Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23701
        (A) (C)
        (B) (D)
        Förderung von Reinkraftstoffen, um den CO -Ausstoß
        preise fast vollständig zum Erliegen gebracht. Das ist
        eine Fehlentwicklung, denn Reinkraftstoffe entstehen inDr. Lauterbach, Karl SPD 23.04.2009
        2
        im Verkehrssektor zu verringern.
        Den Markt für Reinkraftstoffe haben die Steuererhö-
        hung für Reinkraftstoffe und die steigenden Rohstoff-
        Kipping, Katja DIE LINKE 23.04.2009
        Knoche, Monika DIE LINKE 23.04.2009
        Anlage 1
        Liste der entschuldi
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Becker, Dirk SPD 23.04.2009
        Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Bierwirth, Petra SPD 23.04.2009
        Bluhm, Heidrun DIE LINKE 23.04.2009
        Bodewig, Kurt SPD 23.04.2009*
        Dr. Botz, Gerhard SPD 23.04.2009
        Burchardt, Ulla SPD 23.04.2009
        Dağdelen, Sevim DIE LINKE 23.04.2009
        Duin, Garrelt SPD 23.04.2009
        Ernstberger, Petra SPD 23.04.2009
        Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 23.04.2009
        Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 23.04.2009
        Gabriel, Sigmar SPD 23.04.2009
        Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 23.04.2009
        Dr. Geisen, Edmund
        Peter
        FDP 23.04.2009
        Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 23.04.2009
        Gleicke, Iris SPD 23.04.2009
        Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        gten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der NATO
        Anlage 2
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
        zes zur Änderung der Förderung von Biokraft-
        stoffen (Zusatztagesordnungspunkt 6)
        Dr. Axel Berg (SPD): Ich habe mich im Rahmen der
        Diskussion um Biokraftstoffe immer für eine Zwei-
        Wege-Strategie eingesetzt. Ich wollte die Einführung ei-
        ner Quote zur Beimischung von Biokraftstoffen und eine
        Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Nahles, Andrea SPD 23.04.2009
        Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Dr. Scheer, Hermann SPD 23.04.2009
        Schily, Otto SPD 23.04.2009
        Schmidt (Nürnberg),
        Renate
        SPD 23.04.2009
        Dr. Schwanholz, Martin SPD 23.04.2009
        Tauss, Jörg SPD 23.04.2009
        Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        23.04.2009
        Wieczorek-Zeul,
        Heidemarie
        SPD 23.04.2009
        Wolff (Wolmirstedt),
        Waltraud
        SPD 23.04.2009
        Zapf, Uta SPD 23.04.2009
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        23702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        einer regionalen Wertschöpfungskette. Vom Anbau der
        Pflanzen über die Veredelung bis zum Verbrauch wäre
        alles in Deutschland machbar gewesen. Biodiesel aus
        deutscher Produktion führt zu einer CO2-Reduktion von
        45 Prozent gegenüber fossilem Diesel, Pflanzenöle aus
        deutschem Anbau sogar um 58 Prozent. In Deutschland
        könnten wir durch den Einsatz von Biodiesel bis zu
        15 Prozent des fossilen Diesels ersetzen. Stattdessen hat
        der Tanktourismus wieder zugenommen. Allein 200 000
        Speditions-Lkw, die bereits auf Biodiesel umgesattelt
        hatten, fahren jetzt wieder mit fossilem Diesel und tan-
        ken in der Regel im Ausland. Die damit verbundenen
        Mehrwertsteuerverluste dürften die Einnahmen aus der
        Biokraftstoffbesteuerung weit übertreffen.
        Wenn schon die Reinkraftstoffe nicht mehr zu einer
        CO2-Reduktion führen, weil sie praktisch aus dem Markt
        verdrängt werden, dürfen wir nicht auch noch die Beimi-
        schungsquoten senken. Durch die Entscheidung, aus-
        schließlich auf die Beimischung zu setzen, haben wir
        dem Mittelstand sehr geschadet, da die großen Mineral-
        ölkonzerne sich auf den Weltmärkten ihre nötigen bioge-
        nen Anteile sehr viel billiger besorgen und damit auf
        dem Markt mit Dumpingpreisen auftreten können.
        Aus ökologischen, ökonomischen und aus Gründen
        des Vertrauensschutzes dürfen wir nicht auch noch die
        Senkung der Quote zulassen. Wenn wir dieses Jahr die
        Quote um 1 Prozent senken und nächstes Jahr um
        1 Prozent anheben, treffen wir ausschließlich den Mittel-
        stand. Dieser kann sich bei ständig wechselnden Quoten
        nicht auf einen Absatz verlassen. Die Verlässlichkeit des
        Absatzes ist aber zum Überleben notwendig. Ansonsten
        verdrängen die großen Mineralölkonzerne den Mittel-
        stand vom Markt. Das kann und möchte ich nicht unter-
        stützen.
        Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
        derung der Förderung von Biokraftstoffen habe ich mich
        für eine Steuerbefreiung des im Öffentlichen Personen-
        nahverkehr – einschließlich Schienennahverkehr – ver-
        wendeten Biodiesels eingesetzt. Diese Maßnahme hätte
        einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeutet.
        Weiterhin hätten von dieser Maßnahme nicht nur die
        Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert, sondern
        auch die Landwirte und Biodieselproduzenten vor Ort.
        Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht. Aufgrund
        der Abwrackprämie sind zudem viele E-10-untaugliche
        Fahrzeuge durch Fahrzeuge ersetzt worden, die E 10
        vertragen. Dies nimmt der Argumentation, dass ein
        Großteil der Fahrzeuge E 10 nicht vertragen könnte, die
        Grundlage.
        Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
        ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
        treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
        für äußerst problematisch. Co-Hydrotreating würde in
        Deutschland nahezu die kompletten Biokraftstoffherstel-
        ler des Absatzes berauben, weil Co-Hydrotreating als
        Vorprodukt nur Pflanzenöl und eben keinen Biodiesel
        benötigt. Betroffen sind zahlreiche Arbeitsplätze und
        Unternehmen. Außerdem werden damit umfangreiche
        öffentliche Fördermittel „in den Sand gesetzt“. Hier-
        durch droht eine möglicherweise grenzenlose Wettbe-
        werbsverzerrung zuungunsten des mittelständischen Mi-
        neralölhandels. Denn die ab 1. Januar 2010 vorgesehene
        Gesamtquote von 6,25 Prozent kann ohne das Inverkehr-
        bringen von E 10 und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-
        Hydrotreating nur noch von den großen Mineralölkon-
        zernen erfüllt werden. Das Gesetz wird zusammen mit
        der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung (BlmschV)
        eine dramatische Verschlechterung der Wettbewerbs-
        situation zulasten des Mittelstandes und der Verbraucher
        herbeiführen. Kurz gesagt: Die 10. BlmSchV nimmt
        dem Mittelstand die Möglichkeit, freiwillig E 10 in den
        Markt zu bringen, und zugleich gibt sie ausschließlich
        den Konzernen die zusätzliche Möglichkeit, biogene Öle
        (Co-Hydrierung) als Quotenerfüllung einzusetzen. Auf
        die mittelständischen Firmen kämen hingegen jährliche
        Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens 100 Mil-
        lionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht einfach auf
        die Kunden umgelegt werden können, wäre ein wirt-
        schaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
        zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
        SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
        mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
        setzt wird.
        Die Bemühungen hinsichtlich einer Nachhaltigkeits-
        verordnung erachte ich als notwendig und positiv. Die
        größte Kritik an der Nutzung von Biomasse richtet sich
        auf eine vermeintliche Konkurrenz zwischen Nahrungs-
        mitteln und der energetischen Nutzung von Pflanzen. Es
        darf selbstverständlich nicht dazu kommen, dass es zu
        Entscheidungen zwischen Biokraftstoffen und Lebens-
        mitteln kommt. Wir dürfen nicht mit der Nahrung ande-
        rer Menschen unsere Autos antreiben, das muss allge-
        mein gültiger Konsens werden, auch oder vor allem
        wenn wirtschaftliche Interessen zu anderen Entscheidun-
        gen drängen. Nach aktuellen Zahlen ist das zurzeit nicht
        so. 5 Prozent der Weltgetreidenutzung werden für Kraft-
        stoffe genutzt, 95 Prozent werden als Nahrungs- oder
        Futtermittel verwendet.
        Die Probleme liegen an anderer Stelle. Europäische
        und deutsche Nutzflächen sind in den letzten Jahren still-
        gelegt worden, weil sich Anbau von Getreide nicht mehr
        lohnte und Importe günstiger waren. Die meisten Flä-
        chen, die in Deutschland genutzt werden, können nur
        durch massive Subventionen der Europäischen Union
        wirtschaftlich geführt werden. Derartige Subventionie-
        rungen spielen aber nicht nur für den europäischen
        Markt eine besondere Rolle, sondern vor allen Dingen
        sind sie der Grund für den Hunger in Schwellen- und
        Entwicklungsländern. Subventionierte Getreideexporte
        aus den USA oder Europa überschwemmen die Märkte
        in diesen Weltregionen. Weil die Importe günstiger sind
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23703
        (A) (C)
        (B) (D)
        als der eigene Anbau, wurden Ackerflächen vor Ort
        nicht weiter genutzt oder zur Produktion von Nutzpflan-
        zen in Monokulturen umgewandelt. Dadurch begaben
        sich viele Länder in eine Abhängigkeit von Nahrungs-
        mittelimporten, obwohl die Potenziale zur eigenen Ver-
        sorgung vorhanden wären. Wenn die Preise für Lebens-
        mittel wie im letzten Jahr ansteigen, führt dies zu
        Hungerkatastrophen, weil viele Länder die teuren Im-
        porte nicht mehr zahlen können. Spekulation, leere La-
        ger, steigender Bedarf an Milch und Fleischprodukten
        sowie vernachlässigte Produktion führen ebenfalls zu
        steigenden Preisen. In diesem Zusammenhang könnten
        Quoten für die Beimischung von Biosprit oder Quoten
        für Reinkraftstoffe zu einer weiteren Verschärfung der
        Probleme führen. Sie sind aber nicht der Grund für der-
        artige vermeidbare Katastrophen.
        Die Problematik besteht allerdings auch in einer an-
        deren Richtung. Dadurch, dass Industrieländer ihre eige-
        nen Märkte für Importe aus Entwicklungsländern ab-
        schotten, können diese selbst von steigenden
        Weltmarktpreisen nicht profitieren, obwohl ihre Produk-
        tionskapazitäten ausreichend wären, um auch externe
        Nachfrage zu bedienen.
        Eine Nachhaltigkeitszertifizierung liegt bis heute
        nicht vor, sodass nicht nachhaltig erzeugte Biokraftstoffe
        auf den Markt kamen. Das führte zu berechtigter Kritik
        und beschädigte das ökologische Image von Biokraft-
        stoffen. Es ist richtig und wichtig, dass Quoten und Re-
        gelungen für die Nutzung von Biomasse anhand von
        Prinzipien wie Nachhaltigkeit, ökologischer Sinnhaftig-
        keit und im Zusammenhang mit der weltweiten Nah-
        rungsmittelsituation überprüft werden. Dies kann zwi-
        schenzeitlich dazu führen, dass Quoten nicht weiter
        steigen dürfen. Sie dürfen aber auch nicht sinken. Gene-
        rell sehe ich aber die Beimischung und direkte Nutzung
        von Biosprit als einen wichtigen Schritt, den wir hin zu
        einer nachhaltigen Mobilität gehen müssen.
        Auch die Nachhaltigkeitsverordnung sollte unter Par-
        lamentsvorbehalt gestellt werden. Zudem sollten für
        sämtliche Erzeugnisse Nachhaltigkeitsnachweise einge-
        fordert werden. Es ist nicht einzusehen, warum nur für
        die Biokraftstoffbranche Nachhaltigkeitskriterien festge-
        setzt werden sollten. Dies ist eine Wettbewerbsverzer-
        rung gegenüber vielen anderen Produkten, insbesondere
        fossilen Rohstoffen und auch Futtermitteln.
        Bei eingehender Betrachtung all dieser Argumente,
        kann ich diesem Gesetzentwurf, trotz einiger guter An-
        sätze, nicht zustimmen. Wir würden eine Branche ver-
        nichten, von der ich denke, dass sie ökologischen und
        ökonomischen Nutzen hat. Wir brauchen beides.
        Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Der aktuelle Bio-
        kraftstoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Ja-
        nuar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Bio-
        dieselanlagen unterkompensiert sind. Lediglich große
        Pflanzenölanlagen sind überkompensiert, kommen je-
        doch mit der nächsten Steuerstufe in 2009 wahrschein-
        lich in wirtschaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation
        und insbesondere die für die kleinen Betriebe festge-
        stellte Unterkompensation hätte im Rahmen dieses Ge-
        setzes reagiert werden müssen.
        Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
        derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe-
        sondere über eine Steuerbefreiung des im öffentlichen
        Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr
        verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme
        hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu-
        tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion
        zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos-
        silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme
        nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert,
        sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten
        vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung
        und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts-
        kreisläufe gewesen.
        Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung
        zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte
        ich für äußerst problematisch und ohne Zustimmung des
        Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose
        Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi-
        schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab
        1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
        zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und
        gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
        noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
        den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
        jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens
        100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
        fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
        wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition
        keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben,
        auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren.
        Aus diesen Gründen enthalte ich mich bei der Ab-
        stimmung.
        Gabriele Groneberg (SPD): Im Rahmen der Ver-
        handlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung
        von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei-
        ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ-
        lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge-
        setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag
        zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel
        aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
        45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten
        von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
        Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
        Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
        23704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re-
        gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
        Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
        ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
        treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
        für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
        cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun-
        gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn
        die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
        6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
        und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
        nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
        werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge-
        gen jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindes-
        tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht
        einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre
        ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
        zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
        SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
        mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
        setzt wird.
        Die Bemühungen hinsichtlich einer Nachhaltigkeits-
        verordnung erachte ich als notwendig und positiv. Die
        größte Kritik an der Nutzung von Biomasse richtet sich
        auf eine zu erwartende Konkurrenz zwischen Nahrungs-
        mitteln und der energetischen Nutzung von Pflanzen. Es
        darf selbstverständlich nicht dazu kommen, dass es zu
        Entscheidungen zwischen Biokraftstoffen und Lebens-
        mitteln kommt. Wir dürfen nicht mit der Nahrung ande-
        rer Menschen unsere Autos antreiben, das muss allge-
        meingültiger Konsens werden, auch oder vor allem
        wenn wirtschaftliche Interessen zu anderen Entscheidun-
        gen drängen.
        Es ist richtig und wichtig, dass Quoten und Regelun-
        gen für die Nutzung von Biomasse anhand von Prinzi-
        pien wie Nachhaltigkeit, ökologischer Sinnhaftigkeit
        und im Zusammenhang mit der weltweiten Nahrungs-
        mittelsituation überprüft werden. Dies kann zwischen-
        zeitlich dazu führen, dass Quoten nicht weiter steigen
        dürfen. Generell sehe ich aber die Beimischung und di-
        rekte Nutzung von Biosprit als einen wichtigen Schritt,
        den wir hin zu einer nachhaltigen Mobilität gehen müs-
        sen. Wir brauchen dringend für die Nutzung von
        Biomasse eine Nachhaltigkeitsverordnung, die auch im
        Europarecht Geltung haben muss. Die Nachhaltigkeits-
        verordnung sollte auch unter Parlamentsvorbehalt ge-
        stellt werden.
        Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
        der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
        ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
        ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
        positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
        über dieses Gesetz der Stimme.
        Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Im Rahmen der
        Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung
        von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei-
        ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ-
        lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge-
        setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag
        zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel
        aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
        45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten
        von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
        Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
        Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
        sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau regio-
        naler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
        Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
        ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
        treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
        für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
        cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuunguns-
        ten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab
        1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
        zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und
        gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
        noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
        den.
        Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
        jährliche Ausgleichzahlungen in Höhe von mindestens
        100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
        fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
        wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
        zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
        SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungs-
        ermächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, um-
        gesetzt wird.
        Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
        der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
        ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich der
        Nachhaltigkeitsverordnungen als notwendig und sehr
        positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
        über dieses Gesetz der Stimme.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23705
        (A) (C)
        (B) (D)
        Marko Mühlstein (SPD): Im Rahmen der Verhand-
        lungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung von
        Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefreiung
        des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich
        Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels eingesetzt.
        Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag zum Kli-
        maschutz bedeutet – schließlich führt Biodiesel aus deut-
        scher Produktion zu einer CO2-Reduktion von 45 Pro-
        zent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten von
        dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
        Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
        Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
        sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re-
        gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
        Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
        ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
        treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
        für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
        cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuunguns-
        ten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn die ab
        1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
        zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und die
        gleichzeitige Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
        noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
        den.
        Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
        jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens
        100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
        fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
        wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
        zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
        SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungs-
        ermächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, um-
        gesetzt wird.
        Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
        der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
        ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
        ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
        positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
        über dieses Gesetz der Stimme.
        Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Im Rahmen der
        Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förderung
        von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuerbefrei-
        ung des im Öffentlichen Personennahverkehr einschließ-
        lich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels einge-
        setzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Beitrag
        zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodiesel
        aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
        45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin hätten
        von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe der
        Kommunen profitiert, sondern auch die Landwirte und
        Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem wäre dies ein
        sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Aufbau re-
        gionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen.
        Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
        ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
        treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
        für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
        cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun-
        gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn
        die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
        6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
        und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
        nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
        werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge-
        gen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindes-
        tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht
        einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre
        ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
        zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
        SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
        mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
        setzt wird.
        Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
        der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
        ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
        ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
        positiv. Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung
        über dieses Gesetz der Stimme.
        Mechthild Rawert (SPD): Der aktuelle Biokraft-
        stoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum Januar bis
        September 2008 zum Ergebnis, dass alle Biodieselanla-
        gen unterkompensiert sind. Lediglich große Pflanzenöl-
        anlagen sind überkompensiert, kommen jedoch mit der
        nächsten Steuerstufe in 2009 wahrscheinlich in wirt-
        schaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und insbe-
        sondere die für die kleinen Betriebe festgestellte Unter-
        kompensation hätte im Rahmen dieses Gesetzes reagiert
        werden müssen.
        Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
        derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe-
        sondere über eine Steuerbefreiung des im Öffentlichen
        Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr
        verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme
        23706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu-
        tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion
        zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos-
        silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme
        nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert,
        sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten
        vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung
        und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts-
        kreisläufe gewesen.
        Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung
        zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte
        ich für äußerst problematisch und ohne Zustimmung des
        Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose
        Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi-
        schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab
        1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
        6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
        und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
        nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
        werden.
        Auf die mittelständischen Firmen hingegen kämen
        jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens
        100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
        fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
        wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition
        keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben,
        auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren.
        Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Das Euro-
        päische Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember
        2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende
        Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare-Energien-Richt-
        linie lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefreiung und -begüns-
        tigung als Förderinstrument der Mitgliedstaaten aus-
        drücklich zu.
        Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
        Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
        Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
        ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von
        35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl
        und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung
        kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus-
        stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel
        war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in
        dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft-
        stoff- zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame
        Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe
        festgelegt wurden.
        Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und
        die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff-
        markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor-
        gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel
        nicht mehr zu heilen!
        Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralölin-
        dustrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz
        gesenkt wird, bedeutet dies die Reduzierung des Einsat-
        zes von Biokraftstoffen um 19 Prozent! Das kann doch
        vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein! Selbst die nicht
        weiter verfolgten Ideen, den öffentlichen Nahverkehr
        steuerfrei zu stellen und für den Lkw-Güterverkehr einen
        Steuernachlass von 50 Prozent auf den Steuersatz für Bio-
        diesel zu erwirken, könnten das durch die Senkung der
        Beimischungsquote hervorgerufene Absatzminus bei
        Pflanzenöl und Biodiesel nicht ausgleichen.
        Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent
        und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 heißt
        Hü und Hott. Dies ist keine vertrauensbildende Maß-
        nahme, nicht für die Produzenten von Biokraftstoffen
        und eigentlich auch nicht für die Mineralölwirtschaft.
        Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich da-
        durch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den
        gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das
        immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff
        würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist
        das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der
        Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt
        folgen, helfen wir mit, andere Anbieter von Kraftstoffen
        vom Markt zu verdrängen! Aber Großkonzernpolitik zu
        vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen.
        Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und
        Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale
        Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund-
        lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt
        wurde.
        Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Grün-
        den der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per
        Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert
        werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraft-
        stoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den
        Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollstän-
        dige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der
        15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt wor-
        den. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab
        2006 wurden zahlreiche mittelständische Unternehmen
        in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine
        klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird
        jetzt in keinster Weise geheilt, auch wenn mit dem Be-
        schluss des Umweltausschusses noch der Versuch unter-
        nommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will
        dies nicht hinnehmen.
        Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine-
        ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das
        Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es
        wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl
        zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei-
        mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut-
        lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei-
        sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23707
        (A) (C)
        (B) (D)
        Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach
        vom Tisch gewischt.
        Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
        keit, den Wettbewerb am Tankstellenmarkt zugunsten
        von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
        qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
        den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
        preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
        Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grund-
        lage der Herstellerangaben seines Autos selber entschei-
        den, E 10 zu tanken oder nicht.
        Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition
        keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
        Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von
        einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung
        von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der
        Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe halte ich für
        Flickschusterei!
        Dr. Hermann Scheer (SPD): Der vorliegende Ge-
        setzentwurf heilt wesentliche Mängel der seit 2006 ge-
        troffenen Regelung des Gesetzes nicht. Der Reinbio-
        kraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl ist mit der
        seitdem eintretenden und ansteigenden Besteuerung
        weitgehend zum Erliegen gekommen. Dies hat viele in
        den Jahren zuvor neu gegründete Unternehmen zur Auf-
        gabe gezwungen. Die Chance, dass über den Reinbio-
        kraftstoffmarkt ein marktförderndes Gegengewicht zu
        dem Oligopol der Mineralölkonzerne erwachsen könnte,
        ist damit verspielt worden. Ein erheblicher Vertrauens-
        verlust vor allem im Bereich neuer mittelständischer Un-
        ternehmen war die Folge, weil das vorhergehende Ge-
        setz eine Steuerbefreiung bis 2009 regelte und im
        Anschluss daran eine Teilbesteuerung versprochen wor-
        den war, um zu gewährleisten, dass diese Biokraftstoffe
        am Markt billiger sein sollten als fossile Dieselkraft-
        stoffe. Der Tanktourismus für fossile Kraftstoffe, insbe-
        sondere bei Speditionsunternehmen, hat seitdem wieder
        erheblich zugenommen, sodass die damit verbundenen
        Steuereinnahmeverluste die Einnahmen aus der Besteue-
        rung dieser Biokraftstoffe übersteigen. Das mit der Bei-
        mischungspflicht beabsichtigte Ziel, damit zur Haus-
        haltskonsolidierung beizutragen, wurde verfehlt.
        Die stattdessen eingeführte Beimischungspflicht
        sollte ein Mengenäquivalent für Biokraftstoffproduzen-
        ten schaffen, auf der Basis einer Zertifizierung, die nach-
        haltige Anbauweisen sichern sollte. Eine dementspre-
        chende Zertifizierung liegt bis heute nicht vor, sodass
        ungeprüfte Biokraftstoffmengen auf den Markt kamen,
        die zu berechtigter Kritik führten und das ökologische
        Image von Biokraftstoffen beschädigten. Die Antwort
        darauf im anstehenden Änderungsgesetz in Form einer
        Senkung der Beimischungsquote ist deshalb Ausdruck
        eines politisch zu verantwortenden Versäumnisses, was
        erneut zulasten heimischer Produzenten geht.
        Bemühungen aus den Regierungsfraktionen, wie sie
        in der Erklärung zur Abstimmung des Kollegen Marco
        Mühlstein zum Ausdruck kommen, bestimmte Markt-
        segmente wie den öffentlichen Nahverkehr für diese
        Biokraftstoffe vorzusehen, blieben unbeachtet, ein-
        schließlich der Voten der Fachpolitiker beider Regie-
        rungsfraktionen. Das Gesetz mag erneut eine formelle
        Mehrheit mit den Stimmen aus den beiden Regierungs-
        fraktionen erhalten. Inhaltlich getragen wird es auch in
        diesen eher überwiegend nicht.
        Aus diesen Gründen kann ich dem vorliegenden Än-
        derungsgesetz nicht zustimmen, so wie ich bereits dem
        Gesetz von 2006 nicht zugestimmt habe, das seinerzeit
        auch großenteils in beiden Regierungsfraktionen hoch
        umstritten war.
        Marianne Schieder (SPD): Eine Steuerbefreiung
        des im öffentlichen Personennahverkehr einschließlich
        Schienennahverkehr verwendeten Biokraftstoffs wäre
        eine Maßnahme, die einen wichtigen Beitrag zum Kli-
        maschutz bedeutet; schließlich führt Biokraftstoff aus
        deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion von
        45 Prozent gegenüber fossilem Kraftstoff. Weiterhin hät-
        ten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbetriebe
        der Kommunen profitiert, sondern gerade die Landwirte
        und Biokraftstoffproduzenten vor Ort. Außerdem wäre
        dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für den Auf-
        bau regionaler nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewe-
        sen.
        Es wäre sinnvoll und möglich gewesen, den Kraft-
        stoff E 10 als freiwilliges Angebot einzuführen. Hier-
        durch wäre der Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zu-
        gunsten von Millionen Autofahrern gestärkt worden.
        E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im
        Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineralöl-
        konzerne günstiger angeboten werden könnte. Bei einer
        freiwilligen Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughal-
        ter auf der Grundlage der Angaben des Herstellers selbst
        entscheiden können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Für die genannten Vorschläge gab es innerhalb der
        Koalition keine mehrheitliche Unterstützung. Damit
        wurde die Möglichkeit vergeben, auf die Situation am
        Biokraftstoffmarkt zu reagieren und insbesondere die
        mittelständischen Produzenten in der heimischen Land-
        wirtschaft zu stärken.
        Norbert Schindler (CDU/CSU): Das Europäische
        Parlament hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008
        die Möglichkeit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraft-
        stoffe zu fördern. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie
        lässt in Art. 2 (k) die Steuerbefreiung und -begünstigung
        als Förderinstrument der Mitgliedstaaten ausdrücklich
        zu.
        Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
        Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
        Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
        ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von
        35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl
        und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung
        kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus-
        stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel
        war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in
        dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft-
        stoff- zu mineralischen Kraftstoffen und die langsame
        23708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        Steigerung der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe
        festgelegt wurden.
        Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und
        die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff-
        markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor-
        gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel
        nicht mehr zu heilen! Wenn aber gleichzeitig, auf
        Wunsch der Mineralölindustrie, die Beimischungsquote
        um einen Prozentsatz gesenkt wird, bedeutet dies die Re-
        duzierung des Einsatzes von Biokraftstoffen um 19 Pro-
        zent! Das kann doch vom Gesetzgeber so nicht gewollt
        sein!
        Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentli-
        chen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw-
        Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf
        den Steuersatz für Biodiesel zu erwirken, könnten das
        durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgeru-
        fene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht
        ausgleichen. Die Absenkung der Gesamtquote auf
        5,25 Prozent und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab
        2010 heißt Hü und Hott. Dies ist keine vertrauensbil-
        dende Maßnahme, nicht für die Produzenten von Bio-
        kraftstoffen und eigentlich auch nicht für die Mineralöl-
        wirtschaft. Aber die Großen der Mineralölwirtschaft
        haben sich dadurch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu
        verfolgen, den gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle
        zu halten. Das immer wieder vorgetragene Argument,
        der Kraftstoff würde sich bei einer höheren Beimischung
        verteuern, ist das einzige und schwache – weil nicht
        stichhaltige – der Erdölriesen gegenüber der Politik.
        Weil wir diesem jetzt folgen, helfen wir mit, andere An-
        bieter von Kraftstoffen vom Markt zu verdrängen! Aber
        Großkonzernpolitik zu vertreten oder zu stützen, ist
        nicht mein Anliegen.
        Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und
        Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale
        Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund-
        lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt
        wurde. Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus
        Gründen der Kontinuität und des Vertrauensschutzes
        nicht per Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente
        geändert werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der
        Biokraftstoffförderung verletzen wir zum wiederholten
        Male den Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die
        vollständige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in
        der 15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt
        worden. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung
        ab 2006 wurden zahlreiche mittelständischen Unterneh-
        men in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine
        klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird
        jetzt in keinster Weise geheilt, auch wenn mit dem der
        Beschluss des Umweltausschusses noch der Versuch un-
        ternommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will
        dies nicht hinnehmen.
        Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine-
        ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das
        Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es
        wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl
        zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei-
        mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut-
        lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei-
        sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der
        Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach
        vom Tisch gewischt. Ein freiwilliges Angebot von E 10
        böte die Möglichkeit, den Wettbewerb am Tankstellen-
        markt zugunsten von Millionen Autofahrern zu verbes-
        sern. E 10 ist ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der
        im Vergleich zu den Premiumsorten der großen Mineral-
        ölkonzerne ein preisgünstigeres Angebot an die Verbrau-
        cher darstellt. Jeder Fahrzeughalter, mündig genug,
        könnte auf Grundlage der Herstellerangaben seines Au-
        tos selber entscheiden, E 10 zu tanken oder nicht.
        Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition
        keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
        Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von
        einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung
        von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der
        Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe halte ich für
        Flickschusterei!
        Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Im Rahmen
        der Verhandlungen zum Gesetz zur Änderung der Förde-
        rung von Biokraftstoffen habe ich mich für eine Steuer-
        befreiung des im Öffentlichen Personennahverkehr ein-
        schließlich Schienennahverkehr verwendeten Biodiesels
        eingesetzt. Diese Maßnahme hätte einen wichtigen Bei-
        trag zum Klimaschutz bedeutet; schließlich führt Biodie-
        sel aus deutscher Produktion zu einer CO2-Reduktion
        von 45 Prozent gegenüber fossilem Diesel. Weiterhin
        hätten von dieser Maßnahme nicht nur die Verkehrsbe-
        triebe der Kommunen profitiert, sondern auch die Land-
        wirte und Biodieselproduzenten vor Ort. Außerdem
        wäre dies ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung und für
        den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschaftskreis-
        läufe gewesen.
        Ich habe das Ziel verfolgt, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Des Weiteren halte ich die im Gesetz enthaltene Ver-
        ordnungsermächtigung zur Zulassung des Co-Hydro-
        treating-Verfahrens ohne Zustimmung des Bundestages
        für äußerst problematisch. Hierdurch droht eine mögli-
        cherweise grenzenlose Wettbewerbsverzerrung zuun-
        gunsten des mittelständischen Mineralölhandels. Denn
        die ab 1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von
        6,25 Prozent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10
        und gleichzeitiger Möglichkeit des Co-Hydrotreatings
        nur noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt
        werden. Auf die mittelständischen Firmen kämen hinge-
        gen jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindes-
        tens 100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht
        einfach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre
        ein wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23709
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich werde mich in den nächsten Wochen dafür einset-
        zen, dass der im Entschließungsantrag zum Gesetz von
        SPD und Union formulierte Wille, die Verordnungser-
        mächtigung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, umge-
        setzt wird.
        Für all die genannten Vorschläge habe ich innerhalb
        der Koalition keine mehrheitliche Unterstützung erfah-
        ren. Jedoch erachte ich die Bemühungen hinsichtlich ei-
        ner Nachhaltigkeitsverordnung als notwendig und sehr
        positiv.
        Deshalb enthalte ich mich bei der Abstimmung über
        dieses Gesetz der Stimme.
        Lydia Westrich (SPD): Das Europäische Parlament
        hat mit Beschluss vom 17. Dezember 2008 die Möglich-
        keit eröffnet, besonders CO2-sparende Kraftstoffe zu för-
        dern. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie lässt in Art. 2(k)
        die Steuerbefreiung und -begünstigung als Förderinstru-
        ment der Mitgliedstaaten ausdrücklich zu.
        Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
        Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
        Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der eu-
        ropäischen Definition einer Nachhaltigkeitsgrenze von
        35 Prozent. Mit dem vermehrten Einsatz von Pflanzenöl
        und Biodiesel in Reinform oder in der Beimischung
        kann somit ein Beitrag zur Reduzierung des CO2-Aus-
        stoßes im Verkehrsbereich geleistet werden. Dieses Ziel
        war Grundlage des Biokraftstoffförderungsgesetzes, in
        dem feste Quoten für die Beimischung von Biokraft zu
        mineralischen Kraftstoffen und die langsame Steigerung
        der Besteuerung für biogene Reinkraftstoffe festgelegt
        wurden.
        Wie wir heute wissen, haben die Steuererhöhung und
        die Preiserhöhungen der Rohstoffe den Reinkraftstoff-
        markt zum Erliegen gebracht. Dies ist auch mit der vor-
        gesehenen geringeren Steuererhöhung für Biodiesel
        nicht mehr zu heilen.
        Wenn aber gleichzeitig, auf Wunsch der Mineralöl-
        industrie, die Beimischungsquote um einen Prozentsatz
        gesenkt wird, bedeutet dies die Reduzierung des Einsat-
        zes von Biokraftstoffen um 19 Prozent. Das kann doch
        vom Gesetzgeber so nicht gewollt sein.
        Selbst die nicht weiter verfolgten Ideen, den öffentli-
        chen Nahverkehr steuerfrei zu stellen und für den Lkw-
        Güterverkehr einen Steuernachlass von 50 Prozent auf
        den Steuersatz für Biodiesel zu erwirken, könnten das
        durch die Senkung der Beimischungsquote hervorgeru-
        fene Absatzminus bei Pflanzenöl und Biodiesel nicht
        ausgleichen.
        Die Absenkung der Gesamtquote auf 5,25 Prozent
        und der Wiederanstieg auf 6,25 Prozent ab 2010 zeigt
        keine einheitliche Linie. Dies ist keine vertrauensbil-
        dende Maßnahme, nicht für die Produzenten von Bio-
        kraftstoffen und auch nicht für die Mineralölwirtschaft.
        Aber die Großen der Mineralölwirtschaft haben sich da-
        durch Luft verschafft, weiter ihr Ziel zu verfolgen, den
        gesamten Kraftstoffmarkt unter Kontrolle zu halten. Das
        immer wieder vorgetragene Argument, der Kraftstoff
        würde sich bei einer höheren Beimischung verteuern, ist
        das einzige und schwache – weil nicht stichhaltige – der
        Erdölriesen gegenüber der Politik. Weil wir diesem jetzt
        folgen, helfen wir mit, andere Anbieter von Kraftstoffen
        vom Markt zu verdrängen. Aber Großkonzernpolitik zu
        vertreten oder zu stützen, ist nicht mein Anliegen.
        Auch der Preisabsturz bei Getreide, Zuckerrüben und
        Raps zeigt, dass die im letzten Jahr geführte emotionale
        Diskussion um „Tank oder Teller“, die überhaupt Grund-
        lage dieses Gesetzentwurfs war, ad absurdum geführt
        wurde.
        Ich vertrete die Auffassung, dass Gesetze aus Grün-
        den der Kontinuität und des Vertrauensschutzes nicht per
        Jahresfrist aufgrund emotionaler Argumente geändert
        werden dürfen. Mit dem Herumdoktern an der Biokraft-
        stoffförderung verletzen wir zum wiederholten Male den
        Vertrauensschutz der Bürger in den Staat. Die vollstän-
        dige Steuerbefreiung für Reinkraftstoffe war in der
        15. Legislaturperiode bis 2009 gesetzlich festgelegt wor-
        den. Durch das vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab
        2006 wurden zahlreiche mittelständische Unternehmen
        in den Bankrott getrieben, die im Vertrauen auf eine
        klare gesetzliche Vorgabe investiert hatten. Dies wird
        jetzt in keiner Weise geheilt, auch wenn mit dem Be-
        schluss des Umweltausschusses noch der Versuch unter-
        nommen wird, dies schönzufärben! Ich kann und will
        dies nicht hinnehmen.
        Das Parlament hat sich von den Lobbyisten der Mine-
        ralölwirtschaft und vom Bundesumweltministerium das
        Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es
        wurde kein konkretes Verbot von hydriertem Pflanzenöl
        zweifelhaften Ursprungs als Biodieselersatz in der Bei-
        mischung erlassen. Nicht nur in diesem Punkt wird deut-
        lich, dass das Thema Nachhaltigkeit in bestimmten Krei-
        sen nur ein Lippenbekenntnis darstellt. Auch wurde der
        Vorschlag, E 10 freiwillig anbieten zu dürfen, einfach
        vom Tisch gewischt.
        Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
        keit, den Wettbewerb am Tankstellenmarkt zugunsten
        von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
        qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
        den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
        preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
        Jeder Fahrzeughalter, mündig genug, könnte auf Grund-
        lage der Herstellerangaben seines Autos selber entschei-
        den, E 10 zu tanken oder nicht.
        Nachdem diese Vorschläge innerhalb der Koalition
        keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
        Gesetzentwurf nicht zustimmen. Eine Festlegung von
        einzelnen Punkten wie Quotenhöhe oder Zumischung
        von Biomethan ohne eine grundlegende Regelung der
        Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe ist für mich
        Flickschusterei.
        Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der aktuelle
        Biokraftstoffzwischenbericht kommt für den Zeitraum
        Januar bis September 2008 zum Ergebnis, dass alle Bio-
        dieselanlagen unterkompensiert sind. Lediglich große
        Pflanzenölanlagen sind überkompensiert, kommen je-
        23710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        doch mit der nächsten Steuerstufe 2009 wahrscheinlich
        in wirtschaftliche Bedrängnis. Auf diese Situation und
        insbesondere die für die kleinen Betriebe festgestellte
        Unterkompensation hätte im Rahmen dieses Gesetzes re-
        agiert werden müssen.
        Im Rahmen der Verhandlungen zum Gesetz zur Än-
        derung der Förderung von Biokraftstoffen wurde insbe-
        sondere über eine Steuerbefreiung des im öffentlichen
        Personennahverkehr einschließlich Schienennahverkehr
        verwendeten Biodiesels diskutiert. Diese Maßnahme
        hätte einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz bedeu-
        tet; schließlich führt Biodiesel aus deutscher Produktion
        zu einer CO2-Reduktion von 45 Prozent gegenüber fos-
        silem Diesel. Weiterhin hätten von dieser Maßnahme
        nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen profitiert,
        sondern auch die Landwirte und Biodieselproduzenten
        vor Ort. Dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Stärkung
        und für den Aufbau regionaler nachhaltiger Wirtschafts-
        kreisläufe gewesen.
        Es wäre möglich gewesen, den Kraftstoff E 10 als
        freiwilliges Angebot einzuführen. Hierdurch wäre der
        Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten von
        Millionen Autofahrern gestärkt worden. Denn E 10 ist
        ein qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich
        zu den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne
        günstiger angeboten werden kann. Bei einer freiwilligen
        Einführung hätte zudem jeder Fahrzeughalter auf der
        Grundlage der Angaben des Herstellers selbst entschei-
        den können, ob er E 10 tankt oder auch nicht.
        Die im Gesetz enthaltene Verordnungsermächtigung
        zur Zulassung des Co-Hydrotreating-Verfahrens halte
        ich äußerst problematisch und ohne Zustimmung des
        Bundestages für falsch. Hierdurch wird eine grenzenlose
        Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des mittelständi-
        schen Mineralölhandels in Gang gesetzt. Denn die ab
        1. Januar 2010 vorgesehene Gesamtquote von 6,25 Pro-
        zent kann ohne das Inverkehrbringen von E 10 und die
        gleichzeitige Möglichkeit des Co-Hydrotreatings nur
        noch von den großen Mineralölkonzernen erfüllt wer-
        den. Auf die mittelständischen Firmen kämen hingegen
        jährliche Ausgleichszahlungen in Höhe von mindestens
        100 Millionen Euro zu. Da diese Belastungen nicht ein-
        fach auf die Kunden umgelegt werden können, wäre ein
        wirtschaftliches Arbeiten nicht mehr möglich.
        Für diese Vorschläge gab es innerhalb der Koalition
        keine Mehrheit. Damit wurde die Möglichkeit vergeben,
        auf die Situation am Biokraftstoffmarkt zu reagieren.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth und
        Dr. Joachim Pfeiffer (beide CDU/CSU) zur Ab-
        stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
        Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
        (Zusatztagesordnungspunkt 6)
        Die EU und Deutschland haben sich ehrgeizige Kli-
        maschutzziele auch im Sektor „Mobilität“ gesetzt. Im
        Dezember 2008 wurde die „Richtlinie zur Förderung der
        Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“ (RED)
        beschlossen, die ein verbindliches Mindestziel von
        10 Prozent erneuerbarer Energien im Verkehrssektor
        festlegt. In Deutschland beschloss der Deutsche Bundes-
        tag im Dezember 2006 das Biokraftstoffquotengesetz. Es
        sieht eine kontinuierliche Steigerung der Gesamtquote
        für Biokraftstoffe von 6,25 Prozent in 2009 bis auf
        8 Prozent in 2015 vor.
        Die Verwendung nachhaltig erzeugter Biokraftstoffe
        der ersten Generation hat das Potenzial, wesentlich zur
        CO2-Reduktion im Verkehrssektor beizutragen. Dabei ist
        es unerlässlich, sicherzustellen, dass Biokraftstoffe ent-
        sprechend strengen Nachhaltigkeitsregeln produziert
        wurden. Den Änderungsantrag der CDU/CSU und der
        SPD zur zügigen Vorlage einer Nachhaltigkeitsverord-
        nung unterstütze ich daher uneingeschränkt.
        Neben dem Ziel des Klimaschutzes ist es wichtig, die
        gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass
        mittelständische Investoren aus den Reihen der Land-
        wirte, der Biokraftstoffproduzenten und der Mineralöl-
        händler Planungssicherheit haben, die eine Rentabilität
        ihrer Investitionen ermöglicht. Bislang bereits drei Än-
        derungen der Biokraftstoffgesetze in dieser Legislatur-
        periode stehen diesem Anliegen entgegen. (Energiesteu-
        ergesetz Juli 2006, Biokraftstoffquotengesetz Dezember
        2006, Änderung der 10. BImSchV/Verbot von E 10 Ja-
        nuar 2009). Leider wurde jeweils auf Übergangsregelun-
        gen im Hinblick auf Bestandsanlagen verzichtet.
        Die nun vorliegende vierte gesetzliche Regelung zur
        Änderung der Biokraftstoffförderung in dieser Legisla-
        turperiode sieht die Absenkung der für das Jahr 2009 zu-
        nächst auf 6,25 festgelegten Beimischungsquote rück-
        wirkend zum 1. Januar auf 5,25 Prozent und Anhebung
        zum 1. Januar 2010 wieder auf 6,25 Prozent vor; das wi-
        derspricht jeglicher Planungssicherheit.
        Die Absenkung der Steuer auf Biodiesel um 3 Cent ist
        angesichts der Marktsituation völlig unzureichend; der
        am 12. November 2008 vorgelegte Biokraftstoffbericht
        der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/10964)
        weist Unterkompensierungen bei Biodiesel zwischen
        6,68 und 10,76 Cent je Liter aus.
        Bedauerlich und wettbewerbsmindernd ist es zudem,
        dass der Vertrieb von E 10 praktisch verboten wurde;
        nachhaltig erzeugtes, der DIN-Norm entsprechendes und
        besonders gekennzeichnetes E 10 sollte als zusätzliches
        Angebot möglich sein.
        Deshalb kann ich dem vorliegenden Gesetzentwurf
        nicht zustimmen, auch wenn ich den Änderungsantrag
        begrüße.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Josef Göppel, Dr. Georg
        Nüßlein, Cajus Caesar und Jens Koeppen (alle
        CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23711
        (A) (C)
        (B) (D)
        eines Gesetzes zur Änderung der Förderung
        von Biokraftstoffen (Zusatztagesordnungs-
        punkt 6)
        Das Europäische Parlament hat mit Beschluss vom
        17. Dezember 2008 die Möglichkeit eröffnet, besonders
        CO2-sparende Kraftstoffe zu fördern. Die Erneuerbare-
        Energien-Richtlinie lässt in Art. 2(k) die Steuerbefreiung
        und -begünstigung als Förderinstrument der Mitglied-
        staaten ausdrücklich zu.
        Pflanzenöl aus deutschem Anbau erbringt eine CO2-
        Minderung von 58 Prozent, Biodiesel von 45 Prozent.
        Beide Reinkraftstoffe liegen damit deutlich über der euro-
        päischen Nachhaltigkeitsgrenze von 35 Prozent. Mit dem
        Antrag „Klimafreundliche Biokraftstoffe stärken“ vom
        12. Februar 2009 versuchten wir, den Einsatz von Pflan-
        zenöl und Biodiesel im öffentlichen Nahverkehr steuerfrei
        zu stellen, für den Lkw-Güterverkehr einen Steuernach-
        lass von 50 Prozent des normalen Mineralölsteuersatzes
        zu erwirken und den Biotreibstoff E 10 (Beimischung von
        10 Prozent Ethanol zu Ottokraftstoffen) für den Verkauf
        an öffentlichen Tankstellen zuzulassen.
        Die Steuerbefreiung von Pflanzentreibstoffen im öffent-
        lichen Nahverkehr würde einen verlässlichen Markt bis
        zu 1,1 Milliarden Liter pro Jahr schaffen. Die Abgren-
        zung zu anderem öffentlichen und privaten Verkehr
        könnte zielgenau nach § 56 Energiesteuergesetz erfolgen.
        Die Kommunen würden durch diesen Schritt beim Klima-
        schutz unterstützt. Regionale Wirtschaftskreisläufe würden
        gestärkt.
        Die Steuerbegünstigung des Speditionsgewerbes würde
        den Tanktourismus in das europäische Ausland eindäm-
        men. Mindereinnahmen durch einen geringeren Steuersatz
        würden so durch Mehreinnahmen schnell ausgeglichen.
        Ein freiwilliges Angebot von E 10 böte die Möglich-
        keit, den Wettbewerb auf dem Mineralölmarkt zugunsten
        von Millionen Autofahrern zu verbessern. E 10 ist ein
        qualitativ hochwertiger Kraftstoff, der im Vergleich zu
        den Premiumsorten der großen Mineralölkonzerne ein
        preisgünstigeres Angebot an die Verbraucher darstellt.
        Zudem könnte jeder Fahrzeughalter auf Grundlage der
        Angaben des Herstellers selbst entscheiden, ob er dieses
        Angebot annimmt.
        Nachdem all diese Vorschläge innerhalb der Koalition
        keine mehrheitliche Unterstützung fanden, kann ich dem
        Gesetzentwurf nicht zustimmen.
        Der Gesetzentwurf verletzt nämlich auch den Vertrau-
        ensschutz der Bürger in den Staat. Die vollständige Steu-
        erbefreiung für Reinkraftstoffe war in der 15. Legislatur-
        periode bis 2009 gesetzlich festgelegt worden. Durch das
        vorzeitige Einsetzen der Besteuerung ab 2006 wurden
        zahlreiche mittelständischen Unternehmen in den Bank-
        rott getrieben, die im Vertrauen auf eine klare gesetzliche
        Vorgabe investiert hatten. Das können und wollen wir
        nicht hinnehmen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Frauen
        und Mädchen mit Behinderungen wirksam
        vor Gewalt schützen und Hilfsangebote ver-
        bessern
        – Unterrichtung durch die Bundesregierung:
        Lage der Frauen mit Behinderungen in der
        Europäischen Union
        Entschließung des Europäischen Parlaments
        vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit
        Behinderungen in der Europäischen Union
        (2006/2277(INI))
        (Tagesordnungspunkt 12)
        Antje Blumenthal (CDU/CSU): Im März 2007 hat
        Deutschland das Übereinkommen über die Rechte von
        Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen
        unterschrieben. Vor knapp einem Monat – also fast zwei
        Jahre später – ist diese Konvention nun endlich in
        Deutschland in Kraft getreten. Endlich, möchte man sa-
        gen, weil sich darin alle Unterzeichnerstaaten verpflich-
        ten, Menschen mit Behinderungen nicht als Problemfälle
        zu betrachten, sondern sie als gleichberechtigte Träge-
        rinnen und Träger von Rechten wahrzunehmen. Wie je-
        dem Mensch stehen auch ihnen die gleichen Rechte zu.
        Dieses Verständnis ist leider nicht überall selbstverständ-
        lich. Denn Menschen mit Behinderungen wollen kein
        Mitleid, sondern notwendige Unterstützung zur Selbst-
        bestimmung. Sie sind ein Teil unserer gesellschaftlichen
        Vielfalt, sie wollen und können ihren Teil dazu beitra-
        gen.
        Diesem Gedanken wird mit dem UN-Abkommen
        über die Rechte der Menschen mit Behinderung nun
        endlich Rechnung getragen. Die Konvention ist ein Mei-
        lenstein – nicht etwa, weil wir dadurch neue Rechte in
        Deutschland für Menschen mit Behinderungen veran-
        kern. Nein! Vielmehr, weil sich alle Unterzeichner darin
        verpflichten, längst bestehende Rechte und Gesetze an-
        zupassen und sie Menschen mit Behinderungen zugäng-
        lich zu machen! Das ist das Ziel der UN-Konvention und
        genau das tun wir mit dem Antrag, den wir heute hier ab-
        schließend beraten. Wir wollen Gesetze und Rechte
        nicht neu schaffen, sondern bestehende Regelungen so
        gestalten, dass sie auch für Menschen mit Behinderun-
        gen zugänglich sind.
        Einen ersten Schritt dahin haben wir mit dem
        Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung
        von Gewalt gegen Frauen getan. Dieser Aktionsplan be-
        fasst sich unter anderem mit Frauen und Mädchen mit
        Behinderungen. Dieser Fokus wurde gelegt, weil Frauen
        und Mädchen mit Behinderungen mehrfach diskrimi-
        niert sind und häufiger als andere Gewalt erleben müs-
        sen. Schätzungen gehen davon aus, dass nahezu 80 Pro-
        zent der Frauen und Mädchen mit Behinderungen Opfer
        von psychischer oder physischer Gewalt werden.
        23712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, dagegen an-
        zukämpfen. Wir wollen die Rechte der Frauen und Mäd-
        chen mit Behinderungen auch im gewaltbezogenen Kon-
        text umsetzen. Wie Sie dem Antrag entnehmen können,
        machen wir dazu Vorschläge in vier Bereichen: Erstens
        fordern wir die wissenschaftliche Untermauerung durch
        eine Studie, zweitens schlagen wir konkrete Maßnahmen
        zur Prävention von Gewalt und Übergriffen gegen
        Frauen und Mädchen mit Behinderungen vor, drittens
        wollen wir die Weiterbildung für Betreuende intensivie-
        ren und viertens fordern wir bessere situationsgerechte
        Hilfesysteme für die Betroffenen.
        Wir wollen verlässliche Zahlen und Daten! Das ist
        unser erstes Kernanliegen. Das Familienministerium hat
        bei der Uni Bielefeld bereits eine dreijährige Studie in
        Auftrag gegeben. Sie soll uns Ausmaß und Umfang von
        Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen
        aufzeigen. Wichtig ist dabei besonders, wie die Gewalt
        geartet ist, wo die Übergriffe passieren und von wem die
        Gewalt verübt wird. Mit dem vorliegenden Antrag wol-
        len wir erreichen, dass dem Parlament ein Zwischenbe-
        richt dieser wissenschaftlichen Studie vorgelegt wird.
        Wir wollen einen Zwischenbericht, weil wir nicht bis
        2011 auf den Endbericht warten und die Hände in den
        Schoß legen wollen. Wir wollen schon jetzt handeln!
        Daher fordern wir auch die Bundesregierung auf, zu
        prüfen, ob Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Be-
        hinderungen als Arbeitsschwerpunkt für das kommende
        Daphne-Programm der EU angeregt werden kann. So
        könnten wir unsere Politik für Menschen mit Behinde-
        rungen über nationale Grenzen hinaus auf die europäi-
        sche Ebene tragen.
        Unser zweiter Schwerpunkt im Antrag ist die Präven-
        tion. Das Forschungsprojekt „SELBST – Selbstbewusst-
        sein für behinderte Mädchen und Frauen“ des Familien-
        ministeriums ist dafür ein guter, ein erster Schritt. In
        diesem Projekt wurden Qualitätsanforderungen für
        Übungen und Kurse entwickelt, die das Selbstbewusst-
        sein von Frauen und Mädchen mit Behinderungen stär-
        ken sollen. Genau in diese Richtung gehen auch unsere
        Vorschläge zur Prävention: So fordern wir unter ande-
        rem eine zielgruppenspezifische Sexualerziehung.
        Sexualaufklärung und Sexualerziehung müssen auch für
        Menschen mit geistigen Behinderungen selbstverständ-
        lich werden. Nur so können sie im Rahmen ihrer Mög-
        lichkeiten befähigt werden, Übergriffe als solche zu er-
        kennen und sich zur Wehr zu setzen. Das Bewusstsein
        der Mädchen und Frauen muss dafür geschärft werden,
        wo sexuelle Übergriffe beginnen und welche Folgen sie
        haben.
        Es geht bei Sexualaufklärung aber nicht nur um di-
        rekte Gewaltprävention. Vielmehr ist sie die Grundlage
        für sexuelle Selbstbestimmung. Schließlich trägt Sexua-
        lität ganz wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung,
        zur Identitätsfindung und damit auch zur Selbstbe-
        stimmtheit bei. Wir wollen die Frauen und Mädchen mit
        Behinderungen damit unterstützen, ihre Selbstbestim-
        mung so weit als möglich umzusetzen.
