschaffung

der Gewerbesteuerumlage an den Bund die Konjunktur
zu stärken, geht an den Fakten vorbei. Zu ungenau und zu
ungleichmäßig würde eine Absenkung der Gewerbesteu-
erumlage wirken, um im Großen die Wirtschaft vor Ort zu
stärken.

Erstens: Wirkung der Konjunkturpakete I und II. Wir
haben bereits effektiv durch die Konjunkturprogramme
gehandelt und gezielt Maßnahmen ergriffen, um die Wirt-
schaft in den Kommunen zu beleben. Einige Schlagworte
möchte ich nennen: Aufstockung des Gebäudesanie-
rungsprogramms: 3 Milliarden Euro mehr fließen in den
nächsten zwei Jahren in das Programm sowie in andere
Maßnahmen, wie zum Beispiel den altersgerechten Um-
bau von Wohnungen; Verbesserung der Infrastruktur in
finanzschwachen Kommunen: Diese bekommen über
Programme der KfW 3 Milliarden Euro; Finanzmittel zur
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“: In
einem Sonderprogramm werden 200 Millionen Euro zu-
sätzlich zur Verfügung gestellt; Und nicht zuletzt das im
Februar 2009 beschlossene kommunale Investitionspro-
gramm: Für Investitionen von Bund und Ländern – zum
Beispiel in Kitas, Schulen und Hochschulen sowie in Ver-
kehrswege, Krankenhäuser und ländliche Infrastruktur –
stellt der Bund 10 Milliarden Euro in den Jahren 2009
und 2010 zur Verfügung, mehr als 7 Milliarden Euro da-
von gehen an die Kommunen. Immer mehr konkrete Bau-
und Sanierungsvorhaben werden beispielsweise von den
Ratsversammlungen der Städte beschlossen. Die Planun-
gen in den Stadtverwaltungen sind oft schon fortgeschrit-
ten. Die Kommunen wollen die Mittel aus dem Konjunk-
turpaket zügig einsetzen und so aktiv Arbeitsplätze vor
Ort sichern. Ausschreibungen sollen im April und Mai
anlaufen. Schon in wenigen Wochen können Handwerker
und mittelständische Unternehmen mit den ersten Aufträ-
gen rechnen. Zudem erlauben wir durch eine Änderung
des Art. 104 b GG, in Krisen Finanzhilfen des Bundes
auch dort zu gewähren, wo der Bund keine Gesetzge-
bungskompetenz hat.

Besonders das Investitionspaket bietet die Chance,
den Menschen mit kommunalen Investitionen Hoffnung
zu geben. Wenn Einrichtungen der Kinderbetreuung in
Ordnung gebracht, Schulen und Krankenhäuser energe-
tisch saniert werden und in kommunale Infrastruktur in-
vestiert wird, dann sichert dies Arbeitsplätze im heimi-
schen Handwerk, ist gut für die Umwelt und das Klima,
verbessert die Wirtschaftlichkeit kommunaler Einrich-
tungen und stärkt nachhaltig den Wirtschaftsstandort
Deutschland. Daneben wirken auch die Milliarden aus
dem Bankenrettungsfonds und die Milliarden aus Bund-
und Länderinvestitionen in Kommunen; denn auch die
beauftragten Unternehmen haben ihren Sitz in einer
Kommune und zahlen dort Gewerbesteuer. Sicherlich ist
das Investitionsprogramm kein Rettungsprogramm für
Länderfinanzen oder für klamme kommunale Haushalte.
Im Vordergrund steht ganz klar die nachhaltige Stärkung
des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Und auch eine
Entlastung der Arbeitgeber von Lohnkosten hat Auswir-
kungen auf die Steuereinnahmen der Kommunen. Aus
Sicht der Kommunen ist dabei die Gewerbesteuer nicht
unproblematisch. Vor allem ihre Abhängigkeit vom Auf
und Ab der Konjunktur und die damit gegebenen starken
Schwankungen der Einnahmen sorgen bei den Kämme-
rern für Verdruss. Besonders brenzlig für sie wird es
dann, wenn in schlechten Zeiten größere Unternehmen
als Steuerzahler ausfallen.

