Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23701
(A) (C)
(B) (D)
Förderung von Reinkraftstoffen, um den CO -Ausstoß
preise fast vollständig zum Erliegen gebracht. Das ist
eine Fehlentwicklung, denn Reinkraftstoffe entstehen inDr. Lauterbach, Karl SPD 23.04.2009
2
im Verkehrssektor zu verringern.
Den Markt für Reinkraftstoffe haben die Steuererhö-
hung für Reinkraftstoffe und die steigenden Rohstoff-
Kipping, Katja DIE LINKE 23.04.2009
Knoche, Monika DIE LINKE 23.04.2009
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Becker, Dirk SPD 23.04.2009
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Bierwirth, Petra SPD 23.04.2009
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 23.04.2009
Bodewig, Kurt SPD 23.04.2009*
Dr. Botz, Gerhard SPD 23.04.2009
Burchardt, Ulla SPD 23.04.2009
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 23.04.2009
Duin, Garrelt SPD 23.04.2009
Ernstberger, Petra SPD 23.04.2009
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 23.04.2009
Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 23.04.2009
Gabriel, Sigmar SPD 23.04.2009
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 23.04.2009
Dr. Geisen, Edmund
Peter
FDP 23.04.2009
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 23.04.2009
Gleicke, Iris SPD 23.04.2009
Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung der Förderung von Biokraft-
stoffen (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Dr. Axel Berg (SPD): Ich habe mich im Rahmen der
Diskussion um Biokraftstoffe immer für eine Zwei-
Wege-Strategie eingesetzt. Ich wollte die Einführung ei-
ner Quote zur Beimischung von Biokraftstoffen und eine
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Nahles, Andrea SPD 23.04.2009
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Dr. Scheer, Hermann SPD 23.04.2009
Schily, Otto SPD 23.04.2009
Schmidt (Nürnberg),
Renate
SPD 23.04.2009
Dr. Schwanholz, Martin SPD 23.04.2009
Tauss, Jörg SPD 23.04.2009
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
23.04.2009
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 23.04.2009
Wolff (Wolmirstedt),
Waltraud
SPD 23.04.2009
Zapf, Uta SPD 23.04.2009
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
23702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
einer regionalen Wertschöpfungskette. Vom Anbau der
Pflanzen über die Veredelung bis zum Verbrauch wäre
alles in Deutschland machbar gewesen. Biodiesel aus
deutscher Produktion führt zu einer CO2-Reduktion von
45 Prozent gegenüber fossilem Diesel, Pflanzenöle aus
deutschem Anbau sogar um 58 Prozent. In Deutschland
könnten wir durch den Einsatz von Biodiesel bis zu
15 Prozent des fossilen Diesels ersetzen. Stattdessen hat
der Tanktourismus wieder zugenommen. Allein 200 000
Speditions-Lkw, die bereits auf Biodiesel umgesattelt
hatten, fahren jetzt wieder mit fossilem Diesel und tan-
ken in der Regel im Ausland. Die damit verbundenen
Mehrwertsteuerverluste dürften die Einnahmen aus der
Biokraftstoffbesteuerung weit übertreffen.
Wenn schon die Reinkraftstoffe nicht mehr zu einer
CO2-Reduktion führen, weil sie praktisch aus dem Markt
verdrängt werden, dürfen wir nicht auch noch die Beimi-
schungsquoten senken. Durch die Entscheidung, aus-
schließlich auf die Beimischung zu setzen, haben wir
dem Mittelstand sehr geschadet, da die großen Mineral-
ölkonzerne sich auf den Weltmärkten ihre nötigen bioge-
nen Anteile sehr viel billiger besorgen und damit auf
dem Markt mit Dumpingpreisen auftreten können.
Aus ökologischen, ökonomischen und aus Gründen
des Vertrauensschutzes dürfen wir nicht auch noch die
Senkung der Quote zulassen. Wenn wir dieses Jahr die
Quote um 1 Prozent senken und nächstes Jahr um
1 Prozent anheben, treffen wir ausschließlich den Mittel-
stand. Dieser kann sich bei ständig wechselnden Quoten
nicht auf einen Absatz verlassen. Die Verlässlichkeit des
Absatzes ist aber zum Überleben notwendig. Ansonsten
verdrängen die großen Mineralölkonzerne den Mittel-
stand vom Markt. Das kann und möchte ich nicht unter-
stützen.
Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
derung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich
für eine Steuerbefreiung des im Öffentlichen Personen-
nahverkehr – einschließlich Schienennahverkehr – ver-
wendeten Biodiesels eingesetzt. Diese Maßnahme hätte
einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeutet.
Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die
Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern
auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort.
Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Aufgrund
der Abwrackprämie sind zudem viele E-10-untaugliche
Fahrzeuge durch Fahrzeuge ersetzt worden, die E 10
vertragen. Dies nimmt der Argumentation, dass ein
Großteil der Fahrzeuge E 10 nicht vertragen könnte, die
Grundlage.
Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
für äußerst problematisch. Co-Hydrotreating würde in
Deutschland nahezu die kompletten Biokraftstoffherstel-
ler des Absatzes berauben, weil Co-Hydrotreating als
Vorprodukt nur Pflanzenöl und eben keinen Biodiesel
benötigt. Betroffen sind zahlreiche Arbeitsplätze und
Unternehmen. Außerdem werden damit umfangreiche
öffentliche Fördermittel „in den Sand gesetzt“. Hier-
durch droht eine möglicherweise grenzenlose Wettbe-
werbsverzerrung zuungunsten des mittelständischen Mi-
neralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene
Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehr-
bringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-
Hydrotreating nur noch von den großen Mineralölkon-
zernen erfüllt werden. Das Gesetz wird zusammen mit
der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung (BlmschV)
eine dramatische Verschlechterung der Wettbewerbs-
situation zulasten des Mittelstandes und der Verbraucher
herbeiführen. Kurz gesagt: Die 10. BlmSchV nimmt
dem Mittelstand die Möglichkeit, freiwillig E 10 in den
Markt zu bringen, und zugleich gibt sie ausschließlich
den Konzernen die zusätzliche Möglichkeit, biogene Öle
(Co-Hydrierung) als Quotenerfüllung einzusetzen. Auf
die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche
Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens 100 Mil-
lionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht einfach auf
die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirt-
schaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
setzt wird.
Die Bemühungen hinsichtlich einer Nachhaltigkeits-
verordnung erachte ich als notwendig und positiv. Die
größte Kritik an der Nutzung von Biomasse richtet sich
auf eine vermeintliche Konkurrenz zwischen Nahrungs-
mitteln und der energetischen Nutzung von Pflanzen. Es
darf selbstverständlich nicht dazu kommen, dass es zu
Entscheidungen zwischen Biokraftstoffen und Lebens-
mitteln kommt. Wir dürfen nicht mit der Nahrung ande-
rer Menschen unsere Autos antreiben, das muss allge-
mein gültiger Konsens werden, auch oder vor allem
wenn wirtschaftliche Interessen zu anderen Entscheidun-
gen drängen. Nach aktuellen Zahlen ist das zurzeit nicht
so. 5 Prozent der Weltgetreidenutzung werden für Kraft-
stoffe genutzt, 95 Prozent werden als Nahrungs- oder
Futtermittel verwendet.
Die Probleme liegen an anderer Stelle. Europäische
und deutsche Nutzflächen sind in den letzten Jahren still-
gelegt worden, weil sich Anbau von Getreide nicht mehr
lohnte und Importe günstiger waren. Die meisten Flä-
chen, die in Deutschland genutzt werden, können nur
durch massive Subventionen der Europäischen Union
wirtschaftlich geführt werden. Derartige Subventionie-
rungen spielen aber nicht nur für den europäischen
Markt eine besondere Rolle, sondern vor allen Dingen
sind sie der Grund für den Hunger in Schwellen- und
Entwicklungsländern. Subventionierte Getreideexporte
aus den USA oder Europa überschwemmen die Märkte
in diesen Weltregionen. Weil die Importe günstiger sind
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23703
(A) (C)
(B) (D)
als der eigene Anbau, wurden Ackerflächen vor Ort
nicht weiter genutzt oder zur Produktion von Nutzpflan-
zen in Monokulturen umgewandelt. Dadurch begaben
sich viele Länder in eine Abhängigkeit von Nahrungs-
mittelimporten, obwohl die Potenziale zur eigenen Ver-
sorgung vorhanden wären. Wenn die Preise für Lebens-
mittel wie im letzten Jahr ansteigen, führt dies zu
Hungerkatastrophen, weil viele Länder die teuren Im-
porte nicht mehr zahlen können. Spekulation, leere La-
ger, steigender Bedarf an Milch und Fleischprodukten
sowie vernachlässigte Produktion führen ebenfalls zu
steigenden Preisen. In diesem Zusammenhang könnten
Quoten für die Beimischung von Biosprit oder Quoten
für Reinkraftstoffe zu einer weiteren Verschärfung der
Probleme führen. Sie sind aber nicht der Grund für der-
artige vermeidbare Katastrophen.
Die Problematik besteht allerdings auch in einer an-
deren Richtung. Dadurch, dass Industrieländer ihre eige-
nen Märkte für Importe aus Entwicklungsländern ab-
schotten, können diese selbst von steigenden
Weltmarktpreisen nicht profitieren, obwohl ihre Produk-
tionskapazitäten ausreichend wären, um auch externe
Nachfrage zu bedienen.
Eine Nachhaltigkeitszertifizierung liegt bis heute
nicht vor, sodass nicht nachhaltig erzeugte Biokraftstoffe
auf den Markt kamen. Das führte zu berechtigter Kritik
und beschädigte das ökologische Image von Biokraft-
stoffen. Es ist richtig und wichtig, dass Quoten und Re-
gelungen für die Nutzung von Biomasse anhand von
Prinzipien wie Nachhaltigkeit, ökologischer Sinnhaftig-
keit und im Zusammenhang mit der weltweiten Nah-
rungsmittelsituation überprüft werden. Dies kann zwi-
schenzeitlich dazu führen, dass Quoten nicht weiter
steigen dürfen. Sie dürfen aber auch nicht sinken. Gene-
rell sehe ich aber die Beimischung und direkte Nutzung
von Biosprit als einen wichtigen Schritt, den wir hin zu
einer nachhaltigen Mobilität gehen müssen.
Auch die Nachhaltigkeitsverordnung sollte unter Par-
lamentsvorbehalt gestellt werden. Zudem sollten für
sämtliche Erzeugnisse Nachhaltigkeitsnachweise einge-
fordert werden. Es ist nicht einzusehen, warum nur für
die Biokraftstoffbranche Nachhaltigkeitskriterien festge-
setzt werden sollten. Dies ist eine Wettbewerbsverzer-
rung gegenüber vielen anderen Produkten, insbesondere
fossilen Rohstoffen und auch Futtermitteln.
Bei eingehender Betrachtung all dieser Argumente,
kann ich diesem Gesetzentwurf, trotz einiger guter An-
sätze, nicht zustimmen. Wir würden eine Branche ver-
nichten, von der ich denke, dass sie ökologischen und
ökonomischen Nutzen hat. Wir brauchen beides.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Der aktuelle Bio-
kraftstoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Ja-
nuar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Bio-
dieselanlagen unterkompensiert sind. Lediglich große
Pflanzenölanlagen sind überkompensiert, kommen je-
doch mit der nächsten Steuerstufe in 2009 wahrschein-
lich in wirtschaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation
und insbesondere die für die kleinen Betriebe festge-
stellte Unterkompensation hätte im Rahmen dieses Ge-
setzes reagiert werden müssen.
Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe-
sondere über eine Steuerbefreiung des im öffentlichen
Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr
verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme
hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu-
tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion
zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos-
silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme
nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert,
sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten
vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung
und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts-
kreisläufe gewesen.
Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung
zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte
ich für äußerst problematisch und ohne Zustimmung des
Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose
Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi-
schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab
1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und
gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens
100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition
keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben,
auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren.
Aus diesen Gründen enthalte ich mich bei der Ab-
stimmung.
Gabriele Groneberg (SPD): Im Rahmen der Ver-
handlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung
von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei-
ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ-
lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge-
setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag
zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel
aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten
von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
23704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re-
gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun-
gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn
die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge-
gen jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindes-
tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht
einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre
ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
setzt wird.
Die Bemühungen hinsichtlich einer Nachhaltigkeits-
verordnung erachte ich als notwendig und positiv. Die
größte Kritik an der Nutzung von Biomasse richtet sich
auf eine zu erwartende Konkurrenz zwischen Nahrungs-
mitteln und der energetischen Nutzung von Pflanzen. Es
darf selbstverständlich nicht dazu kommen, dass es zu
Entscheidungen zwischen Biokraftstoffen und Lebens-
mitteln kommt. Wir dürfen nicht mit der Nahrung ande-
rer Menschen unsere Autos antreiben, das muss allge-
meingültiger Konsens werden, auch oder vor allem
wenn wirtschaftliche Interessen zu anderen Entscheidun-
gen drängen.
Es ist richtig und wichtig, dass Quoten und Regelun-
gen für die Nutzung von Biomasse anhand von Prinzi-
pien wie Nachhaltigkeit, ökologischer Sinnhaftigkeit
und im Zusammenhang mit der weltweiten Nahrungs-
mittelsituation überprüft werden. Dies kann zwischen-
zeitlich dazu führen, dass Quoten nicht weiter steigen
dürfen. Generell sehe ich aber die Beimischung und di-
rekte Nutzung von Biosprit als einen wichtigen Schritt,
den wir hin zu einer nachhaltigen Mobilität gehen müs-
sen. Wir brauchen dringend für die Nutzung von
Biomasse eine Nachhaltigkeitsverordnung, die auch im
Europarecht Geltung haben muss. Die Nachhaltigkeits-
verordnung sollte auch unter Parlamentsvorbehalt ge-
stellt werden.
Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
über dieses Gesetz der Stimme.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Im Rahmen der
Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung
von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei-
ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ-
lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge-
setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag
zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel
aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten
von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regio-
naler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuunguns-
ten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab
1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und
gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
den.
Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens
100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungs-
ermächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, um-
gesetzt wird.
Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich der
Nachhaltigkeitsverordnungen als notwendig und sehr
positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
über dieses Gesetz der Stimme.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23705
(A) (C)
(B) (D)
Marko Mühlstein (SPD): Im Rahmen der Verhand-
lungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefreiung
des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich
Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels eingesetzt.
Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Kli-
maschutz bedeutet – schließlich führt Biodiesel aus deut-
scher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Pro-
zent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von
dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re-
gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuunguns-
ten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab
1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und die
gleichzeitige Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
den.
Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens
100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungs-
ermächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, um-
gesetzt wird.
Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
über dieses Gesetz der Stimme.
Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Im Rahmen der
Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung
von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei-
ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ-
lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge-
setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag
zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel
aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten
von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re-
gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun-
gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn
die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge-
gen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindes-
tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht
einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre
ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
setzt wird.
Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
über dieses Gesetz der Stimme.
Mechthild Rawert (SPD): Der aktuelle Biokraft-
stoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Januar bis
September 2008 zum Ergebnis, dass alle Biodieselanla-
gen unterkompensiert sind. Lediglich große Pflanzenöl-
anlagen sind überkompensiert, kommen jedoch mit der
nächsten Steuerstufe in 2009 wahrscheinlich in wirt-
schaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und insbe-
sondere die für die kleinen Betriebe festgestellte Unter-
kompensation hätte im Rahmen dieses Gesetzes reagiert
werden müssen.
Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe-
sondere über eine Steuerbefreiung des im Öffentlichen
Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr
verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme
23706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu-
tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion
zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos-
silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme
nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert,
sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten
vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung
und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts-
kreisläufe gewesen.
Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung
zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte
ich für äußerst problematisch und ohne Zustimmung des
Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose
Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi-
schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab
1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
werden.
Auf die mittelständischen Firmen hingegen kämen
jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens
100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition
keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben,
auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren.
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Das Euro-
päische Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember
2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende
Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare-Energien-Richt-
linie lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefreiung und -begüns-
tigung als Förderinstrument der Mitgliedstaaten aus-
drücklich zu.
Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von
35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl
und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung
kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus-
stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel
war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in
dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft-
stoff- zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame
Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe
festgelegt wurden.
Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und
die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff-
markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor-
gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel
nicht mehr zu heilen!
Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralölin-
dustrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz
gesenkt wird, bedeutet dies die Reduzierung des Einsat-
zes von Biokraftstoffen um 19 Prozent! Das kann doch
vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein! Selbst die nicht
weiter verfolgten Ideen, den öffentlichen Nahverkehr
steuerfrei zu stellen und für den Lkw-Güterverkehr einen
Steuernachlass von 50 Prozent auf den Steuersatz für Bio-
diesel zu erwirken, könnten das durch die Senkung der
Beimischungsquote hervorgerufene Absatzminus bei
Pflanzenöl und Biodiesel nicht ausgleichen.
Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent
und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 heißt
Hü und Hott. Dies ist keine vertrauensbildende Maß-
nahme, nicht für die Produzenten von Biokraftstoffen
und eigentlich auch nicht für die Mineralölwirtschaft.
Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich da-
durch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den
gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das
immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff
würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist
das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der
Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt
folgen, helfen wir mit, andere Anbieter von Kraftstoffen
vom Markt zu verdrängen! Aber Großkonzernpolitik zu
vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen.
Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und
Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale
Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund-
lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt
wurde.
Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Grün-
den der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per
Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert
werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraft-
stoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den
Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollstän-
dige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der
15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt wor-
den. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab
2006 wurden zahlreiche mittelständische Unternehmen
in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine
klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird
jetzt in keinster Weise geheilt, auch wenn mit dem Be-
schluss des Umweltausschusses noch der Versuch unter-
nommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will
dies nicht hinnehmen.
Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine-
ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das
Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es
wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl
zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei-
mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut-
lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei-
sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23707
(A) (C)
(B) (D)
Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach
vom Tisch gewischt.
Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
keit, den Wettbewerb am Tankstellenmarkt zugunsten
von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grund-
lage der Herstellerangaben seines Autos selber entschei-
den, E 10 zu tanken oder nicht.
Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition
keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von
einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung
von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der
Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe halte ich für
Flickschusterei!
Dr. Hermann Scheer (SPD): Der vorliegende Ge-
setzentwurf heilt wesentliche Mängel der seit 2006 ge-
troffenen Regelung des Gesetzes nicht. Der Reinbio-
kraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl ist mit der
seitdem eintretenden und ansteigenden Besteuerung
weitgehend zum Erliegen gekommen. Dies hat viele in
den Jahren zuvor neu gegründete Unternehmen zur Auf-
gabe gezwungen. Die Chance, dass über den Reinbio-
kraftstoffmarkt ein marktförderndes Gegengewicht zu
dem Oligopol der Mineralölkonzerne erwachsen könnte,
ist damit verspielt worden. Ein erheblicher Vertrauens-
verlust vor allem im Bereich neuer mittelständischer Un-
ternehmen war die Folge, weil das vorhergehende Ge-
setz eine Steuerbefreiung bis 2009 regelte und im
Anschluss daran eine Teilbesteuerung versprochen wor-
den war, um zu gewährleisten, dass diese Biokraftstoffe
am Markt billiger sein sollten als fossile Dieselkraft-
stoffe. Der Tanktourismus für fossile Kraftstoffe, insbe-
sondere bei Speditionsunternehmen, hat seitdem wieder
erheblich zugenommen, sodass die damit verbundenen
Steuereinnahmeverluste die Einnahmen aus der Besteue-
rung dieser Biokraftstoffe übersteigen. Das mit der Bei-
mischungspflicht beabsichtigte Ziel, damit zur Haus-
haltskonsolidierung beizutragen, wurde verfehlt.
Die stattdessen eingeführte Beimischungspflicht
sollte ein Mengenäquivalent für Biokraftstoffproduzen-
ten schaffen, auf der Basis einer Zertifizierung, die nach-
haltige Anbauweisen sichern sollte. Eine dementspre-
chende Zertifizierung liegt bis heute nicht vor, sodass
ungeprüfte Biokraftstoffmengen auf den Markt kamen,
die zu berechtigter Kritik führten und das ökologische
Image von Biokraftstoffen beschädigten. Die Antwort
darauf im anstehenden Änderungsgesetz in Form einer
Senkung der Beimischungsquote ist deshalb Ausdruck
eines politisch zu verantwortenden Versäumnisses, was
erneut zulasten heimischer Produzenten geht.
Bemühungen aus den Regierungsfraktionen, wie sie
in der Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Marco
Mühlstein zum Ausdruck kommen, bestimmte Markt-
segmente wie den öffentlichen Nahverkehr für diese
Biokraftstoffe vorzusehen, blieben unbeachtet, ein-
schließlich der Voten der Fachpolitiker beider Regie-
rungsfraktionen. Das Gesetz mag erneut eine formelle
Mehrheit mit den Stimmen aus den beiden Regierungs-
fraktionen erhalten. Inhaltlich getragen wird es auch in
diesen eher überwiegend nicht.
Aus diesen Gründen kann ich dem vorliegenden Än-
derungsgesetz nicht zustimmen, so wie ich bereits dem
Gesetz von 2006 nicht zugestimmt habe, das seinerzeit
auch großenteils in beiden Regierungsfraktionen hoch
umstritten war.
Marianne Schieder (SPD): Eine Steuerbefreiung
des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich
Schienennahverkehr verwendeten Biokraftstoffs wäre
eine Maßnahme, die einen wichtigen Beitrag zum Kli-
maschutz bedeutet; schließlich führt Biokraftstoff aus
deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
45 Prozent gegenüber fossilem Kraftstoff. Weiterhin hät-
ten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe
der Kommunen profitiert, sondern gerade die Landwirte
und Biokraftstoffproduzenten vor Ort. Außerdem wäre
dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Auf-
bau regionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewe-
sen.
Es wäre sinnvoll und möglich gewesen, den Kraft-
stoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hier-
durch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zu-
gunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden.
E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im
Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralöl-
konzerne günstiger angeboten werden könnte. Bei einer
freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughal-
ter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst
entscheiden können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Für die genannten Vorschläge gab es innerhalb der
Koalition keine mehrheitliche Unterstützung. Damit
wurde die Möglichkeit vergeben, auf die Situation am
Biokraftstoffmarkt zu reagieren und insbesondere die
mittelständischen Produzenten in der heimischen Land-
wirtschaft zu stärken.
Norbert Schindler (CDU/CSU): Das Europäische
Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008
die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraft-
stoffe zu fördern. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie
lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefreiung und -begünstigung
als Förderinstrument der Mitgliedstaaten ausdrücklich
zu.
Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von
35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl
und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung
kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus-
stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel
war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in
dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft-
stoff- zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame
23708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe
festgelegt wurden.
Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und
die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff-
markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor-
gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel
nicht mehr zu heilen! Wenn aber gleichzeitig, auf
Wunsch der Mineralölindustrie, die Beimischungsquote
um einen Prozentsatz gesenkt wird, bedeutet dies die Re-
duzierung des Einsatzes von Biokraftstoffen um 19 Pro-
zent! Das kann doch vom Gesetzgeber so nicht gewollt
sein!
Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentli-
chen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw-
Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf
den Steuersatz für Biodiesel zu erwirken, könnten das
durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgeru-
fene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht
ausgleichen. Die Absenkung der Gesamtquote auf
5,25 Prozent und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab
2010 heißt Hü und Hott. Dies ist keine vertrauensbil-
dende Maßnahme, nicht für die Produzenten von Bio-
kraftstoffen und eigentlich auch nicht für die Mineralöl-
wirtschaft. Aber die Großen der Mineralölwirtschaft
haben sich dadurch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu
verfolgen, den gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle
zu halten. Das immer wieder vorgetragene Argument,
der Kraftstoff würde sich bei einer höheren Beimischung
verteuern, ist das einzige und schwache – weil nicht
stichhaltige – der Erdölriesen gegenüber der Politik.
Weil wir diesem jetzt folgen, helfen wir mit, andere An-
bieter von Kraftstoffen vom Markt zu verdrängen! Aber
Großkonzernpolitik zu vertreten oder zu stützen, ist
nicht mein Anliegen.
Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und
Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale
Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund-
lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt
wurde. Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus
Gründen der Kontinuität und des Vertrauensschutzes
nicht per Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente
geändert werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der
Biokraftstoffförderung verletzen wir zum wiederholten
Male den Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die
vollständige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in
der 15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt
worden. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung
ab 2006 wurden zahlreiche mittelständischen Unterneh-
men in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine
klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird
jetzt in keinster Weise geheilt, auch wenn mit dem der
Beschluss des Umweltausschusses noch der Versuch un-
ternommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will
dies nicht hinnehmen.
Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine-
ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das
Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es
wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl
zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei-
mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut-
lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei-
sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der
Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach
vom Tisch gewischt. Ein freiwilliges Angebot von E 10
böte die Möglichkeit, den Wettbewerb am Tankstellen-
markt zugunsten von Millionen Autofahrern zu verbes-
sern. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der
im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineral-
ölkonzerne ein preisgünstigeres Angebot an die Verbrau-
cher darstellt. Jeder Fahrzeughalter, mündig genug,
könnte auf Grundlage der Herstellerangaben seines Au-
tos selber entscheiden, E 10 zu tanken oder nicht.
Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition
keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von
einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung
von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der
Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe halte ich für
Flickschusterei!
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Im Rahmen
der Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förde-
rung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuer-
befreiung des im Öffentlichen Personennahverkehr ein-
schließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels
eingesetzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Bei-
trag zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodie-
sel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion
von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin
hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbe-
triebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Land-
wirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem
wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für
den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschaftskreis-
läufe gewesen.
Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun-
gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn
die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge-
gen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindes-
tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht
einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre
ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23709
(A) (C)
(B) (D)
Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
setzt wird.
Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
positiv.
Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über
dieses Gesetz der Stimme.
Lydia Westrich (SPD): Das Europäische Parlament
hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008 die Möglich-
keit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraftstoffe zu för-
dern. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie lässt in Art. 2(k)
die Steuerbefreiung und -begünstigung als Förderinstru-
ment der Mitgliedstaaten ausdrücklich zu.
Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von
35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl
und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung
kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus-
stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel
war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in
dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft zu
mineralischen Kraftstoffen und die langsame Steigerung
der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe festgelegt
wurden.
Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und
die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff-
markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor-
gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel
nicht mehr zu heilen.
Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralöl-
industrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz
gesenkt wird, bedeutet dies die Reduzierung des Einsat-
zes von Biokraftstoffen um 19 Prozent. Das kann doch
vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein.
Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentli-
chen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw-
Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf
den Steuersatz für Biodiesel zu erwirken, könnten das
durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgeru-
fene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht
ausgleichen.
Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent
und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 zeigt
keine einheitliche Linie. Dies ist keine vertrauensbil-
dende Maßnahme, nicht für die Produzenten von Bio-
kraftstoffen und auch nicht für die Mineralölwirtschaft.
Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich da-
durch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den
gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das
immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff
würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist
das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der
Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt
folgen, helfen wir mit, andere Anbieter von Kraftstoffen
vom Markt zu verdrängen. Aber Großkonzernpolitik zu
vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen.
Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und
Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale
Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund-
lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt
wurde.
Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Grün-
den der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per
Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert
werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraft-
stoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den
Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollstän-
dige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der
15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt wor-
den. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab
2006 wurden zahlreiche mittelständische Unternehmen
in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine
klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird
jetzt in keiner Weise geheilt, auch wenn mit dem Be-
schluss des Umweltausschusses noch der Versuch unter-
nommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will
dies nicht hinnehmen.
Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine-
ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das
Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es
wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl
zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei-
mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut-
lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei-
sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der
Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach
vom Tisch gewischt.
Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
keit, den Wettbewerb am Tankstellenmarkt zugunsten
von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grund-
lage der Herstellerangaben seines Autos selber entschei-
den, E 10 zu tanken oder nicht.
Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition
keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von
einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung
von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der
Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe ist für mich
Flickschusterei.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der aktuelle
Biokraftstoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum
Januar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Bio-
dieselanlagen unterkompensiert sind. Lediglich große
Pflanzenölanlagen sind überkompensiert, kommen je-
23710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
doch mit der nächsten Steuerstufe 2009 wahrscheinlich
in wirtschaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und
insbesondere die für die kleinen Betriebe festgestellte
Unterkompensation hätte im Rahmen dieses Gesetzes re-
agiert werden müssen.
Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe-
sondere über eine Steuerbefreiung des im öffentlichen
Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr
verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme
hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu-
tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion
zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos-
silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme
nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert,
sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten
vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung
und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts-
kreisläufe gewesen.
Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als
freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung
zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte
ich äußerst problematisch und ohne Zustimmung des
Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose
Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi-
schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab
1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und die
gleichzeitige Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens
100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition
keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben,
auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth und
Dr. Joachim Pfeiffer (beide CDU/CSU) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
(Zusatztagesordnungspunkt 6)
Die EU und Deutschland haben sich ehrgeizige Kli-
maschutzziele auch im Sektor „Mobilität“ gesetzt. Im
Dezember 2008 wurde die „Richtlinie zur Förderung der
Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“ (RED)
beschlossen, die ein verbindliches Mindestziel von
10 Prozent erneuerbarer Energien im Verkehrssektor
festlegt. In Deutschland beschloss der Deutsche Bundes-
tag im Dezember 2006 das Biokraftstoffquotengesetz. Es
sieht eine kontinuierliche Steigerung der Gesamtquote
für Biokraftstoffe von 6,25 Prozent in 2009 bis auf
8 Prozent in 2015 vor.
Die Verwendung nachhaltig erzeugter Biokraftstoffe
der ersten Generation hat das Potenzial, wesentlich zur
CO2-Reduktion im Verkehrssektor beizutragen. Dabei ist
es unerlässlich, sicherzustellen, dass Biokraftstoffe ent-
sprechend strengen Nachhaltigkeitsregeln produziert
wurden. Den Änderungsantrag der CDU/CSU und der
SPD zur zügigen Vorlage einer Nachhaltigkeitsverord-
nung unterstütze ich daher uneingeschränkt.
Neben dem Ziel des Klimaschutzes ist es wichtig, die
gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass
mittelständische Investoren aus den Reihen der Land-
wirte, der Biokraftstoffproduzenten und der Mineralöl-
händler Planungssicherheit haben, die eine Rentabilität
ihrer Investitionen ermöglicht. Bislang bereits drei Än-
derungen der Biokraftstoffgesetze in dieser Legislatur-
periode stehen diesem Anliegen entgegen. (Energiesteu-
ergesetz Juli 2006, Biokraftstoffquotengesetz Dezember
2006, Änderung der 10. BImSchV/Verbot von E 10 Ja-
nuar 2009). Leider wurde jeweils auf Übergangsregelun-
gen im Hinblick auf Bestandsanlagen verzichtet.
Die nun vorliegende vierte gesetzliche Regelung zur
Änderung der Biokraftstoffförderung in dieser Legisla-
turperiode sieht die Absenkung der für das Jahr 2009 zu-
nächst auf 6,25 festgelegten Beimischungsquote rück-
wirkend zum 1. Januar auf 5,25 Prozent und Anhebung
zum 1. Januar 2010 wieder auf 6,25 Prozent vor; das wi-
derspricht jeglicher Planungssicherheit.
Die Absenkung der Steuer auf Biodiesel um 3 Cent ist
angesichts der Marktsituation völlig unzureichend; der
am 12. November 2008 vorgelegte Biokraftstoffbericht
der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/10964)
weist Unterkompensierungen bei Biodiesel zwischen
6,68 und 10,76 Cent je Liter aus.
Bedauerlich und wettbewerbsmindernd ist es zudem,
dass der Vertrieb von E 10 praktisch verboten wurde;
nachhaltig erzeugtes, der DIN-Norm entsprechendes und
besonders gekennzeichnetes E 10 sollte als zusätzliches
Angebot möglich sein.
Deshalb kann ich dem vorliegenden Gesetzentwurf
nicht zustimmen, auch wenn ich den Änderungsantrag
begrüße.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Josef Göppel, Dr. Georg
Nüßlein, Cajus Caesar und Jens Koeppen (alle
CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23711
(A) (C)
(B) (D)
eines Gesetzes zur Änderung der Förderung
von Biokraftstoffen (Zusatztagesordnungs-
punkt 6)
Das Europäische Parlament hat mit Beschluss vom
17. Dezember 2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders
CO2-sparende Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare-
Energien-Richtlinie lässt in Art. 2(k) die Steuerbefreiung
und -begünstigung als Förderinstrument der Mitglied-
staaten ausdrücklich zu.
Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der euro-
päischen Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit dem
Antrag „Klimafreundliche Biokraftstoffe stärken“ vom
12. Februar 2009 versuchten wir, den Einsatz von Pflan-
zenöl und Biodiesel im öffentlichen Nahverkehr steuerfrei
zu stellen, für den Lkw-Güterverkehr einen Steuernach-
lass von 50 Prozent des normalen Mineralölsteuersatzes
zu erwirken und den Biotreibstoff E 10 (Beimischung von
10 Prozent Ethanol zu Ottokraftstoffen) für den Verkauf
an öffentlichen Tankstellen zuzulassen.
Die Steuerbefreiung von Pflanzentreibstoffen im öffent-
lichen Nahverkehr würde einen verlässlichen Markt bis
zu 1,1 Milliarden Liter pro Jahr schaffen. Die Abgren-
zung zu anderem öffentlichen und privaten Verkehr
könnte zielgenau nach § 56 Energiesteuergesetz erfolgen.
Die Kommunen würden durch diesen Schritt beim Klima-
schutz unterstützt. Regionale Wirtschaftskreisläufe würden
gestärkt.
Die Steuerbegünstigung des Speditionsgewerbes würde
den Tanktourismus in das europäische Ausland eindäm-
men. Mindereinnahmen durch einen geringeren Steuersatz
würden so durch Mehreinnahmen schnell ausgeglichen.
Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
keit, den Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten
von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
Zudem könnte jeder Fahrzeughalter auf Grundlage der
Angaben des Herstellers selbst entscheiden, ob er dieses
Angebot annimmt.
Nachdem all diese Vorschläge innerhalb der Koalition
keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Der Gesetzentwurf verletzt nämlich auch den Vertrau-
ensschutz der Bürger in den Staat. Die vollständige Steu-
erbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislatur-
periode bis 2009 gesetzlich festgelegt worden. Durch das
vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wurden
zahlreiche mittelständischen Unternehmen in den Bank-
rott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare gesetzliche
Vorgabe investiert hatten. Das können und wollen wir
nicht hinnehmen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Frauen
und Mädchen mit Behinderungen wirksam
vor Gewalt schützen und Hilfsangebote ver-
bessern
– Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Lage der Frauen mit Behinderungen in der
Europäischen Union
Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit
Behinderungen in der Europäischen Union
(2006/2277(INI))
(Tagesordnungspunkt 12)
Antje Blumenthal (CDU/CSU): Im März 2007 hat
Deutschland das Übereinkommen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen
unterschrieben. Vor knapp einem Monat – also fast zwei
Jahre später – ist diese Konvention nun endlich in
Deutschland in Kraft getreten. Endlich, möchte man sa-
gen, weil sich darin alle Unterzeichnerstaaten verpflich-
ten, Menschen mit Behinderungen nicht als Problemfälle
zu betrachten, sondern sie als gleichberechtigte Träge-
rinnen und Träger von Rechten wahrzunehmen. Wie je-
dem Mensch stehen auch ihnen die gleichen Rechte zu.
Dieses Verständnis ist leider nicht überall selbstverständ-
lich. Denn Menschen mit Behinderungen wollen kein
Mitleid, sondern notwendige Unterstützung zur Selbst-
bestimmung. Sie sind ein Teil unserer gesellschaftlichen
Vielfalt, sie wollen und können ihren Teil dazu beitra-
gen.
Diesem Gedanken wird mit dem UN-Abkommen
über die Rechte der Menschen mit Behinderung nun
endlich Rechnung getragen. Die Konvention ist ein Mei-
lenstein – nicht etwa, weil wir dadurch neue Rechte in
Deutschland für Menschen mit Behinderungen veran-
kern. Nein! Vielmehr, weil sich alle Unterzeichner darin
verpflichten, längst bestehende Rechte und Gesetze an-
zupassen und sie Menschen mit Behinderungen zugäng-
lich zu machen! Das ist das Ziel der UN-Konvention und
genau das tun wir mit dem Antrag, den wir heute hier ab-
schließend beraten. Wir wollen Gesetze und Rechte
nicht neu schaffen, sondern bestehende Regelungen so
gestalten, dass sie auch für Menschen mit Behinderun-
gen zugänglich sind.
Einen ersten Schritt dahin haben wir mit dem
Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen getan. Dieser Aktionsplan be-
fasst sich unter anderem mit Frauen und Mädchen mit
Behinderungen. Dieser Fokus wurde gelegt, weil Frauen
und Mädchen mit Behinderungen mehrfach diskrimi-
niert sind und häufiger als andere Gewalt erleben müs-
sen. Schätzungen gehen davon aus, dass nahezu 80 Pro-
zent der Frauen und Mädchen mit Behinderungen Opfer
von psychischer oder physischer Gewalt werden.
23712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
Die Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, dagegen an-
zukämpfen. Wir wollen die Rechte der Frauen und Mäd-
chen mit Behinderungen auch im gewaltbezogenen Kon-
text umsetzen. Wie Sie dem Antrag entnehmen können,
machen wir dazu Vorschläge in vier Bereichen: Erstens
fordern wir die wissenschaftliche Untermauerung durch
eine Studie, zweitens schlagen wir konkrete Maßnahmen
zur Prävention von Gewalt und Übergriffen gegen
Frauen und Mädchen mit Behinderungen vor, drittens
wollen wir die Weiterbildung für Betreuende intensivie-
ren und viertens fordern wir bessere situationsgerechte
Hilfesysteme für die Betroffenen.
Wir wollen verlässliche Zahlen und Daten! Das ist
unser erstes Kernanliegen. Das Familienministerium hat
bei der Uni Bielefeld bereits eine dreijährige Studie in
Auftrag gegeben. Sie soll uns Ausmaß und Umfang von
Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen
aufzeigen. Wichtig ist dabei besonders, wie die Gewalt
geartet ist, wo die Übergriffe passieren und von wem die
Gewalt verübt wird. Mit dem vorliegenden Antrag wol-
len wir erreichen, dass dem Parlament ein Zwischenbe-
richt dieser wissenschaftlichen Studie vorgelegt wird.
Wir wollen einen Zwischenbericht, weil wir nicht bis
2011 auf den Endbericht warten und die Hände in den
Schoß legen wollen. Wir wollen schon jetzt handeln!
Daher fordern wir auch die Bundesregierung auf, zu
prüfen, ob Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Be-
hinderungen als Arbeitsschwerpunkt für das kommende
Daphne-Programm der EU angeregt werden kann. So
könnten wir unsere Politik für Menschen mit Behinde-
rungen über nationale Grenzen hinaus auf die europäi-
sche Ebene tragen.
Unser zweiter Schwerpunkt im Antrag ist die Präven-
tion. Das Forschungsprojekt „SELBST – Selbstbewusst-
sein für behinderte Mädchen und Frauen“ des Familien-
ministeriums ist dafür ein guter, ein erster Schritt. In
diesem Projekt wurden Qualitätsanforderungen für
Übungen und Kurse entwickelt, die das Selbstbewusst-
sein von Frauen und Mädchen mit Behinderungen stär-
ken sollen. Genau in diese Richtung gehen auch unsere
Vorschläge zur Prävention: So fordern wir unter ande-
rem eine zielgruppenspezifische Sexualerziehung.
Sexualaufklärung und Sexualerziehung müssen auch für
Menschen mit geistigen Behinderungen selbstverständ-
lich werden. Nur so können sie im Rahmen ihrer Mög-
lichkeiten befähigt werden, Übergriffe als solche zu er-
kennen und sich zur Wehr zu setzen. Das Bewusstsein
der Mädchen und Frauen muss dafür geschärft werden,
wo sexuelle Übergriffe beginnen und welche Folgen sie
haben.
Es geht bei Sexualaufklärung aber nicht nur um di-
rekte Gewaltprävention. Vielmehr ist sie die Grundlage
für sexuelle Selbstbestimmung. Schließlich trägt Sexua-
lität ganz wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung,
zur Identitätsfindung und damit auch zur Selbstbe-
stimmtheit bei. Wir wollen die Frauen und Mädchen mit
Behinderungen damit unterstützen, ihre Selbstbestim-
mung so weit als möglich umzusetzen.
Wenn wir Frauen und Mädchen mit Behinderungen
unterstützen wollen, müssen wir auch ihr Umfeld stär-
ken. Dazu gehört in erster Line – und das ist der dritte
Schwerpunkt unseres Antrages –, Betreuungspersonal zu
schulen. Wir setzen auf Fortbildung und Wissensvermitt-
lung für diejenigen, die Menschen mit Behinderung pro-
fessionell betreuen. Durch Modellprojekte wollen wir
sie unterstützen, damit sie gerüstet sind, um Präventions-
maßnahmen zu ergreifen. Sie sollen einen Leitfaden er-
halten, der ihnen hilft, Gewalt und sexuelle Übergriffe
gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu er-
kennen und zu handeln. Sie sollen wissen, welche Thera-
pien und Maßnahmen sie bei Menschen mit Behinderun-
gen einleiten können, die Opfer von Gewalt wurden.
Doch damit nicht genug. Uns reicht es nicht, das di-
rekte soziale Umfeld der betroffenen Frauen und Mäd-
chen zu schulen und zu sensibilisieren. Wir möchten die
gesamte Öffentlichkeit auf dieses Thema aufmerksam
machen. Ganz im Sinne des UN-Übereinkommens for-
dern wir, die Bürgerinnen und Bürger durch geeignete
Kampagnen und Projekte zu sensibilisieren. Das Thema
muss öffentlich gemacht werden, damit die Öffentlich-
keit auch handeln kann!
Trotz der Intention unseres Antrags, trotz des Über-
einkommens über die Rechte der Menschen mit Behin-
derungen, trotz des Aktionsplans II der Bundesregierung
und vielen weiteren Initiativen: Wir werden es wohl nie
vollständig verhindern können, dass Menschen mit Be-
hinderungen und besonders die Frauen und Mädchen
Opfer von Gewalt oder sexuellen Übergriffen werden.
Wir hoffen, dass es uns heute und in Zukunft mit diesem
Antrag gelingen wird, die Zahl der Übergriffe zu verrin-
gern. Deshalb machen wir in unserem Antrag Vor-
schläge, was verbessert werden soll, um Frauen und
Mädchen mit Behinderungen zu unterstützen, wenn ih-
nen bereits Leid zugefügt wurde.
Darum fordern wir in unserem vierten Themenkom-
plex, bestehende Hilfen den Bedürfnissen der Betroffe-
nen anzupassen: Wir wollen, dass der Zugang zu psy-
chologischer und psychotherapeutischer Behandlung für
diese besondere Gruppe gesichert wird. Wir wollen, dass
Frauen und Mädchen mit Behinderungen – auch barrie-
refrei – entsprechende Angebote wahrnehmen kön-
nen.Wir wollen, dass alle – ganz gleich ob Rollstuhlfah-
rerin, Blinde oder Lernschwache – die Wege zur Polizei,
in eine Beratung oder ins Frauenhaus bewältigen kön-
nen. Uns geht es – wie dem UN-Übereinkommen – da-
rum, die Handlungsspielräume für Frauen und Mädchen
mit Behinderungen auf ihrem Weg zur mehr Selbstbe-
stimmtheit und Teilhabe so groß wie möglich zu gestal-
ten. Ich denke, dass wir mit dem vorliegenden Antrag ei-
nen Teil dazu beitragen können.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Bei mei-
nen Besuchen in Einrichtungen, in denen behinderte
Menschen leben, wird mir von Pflegekräften und Ange-
hörigen immer wieder gesagt: Gewalt gegen Frauen und
Mädchen mit Behinderungen ist ein enormes Problem.
Das Thema ist komplex, die Problemlagen sind viel-
schichtig, und vor allem spricht man nicht darüber. Das
Thema ist tabuisiert. Es muss aber dringend in die Öffent-
lichkeit und umfassend diskutiert werden, wie Gewalt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23713
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gegen behinderte Frauen und Mädchen verhindert und
bekämpft werden kann – im Interesse und für das Wohl-
ergehen der betroffenen Frauen und Mädchen.
Gewaltfreiheit ist einer der zentralsten Grundwerte
unserer Gesellschaft. Die Ausübung von Gewalt verletzt
Menschen in ihren gesetzlich verbürgten Grundrechten
und beschränkt sie in ihrer Entfaltung und Lebensgestal-
tung. Alle Studien auf diesem Gebiet zeigen, dass Frauen
quer durch alle Altersgruppen, sozialen Schichten und
ethnischen Zugehörigkeiten in einem hohen Ausmaß
von Gewalt betroffen sind. Mit dem ersten Aktionsplan
zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen 1999 wurde
in Deutschland ein Gesamtkonzept entwickelt, dessen
Erfolge sich sehen lassen können, sei es das Gewalt-
schutzgesetz, Projekte gegen häusliche Gewalt oder das
Gesetz zur gewaltfreien Erziehung. Die Gruppe der
behinderten Frauen und Mädchen hat hier aber noch
nicht genügend Beachtung gefunden.
Die Datenlage ist schwierig. Es gibt noch keine reprä-
sentativen Daten oder wissenschaftlichen Untersuchun-
gen zum Thema Gewalt gegen behinderte Frauen und
Mädchen. Doch man geht davon aus, dass 80 Prozent der
Frauen mit Behinderungen zu Opfern von physischer
oder psychischer Gewalt werden. Sie sind oft von Mehr-
fachdiskriminierungen betroffen. Sie sind in höherem
Maße als andere Frauen der Gefahr sexueller Gewalt
ausgesetzt. Und Gewalt kommt bei behinderten Frauen
nicht nur häufig vor, sondern ist oft selbst die Ursache
für die Behinderung. Die Täter und manchmal auch Tä-
terinnen kommen meistens aus dem sozialen Umfeld der
behinderten Frauen und Mädchen. Die Übergriffe finden
im häuslichen Bereich und in Einrichtungen statt oder
auf Fahrten zu Schule oder Werkstatt. Dabei wird die
vorhandene Abhängigkeitssituation ausgenutzt.
Geistig behinderte Frauen und Mädchen sind oft un-
genügend sexuell aufgeklärt und wissen über sexuelle
Gewalt nicht Bescheid. Wenn es zu Übergriffen kommt,
können sie sich oft nicht verständlich mitteilen, oder das
Betreuungspersonal kann die Mitteilung nicht richtig
einschätzen. Dies stellt die Bekämpfung dieser Gewalt
vor vielschichtige Probleme, und man muss hier ganz
anders ansetzen als bei Fällen von Gewalt gegen nicht-
behinderte Frauen und Mädchen.
Die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen
mit Behinderungen wird auf nationaler und internationa-
ler Ebene verfolgt. Neben der auf internationaler Ebene
im Jahr 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechts-
konvention sind die EU-Ebene, die Europaratsebene sowie
die nationale Ebene zu nennen. Um in Deutschland die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention voran-
zutreiben, haben wir diesen Antrag auf den Weg gebracht.
Wir sind der Auffassung, dass die Benachteiligung und
Mehrfachdiskriminierungen von geistig und körperlich
beeinträchtigten Frauen und Mädchen viel stärker als
bislang in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden
müssen. Die UN-Konvention über die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen hat das Ziel, die Chancengleich-
heit der Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten,
ihre Grundrechte zu garantieren und ihnen umfassende
Teilhabe in der Gesellschaft zu fördern. In Art. 6 der
UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Be-
hinderungen heißt es:
1. Die Vertragsstaaten erkennen an, dass behinderte
Frauen und Mädchen mehrfacher Diskriminierung
ausgesetzt sind und ergreifen in dieser Hinsicht
Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie alle Men-
schenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt
und gleichberechtigt genießen können.
2. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maß-
nahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der
Förderung und der Stärkung der Autonomie der
Frauen und Mädchen, damit gewährleistet wird,
dass sie die in diesem Übereinkommen genannten
Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und
genießen können.
Deutschland hat die Konvention ratifiziert und verpflich-
tet sich damit zur Umsetzung. Frauen mit Behinderung
nehmen so im zweiten Aktionsplan der Bundesregierung
zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erstmals grö-
ßeren Raum ein. Im Rahmen dieses zweiten Aktionsplans
wird es eine Untersuchung der Bundesregierung zu Aus-
maß und Umfang der Gewalt gegen Frauen mit Behinde-
rungen geben. Die Studie soll über drei Jahre hinweg den
häuslichen, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie
die ambulanten und stationären Einrichtungen und Dienste
der Eingliederungshilfe untersuchen. Diese Untersuchung
wird dringend gebraucht; denn es wird deutlich, dass
sich Erkenntnisse aus dem Bereich der häuslichen Gewalt
gegen nichtbehinderte Frauen nicht einfach übertragen
lassen. Eine Verbesserung der Datenlage ist dringend
notwendig. Auch an zielgruppenspezifischem Aufklärungs-
material mangelt es. Gewalt gegen behinderte Frauen ist
nicht altersspezifisch. Sie kann sich bis ins hohe Alter
fortsetzen oder gar erst im höheren Lebensalter beginnen.
Die Untersuchung wird auch hier nützlich sein; denn bei
der Entwicklung von Maßnahmen gegen Gewalt muss
die Altersverteilung der Betroffenen natürlich erkannt
und berücksichtigt werden.
Das Schlüsselwort bei der Bekämpfung von Gewalt
heißt Prävention. Unser Ziel ist es, die Betroffenen im Vor-
feld zu stärken. Mit dem entsprechenden Selbstbewusst-
sein können behinderte Frauen und Mädchen Grenzüber-
schreitungen und Übergriffen rechtzeitig entgegentreten.
Bei der Präventionsarbeit sehr wichtig ist ein behinderten-
gerechter Zugang zu Frauenberatungsstellen und Frauen-
häusern. Alle Barrieren, die das Aufsuchen von Gewalt-
beratungsstellen erschweren, müssen aus dem Weg
geräumt werden. Damit ist nicht nur der uneinge-
schränkte, hindernisfreie Zugang zu Beratungsstellen
gemeint, sondern auch die Überwindung von sprachli-
chen Missverständnissen, die im Rahmen der Beratung
entstehen können. Ich denke hierbei an spezielle Beglei-
terinnen und Begleiter und Ärztinnen und Ärzte, die in
der Lage sind, die Kommunikation zwischen geistig
behinderten Menschen und dem Beratungspersonal zu
vermitteln.
Die Fortbildung des Betreuungspersonals ist von ent-
scheidender Bedeutung. Wir fordern die Bundesregierung
daher auf, Projekte und Modellversuche zu fördern, die
die Fortbildung des Betreuungs- und Pflegepersonals
23714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
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und der Ärzteschaft, die im Bereich Gewalt gegen behin-
derte Frauen und Mädchen arbeiten, zum Ziel haben.
Wir wollen weiterhin, dass die Öffentlichkeit mithilfe
von Projekten und Kampagnen noch intensiver mit dem
Thema „Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behin-
derungen“ vertraut gemacht und dafür sensibilisiert
wird. Wir wollen Menschen ermutigen, sich nicht mit
Gewalt abzufinden, sondern ihr aktiv entgegenzutreten
und sie wenn möglich zu verhindern. Und wir wollen
Frauen, behinderte und nicht behinderte, darin stärken,
ihre Rechte wahrzunehmen und ein Leben ohne Gewalt
und Angst zu führen.
Ina Lenke (FDP): Die Koalition stellt zu Recht in ih-
rem Antrag fest, dass auch in Deutschland noch erhebli-
che Defizite in der Analyse der Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen mit Behinderung bestehen. Das wurde be-
reits in einer Entschließung des Europäischen Parla-
ments von April 2007 festgestellt. Wenn Deutschland
bereits im Dezember 2006 unter anderem das Überein-
kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
Menschen mit Behinderung ratifiziert hat, wusste die
Große Koalition doch, dass sie eine Verpflichtung einge-
gangen ist, die mit Leben hätte erfüllt werden müssen.
Zweieinhalb Jahre sind bereits vergangen. Nun legen
Sie von SPD und CDU/CSU dem Plenum diesen Antrag
mit vielen Prüfaufträgen vor. Wenn es für Sie eine Ver-
pflichtung ist und war, dass das Thema „Frauen und
Mädchen mit Behinderung verstärkt in den Fokus der
Öffentlichkeit gerückt werden“ muss – das ist ein Zitat
aus ihrem Antrag –, kommt die Initiative reichlich spät.
Der Antrag zeigt, dass Sie in dieser Legislaturperiode
kein Konzept erarbeitet haben. Dass jetzt die Fraktionen
von CDU/CSU und SPD ihre eigene Bundesregierung
auffordern müssen, nun aktiv zu werden, verwundert.
Der Antrag benennt zwar viele Probleme, aber kaum
Konkretes zur Verbesserung der Situation von Frauen
und Mädchen mit Behinderung.
Zum Ende der Legislaturperiode die Bundesregierung
aufzufordern, eine geplante Studie schnellstmöglich in
Auftrag zu geben, bei der Entwicklung von entsprechen-
den Maßnahmen die Altersverteilung in den Blick zu
nehmen und zu berücksichtigen, Aufklärungsmaterial zu
erarbeiten, öffentliche Kampagnen aufzulegen und zu
prüfen, sich einzusetzen, ist an Substanz zu wenig. Was
wollen Sie in dieser Legislaturperiode noch erledigen?
Zum Beispiel sind die im SGB IX neu eingeführten
Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Mäd-
chen und Frauen mit Behinderungen im Rehabilitations-
sport bis heute noch nicht in die Praxis umgesetzt wor-
den. Das ist ein Versäumnis.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat im letzten Jahr in
einem Entschließungsantrag, Bundestagsdrucksache
16/11243, die Bundesregierung aufgefordert, die deut-
sche Übersetzung der Konventionen unter Mitarbeit der
Menschen mit Behinderungen zu überarbeiten und die
bereits angemahnten Übersetzungsfehler zu korrigieren.
Mein Kollege Dr. Erwin Lotter hat bereits in der damali-
gen Debatte zu Recht noch einmal deutlich gemacht,
dass die Experten in der damaligen Ausschussanhörung
eine gänzlich andere Realität der Hilfe- und Unterstüt-
zungssysteme beschrieben, als die Bundesregierung das
in ihrer Denkschrift zur Konvention dargestellt hatte. Es
wird deutlich, mit welcher Verkennung der Situation und
mit welch zurückhaltendem Handeln die Große Koali-
tion dem Thema begegnet. Die Bundesregierung wird
nach der Verabschiedung des Antrages also wieder eine
Studie in Auftrag geben und Berichte erstellen.
In der Sache sind wir uns einig, dass wir Frauen und
Mädchen mit Behinderungen vor Gewalt und vor sexuel-
len Übergriffe schützen müssen, damit sie nicht Opfer
von Gewalt werden. Dass nicht die Menschen mit Be-
hinderungen sich der Lebenswelt von Nichtbehinderten
anpassen müssen, sondern die Lebenswelt so gestaltet
werden muss, dass alle gleichberechtigt teilhaben kön-
nen, ist die Position der Liberalen. In der kommenden
Legislaturperiode sollten also nicht nur Prüfaufträge ver-
geben werden, sondern die gesellschaftspolitischen und
gesetzlichen Rahmenbedingungen real verändert wer-
den.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Heute war Girls’ Day.
Eine tolle Initiative, wenn es um ernstgemeinte Verände-
rungen statt um symbolische Aktionen ginge, wo sich
Politikerinnen und Politiker kurzzeitig mit jungen Mäd-
chen schmücken. Bei der nach Postleitzahlen angebote-
nen Aktionssuche auf der Homepage www.girls-day.de
wird man/frau staunen, wie viele Aktionen es gab. Wehe
aber, man setzt bei der Aktionssuche noch einen Haken
beim Kästchen „Nur rollstuhlgeeignete Veranstaltun-
gen“. Die Angebote schmelzen schneller dahin als das
Eis in der Sonne. Passend dazu die zeitliche Einordnung
des Tagesordnungspunktes „Frauen und Mädchen mit
Behinderung wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsan-
gebote verbessern“ am späten Abend, sodass hier die
Reden nur zu Protokoll gegeben werden.
Dass Frauen mit Behinderungen nachweisbar in vie-
len Lebensbereichen einer Mehrfachdiskriminierung
ausgesetzt sind, wissen wir spätestens seit dem im No-
vember 2005 vom Familienministerium vorgelegten
Gender-Datenreport. Das Tempo der Koalition, mit ge-
eigneten Maßnahmen für Veränderung zu sorgen, ist
„atemberaubend“. Nicht zu vergleichen mit dem Tempo
von Maßnahmen zur Rettung von Banken. Immerhin:
Die Entschließung des Europäischen Parlaments wurde
am 10. Juli 2007 an die Ausschüsse des Bundestages
überwiesen, und am 12. Februar dieses Jahres diskutier-
ten wir in erster Lesung den Antrag der Koalition.
Nicht wiederholen möchte ich meine positiven und
kritischen Anmerkungen zum Antrag der Koalition in
der Plenarrede vom 12. Februar. Insofern sind die dort
benannten Forderungen der Linken weiterhin aktuell,
und ich hoffe, dass Sie hier noch vor der Bundestags-
wahl aktiv werden.