        Wenn wir Frauen und Mädchen mit Behinderungen
        unterstützen wollen, müssen wir auch ihr Umfeld stär-
        ken. Dazu gehört in erster Line – und das ist der dritte
        Schwerpunkt unseres Antrages –, Betreuungspersonal zu
        schulen. Wir setzen auf Fortbildung und Wissensvermitt-
        lung für diejenigen, die Menschen mit Behinderung pro-
        fessionell betreuen. Durch Modellprojekte wollen wir
        sie unterstützen, damit sie gerüstet sind, um Präventions-
        maßnahmen zu ergreifen. Sie sollen einen Leitfaden er-
        halten, der ihnen hilft, Gewalt und sexuelle Übergriffe
        gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu er-
        kennen und zu handeln. Sie sollen wissen, welche Thera-
        pien und Maßnahmen sie bei Menschen mit Behinderun-
        gen einleiten können, die Opfer von Gewalt wurden.
        Doch damit nicht genug. Uns reicht es nicht, das di-
        rekte soziale Umfeld der betroffenen Frauen und Mäd-
        chen zu schulen und zu sensibilisieren. Wir möchten die
        gesamte Öffentlichkeit auf dieses Thema aufmerksam
        machen. Ganz im Sinne des UN-Übereinkommens for-
        dern wir, die Bürgerinnen und Bürger durch geeignete
        Kampagnen und Projekte zu sensibilisieren. Das Thema
        muss öffentlich gemacht werden, damit die Öffentlich-
        keit auch handeln kann!
        Trotz der Intention unseres Antrags, trotz des Über-
        einkommens über die Rechte der Menschen mit Behin-
        derungen, trotz des Aktionsplans II der Bundesregierung
        und vielen weiteren Initiativen: Wir werden es wohl nie
        vollständig verhindern können, dass Menschen mit Be-
        hinderungen und besonders die Frauen und Mädchen
        Opfer von Gewalt oder sexuellen Übergriffen werden.
        Wir hoffen, dass es uns heute und in Zukunft mit diesem
        Antrag gelingen wird, die Zahl der Übergriffe zu verrin-
        gern. Deshalb machen wir in unserem Antrag Vor-
        schläge, was verbessert werden soll, um Frauen und
        Mädchen mit Behinderungen zu unterstützen, wenn ih-
        nen bereits Leid zugefügt wurde.
        Darum fordern wir in unserem vierten Themenkom-
        plex, bestehende Hilfen den Bedürfnissen der Betroffe-
        nen anzupassen: Wir wollen, dass der Zugang zu psy-
        chologischer und psychotherapeutischer Behandlung für
        diese besondere Gruppe gesichert wird. Wir wollen, dass
        Frauen und Mädchen mit Behinderungen – auch barrie-
        refrei – entsprechende Angebote wahrnehmen kön-
        nen.Wir wollen, dass alle – ganz gleich ob Rollstuhlfah-
        rerin, Blinde oder Lernschwache – die Wege zur Polizei,
        in eine Beratung oder ins Frauenhaus bewältigen kön-
        nen. Uns geht es – wie dem UN-Übereinkommen – da-
        rum, die Handlungsspielräume für Frauen und Mädchen
        mit Behinderungen auf ihrem Weg zur mehr Selbstbe-
        stimmtheit und Teilhabe so groß wie möglich zu gestal-
        ten. Ich denke, dass wir mit dem vorliegenden Antrag ei-
        nen Teil dazu beitragen können.
        Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Bei mei-
        nen Besuchen in Einrichtungen, in denen behinderte
        Menschen leben, wird mir von Pflegekräften und Ange-
        hörigen immer wieder gesagt: Gewalt gegen Frauen und
        Mädchen mit Behinderungen ist ein enormes Problem.
        Das Thema ist komplex, die Problemlagen sind viel-
        schichtig, und vor allem spricht man nicht darüber. Das
        Thema ist tabuisiert. Es muss aber dringend in die Öffent-
        lichkeit und umfassend diskutiert werden, wie Gewalt
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23713
        (A) (C)
        (B) (D)
        gegen behinderte Frauen und Mädchen verhindert und
        bekämpft werden kann – im Interesse und für das Wohl-
        ergehen der betroffenen Frauen und Mädchen.
        Gewaltfreiheit ist einer der zentralsten Grundwerte
        unserer Gesellschaft. Die Ausübung von Gewalt verletzt
        Menschen in ihren gesetzlich verbürgten Grundrechten
        und beschränkt sie in ihrer Entfaltung und Lebensgestal-
        tung. Alle Studien auf diesem Gebiet zeigen, dass Frauen
        quer durch alle Altersgruppen, sozialen Schichten und
        ethnischen Zugehörigkeiten in einem hohen Ausmaß
        von Gewalt betroffen sind. Mit dem ersten Aktionsplan
        zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen 1999 wurde
        in Deutschland ein Gesamtkonzept entwickelt, dessen
        Erfolge sich sehen lassen können, sei es das Gewalt-
        schutzgesetz, Projekte gegen häusliche Gewalt oder das
        Gesetz zur gewaltfreien Erziehung. Die Gruppe der
        behinderten Frauen und Mädchen hat hier aber noch
        nicht genügend Beachtung gefunden.
        Die Datenlage ist schwierig. Es gibt noch keine reprä-
        sentativen Daten oder wissenschaftlichen Untersuchun-
        gen zum Thema Gewalt gegen behinderte Frauen und
        Mädchen. Doch man geht davon aus, dass 80 Prozent der
        Frauen mit Behinderungen zu Opfern von physischer
        oder psychischer Gewalt werden. Sie sind oft von Mehr-
        fachdiskriminierungen betroffen. Sie sind in höherem
        Maße als andere Frauen der Gefahr sexueller Gewalt
        ausgesetzt. Und Gewalt kommt bei behinderten Frauen
        nicht nur häufig vor, sondern ist oft selbst die Ursache
        für die Behinderung. Die Täter und manchmal auch Tä-
        terinnen kommen meistens aus dem sozialen Umfeld der
        behinderten Frauen und Mädchen. Die Übergriffe finden
        im häuslichen Bereich und in Einrichtungen statt oder
        auf Fahrten zu Schule oder Werkstatt. Dabei wird die
        vorhandene Abhängigkeitssituation ausgenutzt.
        Geistig behinderte Frauen und Mädchen sind oft un-
        genügend sexuell aufgeklärt und wissen über sexuelle
        Gewalt nicht Bescheid. Wenn es zu Übergriffen kommt,
        können sie sich oft nicht verständlich mitteilen, oder das
        Betreuungspersonal kann die Mitteilung nicht richtig
        einschätzen. Dies stellt die Bekämpfung dieser Gewalt
        vor vielschichtige Probleme, und man muss hier ganz
        anders ansetzen als bei Fällen von Gewalt gegen nicht-
        behinderte Frauen und Mädchen.
        Die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen
        mit Behinderungen wird auf nationaler und internationa-
        ler Ebene verfolgt. Neben der auf internationaler Ebene
        im Jahr 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechts-
        konvention sind die EU-Ebene, die Europaratsebene sowie
        die nationale Ebene zu nennen. Um in Deutschland die
        Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention voran-
        zutreiben, haben wir diesen Antrag auf den Weg gebracht.
        Wir sind der Auffassung, dass die Benachteiligung und
        Mehrfachdiskriminierungen von geistig und körperlich
        beeinträchtigten Frauen und Mädchen viel stärker als
        bislang in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden
        müssen. Die UN-Konvention über die Rechte von Men-
        schen mit Behinderungen hat das Ziel, die Chancengleich-
        heit der Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten,
        ihre Grundrechte zu garantieren und ihnen umfassende
        Teilhabe in der Gesellschaft zu fördern. In Art. 6 der
        UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Be-
        hinderungen heißt es:
        1. Die Vertragsstaaten erkennen an, dass behinderte
        Frauen und Mädchen mehrfacher Diskriminierung
        ausgesetzt sind und ergreifen in dieser Hinsicht
        Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie alle Men-
        schenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt
        und gleichberechtigt genießen können.
        2. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maß-
        nahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der
        Förderung und der Stärkung der Autonomie der
        Frauen und Mädchen, damit gewährleistet wird,
        dass sie die in diesem Übereinkommen genannten
        Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und
        genießen können.
        Deutschland hat die Konvention ratifiziert und verpflich-
        tet sich damit zur Umsetzung. Frauen mit Behinderung
        nehmen so im zweiten Aktionsplan der Bundesregierung
        zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erstmals grö-
        ßeren Raum ein. Im Rahmen dieses zweiten Aktionsplans
        wird es eine Untersuchung der Bundesregierung zu Aus-
        maß und Umfang der Gewalt gegen Frauen mit Behinde-
        rungen geben. Die Studie soll über drei Jahre hinweg den
        häuslichen, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie
        die ambulanten und stationären Einrichtungen und Dienste
        der Eingliederungshilfe untersuchen. Diese Untersuchung
        wird dringend gebraucht; denn es wird deutlich, dass
        sich Erkenntnisse aus dem Bereich der häuslichen Gewalt
        gegen nichtbehinderte Frauen nicht einfach übertragen
        lassen. Eine Verbesserung der Datenlage ist dringend
        notwendig. Auch an zielgruppenspezifischem Aufklärungs-
        material mangelt es. Gewalt gegen behinderte Frauen ist
        nicht altersspezifisch. Sie kann sich bis ins hohe Alter
        fortsetzen oder gar erst im höheren Lebensalter beginnen.
        Die Untersuchung wird auch hier nützlich sein; denn bei
        der Entwicklung von Maßnahmen gegen Gewalt muss
        die Altersverteilung der Betroffenen natürlich erkannt
        und berücksichtigt werden.
        Das Schlüsselwort bei der Bekämpfung von Gewalt
        heißt Prävention. Unser Ziel ist es, die Betroffenen im Vor-
        feld zu stärken. Mit dem entsprechenden Selbstbewusst-
        sein können behinderte Frauen und Mädchen Grenzüber-
        schreitungen und Übergriffen rechtzeitig entgegentreten.
        Bei der Präventionsarbeit sehr wichtig ist ein behinderten-
        gerechter Zugang zu Frauenberatungsstellen und Frauen-
        häusern. Alle Barrieren, die das Aufsuchen von Gewalt-
        beratungsstellen erschweren, müssen aus dem Weg
        geräumt werden. Damit ist nicht nur der uneinge-
        schränkte, hindernisfreie Zugang zu Beratungsstellen
        gemeint, sondern auch die Überwindung von sprachli-
        chen Missverständnissen, die im Rahmen der Beratung
        entstehen können. Ich denke hierbei an spezielle Beglei-
        terinnen und Begleiter und Ärztinnen und Ärzte, die in
        der Lage sind, die Kommunikation zwischen geistig
        behinderten Menschen und dem Beratungspersonal zu
        vermitteln.
        Die Fortbildung des Betreuungspersonals ist von ent-
        scheidender Bedeutung. Wir fordern die Bundesregierung
        daher auf, Projekte und Modellversuche zu fördern, die
        die Fortbildung des Betreuungs- und Pflegepersonals
        23714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        und der Ärzteschaft, die im Bereich Gewalt gegen behin-
        derte Frauen und Mädchen arbeiten, zum Ziel haben.
        Wir wollen weiterhin, dass die Öffentlichkeit mithilfe
        von Projekten und Kampagnen noch intensiver mit dem
        Thema „Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behin-
        derungen“ vertraut gemacht und dafür sensibilisiert
        wird. Wir wollen Menschen ermutigen, sich nicht mit
        Gewalt abzufinden, sondern ihr aktiv entgegenzutreten
        und sie wenn möglich zu verhindern. Und wir wollen
        Frauen, behinderte und nicht behinderte, darin stärken,
        ihre Rechte wahrzunehmen und ein Leben ohne Gewalt
        und Angst zu führen.
        Ina Lenke (FDP): Die Koalition stellt zu Recht in ih-
        rem Antrag fest, dass auch in Deutschland noch erhebli-
        che Defizite in der Analyse der Bekämpfung von Gewalt
        gegen Frauen mit Behinderung bestehen. Das wurde be-
        reits in einer Entschließung des Europäischen Parla-
        ments von April 2007 festgestellt. Wenn Deutschland
        bereits im Dezember 2006 unter anderem das Überein-
        kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
        Menschen mit Behinderung ratifiziert hat, wusste die
        Große Koalition doch, dass sie eine Verpflichtung einge-
        gangen ist, die mit Leben hätte erfüllt werden müssen.
        Zweieinhalb Jahre sind bereits vergangen. Nun legen
        Sie von SPD und CDU/CSU dem Plenum diesen Antrag
        mit vielen Prüfaufträgen vor. Wenn es für Sie eine Ver-
        pflichtung ist und war, dass das Thema „Frauen und
        Mädchen mit Behinderung verstärkt in den Fokus der
        Öffentlichkeit gerückt werden“ muss – das ist ein Zitat
        aus ihrem Antrag –, kommt die Initiative reichlich spät.
        Der Antrag zeigt, dass Sie in dieser Legislaturperiode
        kein Konzept erarbeitet haben. Dass jetzt die Fraktionen
        von CDU/CSU und SPD ihre eigene Bundesregierung
        auffordern müssen, nun aktiv zu werden, verwundert.
        Der Antrag benennt zwar viele Probleme, aber kaum
        Konkretes zur Verbesserung der Situation von Frauen
        und Mädchen mit Behinderung.
        Zum Ende der Legislaturperiode die Bundesregierung
        aufzufordern, eine geplante Studie schnellstmöglich in
        Auftrag zu geben, bei der Entwicklung von entsprechen-
        den Maßnahmen die Altersverteilung in den Blick zu
        nehmen und zu berücksichtigen, Aufklärungsmaterial zu
        erarbeiten, öffentliche Kampagnen aufzulegen und zu
        prüfen, sich einzusetzen, ist an Substanz zu wenig. Was
        wollen Sie in dieser Legislaturperiode noch erledigen?
        Zum Beispiel sind die im SGB IX neu eingeführten
        Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Mäd-
        chen und Frauen mit Behinderungen im Rehabilitations-
        sport bis heute noch nicht in die Praxis umgesetzt wor-
        den. Das ist ein Versäumnis.
        Die FDP-Bundestagsfraktion hat im letzten Jahr in
        einem Entschließungsantrag, Bundestagsdrucksache
        16/11243, die Bundesregierung aufgefordert, die deut-
        sche Übersetzung der Konventionen unter Mitarbeit der
        Menschen mit Behinderungen zu überarbeiten und die
        bereits angemahnten Übersetzungsfehler zu korrigieren.
        Mein Kollege Dr. Erwin Lotter hat bereits in der damali-
        gen Debatte zu Recht noch einmal deutlich gemacht,
        dass die Experten in der damaligen Ausschussanhörung
        eine gänzlich andere Realität der Hilfe- und Unterstüt-
        zungssysteme beschrieben, als die Bundesregierung das
        in ihrer Denkschrift zur Konvention dargestellt hatte. Es
        wird deutlich, mit welcher Verkennung der Situation und
        mit welch zurückhaltendem Handeln die Große Koali-
        tion dem Thema begegnet. Die Bundesregierung wird
        nach der Verabschiedung des Antrages also wieder eine
        Studie in Auftrag geben und Berichte erstellen.
        In der Sache sind wir uns einig, dass wir Frauen und
        Mädchen mit Behinderungen vor Gewalt und vor sexuel-
        len Übergriffe schützen müssen, damit sie nicht Opfer
        von Gewalt werden. Dass nicht die Menschen mit Be-
        hinderungen sich der Lebenswelt von Nichtbehinderten
        anpassen müssen, sondern die Lebenswelt so gestaltet
        werden muss, dass alle gleichberechtigt teilhaben kön-
        nen, ist die Position der Liberalen. In der kommenden
        Legislaturperiode sollten also nicht nur Prüfaufträge ver-
        geben werden, sondern die gesellschaftspolitischen und
        gesetzlichen Rahmenbedingungen real verändert wer-
        den.
        Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Heute war Girls’ Day.
        Eine tolle Initiative, wenn es um ernstgemeinte Verände-
        rungen statt um symbolische Aktionen ginge, wo sich
        Politikerinnen und Politiker kurzzeitig mit jungen Mäd-
        chen schmücken. Bei der nach Postleitzahlen angebote-
        nen Aktionssuche auf der Homepage www.girls-day.de
        wird man/frau staunen, wie viele Aktionen es gab. Wehe
        aber, man setzt bei der Aktionssuche noch einen Haken
        beim Kästchen „Nur rollstuhlgeeignete Veranstaltun-
        gen“. Die Angebote schmelzen schneller dahin als das
        Eis in der Sonne. Passend dazu die zeitliche Einordnung
        des Tagesordnungspunktes „Frauen und Mädchen mit
        Behinderung wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsan-
        gebote verbessern“ am späten Abend, sodass hier die
        Reden nur zu Protokoll gegeben werden.
        Dass Frauen mit Behinderungen nachweisbar in vie-
        len Lebensbereichen einer Mehrfachdiskriminierung
        ausgesetzt sind, wissen wir spätestens seit dem im No-
        vember 2005 vom Familienministerium vorgelegten
        Gender-Datenreport. Das Tempo der Koalition, mit ge-
        eigneten Maßnahmen für Veränderung zu sorgen, ist
        „atemberaubend“. Nicht zu vergleichen mit dem Tempo
        von Maßnahmen zur Rettung von Banken. Immerhin:
        Die Entschließung des Europäischen Parlaments wurde
        am 10. Juli 2007 an die Ausschüsse des Bundestages
        überwiesen, und am 12. Februar dieses Jahres diskutier-
        ten wir in erster Lesung den Antrag der Koalition.
        Nicht wiederholen möchte ich meine positiven und
        kritischen Anmerkungen zum Antrag der Koalition in
        der Plenarrede vom 12. Februar. Insofern sind die dort
        benannten Forderungen der Linken weiterhin aktuell,
        und ich hoffe, dass Sie hier noch vor der Bundestags-
        wahl aktiv werden.
        Wie sieht es aber im „wirklichen Leben“ aus? Dazu
        ein Beispiel, über welches heute die Internetplattform
        www.kobinet-nachrichten.org unter der Überschrift
        „Aus Kostengründen ins Heim?“ berichtete:
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23715
        (A) (C)
        (B) (D)
        In einem Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Hamburg
        (Az. S 61 SO 328/08) geht es darum, ob eine junge, pfle-
        gebedürftige, aber immer selbstständig lebende Frau aus
        Kostengründen ins Heim gezwungen werden darf. Da-
        mit spielt erstmals in einem Rechtsstreit das Überein-
        kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
        Menschen mit Behinderungen eine wichtige Rolle. In
        dem Verfahren geht es um die persönliche Assistenz ei-
        ner jungen Frau, die die Freie und Hansestadt Hamburg
        nicht mehr bezahlen will. Sie hat deswegen verfügt, dass
        statt der erforderlichen Gelder für die persönliche Assis-
        tenz nur noch die Kosten für einen Heimplatz gezahlt
        werden sollen. Die Frau soll also nach dem Willen der
        schwarz-grün regierten Stadt gegen ihren Willen in ein
        Heim abgeschoben werden. Die Rechtsgrundlage dafür
        soll § 13 SGB XII sein, der den prinzipiellen Vorrang der
        ambulanten Versorgung für den Fall aushebelt, dass die
        stationäre Versorgung „zumutbar“ sei und die ambulante
        Versorgung erhebliche Mehrkosten verursacht.
        Nach Auffassung der jungen Frau stellt diese Be-
        stimmung einen Verstoß gegen Art. 19 des Gesetzes zu
        dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
        13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit
        Behinderungen dar, der regelt, dass Menschen mit Be-
        hinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben zu
        entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht ver-
        pflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.
        Der Senat von Hamburg vertritt die Auffassung, dass
        das Menschenrechtsübereinkommen auch nach seiner
        Umsetzung ins deutsche Recht die Auslegung von So-
        zialrechtsnormen nicht beeinflussen könnte. Es handele
        sich ebenfalls nur um einfaches Gesetzesrecht und nicht
        um höherrangiges Recht. Eine andere Sichtweise sei
        schon aus Kostengründen abzulehnen. Der Unterschied
        zwischen Menschenrecht und „Wohlfahrt“ wird schlicht
        ignoriert.
        Hier, so auch meine Meinung, zeigt die Hansestadt
        eine bestürzende Ignoranz, was die Menschenrechte von
        Behinderten angeht. Die Einweisung dieser Frau gegen
        ihren Willen in ein Heim – und es handelt sich um kei-
        nen Einzelfall – ist vergleichbar mit einer freiheitsentzie-
        henden Maßnahme, weil sie das Selbstbestimmungs-
        recht der Betroffenen dramatisch einschränkt. Hier
        rächen sich auch die unsägliche „Denkschrift“ der Bun-
        desregierung in ihrem Gesetzentwurf zur Ratifizierung
        der Konvention, die mangelhafte Übersetzung und das
        fehlende Umsetzungsgesetz. Es reicht eben nicht, wenn
        die Koalition im vorliegenden Antrag auf die UN-Behin-
        dertenrechtskonvention, insbesondere auf Art. 6 „Frauen
        mit Behinderungen“ verweist. Dem Schulterklopfen,
        liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
        SPD, müssen Taten zur Verbesserung der Lebenssitua-
        tion von Frauen und Mädchen – mit und ohne Behinde-
        rungen – folgen. Die Linke wird Ihrem Antrag zustim-
        men, und Sie können gewiss sein, sie wird sich auch für
        seine zügige Umsetzung engagieren.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): In Zeiten des Wahlkampfes kommen zuwei-
        len Themen auf die Tagesordnung, die ansonsten nur
        von der Opposition getragen werden. So freut es mich
        zum einen, dass die Bundesregierung sich aktuell einer
        Gruppe von Menschen annimmt, die Mehrfachdiskrimi-
        nierung ausgesetzt ist und trotzdem viel zu wenig
        Unterstützung erhält: Mädchen und Frauen mit Behinde-
        rungen werden in unserer Gesellschaft strukturell diskri-
        miniert und sind einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, Opfer
        von sexualisierter Gewalt zu werden. Zum anderen be-
        fürchte ich, dass dieses Engagement so schnell gehen
        wird, wie es auch gekommen ist. Seit 2007 werden die
        Gelder für eine Studie zum Ausmaß und Umfang von
        Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen
        in der Haushaltsplanung vorgesehen. Diese Studie wird
        dringend gebraucht, denn die Wissenslücken auf diesem
        Gebiet sind groß. Ich frage mich nur, wie es sein kann,
        dass diese erst jetzt in Auftrag gegeben werden soll –
        noch schnell vor der Wahl?
        Die Antwort auf unsere Große Anfrage 16/9283 zeigt
        die großen Wissens- und Handlungslücken der Bundes-
        regierung, fünf Jahre nach Einführung des Behinderten-
        gleichstellungsgesetzes, auf. Im Abschnitt über die Ge-
        walterfahrungen von Frauen mit Behinderung kann die
        Bundesregierung nur antworten, dass sie keine repräsen-
        tativen Daten hat. Doch obwohl keine wissenschaftli-
        chen Untersuchungen vorliegen und wir dies nicht erst
        seit der Beantwortung der Anfrage wissen, hat die Bun-
        desregierung es bisher nicht geschafft, diese in Auftrag
        zu geben. Wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen hier
        gerne unterstützen, damit Sie bei der Themensetzung für
        die nun endlich kommende Studie auch nichts vergessen.
        Zwei Themenbereiche will ich kurz hervorheben:
        Unsere Große Anfrage verdeutlicht, dass die Bundes-
        regierung keine Erkenntnisse darüber hat, ob und wie
        häufig von der Justiz auch heute noch bei sexualisierter
        Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen auf den
        strafmildernden Paragrafen 179 StGB („Sexueller Miss-
        brauch widerstandsunfähiger Personen“) zugegriffen
        wird. Die Anwendungspraxis der §§ 177 und 179 StGB
        muss erhoben werden, denn es darf nicht sein, dass hier
        ein Unterschied zwischen Frauen mit und ohne Behinde-
        rung gemacht wird. Jede Person hat den Anspruch auf
        körperliche Unversehrtheit. Eine Widerstandsunfähig-
        keit ist allein aus dem Umstand der sogenannten geisti-
        gen Behinderung nicht abzuleiten. Die Bundesregierung
        darf nicht zulassen, dass der sexuelle Missbrauch behin-
        derter Menschen strafmildernd beurteilt wird.
        Wir wollen auch, dass bei der Erstellung der Studie
        auch der Bereich der Prävention besondere Beachtung
        erhält. Wir wissen leider, dass die initiierten Projekte
        nicht zur Anwendung kommen. Frauen und Mädchen
        mit Behinderungen befinden sich in einer starken Ab-
        hängigkeit zu anderen Personen, werden von der Gesell-
        schaft diskriminiert und stigmatisiert. Prävention sollte
        ihnen die Chance geben, neue Handlungsmöglichkeiten
        zu erfahren und diese in ihren Alltag einbringen zu kön-
        nen.
        Das halbherzige Engagement der Bundesregierung
        zeigt sich am vorgelegten Antrag. Obwohl es dem An-
        trag an einer klaren Linie fehlt, wollen wir ihn unterstüt-
        zen, damit hier endlich etwas passiert. Es muss aber end-
        23716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        lich mit Nachdruck gearbeitet werden. Nehmen Sie die
        Anregungen aus unserer Großen Anfrage auf und ma-
        chen Sie was draus!
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts Potenziale der Tourismusbranche in
        der Entwicklungszusammenarbeit durch Auf-
        gabenbündelung im Bundesministerium für
        Wirtschaft und Technologie ausschöpfen (Ta-
        gesordnungspunkt 15)
        Jürgen Klimke (CDU/CSU): Ich kann gut verstehen,
        dass Sie über den Antrag der FDP-Bundestagsfraktion
        mit dem etwas sperrigen Titel „Potenziale der Touris-
        musbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch
        Aufgabenbündelung im Bundesministerium für Wirt-
        schaft und Technologie ausschöpfen“ nicht unbedingt re-
        den wollten. Er ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die
        FDP. Gestatten Sie mir, dass ich kurz auf den Sinn und
        Unsinn dieses Antrags und vor allem auf seine systema-
        tischen Mängel eingehe.
        Zunächst finde ich es schon bemerkenswert, wenn die
        FDP-Bundestagsfraktion ein halbes Jahr vor der Bundes-
        tagswahl einen Antrag stellt, in dem sie die Umstruktu-
        rierung von Bundesministerien mit all ihren Konsequen-
        zen fordert. Selbst wenn man den Antrag inhaltlich für
        unterstützenswert halten würde, wäre eine derartige Re-
        form zum jetzigen Zeitpunkt wenig zielführend, weil
        Änderungen gegebenenfalls von einer neuen Bundesre-
        gierung sofort wieder auf den Prüfstand gestellt würden.
        Ich bin der Auffassung, dass grundsätzliche Fragen der
        Gliederung der Ministerien zu Beginn einer Legislatur-
        periode angegangen werden sollten.