Zweitens: Der Bund ist von der Krise massiv betroffen.
Vor der Krise hatten die Kommunen in Deutschland ein
gutes Ergebnis erzielt. Nach Schätzungen des Statisti-
schen Bundesamtes haben sie insgesamt 174,9 Milliarden
Euro und damit 3,3 Prozent mehr an Einnahmen erzielt
als im Vergleichsjahr 2007. Die Situation des Bundes war
bei weitem nicht so erfreulich! Nach aktuellen Schätzun-
gen werden die neuen Schulden in 2009 und 2010
100 Milliarden Euro erreichen. Natürlich ist mir auch be-
wusst, dass sich solch ein Ergebnis aufgrund der Wirt-
schaftkrise, die sich auch auf die Finanzen von Städten
und Gemeinden durchschlägt, in diesem Jahr nicht reali-
sieren lässt. Im Januar 2009 gaben die kommunalen Spit-
zenverbände einen voraussichtlichen Rückgang der Ge-
werbesteuereinnahmen um durchschnittlich 9,1 Prozent
an. Aber die Auswirkungen auf den Bund sind weit dra-
matischer: Arbeitslosenversicherung, Steuereinbrüche,
Steuerreform, Zinsen für Konjunkturprogramme, Milliar-
den-Konjunkturprogramme. Trotzdem tun wir gerade
auch mit dem vor kurzem verabschiedeten Investitions-
programm für Länder und Kommunen alles, um die Wirt-
schaft wieder anzukurbeln und die Finanzen zu sichern.
Wo dann aber noch die 8 Milliarden Euro Gewerbe-
steuer-Umlageausfälle beim Bund herkommen sollen,
lassen die Linken wie üblich offen.

Drittens: Wer viel Gewerbesteuer kriegt, gewinnt am
meisten. Würden wir, wie es die Linke beantragt, die Ge-
werbesteuerumlage abschaffen, würden Kommunen, die
eine geringe Wirtschaftskraft haben, nicht von der Ab-
schaffung der Umlage profitieren. Diejenigen, die noch
anständige Gewerbesteuereinnahmen haben, zahlen eine


(A) (C)



(B) (D)


Antje Tillmann
relativ hohe Gewerbesteuerumlage. Würden wir Ihrem
Antrag folgen, dann würden wir genau denen einen hohen
Anteil zurückgeben. Diejenigen, die aufgrund sinkender
Gewerbesteuereinnahmen Schwierigkeiten haben, wür-
den keinen Vorteil davon haben, wenn wir die in Ihrem
Antrag aufgestellten Forderungen umsetzten. Uns dage-
gen war es im Investitionsprogramm wichtig, dass auch
die finanzschwachen Kommunen mitmachen können. Oft
ist die Arbeitsmarktsituation in den finanzschwachen
Kommunen besonders schwierig. Entscheidend ist, dass
Bund, Länder und Kommunen gemeinsam der Wirtschaft
einen kräftigen Impuls geben. In vielen Ländern wird der
kommunale Mitleistungsanteil bei finanzschwachen
Kommunen zusätzlich übernommen. In Thüringen bei-
spielsweise können Gemeinden, die aufgrund ihrer
Finanzschwäche nicht in der Lage sind, den Mitleistungs-
anteil in Höhe von 25 Prozent zu erbringen, Landesmittel
aus dem Landesausgleichsstock erhalten.