Wie sieht es aber im „wirklichen Leben“ aus? Dazu
ein Beispiel, über welches heute die Internetplattform
www.kobinet-nachrichten.org unter der Überschrift
„Aus Kostengründen ins Heim?“ berichtete:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23715
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In einem Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Hamburg
(Az. S 61 SO 328/08) geht es darum, ob eine junge, pfle-
gebedürftige, aber immer selbstständig lebende Frau aus
Kostengründen ins Heim gezwungen werden darf. Da-
mit spielt erstmals in einem Rechtsstreit das Überein-
kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen eine wichtige Rolle. In
dem Verfahren geht es um die persönliche Assistenz ei-
ner jungen Frau, die die Freie und Hansestadt Hamburg
nicht mehr bezahlen will. Sie hat deswegen verfügt, dass
statt der erforderlichen Gelder für die persönliche Assis-
tenz nur noch die Kosten für einen Heimplatz gezahlt
werden sollen. Die Frau soll also nach dem Willen der
schwarz-grün regierten Stadt gegen ihren Willen in ein
Heim abgeschoben werden. Die Rechtsgrundlage dafür
soll § 13 SGB XII sein, der den prinzipiellen Vorrang der
ambulanten Versorgung für den Fall aushebelt, dass die
stationäre Versorgung „zumutbar“ sei und die ambulante
Versorgung erhebliche Mehrkosten verursacht.
Nach Auffassung der jungen Frau stellt diese Be-
stimmung einen Verstoß gegen Art. 19 des Gesetzes zu
dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen dar, der regelt, dass Menschen mit Be-
hinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben zu
entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht ver-
pflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.
Der Senat von Hamburg vertritt die Auffassung, dass
das Menschenrechtsübereinkommen auch nach seiner
Umsetzung ins deutsche Recht die Auslegung von So-
zialrechtsnormen nicht beeinflussen könnte. Es handele
sich ebenfalls nur um einfaches Gesetzesrecht und nicht
um höherrangiges Recht. Eine andere Sichtweise sei
schon aus Kostengründen abzulehnen. Der Unterschied
zwischen Menschenrecht und „Wohlfahrt“ wird schlicht
ignoriert.
Hier, so auch meine Meinung, zeigt die Hansestadt
eine bestürzende Ignoranz, was die Menschenrechte von
Behinderten angeht. Die Einweisung dieser Frau gegen
ihren Willen in ein Heim – und es handelt sich um kei-
nen Einzelfall – ist vergleichbar mit einer freiheitsentzie-
henden Maßnahme, weil sie das Selbstbestimmungs-
recht der Betroffenen dramatisch einschränkt. Hier
rächen sich auch die unsägliche „Denkschrift“ der Bun-
desregierung in ihrem Gesetzentwurf zur Ratifizierung
der Konvention, die mangelhafte Übersetzung und das
fehlende Umsetzungsgesetz. Es reicht eben nicht, wenn
die Koalition im vorliegenden Antrag auf die UN-Behin-
dertenrechtskonvention, insbesondere auf Art. 6 „Frauen
mit Behinderungen“ verweist. Dem Schulterklopfen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD, müssen Taten zur Verbesserung der Lebenssitua-
tion von Frauen und Mädchen – mit und ohne Behinde-
rungen – folgen. Die Linke wird Ihrem Antrag zustim-
men, und Sie können gewiss sein, sie wird sich auch für
seine zügige Umsetzung engagieren.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): In Zeiten des Wahlkampfes kommen zuwei-
len Themen auf die Tagesordnung, die ansonsten nur
von der Opposition getragen werden. So freut es mich
zum einen, dass die Bundesregierung sich aktuell einer
Gruppe von Menschen annimmt, die Mehrfachdiskrimi-
nierung ausgesetzt ist und trotzdem viel zu wenig
Unterstützung erhält: Mädchen und Frauen mit Behinde-
rungen werden in unserer Gesellschaft strukturell diskri-
miniert und sind einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, Opfer
von sexualisierter Gewalt zu werden. Zum anderen be-
fürchte ich, dass dieses Engagement so schnell gehen
wird, wie es auch gekommen ist. Seit 2007 werden die
Gelder für eine Studie zum Ausmaß und Umfang von
Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen
in der Haushaltsplanung vorgesehen. Diese Studie wird
dringend gebraucht, denn die Wissenslücken auf diesem
Gebiet sind groß. Ich frage mich nur, wie es sein kann,
dass diese erst jetzt in Auftrag gegeben werden soll –
noch schnell vor der Wahl?
Die Antwort auf unsere Große Anfrage 16/9283 zeigt
die großen Wissens- und Handlungslücken der Bundes-
regierung, fünf Jahre nach Einführung des Behinderten-
gleichstellungsgesetzes, auf. Im Abschnitt über die Ge-
walterfahrungen von Frauen mit Behinderung kann die
Bundesregierung nur antworten, dass sie keine repräsen-
tativen Daten hat. Doch obwohl keine wissenschaftli-
chen Untersuchungen vorliegen und wir dies nicht erst
seit der Beantwortung der Anfrage wissen, hat die Bun-
desregierung es bisher nicht geschafft, diese in Auftrag
zu geben. Wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen hier
gerne unterstützen, damit Sie bei der Themensetzung für
die nun endlich kommende Studie auch nichts vergessen.
Zwei Themenbereiche will ich kurz hervorheben:
Unsere Große Anfrage verdeutlicht, dass die Bundes-
regierung keine Erkenntnisse darüber hat, ob und wie
häufig von der Justiz auch heute noch bei sexualisierter
Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen auf den
strafmildernden Paragrafen 179 StGB („Sexueller Miss-
brauch widerstandsunfähiger Personen“) zugegriffen
wird. Die Anwendungspraxis der §§ 177 und 179 StGB
muss erhoben werden, denn es darf nicht sein, dass hier
ein Unterschied zwischen Frauen mit und ohne Behinde-
rung gemacht wird. Jede Person hat den Anspruch auf
körperliche Unversehrtheit. Eine Widerstandsunfähig-
keit ist allein aus dem Umstand der sogenannten geisti-
gen Behinderung nicht abzuleiten. Die Bundesregierung
darf nicht zulassen, dass der sexuelle Missbrauch behin-
derter Menschen strafmildernd beurteilt wird.
Wir wollen auch, dass bei der Erstellung der Studie
auch der Bereich der Prävention besondere Beachtung
erhält. Wir wissen leider, dass die initiierten Projekte
nicht zur Anwendung kommen. Frauen und Mädchen
mit Behinderungen befinden sich in einer starken Ab-
hängigkeit zu anderen Personen, werden von der Gesell-
schaft diskriminiert und stigmatisiert. Prävention sollte
ihnen die Chance geben, neue Handlungsmöglichkeiten
zu erfahren und diese in ihren Alltag einbringen zu kön-
nen.
Das halbherzige Engagement der Bundesregierung
zeigt sich am vorgelegten Antrag. Obwohl es dem An-
trag an einer klaren Linie fehlt, wollen wir ihn unterstüt-
zen, damit hier endlich etwas passiert. Es muss aber end-
23716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
lich mit Nachdruck gearbeitet werden. Nehmen Sie die
Anregungen aus unserer Großen Anfrage auf und ma-
chen Sie was draus!
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts Potenziale der Tourismusbranche in
der Entwicklungszusammenarbeit durch Auf-
gabenbündelung im Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie ausschöpfen (Ta-
gesordnungspunkt 15)
Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich kann gut verstehen,
dass Sie über den Antrag der FDP-Bundestagsfraktion
mit dem etwas sperrigen Titel „Potenziale der Touris-
musbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch
Aufgabenbündelung im Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie ausschöpfen“ nicht unbedingt re-
den wollten. Er ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die
FDP. Gestatten Sie mir, dass ich kurz auf den Sinn und
Unsinn dieses Antrags und vor allem auf seine systema-
tischen Mängel eingehe.
Zunächst finde ich es schon bemerkenswert, wenn die
FDP-Bundestagsfraktion ein halbes Jahr vor der Bundes-
tagswahl einen Antrag stellt, in dem sie die Umstruktu-
rierung von Bundesministerien mit all ihren Konsequen-
zen fordert. Selbst wenn man den Antrag inhaltlich für
unterstützenswert halten würde, wäre eine derartige Re-
form zum jetzigen Zeitpunkt wenig zielführend, weil
Änderungen gegebenenfalls von einer neuen Bundesre-
gierung sofort wieder auf den Prüfstand gestellt würden.
Ich bin der Auffassung, dass grundsätzliche Fragen der
Gliederung der Ministerien zu Beginn einer Legislatur-
periode angegangen werden sollten.
Der zweite Punkt, der mich an der Ernsthaftigkeit die-
ses Antrages zweifeln lässt, betrifft das Wörtchen „Ent-
wicklungszusammenarbeit“. Im Antrag der FDP wird
die Bundesregierung aufgefordert – ich zitiere –: „durch
die Konzentration der touristischen Aufgaben im Bun-
desministerium für Wirtschaft und Technologie die
Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungs-
zusammenarbeit auszuschöpfen.“ Warum sollen denn
die Potenziale der Tourismusbranche nicht durch eine
generelle Konzentration der touristischen Aufgaben im
BMWi ausgeschöpft werden? Also zum Beispiel auch
aus der Umweltpolitik, Verkehrspolitik, Außenpolitik,
Kulturpolitik, Familienpolitik und Bildungspolitik – um
nur einige Beispiele zu nennen. Eine solche Änderung
wäre dann ein wirklicher Systemwechsel, und darüber
könnte man durchaus kontrovers diskutieren. Die Über-
führung allein des Aspektes „Tourismus in Entwick-
lungsländern“ ins Wirtschaftsministerium ist wenig
sinnvoll und lässt systematisches Denken vermissen.
Könnte die Fokussierung auf die Entwicklungspolitik
– polemisch zugespitzt – vielleicht daran liegen, dass die
FDP kein Interesse an einem starken Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat?
Dass die FDP lieber die entsprechenden Kompetenzen
beim Auswärtigen Amt und im Wirtschaftsministerium
stärken will? Beides Ressorts, die die FDP nach der
Wahl zu besetzen hofft. Ich sehe in der Konzentration
des Antrags auf die Entwicklungspolitik jedenfalls nur
Populismus und Taktieren. Schließlich ist jedem Ent-
wicklungspolitiker bewusst, dass die spezifische Kennt-
nis der Situation vor Ort in den Partnerländern sowie die
Fachkompetenz zu den Ansätzen einer nachhaltigen Ent-
wicklungspolitik nun einmal im Bundeswirtschaftsmi-
nisterium höchstens ansatzweise vorhanden sind. Mehr
Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit – dafür
trete ich als Entwicklungspolitiker sehr gern ein. Ich bin
aber auch der Meinung, dass die deutsche Entwicklungs-
zusammenarbeit hier auf einem guten Weg ist.
Ich vertrete weiterhin die Auffassung, dass die Förde-
rung und Unterstützung des Aufbaus von touristischen
Strukturen in Entwicklungsländern richtig und wichtig
ist. Wir haben in diesem Bereich durchaus noch Nach-
holbedarf – aber eben auch Fortschritte erreicht. Ich
möchte dabei auf unseren Antrag „Zukunftstrends und
Qualitätsanforderungen im internationalen Ferntouris-
mus“ verweisen, mit dem wir beschlossen haben, dass
der Tourismus in Entwicklungsländern auf Wunsch der
Partner zu einem Schwerpunkt im Rahmen der nachhal-
tigen Wirtschaftsentwicklung erklärt werden kann. Ich
würde mich deshalb freuen, wenn diese Ansicht im
BMZ noch stärker verinnerlicht würde. So sollte zum
Beispiel ein Vertreter des Entwicklungsministeriums zu-
künftig an den Gesprächen des Tourismusbeauftragten
zur Ressortkoordinierung teilnehmen. Das würde die
Wahrnehmung untermauern, dass Tourismus durchaus
Wachstumspotenziale in Entwicklungsländern generie-
ren kann.
Lassen Sie mich jedoch zurück zum grundsätzlichen
Thema kommen: Wäre es nicht sinnvoll, wenn wir alle
tourismusrelevanten Aspekte aus allen Ministerien im
Bundeswirtschaftsministerium bündeln würden? Der
Gedanke hat durchaus Charme: Bisher spielt Tourismus
fast überall eine Rolle, aber eben nicht immer eine be-
sonders starke. Eine Konzentration aller Kräfte in einem
Ministerium könnte helfen, der Bedeutung des Touris-
mus gerechter zu werden und die Interessen des Touris-
mus stärker zu vertreten. Allerdings muss dann auch si-
chergestellt werden, dass in den einzelnen Ministerien
touristische Aspekte auch weiterhin „mitgedacht“ wer-
den. Das Thema ist grundsätzlich eine Überlegung wert,
aber nicht so einfach, wie es sich die FDP hier macht.
Ich möchte den Gedanken hinter dem Antrag der FDP
gar nicht beiseite schieben. Es geht ihr ja offensichtlich
um eine Stärkung des Tourismus auf der Regierungs-
ebene. Lassen Sie mich dazu aus meiner Sicht zunächst
die Ist-Situation analysieren: Seit dieser Legislatur-
periode haben wir erstmals einen Beauftragten der Bun-
desregierung für Tourismus, bei dem die Fäden der Tou-
rismuspolitik zusammenlaufen. Ich bin der festen
Überzeugung, und da wird mir auch Ernst Burgbacher
zustimmen, dass wir diesen Beauftragten für Tourismus
sowohl in seiner Funktion als auch in der Person von
Ernst Hinsken zukünftig für unsere Tourismuspolitik
nicht mehr missen möchten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23717
(A) (C)
(B) (D)
Durch den Beauftragten für Tourismus ist die Touris-
muspolitik der Bundesregierung sehr viel sichtbarer ge-
worden. Wir haben für die Anliegen und Rahmenbedin-
gungen der Branche deutlich mehr Öffentlichkeit und
Aufmerksamkeit erfahren. Natürlich wünsche auch ich
mir manchmal, dass die Erkenntnisse, die wir gemeinsam
im Tourismusausschuss gewonnen haben, sofort eins zu
eins von der Bundesregierung übernommen und in Poli-
tik umgesetzt werden. Ich gestehe selbstkritisch ein, dass
wir nicht alle ambitionierten Ziele erreichen und durch-
setzen konnten. Aber Politik ist das Bohren dicker Bret-
ter, und in der Tourismuspolitik sind die Bretter viel-
leicht besonders dick – oder die Bohrer etwas stumpf.
Vor diesem Hintergrund bewerte ich die Initiativen
unseres Ausschusses zu wichtigen Tourismusthemen wie
Geschäftsreisen, barrierefreiem Tourismus, Kreuzfahrt-
tourismus, Fahrradtourismus usw. und deren Umsetzung
durch die Bundesregierung als wichtige Unterstützung
für die Tourismusbranche und vor allem das Reiseland
Deutschland. Zudem war die Erstellung der tourismus-
politischen Leitlinien ein Meilenstein für unseren Poli-
tikbereich. Denn erstmals wurde eine verbindliche Rich-
tungsvorgabe zum Tourismus vom Bundeskabinett
beraten und beschlossen. Das ist unser Grundfahrplan,
den man gemeinsam ausgestalten und mit Leben erfüllen
kann.
Ich weiß sehr wohl um die Kritik daran: Manch eine
Branche fühlt sich nicht ausreichend einbezogen, manch
eine Formulierung erscheint als zu schwammig. Aber es
kann auch kein Ziel von Leitlinien sein, die Branchen
durchzudeklinieren und deren Anliegen und Wünsche
nachzubeten. Es geht hier doch vielmehr um grundsätzli-
che Richtungsvorgaben. Wenn es also an der einen oder
anderen Stelle Interpretationsspielräume gibt, dann las-
sen sie uns diese Spielräume nutzen, indem wir damit
unsere Anliegen und weitergehenden Ideen begründen
und unterstützen!
Zum Abschluss möchte ich gern festhalten, was wir
von der Union uns für den Bereich der Tourismuspolitik
in der Bundesregierung für die Zukunft wünschen.
Erstens. Wir treten für eine Stärkung und Weiterent-
wicklung des Tourismusbeauftragten der Bundesregie-
rung innerhalb des Bundeswirtschaftsministeriums ein.
Wir wollen, dass der Beauftragte für Tourismus institu-
tionell stärker verankert wird und mehr Möglichkeiten
zur Einflussnahme, aber auch zur öffentlichkeitswirksa-
men Arbeit für die Tourismusbranche erhält.
Zweitens. Wir wollen die Tourismuspolitik im Wirt-
schaftsministerium personell verstärkt wissen. Eine
Möglichkeit wäre eine deutliche personelle Aufstockung
der tourismusrelevanten Referate oder aber die Schaf-
fung eines neuen Referats.
Drittens. Wir wünschen uns eine Stärkung der Koor-
dinierungsfunktion des Tourismusbeauftragten gegen-
über den anderen Ressorts. Wir möchten, dass der Tou-
rismusbeauftragte in die Lage versetzt wird, die
Tourismusinteressen in den verschiedenen Politikberei-
chen auch gegenüber den anderen Ministerien mit größe-
rem Nachdruck zu vertreten. Er sollte die Federführung
für alle Bereiche der Tourismuspolitik haben.
Viertens. Last but not least treten wir für eine signifi-
kante Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für
Tourismus zur touristischen Vermarktung des Reiselan-
des Deutschland ein. Das tun wir auch deshalb, weil wir
der Auffassung sind, dass die Schönheit, die Qualität
und das gute Preis-Leistungs-Verhältnis unseres Landes
im Ausland – trotz der unbestrittenen Erfolge – noch
nicht bekannt genug sind.
Wenn wir diese Ziele gemeinsam umsetzen, bedeutet
das einen Quantensprung in der Tourismuspolitik auf
Bundesebene. Es versetzt uns in die Lage, die Vorgaben
der tourismuspolitischen Leitlinien mit Leben zu erfül-
len und die Interessen der Menschen, die in Deutschland
vom Tourismus leben, nachhaltig und kraftvoll zu unter-
stützen.
Dr. Reinhold Hemker (SPD): Ich freue mich immer,
wenn eine Fraktion im Deutschen Bundestag ein wichti-
ges Thema aufgreift. Dies trifft besonders dann zu, wenn
die Zielsetzung des Antrages darauf ausgerichtet ist, die
Situation von Benachteiligten und sozial Schwächeren in
Entwicklungsländern zu verbessern. Das gilt natürlich
auch für den Antrag der FDP „Potenziale der Tourismus-
branche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Auf-
gabenbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie ausschöpfen“ (Bundestagsdrucksache
16/8176). Allerdings sind viele Punkte im Analyseteil
des FDP-Antrages bereits vor über einem Jahr hier im
Bundestag bei der Behandlung des Koalitionsantrages
„Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen im interna-
tionalen Ferntourismus“ (Bundestagsdrucksache 16/4603)
diskutiert und dann auch verabschiedet worden.
Bedauerlich ist, dass mit den berechtigten Anliegen
und der damit verbundenen weitgehend treffenden Ana-
lyse der Potenziale des Tourismus im vorliegenden An-
trag der FDP eine grundlegend verfehlte Forderung
verbunden wurde. Denn die meisten im Rahmen der Ent-
wicklungszusammenarbeit zu fördernden Projekte liegen
in der Verantwortlichkeit des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und
der verschiedenen staatlichen oder nichtstaatlichen Aus-
führungsorganisationen.
Wenn es um umweltbezogene Maßnahmen – etwa zum
Schutz der Biosphäre – geht, sind das Ministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und
das Umweltministerium zuständig. Auch in diesem Be-
reich sind in den letzten Jahren viele gute Projekte ver-
wirklicht worden, die für die Weiterentwicklung des
Tourismus in den Entwicklungsländern förderlich waren
und sind.
Es wäre völlig verfehlt, alle Aufgaben, deren Schwer-
punkte in den verschiedenen Ministerien weiterentwi-
ckelt worden sind, ausschließlich im Ministerium für
Wirtschaft und Technologie zu konzentrieren, wie es die
Kolleginnen und Kollegen der FDP im vorliegenden An-
trag zentral fordern. Es käme ja auch niemand auf die
Idee, alle Sicherheitsfragen, die in den verschiedenen
23718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
Bereichen unserer Gesellschaft eine Rolle spielen, aus-
schließlich im Innenministerium zu konzentrieren.
Unserem Tourismusbeauftragten, dem Kollegen Ernst
Hinsken, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
kommt bei der Umsetzung der bereits Anfang 2008 in
dem von mir bereits erwähnten Koalitionsantrag verab-
schiedeten – und auch in den Auschüssen verhandelten –
Beschlüsse eine wichtige Koordinationsfunktion zu.
In der damaligen Debatte und in den Ausschussbera-
tungen ist deutlich gemacht worden, dass für die Zukunft
noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Insbesondere
für die Entwicklungsländer und die Unterstützung von
Vorhaben im Bereich Tourismus müssen noch mehr Mit-
tel aufgebracht werden. Es kann angeknüpft werden an
den positiven Erfahrungen in verschiedenen Projekten,
insbesondere in den Bereichen, in denen die Fachleute
des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) schon gute
Erfahrungen gesammelt haben.
Wir haben es bereits in der Debatte im Ausschuss ge-
fordert, und ich wiederhole es: Für eine Weiterentwick-
lung unserer Tourismuspolitik in diesem Bereich ist nicht
eine Übertragung der Aufgaben des BMZ zum BMWi
nötig. Es geht vielmehr um die Stärkung der Rolle des
Tourismusbeauftragten und des Tourismusreferates im
BMWi. Dabei sollten andere Ressorts, in denen es Tou-
rismusprojekte gibt, ihre unterstützende Funktion weiter
ausbauen. Nur so kann kohärente Tourismuspolitik unter
Beteiligung aller beteiligten Ressorts gelingen.
Ein Umdenken der Bundesregierung ist daher nicht
nötig. Vielmehr geht es darum, den eingeschlagenen
Weg parlamentarisch zu unterstützen.
Nicht erst die auf der ITB 2007 vorgestellte Studie
„Tourismus in Entwicklungsländer“ des Studienkreises
für Tourismus und Entwicklung e. V. hat aufgezeigt,
welche erheblichen Potenziale es beim nachhaltigen
Ausbau des Tourismussektors in Entwicklungsländern
gibt. Dass Ferntourismus traditionelle, naturverträgliche
Wirtschaftsformen unterstützen und zur Erhaltung der
Naturpotenziale der Entwicklungsländer, zu einer Wie-
derbelebung traditioneller Werte und Gebräuche sowie
zur Stärkung des Selbstbewusstseins und der kulturellen
Identität beitragen kann, ist heute unstrittig.
Wir konnten beobachten, dass eine der Folgen eines
nachhaltigen Tourismus fast immer auch ein positiver
sozialer Wandel in den Entwicklungsländern ist, der aus
der Eröffnung neuer Tätigkeitsfelder hinsichtlich der so-
zialen Schichtzugehörigkeit oder der Rolle der Frauen
resultiert.
Die von der Bundesregierung im Bereich der Förde-
rung des nachhaltigen Tourismus durchgeführten Pro-
gramme und Projekte zeigen bereits jetzt Wirkung. So ist
in den letzten Jahren etwa die Zahl der Touristen in Na-
tur- und Nationalparken vieler Entwicklungsländer, in
deren Umfeld Art und Zahl der Unterbringungsmöglich-
keiten erheblich verbessert wurden, stark angestiegen.
Negative Effekte des Tourismus in ökonomischer,
ökologischer, sozialer und kultureller Hinsicht sollen
verhindert bzw. eingedämmt werden. Natur und Land-
schaft müssen besser geschützt werden. Darin sind wir
uns mit den Antragstellern einig. Ich rufe aber noch ein-
mal in Erinnerung, dass wir dies bereits vor über einem
Jahr im Bundestag diskutiert und beschlossen haben.
Im Ergebnis der heute angestellten Überlegungen
müsste man der FDP raten, ihren Antrag zurückzuzie-
hen. Denn wie gezeigt wurde, befinden wir uns bereits
auf einem guten Weg, den wir auch in der nächsten Le-
gislaturperiode fortsetzen wollen.
Ernst Burgbacher (FDP): Die FDP-Bundestags-
fraktion hat den Antrag „Potenziale der Tourismusbran-
che in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufga-
benbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie ausschöpfen“ vorgelegt mit dem Ziel, die
bisherige Förderpolitik im Bereich Tourismus und wirt-
schaftliche Zusammenarbeit grundlegend zu korrigieren
und ein schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln, mit
dem gezielt Schwerpunkte gesetzt und nur die effizien-
testen Projekte gefördert werden.
Unser Anliegen ist es insbesondere, durch eine Kon-
zentration der touristischen Aufgaben im Bundesminis-
terium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die
Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungs-
zusammenarbeit auszuschöpfen und damit die Effizienz
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Entwicklungs-
ländern und den dort lebenden Menschen nachhaltig zu
verbessern. In Kooperation mit der Tourismuswirtschaft
geht es außerdem darum, bestehende Maßnahmen fort-
zuentwickeln, um ein entschiedenes Vorgehen gegen
„Sextourismus“ zu gewährleisten.
Der Ferntourismus war und ist eine bedeutende
Quelle von Wirtschaftswachstum in Entwicklungs- und
Schwellenländern. Die heutigen Schwellenländer haben
vom Ferntourismus als einem der ersten Devisenbringer
profitiert, ebenso wie es die heutigen Entwicklungslän-
der tun. Daher gilt es, den Ferntourismus mehr als bisher
als Wachstumsmotor für die heutigen Entwicklungslän-
der zu stärken. Der Marktanteil des Ferntourismus hat
vor allem in den Entwicklungsländern in den vergange-
nen Jahren kontinuierlich zugenommen und ist damit für
einige Länder die Haupteinnahmequelle für Devisen. In
ihrer Zukunftsstudie „TourismVision 2020“ erwartet die
Welttourismusorganisation (UNWTO) weltweit 1,6 Mil-
liarden Touristenankünfte und Ausgaben der Reisenden
in Höhe von 2 Billionen US-Dollar im Jahr 2020. Insbe-
sondere die Entwicklungs- und Schwellenländer werden
als Begünstigte dieser Entwicklung gesehen. Nach Schät-
zungen des Worldtravel und TourismCouncil (WTTC)
hängen derzeit weltweit 234,3 Millionen Arbeitsplätze
direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Das sind rund
8,7 Prozent aller Arbeitsplätze.
Der Tourismus leistet bereits heute einen zentralen
Beitrag für die wirtschaftliche Entwicklung in Entwick-
lungsländern zur Sicherung sowie Schaffung von Ar-
beitsplätzen. Insbesondere periphere, strukturschwache
Regionen in den Entwicklungsländern sind auf den Tou-
rismus angewiesen, da dieser oftmals die einzige realisti-
sche Option für wirtschaftlichen Aufschwung und wir-
kungsvolle Armutsbekämpfung darstellt. Zudem ist der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23719
(A) (C)
(B) (D)
Tourismus aufgrund seiner Dienstleistungsorientierung
eine der arbeitsplatzintensivsten Wirtschaftsbranchen
überhaupt, da die Subventionierung von Arbeitskraft
durch Technik im Tourismus nur in sehr begrenztem
Umfang möglich ist. Schließlich bietet der Tourismus
eine Vielzahl von Arbeitsplätzen mit niedrigen und mitt-
leren Qualifikationsansprüchen. Hier ergibt sich insbe-
sondere für Menschen mit niedrigem Ausbildungs- und
Bildungsstand die Chance auf neue bzw. alternative Ein-
kommensquellen sowie die Möglichkeit der Weiterquali-
fizierung. Damit bietet der Tourismus in Entwicklungs-
ländern die Chance, das Wertschöpfungspotenzial
gerade auch in ländlichen Räumen deutlich zu steigern.
Menschen in Entwicklungsländern, die in der Touris-
musbranche ein Auskommen und eine berufliche Per-
spektive finden, haben ein persönliches und gesellschaft-
liches Interesse, eine intakte Umwelt für eine weiterhin
prosperierende wirtschaftliche Entwicklung ihres Lan-
des zu erhalten. Fehlen solche Einkommensalternativen,
geht dies oftmals mit der Zerstörung ökologisch wertvol-
ler Regenwälder oder Feuchtgebiete einher, die dann
zum Beispiel für landwirtschaftliche Nutzung bean-
sprucht werden.
Die Bundesregierung muss gemeinsam mit der Tou-
rismuswirtschaft und insbesondere den Reiseveranstal-
tern im Bereich der Angebots-, Produkt- und Preisgestal-
tung Förderschwerpunkte für die touristischen Märkte in
Entwicklungsländern entwickeln. Vor allem der Auf-
rechterhaltung bestimmter Qualitätsstandards vor dem
Hintergrund des steigenden Preisdrucks sowie dem
Thema Sicherheit wird hier eine besondere Bedeutung
beigemessen. Wichtig sind weiterhin die verstärkte För-
derung nachhaltiger Tourismusformen sowie ein verbes-
serter Informationsservice für Touristen.
Innerhalb der Bundesregierung und vor allem im Bun-
desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (BMZ) muss ein Umdenken stattfinden.