        Der zweite Punkt, der mich an der Ernsthaftigkeit die-
        ses Antrages zweifeln lässt, betrifft das Wörtchen „Ent-
        wicklungszusammenarbeit“. Im Antrag der FDP wird
        die Bundesregierung aufgefordert – ich zitiere –: „durch
        die Konzentration der touristischen Aufgaben im Bun-
        desministerium für Wirtschaft und Technologie die
        Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungs-
        zusammenarbeit auszuschöpfen.“ Warum sollen denn
        die Potenziale der Tourismusbranche nicht durch eine
        generelle Konzentration der touristischen Aufgaben im
        BMWi ausgeschöpft werden? Also zum Beispiel auch
        aus der Umweltpolitik, Verkehrspolitik, Außenpolitik,
        Kulturpolitik, Familienpolitik und Bildungspolitik – um
        nur einige Beispiele zu nennen. Eine solche Änderung
        wäre dann ein wirklicher Systemwechsel, und darüber
        könnte man durchaus kontrovers diskutieren. Die Über-
        führung allein des Aspektes „Tourismus in Entwick-
        lungsländern“ ins Wirtschaftsministerium ist wenig
        sinnvoll und lässt systematisches Denken vermissen.
        Könnte die Fokussierung auf die Entwicklungspolitik
        – polemisch zugespitzt – vielleicht daran liegen, dass die
        FDP kein Interesse an einem starken Ministerium für
        wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat?
        Dass die FDP lieber die entsprechenden Kompetenzen
        beim Auswärtigen Amt und im Wirtschaftsministerium
        stärken will? Beides Ressorts, die die FDP nach der
        Wahl zu besetzen hofft. Ich sehe in der Konzentration
        des Antrags auf die Entwicklungspolitik jedenfalls nur
        Populismus und Taktieren. Schließlich ist jedem Ent-
        wicklungspolitiker bewusst, dass die spezifische Kennt-
        nis der Situation vor Ort in den Partnerländern sowie die
        Fachkompetenz zu den Ansätzen einer nachhaltigen Ent-
        wicklungspolitik nun einmal im Bundeswirtschaftsmi-
        nisterium höchstens ansatzweise vorhanden sind. Mehr
        Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit – dafür
        trete ich als Entwicklungspolitiker sehr gern ein. Ich bin
        aber auch der Meinung, dass die deutsche Entwicklungs-
        zusammenarbeit hier auf einem guten Weg ist.
        Ich vertrete weiterhin die Auffassung, dass die Förde-
        rung und Unterstützung des Aufbaus von touristischen
        Strukturen in Entwicklungsländern richtig und wichtig
        ist. Wir haben in diesem Bereich durchaus noch Nach-
        holbedarf – aber eben auch Fortschritte erreicht. Ich
        möchte dabei auf unseren Antrag „Zukunftstrends und
        Qualitätsanforderungen im internationalen Ferntouris-
        mus“ verweisen, mit dem wir beschlossen haben, dass
        der Tourismus in Entwicklungsländern auf Wunsch der
        Partner zu einem Schwerpunkt im Rahmen der nachhal-
        tigen Wirtschaftsentwicklung erklärt werden kann. Ich
        würde mich deshalb freuen, wenn diese Ansicht im
        BMZ noch stärker verinnerlicht würde. So sollte zum
        Beispiel ein Vertreter des Entwicklungsministeriums zu-
        künftig an den Gesprächen des Tourismusbeauftragten
        zur Ressortkoordinierung teilnehmen. Das würde die
        Wahrnehmung untermauern, dass Tourismus durchaus
        Wachstumspotenziale in Entwicklungsländern generie-
        ren kann.
        Lassen Sie mich jedoch zurück zum grundsätzlichen
        Thema kommen: Wäre es nicht sinnvoll, wenn wir alle
        tourismusrelevanten Aspekte aus allen Ministerien im
        Bundeswirtschaftsministerium bündeln würden? Der
        Gedanke hat durchaus Charme: Bisher spielt Tourismus
        fast überall eine Rolle, aber eben nicht immer eine be-
        sonders starke. Eine Konzentration aller Kräfte in einem
        Ministerium könnte helfen, der Bedeutung des Touris-
        mus gerechter zu werden und die Interessen des Touris-
        mus stärker zu vertreten. Allerdings muss dann auch si-
        chergestellt werden, dass in den einzelnen Ministerien
        touristische Aspekte auch weiterhin „mitgedacht“ wer-
        den. Das Thema ist grundsätzlich eine Überlegung wert,
        aber nicht so einfach, wie es sich die FDP hier macht.
        Ich möchte den Gedanken hinter dem Antrag der FDP
        gar nicht beiseite schieben. Es geht ihr ja offensichtlich
        um eine Stärkung des Tourismus auf der Regierungs-
        ebene. Lassen Sie mich dazu aus meiner Sicht zunächst
        die Ist-Situation analysieren: Seit dieser Legislatur-
        periode haben wir erstmals einen Beauftragten der Bun-
        desregierung für Tourismus, bei dem die Fäden der Tou-
        rismuspolitik zusammenlaufen. Ich bin der festen
        Überzeugung, und da wird mir auch Ernst Burgbacher
        zustimmen, dass wir diesen Beauftragten für Tourismus
        sowohl in seiner Funktion als auch in der Person von
        Ernst Hinsken zukünftig für unsere Tourismuspolitik
        nicht mehr missen möchten.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23717
        (A) (C)
        (B) (D)
        Durch den Beauftragten für Tourismus ist die Touris-
        muspolitik der Bundesregierung sehr viel sichtbarer ge-
        worden. Wir haben für die Anliegen und Rahmenbedin-
        gungen der Branche deutlich mehr Öffentlichkeit und
        Aufmerksamkeit erfahren. Natürlich wünsche auch ich
        mir manchmal, dass die Erkenntnisse, die wir gemeinsam
        im Tourismusausschuss gewonnen haben, sofort eins zu
        eins von der Bundesregierung übernommen und in Poli-
        tik umgesetzt werden. Ich gestehe selbstkritisch ein, dass
        wir nicht alle ambitionierten Ziele erreichen und durch-
        setzen konnten. Aber Politik ist das Bohren dicker Bret-
        ter, und in der Tourismuspolitik sind die Bretter viel-
        leicht besonders dick – oder die Bohrer etwas stumpf.
        Vor diesem Hintergrund bewerte ich die Initiativen
        unseres Ausschusses zu wichtigen Tourismusthemen wie
        Geschäftsreisen, barrierefreiem Tourismus, Kreuzfahrt-
        tourismus, Fahrradtourismus usw. und deren Umsetzung
        durch die Bundesregierung als wichtige Unterstützung
        für die Tourismusbranche und vor allem das Reiseland
        Deutschland. Zudem war die Erstellung der tourismus-
        politischen Leitlinien ein Meilenstein für unseren Poli-
        tikbereich. Denn erstmals wurde eine verbindliche Rich-
        tungsvorgabe zum Tourismus vom Bundeskabinett
        beraten und beschlossen. Das ist unser Grundfahrplan,
        den man gemeinsam ausgestalten und mit Leben erfüllen
        kann.
        Ich weiß sehr wohl um die Kritik daran: Manch eine
        Branche fühlt sich nicht ausreichend einbezogen, manch
        eine Formulierung erscheint als zu schwammig. Aber es
        kann auch kein Ziel von Leitlinien sein, die Branchen
        durchzudeklinieren und deren Anliegen und Wünsche
        nachzubeten. Es geht hier doch vielmehr um grundsätzli-
        che Richtungsvorgaben. Wenn es also an der einen oder
        anderen Stelle Interpretationsspielräume gibt, dann las-
        sen sie uns diese Spielräume nutzen, indem wir damit
        unsere Anliegen und weitergehenden Ideen begründen
        und unterstützen!
        Zum Abschluss möchte ich gern festhalten, was wir
        von der Union uns für den Bereich der Tourismuspolitik
        in der Bundesregierung für die Zukunft wünschen.
        Erstens. Wir treten für eine Stärkung und Weiterent-
        wicklung des Tourismusbeauftragten der Bundesregie-
        rung innerhalb des Bundeswirtschaftsministeriums ein.
        Wir wollen, dass der Beauftragte für Tourismus institu-
        tionell stärker verankert wird und mehr Möglichkeiten
        zur Einflussnahme, aber auch zur öffentlichkeitswirksa-
        men Arbeit für die Tourismusbranche erhält.
        Zweitens. Wir wollen die Tourismuspolitik im Wirt-
        schaftsministerium personell verstärkt wissen. Eine
        Möglichkeit wäre eine deutliche personelle Aufstockung
        der tourismusrelevanten Referate oder aber die Schaf-
        fung eines neuen Referats.
        Drittens. Wir wünschen uns eine Stärkung der Koor-
        dinierungsfunktion des Tourismusbeauftragten gegen-
        über den anderen Ressorts. Wir möchten, dass der Tou-
        rismusbeauftragte in die Lage versetzt wird, die
        Tourismusinteressen in den verschiedenen Politikberei-
        chen auch gegenüber den anderen Ministerien mit größe-
        rem Nachdruck zu vertreten. Er sollte die Federführung
        für alle Bereiche der Tourismuspolitik haben.
        Viertens. Last but not least treten wir für eine signifi-
        kante Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für
        Tourismus zur touristischen Vermarktung des Reiselan-
        des Deutschland ein. Das tun wir auch deshalb, weil wir
        der Auffassung sind, dass die Schönheit, die Qualität
        und das gute Preis-Leistungs-Verhältnis unseres Landes
        im Ausland – trotz der unbestrittenen Erfolge – noch
        nicht bekannt genug sind.
        Wenn wir diese Ziele gemeinsam umsetzen, bedeutet
        das einen Quantensprung in der Tourismuspolitik auf
        Bundesebene. Es versetzt uns in die Lage, die Vorgaben
        der tourismuspolitischen Leitlinien mit Leben zu erfül-
        len und die Interessen der Menschen, die in Deutschland
        vom Tourismus leben, nachhaltig und kraftvoll zu unter-
        stützen.
        Dr. Reinhold Hemker (SPD): Ich freue mich immer,
        wenn eine Fraktion im Deutschen Bundestag ein wichti-
        ges Thema aufgreift. Dies trifft besonders dann zu, wenn
        die Zielsetzung des Antrages darauf ausgerichtet ist, die
        Situation von Benachteiligten und sozial Schwächeren in
        Entwicklungsländern zu verbessern. Das gilt natürlich
        auch für den Antrag der FDP „Potenziale der Tourismus-
        branche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Auf-
        gabenbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft
        und Technologie ausschöpfen“ (Bundestagsdrucksache
        16/8176). Allerdings sind viele Punkte im Analyseteil
        des FDP-Antrages bereits vor über einem Jahr hier im
        Bundestag bei der Behandlung des Koalitionsantrages
        „Zukunftstrends und Qualitätsanforderungen im interna-
        tionalen Ferntourismus“ (Bundestagsdrucksache 16/4603)
        diskutiert und dann auch verabschiedet worden.
        Bedauerlich ist, dass mit den berechtigten Anliegen
        und der damit verbundenen weitgehend treffenden Ana-
        lyse der Potenziale des Tourismus im vorliegenden An-
        trag der FDP eine grundlegend verfehlte Forderung
        verbunden wurde. Denn die meisten im Rahmen der Ent-
        wicklungszusammenarbeit zu fördernden Projekte liegen
        in der Verantwortlichkeit des Bundesministeriums für
        wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und
        der verschiedenen staatlichen oder nichtstaatlichen Aus-
        führungsorganisationen.
        Wenn es um umweltbezogene Maßnahmen – etwa zum
        Schutz der Biosphäre – geht, sind das Ministerium für
        Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und
        das Umweltministerium zuständig. Auch in diesem Be-
        reich sind in den letzten Jahren viele gute Projekte ver-
        wirklicht worden, die für die Weiterentwicklung des
        Tourismus in den Entwicklungsländern förderlich waren
        und sind.
        Es wäre völlig verfehlt, alle Aufgaben, deren Schwer-
        punkte in den verschiedenen Ministerien weiterentwi-
        ckelt worden sind, ausschließlich im Ministerium für
        Wirtschaft und Technologie zu konzentrieren, wie es die
        Kolleginnen und Kollegen der FDP im vorliegenden An-
        trag zentral fordern. Es käme ja auch niemand auf die
        Idee, alle Sicherheitsfragen, die in den verschiedenen
        23718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        Bereichen unserer Gesellschaft eine Rolle spielen, aus-
        schließlich im Innenministerium zu konzentrieren.
        Unserem Tourismusbeauftragten, dem Kollegen Ernst
        Hinsken, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
        kommt bei der Umsetzung der bereits Anfang 2008 in
        dem von mir bereits erwähnten Koalitionsantrag verab-
        schiedeten – und auch in den Auschüssen verhandelten –
        Beschlüsse eine wichtige Koordinationsfunktion zu.
        In der damaligen Debatte und in den Ausschussbera-
        tungen ist deutlich gemacht worden, dass für die Zukunft
        noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Insbesondere
        für die Entwicklungsländer und die Unterstützung von
        Vorhaben im Bereich Tourismus müssen noch mehr Mit-
        tel aufgebracht werden. Es kann angeknüpft werden an
        den positiven Erfahrungen in verschiedenen Projekten,
        insbesondere in den Bereichen, in denen die Fachleute
        des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) schon gute
        Erfahrungen gesammelt haben.
        Wir haben es bereits in der Debatte im Ausschuss ge-
        fordert, und ich wiederhole es: Für eine Weiterentwick-
        lung unserer Tourismuspolitik in diesem Bereich ist nicht
        eine Übertragung der Aufgaben des BMZ zum BMWi
        nötig. Es geht vielmehr um die Stärkung der Rolle des
        Tourismusbeauftragten und des Tourismusreferates im
        BMWi. Dabei sollten andere Ressorts, in denen es Tou-
        rismusprojekte gibt, ihre unterstützende Funktion weiter
        ausbauen. Nur so kann kohärente Tourismuspolitik unter
        Beteiligung aller beteiligten Ressorts gelingen.
        Ein Umdenken der Bundesregierung ist daher nicht
        nötig. Vielmehr geht es darum, den eingeschlagenen
        Weg parlamentarisch zu unterstützen.
        Nicht erst die auf der ITB 2007 vorgestellte Studie
        „Tourismus in Entwicklungsländer“ des Studienkreises
        für Tourismus und Entwicklung e. V. hat aufgezeigt,
        welche erheblichen Potenziale es beim nachhaltigen
        Ausbau des Tourismussektors in Entwicklungsländern
        gibt. Dass Ferntourismus traditionelle, naturverträgliche
        Wirtschaftsformen unterstützen und zur Erhaltung der
        Naturpotenziale der Entwicklungsländer, zu einer Wie-
        derbelebung traditioneller Werte und Gebräuche sowie
        zur Stärkung des Selbstbewusstseins und der kulturellen
        Identität beitragen kann, ist heute unstrittig.
        Wir konnten beobachten, dass eine der Folgen eines
        nachhaltigen Tourismus fast immer auch ein positiver
        sozialer Wandel in den Entwicklungsländern ist, der aus
        der Eröffnung neuer Tätigkeitsfelder hinsichtlich der so-
        zialen Schichtzugehörigkeit oder der Rolle der Frauen
        resultiert.
        Die von der Bundesregierung im Bereich der Förde-
        rung des nachhaltigen Tourismus durchgeführten Pro-
        gramme und Projekte zeigen bereits jetzt Wirkung. So ist
        in den letzten Jahren etwa die Zahl der Touristen in Na-
        tur- und Nationalparken vieler Entwicklungsländer, in
        deren Umfeld Art und Zahl der Unterbringungsmöglich-
        keiten erheblich verbessert wurden, stark angestiegen.
        Negative Effekte des Tourismus in ökonomischer,
        ökologischer, sozialer und kultureller Hinsicht sollen
        verhindert bzw. eingedämmt werden. Natur und Land-
        schaft müssen besser geschützt werden. Darin sind wir
        uns mit den Antragstellern einig. Ich rufe aber noch ein-
        mal in Erinnerung, dass wir dies bereits vor über einem
        Jahr im Bundestag diskutiert und beschlossen haben.
        Im Ergebnis der heute angestellten Überlegungen
        müsste man der FDP raten, ihren Antrag zurückzuzie-
        hen. Denn wie gezeigt wurde, befinden wir uns bereits
        auf einem guten Weg, den wir auch in der nächsten Le-
        gislaturperiode fortsetzen wollen.
        Ernst Burgbacher (FDP): Die FDP-Bundestags-
        fraktion hat den Antrag „Potenziale der Tourismusbran-
        che in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufga-
        benbündelung im Bundesministerium für Wirtschaft und
        Technologie ausschöpfen“ vorgelegt mit dem Ziel, die
        bisherige Förderpolitik im Bereich Tourismus und wirt-
        schaftliche Zusammenarbeit grundlegend zu korrigieren
        und ein schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln, mit
        dem gezielt Schwerpunkte gesetzt und nur die effizien-
        testen Projekte gefördert werden.
        Unser Anliegen ist es insbesondere, durch eine Kon-
        zentration der touristischen Aufgaben im Bundesminis-
        terium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die
        Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungs-
        zusammenarbeit auszuschöpfen und damit die Effizienz
        der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Entwicklungs-
        ländern und den dort lebenden Menschen nachhaltig zu
        verbessern. In Kooperation mit der Tourismuswirtschaft
        geht es außerdem darum, bestehende Maßnahmen fort-
        zuentwickeln, um ein entschiedenes Vorgehen gegen
        „Sextourismus“ zu gewährleisten.
        Der Ferntourismus war und ist eine bedeutende
        Quelle von Wirtschaftswachstum in Entwicklungs- und
        Schwellenländern. Die heutigen Schwellenländer haben
        vom Ferntourismus als einem der ersten Devisenbringer
        profitiert, ebenso wie es die heutigen Entwicklungslän-
        der tun. Daher gilt es, den Ferntourismus mehr als bisher
        als Wachstumsmotor für die heutigen Entwicklungslän-
        der zu stärken. Der Marktanteil des Ferntourismus hat
        vor allem in den Entwicklungsländern in den vergange-
        nen Jahren kontinuierlich zugenommen und ist damit für
        einige Länder die Haupteinnahmequelle für Devisen. In
        ihrer Zukunftsstudie „TourismVision 2020“ erwartet die
        Welttourismusorganisation (UNWTO) weltweit 1,6 Mil-
        liarden Touristenankünfte und Ausgaben der Reisenden
        in Höhe von 2 Billionen US-Dollar im Jahr 2020. Insbe-
        sondere die Entwicklungs- und Schwellenländer werden
        als Begünstigte dieser Entwicklung gesehen. Nach Schät-
        zungen des Worldtravel und TourismCouncil (WTTC)
        hängen derzeit weltweit 234,3 Millionen Arbeitsplätze
        direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Das sind rund
        8,7 Prozent aller Arbeitsplätze.
        Der Tourismus leistet bereits heute einen zentralen
        Beitrag für die wirtschaftliche Entwicklung in Entwick-
        lungsländern zur Sicherung sowie Schaffung von Ar-
        beitsplätzen. Insbesondere periphere, strukturschwache
        Regionen in den Entwicklungsländern sind auf den Tou-
        rismus angewiesen, da dieser oftmals die einzige realisti-
        sche Option für wirtschaftlichen Aufschwung und wir-
        kungsvolle Armutsbekämpfung darstellt. Zudem ist der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23719
        (A) (C)
        (B) (D)
        Tourismus aufgrund seiner Dienstleistungsorientierung
        eine der arbeitsplatzintensivsten Wirtschaftsbranchen
        überhaupt, da die Subventionierung von Arbeitskraft
        durch Technik im Tourismus nur in sehr begrenztem
        Umfang möglich ist. Schließlich bietet der Tourismus
        eine Vielzahl von Arbeitsplätzen mit niedrigen und mitt-
        leren Qualifikationsansprüchen. Hier ergibt sich insbe-
        sondere für Menschen mit niedrigem Ausbildungs- und
        Bildungsstand die Chance auf neue bzw. alternative Ein-
        kommensquellen sowie die Möglichkeit der Weiterquali-
        fizierung. Damit bietet der Tourismus in Entwicklungs-
        ländern die Chance, das Wertschöpfungspotenzial
        gerade auch in ländlichen Räumen deutlich zu steigern.
        Menschen in Entwicklungsländern, die in der Touris-
        musbranche ein Auskommen und eine berufliche Per-
        spektive finden, haben ein persönliches und gesellschaft-
        liches Interesse, eine intakte Umwelt für eine weiterhin
        prosperierende wirtschaftliche Entwicklung ihres Lan-
        des zu erhalten. Fehlen solche Einkommensalternativen,
        geht dies oftmals mit der Zerstörung ökologisch wertvol-
        ler Regenwälder oder Feuchtgebiete einher, die dann
        zum Beispiel für landwirtschaftliche Nutzung bean-
        sprucht werden.
        Die Bundesregierung muss gemeinsam mit der Tou-
        rismuswirtschaft und insbesondere den Reiseveranstal-
        tern im Bereich der Angebots-, Produkt- und Preisgestal-
        tung Förderschwerpunkte für die touristischen Märkte in
        Entwicklungsländern entwickeln. Vor allem der Auf-
        rechterhaltung bestimmter Qualitätsstandards vor dem
        Hintergrund des steigenden Preisdrucks sowie dem
        Thema Sicherheit wird hier eine besondere Bedeutung
        beigemessen. Wichtig sind weiterhin die verstärkte För-
        derung nachhaltiger Tourismusformen sowie ein verbes-
        serter Informationsservice für Touristen.
        Innerhalb der Bundesregierung und vor allem im Bun-
        desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
        Entwicklung (BMZ) muss ein Umdenken stattfinden.
        Das Handlungsfeld Tourismus darf in der deutschen Ent-
        wicklungszusammenarbeit nicht länger als nachrangige
        Angelegenheit empfunden und eingestuft werden. Tou-
        rismus muss perspektivisch als eigenständiges bzw. quer-
        schnittsorientiertes Handlungsfeld innerhalb der deut-
        schen Entwicklungszusammenarbeit etabliert werden.
        Die heute immer noch übliche Förderung des BMZ nach
        dem „Gießkannenprinzip“ ohne schlüssiges Gesamtkon-
        zept oder Strategie ist ineffizient und sollte überarbeitet
        werden. Dazu sind die Evaluierung und das Monitoring
        der Tourismusvorhaben und die Entwicklung eines über-
        geordneten Leitbildes und die Festlegung von Zielgrup-
        pen erforderlich. Weiterhin sollte die Schaffung von ge-
        eigneten Rahmenbedingungen für die Durchführung von
        Tourismusprojekten erfolgen. Dazu sollten Länder und
        Regionen festgelegt werden, die Schwerpunkte für eine
        gebündelte und stärker koordinierte Zusammenarbeit bil-
        den. Zudem ist die Intensivierung der Forschungstätig-
        keit im Handlungsfeld Tourismus sinnvoll. Schließlich
        ist die strategische und inhaltliche Weiterentwicklung der
        entwicklungspolitischen Bildungsarbeit erforderlich. Durch
        die Konzentration der touristischen Aufgaben im BMWi
        sind die genannten Ziele effektiver als heute zu verwirk-
        lichen, da neben entwicklungspolitischen Aspekten auch
        weitere fachpolitische Bereiche berührt werden.
        Ich bitte Sie im Interesse einer gestärkten und ziel-
        orientierten deutschen Tourismuspolitik, dem Antrag der
        FDP-Bundestagsfraktion zuzustimmen.
        Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Am 4. Mai wird in Ha-
        vanna eine internationale Tourismusmesse eröffnet.
        Gastland ist diesmal die Bundesrepublik Deutschland.
        Rechtzeitig lud der Tourismusminister der Republik
        Kuba eine Delegation des Tourismusausschusses zu die-
        ser Messe ein. Der Ausschuss nahm die Einladung an
        und bestätigte noch auf der ITB am 12. März in Berlin
        dem Minister persönlich sein Kommen, nachdem Sie,
        verehrter Herr Präsident, diese Reise genehmigt hatten.
        Trotzdem wird kein Vertreter der Bundesrepublik
        Deutschland an der Tourismusmesse in Havanna teilneh-
        men, denn inzwischen wurde die Reise aus fadenscheini-
        gen Gründen auf Betreiben der Koalition abgesagt. Das
        ist nicht nur peinlich, sondern auch ein Beispiel, wie
        Potenziale der Tourismuswirtschaft in der Entwicklungs-
        zusammenarbeit nicht genutzt werden.
        In einem stimmen wir der FDP zu: Die Tourismus-
        politik und der Tourismus als einer der größten Wirt-
        schaftsbereiche werden in Deutschland stiefmütterlich
        behandelt. Es beginnt bei der Bundesregierung. Der Rei-
        seweltmeister BRD hat kein eigenes Tourismusministe-
        rium, das Wort „Tourismus“ kommt im zuständigen Mi-
        nisterium für Wirtschaft und Technologie nicht vor, der
        Minister und seine Staatssekretäre fühlen sich für die
        Tourismuswirtschaft nicht bzw. kaum zuständig. Es gibt
        einen Tourismusbeauftragten, unseren sehr rührigen
        Kollegen Ernst Hinsken, welcher aber kaum über Ent-
        scheidungskompetenzen, Personal und Finanzen verfügt.
        Tourismus ist unbestritten ein Querschnittsthema, und
        daraus folgt zwangsläufig, dass auch andere Ressorts mit
        tourismusrelevanten Fragen beschäftigt sind, auch das
        Entwicklungsministerium. Insofern gibt es logische und
        sinnvolle Aufgabenverteilungen zwischen den Ministe-
        rien, aber auch unakzeptable. Dazu zwei Beispiele: Die
        Förderung des barrierefreien Tourismus einschließlich
        der viel zu geringen Förderung der NatKo ist im Ge-
        sundheitsministerium angesiedelt. Dafür gibt es keine
        inhaltliche Begründung. Wenn, dann sollte sich dieses
        Ministerium mehr mit Fragen des Gesundheitstourismus
        und von Kurreisen befassen.
        Zweitens finde ich unakzeptabel, dass sich die Bun-
        desregierung in keiner Weise für Schulfahrten und kaum
        für den Kinder- und Jugendtourismus interessiert und
        stattdessen lediglich auf die Länder verweist. Insofern
        erwarte ich durchaus mit der nächsten Koalitionsverein-
        barung Veränderungen bei Zuständigkeiten und Stellen-
        wert der Tourismuspolitik, egal wer nach der nächsten
        Bundestagswahl die Regierungsverantwortung über-
        nimmt.
        Dass Sie, liebe Kollegen von der FDP, sich sehr fürs
        Wirtschaftsministerium, aber überhaupt nicht für die
        Entwicklungspolitik interessieren, spürt man auch bei
        dem vorliegenden Antrag. Von den wirklichen Zusam-
        menhängen zwischen nachhaltiger Entwicklungs- und
        Tourismuspolitik scheinen Sie keine Ahnung zu haben.