Viertens: Wie ist es eigentlich zur Umlage gekommen?
Wer die Gewerbesteuerumlage im aktuellen System unter
Beibehaltung der bestehenden Gewerbesteuer abschaf-
fen will, verkennt die finanzpolitische Bedeutung dieser
Umlage: Die Gewerbesteuerumlage geht zurück auf die
am 1. Januar 1970 eingeführte Gemeindefinanzreform.
Kernstück hierbei war ein Steueraustausch zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden: Die Gemeinden wurden
an dem Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt, Bund
und Länder erhielten einen Anteil am Gewerbesteuerauf-
kommen, Gewerbesteuerumlage. Dies war ein Wunsch
der Kommunen, da die Gewerbesteuer weit mehr Kon-
junkturschwankungen unterliegt als die Einkommen-
steuer. Des Weiteren hat die Gewerbesteuerumlage zu-
letzt bei der Unternehmensteuerreform als eine wichtige
Stellschraube zum Austarieren der Finanzbeziehungen
zwischen Bund, Ländern und Kommunen gedient. Damit
die Kommunen an der Finanzierung der Unternehmen-
steuerreform bei voller Jahreswirkung nicht beteiligt
werden, sieht das Unternehmensteuerreformgesetz eine
dauerhafte Absenkung der Gewerbesteuerumlage vor.
Aus all den genannten Gründen lehnen wir den Antrag
der Linken ab.


Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1621732500

In dem hier vorgelegten Antrag gibt es nur einen ein-

zigen Punkt, dem zuzustimmen ist, und das ist die korrekte
Wiedergabe des Einführungsdatums der Gewerbesteuer-
umlage am 1. Januar 1970. Bereits in meiner letzten Rede
zu diesem Antrag habe ich darauf hingewiesen, dass der
von der Linken vorgeschlagene Weg der Abschaffung der
Gewerbesteuerumlage ins Nirgendwo führt. Bedauerli-
cherweise haben Sie es immer noch nicht verstanden,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken.

Das Argument, die Abschaffung würde die finanzielle
Situation der Kommunen insbesondere in der aktuellen
Finanzkrise verbessern, klingt vordergründig gut – ent-
spricht aber nicht der Realität. Die Absenkung bzw. Ab-
schaffung würde keinen Einfluss auf die aktuelle Situation
haben. Sie würde zu spät, zu ungenau und vor allem zu
ungleichmäßig wirken und damit weder den Kommunen
helfen noch die Wirtschaft stärken oder gar die Konjunk-
tur stützen. Die Große Koalition hat bereits vielfältige
Zu Protokoll
Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunalfinanzen
vorgenommen. An dieser Stelle sei exemplarisch auf die
Unternehmensteuerreform hingewiesen, in deren Rah-
men sichergestellt wurde, dass Mindereinnahmen aus-
schließlich zulasten von Bund und Ländern gehen – im
Gegenzug aber die Gewerbesteuer konjunkturunabhän-
giger gestaltet wurde. Zudem hat die Bundesregierung
mit dem Konjunkturpaket II den Kommunen zusätzliche
Mittel zur Verfügung gestellt, um so der Krise entgegen-
zuwirken und den Kommunen einen finanziellen Spiel-
raum zu ermöglichen.

Auch an meinem Argument, dass die Abschaffung der
Umlage ungerecht sei, da Gemeinden mit geringer Wirt-
schaftskraft verhältnismäßig wenig profitieren würden,
hat sich nichts geändert – und es konnte bis jetzt auch
nicht von Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der
Linksfraktion, entkräftet werden. Gemeinden mit gerin-
ger Wirtschaftskraft verfügen über weniger Gewerbe-
steuereinnahmen und damit über weniger Umlagenan-
teile. Gemeinden wie beispielsweise München haben
dagegen deutlich höhere Gewerbesteuereinnahmen und
folglich auch mehr Umlagenanteile. Als logische Schluss-
folgerung ergibt sich daraus, dass Sie denen, die sowieso
schon mehr haben, auch mehr geben – was daran sozial
gerecht sein soll, müssen Sie mir mal bitte erklären.