Das Handlungsfeld Tourismus darf in der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit nicht länger als nachrangige
Angelegenheit empfunden und eingestuft werden. Tou-
rismus muss perspektivisch als eigenständiges bzw. quer-
schnittsorientiertes Handlungsfeld innerhalb der deut-
schen Entwicklungszusammenarbeit etabliert werden.
Die heute immer noch übliche Förderung des BMZ nach
dem „Gießkannenprinzip“ ohne schlüssiges Gesamtkon-
zept oder Strategie ist ineffizient und sollte überarbeitet
werden. Dazu sind die Evaluierung und das Monitoring
der Tourismusvorhaben und die Entwicklung eines über-
geordneten Leitbildes und die Festlegung von Zielgrup-
pen erforderlich. Weiterhin sollte die Schaffung von ge-
eigneten Rahmenbedingungen für die Durchführung von
Tourismusprojekten erfolgen. Dazu sollten Länder und
Regionen festgelegt werden, die Schwerpunkte für eine
gebündelte und stärker koordinierte Zusammenarbeit bil-
den. Zudem ist die Intensivierung der Forschungstätig-
keit im Handlungsfeld Tourismus sinnvoll. Schließlich
ist die strategische und inhaltliche Weiterentwicklung der
entwicklungspolitischen Bildungsarbeit erforderlich. Durch
die Konzentration der touristischen Aufgaben im BMWi
sind die genannten Ziele effektiver als heute zu verwirk-
lichen, da neben entwicklungspolitischen Aspekten auch
weitere fachpolitische Bereiche berührt werden.
Ich bitte Sie im Interesse einer gestärkten und ziel-
orientierten deutschen Tourismuspolitik, dem Antrag der
FDP-Bundestagsfraktion zuzustimmen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Am 4. Mai wird in Ha-
vanna eine internationale Tourismusmesse eröffnet.
Gastland ist diesmal die Bundesrepublik Deutschland.
Rechtzeitig lud der Tourismusminister der Republik
Kuba eine Delegation des Tourismusausschusses zu die-
ser Messe ein. Der Ausschuss nahm die Einladung an
und bestätigte noch auf der ITB am 12. März in Berlin
dem Minister persönlich sein Kommen, nachdem Sie,
verehrter Herr Präsident, diese Reise genehmigt hatten.
Trotzdem wird kein Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland an der Tourismusmesse in Havanna teilneh-
men, denn inzwischen wurde die Reise aus fadenscheini-
gen Gründen auf Betreiben der Koalition abgesagt. Das
ist nicht nur peinlich, sondern auch ein Beispiel, wie
Potenziale der Tourismuswirtschaft in der Entwicklungs-
zusammenarbeit nicht genutzt werden.
In einem stimmen wir der FDP zu: Die Tourismus-
politik und der Tourismus als einer der größten Wirt-
schaftsbereiche werden in Deutschland stiefmütterlich
behandelt. Es beginnt bei der Bundesregierung. Der Rei-
seweltmeister BRD hat kein eigenes Tourismusministe-
rium, das Wort „Tourismus“ kommt im zuständigen Mi-
nisterium für Wirtschaft und Technologie nicht vor, der
Minister und seine Staatssekretäre fühlen sich für die
Tourismuswirtschaft nicht bzw. kaum zuständig. Es gibt
einen Tourismusbeauftragten, unseren sehr rührigen
Kollegen Ernst Hinsken, welcher aber kaum über Ent-
scheidungskompetenzen, Personal und Finanzen verfügt.
Tourismus ist unbestritten ein Querschnittsthema, und
daraus folgt zwangsläufig, dass auch andere Ressorts mit
tourismusrelevanten Fragen beschäftigt sind, auch das
Entwicklungsministerium. Insofern gibt es logische und
sinnvolle Aufgabenverteilungen zwischen den Ministe-
rien, aber auch unakzeptable. Dazu zwei Beispiele: Die
Förderung des barrierefreien Tourismus einschließlich
der viel zu geringen Förderung der NatKo ist im Ge-
sundheitsministerium angesiedelt. Dafür gibt es keine
inhaltliche Begründung. Wenn, dann sollte sich dieses
Ministerium mehr mit Fragen des Gesundheitstourismus
und von Kurreisen befassen.
Zweitens finde ich unakzeptabel, dass sich die Bun-
desregierung in keiner Weise für Schulfahrten und kaum
für den Kinder- und Jugendtourismus interessiert und
stattdessen lediglich auf die Länder verweist. Insofern
erwarte ich durchaus mit der nächsten Koalitionsverein-
barung Veränderungen bei Zuständigkeiten und Stellen-
wert der Tourismuspolitik, egal wer nach der nächsten
Bundestagswahl die Regierungsverantwortung über-
nimmt.
Dass Sie, liebe Kollegen von der FDP, sich sehr fürs
Wirtschaftsministerium, aber überhaupt nicht für die
Entwicklungspolitik interessieren, spürt man auch bei
dem vorliegenden Antrag. Von den wirklichen Zusam-
menhängen zwischen nachhaltiger Entwicklungs- und
Tourismuspolitik scheinen Sie keine Ahnung zu haben.
Insofern empfehle ich Ihnen, sich bei Fachleuten von
EED Tourism Watch, bei den Teilnehmerinnen und Teil-
23720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
nehmern des Weltsozialforums 2009 in Brasilien und
den Organisatoren des brasilianischen Netzwerkes für
solidarischen und gemeindebasierten Tourismus – Turi-
sol – zu informieren. Auch in der deutschen Tourismus-
wirtschaft gibt es Leute mit Kompetenz, ich denke da
zum Beispiel an den Chef des Berliner Reiseunterneh-
mens „Lernidee Erlebnisreisen“, Hans Engberding. Si-
cher: In den Haushaltsberatungen war ich ebenso wie die
Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen er-
staunt, wie viele Kleinst- und Kleinprojekte das Ent-
wicklungsministerium weltweit unter der Überschrift
„Tourismus“ fördert. Eine Evaluierung und gegebenen-
falls Konzentration der Mittel in Abstimmung mit den
Tourismuspolitikern halte ich für sinnvoll. Die Übergabe
dieses Bereiches an das Wirtschaftsministerium – so die
Forderung der FDP – lehnen wir aber unter den gegen-
wärtigen Bedingungen ab.
Krisen verführen auch immer zu egoistischem Verhal-
ten, zur Nabelschau. So freuen wir uns einerseits, dass
zunehmend mehr Menschen für ihren Urlaub keine Fern-
reise, sondern eine Reise im Inland buchen. Das stärkt
die heimische Tourismuswirtschaft und ist meist auch
ökologischer. Andererseits verschärft dieser Trend die
Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise gerade
in den ärmsten Ländern der Welt. Deswegen stehen auch
wir vor der Herausforderung, nicht nur Kleinstprojekte
des Wirtschaftsministeriums unter der Überschrift „Kon-
zentration“ zu streichen, sondern eher auch zu umfang-
reicheren und damit nachhaltigeren Projekten zu entwi-
ckeln. Auch das eine oder andere Vorhaben der
deutschen Tourismuswirtschaft ist unterstützenswert. In-
sofern – und hier verweise ich noch einmal auf den Be-
ginn meiner Rede – haben wir mit der Absage der Kuba-
Reise weder der Tourismuswirtschaft in Kuba noch den
dort engagierten deutschen Tourismusunternehmen ei-
nen guten Dienst erwiesen.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige
der Welt, ein riesiges Geschäft, das auch in der Entwick-
lungszusammenarbeit klar von unseren, den westlichen
Interessen dominiert wird. Aus den Industrieländern
kommen die Ferienreisenden. Hier haben auch die gro-
ßen Tourismuskonzerne ihren Sitz.
Neben vielen positiven Effekten für die Entwick-
lungs- und Schwellenländer hat das Thema Tourismus in
der Entwicklungszusammenarbeit aber auch seine Schat-
tenseiten: So bleiben laut Berechnung des Arbeitskreises
Tourismus & Entwicklung in Basel nur 42 Prozent des
Preises, der für eine Pauschalreise nach Südafrika ge-
zahlt wird, auch in Südafrika. Weniger entwickelte Län-
der können oftmals sogar nur 10 Prozent der Einnahmen
aus dem Tourismus zurückhalten.
Es kann nicht angehen, dass Tourismusförderung in
Entwicklungs- und Schwellenländern dazu führt, dass es
in immer mehr Ländern vergleichbare Angebote gibt:
Strände, Luxushotels und „verwechselbare“ Touristenat-
traktionen. Das kostet Geld für aufwendige Infrastruktu-
ren: Straßen, Flughäfen, Wasser- und Stromversorgung,
all das oder auch ein Golfplatz in der Wüste trägt aber
den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung kaum
Rechnung. Das kann nicht unser Ziel sein!
Aus meiner Sicht geht es vielmehr darum, innovative
Tourismuskonzepte zu fördern, die Natur und Umwelt
als schützenswertes Kapital in Wert setzen und die das
Wissen um Natur- und Kulturerbe beleben und erhalten.
Wir sind gegen eine weitgehend vom Privatsektor und
von internationalen Ketten geprägte Dynamik der touris-
tischen Entwicklung in Entwicklungs- und Schwellen-
ländern!
Abenteuer, Luxus, „Öko“ oder Schnäppchen – die
Tourismusindustrie setzt auf immer wieder neue Trends.
Aber es geht um die Menschen mit ihrer Kultur, die in
Tourismusgebieten in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern leben: Tourismus bringt Hoffnung, neue Perspekti-
ven, aber auch brutale Ausbeutung und Menschenrechts-
verletzungen. Das nehmen wir in der Hochglanzwelt der
Urlaubskataloge nicht gerne zur Kenntnis.
Ich glaube, liebe Kollegen von der FDP, bezüglich Ih-
rer Forderung der Konzentration der finanziellen Mittel
auf zukunftsweisende Projekte haben wir durchaus un-
terschiedliche Vorstellungen. Nicht die großen Hotel-
ketten, insbesondere kleine und mittlere Hotels und
Restaurants haben hervorragende Arbeitsplatzbilanzen.
Regionale Wirtschaftskreisläufe stärken, dass muss auch
touristisch in der Entwicklungspolitik unser Ziel sein.
Ein positives Beispiel für Entwicklungszusammenarbeit
im Tourismus ist Tobago. Hier ist es gelungen, die Ein-
künfte der Bauern durch den Verkauf ihrer Agrarpro-
dukte an die Hotels binnen eines Jahres nahezu zu ver-
doppeln.
Das Leitbild des nachhaltigen Tourismus ist bislang
der Rahmen für das Engagement der deutschen Entwick-
lungspolitik im Tourismus. Ich finde, das ist richtig so!
Finanzielle Mittel darf es nur für sozial gerechte, kultu-
rell angepasste, ökologisch tragfähige und, ganz wichtig,
für die ortsansässige Bevölkerung wirtschaftlich sinn-
volle und ergiebige Projekte geben. Wir dürfen hier nicht
rein wirtschaftlichen Interessen folgen. Deshalb gehören
die Mittel für Tourismus und Entwicklungszusammen-
arbeit auch nicht ins BMWi.
Tourismuspolitik ist und bleibt eine Querschnittsauf-
gabe, auch wenn wir uns grundlegende Gedanken da-
rüber machen sollten, welche Wertigkeit wir hier in Ber-
lin dem Tourismus zugestehen. Ohne Herrn Hinsken zu
nahe zu treten, ein einzelner Tourismusbeauftragter im
BMWi ohne wirkliche Anbindung an den Ministeriums-
apparat wird auch in meinen Augen einem der wichtigs-
ten Wirtschaftszweige politisch nicht gerecht.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform des Kontopfändungsschutzes (Zusatz-
tagesordnungspunkt 9)
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Der vorlie-
gende Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungs-
schutzes ist das Ergebnis von über einem Jahr intensiver
parlamentarischer Beratung. Aus Überzeugung kann ich
sagen, diese mitunter anstrengende Tätigkeit hat sich
gelohnt. Von der Einführung des sogenannten P-Kontos
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23721
(A) (C)
(B) (D)
– das ist ja der Kern der Reform – können alle beteilig-
ten Interessengruppen profitieren. Schuldner wie Gläu-
biger, die Kreditwirtschaft, die öffentlichen Haushalte,
die Gerichte und nicht zuletzt auch die große Gruppe der
Selbstständigen, die bislang keinen nennenswerten
Kontopfändungsschutz hatte.
Neudeutsch könnte man über den Gesetzentwurf also
sagen, er schafft eine „Win-Win-Situation“. Das war
aber nicht von Anfang an so. Zwar möchte ich nicht auf
Hans Christian Andersen und seine Geschichte vom häss-
lichen Entlein zurückkommen, aber in den 15 Monaten
seit der ersten Lesung haben wir den Entwurf schon sehr
verbessert. Ob er ein ausgewachsener Schwan wird,
muss sich dann erweisen.
Im September 2007 war der Regierungsentwurf bei
seiner Vorstellung auch auf Kritik und ablehnende Worte
gestoßen. Auch ich hatte durchgreifende Bedenken und
habe mich bei der ersten Lesung im Januar 2008 sehr
kritisch geäußert. Warum ich den Entwurf nun entgegen
der ursprünglichen Kritik für gelungen halte, möchte ich
anhand der Positionen der eingangs erwähnten Interessen-
gruppen erläutern:
Erstens. Schuldner: Die Teilnahme am modernen
Wirtschaftsleben steht im Zusammenhang mit dem
höchsten Gut unserer Verfassung – der Menschenwürde.
Wenn nun das P-Konto dafür sorgt, dass weniger erfolg-
lose Kontopfändungen ausgebracht werden, dann wird
dies zu weniger Kontokündigungen und so zu geringerer
Kontolosigkeit führen. Dies haben auch die Banken
durch den Zentralen Kreditausschuss signalisiert. Hierzu
war aber zunächst erforderlich, dass wir das P-Konto
praxistauglich ausgestalteten. Mein erster Kritikpunkt,
dass es keine zwei parallelen Vollstreckungsverfahren
geben dürfe, damit das Prozedere vereinfacht werden kann,
wurde dadurch ausgeräumt, dass ab 1. Januar 2012 nur
noch das P-Konto gilt. Wir alle hoffen nun – und wir
erwarten das auch –, dass es aufgrund der Einführung des
P-Kontos zu weniger Kontokündigungen kommt als bis-
lang.
Zweitens. Gläubiger: Auch die Gläubiger können
vom P-Konto profitieren, denn Schuldnerschutz muss
nicht automatisch zulasten der Gläubigerinteressen gehen.
Grundsätzlich liegt es sogar im Interesse des Gläubigers,
dass der Schuldner sein Konto behält, denn nur so kann
dieser weiterhin am Wirtschaftsleben teilnehmen und
seinen Schuldnerverpflichtungen nachkommen. Die
größte Gefahr für die Gläubigerinteressen hatte ich in
den vielen evidenten Missbrauchsmöglichkeiten gesehen,
die in dem Ursprungsentwurf begründet waren.
Die Gefahr des vollstreckungsvereitelnden Gebrauchs
von P-Konten wurde beseitigt. Dazu gehört nicht nur,
dass die Banken im Rahmen ihrer Informationspflicht
darauf hinweisen werden, dass eine Mehrfachnutzung
von P-Konten strafbar ist. Ich habe mich im Laufe der
Beratungen auch mit CDU-Kollegen aus dem Finanz-
ausschuss für einen effektiven Kontrollmechanismus
eingesetzt. Dieser wurde nun im Rahmen einer Schufa-
Abfrage eingeführt: Wird die Eröffnung eines P-Kontos
beantragt, so kann die Bank bei der Schufa abfragen, ob
bereits ein weiteres P-Konto bei einer anderen Bank be-
steht. Falls nicht, wird das neue P-Konto registriert. Auf-
grund einer Selbstverpflichtung werden alle deutschen
Kreditinstitute von diesem Kontrollinstrument Gebrauch
machen. Das liegt nicht nur im Interesse der Gläubiger
und Banken, sondern dient auch der weit überwiegenden
Mehrzahl der redlichen Schuldner. Das P-Konto soll
nicht durch einige wenige Betrüger in Verruf geraten.
Wenn nun jemand meint, man soll nicht nur das
Schlechte im Menschen sehen, so hat er recht. Wenn Sie
sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ansehen,
welche unseriösen Angebote zum P-Konto schon jetzt
im Internet zu finden sind, dann ist die Überlegung,
Missbrauch zu verhindern, schon nachvollziehbar. Dabei
wird es bei den meisten Angeboten ohnehin nur darum
gehen, die Interessenten „abzuzocken“.
Ich finde, die Gläubiger haben es bereits heute schwer
genug, gerichtlich anerkannte und titulierte Forderungen
durchzusetzen. Deshalb habe ich mich im Laufe der
Beratungen sehr dafür eingesetzt, dass die – ebenfalls
verfassungsrechtlich garantierten – Eigentumsinteressen
nicht aus den Augen verloren werden. Deshalb wurde
auf Bestreben der Union ein Bestimmungsrecht des
Gläubigers eingeführt: Hat ein Schuldner rechtswidrig
mehrere P-Konten eröffnet, so kann der Gläubiger das
Konto mit dem geringsten Guthaben als P-Konto bestim-
men und in die übrigen in voller Höhe vollstrecken.
Drittens. Selbstständige: Besonders wertvoll am Ent-
wurf ist auch die Tatsache, dass er für die bislang
schlecht geschützte Gruppe der Selbstständigen einen ei-
genständigen Kontopfändungsschutz einführt. Dies ist
nicht nur ein Signal, sondern eine wichtige Unterstüt-
zungsmaßnahme für den Mittelstand – in wirtschaftlich
leider nicht einfachen Zeiten.
Viertens. Die Kreditwirtschaft: Mit dem P-Konto
bekommt die Kreditwirtschaft ein praktikables und we-
niger pfändungsintensives Kontomodell an die Hand.
Dieses kann zu deutlichen Einspareffekten führen. Die
Preise für die Kontoführung können die Banken künftig
mit geschützten Beträgen verrechnen. Deshalb besteht nun
kein Bedürfnis mehr für Kontokündigungen. Hierin liegt
für die Banken eine große Chance. Wenn das P-Konto
nämlich mit Blick auf die Reduzierung der Kontolosig-
keit zum Erfolgsmodell wird, muss man nicht mehr über
ein „Girokonto für Jedermann“ nachdenken. Der damit
einhergehende gesetzlich vorzuschreibende Kontrahie-
rungszwang hat in unserer sozialen Marktwirtschaft, in
der der Grundsatz der Vertragsautonomie gilt, meiner
Meinung nach ohnehin nichts zu suchen.
Fünftens. Öffentliche Haushalte: Letztendlich dürften
nicht nur die erwähnten Interessengruppen, sondern wir
alle von der Einführung des P-Kontos profitieren. Denn
nach den Schätzungen gehen bislang deutlich mehr als
die Hälfte aller Kontopfändungen auf die öffentliche
Hand zurück, und dies oft wegen Kleinstbeträgen. Hier-
durch entstehen jedes Jahr immense Kosten für den
Steuerzahler. Das P-Konto mit seinem monatlich garan-
tierten Sockelfreibetrag wird hier Abhilfe schaffen. Zu-
dem besteht die Möglichkeit, bei dauerhaft vermögenslo-
sen Schuldnern die Unpfändbarkeit des Kontoguthabens
für bis zu 12 Monate anzuordnen. Deshalb hoffe ich, dass
23722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
der vorliegende Entwurf in diesem Hohen Hause eine
breite Unterstützung finden wird.
Dirk Manzewski (SPD): Dem Girokonto kommt auf-
grund des zunehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs
in der heutigen Zeit eine immer stärkere Bedeutung zu.
Die im Zusammenhang mit der Pfändung von Guthaben
immer häufiger vorkommenden Kündigungen von Giro-
konten sind deshalb besonders problematisch.
Die Gründe für die Kündigungen haben ihre Ursache
dabei in der weitreichenden Blockadewirkung, die durch
solch eine Kontopfändung ausgelöst wird, und natürlich
in den Kosten, die hierdurch anfallen. Das Ansinnen der
Bundesregierung, hier eine Verbesserung zu erreichen,
ist daher völlig richtig, zumal das meist hieran anschlie-
ßende Verfahren auf Pfändungsschutz einen ungeheuren
Aufwand für die Vollstreckungsgerichte bedeutet, der oft
genug dazu führt, dass eben kein rechtzeitiger Schutz ge-
währt wird.
Die Reform hatte daher von Anfang an das berech-
tigte Ziel, einerseits für einen effektiveren Schutz des
Schuldners zu sorgen und andererseits aber auch das
Bankkonto als Objekt für den Zugriff von Gläubigern zu
erhalten. Ich bin der Auffassung, dass der Gesetzentwurf
dieses Ziel vor allem nach den zahlreichen Beratungen
unter uns Rechtspolitikern und den hierdurch erfolgten
Änderungen erreicht hat.
Die der Existenzsicherung dienenden Einkünfte von
Schuldnern werden künftig auf dem sogenannten Pfän-
dungsschutzkonto gutgeschrieben. Dem Schuldner wird
hierdurch geholfen, da er einen automatischen Kon-
topfändungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrags er-
hält, also die Geldgeschäfte des täglichen Lebens trotz
Pfändung weiter vornehmen kann. Da das künftige
Recht alle Einkünfte betrifft, werden hiervon übrigens
erstmalig auch Selbständige profitieren können.
Wir haben auch sichergestellt, dass das Verrechnungs-
verbot für überwiesene Sozialleistungen und Kindergeld
im Kontokorrent auch im Hinblick auf das Pfändungs-
schutzkonto erhalten bleibt. Das folgt dem Grundgedan-
ken, dass Sozialleistungen und Kindergeld besonders
schutzwürdig sind und dem Betroffenen zur Existenz-
sicherung selbst bei einem debitorisch geführten Konto
zur Verfügung stehen sollten. Dieser automatische Pfän-
dungsschutz wird – dies ist wichtig – allerdings nur für
ein Girokonto gewährt. Dies macht die Sache für alle
Beteiligten einfacher.
Die Befürchtung, der Pfändungsschutz könnte durch
Führen mehrerer Konten ausgehöhlt werden, hat sich
meiner Meinung nach durch entsprechende Veränderun-
gen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf ein
Minimum reduziert – was den Gläubigern weiterhelfen
wird. Ich nenne nur die Möglichkeit der Schufa-Abfrage,
ob ein weiteres P-Konto besteht, das Bestimmungsrecht
des Gläubigers, welches Konto des Schuldners beim
unrechtmäßigen Vorliegen mehrerer P-Konten als
Pfändungsschutzkonto anzusehen ist, und die individua-
lisierten Voraussetzungen zur Eröffnung eines solchen
P-Kontos. Ich finde, dass das Verfahren auch relativ un-
kompliziert ausgestaltet und der Aufwand der Banken in
einem vertretbaren Rahmen gehalten worden ist.
Soweit ich in der ersten Lesung noch Probleme gese-
hen habe, ob wir den Kreditinstituten mit dem neuen
Verfahren nicht zu viel Aufwand aufbürden, haben sich
für mich diese Bedenken im Laufe des Gesetzgebungs-
verfahrens zerstreut. Indem unter anderem der Gutglau-
bensschutz der Banken bei vorzulegenden Nachweisen
verbessert wird und einheitliche Schutzregeln für alle
Freibeträge festgelegt werden, wird vielmehr eine Ver-
einfachung für die Kreditwirtschaft stattfinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir ha-
ben ein interessantes Gesetzgebungsverfahren hinter uns
und sind nach meiner Auffassung nach intensiver Bera-
tung zu einem vernünftigen Ergebnis gelangt. Ich würde
mich freuen, wenn Sie diese Auffassung teilen könnten
und dem Gesetzentwurf zustimmen würden.
Mechthild Dyckmans (FDP): Dem Kontopfän-
dungsschutz kommt in unserer Wirtschaftsordnung eine
große Bedeutung zu. Der bargeldlose Zahlungsverkehr
hat in alle Bereiche des Lebens Einzug gehalten. Bürge-
rinnen und Bürger, die vom bargeldlosen Zahlungsver-
kehr ausgeschlossen sind, erfahren damit erhebliche Ein-
schränkungen in ihrem alltäglichen Leben. Die
Versagung der Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsver-
kehr ist heute mit vielfältigen gesellschaftlichen und fi-
nanziellen Problemen verbunden. Die FDP-Bundestags-
fraktion begrüßt es daher, dass die Bundesregierung eine
Initiative vorgelegt hat zur Reform des Kontopfändungs-
schutzes. Das geltende Recht zeigt hier dringenden Re-
formbedarf auf und offenbart unvertretbare Härten für
Schuldner, Gläubiger und Banken. Der Schuldner sah
sich immer wieder mit der Gefahr konfrontiert, dass die
Bank sein Girokonto kündigt, weil ein Gläubiger das
Guthaben pfänden will. Der Schuldner war dann ge-
zwungen, gerichtlichen Rechtsschutz einzuholen, um
den notwendigen Pfändungsschutz zu erhalten.
Die Bundesregierung hat hierzu bereits 2007 einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der von der Zielrichtung getra-
gen war, den Schutz bei Kontopfändungen zu verbes-
sern. Letztendlich hat es der Gesetzentwurf jedoch nicht
vermocht, die unterschiedlichen Interessen von Schuld-
nern und Gläubigern einerseits und den Kreditinstituten
andererseits in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Anstatt das Verfahren insgesamt zu vereinfachen, sah
der Gesetzentwurf insbesondere für die Kreditinstitute
erhebliche Mehrbelastungen in Form von Kontroll- und
Prüfpflichten vor. Zu Recht sah sich der Gesetzentwurf
daher auch massiver Kritik aus Wissenschaft und Praxis
ausgesetzt.
Im Gesetzgebungsverfahren haben wir auf diese Kri-
tik reagiert und den Gesetzentwurf an zahlreichen Stel-
len erheblich geändert. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Reform nur
dann zustimmungsfähig sein kann, wenn sie zu einem
sachgerechten Ausgleich der Interessen von Schuldnern
und Gläubigern führt. Darüber hinaus haben wir gefor-
dert das Verfahren so auszugestalten, dass hinsichtlich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23723
(A) (C)
(B) (D)
der bereits bestehenden Regelungen zur Kontenpfän-
dung Verfahrenserleichterungen für alle Beteiligten ein-
treten. Der Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung
wird diesen Vorgaben nunmehr gerecht. Er schafft Klar-
heit, dass ab 2012 der Kontopfändungsschutz nur noch
für das Pfändungsschutzkonto gewährt wird. Damit ent-
fällt das Nebeneinander von Pfändungsschutzkonto und
bisherigem Kontopfändungsschutz. Diese Regelung
wird zu einer wesentlichen Vereinfachung in der Praxis
führen. Verbesserungen aus der Sicht des Gläubigers tre-
ten ein durch den Abbau von Missbrauchsmöglichkei-
ten. So soll beispielsweise regelmäßig eine Schufa-Ab-
frage erfolgen, ob bereits ein Pfändungsschutzkonto des
Kunden besteht. Auch für die Kreditinstitute wird der
Gesetzentwurf zu Vereinfachungen führen. So wird bei-
spielsweise der gute Glaube der Bank im Hinblick auf
die vom Schuldner für die Erhöhung der Freibeträge vor-
zulegenden Nachweise geschützt. Besonders erwähnen
möchte ich auch, dass bei Vermögenslosigkeit des
Schuldners die Anordnung der Unpfändbarkeit des Kon-
toguthabens bis zu 12 Monate gelten kann. Ein Vorteil
für die Banken ist auch die Möglichkeit der Verrechnung
der Kontoführungspreise mit den geschützten Beträgen.
Es freut mich, dass nun auch die Kreditwirtschaft ihre
Zustimmung zu dem Gesetzentwurf signalisiert hat. Das
zeigt, dass der Interessenausgleich geglückt ist.
Der Gesetzentwurf folgt ganz bewusst nicht der For-
derung nach der Einführung eines „Girokontos für Jeder-
mann“. Ich bin mir aber sicher, dass die Regelung das
Girokonto für viele sichert, die bisher vom bargeldlosen
Zahlungsverkehr ausgeschlossen wurden. Der Bericht
der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlung
des Zentralen Kreditausschusses zum „Girokonto für Je-
dermann“ vom Dezember 2008 zeigt zudem, dass die
Anzahl der Girokonten in Deutschland stetig ansteigt.
Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Selbstver-
pflichtung der Banken zur Bereitstellung von Girokon-
ten wirkt.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzent-
wurf heute zustimmen.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Das, was die Große
Koalition hier vorschlägt, ist nicht der große Wurf. Sie
gehen den zweiten Schritt vor dem ersten. Sie wollen ein
Pfändungsschutzkonto einführen, ohne gleichzeitig zu
regeln, dass jeder, der ein Konto eröffnen möchte, dies
auch tun kann. Das Pfändungsschutzkonto und das Giro-
konto für jedermann sind untrennbar miteinander ver-
bunden. Deshalb wird sich meine Fraktion heute enthal-
ten.