        Insofern empfehle ich Ihnen, sich bei Fachleuten von
        EED Tourism Watch, bei den Teilnehmerinnen und Teil-
        23720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        nehmern des Weltsozialforums 2009 in Brasilien und
        den Organisatoren des brasilianischen Netzwerkes für
        solidarischen und gemeindebasierten Tourismus – Turi-
        sol – zu informieren. Auch in der deutschen Tourismus-
        wirtschaft gibt es Leute mit Kompetenz, ich denke da
        zum Beispiel an den Chef des Berliner Reiseunterneh-
        mens „Lernidee Erlebnisreisen“, Hans Engberding. Si-
        cher: In den Haushaltsberatungen war ich ebenso wie die
        Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen er-
        staunt, wie viele Kleinst- und Kleinprojekte das Ent-
        wicklungsministerium weltweit unter der Überschrift
        „Tourismus“ fördert. Eine Evaluierung und gegebenen-
        falls Konzentration der Mittel in Abstimmung mit den
        Tourismuspolitikern halte ich für sinnvoll. Die Übergabe
        dieses Bereiches an das Wirtschaftsministerium – so die
        Forderung der FDP – lehnen wir aber unter den gegen-
        wärtigen Bedingungen ab.
        Krisen verführen auch immer zu egoistischem Verhal-
        ten, zur Nabelschau. So freuen wir uns einerseits, dass
        zunehmend mehr Menschen für ihren Urlaub keine Fern-
        reise, sondern eine Reise im Inland buchen. Das stärkt
        die heimische Tourismuswirtschaft und ist meist auch
        ökologischer. Andererseits verschärft dieser Trend die
        Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise gerade
        in den ärmsten Ländern der Welt. Deswegen stehen auch
        wir vor der Herausforderung, nicht nur Kleinstprojekte
        des Wirtschaftsministeriums unter der Überschrift „Kon-
        zentration“ zu streichen, sondern eher auch zu umfang-
        reicheren und damit nachhaltigeren Projekten zu entwi-
        ckeln. Auch das eine oder andere Vorhaben der
        deutschen Tourismuswirtschaft ist unterstützenswert. In-
        sofern – und hier verweise ich noch einmal auf den Be-
        ginn meiner Rede – haben wir mit der Absage der Kuba-
        Reise weder der Tourismuswirtschaft in Kuba noch den
        dort engagierten deutschen Tourismusunternehmen ei-
        nen guten Dienst erwiesen.
        Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige
        der Welt, ein riesiges Geschäft, das auch in der Entwick-
        lungszusammenarbeit klar von unseren, den westlichen
        Interessen dominiert wird. Aus den Industrieländern
        kommen die Ferienreisenden. Hier haben auch die gro-
        ßen Tourismuskonzerne ihren Sitz.
        Neben vielen positiven Effekten für die Entwick-
        lungs- und Schwellenländer hat das Thema Tourismus in
        der Entwicklungszusammenarbeit aber auch seine Schat-
        tenseiten: So bleiben laut Berechnung des Arbeitskreises
        Tourismus & Entwicklung in Basel nur 42 Prozent des
        Preises, der für eine Pauschalreise nach Südafrika ge-
        zahlt wird, auch in Südafrika. Weniger entwickelte Län-
        der können oftmals sogar nur 10 Prozent der Einnahmen
        aus dem Tourismus zurückhalten.
        Es kann nicht angehen, dass Tourismusförderung in
        Entwicklungs- und Schwellenländern dazu führt, dass es
        in immer mehr Ländern vergleichbare Angebote gibt:
        Strände, Luxushotels und „verwechselbare“ Touristenat-
        traktionen. Das kostet Geld für aufwendige Infrastruktu-
        ren: Straßen, Flughäfen, Wasser- und Stromversorgung,
        all das oder auch ein Golfplatz in der Wüste trägt aber
        den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung kaum
        Rechnung. Das kann nicht unser Ziel sein!
        Aus meiner Sicht geht es vielmehr darum, innovative
        Tourismuskonzepte zu fördern, die Natur und Umwelt
        als schützenswertes Kapital in Wert setzen und die das
        Wissen um Natur- und Kulturerbe beleben und erhalten.
        Wir sind gegen eine weitgehend vom Privatsektor und
        von internationalen Ketten geprägte Dynamik der touris-
        tischen Entwicklung in Entwicklungs- und Schwellen-
        ländern!
        Abenteuer, Luxus, „Öko“ oder Schnäppchen – die
        Tourismusindustrie setzt auf immer wieder neue Trends.
        Aber es geht um die Menschen mit ihrer Kultur, die in
        Tourismusgebieten in Entwicklungs- und Schwellenlän-
        dern leben: Tourismus bringt Hoffnung, neue Perspekti-
        ven, aber auch brutale Ausbeutung und Menschenrechts-
        verletzungen. Das nehmen wir in der Hochglanzwelt der
        Urlaubskataloge nicht gerne zur Kenntnis.
        Ich glaube, liebe Kollegen von der FDP, bezüglich Ih-
        rer Forderung der Konzentration der finanziellen Mittel
        auf zukunftsweisende Projekte haben wir durchaus un-
        terschiedliche Vorstellungen. Nicht die großen Hotel-
        ketten, insbesondere kleine und mittlere Hotels und
        Restaurants haben hervorragende Arbeitsplatzbilanzen.
        Regionale Wirtschaftskreisläufe stärken, dass muss auch
        touristisch in der Entwicklungspolitik unser Ziel sein.
        Ein positives Beispiel für Entwicklungszusammenarbeit
        im Tourismus ist Tobago. Hier ist es gelungen, die Ein-
        künfte der Bauern durch den Verkauf ihrer Agrarpro-
        dukte an die Hotels binnen eines Jahres nahezu zu ver-
        doppeln.
        Das Leitbild des nachhaltigen Tourismus ist bislang
        der Rahmen für das Engagement der deutschen Entwick-
        lungspolitik im Tourismus. Ich finde, das ist richtig so!
        Finanzielle Mittel darf es nur für sozial gerechte, kultu-
        rell angepasste, ökologisch tragfähige und, ganz wichtig,
        für die ortsansässige Bevölkerung wirtschaftlich sinn-
        volle und ergiebige Projekte geben. Wir dürfen hier nicht
        rein wirtschaftlichen Interessen folgen. Deshalb gehören
        die Mittel für Tourismus und Entwicklungszusammen-
        arbeit auch nicht ins BMWi.
        Tourismuspolitik ist und bleibt eine Querschnittsauf-
        gabe, auch wenn wir uns grundlegende Gedanken da-
        rüber machen sollten, welche Wertigkeit wir hier in Ber-
        lin dem Tourismus zugestehen. Ohne Herrn Hinsken zu
        nahe zu treten, ein einzelner Tourismusbeauftragter im
        BMWi ohne wirkliche Anbindung an den Ministeriums-
        apparat wird auch in meinen Augen einem der wichtigs-
        ten Wirtschaftszweige politisch nicht gerecht.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Reform des Kontopfändungsschutzes (Zusatz-
        tagesordnungspunkt 9)
        Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Der vorlie-
        gende Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungs-
        schutzes ist das Ergebnis von über einem Jahr intensiver
        parlamentarischer Beratung. Aus Überzeugung kann ich
        sagen, diese mitunter anstrengende Tätigkeit hat sich
        gelohnt. Von der Einführung des sogenannten P-Kontos
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23721
        (A) (C)
        (B) (D)
        – das ist ja der Kern der Reform – können alle beteilig-
        ten Interessengruppen profitieren. Schuldner wie Gläu-
        biger, die Kreditwirtschaft, die öffentlichen Haushalte,
        die Gerichte und nicht zuletzt auch die große Gruppe der
        Selbstständigen, die bislang keinen nennenswerten
        Kontopfändungsschutz hatte.
        Neudeutsch könnte man über den Gesetzentwurf also
        sagen, er schafft eine „Win-Win-Situation“. Das war
        aber nicht von Anfang an so. Zwar möchte ich nicht auf
        Hans Christian Andersen und seine Geschichte vom häss-
        lichen Entlein zurückkommen, aber in den 15 Monaten
        seit der ersten Lesung haben wir den Entwurf schon sehr
        verbessert. Ob er ein ausgewachsener Schwan wird,
        muss sich dann erweisen.
        Im September 2007 war der Regierungsentwurf bei
        seiner Vorstellung auch auf Kritik und ablehnende Worte
        gestoßen. Auch ich hatte durchgreifende Bedenken und
        habe mich bei der ersten Lesung im Januar 2008 sehr
        kritisch geäußert. Warum ich den Entwurf nun entgegen
        der ursprünglichen Kritik für gelungen halte, möchte ich
        anhand der Positionen der eingangs erwähnten Interessen-
        gruppen erläutern:
        Erstens. Schuldner: Die Teilnahme am modernen
        Wirtschaftsleben steht im Zusammenhang mit dem
        höchsten Gut unserer Verfassung – der Menschenwürde.
        Wenn nun das P-Konto dafür sorgt, dass weniger erfolg-
        lose Kontopfändungen ausgebracht werden, dann wird
        dies zu weniger Kontokündigungen und so zu geringerer
        Kontolosigkeit führen. Dies haben auch die Banken
        durch den Zentralen Kreditausschuss signalisiert. Hierzu
        war aber zunächst erforderlich, dass wir das P-Konto
        praxistauglich ausgestalteten. Mein erster Kritikpunkt,
        dass es keine zwei parallelen Vollstreckungsverfahren
        geben dürfe, damit das Prozedere vereinfacht werden kann,
        wurde dadurch ausgeräumt, dass ab 1. Januar 2012 nur
        noch das P-Konto gilt. Wir alle hoffen nun – und wir
        erwarten das auch –, dass es aufgrund der Einführung des
        P-Kontos zu weniger Kontokündigungen kommt als bis-
        lang.
        Zweitens. Gläubiger: Auch die Gläubiger können
        vom P-Konto profitieren, denn Schuldnerschutz muss
        nicht automatisch zulasten der Gläubigerinteressen gehen.
        Grundsätzlich liegt es sogar im Interesse des Gläubigers,
        dass der Schuldner sein Konto behält, denn nur so kann
        dieser weiterhin am Wirtschaftsleben teilnehmen und
        seinen Schuldnerverpflichtungen nachkommen. Die
        größte Gefahr für die Gläubigerinteressen hatte ich in
        den vielen evidenten Missbrauchsmöglichkeiten gesehen,
        die in dem Ursprungsentwurf begründet waren.
        Die Gefahr des vollstreckungsvereitelnden Gebrauchs
        von P-Konten wurde beseitigt. Dazu gehört nicht nur,
        dass die Banken im Rahmen ihrer Informationspflicht
        darauf hinweisen werden, dass eine Mehrfachnutzung
        von P-Konten strafbar ist. Ich habe mich im Laufe der
        Beratungen auch mit CDU-Kollegen aus dem Finanz-
        ausschuss für einen effektiven Kontrollmechanismus
        eingesetzt. Dieser wurde nun im Rahmen einer Schufa-
        Abfrage eingeführt: Wird die Eröffnung eines P-Kontos
        beantragt, so kann die Bank bei der Schufa abfragen, ob
        bereits ein weiteres P-Konto bei einer anderen Bank be-
        steht. Falls nicht, wird das neue P-Konto registriert. Auf-
        grund einer Selbstverpflichtung werden alle deutschen
        Kreditinstitute von diesem Kontrollinstrument Gebrauch
        machen. Das liegt nicht nur im Interesse der Gläubiger
        und Banken, sondern dient auch der weit überwiegenden
        Mehrzahl der redlichen Schuldner. Das P-Konto soll
        nicht durch einige wenige Betrüger in Verruf geraten.
        Wenn nun jemand meint, man soll nicht nur das
        Schlechte im Menschen sehen, so hat er recht. Wenn Sie
        sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ansehen,
        welche unseriösen Angebote zum P-Konto schon jetzt
        im Internet zu finden sind, dann ist die Überlegung,
        Missbrauch zu verhindern, schon nachvollziehbar. Dabei
        wird es bei den meisten Angeboten ohnehin nur darum
        gehen, die Interessenten „abzuzocken“.
        Ich finde, die Gläubiger haben es bereits heute schwer
        genug, gerichtlich anerkannte und titulierte Forderungen
        durchzusetzen. Deshalb habe ich mich im Laufe der
        Beratungen sehr dafür eingesetzt, dass die – ebenfalls
        verfassungsrechtlich garantierten – Eigentumsinteressen
        nicht aus den Augen verloren werden. Deshalb wurde
        auf Bestreben der Union ein Bestimmungsrecht des
        Gläubigers eingeführt: Hat ein Schuldner rechtswidrig
        mehrere P-Konten eröffnet, so kann der Gläubiger das
        Konto mit dem geringsten Guthaben als P-Konto bestim-
        men und in die übrigen in voller Höhe vollstrecken.
        Drittens. Selbstständige: Besonders wertvoll am Ent-
        wurf ist auch die Tatsache, dass er für die bislang
        schlecht geschützte Gruppe der Selbstständigen einen ei-
        genständigen Kontopfändungsschutz einführt. Dies ist
        nicht nur ein Signal, sondern eine wichtige Unterstüt-
        zungsmaßnahme für den Mittelstand – in wirtschaftlich
        leider nicht einfachen Zeiten.
        Viertens. Die Kreditwirtschaft: Mit dem P-Konto
        bekommt die Kreditwirtschaft ein praktikables und we-
        niger pfändungsintensives Kontomodell an die Hand.
        Dieses kann zu deutlichen Einspareffekten führen. Die
        Preise für die Kontoführung können die Banken künftig
        mit geschützten Beträgen verrechnen. Deshalb besteht nun
        kein Bedürfnis mehr für Kontokündigungen. Hierin liegt
        für die Banken eine große Chance. Wenn das P-Konto
        nämlich mit Blick auf die Reduzierung der Kontolosig-
        keit zum Erfolgsmodell wird, muss man nicht mehr über
        ein „Girokonto für Jedermann“ nachdenken. Der damit
        einhergehende gesetzlich vorzuschreibende Kontrahie-
        rungszwang hat in unserer sozialen Marktwirtschaft, in
        der der Grundsatz der Vertragsautonomie gilt, meiner
        Meinung nach ohnehin nichts zu suchen.
        Fünftens. Öffentliche Haushalte: Letztendlich dürften
        nicht nur die erwähnten Interessengruppen, sondern wir
        alle von der Einführung des P-Kontos profitieren. Denn
        nach den Schätzungen gehen bislang deutlich mehr als
        die Hälfte aller Kontopfändungen auf die öffentliche
        Hand zurück, und dies oft wegen Kleinstbeträgen. Hier-
        durch entstehen jedes Jahr immense Kosten für den
        Steuerzahler. Das P-Konto mit seinem monatlich garan-
        tierten Sockelfreibetrag wird hier Abhilfe schaffen. Zu-
        dem besteht die Möglichkeit, bei dauerhaft vermögenslo-
        sen Schuldnern die Unpfändbarkeit des Kontoguthabens
        für bis zu 12 Monate anzuordnen. Deshalb hoffe ich, dass
        23722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        der vorliegende Entwurf in diesem Hohen Hause eine
        breite Unterstützung finden wird.
        Dirk Manzewski (SPD): Dem Girokonto kommt auf-
        grund des zunehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs
        in der heutigen Zeit eine immer stärkere Bedeutung zu.
        Die im Zusammenhang mit der Pfändung von Guthaben
        immer häufiger vorkommenden Kündigungen von Giro-
        konten sind deshalb besonders problematisch.
        Die Gründe für die Kündigungen haben ihre Ursache
        dabei in der weitreichenden Blockadewirkung, die durch
        solch eine Kontopfändung ausgelöst wird, und natürlich
        in den Kosten, die hierdurch anfallen. Das Ansinnen der
        Bundesregierung, hier eine Verbesserung zu erreichen,
        ist daher völlig richtig, zumal das meist hieran anschlie-
        ßende Verfahren auf Pfändungsschutz einen ungeheuren
        Aufwand für die Vollstreckungsgerichte bedeutet, der oft
        genug dazu führt, dass eben kein rechtzeitiger Schutz ge-
        währt wird.
        Die Reform hatte daher von Anfang an das berech-
        tigte Ziel, einerseits für einen effektiveren Schutz des
        Schuldners zu sorgen und andererseits aber auch das
        Bankkonto als Objekt für den Zugriff von Gläubigern zu
        erhalten. Ich bin der Auffassung, dass der Gesetzentwurf
        dieses Ziel vor allem nach den zahlreichen Beratungen
        unter uns Rechtspolitikern und den hierdurch erfolgten
        Änderungen erreicht hat.
        Die der Existenzsicherung dienenden Einkünfte von
        Schuldnern werden künftig auf dem sogenannten Pfän-
        dungsschutzkonto gutgeschrieben. Dem Schuldner wird
        hierdurch geholfen, da er einen automatischen Kon-
        topfändungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrags er-
        hält, also die Geldgeschäfte des täglichen Lebens trotz
        Pfändung weiter vornehmen kann. Da das künftige
        Recht alle Einkünfte betrifft, werden hiervon übrigens
        erstmalig auch Selbständige profitieren können.
        Wir haben auch sichergestellt, dass das Verrechnungs-
        verbot für überwiesene Sozialleistungen und Kindergeld
        im Kontokorrent auch im Hinblick auf das Pfändungs-
        schutzkonto erhalten bleibt. Das folgt dem Grundgedan-
        ken, dass Sozialleistungen und Kindergeld besonders
        schutzwürdig sind und dem Betroffenen zur Existenz-
        sicherung selbst bei einem debitorisch geführten Konto
        zur Verfügung stehen sollten. Dieser automatische Pfän-
        dungsschutz wird – dies ist wichtig – allerdings nur für
        ein Girokonto gewährt. Dies macht die Sache für alle
        Beteiligten einfacher.
        Die Befürchtung, der Pfändungsschutz könnte durch
        Führen mehrerer Konten ausgehöhlt werden, hat sich
        meiner Meinung nach durch entsprechende Veränderun-
        gen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf ein
        Minimum reduziert – was den Gläubigern weiterhelfen
        wird. Ich nenne nur die Möglichkeit der Schufa-Abfrage,
        ob ein weiteres P-Konto besteht, das Bestimmungsrecht
        des Gläubigers, welches Konto des Schuldners beim
        unrechtmäßigen Vorliegen mehrerer P-Konten als
        Pfändungsschutzkonto anzusehen ist, und die individua-
        lisierten Voraussetzungen zur Eröffnung eines solchen
        P-Kontos. Ich finde, dass das Verfahren auch relativ un-
        kompliziert ausgestaltet und der Aufwand der Banken in
        einem vertretbaren Rahmen gehalten worden ist.
        Soweit ich in der ersten Lesung noch Probleme gese-
        hen habe, ob wir den Kreditinstituten mit dem neuen
        Verfahren nicht zu viel Aufwand aufbürden, haben sich
        für mich diese Bedenken im Laufe des Gesetzgebungs-
        verfahrens zerstreut. Indem unter anderem der Gutglau-
        bensschutz der Banken bei vorzulegenden Nachweisen
        verbessert wird und einheitliche Schutzregeln für alle
        Freibeträge festgelegt werden, wird vielmehr eine Ver-
        einfachung für die Kreditwirtschaft stattfinden.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir ha-
        ben ein interessantes Gesetzgebungsverfahren hinter uns
        und sind nach meiner Auffassung nach intensiver Bera-
        tung zu einem vernünftigen Ergebnis gelangt. Ich würde
        mich freuen, wenn Sie diese Auffassung teilen könnten
        und dem Gesetzentwurf zustimmen würden.
        Mechthild Dyckmans (FDP): Dem Kontopfän-
        dungsschutz kommt in unserer Wirtschaftsordnung eine
        große Bedeutung zu. Der bargeldlose Zahlungsverkehr
        hat in alle Bereiche des Lebens Einzug gehalten. Bürge-
        rinnen und Bürger, die vom bargeldlosen Zahlungsver-
        kehr ausgeschlossen sind, erfahren damit erhebliche Ein-
        schränkungen in ihrem alltäglichen Leben. Die
        Versagung der Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsver-
        kehr ist heute mit vielfältigen gesellschaftlichen und fi-
        nanziellen Problemen verbunden. Die FDP-Bundestags-
        fraktion begrüßt es daher, dass die Bundesregierung eine
        Initiative vorgelegt hat zur Reform des Kontopfändungs-
        schutzes. Das geltende Recht zeigt hier dringenden Re-
        formbedarf auf und offenbart unvertretbare Härten für
        Schuldner, Gläubiger und Banken. Der Schuldner sah
        sich immer wieder mit der Gefahr konfrontiert, dass die
        Bank sein Girokonto kündigt, weil ein Gläubiger das
        Guthaben pfänden will. Der Schuldner war dann ge-
        zwungen, gerichtlichen Rechtsschutz einzuholen, um
        den notwendigen Pfändungsschutz zu erhalten.
        Die Bundesregierung hat hierzu bereits 2007 einen
        Gesetzentwurf vorgelegt, der von der Zielrichtung getra-
        gen war, den Schutz bei Kontopfändungen zu verbes-
        sern. Letztendlich hat es der Gesetzentwurf jedoch nicht
        vermocht, die unterschiedlichen Interessen von Schuld-
        nern und Gläubigern einerseits und den Kreditinstituten
        andererseits in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
        Anstatt das Verfahren insgesamt zu vereinfachen, sah
        der Gesetzentwurf insbesondere für die Kreditinstitute
        erhebliche Mehrbelastungen in Form von Kontroll- und
        Prüfpflichten vor. Zu Recht sah sich der Gesetzentwurf
        daher auch massiver Kritik aus Wissenschaft und Praxis
        ausgesetzt.
        Im Gesetzgebungsverfahren haben wir auf diese Kri-
        tik reagiert und den Gesetzentwurf an zahlreichen Stel-
        len erheblich geändert. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
        von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Reform nur
        dann zustimmungsfähig sein kann, wenn sie zu einem
        sachgerechten Ausgleich der Interessen von Schuldnern
        und Gläubigern führt. Darüber hinaus haben wir gefor-
        dert das Verfahren so auszugestalten, dass hinsichtlich
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23723
        (A) (C)
        (B) (D)
        der bereits bestehenden Regelungen zur Kontenpfän-
        dung Verfahrenserleichterungen für alle Beteiligten ein-
        treten. Der Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung
        wird diesen Vorgaben nunmehr gerecht. Er schafft Klar-
        heit, dass ab 2012 der Kontopfändungsschutz nur noch
        für das Pfändungsschutzkonto gewährt wird. Damit ent-
        fällt das Nebeneinander von Pfändungsschutzkonto und
        bisherigem Kontopfändungsschutz. Diese Regelung
        wird zu einer wesentlichen Vereinfachung in der Praxis
        führen. Verbesserungen aus der Sicht des Gläubigers tre-
        ten ein durch den Abbau von Missbrauchsmöglichkei-
        ten. So soll beispielsweise regelmäßig eine Schufa-Ab-
        frage erfolgen, ob bereits ein Pfändungsschutzkonto des
        Kunden besteht. Auch für die Kreditinstitute wird der
        Gesetzentwurf zu Vereinfachungen führen. So wird bei-
        spielsweise der gute Glaube der Bank im Hinblick auf
        die vom Schuldner für die Erhöhung der Freibeträge vor-
        zulegenden Nachweise geschützt. Besonders erwähnen
        möchte ich auch, dass bei Vermögenslosigkeit des
        Schuldners die Anordnung der Unpfändbarkeit des Kon-
        toguthabens bis zu 12 Monate gelten kann. Ein Vorteil
        für die Banken ist auch die Möglichkeit der Verrechnung
        der Kontoführungspreise mit den geschützten Beträgen.
        Es freut mich, dass nun auch die Kreditwirtschaft ihre
        Zustimmung zu dem Gesetzentwurf signalisiert hat. Das
        zeigt, dass der Interessenausgleich geglückt ist.
        Der Gesetzentwurf folgt ganz bewusst nicht der For-
        derung nach der Einführung eines „Girokontos für Jeder-
        mann“. Ich bin mir aber sicher, dass die Regelung das
        Girokonto für viele sichert, die bisher vom bargeldlosen
        Zahlungsverkehr ausgeschlossen wurden. Der Bericht
        der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlung
        des Zentralen Kreditausschusses zum „Girokonto für Je-
        dermann“ vom Dezember 2008 zeigt zudem, dass die
        Anzahl der Girokonten in Deutschland stetig ansteigt.
        Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Selbstver-
        pflichtung der Banken zur Bereitstellung von Girokon-
        ten wirkt.
        Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzent-
        wurf heute zustimmen.
        Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Das, was die Große
        Koalition hier vorschlägt, ist nicht der große Wurf. Sie
        gehen den zweiten Schritt vor dem ersten. Sie wollen ein
        Pfändungsschutzkonto einführen, ohne gleichzeitig zu
        regeln, dass jeder, der ein Konto eröffnen möchte, dies
        auch tun kann. Das Pfändungsschutzkonto und das Giro-
        konto für jedermann sind untrennbar miteinander ver-
        bunden. Deshalb wird sich meine Fraktion heute enthal-
        ten.
        Verstehen Sie mich nicht falsch, das Pfändungs-
        schutzkonto ist sinnvoll. Das gegenwertige Pfändungs-
        schutzrecht ist viel zu kompliziert, aufwändig und bietet
        keinen wirksamen Schutz für Schuldner. Eine Kon-
        topfändung entzieht dem Schuldner die Möglichkeit,
        über sein Guthaben zu verfügen. Er kann nicht nur kein
        Geld mehr abheben, auch seine Daueraufträge bzw. Ein-
        zugsermächtigungen für Miete, Telefon etc. werden
        nicht ausgeführt. Deshalb ist die Einführung eines Pfän-
        dungsschutzkontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im
        Falle der Pfändung weiter verfügbar bleibt, grundsätz-
        lich zu begrüßen. Damit wird die Lage von Schuldnern
        deutlich verbessert, ohne die notwendige Abwägung mit
        den Gläubigerinteressen zu vernachlässigen
        In einem Sozialstaat darf niemand kahl gepfändet
        werden. Auch einem Schuldner muss immer so viel Geld
        bleiben, dass seine Existenz gesichert ist. Es gibt keine per
        se guten Schuldner und bösen Gläubiger. Denken Sie nur
        an das Kind, das von seinem Vater Unterhalt verlangt oder
        an das Opfer einer Gewalttat, das Schadenersatz geltend
        macht. Der Gläubiger hat einen rechtskräftigen Titel ge-
        gen den Schuldner. Alle materiellrechtlichen Fragen
        wurden bereits in einem Gerichtsverfahren geklärt. Im
        Zeitpunkt der Pfändung geht es nur noch um eine Inte-
        ressensabwägung zwischen dem verfassungsrechtlich
        garantierten Anspruch des Gläubigers auf eine effektive
        Durchsetzung seiner bestehenden Forderungen und dem
        ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten Existenz-
        minimum des Schuldners. Die Einführung eines Pfän-
        dungsschutzkontos stellt nichts anderes als eine solche
        Interessensabwägung dar.