Und davon mal ganz abgesehen haben die Kommunen
selbst überhaupt kein Interesse daran, die Gewerbesteu-
erumlage abzuschaffen, denn damit würden der Abschaf-
fung der Gewerbesteuer insgesamt Tür und Tor geöffnet.
Die Kommunen haben ein höchst eigennütziges Interesse
an der Beteiligung von Bund und Ländern an der Gewer-
besteuerumlage. Solange nämlich alle drei im selben
Boot sitzen, kann auch niemand ernsthaft Interesse daran
haben, das Boot zu versenken.

Der Antrag ist nach wie vor weder zielführend noch
besonders hilfreich und daher rundherum abzulehnen.
Sie von der Linksfraktion können sich ja gern auf den Weg
ins Nirgendwo machen – aber erwarten Sie bitte nicht,
dass wir Sie auf Ihrer Reise begleiten.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1621732600

Das Bruttoinlandsprodukt in unserem Land wird in

diesem Jahr nach der heutigen Prognose der Wirtschafts-
forschungsinstitute um 6 Prozent schrumpfen. Im gerade
begonnenen Quartal von April bis Juni wird sogar ein
Rückgang von 8,2 Prozent erwartet, und auch für das
nächste Jahr wird ein Minus prognostiziert. In dieser
Situation ist es richtig, zu fragen, wie die Steuerpolitik auf
diese Krise reagieren muss. Es ist bedauerlich, dass der
Linken dazu nur Umverteilung einfällt. Durch Ihren Vor-
schlag werden die Unternehmen um keinen Cent entlas-
tet, sondern es werden nur Steuereinnahmen hin- und her-
geschoben.

Tatsächlich hat aber die Koalition die Krise durch Än-
derungen im Rahmen der Unternehmensteuerreform ver-
schärft, die Gewerbesteuer wurde ja gerade ausgeweitet.
Die Bundesregierung hat nun ein halbherziges Zurückru-
dern mit minimalen Änderungen angekündigt. Wir for-
dern, die krisenverschärfenden Belastungen durch die
Unternehmensteuerreform kurzfristig zurückzunehmen.
Hinsichtlich der Gewerbesteuer werden unter anderem



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Frank Schäffler
Zinsen sowie die Finanzierungsanteile aus Mieten, Pach-
ten und Leasingraten besteuert. Die gewerbesteuerpflich-
tigen Unternehmen müssen also Steuern auf ihre Kosten
entrichten. Die Fremdfinanzierung der Betriebe wird
künstlich verteuert, weil ein Viertel der gezahlten Zinsen
der Gewerbesteuer unterliegt, unabhängig davon, ob Ge-
winne erzielt werden oder nicht. Teilweise ist die Steuer
damit sogar aus der Substanz der Unternehmen zu zah-
len. Viele Einzelhändler klagen darüber, dass sie trotz zu-
rückgehender Umsätze 75 Prozent der gezahlten Mieten
versteuern müssen. Ein Festhalten an dieser Regelung ist
angesichts der wirtschaftlichen Lage unverantwortlich.
Die Hinzurechnungsbesteuerung verschlechtert die Lage
vieler Unternehmen zusätzlich. Unsere kurzfristig umzu-
setzenden Vorschläge haben wir im Entwurf eines Geset-
zes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform vorge-
legt, Bundestagsdrucksache 16/12525.

Darüber hinaus halten wir daran fest, dass es eine um-
fassende Gemeindefinanzreform geben muss. Dabei soll
die Gewerbesteuer durch ein Konzept der Kommunal-
finanzierung ersetzt werden, das für die Gemeinden ein
ausreichendes Finanzierungsniveau gewährleistet und
ihnen stetige Einnahmen sichert. Die Finanzen der Kom-
munen sollen auf eine solide Grundlage gestellt werden,
indem die konjunkturanfällige Gewerbesteuer durch ei-
nen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und ein eigenes
Hebesatzrecht der Kommunen auf die Einkommen- und
Körperschaftsteuer ersetzt wird.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1621732700