Verstehen Sie mich nicht falsch, das Pfändungs-
schutzkonto ist sinnvoll. Das gegenwertige Pfändungs-
schutzrecht ist viel zu kompliziert, aufwändig und bietet
keinen wirksamen Schutz für Schuldner. Eine Kon-
topfändung entzieht dem Schuldner die Möglichkeit,
über sein Guthaben zu verfügen. Er kann nicht nur kein
Geld mehr abheben, auch seine Daueraufträge bzw. Ein-
zugsermächtigungen für Miete, Telefon etc. werden
nicht ausgeführt. Deshalb ist die Einführung eines Pfän-
dungsschutzkontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im
Falle der Pfändung weiter verfügbar bleibt, grundsätz-
lich zu begrüßen. Damit wird die Lage von Schuldnern
deutlich verbessert, ohne die notwendige Abwägung mit
den Gläubigerinteressen zu vernachlässigen
In einem Sozialstaat darf niemand kahl gepfändet
werden. Auch einem Schuldner muss immer so viel Geld
bleiben, dass seine Existenz gesichert ist. Es gibt keine per
se guten Schuldner und bösen Gläubiger. Denken Sie nur
an das Kind, das von seinem Vater Unterhalt verlangt oder
an das Opfer einer Gewalttat, das Schadenersatz geltend
macht. Der Gläubiger hat einen rechtskräftigen Titel ge-
gen den Schuldner. Alle materiellrechtlichen Fragen
wurden bereits in einem Gerichtsverfahren geklärt. Im
Zeitpunkt der Pfändung geht es nur noch um eine Inte-
ressensabwägung zwischen dem verfassungsrechtlich
garantierten Anspruch des Gläubigers auf eine effektive
Durchsetzung seiner bestehenden Forderungen und dem
ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten Existenz-
minimum des Schuldners. Die Einführung eines Pfän-
dungsschutzkontos stellt nichts anderes als eine solche
Interessensabwägung dar.
So sinnvoll das Pfändungsschutzkonto ist – es setzt
voraus, dass der Schuldner überhaupt über ein Konto
verfügt. Nur im Zusammenhang mit einem Recht auf
Kontoeröffnung macht das Pfändungsschutzkonto erst
richtig Sinn und wird zu einer runden Sache. Sonst wer-
den auch weiterhin alle Menschen, die nicht über ein
Girokonto verfügen, wirtschaftlich und sozial ausge-
grenzt. Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist in der heuti-
gen Gesellschaft für die Teilnahme am Erwerbs- und
Wirtschaftsleben nicht mehr wegzudenken. Die Mög-
lichkeit des baren Zahlungsverkehrs wird immer weiter
eingeschränkt und ist vor allem teurer als der bargeldlose
Zahlungsverkehr. Viele Vermieter wollen eine Einzugs-
ermächtigung sehen. Auch auf dem Arbeitsmarkt macht
es sich schlecht, kein Konto zu haben. Welcher Arbeit-
geber stellt einen heute noch ein, wenn er den Lohn dann
bar auszahlen muss und damit mehr Aufwand hat? An-
ders als die Regierungsparteien behaupten, wird sich die
Notwendigkeit eines Rechts auf Kontoeröffnung durch
die Einführung des Pfändungsschutzkontos nicht erledi-
gen. Das Phänomen der Kontolosigkeit lässt sich nicht
allein damit erklären, dass die Banken nach einer Kon-
topfändung kündigen, weil ihnen ein Mehraufwand und
erhöhte Kosten entstehen. Banken kündigen auch aus
anderen wichtigen Gründen. Vor allem aber können sie
die Eröffnung eines Kontos aus anderen Gründen ver-
weigern. Mit armen Bankkunden lassen sich keine ge-
winnbringenden Geschäfte machen, und auch ohne
Pfändungsbeschluss kann eine Bank einen Bürger als
nicht kreditwürdig ansehen.
Deshalb brauchen wir ein Girokonto für jedermann.
Es gibt auch keine rechtlichen Einwände gegen einen
Abschlusszwang für die Banken. Dies ist nicht allein die
Auffassung meiner Fraktion, dies wird auch vom Bun-
desministerium der Justiz so vertreten. Sicher, ein Ab-
schlusszwang greift in die grundrechtlich geschützte
Vertrags- und Berufsfreiheit der Banken ein. Aber dieser
Eingriff ist gerechtfertigt, da vernünftige Allgemein-
wohlinteressen hierfür bestehen und der Eingriff verhält-
nismäßig ist. Auf die wirtschaftliche und soziale Bedeu-
23724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
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tung eines Kontos habe ich bereits hingewiesen. Die
Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem
Gewicht der Allgemeinwohlinteressen kann nur zuguns-
ten des Allgemeinwohls ausfallen. Dies gebietet nicht
zuletzt das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 und
Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz, wonach der Gesetzgeber für
einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für
eine gerechte Sozialordnung zu sorgen hat.
Es gibt auch keine milderen Mittel, die Banken dazu
zu bringen, Konten einzurichten. Die „freiwillige Selbst-
verpflichtungserklärung“ auf ein Konto für jedermann
des Zentralen Kreditausschusses ist nicht verbindlich.
Sie hat es deshalb auch nach über 13 Jahren nicht ge-
schafft, das Problem der Kontolosigkeit zu überwinden.
Die Kreditwirtschaft ist noch nicht einmal bereit, voll-
ständige und verlässliche Angaben über die Anzahl der
eingerichteten und verweigerten Girokonten für jeder-
mann zu liefern. Die Schuldnerberatungsstellen beteuern
regelmäßig, dass unbegründete Kontoverweigerungen
und fehlende Verweise auf die Möglichkeit zur Be-
schwerde gegen die Verweigerung keine Einzelfälle
sind. Die Schätzung der Arbeitsgemeinschaft der
Schuldnerberatung der Verbände geht von über 500 000,
das Institut für Finanzdienstleistungen Hamburg sogar
von über 1 Million Menschen ohne eigenes Girokonto
aus.
Das Thema „Girokonto für jedermann“ liegt seit lan-
gem auf dem Tisch. Die zweijährig erscheinenden Be-
richte der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfeh-
lungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto
für jedermann zeugen davon, dass sich seit Jahren nichts
an der Problematik geändert hat. Während die Fraktion
Die Linke bereits vor über drei Jahren, am 16. Februar
2006, einen Gesetzentwurf für eine gesetzliche Ver-
pflichtung der Kreditinstitute eingebracht hat, hat die
Bundesregierung eine Lösung des Problems immer wie-
der hinausgeschoben. Wir fordern Sie daher auf: Führen
Sie endlich das gesetzlich verankerte Recht auf ein Giro-
konto für jedermann ein!
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Teilhabe am bargeldlosen Geldverkehr ist in einer mo-
dernen arbeitsteiligen und hochtechnisierten Gesell-
schaft wie der unseren eine Notwendigkeit für alle Men-
schen. Ohne ein Girokonto für jedermann werden
Tausende von Menschen vor schier unlösbare Probleme
gestellt: bei der Arbeitssuche, bei der Anmietung von
Wohnraum, beim Bezug von Energie und der Teilnahme
an der Telekommunikation. Deshalb ist ein Girokonto
für jedermann eine richtige Forderung. Seit über zehn
Jahren reden wir darüber hier im Parlament – die aktu-
elle Lage ist immer noch völlig unbefriedigend.
Tausende von Menschen in Deutschland haben kein
Girokonto, da die Banken den Abschluss eines Girokon-
tovertrags ablehnen oder den Verwaltungs- und Kosten-
aufwand bei gepfändeten Konten scheuen und deshalb
die Girokonten der Betroffenen kündigen. Das ist ein un-
haltbarer Zustand. Eine rechtlich bindende Verpflichtung
der Banken, Girokontenverträge abzuschließen, gibt es
nicht. Wir haben seit 1995 eine Selbstverpflichtung der
Banken, jedem Interessenten ein Girokonto anzubieten,
die jedoch nicht eingelöst ist; die Banken mit Ausnahme
der Sparkassen haben sich nicht daran gehalten. Es wäre
endlich Zeit, zu handeln.
Der vorgelegte Gesetzentwurf zur Reform des Kon-
topfändungsschutzes beschränkt sich auf die Einführung
eines Pfändungsschutzkontos, des sogenannten P-Kon-
tos, um vorhandenen Missstände zu beseitigen. In der
Tat bringt der Gesetzentwurf auch viel Gutes: Nach
mehreren Beratungen im Kreis der Berichterstatter und
im Rechtsausschuss, an denen wir Grüne tatkräftig mit-
gewirkt haben, bringt er erhebliche Verbesserungen für
Menschen, die sich in der Zwangsvollstreckung befin-
den.
Girokontonutzerinnen und -nutzer haben auf Antrag
nun einen Anspruch darauf, dass eines ihrer Konten als
P-Konto geführt wird. Damit ist ein automatischer Pfän-
dungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrags von
985,15 Euro monatlich verbunden. So ist – anders als
heute – kein zeitraubendes Verfahren vor Gericht mehr
nötig, um Kontopfändungsschutz zu erhalten. Dies be-
grüßen wir ausdrücklich. Alle Arten von Einkünften sind
nunmehr geschützt. Damit gibt es so erstmals auch Kon-
topfändungsschutz für Selbstständige. Auch dies bewer-
ten wir sehr positiv. Wir werden dem Gesetz deshalb
heute zustimmen.
Ob jedoch die Vorhersage der Bundesregierung ein-
tritt, dass sich mit dem heute hier debattierten Gesetz
faktisch auch die Forderung nach einem Girokonto für
jedermann erledigt, bleibt abzuwarten. Für die Banken
ergibt sich mit dem neuen P-Konto ein geringerer Ver-
waltungs- und Kostenaufwand als beim bisherigen Pfän-
dungsschutz. Das mag dazu führen, dass auch Menschen
mit sehr geringem Einkommen und in prekären finan-
ziellen Situationen Girokontenverträge abschließen kön-
nen und die Banken bestehende Kontoverbindungen
nicht wegen Pfändungsmaßnahmen kündigen. Wir wer-
den die Auswirkungen des Gesetzes verfolgen und gege-
benenfalls unsere Forderung nach einem Girokonto für
jedermann erneuern. Das Thema Girokonto für jeder-
mann kommt dann wieder auf die Tagesordnung.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Wir beraten heute in zweiter/
dritter Lesung einen Gesetzentwurf, den das Bundeskabi-
nett bereits am 5. September 2007 beschlossen hat: den
Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungsschutzes.
Die Beratungen im Deutschen Bundestag haben rund
15 Monate in Anspruch genommen. Es bedurfte einiger
Anstrengungen, die Interessen von Gläubigern und
Schuldnern, der Justiz und der Kreditwirtschaft in diesem
Bereich in Einklang zu bringen.
Schuldnerinnen und Schuldnern soll mit dem Basis-
pfändungsschutz auf dem Pfändungsschutzkonto die
Möglichkeit erhalten werden, während und nach einer
Kontopfändung weiter am Wirtschaftsleben teilzunehmen
und das Konto zu nutzen. Wie wir alle wissen, geht
heute ohne ein Girokonto fast gar nichts mehr. Um einen
Mietvertrag, einen Stromlieferungsvertrag oder auch einen
Arbeitsvertrag abzuschließen, benötigt man heutzutage
den Nachweis einer Kontoverbindung oder die Erteilung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23725
(A) (C)
(B) (D)
einer Einzugsermächtigung für ein Girokonto. Kontolosig-
keit ist mehr als nur ein Stigma; wer kein Girokonto hat,
ist vom Wirtschaftsleben weitgehend ausgeschlossen
und insoweit quasi handlungsunfähig.
Auf dem Pfändungsschutzkonto erhält ein Schuldner
für sein Guthaben nunmehr einen automatischen Basis-
pfändungsschutz in Höhe seines Pfändungsfreibetrages.
Das sind 985,15 Euro pro Monat bei Ledigen ohne Unter-
haltsverpflichtungen. Die Pfändung bewirkt nun bis zur
Höhe des Pfändungsfreibetrages keine Kontosperre
mehr, die erst durch eine gerichtliche Schutzanordnung
wieder aufgehoben werden müsste. Es kommt auch nicht
mehr darauf an, aus welcher Art von Einkünften dieses
Guthaben herrührt. Damit genießen künftig auch Selbst-
ständige Pfändungsschutz für ihr Kontoguthaben. Jeder
Kunde kann von seiner Bank oder Sparkasse verlangen,
dass sein Girokonto als P-Konto geführt wird.
Das Pfändungsschutzkonto nützt nicht nur den Schuld-
nern, sondern wirkt sich auch positiv auf die Belange der
Gläubiger aus. Denn der Schuldner, der weiter arbeiten
und mit seinen pfandfreien Einkünften wirtschaften
kann, hat letztlich auch eher eine Aussicht darauf, seine
Schulden zu tilgen.
Jede Person darf nur ein P-Konto einrichten und muss
bei Einrichtung des P-Kontos versichern, dass er nicht
schon ein P-Konto hat. Um einen Missbrauch zum
Nachteil der Gläubiger von vornherein auszuschließen,
können die Banken durch eine Schufa-Abfrage kontrol-
lieren, ob diese Versicherung auch zutrifft. Ich freue
mich, dass die Kreditwirtschaft angekündigt hat, diese
Überprüfung auch flächendeckend durchzuführen, soweit
die Kreditinstitute mit der Schufa zusammenarbeiten.
Wir haben bei diesem Gesetzgebungsprojekt immer
auch die Belange der Kreditwirtschaft und der Justiz im
Auge behalten. Sie sind beide berechtigterweise daran
interessiert, den Kontopfändungsschutz so effizient wie
möglich auszugestalten. Deshalb begrüße ich die Empfeh-
lung des Rechtsausschusses, den Kontopfändungsschutz
ab 1. Januar 2012 nur noch über das P-Konto zu bewirken.
In den langen und intensiven Beratungen um die Re-
form des Kontopfändungsschutzes ging es in den letzten
Monaten sehr viel um die Aufgaben der Banken. Es
stellte sich die Frage: Womit kann die Kreditwirtschaft
bei circa 350 000 Kontopfändungen monatlich bundes-
weit am besten umgehen? Wir wollten mit dem P-Konto
einen wesentlichen Anreiz für Banken setzen, die
Geschäftsverbindung mit dem Kunden nicht wegen der
Bürokratie bei der Pfändung zu beenden. Und ich meine,
das ist uns auch gelungen.
Wir haben mit dem Pfändungsschutzkonto ein gut
handhabbares Instrument für den Kontopfändungsschutz
auf den Weg gebracht. Die Kreditwirtschaft hat mir
gesagt, dass die Funktionsweise des P-Kontos sich EDV-
technisch gut umsetzen lässt. Den Banken werden keine
Abwägungen im Einzelfall oder komplizierte Berechnun-
gen zugemutet. Damit gelingt beim Pfändungsschutzkonto,
was zuvor noch unmöglich schien: Vorgaben der Gerichte
werden auf das Nötigste begrenzt, und die Verwaltung von
Pfändungen insgesamt wird mehr an den Bedürfnissen
der Wirtschaft ausgerichtet.
Gerichtliche Entscheidungen über den Pfändungsschutz
für ein Girokonto sind also nur noch im Ausnahmefall not-
wendig. Dies freut nicht nur die Banken, sondern wird
auch zu Entlastungen bei den Vollstreckungsgerichten und
den Rechtsantragsstellen führen. Ich denke, die Länder
werden dies gerne hören.
In der gegenwärtigen Situation sind viele Bürgerinnen
und Bürger verunsichert, ob mit der Krise an den
Finanzmärkten und in der Realwirtschaft mittelfristig
auch ganz persönliche Schwierigkeiten verbunden sein
werden. Arbeitslosigkeit kann gerade Familien schnell in
die Überschuldung führen. Ich denke, mit der Reform des
Kontopfändungsschutzes setzt der Deutsche Bundestag
ein deutliches Zeichen. Auch gegenüber den globalen
Fragen der Finanzkrise treten die ganz individuellen
Belange der Bürgerinnen und Bürger nicht in den Hin-
tergrund.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über
Streumunition (Tagesordnungspunkt 14)
Eduard Lintner (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf verabschiedet heute der Deutsche Bun-
destag das Verbot der Streumunition. Das ist ein Schritt,
der durchaus als historisch bezeichnet werden kann und
der auch erneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik
auf dem Gebiet der humanitären internationalen Rüs-
tungskontrolle bestätigt, wobei nicht verschwiegen wer-
den sollte, dass es gerade Abgeordnete dieses Hohen
Hauses waren, nämlich die Kollegen von und zu
Guttenberg und Weigel, die die Initiative dazu ergriffen
haben. Deutsche Politiker und Diplomaten waren also
schon an der Erarbeitung des Textes der Konvention
maßgeblich beteiligt und – man muss es sagen – ihre Ar-
beit hat sich gelohnt.
Der vorliegende Gesetzesentwurf orientiert sich auch
an realistischen Gesichtspunkten. Einerseits verbietet er
Entwicklung, Produktion, Lagerung und Einsatz von
Streumunition, erlaubt aber weiterhin die Verwendung
der sogenannten Punktzielmunition. Die Punktzielmuni-
tion ist ein vertretbarer Ersatz für die Streumunition. Da-
mit ist ein realistischer Kompromiss zwischen humanitä-
ren Erwägungen und militärischen Notwendigkeiten
gefunden worden. Über die genauen Fähigkeiten und
Einsatzszenarien der Punktzielmunition werden wir uns
ja in den zuständigen Ausschüssen noch ausführlich un-
terhalten. Die künftige Einsatzfähigkeit der Bundeswehr,
auch im Zusammenwirken mit unseren Verbündeten,
wird somit nicht tangiert. Weitergehende Forderungen,
wie sie etwa die Grünen erheben, sind unrealistisch. Sie
würden faktisch darauf hinauslaufen, dass sich die Bun-
deswehr aus Afghanistan und aus anderen Einsatzgebie-
ten zurückziehen müsste, nur weil einige unserer Ver-
23726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
bündeten die Konvention noch nicht angenommen
haben. Solche Positionen können keine Grundlage für
eine vernünftige und verlässliche Außen- und Abrüs-
tungspolitik sein.
Die Wichtigkeit der Streumunitionskonvention wird
eindrücklich demonstriert durch einen in der vergange-
nen Woche veröffentlichten Bericht der Menschen-
rechtsorganisation Human Rights Watch. Dort werden
die Folgen des Einsatzes von Streumunition durch Russ-
land und Georgien in dem Krieg zwischen den beiden
Staaten im vergangenen Sommer eindringlich geschil-
dert werden. Dutzende von Zivilisten sind in diesem
Konflikt durch Streumunition getötet und verletzt wor-
den. In den umkämpften Gebieten liegen immer noch
Blindgänger, die eine anhaltende Gefahr für die Bevöl-
kerung darstellen und den Wiederaufbau behindern. Vor
allem Kinder und Frauen werden erfahrungsgemäß auch
nach dem Einsatz solcher Munition oft zu Opfern der
zahlreichen im Gelände vorhandenen Blindgänger. Hier
wird die ganze Grausamkeit, die diesem Munitionstyp
zu eigen ist, sichtbar. Die Studie zeigt auch, dass ein
„verantwortungsvoller“ Einsatz von Streumunition nicht
möglich ist, der Einsatz in bevölkerten Gegenden zieht
immer auch zivile Opfer nach sich. Gerade Georgien
und Russland möchte ich daher hier und heute dazu auf-
fordern, der Streumunitionskonvention beizutreten und
so ein Zeichen zu setzen, dass sie bereit sind, aus diesen
Erfahrungen die Konsequenzen zu ziehen.
Im Rahmen der Diskussion über eine Weiterentwick-
lung der Konvention über konventionelle Waffen wer-
den gegenwärtig alternative Wege zu einem völkerrecht-
lichen Verbot von Streumunition erörtert. Auch diesen
Prozess sollten wir unterstützen und damit Ländern, die
aus welchen Gründen auch immer der Streumunitions-
konvention nicht beitreten wollen, eine Alternative an-
bieten. So zeigen die jüngsten Entscheidungen in den
USA, wo die Möglichkeiten zum Export von Streumuni-
tion im vergangenen Monat drastisch eingeschränkt
wurden, dass es Länder gibt, die auf alternativen Wegen
dasselbe Ziel verfolgen, das wir mit der Streumunitions-
konvention erreichen wollen.
Ein wichtiges Ziel der deutschen Außen- und Abrüs-
tungspolitik muss es künftig sein, auch die Länder, die
sich diesem Trend bislang noch verweigern, zu überzeu-
gen, den von der Mehrheit der Staatengemeinschaft ein-
geschlagenen Weg mitzugehen. Ebenso muss sich die
deutsche Politik dafür einsetzen, dass allen Staaten, die
ihre Bestände an Streumunition vernichten wollen, die
dafür notwendige Technik und Expertise zur Verfügung
steht. Daher ist es auch äußerst begrüßenswert, dass die
Bundesregierung Ende Juni hier in Berlin eine interna-
tionale Konferenz zu den praktischen Aspekten der Ver-
nichtung von Streumunition durchführen wird. Dabei
können wir auf unseren Umgang mit derartiger Munition
verweisen. Von deutschen Firmen produzierte Streumu-
nition wurde ausschließlich an die Bundeswehr geliefert,
die sie nie eingesetzt hat und die ihre Bestände jetzt ver-
nichten lassen wird. Gerade bei der Vernichtung solcher
Munition hat sich Deutschland wiederum technisch her-
vorgetan, sodass wir heute weltweit die effizienteste
Technik für die Zerstörung dieser Munitionsart anbieten.
Dabei hoffe ich, dass die anderen Unterzeichnerstaa-
ten der Streumunitionskonvention dem deutschen Bei-
spiel folgen und das Abkommen bald ratifizieren, damit
so schnell wie möglich die entscheidende Schwelle von
30 Ratifikationsurkunden erreicht wird und die Konven-
tion somit in Kraft treten kann. Das wäre mit Hinblick
auf die teuflische Wirkung von Streumunition für Leben
und Gesundheit einer großen Anzahl von Menschen eine
gute Nachricht.
Andreas Weigel (SPD): Es ist ein wichtiger und ein
guter Schritt, dass der Deutsche Bundestag das im ver-
gangenen Jahr verabschiedete Abkommen zur Ächtung
von Streumunition hier und jetzt in zweiter und dritter
Lesung so schnell und unverzüglich ratifiziert. Genauso
wie die Bundesregierung die parlamentarische Initiative
für dieses Abkommen aufgegriffen und bei den Verhand-
lungen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich rund
100 Staaten auf ein umfassendes Verbot dieser entsetzli-
chen Kampfmittel geeinigt haben, genauso konsequent
setzen wir im Parlament nun die Initiative fort, um den
Weg für die Ratifizierung schnellstmöglich freizuma-
chen.
Das Abkommen zur Ächtung von Streumunition tritt
in Kraft, wenn es von 30 Staaten ratifiziert worden ist.
So verbinden wir die heutige Debatte natürlich auch mit
der Hoffnung, dass andere europäische Staaten in ähnli-
cher Zügigkeit diese für die Abrüstung so wichtige Ini-
tiative voranbringen. Und denjenigen Staaten, die nicht
zu den Unterzeichnern gehören, wird deutlich gemacht:
Hier geht es nicht um ein Lippenbekenntnis, hier wird
ein Ziel – die weltweite Vernichtung der Streubombenar-
senale – konsequent weiterverfolgt. Damit wird der öf-
fentliche Druck, diesem Abkommen beizutreten, auf die
Regierungen der Nichtunterzeichnerstaaten verstärkt.
Wir schauen dabei natürlich mit Interesse auf die Verei-
nigten Staaten. Nach der kompromisslosen Blockadehal-
tung der Bush-Administration sehen wir mit Erleichte-
rung und großer Hoffnung, wie die neue US-Regierung
selbst die Initiative für Abrüstung und Rüstungskontrolle
ergreift. Anfang März haben die Vereinigten Staaten mit
der Einschränkung von Exportbedingungen für Streumu-
nition schon den ersten Schritt getan. Das kann ein
Schritt hin zum Ziel der Ächtung von Streumunition
sein. Bei aller Freude über das, was geschafft worden ist
und was nun vielleicht möglich wird, gibt es keinen
Grund zur Selbstzufriedenheit. Vielmehr bedeutet die
Ratifizierung des Abkommens die Verpflichtung, hier
weiterzumachen und den Rückenwind für weitere Ab-
rüstungsinitiativen zu nutzen. Und wir müssen dafür
Sorge tragen, dass das Abkommen zur Ächtung von
Streumunition nicht nur mehr Unterzeichnerstaaten fin-
det, sondern dass die Ächtung und Vernichtung dieser
Waffen auch konsequent eingehalten und nicht ausge-
höhlt wird.
So wissen wir um die Kritik aus den zivilgesellschaft-
lichen Organisationen an weiterhin genutzter Submuni-
tion. Das Problem der genauen Definition von Streumu-
nition und die Gefahr, dass hier die Grenzen schnell
verschwimmen, sind uns bewusst. Wir sind der Auffas-
sung, dass man diese Problematik mit höchster Sorgfalt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23727
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und aller Objektivität prüfen muss. Deshalb werden wir
uns mit der Wirkungsweise solcher Submunition, die
auch von der Bundeswehr verwendet werden kann, in ei-
ner Anhörung des Unterausschusses für Abrüstung und
Rüstungskontrolle genau beschäftigen. In der Anhörung
wird es darum gehen, welche Kriterien der Erprobung
und Neubeschaffung von Submunition zugrunde zu le-
gen sind? Welche Erkenntnisse liegen über die Erpro-
bung von Submunitionsmodellen wie SMArt, Baszalt,
BONUS und SKEET vor? Welche Einrichtungen haben
derartige Tests durchgeführt, und wer fungierte dabei als
Auftraggeber? Welche Erkenntnisse liegen über die Zu-
verlässigkeit von Submunition unter Einsatzbedingun-
gen vor? Wir werden uns nach der Anhörung mit deren
Ergebnissen befassen, und – wenn notwendig – politi-
sche Konsequenzen daraus ziehen. Es ist also falsch, zu
behaupten, wir klammerten das Thema Submunition aus.
Vielmehr ist es für uns sehr wichtig, hier Klarheit zu
noch offenen Fragen zu bekommen, genauso, wie wir
dafür gesorgt haben, dass die Streumunitionsbestände
der Bundeswehr in einem transparenten Verfahren ver-
nichtet werden. Das Bundesverteidigungsministerium
muss laut eines Beschlusses des Haushalts- und Verteidi-
gungsausschusses bis zum 31. Mai einen detaillierten
Vernichtungsplan für die deutschen Bestände vorlegen.
Darüber hinaus hat der Haushaltsausschuss des Bundes-
tages schon im Haushaltsplan 2009 erhebliche Mittel für
die Vernichtung der Streumunitionsbestände eingeplant.
Damit ist die Grundlage für eine zügige Umsetzung des
Vernichtungsplans gelegt. Aus heutiger Sicht werden die
Gesamtkosten für die Vernichtung rund 40 Millionen
Euro betragen – die haushalterischen Voraussetzungen
zur Aufbringung dieser Mittel sind geschaffen.
Die erfolgreichen Verhandlungen zur Ächtung von
Streumunition motivieren uns aber vor allem, in weite-
ren Fragen und Initiativen der Abrüstung energischer vo-
ranzugehen. Im Mittelpunkt wird in nächster Zeit der
Arms Trade Treaty – kurz ATT – stehen. Die unkontrol-
lierte Verbreitung von Kleinwaffen und anderer konven-
tioneller Waffen ist eines der dringlichsten Probleme in-
ternationaler Rüstungskontrollpolitik. Im vergangenen
Jahr haben über 2 000 Parlamentarier aus aller Welt die
Vereinten Nationen zur raschen Aushandlung eines ATT
aufgefordert (in Deutschland übrigens mehrheitlich Mit-
glieder der SPD-Bundestagsfraktion). Auch hier sollte es
möglich sein, gemeinsam mit gleichgesinnten zivilge-
sellschaftlichen Organisationen, engagierten Regierun-
gen und Parlamenten lange blockierte und verzögerte
Abrüstungsverhandlungen wieder in Gang zu bringen.
Der Oslo-Prozess ist hier ein ermutigendes Beispiel. In
der internationalen Rüstungskontrollpolitik stehen wir
augenblicklich vor vielen offenen Fragen. Verhandlun-
gen drehen sich seit Jahren im Kreis und kommen nicht
weiter. Bei manchem Vorhaben besteht schon lange der
Eindruck, es geschehe fast gar nichts mehr. Dies gilt be-
sonders für die KSE-Verhandlungen, für die Verhandlun-
gen zur konventionellen Abrüstung. Nach Jahren des
Stillstands gibt es jetzt aber Signale aus den Vereinigten
Staaten und Russland, den KSE-Prozess wiederbeleben
zu wollen. Das ist – so wie der erfolgreiche Oslo-Prozess
zur Ächtung von Streumunition – ein deutliches Zei-
chen, das Mut macht für neue Initiativen. Die Chancen
für substanzielle Verbesserungen in der Abrüstungspoli-
tik sind da.