        So sinnvoll das Pfändungsschutzkonto ist – es setzt
        voraus, dass der Schuldner überhaupt über ein Konto
        verfügt. Nur im Zusammenhang mit einem Recht auf
        Kontoeröffnung macht das Pfändungsschutzkonto erst
        richtig Sinn und wird zu einer runden Sache. Sonst wer-
        den auch weiterhin alle Menschen, die nicht über ein
        Girokonto verfügen, wirtschaftlich und sozial ausge-
        grenzt. Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist in der heuti-
        gen Gesellschaft für die Teilnahme am Erwerbs- und
        Wirtschaftsleben nicht mehr wegzudenken. Die Mög-
        lichkeit des baren Zahlungsverkehrs wird immer weiter
        eingeschränkt und ist vor allem teurer als der bargeldlose
        Zahlungsverkehr. Viele Vermieter wollen eine Einzugs-
        ermächtigung sehen. Auch auf dem Arbeitsmarkt macht
        es sich schlecht, kein Konto zu haben. Welcher Arbeit-
        geber stellt einen heute noch ein, wenn er den Lohn dann
        bar auszahlen muss und damit mehr Aufwand hat? An-
        ders als die Regierungsparteien behaupten, wird sich die
        Notwendigkeit eines Rechts auf Kontoeröffnung durch
        die Einführung des Pfändungsschutzkontos nicht erledi-
        gen. Das Phänomen der Kontolosigkeit lässt sich nicht
        allein damit erklären, dass die Banken nach einer Kon-
        topfändung kündigen, weil ihnen ein Mehraufwand und
        erhöhte Kosten entstehen. Banken kündigen auch aus
        anderen wichtigen Gründen. Vor allem aber können sie
        die Eröffnung eines Kontos aus anderen Gründen ver-
        weigern. Mit armen Bankkunden lassen sich keine ge-
        winnbringenden Geschäfte machen, und auch ohne
        Pfändungsbeschluss kann eine Bank einen Bürger als
        nicht kreditwürdig ansehen.
        Deshalb brauchen wir ein Girokonto für jedermann.
        Es gibt auch keine rechtlichen Einwände gegen einen
        Abschlusszwang für die Banken. Dies ist nicht allein die
        Auffassung meiner Fraktion, dies wird auch vom Bun-
        desministerium der Justiz so vertreten. Sicher, ein Ab-
        schlusszwang greift in die grundrechtlich geschützte
        Vertrags- und Berufsfreiheit der Banken ein. Aber dieser
        Eingriff ist gerechtfertigt, da vernünftige Allgemein-
        wohlinteressen hierfür bestehen und der Eingriff verhält-
        nismäßig ist. Auf die wirtschaftliche und soziale Bedeu-
        23724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        tung eines Kontos habe ich bereits hingewiesen. Die
        Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem
        Gewicht der Allgemeinwohlinteressen kann nur zuguns-
        ten des Allgemeinwohls ausfallen. Dies gebietet nicht
        zuletzt das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 und
        Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz, wonach der Gesetzgeber für
        einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für
        eine gerechte Sozialordnung zu sorgen hat.
        Es gibt auch keine milderen Mittel, die Banken dazu
        zu bringen, Konten einzurichten. Die „freiwillige Selbst-
        verpflichtungserklärung“ auf ein Konto für jedermann
        des Zentralen Kreditausschusses ist nicht verbindlich.
        Sie hat es deshalb auch nach über 13 Jahren nicht ge-
        schafft, das Problem der Kontolosigkeit zu überwinden.
        Die Kreditwirtschaft ist noch nicht einmal bereit, voll-
        ständige und verlässliche Angaben über die Anzahl der
        eingerichteten und verweigerten Girokonten für jeder-
        mann zu liefern. Die Schuldnerberatungsstellen beteuern
        regelmäßig, dass unbegründete Kontoverweigerungen
        und fehlende Verweise auf die Möglichkeit zur Be-
        schwerde gegen die Verweigerung keine Einzelfälle
        sind. Die Schätzung der Arbeitsgemeinschaft der
        Schuldnerberatung der Verbände geht von über 500 000,
        das Institut für Finanzdienstleistungen Hamburg sogar
        von über 1 Million Menschen ohne eigenes Girokonto
        aus.
        Das Thema „Girokonto für jedermann“ liegt seit lan-
        gem auf dem Tisch. Die zweijährig erscheinenden Be-
        richte der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfeh-
        lungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto
        für jedermann zeugen davon, dass sich seit Jahren nichts
        an der Problematik geändert hat. Während die Fraktion
        Die Linke bereits vor über drei Jahren, am 16. Februar
        2006, einen Gesetzentwurf für eine gesetzliche Ver-
        pflichtung der Kreditinstitute eingebracht hat, hat die
        Bundesregierung eine Lösung des Problems immer wie-
        der hinausgeschoben. Wir fordern Sie daher auf: Führen
        Sie endlich das gesetzlich verankerte Recht auf ein Giro-
        konto für jedermann ein!
        Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Teilhabe am bargeldlosen Geldverkehr ist in einer mo-
        dernen arbeitsteiligen und hochtechnisierten Gesell-
        schaft wie der unseren eine Notwendigkeit für alle Men-
        schen. Ohne ein Girokonto für jedermann werden
        Tausende von Menschen vor schier unlösbare Probleme
        gestellt: bei der Arbeitssuche, bei der Anmietung von
        Wohnraum, beim Bezug von Energie und der Teilnahme
        an der Telekommunikation. Deshalb ist ein Girokonto
        für jedermann eine richtige Forderung. Seit über zehn
        Jahren reden wir darüber hier im Parlament – die aktu-
        elle Lage ist immer noch völlig unbefriedigend.
        Tausende von Menschen in Deutschland haben kein
        Girokonto, da die Banken den Abschluss eines Girokon-
        tovertrags ablehnen oder den Verwaltungs- und Kosten-
        aufwand bei gepfändeten Konten scheuen und deshalb
        die Girokonten der Betroffenen kündigen. Das ist ein un-
        haltbarer Zustand. Eine rechtlich bindende Verpflichtung
        der Banken, Girokontenverträge abzuschließen, gibt es
        nicht. Wir haben seit 1995 eine Selbstverpflichtung der
        Banken, jedem Interessenten ein Girokonto anzubieten,
        die jedoch nicht eingelöst ist; die Banken mit Ausnahme
        der Sparkassen haben sich nicht daran gehalten. Es wäre
        endlich Zeit, zu handeln.
        Der vorgelegte Gesetzentwurf zur Reform des Kon-
        topfändungsschutzes beschränkt sich auf die Einführung
        eines Pfändungsschutzkontos, des sogenannten P-Kon-
        tos, um vorhandenen Missstände zu beseitigen. In der
        Tat bringt der Gesetzentwurf auch viel Gutes: Nach
        mehreren Beratungen im Kreis der Berichterstatter und
        im Rechtsausschuss, an denen wir Grüne tatkräftig mit-
        gewirkt haben, bringt er erhebliche Verbesserungen für
        Menschen, die sich in der Zwangsvollstreckung befin-
        den.
        Girokontonutzerinnen und -nutzer haben auf Antrag
        nun einen Anspruch darauf, dass eines ihrer Konten als
        P-Konto geführt wird. Damit ist ein automatischer Pfän-
        dungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrags von
        985,15 Euro monatlich verbunden. So ist – anders als
        heute – kein zeitraubendes Verfahren vor Gericht mehr
        nötig, um Kontopfändungsschutz zu erhalten. Dies be-
        grüßen wir ausdrücklich. Alle Arten von Einkünften sind
        nunmehr geschützt. Damit gibt es so erstmals auch Kon-
        topfändungsschutz für Selbstständige. Auch dies bewer-
        ten wir sehr positiv. Wir werden dem Gesetz deshalb
        heute zustimmen.
        Ob jedoch die Vorhersage der Bundesregierung ein-
        tritt, dass sich mit dem heute hier debattierten Gesetz
        faktisch auch die Forderung nach einem Girokonto für
        jedermann erledigt, bleibt abzuwarten. Für die Banken
        ergibt sich mit dem neuen P-Konto ein geringerer Ver-
        waltungs- und Kostenaufwand als beim bisherigen Pfän-
        dungsschutz. Das mag dazu führen, dass auch Menschen
        mit sehr geringem Einkommen und in prekären finan-
        ziellen Situationen Girokontenverträge abschließen kön-
        nen und die Banken bestehende Kontoverbindungen
        nicht wegen Pfändungsmaßnahmen kündigen. Wir wer-
        den die Auswirkungen des Gesetzes verfolgen und gege-
        benenfalls unsere Forderung nach einem Girokonto für
        jedermann erneuern. Das Thema Girokonto für jeder-
        mann kommt dann wieder auf die Tagesordnung.
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
        Bundesministerin der Justiz: Wir beraten heute in zweiter/
        dritter Lesung einen Gesetzentwurf, den das Bundeskabi-
        nett bereits am 5. September 2007 beschlossen hat: den
        Gesetzentwurf zur Reform des Kontopfändungsschutzes.
        Die Beratungen im Deutschen Bundestag haben rund
        15 Monate in Anspruch genommen. Es bedurfte einiger
        Anstrengungen, die Interessen von Gläubigern und
        Schuldnern, der Justiz und der Kreditwirtschaft in diesem
        Bereich in Einklang zu bringen.
        Schuldnerinnen und Schuldnern soll mit dem Basis-
        pfändungsschutz auf dem Pfändungsschutzkonto die
        Möglichkeit erhalten werden, während und nach einer
        Kontopfändung weiter am Wirtschaftsleben teilzunehmen
        und das Konto zu nutzen. Wie wir alle wissen, geht
        heute ohne ein Girokonto fast gar nichts mehr. Um einen
        Mietvertrag, einen Stromlieferungsvertrag oder auch einen
        Arbeitsvertrag abzuschließen, benötigt man heutzutage
        den Nachweis einer Kontoverbindung oder die Erteilung
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23725
        (A) (C)
        (B) (D)
        einer Einzugsermächtigung für ein Girokonto. Kontolosig-
        keit ist mehr als nur ein Stigma; wer kein Girokonto hat,
        ist vom Wirtschaftsleben weitgehend ausgeschlossen
        und insoweit quasi handlungsunfähig.
        Auf dem Pfändungsschutzkonto erhält ein Schuldner
        für sein Guthaben nunmehr einen automatischen Basis-
        pfändungsschutz in Höhe seines Pfändungsfreibetrages.
        Das sind 985,15 Euro pro Monat bei Ledigen ohne Unter-
        haltsverpflichtungen. Die Pfändung bewirkt nun bis zur
        Höhe des Pfändungsfreibetrages keine Kontosperre
        mehr, die erst durch eine gerichtliche Schutzanordnung
        wieder aufgehoben werden müsste. Es kommt auch nicht
        mehr darauf an, aus welcher Art von Einkünften dieses
        Guthaben herrührt. Damit genießen künftig auch Selbst-
        ständige Pfändungsschutz für ihr Kontoguthaben. Jeder
        Kunde kann von seiner Bank oder Sparkasse verlangen,
        dass sein Girokonto als P-Konto geführt wird.
        Das Pfändungsschutzkonto nützt nicht nur den Schuld-
        nern, sondern wirkt sich auch positiv auf die Belange der
        Gläubiger aus. Denn der Schuldner, der weiter arbeiten
        und mit seinen pfandfreien Einkünften wirtschaften
        kann, hat letztlich auch eher eine Aussicht darauf, seine
        Schulden zu tilgen.
        Jede Person darf nur ein P-Konto einrichten und muss
        bei Einrichtung des P-Kontos versichern, dass er nicht
        schon ein P-Konto hat. Um einen Missbrauch zum
        Nachteil der Gläubiger von vornherein auszuschließen,
        können die Banken durch eine Schufa-Abfrage kontrol-
        lieren, ob diese Versicherung auch zutrifft. Ich freue
        mich, dass die Kreditwirtschaft angekündigt hat, diese
        Überprüfung auch flächendeckend durchzuführen, soweit
        die Kreditinstitute mit der Schufa zusammenarbeiten.
        Wir haben bei diesem Gesetzgebungsprojekt immer
        auch die Belange der Kreditwirtschaft und der Justiz im
        Auge behalten. Sie sind beide berechtigterweise daran
        interessiert, den Kontopfändungsschutz so effizient wie
        möglich auszugestalten. Deshalb begrüße ich die Empfeh-
        lung des Rechtsausschusses, den Kontopfändungsschutz
        ab 1. Januar 2012 nur noch über das P-Konto zu bewirken.
        In den langen und intensiven Beratungen um die Re-
        form des Kontopfändungsschutzes ging es in den letzten
        Monaten sehr viel um die Aufgaben der Banken. Es
        stellte sich die Frage: Womit kann die Kreditwirtschaft
        bei circa 350 000 Kontopfändungen monatlich bundes-
        weit am besten umgehen? Wir wollten mit dem P-Konto
        einen wesentlichen Anreiz für Banken setzen, die
        Geschäftsverbindung mit dem Kunden nicht wegen der
        Bürokratie bei der Pfändung zu beenden. Und ich meine,
        das ist uns auch gelungen.
        Wir haben mit dem Pfändungsschutzkonto ein gut
        handhabbares Instrument für den Kontopfändungsschutz
        auf den Weg gebracht. Die Kreditwirtschaft hat mir
        gesagt, dass die Funktionsweise des P-Kontos sich EDV-
        technisch gut umsetzen lässt. Den Banken werden keine
        Abwägungen im Einzelfall oder komplizierte Berechnun-
        gen zugemutet. Damit gelingt beim Pfändungsschutzkonto,
        was zuvor noch unmöglich schien: Vorgaben der Gerichte
        werden auf das Nötigste begrenzt, und die Verwaltung von
        Pfändungen insgesamt wird mehr an den Bedürfnissen
        der Wirtschaft ausgerichtet.
        Gerichtliche Entscheidungen über den Pfändungsschutz
        für ein Girokonto sind also nur noch im Ausnahmefall not-
        wendig. Dies freut nicht nur die Banken, sondern wird
        auch zu Entlastungen bei den Vollstreckungsgerichten und
        den Rechtsantragsstellen führen. Ich denke, die Länder
        werden dies gerne hören.
        In der gegenwärtigen Situation sind viele Bürgerinnen
        und Bürger verunsichert, ob mit der Krise an den
        Finanzmärkten und in der Realwirtschaft mittelfristig
        auch ganz persönliche Schwierigkeiten verbunden sein
        werden. Arbeitslosigkeit kann gerade Familien schnell in
        die Überschuldung führen. Ich denke, mit der Reform des
        Kontopfändungsschutzes setzt der Deutsche Bundestag
        ein deutliches Zeichen. Auch gegenüber den globalen
        Fragen der Finanzkrise treten die ganz individuellen
        Belange der Bürgerinnen und Bürger nicht in den Hin-
        tergrund.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
        dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über
        Streumunition (Tagesordnungspunkt 14)
        Eduard Lintner (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf verabschiedet heute der Deutsche Bun-
        destag das Verbot der Streumunition. Das ist ein Schritt,
        der durchaus als historisch bezeichnet werden kann und
        der auch erneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik
        auf dem Gebiet der humanitären internationalen Rüs-
        tungskontrolle bestätigt, wobei nicht verschwiegen wer-
        den sollte, dass es gerade Abgeordnete dieses Hohen
        Hauses waren, nämlich die Kollegen von und zu
        Guttenberg und Weigel, die die Initiative dazu ergriffen
        haben. Deutsche Politiker und Diplomaten waren also
        schon an der Erarbeitung des Textes der Konvention
        maßgeblich beteiligt und – man muss es sagen – ihre Ar-
        beit hat sich gelohnt.
        Der vorliegende Gesetzesentwurf orientiert sich auch
        an realistischen Gesichtspunkten. Einerseits verbietet er
        Entwicklung, Produktion, Lagerung und Einsatz von
        Streumunition, erlaubt aber weiterhin die Verwendung
        der sogenannten Punktzielmunition. Die Punktzielmuni-
        tion ist ein vertretbarer Ersatz für die Streumunition. Da-
        mit ist ein realistischer Kompromiss zwischen humanitä-
        ren Erwägungen und militärischen Notwendigkeiten
        gefunden worden. Über die genauen Fähigkeiten und
        Einsatzszenarien der Punktzielmunition werden wir uns
        ja in den zuständigen Ausschüssen noch ausführlich un-
        terhalten. Die künftige Einsatzfähigkeit der Bundeswehr,
        auch im Zusammenwirken mit unseren Verbündeten,
        wird somit nicht tangiert. Weitergehende Forderungen,
        wie sie etwa die Grünen erheben, sind unrealistisch. Sie
        würden faktisch darauf hinauslaufen, dass sich die Bun-
        deswehr aus Afghanistan und aus anderen Einsatzgebie-
        ten zurückziehen müsste, nur weil einige unserer Ver-
        23726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        bündeten die Konvention noch nicht angenommen
        haben. Solche Positionen können keine Grundlage für
        eine vernünftige und verlässliche Außen- und Abrüs-
        tungspolitik sein.
        Die Wichtigkeit der Streumunitionskonvention wird
        eindrücklich demonstriert durch einen in der vergange-
        nen Woche veröffentlichten Bericht der Menschen-
        rechtsorganisation Human Rights Watch. Dort werden
        die Folgen des Einsatzes von Streumunition durch Russ-
        land und Georgien in dem Krieg zwischen den beiden
        Staaten im vergangenen Sommer eindringlich geschil-
        dert werden. Dutzende von Zivilisten sind in diesem
        Konflikt durch Streumunition getötet und verletzt wor-
        den. In den umkämpften Gebieten liegen immer noch
        Blindgänger, die eine anhaltende Gefahr für die Bevöl-
        kerung darstellen und den Wiederaufbau behindern. Vor
        allem Kinder und Frauen werden erfahrungsgemäß auch
        nach dem Einsatz solcher Munition oft zu Opfern der
        zahlreichen im Gelände vorhandenen Blindgänger. Hier
        wird die ganze Grausamkeit, die diesem Munitionstyp
        zu eigen ist, sichtbar. Die Studie zeigt auch, dass ein
        „verantwortungsvoller“ Einsatz von Streumunition nicht
        möglich ist, der Einsatz in bevölkerten Gegenden zieht
        immer auch zivile Opfer nach sich. Gerade Georgien
        und Russland möchte ich daher hier und heute dazu auf-
        fordern, der Streumunitionskonvention beizutreten und
        so ein Zeichen zu setzen, dass sie bereit sind, aus diesen
        Erfahrungen die Konsequenzen zu ziehen.
        Im Rahmen der Diskussion über eine Weiterentwick-
        lung der Konvention über konventionelle Waffen wer-
        den gegenwärtig alternative Wege zu einem völkerrecht-
        lichen Verbot von Streumunition erörtert. Auch diesen
        Prozess sollten wir unterstützen und damit Ländern, die
        aus welchen Gründen auch immer der Streumunitions-
        konvention nicht beitreten wollen, eine Alternative an-
        bieten. So zeigen die jüngsten Entscheidungen in den
        USA, wo die Möglichkeiten zum Export von Streumuni-
        tion im vergangenen Monat drastisch eingeschränkt
        wurden, dass es Länder gibt, die auf alternativen Wegen
        dasselbe Ziel verfolgen, das wir mit der Streumunitions-
        konvention erreichen wollen.
        Ein wichtiges Ziel der deutschen Außen- und Abrüs-
        tungspolitik muss es künftig sein, auch die Länder, die
        sich diesem Trend bislang noch verweigern, zu überzeu-
        gen, den von der Mehrheit der Staatengemeinschaft ein-
        geschlagenen Weg mitzugehen. Ebenso muss sich die
        deutsche Politik dafür einsetzen, dass allen Staaten, die
        ihre Bestände an Streumunition vernichten wollen, die
        dafür notwendige Technik und Expertise zur Verfügung
        steht. Daher ist es auch äußerst begrüßenswert, dass die
        Bundesregierung Ende Juni hier in Berlin eine interna-
        tionale Konferenz zu den praktischen Aspekten der Ver-
        nichtung von Streumunition durchführen wird. Dabei
        können wir auf unseren Umgang mit derartiger Munition
        verweisen. Von deutschen Firmen produzierte Streumu-
        nition wurde ausschließlich an die Bundeswehr geliefert,
        die sie nie eingesetzt hat und die ihre Bestände jetzt ver-
        nichten lassen wird. Gerade bei der Vernichtung solcher
        Munition hat sich Deutschland wiederum technisch her-
        vorgetan, sodass wir heute weltweit die effizienteste
        Technik für die Zerstörung dieser Munitionsart anbieten.
        Dabei hoffe ich, dass die anderen Unterzeichnerstaa-
        ten der Streumunitionskonvention dem deutschen Bei-
        spiel folgen und das Abkommen bald ratifizieren, damit
        so schnell wie möglich die entscheidende Schwelle von
        30 Ratifikationsurkunden erreicht wird und die Konven-
        tion somit in Kraft treten kann. Das wäre mit Hinblick
        auf die teuflische Wirkung von Streumunition für Leben
        und Gesundheit einer großen Anzahl von Menschen eine
        gute Nachricht.
        Andreas Weigel (SPD): Es ist ein wichtiger und ein
        guter Schritt, dass der Deutsche Bundestag das im ver-
        gangenen Jahr verabschiedete Abkommen zur Ächtung
        von Streumunition hier und jetzt in zweiter und dritter
        Lesung so schnell und unverzüglich ratifiziert. Genauso
        wie die Bundesregierung die parlamentarische Initiative
        für dieses Abkommen aufgegriffen und bei den Verhand-
        lungen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich rund
        100 Staaten auf ein umfassendes Verbot dieser entsetzli-
        chen Kampfmittel geeinigt haben, genauso konsequent
        setzen wir im Parlament nun die Initiative fort, um den
        Weg für die Ratifizierung schnellstmöglich freizuma-
        chen.
        Das Abkommen zur Ächtung von Streumunition tritt
        in Kraft, wenn es von 30 Staaten ratifiziert worden ist.
        So verbinden wir die heutige Debatte natürlich auch mit
        der Hoffnung, dass andere europäische Staaten in ähnli-
        cher Zügigkeit diese für die Abrüstung so wichtige Ini-
        tiative voranbringen. Und denjenigen Staaten, die nicht
        zu den Unterzeichnern gehören, wird deutlich gemacht:
        Hier geht es nicht um ein Lippenbekenntnis, hier wird
        ein Ziel – die weltweite Vernichtung der Streubombenar-
        senale – konsequent weiterverfolgt. Damit wird der öf-
        fentliche Druck, diesem Abkommen beizutreten, auf die
        Regierungen der Nichtunterzeichnerstaaten verstärkt.
        Wir schauen dabei natürlich mit Interesse auf die Verei-
        nigten Staaten. Nach der kompromisslosen Blockadehal-
        tung der Bush-Administration sehen wir mit Erleichte-
        rung und großer Hoffnung, wie die neue US-Regierung
        selbst die Initiative für Abrüstung und Rüstungskontrolle
        ergreift. Anfang März haben die Vereinigten Staaten mit
        der Einschränkung von Exportbedingungen für Streumu-
        nition schon den ersten Schritt getan. Das kann ein
        Schritt hin zum Ziel der Ächtung von Streumunition
        sein. Bei aller Freude über das, was geschafft worden ist
        und was nun vielleicht möglich wird, gibt es keinen
        Grund zur Selbstzufriedenheit. Vielmehr bedeutet die
        Ratifizierung des Abkommens die Verpflichtung, hier
        weiterzumachen und den Rückenwind für weitere Ab-
        rüstungsinitiativen zu nutzen. Und wir müssen dafür
        Sorge tragen, dass das Abkommen zur Ächtung von
        Streumunition nicht nur mehr Unterzeichnerstaaten fin-
        det, sondern dass die Ächtung und Vernichtung dieser
        Waffen auch konsequent eingehalten und nicht ausge-
        höhlt wird.
        So wissen wir um die Kritik aus den zivilgesellschaft-
        lichen Organisationen an weiterhin genutzter Submuni-
        tion. Das Problem der genauen Definition von Streumu-
        nition und die Gefahr, dass hier die Grenzen schnell
        verschwimmen, sind uns bewusst. Wir sind der Auffas-
        sung, dass man diese Problematik mit höchster Sorgfalt
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23727
        (A) (C)
        (B) (D)
        und aller Objektivität prüfen muss. Deshalb werden wir
        uns mit der Wirkungsweise solcher Submunition, die
        auch von der Bundeswehr verwendet werden kann, in ei-
        ner Anhörung des Unterausschusses für Abrüstung und
        Rüstungskontrolle genau beschäftigen. In der Anhörung
        wird es darum gehen, welche Kriterien der Erprobung
        und Neubeschaffung von Submunition zugrunde zu le-
        gen sind? Welche Erkenntnisse liegen über die Erpro-
        bung von Submunitionsmodellen wie SMArt, Baszalt,
        BONUS und SKEET vor? Welche Einrichtungen haben
        derartige Tests durchgeführt, und wer fungierte dabei als
        Auftraggeber? Welche Erkenntnisse liegen über die Zu-
        verlässigkeit von Submunition unter Einsatzbedingun-
        gen vor? Wir werden uns nach der Anhörung mit deren
        Ergebnissen befassen, und – wenn notwendig – politi-
        sche Konsequenzen daraus ziehen. Es ist also falsch, zu
        behaupten, wir klammerten das Thema Submunition aus.
        Vielmehr ist es für uns sehr wichtig, hier Klarheit zu
        noch offenen Fragen zu bekommen, genauso, wie wir
        dafür gesorgt haben, dass die Streumunitionsbestände
        der Bundeswehr in einem transparenten Verfahren ver-
        nichtet werden. Das Bundesverteidigungsministerium
        muss laut eines Beschlusses des Haushalts- und Verteidi-
        gungsausschusses bis zum 31. Mai einen detaillierten
        Vernichtungsplan für die deutschen Bestände vorlegen.
        Darüber hinaus hat der Haushaltsausschuss des Bundes-
        tages schon im Haushaltsplan 2009 erhebliche Mittel für
        die Vernichtung der Streumunitionsbestände eingeplant.
        Damit ist die Grundlage für eine zügige Umsetzung des
        Vernichtungsplans gelegt. Aus heutiger Sicht werden die
        Gesamtkosten für die Vernichtung rund 40 Millionen
        Euro betragen – die haushalterischen Voraussetzungen
        zur Aufbringung dieser Mittel sind geschaffen.
        Die erfolgreichen Verhandlungen zur Ächtung von
        Streumunition motivieren uns aber vor allem, in weite-
        ren Fragen und Initiativen der Abrüstung energischer vo-
        ranzugehen. Im Mittelpunkt wird in nächster Zeit der
        Arms Trade Treaty – kurz ATT – stehen. Die unkontrol-
        lierte Verbreitung von Kleinwaffen und anderer konven-
        tioneller Waffen ist eines der dringlichsten Probleme in-
        ternationaler Rüstungskontrollpolitik. Im vergangenen
        Jahr haben über 2 000 Parlamentarier aus aller Welt die
        Vereinten Nationen zur raschen Aushandlung eines ATT
        aufgefordert (in Deutschland übrigens mehrheitlich Mit-
        glieder der SPD-Bundestagsfraktion). Auch hier sollte es
        möglich sein, gemeinsam mit gleichgesinnten zivilge-
        sellschaftlichen Organisationen, engagierten Regierun-
        gen und Parlamenten lange blockierte und verzögerte
        Abrüstungsverhandlungen wieder in Gang zu bringen.