Ich habe mir die Argumente angesehen, die in der ers-

ten Lesung am 18. Dezember 2008 im Bundestag gegen
den Antrag der Linken „Gewerbesteuerumlage – An den
Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null ab-
senken“ vorgebracht wurden. Den Vogel schießt dabei
zweifellos die Fraktion der SPD ab: „Die Gewerbesteu-
erumlage ist unerlässlich, damit das Interesse des Bundes
und der Länder an der Existenz der Gewerbesteuer Be-
stand hat.“ Nach dieser Logik müssten Bund und Länder
wohl auch an der Hundesteuer der Kommunen beteiligt
werden, wenigstens an der für Kampfhunde. Und wie
wäre es mit einer staatlichen Beteiligung an der Grund-
steuer? Wer – wie die SPD in ihren Sonntagsreden – die
Gewerbesteuer als Band zwischen Wirtschaft und Kom-
mune verteidigt, das wir dringend brauchen, damit es vor
Ort ein Ansiedlungsinteresse und aktive Wirtschaftsförde-
rung gibt, müsste eigentlich zustimmen, dass jede Be-
schneidung der Gewerbesteuer durch eine Abführung an
Bund und Länder in Höhe von fast 20 Prozent dieses
Band beschädigt. Eine Rechtfertigung der Gewerbe-
steuer als Klammer zwischen Kommune und örtlichem
Gewerbe erlaubt eine Gewerbesteuerumlage überhaupt
nicht.

Völlig merkwürdig ist auch der Vorwurf der SPD, „mit
der Forderung nach Abschaffung der Gewerbesteuer-
umlage (wird) auch die Gewerbesteuer selbst zur Dis-
position gestellt“. Das Leben spricht eine andere Spra-
che. Alle Bundesregierungen mit SPD-Beteiligung haben
in den letzten 20 Jahren die Gewerbesteuer systematisch
abgebaut. 1997 entfiel die Gewerbekapitalsteuer. 2001
senkte Rot-Grün den Steuersatz, zudem wurden Gewinne
Zu Protokoll
aus dem Verkauf von Anteilen an andere Unternehmen
steuerfrei gestellt. Im Ergebnis kam es zu tiefen Einbrü-
chen bei den Gewerbesteuereinnahmen. Erst 2006 war
wieder das Niveau des Jahres 2000 erreicht. Doch durch
die Unternehmensteuerreform der Großen Koalition kam
es bereits 2008 wieder zu Einnahmeausfällen in Höhe von
rund 2 Milliarden Euro gegenüber 2007.

Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist zu be-
fürchten, dass es zu weiteren Gewerbesteuereinbrüchen
kommt. Wenn die Wirtschaft nicht läuft, läuft auch die Ge-
werbesteuer nicht. Einige Unternehmen haben bereits
angekündigt, geleistete Gewerbesteuervorauszahlungen
von den Kommunen zurückzufordern. Besonders hart
wird das Standortkommunen von Banken, Versicherun-
gen, der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer treffen.
Mit steigender Arbeitslosigkeit werden die kommunalen
Ausgaben für soziale Leistungen deutlich steigen. Inso-
fern werden die Kommunen von zwei Seiten in die Zange
genommen. Damit erhöht sich der Druck, kommunale
Leistungen zu kürzen und kommunales Vermögen verkau-
fen zu müssen. Eine verbesserte Gewerbesteuer ist also
notwendig, damit die Kommunen endlich wieder mehr in-
vestieren und damit Impulse für die wirtschaftliche Ent-
wicklung geben können und so auch Arbeitsplätze vor Ort
entstehen. Die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage
wäre dazu ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Als ebenso notwendig erachtet Die Linke eine Steuer-
pflicht für alle selbstständig ausgeübten Tätigkeiten. Bis-
lang unterliegen Freiberufler oder andere nichtgewerbli-
che selbstständige Tätigkeiten wie Rechtsanwälte, Ärzte
nicht der Gewerbesteuer. Land- und forstwirtschaftliche
Betriebe werden nur besteuert, wenn sie im Handelsregis-
ter eingetragen sind oder der Umsatz, der mit gewerbli-
chen Dienstleistungen erzielt wird, 5 000 Euro übersteigt.
Die Einbeziehung aller unternehmerisch Tätigen in die
Gewerbesteuerpflicht – bei Berücksichtigung sozialer
Belange kleiner Unternehmen und Existenzgründer –
würde dazu führen, die Steuerlast auf mehr „Schultern“
zu verteilen. Das nützt der örtlichen Wirtschaft, dem Ar-
beitsmarkt, den Bürgerinnen und Bürgern.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sorgt sich, „eine
spontane Abschaffung der Gewerbesteuerumlage