Florian Toncar (FDP): In der heutigen Debatte geht
es um ein Thema, das in der Vergangenheit wiederholt
Gegenstand parlamentarischer Debatten war: das Verbot
von Streumunition. Dabei handelt es sich um Waffen, die
durch Artilleriegeschosse, Raketen oder Fliegerbomben
verbracht werden. Über dem Zielgebiet öffnen sich die
Waffenbehälter, um Hunderte kleiner Submunitionen,
sogenannter Bomblets, freizusetzen. Diese verteilen sich
großflächig und töten und verstümmeln unterschiedslos
beim Aufschlag. Ein großer Teil dieser Bomblets deto-
niert jedoch nicht beim Aufschlag und verbleibt als
Blindgänger in der Landschaft. Damit stellen sie auf un-
bestimmte Zeit auch nach dem Ende von Konflikten eine
heimtückische Gefahr für die Bevölkerung dar. In der
Folge werden landwirtschaftliche Flächen oder Wohnge-
biete aus Furcht vor diesen explosiven Altlasten nicht
wieder genutzt. Besonders häufig werden neugierige,
spielende Kinder Opfer dieser Sprengsätze. Daher freut
es mich, dass nach zähen Verhandlungen im Dezember
2008 in Oslo ein Abkommen zum Verbot dieser Waffen
geschlossen wurde. Dies ist besonders dem Engagement
der Bürgergesellschaft zu verdanken, die in der Öffent-
lichkeit ein Bewusstsein für dieses Problem hergestellt
hat. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte bereits im Herbst
2006 ein vollständiges Verbot dieser Flächenwaffen ge-
fordert, wie es jetzt international beschlossen wurde.
Nachdem wir am 19. März 2009 die erste Lesung des
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzes zum
Streumunitionsverbotsabkommen durchgeführt haben,
treten wir nun in die entscheidende Phase. Ich freue mich,
dass Beratungen in den Ausschüssen so zügig abge-
schlossen werden konnten und wir heute die zweite und
dritte Lesung halten können. Damit wird es für Deutsch-
land möglich, das Osloer Streumunitionsabkommen noch
rechtzeitig zu ratifizieren, bevor am 25./26. Juni 2009 in
Berlin eine weitere Konferenz zur Umsetzung des Ver-
botsabkommens stattfinden wird. Deutschland kann so
als Gastgeber glaubwürdig auftreten und darauf verwei-
sen, dass es den Vertrag ratifiziert hat. Außerdem freut es
mich, dass die in dem Gesetz vorgesehenen Gelder zur
Beseitigung der deutschen Streumunition in Höhe von
40 Millionen Euro erkennen lassen, dass die Bundesre-
gierung ausreichend Mittel für die Aufgabe bereitstellen
wird. Daher werden wir dem Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zustimmen.
Leider hat die Bundesregierung in der dem Gesetzent-
wurf beigefügten Darstellung des Verhandlungsprozes-
ses nicht darauf verzichtet, sich selbst Lorbeeren zu ver-
leihen, die ihr nicht gebühren. So stellt sich die
Bundesregierung als Vorreiter bei der Forderung nach
Abschaffung der Streumunition dar. Dabei war sie es,
die über lange Zeit eine Ausnahme von einem umfassen-
den Streumunitionsverbot erreichen wollte, indem sie
Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter ei-
nem Prozent von einem Verbot ausnehmen wollte. Diese
Streumunition sah sie als „für die Zivilbevölkerung un-
gefährlich“ an. Erst auf Druck der Organisationen der
Bürgergesellschaft und anderer Regierungen ließ die
23728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
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Bundesregierung bei den entscheidenden Verhandlungen
in letzter Minute von dieser semantischen Augenwische-
rei ab. Es freut mich, dass die Bundesregierung ein Ein-
sehen hatte und sich der Forderung der FDP nach einem
umfassenden Streumunitionsverbot angeschlossen hat
und zu einer tragfähigen Position gelangt ist.
Anders verhält es sich mit dem ebenfalls heute auf der
Tagesordnung stehenden Entschließungsantrag der Grü-
nen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dieser
Entschließungsantrag enthält einige Forderungen, die
weit über das Streumunitionsverbotsabkommen hinaus-
gehen. Zum einen zielen die Grünen darauf ab, Punkt-
zielmunition in das Streumunitionsverbot einzubeziehen.
Dabei handelt es sich um hochtechnische Waffen insbe-
sondere zur Panzerbekämpfung. Im Unterschied zur
Streumunition tötet sie nicht wahllos in der Fläche, son-
dern identifiziert Ziele und steuert diese an. Falls sie
kein Ziel findet, neutralisiert sie sich selbst. Ferner wird
Punktzielmunition nicht in großen Stückzahlen ver-
schossen wie Streumunition, sondern nur in ganz kleinen
Mengen. Damit ist klar, dass diese Art von Waffen eine
andere Aufgabe und andere technische Parameter hat,
die bewirken, dass sie in keiner Weise eine der Streumu-
nition vergleichbare Gefährdung darstellen. Aus gutem
Grund wurde diese Punktzielmunition also nicht als
Streumunition definiert. Die Grünen wollen mit ihrer
Forderung somit die mühsam ausgehandelte Definition
des Osloer Vertrags erneut infrage stellen.
Ein anderer Grund gegen ein Verbot von Punktziel-
munition besteht darin, dass sie es erlaubt, die durch das
Verbot von Streumunition entstandene Lücke in militäri-
schen Arsenalen teilweise zu schließen. Diese Möglich-
keit wird es Staaten, die bisher noch nicht dem Streumu-
nitionsverbot beigetreten sind, erleichtern, diesen Schritt
künftig doch noch zu wagen. Wenn man, wie von den
Grünen angestrebt, auch Punktzielmunition verbieten
würde, ist es unwahrscheinlich, dass beispielsweise
Russland, China, Indien, Pakistan, Israel oder die USA
dem Streumunitionsverbot beitreten werden. Dies ist
aber dringend notwendig, denn derzeit fallen nur 10 Pro-
zent der weltweiten Streumunitionsbestände unter das
Osloer Verbotsabkommen.
Die Forderung der Grünen, der Bundeswehr gemein-
same Operationen mit Verbündeten zu verbieten, bei de-
nen diese möglicherweise Streumunition einsetzen, ist
kontraproduktiv. Deutschland kann und soll bei seinen
Partnern für ein Streumunitionsverbot aktiv werben.
Dies ist richtig. Jedoch die Handlungsspielräume der
Bundeswehr dadurch zu beschränken, dass sie vom poli-
tischen Willen anderer Staaten für einen Streumunitions-
verzicht abhängig würde, geht zu weit. Ein solcher
Schritt würde die Fähigkeit zur Zusammenarbeit im
Bündnis, die sogenannte Interoperabilität, schwächen.
Derzeit scheint der Meinungsbildungsprozess in der
NATO dahin zu gehen, von der Nutzung von Streumuni-
tion langfristig Abstand zu nehmen. Auch die neue US-
Regierung will keine neue Streumunition mehr anschaf-
fen. Die Zeichen zeigen also ohnehin in die richtige
Richtung. Aus diesen Gründen werden wir den Ent-
schließungsantrag der Grünen ablehnen.
Insgesamt freue ich mich, dass die breite öffentliche
Debatte der letzten Jahre von Erfolg gekrönt war und ein
internationales Streumunitionsverbot erreicht werden
konnte. Jetzt muss es einerseits darum gehen, dass die
Unterzeichnerstaaten das Verbot zügig umsetzen. Ande-
rerseits müssen die Staaten, die dem Verbot bisher fern-
geblieben sind, überzeugt werden, auch auf diese
schrecklichen Waffen zu verzichten. Bei dieser Überzeu-
gungsarbeit kommt auch der Bundesregierung und ins-
besondere Bundesaußenminister Steinmeier eine weiter-
hin wichtige Rolle zu. Steinmeier muss hier nun die
Ärmel hochkrempeln und auf diese Staaten zugehen, die
weiterhin stark auf Streumunition zurückgreifen. Er steht
in der Pflicht, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Die
im Juni in Berlin stattfindende Konferenz ist dafür ein
geeigneter Anlass.
Inge Höger (DIE LINKE): Streumunition wurde im
Kosovo, in Afghanistan, im Libanonkrieg und auch im
letzten Sommer in Georgien eingesetzt. Human Rights
Watch erklärte vor wenigen Tagen: „Der sogenannte ver-
antwortungsvolle Einsatz von Streumunition ist ein Mär-
chen. Bemühungen, das Verbot aufzuweichen, müssen
abgewehrt werden.“
Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann
ein ganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von
Gemüsegärten und Feldern zur tödlichen Falle machen.
Noch nach Jahrzehnten werden Menschen verstümmelt
von den Blindgängern der Streumunition. Das erzeugt
ein fortgesetztes Leiden der Bevölkerungen in den Kon-
fliktregionen und macht diese Waffe zu einem ganz ent-
scheidenden Hindernis für den Wiederaufbau nach Krie-
gen.
Es ist ein großer Fortschritt, wenn nun ein Staat nach
dem anderen die Konvention zum weltweiten Verbot von
Streumunition unterzeichnet. Die Ächtung dieser Waffe
bekommt so einen rechtlich verbindlichen Charakter.
Das ist vor allem das Verdienst zivilgesellschaftlicher
Akteure wie handicap international und Aktionsbündnis
Landmine, die in unermüdlicher Arbeit den Oslo-Pro-
zess zum Verbot der Streumunition zum Laufen gebracht
haben.
Nach der Verabschiedung des „Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“
kann auch die deutsche Regierung das Verbot der Streu-
munition ratifizieren. Die Fraktion Die Linke begrüßt
diesen längst überfälligen Schritt ausdrücklich! Ein
wichtiger Schritt in die richtige Richtung wird so ge-
macht. Bis zur vollständigen Ächtung sämtlicher For-
men von Streumunition bleibt jedoch noch mehr zu tun.
Die Regelungen der Oslo-Konvention und des hier de-
battierten Gesetzes enthalten noch zu viele Ausnahme-
regelungen. Diese sind aus humanitären Erwägungen
nicht akzeptabel.
Auf Betreiben der Bundesregierung sind die Ausnah-
meregelungen im Gesetzestext von Oslo genau so for-
muliert, dass sie präzise auf das neueste Streubomben-
produkt des deutschen Rüstungskonzerns Diehl mit der
Bezeichnung „SMArt 155“ zutreffen. Die Bundesregie-
rung hat sich in den Verhandlungen über das Oslo-Ab-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23729
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kommen als Lobbyist der deutschen Rüstungsindustrie
profiliert. So genannte Zielpunktmunition – wie eben
das deutsche Rüstungsprodukt „SMArt 155“ – gilt nach
dieser Definition als akzeptabel und wird somit zum ex-
klusiven Exportangebot. Die britische und die Schweizer
Regierung haben bereits SMArt-155-Munition in
Deutschland bestellt.
Zielpunktmunition wurde in Verhandlungsdokumen-
ten der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz unter dem
Titel „Ausnahmen für weiterhin erlaubte Streumuni-
tionstypen“ geführt. Diese Formulierung zeigt deutlich:
Zielpunktmunition ist Streumunition – auch wenn die
Anzahl der Submunitionskörper geringer ist. In Öster-
reich war Zielpunktmunition seit 2007 als Streubomben
verboten. Wohin die von der Bundesregierung durchge-
setzten Ausnahmen führen, zeigt das österreichische
Beispiel: Die österreichische Regierung hat mit ihrer
Unterschrift unter das Oslo-Abkommen Anfang April
2009 auch das österreichische Streumunitionsverbot auf-
geweicht. SMArt 155 ist nun in Österreich wieder legal.
Die Rüstungsunternehmen Diehl und Rheinmetall wis-
sen die Zuarbeit der deutschen Regierung zu schätzen
und werben nun weltweit damit „Die Beschaffung ist
OHNE RISIKO“. Eine solche Wertung ist makaber!
„Ohne Risiko“ ist die Munition nur für die Regierungen,
die nicht befürchten müssen, dass die Munition, mit der
sie ihre Armeen ausstatten, für illegal erklärt wird. Für
die Opfer des Einsatzes der Streumunition bleibt das
Risiko enorm groß und unkalkulierbar. Nicht einmal un-
abhängige Tests existieren, die besagen, dass SMArt-155
auch die angepriesene Qualität erfüllt. Die Fehlerquoten
liegen erfahrungsgemäß immer über den Produzentenan-
gaben, die unter realitätsfernen Testbedingungen entste-
hen. Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass
sie endlich die Interessen der Menschen und nicht dieje-
nigen der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Po-
litik stellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu
ratifizieren, sondern auch alle Lagerbestände zu vernich-
ten und die Beteiligung an Einsätzen auszuschließen, bei
denen Streumunition eingesetzt wird.
Die Linke wird vor allen Dingen sehr genau die Pläne
für sogenannte alternative Flächenmunition verfolgen.
Es darf nicht sein, dass eine grausame Waffe gegen eine
andere grausame Waffenform ausgetauscht wird und
diese von Deutschland in alle Welt exportiert wird.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die heutige Ratifikation des Übereinkommens zum Ver-
bot von Streumunition durch den Deutschen Bundestag
ist ein Meilenstein der humanitären Rüstungskontrolle.
Er ist zuallererst das Verdienst einer breiten und über-
zeugungskräftigen Koalition von Nichtregierungsorgani-
sationen. Auch wir haben lange auf diesen Schritt hinge-
arbeitet. Gemeinsam mit den NGOs haben wir die
Bundesregierung immer und immer wieder gedrängt,
von ihrer Rolle als Bremserin des Oslo-Prozesses abzu-
rücken. Es ist erfreulich, dass sich die Bundesregierung
im Mai letzten Jahres schließlich besonnen hat und im
Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo-Abkom-
mens gehörte. Es freut mich auch persönlich ungemein,
dass ich damit kurz vor Ende meiner Parlamentarierzeit
doch noch einen Lichtblick in den ansonsten düsteren
letzten Jahren der Abrüstungspolitik erleben durfte. Mit
dieser Ratifikation ächtet Deutschland nun endlich eine
Waffe, die wahllos verletzt und tötet und der ganz über-
wiegend Zivilisten und Kinder – gerade auch nach
Kriegsende – zum Opfer fallen. Ich möchte an dieser
Stelle nicht wiederholen, was wir in den vorangegange-
nen Debatten oder in unseren parlamentarischen Initia-
tiven zu diesem Thema gesagt haben. Ich möchte auf die
Brutalität und die völkerrechtliche Unverhältnismäßig-
keit jedoch im Rahmen der heutigen Ratifikation noch
einmal hinweisen, um daran zu erinnern, dass das
Engagement zu diesem Thema mit dem heutigen Tag
nicht enden darf.
Auf dem Weg zu einem vollständigen, universellen
und wirksamen Verbot von Streumunition bedarf es drin-
gend weiterer Schritte. Hierbei ist vor allem die Bundes-
regierung gefragt. Deutschland kann in der nächsten Zeit
die Glaubwürdigkeit wiedererlangen, die die deutsche
Bundesregierung zu Beginn des Verhandlungsprozesses
mit ihrer restriktiven Haltung beschädigt hatte. Dafür
muss die deutsche Bundesregierung in den nächsten Mo-
naten gemeinsam mit den anderen Oslo-Partnern außer-
halb des Abkommens stehende Staaten, insbesondere die
bedeutenden Herstellerländer von Streumunition wie die
USA, Russland und China, an das Abkommen heranfüh-
ren. Seit Dezember sind dem Abkommen zwei weitere
Staaten beigetreten. Und auch in den USA bewegt sich
was. US-Präsident Barack Obama hat am 11. März 2009
ein Gesetz unterzeichnet, das ein dauerhaftes Verbot für
fast alle Exporte von Streumunition aus den Vereinigten
Staaten beinhaltet. Hier muss weiter Druck gemacht
werden. Auch in der EU gehört das Thema auf den
Tisch: Acht der 27 EU-Mitgliedstaaten sind dem Ab-
kommen noch nicht beigetreten. Auch von den NATO-
Staaten stehen acht außerhalb des Abkommens. Die Ant-
wort darauf kann nur eine sein: Die Bundesrepublik
muss erklären, dass sie sich zukünftig nicht an gemein-
samen Militäraktionen beteiligt, bei denen Nichtver-
tragsstaaten Streumunition einsetzen. Eine solche Aus-
nahme widerspräche nämlich der im Übereinkommen
festgeschriebenen Verpflichtung der Vertragsstaaten, un-
ter keinen Umständen Streumunition einzusetzen oder
dabei mitzuwirken.
Zweitens steht die Bundesregierung den anderen
Oslo-Partnern gegenüber in der Pflicht, die Wirksamkeit
der in Art. 2 c vom Verbot ausgenommenen „alternati-
ven“ Streumunition – sogenannte Punkt-Ziel-Munition –
genauestens zu prüfen. Schließlich hatte die deutsche
Delegation bei den Verhandlungen im Mai 2008 in
Dublin offen damit gedroht, den Vertrag nicht zu unter-
zeichnen, sollte die Verbotsausnahme für alternative
Streumunition nicht akzeptiert werden. Ergebnis: Streu-
munition wie zum Beispiel die von Rheinmetall und
Diehl produzierte SMArt-155-Artilleriemunition ist vom
Verbot ausgenommen. Und in der Praxis wird entlang
der technischen Parameter des Art. 2 c des Übereinkom-
mens eine neue Generation von Streuwaffen entwickelt.
Diese Entwicklung steht konträr zu dem Anliegen der
Konvention. Wir erwarten von der Bundesregierung, die
für dieses Hintertürchen verantwortlich ist, dass sie dem
23730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
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völkerrechtlichen Verbot von Kampfmitteln, deren Wir-
kung nicht begrenzt werden kann und die damit militäri-
sche Ziele und Zivilpersonen unterschiedslos treffen
können, gerecht wird. Die Bundesregierung muss prü-
fen, ob alternative Streumunition wirklich eine Waffe ist,
die zuverlässig zwischen zivilen und militärischen Zie-
len unterscheiden kann. Und diese Prüfung, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, darf sich nicht darauf beschrän-
ken, lediglich die Angaben der Hersteller zu rezitieren,
wie es die Bundesregierung in Antwort auf unsere An-
frage getan hat. Vielmehr muss die Bundeswehr die Wir-
kung selbst testen, und die Prüfergebnisse müssen offen
gelegt werden.
Die heutige Ratifikation bedeutet zudem den Beginn
der Vernichtung aller deutschen Streumunitionsbestände.
Schätzungen zufolge hat die Bundeswehr 30 Millionen
einzelne Sprengkörper im Depot, die über mehrere
10 000 Trägersysteme verteilt werden können. Offizielle
Angaben zum Bestand gibt es unter Verweis auf die Ge-
heimhaltung ja bedauerlicherweise nicht. Mit dem Ver-
bot von Streumunition ist diese Geheimniskrämerei al-
lerdings hinfällig. Das Parlament hat schließlich auch
eine Kontrollfunktion. Der Delaborierungsprozess darf
daher nicht im stillen Kämmerlein vonstattengehen, son-
dern muss für uns Parlamentarier verifizierbar sein. Die
Bundesregierung muss die Streumunitionsbestände ge-
genüber dem Deutschen Bundestag offenlegen und uns
einen konkreten Zeitplan für die Vernichtung vorlegen.
Dies beinhaltet auch, die US-Administration aufzufor-
dern, die in Deutschland auf exterritorialem Gebiet gela-
gerte US-Streumunition zu beseitigen und die Zuliefe-
rung von streumunitionsrelevanten Komponenten zu
beenden. Wir erwarten, dass auch hinsichtlich der In-
vestmentpolitik klare Richtlinien geschaffen werden, die
das Investment in eine deutschem oder ausländischem
Recht unterliegende Firma verbieten, die Streumunition
herstellt, zum Verkauf anbietet, ein- oder ausführt bzw.
befördert.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem Punkt
kommen, der gerne überlesen wird: Gemäß Art. 6 ist je-
der Vertragsstaat, der dazu in der Lage ist, verpflichtet,
Vertragsstaaten, die von Streumunition betroffen sind,
technische, materielle und finanzielle Hilfe zukommen
zu lassen. Denn die Unterzeichnung des Abkommens al-
lein wird die Zahl der Opfer nicht von heute auf morgen
reduzieren. UN-Angaben zufolge droht der Zivilbevöl-
kerung weiterhin in rund 30 Ländern noch immer Todes-
gefahr durch verstreute Munition. Wenn wir die Konven-
tion mit Leben füllen wollen, müssen wir unsere
Anstrengungen im Bereich der humanitären Minenräu-
mung in kontaminierten Regionen sowie die Hilfe bei
der Fürsorge, Rehabilitation sowie der sozialen und wirt-
schaftlichen Wiedereingliederung der Opfer von Streu-
munition deutlich verstärken. Die heutige Ratifikation
ist ein abrüstungspolitischer Meilenstein. Für unseren
nächsten Abrüstungsschritt müssen wir keine Meile ge-
hen: Fordern wir morgen gemeinsam die Bundesregie-
rung auf, Gespräche über den Abzug der US-Atomwaf-
fen aus Deutschland in die Wege zu leiten.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Nicht-
staatliche militärische Sicherheitsunterneh-
men kontrollieren
– Beschlussempfehlung und Bericht: Interna-
tionale Ächtung des Söldnerwesens und
Verbot der Erbringung militärischer Dienst-
leistungen durch Privatpersonen und Un-
ternehmen
(Tagesordnungspunkt 16 a und 16 b)
Holger Haibach (CDU/CSU): Uns liegen heute zwei
Anträge vor, die sich mit nichtstaatlichen militärischen
Sicherheitsunternehmen beschäftigen. Schon beim ers-
ten Durchsehen wird dabei klar, wohin der Weg gehen
soll. Beide Anträge eint das Ziel, diese Unternehmen
stärker als bisher zu kontrollieren, die Beschäftigung
von Söldnern zu verhindern und zu mehr Sicherheit in
bewaffneten Konflikten beizutragen. Und dennoch ist
klar, dass hier in einigen Punkten ganz verschiedene
Sichtweisen zwischen dem Antrag der Koalition und
dem der Linken vorherrschen.
In der Tat besteht Handlungsbedarf, wenn es um die
Kontrolle der privaten Sicherheitsunternehmen geht. Der
Skandal um die Firma Blackwater hat gezeigt, dass im-
mer häufiger Konflikte und militärische Operationen in
die Hände Privater gegeben werden, die sich offenbar
nicht an das humanitäre Völkerrecht halten wollen. Die
Mitarbeiter dieser Unternehmen sind rechtlich in einer
Grauzone; denn es handelt sich zwar nicht um echte
Kombattanten im Sinne des Völkerrechts, aber ihnen
den Status eines Zivilisten zuzusprechen, auf diese Idee
käme wohl auch kein Mensch. Die CDU/CSU und die
SPD sind sich sehr bewusst, dass es hier Handlungsbe-
darf gibt, um das Problem anzugehen. Was wollen wir?
Wir fordern, dass gerade die Unternehmen einer stren-
gen Kontrolle und Registrierung unterzogen werden, die
ihren Kunden Dienstleistungen anbieten, die den Einsatz
ausschließlich militärischer Fähigkeiten sowie von
Kriegswaffen einschließt. Allerdings gilt es hierbei, ge-
nau zu unterscheiden, welche Unternehmen man dieser
Kontrolle unterziehen möchte. Die Unternehmen, die
etwa nur logistische Dienstleistungen wie den Transport
von militärischen Gütern abwickeln, aber nicht in die
Konflikte selbst hineingezogen werden, sollten nicht für
die Skandale in Haftung genommen werden, die andere
verursacht haben.
Genau hierbei unterscheiden wir uns von dem Antrag
der Linken, der pauschal alle Sicherheitsunternehmen
über einen Kamm schert. Wie so oft bei solchen Themen
bleibt der Antrag unpräzise und verschwommen und
wirft Dinge zusammen, die so nicht zusammengehören.
CDU und CSU wollen, dass die privaten militärischen
Sicherheitsunternehmen auf nationaler Ebene registriert
und lizenziert werden und ihr Geschäftsgebaren kontrol-
liert wird. Wir halten es für wichtig, dass die Bundesre-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23731
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gierung über die Vertragsabschlüsse und die von den Un-
ternehmen angenommenen Aufgaben genau informiert
ist. Die Unternehmen, die militärische Dienstleistungen
anbieten, sollen sich einem strengen Regime unterzie-
hen, um zukünftig Menschenrechtsverletzungen durch
Mitarbeiter solcher Firmen bei Konflikten zu verhin-
dern. Dabei dürfen wir nicht die Firmen schädigen, die
zum Beispiel die Bundeswehr bei ihren wichtigen Aus-
landseinsätzen unterstützen und Transportkapazitäten
für unsere Soldaten zur Verfügung stellen. Wer hier se-
riöse Dienstleistungen erbringt, muss nicht damit rech-
nen, strafrechtlich belangt oder verboten zu werden. Nur
wenn die Kontrolle und Lizenzierung der militärischen
Sicherheitsunternehmen sichergestellt ist, ist auch ge-
währleistet, dass die Unternehmen in einem klaren recht-
lichen Rahmen agieren können; denn wir fordern auch
klare Haftungsbedingungen sowie Regelungen zur Ver-
folgung bei möglichen Straftaten. Damit wird deutlich:
Der bisherige rechtsfreie Raum muss ein Ende haben,
damit klare Grenzen für die Einsätze der Sicherheitsun-
ternehmen bestehen.
Das Thema hat jedoch nicht nur eine deutsche, son-
dern auch eine internationale Komponente. Wir bitten
die Bundesregierung, die Ratifizierung der Konvention
gegen das Söldnertum einzuleiten und einen entspre-
chenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wenn diese Kon-
vention endlich die notwendige Zustimmung erlangt, die
sie benötigt, um wirksam zu werden, dann ist auch die
Anwerbung von Söldnern wirksamer als bisher zu unter-
binden. Deutschland muss hier auch aktiv werden und
die Konvention unterstützen. Zwar beinhaltet das beste-
hende Völkerstrafgesetzbuch entsprechende Regelun-
gen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht un-
ter Strafe stellen, aber dennoch ist es uns wichtig, dass
das Söldnerwesen bekämpft wird. Die Konvention kann
dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Die oben be-
reits erwähnte begriffliche Unschärfe bei der Definition
von militärischen Sicherheitsunternehmen setzt sich lei-
der auch auf der Ebene der Vereinten Nationen fort.
Auch hier ist eine klare und unmissverständliche Be-
griffsbestimmung notwendig, um die Grenzen zwischen
Dienstleistern und Söldnerfirmen zu ziehen. Damit ein-
hergehen soll, wie auch auf nationaler Ebene, die Regis-
trierung der Unternehmen und eine Kontrolle der von
ihnen geschlossenen Verträge. Auch hier muss es Sank-
tionsmöglichkeiten und gesetzliche Regelungen geben,
die Verstöße gegen das geltende Völkerrecht unter Strafe
stellen. Internationale Einsätze dürfen nicht dazu miss-
braucht werden, Menschenrechtsverletzungen zuzulas-
sen und Konflikte anzuheizen. Die Bundesrepublik
sollte hier die Initiative ergreifen und Vorschläge zur
Klärung der rechtlichen Fragen und notwendigen Defini-
tionen erarbeiten. Eines möchte ich an dieser Stelle ganz
deutlich machen: Meine Fraktion lehnt das Söldnertum
und die häufig damit verbundenen Menschenrechtsver-
letzungen entschieden ab. Jedoch muss man sehen, dass
es auch weiterhin bewaffnete Konflikte in der Welt ge-
ben wird, die den Einsatz internationaler Streitkräfte zur
Friedenssicherung erfordern. Und diese Streitkräfte,
auch die deutsche Bundeswehr, werden, wenn es der
Einsatz erfordert, auch auf private Dienstleister zurück-
greifen müssen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Wir brau-
chen die Unterstützung von Unternehmen im Bereich
des Transports und der Logistik. Wir wollen aber keines-
falls eine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols,
sondern halten an dem bisher Bewährten fest. Dies erfor-
dert aber auch, dass wir auch zukünftig auf private Un-
ternehmen zurückgreifen können müssen, wenn es not-
wendig erscheint. Daher treten wir entschieden für eine
Bekämpfung des Söldnertums und für klare rechtliche
Rahmenbedingungen für militärische Sicherheitsunter-
nehmen ein.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem Antrag
der Linken sagen. Auch wenn die Verfasser teilweise
ähnliche Ziele wie wir verfolgen, so lehnen wir diesen
Antrag jedoch entschieden ab. Er ist erfüllt vom Geist des
Anti-Amerikanismus und der lange gehegten Feindschaft
gegenüber den Sicherheitsstrukturen der NATO. Es ist lei-
der wahr, dass es im Umfeld des Irakkriegs zu Menschen-
rechtsverletzungen durch militärische Sicherheitsunter-
nehmen gekommen ist. Diese sind jedoch nicht den
kollektiven Sicherheitsmechanismen der NATO anzulas-
ten, sondern sind eklatante Verstöße der Mitarbeiter sol-
cher Firmen. Wir verurteilen dies aufs Schärfste, sind
aber nicht bereit, Ihre pauschalen Vorwürfe gegenüber
der NATO hinzunehmen. Hier vermischen Sie in unzu-
lässiger Weise Ihre berechtigte Kritik an dem Vorgehen
solcher Söldnerfirmen mit dem Einsatz der NATO in be-
waffneten Konflikten. Auch sonst bleiben Ihre Forderun-
gen aufgrund der begrifflichen Unschärfe sehr vage. Ich
will dies an einem Beispiel verdeutlichen. So fordern Sie
zwar die Erfassung und Kontrolle aller Sicherheitsunter-
nehmen in Deutschland. In Ihrem nächsten Punkt wollen
Sie jedoch die Auftragsannahme und -erfüllung privater
militärischer Sicherheitsaufgaben deutschen Staatsbür-
gern und Unternehmen verbieten. Wie soll das zusam-
menpassen? Entweder Sie entscheiden sich dafür, dass
es solche Unternehmen gibt, und dann müssen sie sich
auch registrieren und kontrollieren lassen, oder Sie ver-
bieten sie ganz. Dann allerdings ist eine Registrierung
auch nicht mehr notwendig. Für mich ist dies ein erheb-
licher Widerspruch, den Ihr Antrag nicht lösen kann. Vor
diesem Hintergrund bitte ich Sie um die Stimmen für un-
seren Antrag, denn ich bin überzeugt, dass wir damit ei-
nen wichtigen Beitrag für die Bekämpfung des Söldner-
wesens leisten können. Kontrolle und Registrierung
scheinen mir sinnvoller als ein Verdrängen des Problems
in die unkontrollierbare Illegalität zu sein.
Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Es erfüllt mich mit
großer Freude und Genugtuung, dass dieser Initiativ-
antrag letztendlich doch noch den Weg ins Parlament ge-
funden hat. Allen, die daran mitgewirkt haben, allen, die
viele Stunden Arbeit in den verschiedensten Ausschüs-
sen, die damit befasst waren und befasst werden muss-
ten, in das Gelingen investiert haben, möchte ich meinen
besonderen Dank aussprechen.
Es war eine schwierige Materie, die es mit den priva-
ten Militär- und Sicherheitsfirmen, PMSF, zu behandeln
galt. Und das kann auch nicht anders sein, wenn man et-
was regeln muss, das die Grundlagen unseres Staates
und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens anbe-
trifft, nämlich wenn es – wie in diesem Fall – um unsere
23732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
Sicherheit und das staatliche Gewaltmonopol geht. Aber
gerade weil es eine solch fundamentale Materie ist, die
wir hier behandeln – und die ja jeden Bürger in unserem
Lande ganz grundsätzlich angeht und betrifft –, finde ich
es bedauerlich, dass wir diesen Antrag zu nachtschlafen-
der Stunde quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit
ohne weitere Aussprache und Debatte beschließen.
Als Abgeordneter des Europarats habe ich in jenem
Gremium einen Antrag eingebracht, der sich gegen die
Erodierung des staatlichen Gewaltmonopols durch pri-
vate Militär- und Sicherheitsfirmen wendet. Der Bericht,
den ich im Februar erstattet habe, wurde von allen
47 Mitgliedstaaten und von allen dort vertretenen Par-
teien – von rechts bis links – einstimmig angenommen.
Hierin werden die nationalen Regierungen und Parla-
mente unter anderem aufgefordert, entlang verschiede-
ner Kriterien den Bereich der PMSF gesetzlich zu re-
geln. Er fordert die Mitgliedstaaten aber auch dazu auf,
gemeinsame Prinzipien zur Verteidigung des staatlichen
– inneren wie äußeren – Gewaltmonopols zu erarbeiten.
Ich bin deshalb stolz darauf, dass Deutschland zu den
Ersten gehört, die den privaten militärischen Sicherheits-
unternehmen gesetzliche Zügel anlegen wollen. Den-
noch hätte ich mir gewünscht, dass wir bei der Ausarbei-
tung der Regelungen etwas mutiger gewesen wären. Die
Beteiligung privatwirtschaftlicher nichtstaatlicher – deut-
scher – Akteure an bewaffneten Konflikten haben wir
beispielsweise in diesem Initiativantrag nicht ausge-
schlossen. Und es ist auch fraglich, ob wir mit diesen
Regelungen eine weitgehende Kontrolle und Transpa-
renz der PMSF erzielen werden. Aber diese neun
Punkte, die wir die Bundesregierung auffordern, gesetz-
lich umzusetzen, sind ein erster Schritt – und, wie ich
meine, ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung.
Wahrscheinlich wären weitergehende Forderungen bei
den gegenwärtigen Interessenlagen nicht kompromiss-
und damit beschlussfähig gewesen. Aber gerade deshalb
möchte ich betonen, dass wir meiner Meinung nach nur
den ersten Schritt gemacht haben und weitere schnellst-
möglich folgen müssen. Einige wenige Punkte möchte
ich benennen, die uns noch zu beschäftigen haben und
für die wir als Parlamentarier und Gesetzgeber eine Lö-
sung finden müssen.
Es ist wenig glaubhaft, wenn wir einerseits mehr
Transparenz und Kontrolle von PMSF einfordern, ande-
rerseits aber Auslandseinsätze von privaten militärischen
Sicherheitsunternehmen, die im Auftrag der Bundesre-
publik Deutschland tätig werden, nicht an den Parla-
mentsvorbehalt binden. Die Praxis in den USA unter der
Präsidentschaft von Georg W. Bush hat beispielsweise
im Hinblick auf den Einsatz von PMSF im Irak deutlich
gemacht, dass deren Aktivitäten vom Parlament nicht zu
kontrollieren waren.
Wir können auch nicht einfach zusehen, wenn deut-
sche Unternehmen, NGOs, humanitäre Organisationen
etc. für ihre Tätigkeiten im Ausland PMSF engagieren.
Es wäre an eine Anzeigepflicht beim Außenministerium
und BND einerseits sowie bei den jeweils betroffenen
deutschen Botschaften andererseits zu denken. Unge-
klärt ist außerdem, welche Aufgaben und Kompetenzen
private militärische Sicherheitsunternehmen überhaupt
übernehmen und anbieten dürfen. Schon jetzt reichen
deren Dienstleistungsangebote weit in den Bereich staat-
licher Hoheitsaufgaben hinein. Es ist daher erforderlich,
einerseits eine Definition der Bereiche im Sicherheits-
sektor vorzunehmen, die keinesfalls aus staatlicher Ho-
heit entlassen werden dürfen, und andererseits ist eine
Festlegung von klar abgegrenzten Aufgaben- bzw. Kom-
petenzbereichen für PMSF vonnöten. Des Weiteren müs-
sen für diese Unternehmen Zulassungs- und Tätigkeits-
kriterien erarbeitet werden.
Auf internationaler Ebene – um nur einen Punkt zu
nennen – können wir es nicht allein den Vereinten Natio-
nen überlassen – oder den VN allein die Verantwortung
zuschieben –, für Transparenz und Kontrolle der PMSF
zu sorgen. Auch auf bilateraler bzw. zwischenstaatlicher
oder auf EU- und NATO-Ebene müssen Abkommen zur
Kontrolle von PMSF geschlossen, müssen Aufsichtsme-
chanismen und Kooperationsforen für diesen Bereich
geschaffen werden. Lassen Sie mich zum Schluss die
Hoffnung aussprechen, dass dieser Initiativantrag trotz
der vorhandenen Lücken, die er aufweist und die wir
bald schließen müssen, Zustimmung und eine breite
Mehrheit in diesem Haus findet.
Jörg van Essen (FDP): Erlauben Sie mir, an dieser
Stelle zunächst den Blick zurückzuwerfen! Auf Verlan-
gen meiner Fraktion haben wir hier am 11. April 2008 in
einer Aktuellen Stunde die Haltung der Bundesregierung
zur Tätigkeit deutscher Sicherheitskräfte in Libyen dis-
kutiert. Unabhängig wie man die damaligen Vorgänge
bewertet, so hatte ich doch schon damals den Eindruck,
dass es in allen Fraktionen gewichtige Stimmen gab, die
in Anbetracht der gegenwärtigen Rechtslage Unbehagen
empfanden und empfinden. Für meine Fraktion möchte
ich auch vorwegschicken: Ich bin sehr froh, dass wir
keine militärischen Sicherheitsunternehmen in Deutsch-
land haben. Das Gewaltmonopol des Staates bei militäri-
schen Aufgaben ist für mich unverrückbar. Unser
Grundgesetz gibt uns hier klare Vorgaben. Danach hat
der Bund die Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen.
Es handelt sich grundsätzlich also um eine staatliche
Aufgabe. Das ist auch richtig so. Man braucht sich nur
vorzustellen, was Waffen in falschen Händen anrichten
können! Piraterie ist hier nur ein Beispiel von vielen.
Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
macht deshalb auch vollkommen zu Recht klar, dass die
Privatisierung militärischer Funktionen langfristig zu ei-
nem fundamentalen Wandel im Verhältnis zwischen
Militär und Nationalstaat führen und das Gewaltmono-
pol des Staates infrage gestellt werden könnte. Diese
Sorge teilt meine Fraktion uneingeschränkt. Ich komme
auch deswegen gerne auf die Debatte im Jahr 2008 zu
sprechen, da der CDU-Kollege Holger Haibach damals
eine Begebenheit aus der rot-grünen Regierungszeit in
Erinnerung gerufen hat, mit der ich ihn hier gerne noch-
mals zitieren möchte:
Ganz interessant ist auch die Antwort der damali-
gen rot-grünen Bundesregierung auf eine Anfrage
der FDP-Fraktion zu diesem Thema. Da heißt es,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23733
(A) (C)
(B) (D)
dass die Registrierung einen erheblichen Eingriff in
die unternehmerische Freiheit bedeuten würde,
ohne dass die Aussicht besteht, dadurch ungewollte
Aktivitäten privater Sicherheitsunternehmen in
Drittstaaten zu erschweren oder zu unterbinden.
Das ist schon interessant: Die FDP, die Partei der
freien und sozialen Marktwirtschaft, fordert eine
Registrierung, und Rot-Grün hat sie abgelehnt. Das
ist ein interessanter Nebenaspekt in dieser Angele-
genheit.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich auch in dieser
Legislaturperiode schon frühzeitig ganz intensiv mit
dem Thema Privatisierung von Sicherheit befasst. Zwar
ist Deutschland im internationalen Vergleich ein Land,
das sich bei der Auslagerung – was ich auch richtig finde –
am meisten zurückhält. Gleichzeitig habe ich große
Sympathien für Forderungen nach einer Regulierung,
wo und wieweit Sicherheitsdienstleister zum Einsatz
kommen können. Es kann nicht sein, dass wir detaillierte
Regeln zum Feinstaub erlassen, aber in dieser Frage
schweigen! Umso enttäuschter war ich, als die Bundes-
regierung mir im Herbst auf meine schriftliche Frage
nach einem entsprechenden Gesetz zur besseren Kon-
trolle nichtstaatlicher Sicherheitsunternehmen beschied,
dass eine Prüfung ergeben habe, dass vor dem Hinter-
grund der bereits existierenden Vorschriften im Außen-
wirtschafts- und Beamtenrecht zusätzliche Regelungen
nicht nötig seien. Umso mehr freue ich mich heute, dass
der Antrag der Koalitionsfraktionen, den wir heute bera-
ten, durchaus den Bedarf an rechtlichen Leitplanken
sieht. Auch die FDP-Bundestagsfraktion sieht hier Re-
gulierungsbedarf. Ich weiß, dass dieser Antrag nur einen
ersten Schritt darstellt und auch nur einen Minimalkon-
sens widerspiegeln kann. Gleichzeitig ist es wichtig,
dass sich das Parlament dieses Themas endlich ange-
nommen hat. Gerade weil wir das Selbstverständnis ei-
ner Parlamentsarmee haben, kann es nicht sein, dass wir
uns an dieser Stelle im privaten Bereich wegducken.
Dabei finde ich es richtig, dass der Antrag zwischen
nationalen und internationalen Handlungsaufträgen dif-
ferenziert und einen eindeutigen Fokus auf den Umgang
mit privaten militärischen Sicherheitsunternehmen legt.
Die Bundesregierung wird gut beraten sein, wenn auch
sie bei ihren Überlegungen zwischen privaten Sicher-
heitsdienstleistern auf der einen Seite und privaten Mili-
tärdienstleistern auf der anderen Seite genau unterschei-
det, wobei mir durchaus bewusst ist, dass dies nicht
immer einfach ist. Eine Private Military Company kennt
einen Feind, den sie bekämpfen will, während eine Pri-
vate Security Company diesen in dem Sinne nicht kennt.
Ich habe übrigens auch aus einer Anhörung der FDP das
große Bedürfnis nach klaren gesetzlichen Leitplanken
aus der Sicherheitsbranche im weitesten Sinne selbst
mitgenommen. Sie selbst sind es zuallererst, die klare
Richtlinien benötigen, die aufzeigen, was aus unserer
Sicht zulässig ist und was nicht. Ein Teilnehmer unserer
Anhörung sagte – wenn ich mich recht erinnere – sinn-
gemäß, dass in Deutschland der Milchmarkt und das
Fleischerhandwerk besser reguliert sind als der Markt
privater Sicherheitsdienstleister. Dieser Zustand ist nicht
haltbar! Ich möchte an dieser Stelle noch kurz auf eine
Ausführung aus dem Bericht des Auswärtigen Aus-
schusses zu sprechen kommen: Auch mir ist es wichtig,
an dieser Stelle nochmals klarzumachen, dass militäri-
sche Aufgaben im Auftrag der Bundesregierung im Aus-
land im Sinne des staatlichen Gewaltmonopols nur von
der Bundeswehr wahrgenommen werden können. Es ist
gut, dass dies hier unstrittig ist.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Der Erosion des
staatlichen Gewaltmonopols durch die Privatisierung
von militärischen Dienstleistungen muss entgegenge-
wirkt werden. Darin scheinen sich alle einig. In der Tat:
Die Privatisierung des Krieges bzw. der militärischen
Gewalt ist inzwischen ein Riesenproblem. Vor allem im
Irak und in Afghanistan ist ein gewaltiges Heer von so-
genannten Sicherheitsdienstleistern unterwegs – Men-
schen also, die ihren Sold von sogenannten Private Mili-
tary Companies beziehen. Im Irak tummelten sich
zeitweise genauso viele Privatiers im Auftrag der USA
wie Soldaten: 160 000! In Afghanistan geht man von
30 000 Sicherheitsdienstleistern aus. Und es geht nicht
in erster Linie um die Bereitstellung von Toiletten oder
anderen logistischen Leistungen: Es geht um bewaffne-
ten Schutz, die Ausbildung von Milizen und Soldaten,
um das Verhör von Gefangenen, um Aufklärung und
auch um Unterstützung für Kampfeinsätze. Die Linke
will diese Entwicklung nicht als gegeben hinnehmen.
Und das ist die entscheidende Differenz zwischen uns
und der Regierungskoalition.
In ihrem Antrag heißt es, – ich zitiere wörtlich – „ein
striktes Verbot von privaten militärischen Sicherheitsun-
ternehmen ist nicht durchsetzbar“. Nachdem man diese
Entwicklung nunmehr bald zwanzig Jahre tatenlos hin-
genommen hat, ist es in der Tat schwierig, den Geist
wieder in die Flasche zu bekommen. Aber es reicht ein-
fach nicht, diese Privatisierung des Militärischen nur et-
was regeln, etwas besser kontrollieren zu wollen. Nie-
mand hier hat etwas dagegen, dass sich diese
nichtstaatlichen Sicherheitsunternehmen registriert las-
sen müssen, dass sie eine Lizenz brauchen, dass sie sich
einem Verhaltenskodex unterwerfen und dass sie für Ge-
setzesverstöße haftbar gemacht werden können. Aber
das genügt eben nicht. Wir, die Linke, halten diesen An-
satz für grundfalsch. Weil es um demokratische Kon-
trolle, um rechtlich verbindliche Grundlagen und um
klare Haftungsregeln geht, sagen wir: Sicherheit ist ein
öffentliches Gut, auch weil es hier – wir reden von
Kriegs- und Krisensituationen – immer auch um den
Schutz von Menschenleben, den Schutz körperlicher In-
tegrität geht.
Daher muss dem allgemeinen Trend zur Privatisie-
rung der Gewalt endlich etwas entgegengesetzt werden.
Aber bleiben wir realistisch: Es wird auf absehbare Zeit
nicht gelingen, private Sicherheitsunternehmen in
Deutschland per se zu verbieten, auch weil der Staat, der
sich selber arm gemacht hat, seinen Verpflichtungen zur
öffentlichen Daseinssicherung nur noch ungenügend
nachkommt. Aber die Aufgabe bleibt, dass dieser Trend
zur Privatisierung umgekehrt werden muss. Vor allem
geht es uns darum, besonders restriktive Regelungen für
die Bundesrepublik Deutschland festzuschreiben – weil
23734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
wir hier diese Dinge noch regulieren können! Im Klar-
text: Wir wollen, dass hierzulande keine Sicherheitsun-
ternehmen zugelassen werden, die eng mit dem harten
Kern des Militärischen verbandelt sind. Noch gibt es
hier keine Dyncorps und Blackwaters, noch plant die
Bundeswehr – zumindest offiziell – keine Auslandsein-
sätze gemeinsam mit privaten Anbietern. Noch kann
man aus den Erfahrungen anderer Staaten wie den USA
und Südafrika lernen und deren Fehler vermeiden. Noch
ist es möglich, die rechtlichen Grundlagen für ein umfas-
sendes Verbot für die Erbringung von militärischen
Dienstleistungen durch Unternehmen im Ausland zu
schaffen.
Hier aber wird zu später Stunde und quasi unter Aus-
schluss der Öffentlichkeit abschließend über die Legali-
sierung eines neuen Kriegsinstruments entschieden. Das
ist eigentlich völlig inakzeptabel. Wir stehen in Deutsch-
land heute an einem Scheideweg. Machen wir die Tür
auf, oder lassen wir sie zu? Leider muss es gesagt wer-
den: Ihr Antrag macht eine Tür auf, die geschlossen blei-
ben muss. Dass Sie vor der Aufgabe kapitulieren, der
Privatisierung militärischer Gewalt eine klare Absage zu
erteilen, hat auch damit zu tun, dass Sie leider wieder
einmal Opfer Ihrer Unterwerfung unter die neoliberale
Logik werden.
Wenn letztlich alles der Logik und den Prinzipien des
Marktes untergeordnet werden kann, warum nicht der
Sicherheitssektor? Und dass es sich um einen lukrativen
Markt handelt, ist nicht zu übersehen. Inzwischen gibt es
auch hier in Deutschland mehrere Tausend Sicherheits-
firmen mit milliardenschweren Umsätzen. Diese Unter-
nehmen schielen zunehmend auch auf den lukrativen in-
ternationalen Markt. Der weltweite Umsatz wird
immerhin auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Es ist eine gefährliche Illusion, wenn Sie in Ihrem
Antrag suggerieren, dass unter Kriegs- und Konfliktbe-
dingungen private Sicherheitsakteure hinreichend kon-
trolliert werden könnten. Schon die parlamentarische
Kontrolle von Streitkräften ist häufig schwierig. Wie soll
dies bei Firmen gelingen, die sich – ähnlich wie die Rüs-
tungsindustrie – auf den Schutz ihrer Geschäftsinteres-
sen berufen? Personal wird auf Zeit angeheuert, Auf-
träge werden über Subunternehmer abgewickelt. Läuft
etwas schief, kann einfach der Firmensitz verlegt wer-
den. Konkurs wird angemeldet, oder man ändert einfach
den Namen, wie zum Beispiel jüngst Blackwater – die
sich nun Xe nennen. Hier von Haftungsmöglichkeiten
durch die Opfer zu reden, grenzt an Zynismus.
Auch andere Punkte sprechen gegen Ihren minimalis-
tischen Ansatz: Die Grenzen zwischen Söldnern, militä-
rischen Dienstleistern und Sicherheitsdienstleistern sind
fließend. Zum Schutz von Transporten oder Objekten
angeheuerte Privatfirmen kommen nahezu unweigerlich
in die Lage, auch schießen zu müssen. Weiter: Diese Si-
cherheitsunternehmen sind in der Regel transnationalen
„Gemischtwarenläden“ zugehörig. Enge Verflechtungen
zu Rüstungsunternehmen und Rohstoffkonzernen sorgen
dafür, dass beim Einsatz auch noch andere Eigeninteres-
sen den Grad der Auftragserfüllung bestimmen. Wie
groß ist deren Interesse an einer schnellen Beendigung
des Konflikts wirklich? Die Inanspruchnahme von Si-
cherheitsunternehmen in gewaltträchtigen Konfliktla-
gen bedeutet daher nichts anderes, als den Bock zum
Gärtner zu machen. Und genau dies will die Linke nicht.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zögern, zaudern und interne Kontroversen, das hat Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bei
den bisherigen Beratungen zum Antrag zu nichtstaatli-
chen militärischen Sicherheitsunternehmen umgetrie-
ben. Manchmal ist Zögern ja ganz gut und fruchtbar,
dasselbe gilt für Kontroversen. Im vor uns liegenden Fall
ist das leider nicht der Fall.
Zugegeben, an einer Stelle ist der Antrag zuletzt tat-
sächlich besser geworden, und zwar dort, wo Sie einge-
sehen haben, dass eine Sache nicht sein kann: nämlich
dass wir als Parlament künftig statt der Bundeswehr
auch private Sicherheitsunternehmen in Auslandsein-
sätze schicken. Der Groschen ist bei Ihnen noch recht-
zeitig gefallen. Immerhin!
Doch das ändert nichts daran, dass der Antrag weiter-
hin an zwei entscheidenden Stellen zu schwach, ungenau
und damit gefährlich zahnlos ist. Erstens: Sie bieten wei-
terhin keine Antwort darauf, wie sichergestellt werden
kann, dass das Gewaltmonopol des Staates unbedingt
eingehalten und gesichert wird. Und zweitens: Sie leis-
ten keinen Beitrag dazu, die komplexe Frage nach der
rechtlichen Stellung privater Sicherheitsunternehmen zu
klären.
Militärische Aufgaben sind und bleiben Aufgaben des
Staates. Was Sie hier als Antrag präsentieren, der die
Aushöhlung dieses Prinzips unterbinden soll, ist so ne-
bulös, dass er maximal ein Feigenblatt ist. Und dahinter
können private Sicherheitsunternehmen weiterhin un-
kontrolliert ihren Geschäften nachgehen!
Da ist sogar der Antrag der Linksfraktion konsequen-
ter; denn er sieht wenigstens dem Problem ins Auge.
Doch es wird der Sache nicht gerecht, dass Sie, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sich auch
bei einem so heiklen Thema nicht zu schade sind, Ihr
Mantra vom Ende der Auslandseinsätze der Bundeswehr
abzuspielen. Was wollen Sie eigentlich? Das Problem der
unkontrollierten privaten Sicherheitsfirmen lösen oder
uns weiter Ihre außenpolitische Verantwortungslosigkeit
vorführen?
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Zahl der
privaten Sicherheitsunternehmen auffällig zugenommen.
Sie sind international aktiv, in Konfliktgebieten, in de-
nen vor allem eines herrscht: Unübersichtlichkeit. Viele
Staaten ziehen sich immer weiter zurück und schaffen so
überhaupt erst das Operationsgebiet für private Sicher-
heitsunternehmen – land- wie seeseitig. Das ist der fal-
sche Weg! Wenn der Staat seine Aufgaben ernst nimmt
und erfüllt, dann löst sich die äußerst heikle Frage des
Einsatzes privater Sicherheitsunternehmen von selbst.
So wird ein Schuh daraus!
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mir geht es
nicht darum, private Sicherheitsunternehmen zu verbie-
ten. Das Beispiel Südafrika zeigt, dass dieser Schritt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23735
(A) (C)
(B) (D)
keine Lösung darstellt. Uns geht es darum, dass der Staat
seine Aufgaben erfüllt, das Gewaltmonopol nicht ausge-
höhlt wird und dass klargestellt wird, was private Sicher-
heitsunternehmen dürfen und was nicht, und vor allem,
wie sie effektiv kontrolliert werden.
Auch vor dieser Frage – der Kontrolle privater Sicher-
heitsunternehmen – ziehen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, den Kopf ein. „Selbstregu-
lierung“ ist Ihr Vorschlag: freiwillige Verhaltenskodizes.
Meine Fraktion hat in dieser Woche eine interne Anhö-
rung zu diesem Thema durchgeführt, bei der der Ge-
schäftsführer einer privaten Sicherheitsfirma anwesend
war. Seine Firma ist selbst im Irak aktiv. Ich habe ihn auf
Ihr Wundermittel „Selbstregulierung“ angesprochen.
Seine Reaktion war klar: Das ist doch alles nur – Zitat –
„blah, blah“; daran halte sich sowieso niemand. – Sie
präsentieren uns hier einen Feigenblatt-Antrag, wir wol-
len Klarheit und verbindliche Regeln. Anders geht es
nicht!
Ein Beispiel dazu: Mir hat bis heute noch niemand er-
klären können, warum wir im Außenwirtschaftsgesetz
den Export von Waffen regeln, aber nicht den Export
von Menschen, die diese benutzen. Wir sind der Ansicht,
dass auch Dienstleistungen im Außenwirtschaftsgesetz
reguliert werden müssen! Natürlich sind solche klaren
Regelungen auf nationaler Ebene nur der Anfang. Wo
wir hinkommen müssen, das sind internationale Regeln
und Mechanismen zu Lizenzierung, Kontrolle und Sank-
tionierung! Der Antrag der Koalition ist kein hilfreicher
Schritt auf diesem Weg. Daher werden wir ihn ablehnen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der
abfallrechtlichen Produktverantwortung für
Batterien und Akkumulatoren
– Beschlussempfehlung und Bericht: Schad-
stoffbelastung durch Batterien begrenzen
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Michael Brand (CDU/CSU): Der heute zu beratende
Gesetzentwurf zu einem Batteriegesetz ist vor allem er-
forderlich, um die entsprechende EU-Richtlinie umzu-
setzen. Dass wir dabei noch immer auf entsprechende
Ausführungsbestimmungen der EU-Kommission war-
ten, ist bedauerlich und erfordert die Einfügung von Ver-
ordnungsermächtigungen für die Bundesregierung. Dass
wir bei der Ausformulierung der dann zu erlassenden
Bestimmungen darauf setzen, dass das Bundesumwelt-
ministerium dies im Geiste der Beratungen dieses Batte-
riegesetzes tut, will ich ausdrücklich zu Beginn meiner
Rede betonen.
Dass wir die Gelegenheit dazu nutzen, um weitere
Verbesserungen an der Sammlung und auch dem Inver-
kehrbringen von Batterien und Akkus sowie eine zeitge-
mäße Erhöhung des Umwelt- und Verbraucherschutzes
zu bewirken, ist ein gutes Beispiel für eine besonnene
Umsetzung von Richtlinien der EU, an deren Zustande-
kommen auf europäischer Ebene wir als Mitgliedstaat
im Jahre 2006 schon intensiv beteiligt waren.
Folglich will ich vorab für die CDU/CSU ausdrück-
lich hervorheben, dass wir im Batteriegesetz nicht nur
das wichtige Recycling von gebrauchten Altbatterien
und -akkus regeln und modernisieren. Wir setzen auch
klare Eckpunkte in der Information beim Verbraucher-
schutz: Durch die erweiterte Kennzeichnungspflicht
wird in Zukunft auf jeder Batterie die Kapazität abzule-
sen sein, was bei der doch sehr unterschiedlichen Leis-
tungsfähigkeit der in unserem Alltag immer wichtiger
werdenden Batterien einen sehr wichtigen Beitrag gegen
Billigbatterien von schlechterer Qualität leisten kann.
Allerdings ist aus umweltpolitischer Sicht der starke Zu-
wachs des Gebrauchs von wiederaufladbaren Akkus sehr
zu begrüßen; zudem ist dort die Angabe der Leistungsfä-
higkeit schon lange Standard.