        Der Oslo-Prozess ist hier ein ermutigendes Beispiel. In
        der internationalen Rüstungskontrollpolitik stehen wir
        augenblicklich vor vielen offenen Fragen. Verhandlun-
        gen drehen sich seit Jahren im Kreis und kommen nicht
        weiter. Bei manchem Vorhaben besteht schon lange der
        Eindruck, es geschehe fast gar nichts mehr. Dies gilt be-
        sonders für die KSE-Verhandlungen, für die Verhandlun-
        gen zur konventionellen Abrüstung. Nach Jahren des
        Stillstands gibt es jetzt aber Signale aus den Vereinigten
        Staaten und Russland, den KSE-Prozess wiederbeleben
        zu wollen. Das ist – so wie der erfolgreiche Oslo-Prozess
        zur Ächtung von Streumunition – ein deutliches Zei-
        chen, das Mut macht für neue Initiativen. Die Chancen
        für substanzielle Verbesserungen in der Abrüstungspoli-
        tik sind da.
        Florian Toncar (FDP): In der heutigen Debatte geht
        es um ein Thema, das in der Vergangenheit wiederholt
        Gegenstand parlamentarischer Debatten war: das Verbot
        von Streumunition. Dabei handelt es sich um Waffen, die
        durch Artilleriegeschosse, Raketen oder Fliegerbomben
        verbracht werden. Über dem Zielgebiet öffnen sich die
        Waffenbehälter, um Hunderte kleiner Submunitionen,
        sogenannter Bomblets, freizusetzen. Diese verteilen sich
        großflächig und töten und verstümmeln unterschiedslos
        beim Aufschlag. Ein großer Teil dieser Bomblets deto-
        niert jedoch nicht beim Aufschlag und verbleibt als
        Blindgänger in der Landschaft. Damit stellen sie auf un-
        bestimmte Zeit auch nach dem Ende von Konflikten eine
        heimtückische Gefahr für die Bevölkerung dar. In der
        Folge werden landwirtschaftliche Flächen oder Wohnge-
        biete aus Furcht vor diesen explosiven Altlasten nicht
        wieder genutzt. Besonders häufig werden neugierige,
        spielende Kinder Opfer dieser Sprengsätze. Daher freut
        es mich, dass nach zähen Verhandlungen im Dezember
        2008 in Oslo ein Abkommen zum Verbot dieser Waffen
        geschlossen wurde. Dies ist besonders dem Engagement
        der Bürgergesellschaft zu verdanken, die in der Öffent-
        lichkeit ein Bewusstsein für dieses Problem hergestellt
        hat. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte bereits im Herbst
        2006 ein vollständiges Verbot dieser Flächenwaffen ge-
        fordert, wie es jetzt international beschlossen wurde.
        Nachdem wir am 19. März 2009 die erste Lesung des
        von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzes zum
        Streumunitionsverbotsabkommen durchgeführt haben,
        treten wir nun in die entscheidende Phase. Ich freue mich,
        dass Beratungen in den Ausschüssen so zügig abge-
        schlossen werden konnten und wir heute die zweite und
        dritte Lesung halten können. Damit wird es für Deutsch-
        land möglich, das Osloer Streumunitionsabkommen noch
        rechtzeitig zu ratifizieren, bevor am 25./26. Juni 2009 in
        Berlin eine weitere Konferenz zur Umsetzung des Ver-
        botsabkommens stattfinden wird. Deutschland kann so
        als Gastgeber glaubwürdig auftreten und darauf verwei-
        sen, dass es den Vertrag ratifiziert hat. Außerdem freut es
        mich, dass die in dem Gesetz vorgesehenen Gelder zur
        Beseitigung der deutschen Streumunition in Höhe von
        40 Millionen Euro erkennen lassen, dass die Bundesre-
        gierung ausreichend Mittel für die Aufgabe bereitstellen
        wird. Daher werden wir dem Gesetzentwurf der Bundes-
        regierung zustimmen.
        Leider hat die Bundesregierung in der dem Gesetzent-
        wurf beigefügten Darstellung des Verhandlungsprozes-
        ses nicht darauf verzichtet, sich selbst Lorbeeren zu ver-
        leihen, die ihr nicht gebühren. So stellt sich die
        Bundesregierung als Vorreiter bei der Forderung nach
        Abschaffung der Streumunition dar. Dabei war sie es,
        die über lange Zeit eine Ausnahme von einem umfassen-
        den Streumunitionsverbot erreichen wollte, indem sie
        Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter ei-
        nem Prozent von einem Verbot ausnehmen wollte. Diese
        Streumunition sah sie als „für die Zivilbevölkerung un-
        gefährlich“ an. Erst auf Druck der Organisationen der
        Bürgergesellschaft und anderer Regierungen ließ die
        23728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
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        Bundesregierung bei den entscheidenden Verhandlungen
        in letzter Minute von dieser semantischen Augenwische-
        rei ab. Es freut mich, dass die Bundesregierung ein Ein-
        sehen hatte und sich der Forderung der FDP nach einem
        umfassenden Streumunitionsverbot angeschlossen hat
        und zu einer tragfähigen Position gelangt ist.
        Anders verhält es sich mit dem ebenfalls heute auf der
        Tagesordnung stehenden Entschließungsantrag der Grü-
        nen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. Dieser
        Entschließungsantrag enthält einige Forderungen, die
        weit über das Streumunitionsverbotsabkommen hinaus-
        gehen. Zum einen zielen die Grünen darauf ab, Punkt-
        zielmunition in das Streumunitionsverbot einzubeziehen.
        Dabei handelt es sich um hochtechnische Waffen insbe-
        sondere zur Panzerbekämpfung. Im Unterschied zur
        Streumunition tötet sie nicht wahllos in der Fläche, son-
        dern identifiziert Ziele und steuert diese an. Falls sie
        kein Ziel findet, neutralisiert sie sich selbst. Ferner wird
        Punktzielmunition nicht in großen Stückzahlen ver-
        schossen wie Streumunition, sondern nur in ganz kleinen
        Mengen. Damit ist klar, dass diese Art von Waffen eine
        andere Aufgabe und andere technische Parameter hat,
        die bewirken, dass sie in keiner Weise eine der Streumu-
        nition vergleichbare Gefährdung darstellen. Aus gutem
        Grund wurde diese Punktzielmunition also nicht als
        Streumunition definiert. Die Grünen wollen mit ihrer
        Forderung somit die mühsam ausgehandelte Definition
        des Osloer Vertrags erneut infrage stellen.
        Ein anderer Grund gegen ein Verbot von Punktziel-
        munition besteht darin, dass sie es erlaubt, die durch das
        Verbot von Streumunition entstandene Lücke in militäri-
        schen Arsenalen teilweise zu schließen. Diese Möglich-
        keit wird es Staaten, die bisher noch nicht dem Streumu-
        nitionsverbot beigetreten sind, erleichtern, diesen Schritt
        künftig doch noch zu wagen. Wenn man, wie von den
        Grünen angestrebt, auch Punktzielmunition verbieten
        würde, ist es unwahrscheinlich, dass beispielsweise
        Russland, China, Indien, Pakistan, Israel oder die USA
        dem Streumunitionsverbot beitreten werden. Dies ist
        aber dringend notwendig, denn derzeit fallen nur 10 Pro-
        zent der weltweiten Streumunitionsbestände unter das
        Osloer Verbotsabkommen.
        Die Forderung der Grünen, der Bundeswehr gemein-
        same Operationen mit Verbündeten zu verbieten, bei de-
        nen diese möglicherweise Streumunition einsetzen, ist
        kontraproduktiv. Deutschland kann und soll bei seinen
        Partnern für ein Streumunitionsverbot aktiv werben.
        Dies ist richtig. Jedoch die Handlungsspielräume der
        Bundeswehr dadurch zu beschränken, dass sie vom poli-
        tischen Willen anderer Staaten für einen Streumunitions-
        verzicht abhängig würde, geht zu weit. Ein solcher
        Schritt würde die Fähigkeit zur Zusammenarbeit im
        Bündnis, die sogenannte Interoperabilität, schwächen.
        Derzeit scheint der Meinungsbildungsprozess in der
        NATO dahin zu gehen, von der Nutzung von Streumuni-
        tion langfristig Abstand zu nehmen. Auch die neue US-
        Regierung will keine neue Streumunition mehr anschaf-
        fen. Die Zeichen zeigen also ohnehin in die richtige
        Richtung. Aus diesen Gründen werden wir den Ent-
        schließungsantrag der Grünen ablehnen.
        Insgesamt freue ich mich, dass die breite öffentliche
        Debatte der letzten Jahre von Erfolg gekrönt war und ein
        internationales Streumunitionsverbot erreicht werden
        konnte. Jetzt muss es einerseits darum gehen, dass die
        Unterzeichnerstaaten das Verbot zügig umsetzen. Ande-
        rerseits müssen die Staaten, die dem Verbot bisher fern-
        geblieben sind, überzeugt werden, auch auf diese
        schrecklichen Waffen zu verzichten. Bei dieser Überzeu-
        gungsarbeit kommt auch der Bundesregierung und ins-
        besondere Bundesaußenminister Steinmeier eine weiter-
        hin wichtige Rolle zu. Steinmeier muss hier nun die
        Ärmel hochkrempeln und auf diese Staaten zugehen, die
        weiterhin stark auf Streumunition zurückgreifen. Er steht
        in der Pflicht, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Die
        im Juni in Berlin stattfindende Konferenz ist dafür ein
        geeigneter Anlass.
        Inge Höger (DIE LINKE): Streumunition wurde im
        Kosovo, in Afghanistan, im Libanonkrieg und auch im
        letzten Sommer in Georgien eingesetzt. Human Rights
        Watch erklärte vor wenigen Tagen: „Der sogenannte ver-
        antwortungsvolle Einsatz von Streumunition ist ein Mär-
        chen. Bemühungen, das Verbot aufzuweichen, müssen
        abgewehrt werden.“
        Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann
        ein ganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von
        Gemüsegärten und Feldern zur tödlichen Falle machen.
        Noch nach Jahrzehnten werden Menschen verstümmelt
        von den Blindgängern der Streumunition. Das erzeugt
        ein fortgesetztes Leiden der Bevölkerungen in den Kon-
        fliktregionen und macht diese Waffe zu einem ganz ent-
        scheidenden Hindernis für den Wiederaufbau nach Krie-
        gen.
        Es ist ein großer Fortschritt, wenn nun ein Staat nach
        dem anderen die Konvention zum weltweiten Verbot von
        Streumunition unterzeichnet. Die Ächtung dieser Waffe
        bekommt so einen rechtlich verbindlichen Charakter.
        Das ist vor allem das Verdienst zivilgesellschaftlicher
        Akteure wie handicap international und Aktionsbündnis
        Landmine, die in unermüdlicher Arbeit den Oslo-Pro-
        zess zum Verbot der Streumunition zum Laufen gebracht
        haben.
        Nach der Verabschiedung des „Gesetzes zu dem
        Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“
        kann auch die deutsche Regierung das Verbot der Streu-
        munition ratifizieren. Die Fraktion Die Linke begrüßt
        diesen längst überfälligen Schritt ausdrücklich! Ein
        wichtiger Schritt in die richtige Richtung wird so ge-
        macht. Bis zur vollständigen Ächtung sämtlicher For-
        men von Streumunition bleibt jedoch noch mehr zu tun.
        Die Regelungen der Oslo-Konvention und des hier de-
        battierten Gesetzes enthalten noch zu viele Ausnahme-
        regelungen. Diese sind aus humanitären Erwägungen
        nicht akzeptabel.
        Auf Betreiben der Bundesregierung sind die Ausnah-
        meregelungen im Gesetzestext von Oslo genau so for-
        muliert, dass sie präzise auf das neueste Streubomben-
        produkt des deutschen Rüstungskonzerns Diehl mit der
        Bezeichnung „SMArt 155“ zutreffen. Die Bundesregie-
        rung hat sich in den Verhandlungen über das Oslo-Ab-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23729
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        kommen als Lobbyist der deutschen Rüstungsindustrie
        profiliert. So genannte Zielpunktmunition – wie eben
        das deutsche Rüstungsprodukt „SMArt 155“ – gilt nach
        dieser Definition als akzeptabel und wird somit zum ex-
        klusiven Exportangebot. Die britische und die Schweizer
        Regierung haben bereits SMArt-155-Munition in
        Deutschland bestellt.
        Zielpunktmunition wurde in Verhandlungsdokumen-
        ten der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz unter dem
        Titel „Ausnahmen für weiterhin erlaubte Streumuni-
        tionstypen“ geführt. Diese Formulierung zeigt deutlich:
        Zielpunktmunition ist Streumunition – auch wenn die
        Anzahl der Submunitionskörper geringer ist. In Öster-
        reich war Zielpunktmunition seit 2007 als Streubomben
        verboten. Wohin die von der Bundesregierung durchge-
        setzten Ausnahmen führen, zeigt das österreichische
        Beispiel: Die österreichische Regierung hat mit ihrer
        Unterschrift unter das Oslo-Abkommen Anfang April
        2009 auch das österreichische Streumunitionsverbot auf-
        geweicht. SMArt 155 ist nun in Österreich wieder legal.
        Die Rüstungsunternehmen Diehl und Rheinmetall wis-
        sen die Zuarbeit der deutschen Regierung zu schätzen
        und werben nun weltweit damit „Die Beschaffung ist
        OHNE RISIKO“. Eine solche Wertung ist makaber!
        „Ohne Risiko“ ist die Munition nur für die Regierungen,
        die nicht befürchten müssen, dass die Munition, mit der
        sie ihre Armeen ausstatten, für illegal erklärt wird. Für
        die Opfer des Einsatzes der Streumunition bleibt das
        Risiko enorm groß und unkalkulierbar. Nicht einmal un-
        abhängige Tests existieren, die besagen, dass SMArt-155
        auch die angepriesene Qualität erfüllt. Die Fehlerquoten
        liegen erfahrungsgemäß immer über den Produzentenan-
        gaben, die unter realitätsfernen Testbedingungen entste-
        hen. Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass
        sie endlich die Interessen der Menschen und nicht dieje-
        nigen der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Po-
        litik stellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu
        ratifizieren, sondern auch alle Lagerbestände zu vernich-
        ten und die Beteiligung an Einsätzen auszuschließen, bei
        denen Streumunition eingesetzt wird.
        Die Linke wird vor allen Dingen sehr genau die Pläne
        für sogenannte alternative Flächenmunition verfolgen.
        Es darf nicht sein, dass eine grausame Waffe gegen eine
        andere grausame Waffenform ausgetauscht wird und
        diese von Deutschland in alle Welt exportiert wird.
        Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die heutige Ratifikation des Übereinkommens zum Ver-
        bot von Streumunition durch den Deutschen Bundestag
        ist ein Meilenstein der humanitären Rüstungskontrolle.
        Er ist zuallererst das Verdienst einer breiten und über-
        zeugungskräftigen Koalition von Nichtregierungsorgani-
        sationen. Auch wir haben lange auf diesen Schritt hinge-
        arbeitet. Gemeinsam mit den NGOs haben wir die
        Bundesregierung immer und immer wieder gedrängt,
        von ihrer Rolle als Bremserin des Oslo-Prozesses abzu-
        rücken. Es ist erfreulich, dass sich die Bundesregierung
        im Mai letzten Jahres schließlich besonnen hat und im
        Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo-Abkom-
        mens gehörte. Es freut mich auch persönlich ungemein,
        dass ich damit kurz vor Ende meiner Parlamentarierzeit
        doch noch einen Lichtblick in den ansonsten düsteren
        letzten Jahren der Abrüstungspolitik erleben durfte. Mit
        dieser Ratifikation ächtet Deutschland nun endlich eine
        Waffe, die wahllos verletzt und tötet und der ganz über-
        wiegend Zivilisten und Kinder – gerade auch nach
        Kriegsende – zum Opfer fallen. Ich möchte an dieser
        Stelle nicht wiederholen, was wir in den vorangegange-
        nen Debatten oder in unseren parlamentarischen Initia-
        tiven zu diesem Thema gesagt haben. Ich möchte auf die
        Brutalität und die völkerrechtliche Unverhältnismäßig-
        keit jedoch im Rahmen der heutigen Ratifikation noch
        einmal hinweisen, um daran zu erinnern, dass das
        Engagement zu diesem Thema mit dem heutigen Tag
        nicht enden darf.
        Auf dem Weg zu einem vollständigen, universellen
        und wirksamen Verbot von Streumunition bedarf es drin-
        gend weiterer Schritte. Hierbei ist vor allem die Bundes-
        regierung gefragt. Deutschland kann in der nächsten Zeit
        die Glaubwürdigkeit wiedererlangen, die die deutsche
        Bundesregierung zu Beginn des Verhandlungsprozesses
        mit ihrer restriktiven Haltung beschädigt hatte. Dafür
        muss die deutsche Bundesregierung in den nächsten Mo-
        naten gemeinsam mit den anderen Oslo-Partnern außer-
        halb des Abkommens stehende Staaten, insbesondere die
        bedeutenden Herstellerländer von Streumunition wie die
        USA, Russland und China, an das Abkommen heranfüh-
        ren. Seit Dezember sind dem Abkommen zwei weitere
        Staaten beigetreten. Und auch in den USA bewegt sich
        was. US-Präsident Barack Obama hat am 11. März 2009
        ein Gesetz unterzeichnet, das ein dauerhaftes Verbot für
        fast alle Exporte von Streumunition aus den Vereinigten
        Staaten beinhaltet. Hier muss weiter Druck gemacht
        werden. Auch in der EU gehört das Thema auf den
        Tisch: Acht der 27 EU-Mitgliedstaaten sind dem Ab-
        kommen noch nicht beigetreten. Auch von den NATO-
        Staaten stehen acht außerhalb des Abkommens. Die Ant-
        wort darauf kann nur eine sein: Die Bundesrepublik
        muss erklären, dass sie sich zukünftig nicht an gemein-
        samen Militäraktionen beteiligt, bei denen Nichtver-
        tragsstaaten Streumunition einsetzen. Eine solche Aus-
        nahme widerspräche nämlich der im Übereinkommen
        festgeschriebenen Verpflichtung der Vertragsstaaten, un-
        ter keinen Umständen Streumunition einzusetzen oder
        dabei mitzuwirken.
        Zweitens steht die Bundesregierung den anderen
        Oslo-Partnern gegenüber in der Pflicht, die Wirksamkeit
        der in Art. 2 c vom Verbot ausgenommenen „alternati-
        ven“ Streumunition – sogenannte Punkt-Ziel-Munition –
        genauestens zu prüfen. Schließlich hatte die deutsche
        Delegation bei den Verhandlungen im Mai 2008 in
        Dublin offen damit gedroht, den Vertrag nicht zu unter-
        zeichnen, sollte die Verbotsausnahme für alternative
        Streumunition nicht akzeptiert werden. Ergebnis: Streu-
        munition wie zum Beispiel die von Rheinmetall und
        Diehl produzierte SMArt-155-Artilleriemunition ist vom
        Verbot ausgenommen. Und in der Praxis wird entlang
        der technischen Parameter des Art. 2 c des Übereinkom-
        mens eine neue Generation von Streuwaffen entwickelt.
        Diese Entwicklung steht konträr zu dem Anliegen der
        Konvention. Wir erwarten von der Bundesregierung, die
        für dieses Hintertürchen verantwortlich ist, dass sie dem
        23730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
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        völkerrechtlichen Verbot von Kampfmitteln, deren Wir-
        kung nicht begrenzt werden kann und die damit militäri-
        sche Ziele und Zivilpersonen unterschiedslos treffen
        können, gerecht wird. Die Bundesregierung muss prü-
        fen, ob alternative Streumunition wirklich eine Waffe ist,
        die zuverlässig zwischen zivilen und militärischen Zie-
        len unterscheiden kann. Und diese Prüfung, liebe Kolle-
        ginnen und Kollegen, darf sich nicht darauf beschrän-
        ken, lediglich die Angaben der Hersteller zu rezitieren,
        wie es die Bundesregierung in Antwort auf unsere An-
        frage getan hat. Vielmehr muss die Bundeswehr die Wir-
        kung selbst testen, und die Prüfergebnisse müssen offen
        gelegt werden.
        Die heutige Ratifikation bedeutet zudem den Beginn
        der Vernichtung aller deutschen Streumunitionsbestände.
        Schätzungen zufolge hat die Bundeswehr 30 Millionen
        einzelne Sprengkörper im Depot, die über mehrere
        10 000 Trägersysteme verteilt werden können. Offizielle
        Angaben zum Bestand gibt es unter Verweis auf die Ge-
        heimhaltung ja bedauerlicherweise nicht. Mit dem Ver-
        bot von Streumunition ist diese Geheimniskrämerei al-
        lerdings hinfällig. Das Parlament hat schließlich auch
        eine Kontrollfunktion. Der Delaborierungsprozess darf
        daher nicht im stillen Kämmerlein vonstattengehen, son-
        dern muss für uns Parlamentarier verifizierbar sein. Die
        Bundesregierung muss die Streumunitionsbestände ge-
        genüber dem Deutschen Bundestag offenlegen und uns
        einen konkreten Zeitplan für die Vernichtung vorlegen.
        Dies beinhaltet auch, die US-Administration aufzufor-
        dern, die in Deutschland auf exterritorialem Gebiet gela-
        gerte US-Streumunition zu beseitigen und die Zuliefe-
        rung von streumunitionsrelevanten Komponenten zu
        beenden. Wir erwarten, dass auch hinsichtlich der In-
        vestmentpolitik klare Richtlinien geschaffen werden, die
        das Investment in eine deutschem oder ausländischem
        Recht unterliegende Firma verbieten, die Streumunition
        herstellt, zum Verkauf anbietet, ein- oder ausführt bzw.
        befördert.
        Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem Punkt
        kommen, der gerne überlesen wird: Gemäß Art. 6 ist je-
        der Vertragsstaat, der dazu in der Lage ist, verpflichtet,
        Vertragsstaaten, die von Streumunition betroffen sind,
        technische, materielle und finanzielle Hilfe zukommen
        zu lassen. Denn die Unterzeichnung des Abkommens al-
        lein wird die Zahl der Opfer nicht von heute auf morgen
        reduzieren. UN-Angaben zufolge droht der Zivilbevöl-
        kerung weiterhin in rund 30 Ländern noch immer Todes-
        gefahr durch verstreute Munition. Wenn wir die Konven-
        tion mit Leben füllen wollen, müssen wir unsere
        Anstrengungen im Bereich der humanitären Minenräu-
        mung in kontaminierten Regionen sowie die Hilfe bei
        der Fürsorge, Rehabilitation sowie der sozialen und wirt-
        schaftlichen Wiedereingliederung der Opfer von Streu-
        munition deutlich verstärken. Die heutige Ratifikation
        ist ein abrüstungspolitischer Meilenstein. Für unseren
        nächsten Abrüstungsschritt müssen wir keine Meile ge-
        hen: Fordern wir morgen gemeinsam die Bundesregie-
        rung auf, Gespräche über den Abzug der US-Atomwaf-
        fen aus Deutschland in die Wege zu leiten.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Nicht-
        staatliche militärische Sicherheitsunterneh-
        men kontrollieren
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Interna-
        tionale Ächtung des Söldnerwesens und
        Verbot der Erbringung militärischer Dienst-
        leistungen durch Privatpersonen und Un-
        ternehmen
        (Tagesordnungspunkt 16 a und 16 b)
        Holger Haibach (CDU/CSU): Uns liegen heute zwei
        Anträge vor, die sich mit nichtstaatlichen militärischen
        Sicherheitsunternehmen beschäftigen. Schon beim ers-
        ten Durchsehen wird dabei klar, wohin der Weg gehen
        soll. Beide Anträge eint das Ziel, diese Unternehmen
        stärker als bisher zu kontrollieren, die Beschäftigung
        von Söldnern zu verhindern und zu mehr Sicherheit in
        bewaffneten Konflikten beizutragen. Und dennoch ist
        klar, dass hier in einigen Punkten ganz verschiedene
        Sichtweisen zwischen dem Antrag der Koalition und
        dem der Linken vorherrschen.
        In der Tat besteht Handlungsbedarf, wenn es um die
        Kontrolle der privaten Sicherheitsunternehmen geht. Der
        Skandal um die Firma Blackwater hat gezeigt, dass im-
        mer häufiger Konflikte und militärische Operationen in
        die Hände Privater gegeben werden, die sich offenbar
        nicht an das humanitäre Völkerrecht halten wollen. Die
        Mitarbeiter dieser Unternehmen sind rechtlich in einer
        Grauzone; denn es handelt sich zwar nicht um echte
        Kombattanten im Sinne des Völkerrechts, aber ihnen
        den Status eines Zivilisten zuzusprechen, auf diese Idee
        käme wohl auch kein Mensch. Die CDU/CSU und die
        SPD sind sich sehr bewusst, dass es hier Handlungsbe-
        darf gibt, um das Problem anzugehen. Was wollen wir?
        Wir fordern, dass gerade die Unternehmen einer stren-
        gen Kontrolle und Registrierung unterzogen werden, die
        ihren Kunden Dienstleistungen anbieten, die den Einsatz
        ausschließlich militärischer Fähigkeiten sowie von
        Kriegswaffen einschließt. Allerdings gilt es hierbei, ge-
        nau zu unterscheiden, welche Unternehmen man dieser
        Kontrolle unterziehen möchte. Die Unternehmen, die
        etwa nur logistische Dienstleistungen wie den Transport
        von militärischen Gütern abwickeln, aber nicht in die
        Konflikte selbst hineingezogen werden, sollten nicht für
        die Skandale in Haftung genommen werden, die andere
        verursacht haben.
        Genau hierbei unterscheiden wir uns von dem Antrag
        der Linken, der pauschal alle Sicherheitsunternehmen
        über einen Kamm schert. Wie so oft bei solchen Themen
        bleibt der Antrag unpräzise und verschwommen und
        wirft Dinge zusammen, die so nicht zusammengehören.
        CDU und CSU wollen, dass die privaten militärischen
        Sicherheitsunternehmen auf nationaler Ebene registriert
        und lizenziert werden und ihr Geschäftsgebaren kontrol-
        liert wird. Wir halten es für wichtig, dass die Bundesre-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23731
        (A) (C)
        (B) (D)
        gierung über die Vertragsabschlüsse und die von den Un-
        ternehmen angenommenen Aufgaben genau informiert
        ist. Die Unternehmen, die militärische Dienstleistungen
        anbieten, sollen sich einem strengen Regime unterzie-
        hen, um zukünftig Menschenrechtsverletzungen durch
        Mitarbeiter solcher Firmen bei Konflikten zu verhin-
        dern. Dabei dürfen wir nicht die Firmen schädigen, die
        zum Beispiel die Bundeswehr bei ihren wichtigen Aus-
        landseinsätzen unterstützen und Transportkapazitäten
        für unsere Soldaten zur Verfügung stellen. Wer hier se-
        riöse Dienstleistungen erbringt, muss nicht damit rech-
        nen, strafrechtlich belangt oder verboten zu werden. Nur
        wenn die Kontrolle und Lizenzierung der militärischen
        Sicherheitsunternehmen sichergestellt ist, ist auch ge-
        währleistet, dass die Unternehmen in einem klaren recht-
        lichen Rahmen agieren können; denn wir fordern auch
        klare Haftungsbedingungen sowie Regelungen zur Ver-
        folgung bei möglichen Straftaten. Damit wird deutlich:
        Der bisherige rechtsfreie Raum muss ein Ende haben,
        damit klare Grenzen für die Einsätze der Sicherheitsun-
        ternehmen bestehen.