(würde) das diffizile Gleichgewicht des Finanzausgleichs

zwischen Bund, Ländern und Kommunen aus dem Lot
bringen“. Dazu ist dreierlei festzustellen.

Erstens, die Kommunen sind nach der Finanzverfas-
sung Teil der Länder, zwischen Bund und Gemeinden be-
stehen keine Finanzausgleichsbeziehungen. Also kann
hier gar nichts aus dem Lot gebracht werden. Deshalb
kann – wenn es politisch gewollt ist – die Gewerbebesteu-
erumlage an den Bund unverzüglich abgeschafft werden.

Zweitens wollen wir die Umlage an die Länder – wie
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beanstandet – kei-
neswegs „spontan“ abschaffen. Wir plädieren in unserem
Antrag für eine schrittweise Abschmelzung bis Ende
2013, weil natürlich die Gewerbesteuerumlage durchaus
ein wichtiger Posten im Länderhaushalt ist und auch eine
gewisse Rolle im kommunalen Finanzausgleich spielt.
Entsprechend muss das Abschmelzen durch Kompensa-
tionen an anderer Stelle organisiert werden.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Katrin Kunert
Drittens kann von „Gleichgewicht des Finanzaus-
gleichs“ schwerlich die Rede sein. Im Gegenteil, es gibt
da kommunalunfreundliche Unwuchten, die unser Antrag
faktisch mit beseitigen würde. So beispielsweise diese
Unwucht: Auf Wunsch der Länder wurden die westdeut-
schen Städte und Gemeinden durch bundesgesetzliche
Regelungen im Rahmen des Fonds Deutsche Einheit, ab
1991 und des Solidarpakts, ab 1995, an der Finanzierung
der einigungsbedingten Belastungen der alten Länder be-
teiligt. Die so in zwei Schritten „erhöhte“ Umlage fließt
ausschließlich den Ländern zu – immer noch, obgleich
sich die Geschäftsgrundlage geändert hat. Denn nach
den Beschlüssen zum Solidarpakt 2 im Sommer 2001
übernimmt der Bund die Finanzierung des Fonds Deut-
sche Einheit. Das heißt im Klartext, die Länder müssen ab
dem Jahre 2005 keine Zahlungen mehr an den Fonds leis-
ten. Nichtsdestotrotz sind die Gemeinden dazu verpflich-
tet, über die Gewerbesteuerumlage den nicht mehr exis-
tierenden Länderanteil bis 2019 mitzufinanzieren.

Oder diese „Unwucht“: Mit der Abschaffung der Ge-
werbekapitalsteuer ab 1998 wurde die Gewerbesteuer-
umlage um eine dritte zusätzliche Komponente zugunsten
der Länder erweitert. Selbst die Kommunen in den neuen
Ländern wurden einbezogen, obgleich hier eine Gewer-
bekapitalsteuer von vornherein nicht erhoben wurde. Das
oft gebrauchte Wort von den „klebrigen Fingern“ der
Länderfinanzminister ist sicher nicht ganz unberechtigt.