Wir können uns in Deutschland auch im Bereich des
Batterie-Recyclings durchaus als Vorreiter in Europa be-
trachten. Die bereits seit zehn Jahren durch die nun ab-
zulösende Batterieverordnung etablierten Rücknahme-
systeme in Deutschland haben dazu geführt, dass wir
bereits heute die im Batteriegesetz vorgesehene Rück-
nahmequote von 35 Prozent ab dem Jahr 2012 mit
41 Prozent erfüllen und ohne Frage auch die ab dem Jahr
2016 geltende Quote von 45 Prozent sicher ebenfalls er-
reichen bzw. überschreiten werden. Es ist möglich, dass
wir mit dem zentralen Register eventuell rechnerisch die
Basis der in Verkehr gebrachten Batterien vergrößern,
weil wir dann auch diejenigen Hersteller und Inverkehr-
bringer erfassen, die sich bislang an den Rücknahmesys-
temen vorbeimogeln. Wenn das kurzfristig zu einem
langsameren Anstieg der Quote führen sollte, ist dies si-
cherlich durch entsprechende Maßnahmen kompensier-
bar. Ohnehin wird es – wie später auszuführen ist – eine
sorgfältige weitere Beobachtung der Auswirkungen ein-
zelner Teile des Batteriegesetzes geben.
Natürlich begrüßen wir als CDU/CSU auch die künf-
tige weitere Beschränkung der Verwendung von Gift-
stoffen wie vor allem Cadmium. Wir haben einen hohen
Stand an Schutz für Verbraucher und Umwelt erreicht,
und wir bauen diesen mit diesem Gesetz weiter aus. In
diesem Zusammenhang ist auch zu sagen, dass die weit
überdehnten Anträge von Bündnis 90/Die Grünen übers
Ziel hinausschießen und deshalb abgelehnt werden müs-
sen.
Durch das in Deutschland seit zehn Jahren erfolgrei-
che System werden weit höhere Rücknahmequoten als
die in der Vorgabe der Batterierichtlinie genannten er-
reicht. Dieses erfolgreiche System ist im Zusammenspiel
zwischen Hersteller und Handel auf der einen und quali-
fizierten mittelständischen Entsorgern und Kommunen
auf der anderen Seite eingerichtet und erfolgreich umge-
setzt worden.
In diesem Zusammenhang soll und muss hier aus-
drücklich die stabilisierende und den Wettbewerb stär-
kende Rolle der mehr als 400 mittelständischen Sammler
herausgehoben werden. Umso kritischer muss daher
23736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
(A) (C)
(B) (D)
auch hier zum BMU-Entwurf angemerkt werden, dass
diese zum Teil diskriminiert werden, indem die gewerb-
lichen Sammler – sie sind doch besser als andere im
Umgang mit dem Sondermüll Altbatterie qualifiziert –
aus eben dieser gewachsenen Struktur nun herausge-
drängt werden können, wenn die nun ermöglichte Ge-
staltung der Verträge zwischen Herstellern und Handel
den Herstellern quasi einen Monopolzugriff auf den
wichtigen Stoffstrom der Altbatterien durch die Hinter-
tür ermöglicht. Dieses Aussperren des Mittelstandes
durch den Gesetzentwurf des BMU ist und bleibt ein
Makel. Wir bedauern als CDU/CSU, dass es in den Ge-
sprächen mit der SPD-Fraktion nicht mehr gelungen ist,
die erfolgreiche Praxis aus den letzten zehn Jahren abzu-
sichern und die Aussperrung des Mittelstandes aus dem
Sammlungs- und Verwertungsprozess zurückzuweisen.
Und nun werden ja alle möglichen Einwände vorge-
tragen, um dieses eher ideologisch motivierte Heraus-
drängen qualifizierter privater mittelständischer Samm-
ler zu begründen. Dazu ist klar festzustellen: Im
Gegensatz zu erkennbar übertriebenen Formulierungen
wird auch künftig niemand in Deutschland das Problem
haben, auf Gehwegen über alte Autobatterien zu stolpern –
wie dies teils vorgetragen wurde, um ein Argument zu
finden, private Mittelständler herauszudrängen. Die Er-
fahrung der vergangenen Jahre zeigt im Gegenteil: Die-
ses ungeeignete Argument ist nur ein Vorwand, um fach-
lich qualifizierte mittelständische Entsorger bewusst von
der Sammlung auszuschließen, weil man in Teilen der
SPD die totale Kommunalisierung der Abfallentsorgung
anstrebt – und damit die großen Fortschritte der unter
den Umweltministern Töpfer und Merkel entwickelten
und durchgesetzten Kreislaufwirtschaft als Wirkung aus
hohen Umweltstandards und Umsetzung im Wettbewerb
der besten Lösungen gefährdet.
Die CDU/CSU hat immer wieder – bis hin zur EU-
Ebene – das Prinzip der Subsidiarität und der Daseins-
vorsorge vertreten und dies mit Erfolg getan. Bei allem
Eintreten für die Verantwortung und die Rechte der
Kommunen in der Daseinsvorsorge und der Abfallwirt-
schaft wenden wir uns allerdings entschieden gegen eine
von manchen in der SPD offenbar angesteuerte totale
Dominanz der Kommunen in der Abfallwirtschaft und
die damit verbundene Schwächung des regionalen Mit-
telstandes. Wir wollen in der Recyclingwirtschaft keinen
Kampf der Konzerne gegen die Kommunen um jede
Tonne an der Ecke. Aber wir wollen auch keine Aus-
grenzung des Mittelstandes durch die Kommunen – wir
brauchen vielmehr eine faire Partnerschaft statt künstli-
cher Gegnerschaft. Diese Haltung findet sich in der
Mehrzahl der Kommunen in Deutschland, deren Sicht
nicht von den Partikularinteressen der kommunalen Un-
ternehmen und der dort zahlreich vertretenen Vertreter
aus der Politik beeinträchtigt wird. Vor allem die Land-
kreise ohne eigene Abfallwirtschaft werden an einer
Partnerschaft mit mittelständischen Partnern interessiert
sein.
Insofern erwarten wir als CDU/CSU durchaus bereits
früh in der nächsten Wahlperiode einen Korrekturbedarf
am heute auf den Weg gebrachten Gesetz. Sofern wir
Fehlentwicklungen im Bereich Mittelstand oder auch
Missbrauch von Marktpositionen bei Handel oder Her-
stellern identifizieren, müssen wir nachbessern. Dies gilt
im Übrigen auch für den Fall, dass die von uns durchaus
gewünschte Rolle der Kommunen in einer zu starken
Form überdehnt würde. Gerade in den letzten Wochen
haben wir hier das eine oder andere Signal erhalten, dass
auch bei der Trägerschaft für die Kosten des Batterie-
Recyclings die einen bestellen wollen, um dann anderen
einfach die Rechnung zu schicken. Verantwortung in der
Daseinsvorsorge bedeutet sicher auch, die aktive Teil-
nahme an einem bislang erfolgreichen Sammelsystem
nicht völlig zurückzufahren und einen fairen Ausgleich
der Lasten zu suchen. Dass es dabei primär auf die Pro-
duzenten ankommt, ist wohl eindeutig. Dies darf aber
weder den Handel zu überzogenen Forderungen führen,
noch sollten sich die Kommunen als wesentlicher Teil
der Sammlung allzu stark zurückziehen.
Zu der von den Grünen wieder einmal vorgeschlage-
nen Überregulierung ist zu sagen: Vorschläge wie die to-
tale Ausdehnung der Pfandpflicht auf alle Batterien oder
radikale Quoten trotz aller Übererfüllung der bisherigen
Quoten können nicht akzeptiert werden. Wer die deut-
sche Vorreiterrolle in der EU weiter innehaben will, darf
uns nicht mit Überregulierung ins Straucheln bringen.
Wir brauchen Augenmaß statt blindem Aktionismus.
Heute allerdings geht es zunächst um eine zügige
Umsetzung der EU-Richtlinie. Wir bitten als CDU/CSU
um Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Gerd Bollmann (SPD): Zum zweiten Mal befassen
wir uns heute im Plenum mit dem Batteriegesetz. Mit
diesem Gesetz setzen wir die entsprechenden europäi-
schen Richtlinien vom 6. September 2006 um.
Mit dem vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwor-
tung für Batterien und Akkumulatoren“ verbessern wir
Sammlung und stoffliche Verwertung ebenso wie die
ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Zusätzlich
erhöhen wir den Gesundheitsschutz durch niedrigere
Grenzwerte für den Einsatz von Schadstoffen.
Gestern haben wir im Umweltausschuss dieses Batte-
riegesetz abschließend beraten. Dabei haben wir diejeni-
gen Änderungswünsche des Bundesrates übernommen,
denen auch die Bundesregierung zustimmt. Dies begrüßt
die SPD ausdrücklich. Bevor ich auf Einzelheiten und
konkrete Änderungswünsche eingehe, will ich noch ein-
mal die Kernpunkte des Gesetzentwurfes ansprechen.
Aufgrund der geltenden Batterieverordnung gibt es
bereits ein gut funktionierendes gemeinsames Rücknah-
mesystem der Industrie. Darüber hinaus unterhalten
auch viele Kommunen freiwillig eingerichtete Rücknah-
mestellen. Bundesweit kommen wir damit auf über
170 000 Sammelstellen. Unsere Bürger haben somit
zahlreiche Möglichkeiten, gebrauchte Batterien zurück-
zugeben.
Mit dem neuen Batteriegesetz wird sich daran nichts
Grundlegendes ändern. Auch nach dem neuen Gesetz
müssen die Vertreiber, sprich der Handel, deutlich sicht-
bare Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen einrichten.
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Das Gesetz verpflichtet die Hersteller, Altbatterien von
den Sammelstellen abzuholen und weitgehend stofflich
zu verwerten. Wie bisher können die Hersteller diese
Aufgabe über das bereits bestehende Rücknahmesystem
der Industrie bewerkstelligen. Auch herstellerindividu-
elle Rücknahmesysteme, quasi Selbstentsorger, sind zur
Durchführung zugelassen, bedürfen aber einer Genehmi-
gung. Diese Genehmigungen sind meiner Ansicht nach
unbedingt notwendig. Ohne ein Genehmigungsverfahren
würden, wie bei der Verpackungsverordnung, Probleme
entstehen. Die Gefahr, dass Trittbrettfahrer den Vollzug
des Gesetzes unterlaufen, wäre sehr groß.
Für die Kommunen wird die Sammlung von Altbatte-
rien zukünftig freiwillig sein. Im Gegensatz zur bisheri-
gen Regelung sind sie nicht verpflichtet, Sammelstellen
einzurichten. Ich gehe davon aus, dass die Kommunen
auch weiterhin Altbatterien sammeln werden. Die Bür-
ger haben sich an diese Rücknahmemöglichkeiten ge-
wöhnt. Zugunsten der Bürger appelliere ich daher an die
Kommunen, die Rücknahmesysteme beizubehalten.
Wichtig für uns Sozialdemokraten ist hierbei aber die
Freiwilligkeit.
Das Batteriegesetz legt eindeutig fest, dass die Her-
steller und Vertreiber für die umweltgerechte stoffliche
Entsorgung und Sammlung zuständig sind. Damit wird
die ungeteilte Produktverantwortung in diesem Bereich
der Abfallwirtschaft durchgesetzt. Dies begrüße ich aus-
drücklich. Damit ist ein sozialdemokratisches Ziel in der
Abfallpolitik zumindest in einem Teilbereich durchge-
setzt worden. Positiv hervorzuheben sind die Einschrän-
kung des Einsatzes gefährlicher Stoffe und die Festle-
gung verbindlicher Sammelziele für Altbatterien.
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist nach Ansicht
der Sozialdemokraten grundsätzlich positiv zu bewerten.
Neben den genannten einzelnen Punkten ist besonders
hervorzuheben, dass sich für die Bürger nichts Grundle-
gendes ändert. Sie können wie gewohnt die Altbatterien
beim Handel oder bei kommunalen Rückgabestellen ab-
geben.
Aus der Wirtschaft, von anderen Parteien und von den
Bundesländern gibt es weitgehende Änderungswün-
sche. So fordert der ZVEI eine Sammelpflicht der Kom-
munen. Ich habe bereist dargelegt, dass die SPD aus
grundlegender Überzeugung dagegen ist. Wir sind für
die ungeteilte Produktverantwortung. Wer ein Produkt in
den Markt bringt, muss auch die umweltgerechte Entsor-
gung sicherstellen. Darüber hinaus gibt es weitere sach-
liche Gründe, einen Sammelzwang der Kommunen ab-
zulehnen.
In dem Entwurf zum Batteriegesetz stehen sich öf-
fentlich-rechtliche Entsorger und Hersteller gleichrangig
gegenüber. Die öffentlich-rechtlichen Entsorger müssen
nicht sammeln, und die Hersteller müssen nicht für die
Sammlung der öffentlich-rechtlichen Entsorger bezah-
len. Grundsätzlich sind beide Seiten dazu bereit, umstrit-
ten ist nur die Höhe der Zahlungen.
Wenn wir die Kommunen zum Sammeln zwingen
würden, müssten wir auch Regelungen für die Höhe des
Deckungsbeitrages festlegen. Im Hinblick auf die
schwankenden Rohstoffpreise und das Marktgeschehen
sind privatwirtschaftliche Regelungen sinnvoller. Gefor-
dert wird auch, dass gewerbliche Abfallentsorger Fahr-
zeugaltbatterien bei privaten Endnutzern sammeln bzw.
abholen dürfen. Mit anderen Worten: Eine solche Ände-
rung hätte zur Folge, dass gefährliche Abfälle direkt bei
privaten Haushalten gesammelt werden. Ich frage mich:
Wie soll die Sammlung durchgeführt werden? Sollen die
Bürger Fahrzeugaltbatterien auf die Straße stellen oder
in Behältern vor die Haustür? Ohne Aufsicht, sodass
zum Beispiel Kinder an diese gefährlichen Abfälle kom-
men? – Absolut unmöglich, finde ich. Oder klingeln die
gewerblichen Sammler an den Haustüren? – Ich weiß,
die Befürworter argumentieren, dass diese gewerblichen
Abfallentsorger ja zertifiziert sind.
Aber bei einer Sammlung bei privaten Haushalten
müsste der Bürger entscheiden, ob der Sammler zertifi-
ziert ist. Er müsste entscheiden, ob die Zertifizierung
korrekt ist. Wollen wir wirklich, dass der Bürger darüber
entscheidet? Und das bei gefährlichen Abfällen? Können
Sie mir garantieren, dass keine Trittbrettfahrer oder
schwarze Schafe dies ausnutzen? Wollen wir wirklich
die Gefahr neuer Skandale riskieren? Dazu sage ich ganz
klar Nein. Wie haben im Abfallbereich schon genug
Vollzugsdefizite.
Außerdem lehnen wir Sozialdemokraten die Samm-
lung bei Privathaushalten durch die gewerbliche Wirt-
schaft aus grundsätzlichen Überlegungen ab. Dies gehört
zur Daseinsvorsorge und damit in die Zuständigkeit der
Kommunen. Eine Ausweitung des Kreises, der sammeln
darf, erschwert auch die Vollzugskontrolle. Wir wollen
keine Verhältnisse, wie sie zeitweise bei den Verkaufs-
verpackungen herrschten. Aus diesem Grund ist eine
Genehmigungspflicht für herstellereigene Rücknahme-
systeme absolut notwendig. Eine Anzeigepflicht genügt
dem nicht. Ohne ein Genehmigungsverfahren wären
Trittbrettfahrern Tür und Tor geöffnet. Eine Kontrolle
wäre nicht mehr möglich.
Zum Schluss noch einige Worte zu den Anträgen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Ziele gehen
durchaus in die richtige Richtung: höhere Sammelquo-
ten, keine Ausnahmen für den Einsatz gefährlicher
Stoffe, Begrenzung des Einsatzes von Einwegbatterien.
Das sind grundsätzlich alles Punkte, die zu befürworten
sind. Allerdings geht es auch um die praktische Umset-
zung. Nach meinem Kenntnisstand gibt es zum Beispiel
momentan keine Alternativen zu Knopfzellen mit
Quecksilber, wie das gefordert wird. Eine Pfandpflicht
für Altbatterien halte ich ebenfalls für sehr schwer zu or-
ganisieren. Insgesamt halte ich das Gesetz in der jetzigen
Fassung für gut und bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Horst Meierhofer (FDP): Dass die Entsorgung von
Altbatterien bei uns in Deutschland auch jetzt schon
funktioniert, habe ich ja bereits an mehreren Stellen
deutlich gemacht. Und auch die vorgesehene Kennzeich-
nung mit den chemischen Zeichen „Cd“ für Cadmium,
„Pb“ für Blei und „Hg“ für Quecksilber habe ich bereits
mehrfach kritisiert, denn ich glaube nicht, dass eine sol-
che Kennzeichnung für die Verbraucher wirklich ver-
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ständlich ist. Aus rein deutscher Sicht wäre das Batterie-
gesetz also nicht unbedingt nötig gewesen. Doch die
Vorgaben hierzu kommen wie so oft aus Brüssel.
Im Großem und Ganzen können wir Liberale mit dem
Umsetzungsvorschlag der Großen Koalition leben, zu-
mal gestern im Ausschuss noch einmal einige Klarstel-
lungen beschlossen wurden. Trotzdem: Hundertprozen-
tig zufrieden sind wir nicht. An der einen oder anderen
Stelle hätten wir Liberale es uns schon anders ge-
wünscht. Das betrifft vor allem die Rolle des Mittelstan-
des.
Natürlich begrüßen wir das Ziel der Bundesregierung,
den Fortbestand der dezentralen Rücknahmestrukturen
– und darum geht es, wenn wir vom Mittelstand spre-
chen – zu gewährleisten. Aber wenn man in den Geset-
zestext schaut, dann sieht die Realität doch anders aus:
Gerade dem Mittelstand wird das Leben – oder besser
gesagt die Existenz – schwer gemacht. Deshalb auch un-
ser Änderungsantrag, den wir gestern in den Ausschuss
eingebracht haben.
Wir sind der Meinung, Endverbraucher müssen ihre
alten Fahrzeugbatterien eben auch bei gewerblichen Alt-
batterieentsorgern abgeben können, und nicht nur bei
Vertreibern oder öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträ-
gern. Dafür spricht auch, dass der Mittelstand bei Indus-
triebatterien nach dem Gesetzentwurf bereits mit im
Boot ist. Warum hier eine solche Differenzierung vorge-
nommen werden soll, leuchtet mir nicht ein.
Doch obwohl die Union diese Ansicht in der Sache
teilt, hat sie unseren Antrag abgelehnt und uns auf die
nächste Legislaturperiode vertröstet. Statt sinnvoller
Sachpolitik also Koalitionsraison. Und die heißt bei
Schwarz-Rot anscheinend: Der Mittelstand muss drau-
ßen bleiben. Schade!
Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auch noch ein-
mal auf die Befürchtung, dass große Hersteller mit dem
jetzigen Gesetzesvorschlag die Möglichkeit hätten, den
Verkauf von Neubatterien durch die Zahlung von Um-
weltprämien an die Rücknahnahme von Altbatterien zu
koppeln und so einmal mehr die mittelständischen Ent-
sorger – die sich eben nur auf das Entsorgen beschrän-
ken – das Nachsehen hätten.
Gerade noch die Kurve bekommen hat die Große Ko-
alition im Übrigen bei der Frage, welche Rolle die öf-
fentlich-rechtlichen Entsorgungsträger spielen sollen.
Vor allem der CDU-Kollege Brand hat in der ersten Le-
sung noch über den Sinn bzw. Nichtsinn einer verpflich-
tenden Beteiligung der Kommunen philosophiert. Ich
bin froh, dass entsprechende Änderungsanträge ausge-
blieben sind, denn nur so kann dem Prinzip der Produkt-
verantwortung auch vollumfänglich Rechnung getragen
werden. Gegen eine freiwillige Teilnahme der Kommu-
nen habe ich im Übrigen nichts einzuwenden.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antrag
der Grünen eingehen: Eine zusätzliche Pfandpflicht für
Gerätebatterien ist und bleibt falsch. Wir glauben nicht,
dass dies zu einer nennenswerten Lenkungswirkung
führt, sondern lediglich dem Handel eine ähnlich hüb-
sche Zusatzeinnahme bescheren wird, wie wir das schon
vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen.
Den Antrag der Grünen lehnen wir daher ab. Bei dem
Gesetzentwurf werden wir uns enthalten.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Bundesre-
gierung betonte bei der Vorlage ihres Entwurfs eines
Batteriegesetzes, dieser Rechtsakt sei nur eine 1:1-Um-
setzung der entsprechende EU-Richtlinie. So verzichtet
sie in diesem Bereich der Abfall- und Produktpolitik je-
doch auf eine Vorreiterrolle in der EU. Mehr noch: In
zentralen Details ist der Entwurf sogar ein Rückschritt.
Denn wie kann es sein, dass für Gerätealtbatterien ledig-
lich Rücknahmequoten von 35 Prozent bis zum Jahr
2012 gefordert werden, wo doch in der Praxis schon
2007 rund 40 Prozent erreicht wurden? Hier sind min-
destens 70 Prozent gefordert. Die Sammelquoten könn-
ten noch weiter erhöht werden, indem die Pfandpflicht
von Starterbatterien auf alle Batterien ausgedehnt
würde – auch hier Fehlanzeige im Gesetzentwurf.
Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter an-
derem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobiler
Endgeräte der Bedarf an ökologisch problematischen
Einwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegen
ist und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sind pa-
rallel energische Schritte, um den Einsatz von Einweg-
batterien zugunsten von langlebigen wiederaufladbaren
Akkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindern
2 bis 3 Prozent mehr Akkus in den entsprechenden An-
wendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Doch von
solchen Regelugen ist im künftigen Gesetz nichts zu le-
sen. Deshalb finden wir den Vorschlag der Grünen im
Ausschuss sinnvoll, das Inverkehrbringen sogenannter
Primärbatterien – welche ja nicht wiederaufladbar sind –
bis 2012 auf 80 und bis 2016 auf 50 Prozent gegenüber
2007 zu senken.
Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produkt-
politik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in
Batterien und Akkus zu reduzieren und einen hohen
Anteil stofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat
die Bundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen,
etwa bei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerk-
zeugen, durchlöchern das weitgehende Verbot des Ein-
satzes von Quecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnah-
men sind nicht zu verstehen, denn es gibt bereits Alter-
nativen für den Einsatz der gefährlichen und
umweltbelastenden Stoffe. Bei der Verwertung fordert
die Linke anspruchsvolle Quoten für die stoffliche Ver-
wertung sowie – angesichts der hohen Schadstoffbelas-
tung – die „bestverfügbare Technik“ als Standard bei den
Verwertungsverfahren anstelle des vorgesehenen „Stan-
des der Technik“.
Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlung
von Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Ge-
setz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknah-
meweg für Altbatterien für entsprechende Elektrogeräte
nicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von der
Rücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach
§ 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Ak-
kus unsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren.
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Sinnvollerweise müsste also hier ein grundsätzliches
Verbot des festen Einbaus – etwa über eine Stichtagsre-
gelung – die vorgesehene Lösung flankieren.
In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Grü-
nen und lehnen den Gesetzentwurf ab.
zum Tod des Fötus führen kann. Was nützt uns heute das
Quecksilberverbot, wie es auf der letzten UNEP-Konfe-
renz in Nairobi beschlossen wurde, wenn wir auf Jahre
weitere ordnungsrechtliche Maßnahmen und ambitio-
nierte Quoten scheuen? Bis ein Vertrag rechtskräftig
wird, der Produktion und Emissionen von Quecksilber
regelt, wird sicher ein Jahrzehnt vergehen. Das ist nicht
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir stimmen heute über einen Gesetzesvorschlag ab, der
die Vorreiterrolle Deutschlands gerade im Bereich der
Abfalltechnologie und des Recyclings bestenfalls igno-
riert, möglicherweise sogar konterkariert, haben die
Sammelsysteme doch, wie sie zur Vermeidung der Um-
weltverschmutzung mit Cadmium und Quecksilber be-
reits mit dem Elektro- und Elektronikgerätegesetz 2005
eingerichtet wurden, bisher auch ohne das heute zur De-
batte stehende Batteriegesetz 42 Prozent der Altbatterien
wieder eingesammelt. Liegt es nun „nur“ am Dogma der
Großen Koalition, dass man grundsätzlich nicht über die
europaweiten Vorgaben von umzusetzenden Richtlinien
hinausgeht? Oder – weitaus schlimmer für die Umwelt –
geht die Regierungskoalition davon aus, dass auch den
Sammelquoten bei Batterien dasselbe Schicksal wie dem
Mehrwegsystem bei Flaschen blühen könnte: fallende
Rückläufe, nicht zu steuernde Quotenverfehlungen? Die
Debatte im Umweltausschuss hat gezeigt: Auch für die
FDP wiegt im Falle von Vorschriften für Hersteller zur
Produktverantwortung offensichtlich das Gut des unein-
geschränkten Marktes schwerer als das der unversehrten
Gesundheit. Wie ließe sich sonst erklären, dass der
bündnisgrüne Vorschlag, die Mindestsammelquoten in
§ 16 – die laut Gesetzentwurf bis 2012 für Geräte-Alt-
batterien auf mindestens 35 Prozent festgesetzt ist – mit
mindestens 50 Prozent vorzugeben, abgetan wird mit
dem Hinweis auf eine „unzumutbare“ Belastung der Bat-
teriehersteller?
Batterien gehören nicht in den Hausmüll! Unbestrit-
ten sind die metallischen Stoffe, die für den Vorgang der
Elektrolyse zur Energiespeicherung notwendig sind, to-
xikologisch hoch gefährlich! Blei, Zink, Nickel, Kupfer,
Lithium, Cadmium und Quecksilber gelangen bei über
33 000 Tonnen verbrauchten Batterien tonnenweise in
die Umwelt, wenn die Altbatterien nicht ordnungsgemäß
entsorgt werden! Jedes Gramm dieser Schwermetalle,
das in die Umwelt gelangt, sei es nun durch unsachge-
mäße Entsorgung oder auch durch eine Müllverbren-
nung von tonnengängigen Batterien zusammen mit dem
Siedlungsabfall, ist ein Gramm zu viel! Nehmen wir
Quecksilber: Bereits geringe Dosen von Quecksilber
können im menschlichen Organismus durch Anreiche-
rung Hirn, Nerven und Organe schädigen. Quecksilber
steht zudem im Verdacht, das Alzheimer-Risiko zu erhö-
hen. Bei Babys und Kindern sind Entwicklungsstörun-
gen möglich. Schwangeren wird vom Verzehr bestimm-
ter Fischarten abgeraten, da eine Quecksilbervergiftung
verwunderlich, wenn schon die 1 : 1-Umsetzung einer
EU-Richtlinie in deutsches Recht – die keine Verände-
rung in der Versorgungspraxis bedarf – ein Dreiviertel-
jahr länger als die vorgegebene EU-Frist braucht. Es ist
wohl dieser Folgenlosigkeit geschuldet, dass sich ledig-
lich der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit mit dem Gesetzentwurf befasst.
Das Instrument von Bündnis 90/Die Grünen zur Er-
höhung der Rückgabemengen für Gerätebatterien ist das
Pfand. Bei den Autobatterien hat sich die bereits einge-
führte Pfandpflicht bewährt. Gerade für die Unzahl an
kleinen Batterien wäre die Rückgabe gegen Pfand über
den Handel eine gute Lösung, um kurzfristig zu weit hö-
heren Rückführungen zu gelangen. Alle notwendigen
Einrichtungen für die Pfandeinführung gibt es bereits
mit den Rücknahmesystemen. Es fehlt nur der politische
Wille. Auch kritisieren Bündnis 90/Die Grünen die nun
durch die Regierungskoalition in das neue Batteriegesetz
gestimmte Einschränkung der Unverletzlichkeit der
Wohnung (§ 21, Abs. 2). Ich zitiere: „Das Grundrecht
auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des
Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt.“ Es er-
schließt sich nicht, warum Überwachungspflichten der
Behörden zur Einhaltung des Abfallrechtes das Betreten
von Privatwohnungen auch ohne einen richterlichen Be-
schluss sinnvoll und notwendig machen könnten. Ande-
rerseits wird nichts weiter unternommen, als durch EU-
Recht ohnehin bereits geltend. Ohne weitere Erläuterung
einen solchen – angesichts der aktuellen Datenskandale
namhafter Firmen – beunruhigenden Satz aufzunehmen,
ist äußerst hilflos!
Das Gemeinsame Rücknahmesystem hat nach der
nun durch dieses Gesetz abgelösten Batterieverordnung
von 2001 gut gearbeitet, und es kann mit anderen Rück-
nahmesystemen der Hersteller gemeinsam noch viel mehr
leisten! Ebenso wie die Hersteller, deren Innovationen für
die mobile Stromversorgung gebraucht werden. Die
Chance, hier für Batterien die Produktverantwortung zu
stärken, wird leider vorerst vertan. Dem Gesetzentwurf, in
den keiner unserer Änderungsvorschläge Aufnahme ge-
funden hat, verweigern wir deshalb unsere Zustimmung.
Ich wünsche mir allerdings sehr, dass der Zustimmung zu
unserem Antrag auf Bundestagsdrucksache 16/1117 le-
diglich der Koalitionszwang entgegensteht und dass un-
sere inhaltlichen Vorschläge – Pfandausweitung, Schad-
stoffbegrenzung – bald in anderer Form aufgenommen
und umgesetzt werden.
217. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10