Die Fraktion der CDU/CSU hatte gegen unseren An-
trag ganz andere Bedenken: „Im Antrag der Linken soll
die Gewerbesteuerumlage an den Bund ab dem 1. Juli
2009 abgeschafft werden. Der 1. Juli 2009 ist für Kon-
junkturmaßnahmen aber viel zu spät.“ Nun, meine Frak-
tion hätte gar nichts gegen eine rückwirkende Abschaf-
fung! Und natürlich sollte und konnte unser Antrag vom
Dezember 2008 nicht das Zukunftsinvestitionsgesetz vom
13. Februar 2009 vorwegnehmen. Aber die dort veran-
kerten 10 Milliarden für kommunale Investitionen sind
viel zu wenig, zumal aufgrund der Steuerausfälle, die den
Kommunen infolge der Maßnahmen aus den Konjunktur-
paketen I und II entstehen, nur ein Teil dieser 10 Milliar-
den Euro bei den Kommunen ankommt. Da wäre eine so-
fortige Aufstockung um 1,6 Milliarden Euro durch den
Wegfall des Bundesanteils an der Gewerbesteuerumlage
durchaus eine kommunalfreundliche Botschaft in diesen
Krisenzeiten!

Zuletzt zum Beitrag der Fraktion der FDP. Sie meint:
„Sie wollen die Gewerbesteuer nicht abschaffen oder
schrittweise absenken. Sie wollen bloß das Aufkommen
umlenken, das dem Bund und den Ländern augenblick-
lich zusteht, und es den Kommunen zukommen lassen. Sie
schlagen also nur eine Form von Umverteilung vor, aber
keine Steuersenkung. Das ist eine Enttäuschung …“. Ja,
wenn auch die FDP enttäuscht ist, Die Linke will eben
nicht – wie die FDP – die Gewerbesteuer abschaffen.

Fazit: Die Linke will als einzige Partei im Bundestag
die Gewerbesteuerumlage abschaffen, will, dass letztlich
– mit dem Länderanteil – rund 7 Milliarden Euro im Jahr
in den Kommunen bleiben, wo sie besser aufgehoben
sind.
Zu Protokoll

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621732800

Mit ihrem Antrag, die Gewerbesteuerumlage abzu-

schaffen, springt die Fraktion Die Linke zu kurz. Die
Maßnahme ist allenfalls geeignet, das komplizierte Ver-
teilungsgefüge zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
aus dem Lot zu bringen. Sie, sehr verehrte Kollegen und
Kolleginnen von den Linken, sind doch nicht so naiv, zu
glauben, dass Bund und Länder sich nicht an anderer
Stelle die Einnahmeverluste, die mit der Abschaffung der
Umlage verbunden sind, von den Kommunen holen wer-
den, beispielsweise bei den halbwegs stabilen Einnahme-
quellen aus der Umsatzsteuer oder der Einkommens-
steuer. Den Gemeinden blieben dann die Einnahmen aus
der leider immer noch konjunkturanfälligen Gewerbe-
steuer. Die kommunalen Spitzenverbände gehen davon
aus, dass die Einnahmeverluste der Kommunen bei der
Gewerbesteuer durch die Wirtschaftskrise allein in die-
sem Jahr mit 18 Prozent zu Buche schlagen. Wenn schon
die Landeshauptstadt München bereits mit einer Haus-
haltssperre die Notbremse gezogen hat, dann können wir
uns alle vorstellen, wie die Situation in anderen Regionen
mit deutlich weniger Wirtschaftskraft aussieht.

Ihr Vorschlag klingt zwar populär, er ist aber unseriös.
Er ist nicht geeignet, nachhaltig und zielgenau die Inves-
titionskraft der Kommunen zu stärken. Verteilungspoli-
tisch würden Sie nur die Kluft zwischen armen und
reichen Städten zementieren; denn die Städte und Ge-
meinden in strukturschwachen Regionen profitieren am
wenigsten von der Gewerbesteuer und müssen auch ent-
sprechend wenig Umlage an Bund und Länder abführen.
Wir Grüne setzen uns deshalb dafür ein, die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer zu verstetigen. Die Gewerbe-
steuer muss nachhaltiger und gerechter ausgestaltet und
in eine „kommunale Wirtschaftssteuer“ umgewandelt
werden. Mit dieser Steuer soll durch die volle Einbezie-
hung gewinnunabhängiger Elemente, wie zum Beispiel
der Fremdkapitalzinsen, die Bemessungsgrundlage der
bisherigen Gewerbesteuer verbreitert werden. Auch Frei-
berufler sollen in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen
werden. Das vermeidet wirtschaftlich oft nicht nachvoll-
ziehbare Abgrenzungsprobleme und schafft faire Wettbe-
werbsbedingungen. Ein Freibetrag soll vor allem kleine
und mittlere Unternehmen entlasten.

Um die Städte und Gemeinden in der Krise zu unter-
stützen, bedarf es zielgenauer Investitionshilfen und hier
– sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und
SPD – haben Sie mit Ihrem im Februar 2009 beschlosse-
nen Konjunkturpaket auf ganzer Linie versagt. Bis heute
ist nicht ein Cent an die Kommunen abgeflossen, weil erst
seit wenigen Tagen die schon vor einem Vierteljahr be-
schlossenen Bundeshilfen an die Länder weitergereicht
werden können. Die Mittel stecken viel zu lang im Geran-
gel zwischen Bundes- und Länderinteressen fest. Dabei
wurde eine maximale Unsicherheit über die Förderberei-
che, Fördersummen und die Zusätzlichkeit von Investi-
tionen erzeugt. Hier hätten Sie viel deutlicher auf die
Länder Druck ausüben müssen. Mit der Föderalismusre-
form eröffnen sich neue Handlungsmöglichkeiten für den
Bund, um gezielter die Investitionshilfen in der Krise an
die Kommunen weiterzureichen. Sie müssen jetzt beim
Konjunkturpaket dringend nachsteuern, damit die Hilfen



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Britta Haßelmann

auch in die Zukunftsbereiche fließen, in denen wir enor-
men Nachholbedarf haben. Ökologische Investitionen,
vor allem in erneuerbare Energien und den öffentlichen
Nahverkehr, müssen jetzt in den Förderkreis aufgenom-
men werden. Die Investitionen in das Bildungssystem
dürfen nicht länger auf bauliche Maßnahmen beschränkt
bleiben. Und leider fließen entgegen aller Beteuerungen
die Hilfen nicht gezielt an die notleidenden Kommunen,
die die Investitionshilfen besonders nötig hätten.

Union und SPD sind offenbar auch nicht in der Lage
aus der Krise auf lange Sicht zu lernen und die Weichen
im Grundgesetz neu auszurichten. Wenn Sie wie geplant
im Juli bei der Föderalismusreform die Kommunen außen
vor lassen, dann werden die Kommunen die Lasten tra-
gen, die sich Bund und Länder mit den neuen Verschul-
dungsregeln aufbürden. Die Länder werden wie gewohnt
den finanziellen Sanierungsdruck auf die Städte und Ge-
meinden abwälzen. Die Kommunen unter Haushaltssi-
cherung werden ohne Altschuldenhilfe noch mehr als bis-
her von der Hand in den Mund leben. Wichtige Hilfen für
Zukunftsinvestitionen werden nicht an die Städte und Ge-
meinden fließen, weil Sie, sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Großen Koalition, sich trotz Ihrer Ver-
fassungsmehrheit nicht einigen konnten, das Koopera-
tionsverbot zwischen Bund und Kommunen wieder aus

der Verfassung zu streichen. Wir Grüne bleiben dabei:
Das Gebot der Stunde ist eine Mindestfinanzausstattung
der Kommunen, damit diese flächendeckend im Norden
wie im Süden, im Osten wie im Westen, ihre Aufgaben für
die Bürgerinnen und Bürger erbringen können.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1621732900

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12700, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/11373 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Zustimmung
des Hauses im Übrigen angenommen.

Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung. Genießen Sie den restlichen Abend und die ge-
wonnenen Einsichten!

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 24. April 2009, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.