        Das Thema hat jedoch nicht nur eine deutsche, son-
        dern auch eine internationale Komponente. Wir bitten
        die Bundesregierung, die Ratifizierung der Konvention
        gegen das Söldnertum einzuleiten und einen entspre-
        chenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wenn diese Kon-
        vention endlich die notwendige Zustimmung erlangt, die
        sie benötigt, um wirksam zu werden, dann ist auch die
        Anwerbung von Söldnern wirksamer als bisher zu unter-
        binden. Deutschland muss hier auch aktiv werden und
        die Konvention unterstützen. Zwar beinhaltet das beste-
        hende Völkerstrafgesetzbuch entsprechende Regelun-
        gen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht un-
        ter Strafe stellen, aber dennoch ist es uns wichtig, dass
        das Söldnerwesen bekämpft wird. Die Konvention kann
        dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Die oben be-
        reits erwähnte begriffliche Unschärfe bei der Definition
        von militärischen Sicherheitsunternehmen setzt sich lei-
        der auch auf der Ebene der Vereinten Nationen fort.
        Auch hier ist eine klare und unmissverständliche Be-
        griffsbestimmung notwendig, um die Grenzen zwischen
        Dienstleistern und Söldnerfirmen zu ziehen. Damit ein-
        hergehen soll, wie auch auf nationaler Ebene, die Regis-
        trierung der Unternehmen und eine Kontrolle der von
        ihnen geschlossenen Verträge. Auch hier muss es Sank-
        tionsmöglichkeiten und gesetzliche Regelungen geben,
        die Verstöße gegen das geltende Völkerrecht unter Strafe
        stellen. Internationale Einsätze dürfen nicht dazu miss-
        braucht werden, Menschenrechtsverletzungen zuzulas-
        sen und Konflikte anzuheizen. Die Bundesrepublik
        sollte hier die Initiative ergreifen und Vorschläge zur
        Klärung der rechtlichen Fragen und notwendigen Defini-
        tionen erarbeiten. Eines möchte ich an dieser Stelle ganz
        deutlich machen: Meine Fraktion lehnt das Söldnertum
        und die häufig damit verbundenen Menschenrechtsver-
        letzungen entschieden ab. Jedoch muss man sehen, dass
        es auch weiterhin bewaffnete Konflikte in der Welt ge-
        ben wird, die den Einsatz internationaler Streitkräfte zur
        Friedenssicherung erfordern. Und diese Streitkräfte,
        auch die deutsche Bundeswehr, werden, wenn es der
        Einsatz erfordert, auch auf private Dienstleister zurück-
        greifen müssen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Wir brau-
        chen die Unterstützung von Unternehmen im Bereich
        des Transports und der Logistik. Wir wollen aber keines-
        falls eine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols,
        sondern halten an dem bisher Bewährten fest. Dies erfor-
        dert aber auch, dass wir auch zukünftig auf private Un-
        ternehmen zurückgreifen können müssen, wenn es not-
        wendig erscheint. Daher treten wir entschieden für eine
        Bekämpfung des Söldnertums und für klare rechtliche
        Rahmenbedingungen für militärische Sicherheitsunter-
        nehmen ein.
        Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem Antrag
        der Linken sagen. Auch wenn die Verfasser teilweise
        ähnliche Ziele wie wir verfolgen, so lehnen wir diesen
        Antrag jedoch entschieden ab. Er ist erfüllt vom Geist des
        Anti-Amerikanismus und der lange gehegten Feindschaft
        gegenüber den Sicherheitsstrukturen der NATO. Es ist lei-
        der wahr, dass es im Umfeld des Irakkriegs zu Menschen-
        rechtsverletzungen durch militärische Sicherheitsunter-
        nehmen gekommen ist. Diese sind jedoch nicht den
        kollektiven Sicherheitsmechanismen der NATO anzulas-
        ten, sondern sind eklatante Verstöße der Mitarbeiter sol-
        cher Firmen. Wir verurteilen dies aufs Schärfste, sind
        aber nicht bereit, Ihre pauschalen Vorwürfe gegenüber
        der NATO hinzunehmen. Hier vermischen Sie in unzu-
        lässiger Weise Ihre berechtigte Kritik an dem Vorgehen
        solcher Söldnerfirmen mit dem Einsatz der NATO in be-
        waffneten Konflikten. Auch sonst bleiben Ihre Forderun-
        gen aufgrund der begrifflichen Unschärfe sehr vage. Ich
        will dies an einem Beispiel verdeutlichen. So fordern Sie
        zwar die Erfassung und Kontrolle aller Sicherheitsunter-
        nehmen in Deutschland. In Ihrem nächsten Punkt wollen
        Sie jedoch die Auftragsannahme und -erfüllung privater
        militärischer Sicherheitsaufgaben deutschen Staatsbür-
        gern und Unternehmen verbieten. Wie soll das zusam-
        menpassen? Entweder Sie entscheiden sich dafür, dass
        es solche Unternehmen gibt, und dann müssen sie sich
        auch registrieren und kontrollieren lassen, oder Sie ver-
        bieten sie ganz. Dann allerdings ist eine Registrierung
        auch nicht mehr notwendig. Für mich ist dies ein erheb-
        licher Widerspruch, den Ihr Antrag nicht lösen kann. Vor
        diesem Hintergrund bitte ich Sie um die Stimmen für un-
        seren Antrag, denn ich bin überzeugt, dass wir damit ei-
        nen wichtigen Beitrag für die Bekämpfung des Söldner-
        wesens leisten können. Kontrolle und Registrierung
        scheinen mir sinnvoller als ein Verdrängen des Problems
        in die unkontrollierbare Illegalität zu sein.
        Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Es erfüllt mich mit
        großer Freude und Genugtuung, dass dieser Initiativ-
        antrag letztendlich doch noch den Weg ins Parlament ge-
        funden hat. Allen, die daran mitgewirkt haben, allen, die
        viele Stunden Arbeit in den verschiedensten Ausschüs-
        sen, die damit befasst waren und befasst werden muss-
        ten, in das Gelingen investiert haben, möchte ich meinen
        besonderen Dank aussprechen.
        Es war eine schwierige Materie, die es mit den priva-
        ten Militär- und Sicherheitsfirmen, PMSF, zu behandeln
        galt. Und das kann auch nicht anders sein, wenn man et-
        was regeln muss, das die Grundlagen unseres Staates
        und unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens anbe-
        trifft, nämlich wenn es – wie in diesem Fall – um unsere
        23732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        Sicherheit und das staatliche Gewaltmonopol geht. Aber
        gerade weil es eine solch fundamentale Materie ist, die
        wir hier behandeln – und die ja jeden Bürger in unserem
        Lande ganz grundsätzlich angeht und betrifft –, finde ich
        es bedauerlich, dass wir diesen Antrag zu nachtschlafen-
        der Stunde quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit
        ohne weitere Aussprache und Debatte beschließen.
        Als Abgeordneter des Europarats habe ich in jenem
        Gremium einen Antrag eingebracht, der sich gegen die
        Erodierung des staatlichen Gewaltmonopols durch pri-
        vate Militär- und Sicherheitsfirmen wendet. Der Bericht,
        den ich im Februar erstattet habe, wurde von allen
        47 Mitgliedstaaten und von allen dort vertretenen Par-
        teien – von rechts bis links – einstimmig angenommen.
        Hierin werden die nationalen Regierungen und Parla-
        mente unter anderem aufgefordert, entlang verschiede-
        ner Kriterien den Bereich der PMSF gesetzlich zu re-
        geln. Er fordert die Mitgliedstaaten aber auch dazu auf,
        gemeinsame Prinzipien zur Verteidigung des staatlichen
        – inneren wie äußeren – Gewaltmonopols zu erarbeiten.
        Ich bin deshalb stolz darauf, dass Deutschland zu den
        Ersten gehört, die den privaten militärischen Sicherheits-
        unternehmen gesetzliche Zügel anlegen wollen. Den-
        noch hätte ich mir gewünscht, dass wir bei der Ausarbei-
        tung der Regelungen etwas mutiger gewesen wären. Die
        Beteiligung privatwirtschaftlicher nichtstaatlicher – deut-
        scher – Akteure an bewaffneten Konflikten haben wir
        beispielsweise in diesem Initiativantrag nicht ausge-
        schlossen. Und es ist auch fraglich, ob wir mit diesen
        Regelungen eine weitgehende Kontrolle und Transpa-
        renz der PMSF erzielen werden. Aber diese neun
        Punkte, die wir die Bundesregierung auffordern, gesetz-
        lich umzusetzen, sind ein erster Schritt – und, wie ich
        meine, ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung.
        Wahrscheinlich wären weitergehende Forderungen bei
        den gegenwärtigen Interessenlagen nicht kompromiss-
        und damit beschlussfähig gewesen. Aber gerade deshalb
        möchte ich betonen, dass wir meiner Meinung nach nur
        den ersten Schritt gemacht haben und weitere schnellst-
        möglich folgen müssen. Einige wenige Punkte möchte
        ich benennen, die uns noch zu beschäftigen haben und
        für die wir als Parlamentarier und Gesetzgeber eine Lö-
        sung finden müssen.
        Es ist wenig glaubhaft, wenn wir einerseits mehr
        Transparenz und Kontrolle von PMSF einfordern, ande-
        rerseits aber Auslandseinsätze von privaten militärischen
        Sicherheitsunternehmen, die im Auftrag der Bundesre-
        publik Deutschland tätig werden, nicht an den Parla-
        mentsvorbehalt binden. Die Praxis in den USA unter der
        Präsidentschaft von Georg W. Bush hat beispielsweise
        im Hinblick auf den Einsatz von PMSF im Irak deutlich
        gemacht, dass deren Aktivitäten vom Parlament nicht zu
        kontrollieren waren.
        Wir können auch nicht einfach zusehen, wenn deut-
        sche Unternehmen, NGOs, humanitäre Organisationen
        etc. für ihre Tätigkeiten im Ausland PMSF engagieren.
        Es wäre an eine Anzeigepflicht beim Außenministerium
        und BND einerseits sowie bei den jeweils betroffenen
        deutschen Botschaften andererseits zu denken. Unge-
        klärt ist außerdem, welche Aufgaben und Kompetenzen
        private militärische Sicherheitsunternehmen überhaupt
        übernehmen und anbieten dürfen. Schon jetzt reichen
        deren Dienstleistungsangebote weit in den Bereich staat-
        licher Hoheitsaufgaben hinein. Es ist daher erforderlich,
        einerseits eine Definition der Bereiche im Sicherheits-
        sektor vorzunehmen, die keinesfalls aus staatlicher Ho-
        heit entlassen werden dürfen, und andererseits ist eine
        Festlegung von klar abgegrenzten Aufgaben- bzw. Kom-
        petenzbereichen für PMSF vonnöten. Des Weiteren müs-
        sen für diese Unternehmen Zulassungs- und Tätigkeits-
        kriterien erarbeitet werden.
        Auf internationaler Ebene – um nur einen Punkt zu
        nennen – können wir es nicht allein den Vereinten Natio-
        nen überlassen – oder den VN allein die Verantwortung
        zuschieben –, für Transparenz und Kontrolle der PMSF
        zu sorgen. Auch auf bilateraler bzw. zwischenstaatlicher
        oder auf EU- und NATO-Ebene müssen Abkommen zur
        Kontrolle von PMSF geschlossen, müssen Aufsichtsme-
        chanismen und Kooperationsforen für diesen Bereich
        geschaffen werden. Lassen Sie mich zum Schluss die
        Hoffnung aussprechen, dass dieser Initiativantrag trotz
        der vorhandenen Lücken, die er aufweist und die wir
        bald schließen müssen, Zustimmung und eine breite
        Mehrheit in diesem Haus findet.
        Jörg van Essen (FDP): Erlauben Sie mir, an dieser
        Stelle zunächst den Blick zurückzuwerfen! Auf Verlan-
        gen meiner Fraktion haben wir hier am 11. April 2008 in
        einer Aktuellen Stunde die Haltung der Bundesregierung
        zur Tätigkeit deutscher Sicherheitskräfte in Libyen dis-
        kutiert. Unabhängig wie man die damaligen Vorgänge
        bewertet, so hatte ich doch schon damals den Eindruck,
        dass es in allen Fraktionen gewichtige Stimmen gab, die
        in Anbetracht der gegenwärtigen Rechtslage Unbehagen
        empfanden und empfinden. Für meine Fraktion möchte
        ich auch vorwegschicken: Ich bin sehr froh, dass wir
        keine militärischen Sicherheitsunternehmen in Deutsch-
        land haben. Das Gewaltmonopol des Staates bei militäri-
        schen Aufgaben ist für mich unverrückbar. Unser
        Grundgesetz gibt uns hier klare Vorgaben. Danach hat
        der Bund die Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen.
        Es handelt sich grundsätzlich also um eine staatliche
        Aufgabe. Das ist auch richtig so. Man braucht sich nur
        vorzustellen, was Waffen in falschen Händen anrichten
        können! Piraterie ist hier nur ein Beispiel von vielen.
        Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
        macht deshalb auch vollkommen zu Recht klar, dass die
        Privatisierung militärischer Funktionen langfristig zu ei-
        nem fundamentalen Wandel im Verhältnis zwischen
        Militär und Nationalstaat führen und das Gewaltmono-
        pol des Staates infrage gestellt werden könnte. Diese
        Sorge teilt meine Fraktion uneingeschränkt. Ich komme
        auch deswegen gerne auf die Debatte im Jahr 2008 zu
        sprechen, da der CDU-Kollege Holger Haibach damals
        eine Begebenheit aus der rot-grünen Regierungszeit in
        Erinnerung gerufen hat, mit der ich ihn hier gerne noch-
        mals zitieren möchte:
        Ganz interessant ist auch die Antwort der damali-
        gen rot-grünen Bundesregierung auf eine Anfrage
        der FDP-Fraktion zu diesem Thema. Da heißt es,
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23733
        (A) (C)
        (B) (D)
        dass die Registrierung einen erheblichen Eingriff in
        die unternehmerische Freiheit bedeuten würde,
        ohne dass die Aussicht besteht, dadurch ungewollte
        Aktivitäten privater Sicherheitsunternehmen in
        Drittstaaten zu erschweren oder zu unterbinden.
        Das ist schon interessant: Die FDP, die Partei der
        freien und sozialen Marktwirtschaft, fordert eine
        Registrierung, und Rot-Grün hat sie abgelehnt. Das
        ist ein interessanter Nebenaspekt in dieser Angele-
        genheit.
        Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich auch in dieser
        Legislaturperiode schon frühzeitig ganz intensiv mit
        dem Thema Privatisierung von Sicherheit befasst. Zwar
        ist Deutschland im internationalen Vergleich ein Land,
        das sich bei der Auslagerung – was ich auch richtig finde –
        am meisten zurückhält. Gleichzeitig habe ich große
        Sympathien für Forderungen nach einer Regulierung,
        wo und wieweit Sicherheitsdienstleister zum Einsatz
        kommen können. Es kann nicht sein, dass wir detaillierte
        Regeln zum Feinstaub erlassen, aber in dieser Frage
        schweigen! Umso enttäuschter war ich, als die Bundes-
        regierung mir im Herbst auf meine schriftliche Frage
        nach einem entsprechenden Gesetz zur besseren Kon-
        trolle nichtstaatlicher Sicherheitsunternehmen beschied,
        dass eine Prüfung ergeben habe, dass vor dem Hinter-
        grund der bereits existierenden Vorschriften im Außen-
        wirtschafts- und Beamtenrecht zusätzliche Regelungen
        nicht nötig seien. Umso mehr freue ich mich heute, dass
        der Antrag der Koalitionsfraktionen, den wir heute bera-
        ten, durchaus den Bedarf an rechtlichen Leitplanken
        sieht. Auch die FDP-Bundestagsfraktion sieht hier Re-
        gulierungsbedarf. Ich weiß, dass dieser Antrag nur einen
        ersten Schritt darstellt und auch nur einen Minimalkon-
        sens widerspiegeln kann. Gleichzeitig ist es wichtig,
        dass sich das Parlament dieses Themas endlich ange-
        nommen hat. Gerade weil wir das Selbstverständnis ei-
        ner Parlamentsarmee haben, kann es nicht sein, dass wir
        uns an dieser Stelle im privaten Bereich wegducken.
        Dabei finde ich es richtig, dass der Antrag zwischen
        nationalen und internationalen Handlungsaufträgen dif-
        ferenziert und einen eindeutigen Fokus auf den Umgang
        mit privaten militärischen Sicherheitsunternehmen legt.
        Die Bundesregierung wird gut beraten sein, wenn auch
        sie bei ihren Überlegungen zwischen privaten Sicher-
        heitsdienstleistern auf der einen Seite und privaten Mili-
        tärdienstleistern auf der anderen Seite genau unterschei-
        det, wobei mir durchaus bewusst ist, dass dies nicht
        immer einfach ist. Eine Private Military Company kennt
        einen Feind, den sie bekämpfen will, während eine Pri-
        vate Security Company diesen in dem Sinne nicht kennt.
        Ich habe übrigens auch aus einer Anhörung der FDP das
        große Bedürfnis nach klaren gesetzlichen Leitplanken
        aus der Sicherheitsbranche im weitesten Sinne selbst
        mitgenommen. Sie selbst sind es zuallererst, die klare
        Richtlinien benötigen, die aufzeigen, was aus unserer
        Sicht zulässig ist und was nicht. Ein Teilnehmer unserer
        Anhörung sagte – wenn ich mich recht erinnere – sinn-
        gemäß, dass in Deutschland der Milchmarkt und das
        Fleischerhandwerk besser reguliert sind als der Markt
        privater Sicherheitsdienstleister. Dieser Zustand ist nicht
        haltbar! Ich möchte an dieser Stelle noch kurz auf eine
        Ausführung aus dem Bericht des Auswärtigen Aus-
        schusses zu sprechen kommen: Auch mir ist es wichtig,
        an dieser Stelle nochmals klarzumachen, dass militäri-
        sche Aufgaben im Auftrag der Bundesregierung im Aus-
        land im Sinne des staatlichen Gewaltmonopols nur von
        der Bundeswehr wahrgenommen werden können. Es ist
        gut, dass dies hier unstrittig ist.
        Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Der Erosion des
        staatlichen Gewaltmonopols durch die Privatisierung
        von militärischen Dienstleistungen muss entgegenge-
        wirkt werden. Darin scheinen sich alle einig. In der Tat:
        Die Privatisierung des Krieges bzw. der militärischen
        Gewalt ist inzwischen ein Riesenproblem. Vor allem im
        Irak und in Afghanistan ist ein gewaltiges Heer von so-
        genannten Sicherheitsdienstleistern unterwegs – Men-
        schen also, die ihren Sold von sogenannten Private Mili-
        tary Companies beziehen. Im Irak tummelten sich
        zeitweise genauso viele Privatiers im Auftrag der USA
        wie Soldaten: 160 000! In Afghanistan geht man von
        30 000 Sicherheitsdienstleistern aus. Und es geht nicht
        in erster Linie um die Bereitstellung von Toiletten oder
        anderen logistischen Leistungen: Es geht um bewaffne-
        ten Schutz, die Ausbildung von Milizen und Soldaten,
        um das Verhör von Gefangenen, um Aufklärung und
        auch um Unterstützung für Kampfeinsätze. Die Linke
        will diese Entwicklung nicht als gegeben hinnehmen.
        Und das ist die entscheidende Differenz zwischen uns
        und der Regierungskoalition.
        In ihrem Antrag heißt es, – ich zitiere wörtlich – „ein
        striktes Verbot von privaten militärischen Sicherheitsun-
        ternehmen ist nicht durchsetzbar“. Nachdem man diese
        Entwicklung nunmehr bald zwanzig Jahre tatenlos hin-
        genommen hat, ist es in der Tat schwierig, den Geist
        wieder in die Flasche zu bekommen. Aber es reicht ein-
        fach nicht, diese Privatisierung des Militärischen nur et-
        was regeln, etwas besser kontrollieren zu wollen. Nie-
        mand hier hat etwas dagegen, dass sich diese
        nichtstaatlichen Sicherheitsunternehmen registriert las-
        sen müssen, dass sie eine Lizenz brauchen, dass sie sich
        einem Verhaltenskodex unterwerfen und dass sie für Ge-
        setzesverstöße haftbar gemacht werden können. Aber
        das genügt eben nicht. Wir, die Linke, halten diesen An-
        satz für grundfalsch. Weil es um demokratische Kon-
        trolle, um rechtlich verbindliche Grundlagen und um
        klare Haftungsregeln geht, sagen wir: Sicherheit ist ein
        öffentliches Gut, auch weil es hier – wir reden von
        Kriegs- und Krisensituationen – immer auch um den
        Schutz von Menschenleben, den Schutz körperlicher In-
        tegrität geht.
        Daher muss dem allgemeinen Trend zur Privatisie-
        rung der Gewalt endlich etwas entgegengesetzt werden.
        Aber bleiben wir realistisch: Es wird auf absehbare Zeit
        nicht gelingen, private Sicherheitsunternehmen in
        Deutschland per se zu verbieten, auch weil der Staat, der
        sich selber arm gemacht hat, seinen Verpflichtungen zur
        öffentlichen Daseinssicherung nur noch ungenügend
        nachkommt. Aber die Aufgabe bleibt, dass dieser Trend
        zur Privatisierung umgekehrt werden muss. Vor allem
        geht es uns darum, besonders restriktive Regelungen für
        die Bundesrepublik Deutschland festzuschreiben – weil
        23734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        wir hier diese Dinge noch regulieren können! Im Klar-
        text: Wir wollen, dass hierzulande keine Sicherheitsun-
        ternehmen zugelassen werden, die eng mit dem harten
        Kern des Militärischen verbandelt sind. Noch gibt es
        hier keine Dyncorps und Blackwaters, noch plant die
        Bundeswehr – zumindest offiziell – keine Auslandsein-
        sätze gemeinsam mit privaten Anbietern. Noch kann
        man aus den Erfahrungen anderer Staaten wie den USA
        und Südafrika lernen und deren Fehler vermeiden. Noch
        ist es möglich, die rechtlichen Grundlagen für ein umfas-
        sendes Verbot für die Erbringung von militärischen
        Dienstleistungen durch Unternehmen im Ausland zu
        schaffen.
        Hier aber wird zu später Stunde und quasi unter Aus-
        schluss der Öffentlichkeit abschließend über die Legali-
        sierung eines neuen Kriegsinstruments entschieden. Das
        ist eigentlich völlig inakzeptabel. Wir stehen in Deutsch-
        land heute an einem Scheideweg. Machen wir die Tür
        auf, oder lassen wir sie zu? Leider muss es gesagt wer-
        den: Ihr Antrag macht eine Tür auf, die geschlossen blei-
        ben muss. Dass Sie vor der Aufgabe kapitulieren, der
        Privatisierung militärischer Gewalt eine klare Absage zu
        erteilen, hat auch damit zu tun, dass Sie leider wieder
        einmal Opfer Ihrer Unterwerfung unter die neoliberale
        Logik werden.
        Wenn letztlich alles der Logik und den Prinzipien des
        Marktes untergeordnet werden kann, warum nicht der
        Sicherheitssektor? Und dass es sich um einen lukrativen
        Markt handelt, ist nicht zu übersehen. Inzwischen gibt es
        auch hier in Deutschland mehrere Tausend Sicherheits-
        firmen mit milliardenschweren Umsätzen. Diese Unter-
        nehmen schielen zunehmend auch auf den lukrativen in-
        ternationalen Markt. Der weltweite Umsatz wird
        immerhin auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt.
        Es ist eine gefährliche Illusion, wenn Sie in Ihrem
        Antrag suggerieren, dass unter Kriegs- und Konfliktbe-
        dingungen private Sicherheitsakteure hinreichend kon-
        trolliert werden könnten. Schon die parlamentarische
        Kontrolle von Streitkräften ist häufig schwierig. Wie soll
        dies bei Firmen gelingen, die sich – ähnlich wie die Rüs-
        tungsindustrie – auf den Schutz ihrer Geschäftsinteres-
        sen berufen? Personal wird auf Zeit angeheuert, Auf-
        träge werden über Subunternehmer abgewickelt. Läuft
        etwas schief, kann einfach der Firmensitz verlegt wer-
        den. Konkurs wird angemeldet, oder man ändert einfach
        den Namen, wie zum Beispiel jüngst Blackwater – die
        sich nun Xe nennen. Hier von Haftungsmöglichkeiten
        durch die Opfer zu reden, grenzt an Zynismus.
        Auch andere Punkte sprechen gegen Ihren minimalis-
        tischen Ansatz: Die Grenzen zwischen Söldnern, militä-
        rischen Dienstleistern und Sicherheitsdienstleistern sind
        fließend. Zum Schutz von Transporten oder Objekten
        angeheuerte Privatfirmen kommen nahezu unweigerlich
        in die Lage, auch schießen zu müssen. Weiter: Diese Si-
        cherheitsunternehmen sind in der Regel transnationalen
        „Gemischtwarenläden“ zugehörig. Enge Verflechtungen
        zu Rüstungsunternehmen und Rohstoffkonzernen sorgen
        dafür, dass beim Einsatz auch noch andere Eigeninteres-
        sen den Grad der Auftragserfüllung bestimmen. Wie
        groß ist deren Interesse an einer schnellen Beendigung
        des Konflikts wirklich? Die Inanspruchnahme von Si-
        cherheitsunternehmen in gewaltträchtigen Konfliktla-
        gen bedeutet daher nichts anderes, als den Bock zum
        Gärtner zu machen. Und genau dies will die Linke nicht.
        Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Zögern, zaudern und interne Kontroversen, das hat Sie,
        liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bei
        den bisherigen Beratungen zum Antrag zu nichtstaatli-
        chen militärischen Sicherheitsunternehmen umgetrie-
        ben. Manchmal ist Zögern ja ganz gut und fruchtbar,
        dasselbe gilt für Kontroversen. Im vor uns liegenden Fall
        ist das leider nicht der Fall.
        Zugegeben, an einer Stelle ist der Antrag zuletzt tat-
        sächlich besser geworden, und zwar dort, wo Sie einge-
        sehen haben, dass eine Sache nicht sein kann: nämlich
        dass wir als Parlament künftig statt der Bundeswehr
        auch private Sicherheitsunternehmen in Auslandsein-
        sätze schicken. Der Groschen ist bei Ihnen noch recht-
        zeitig gefallen. Immerhin!
        Doch das ändert nichts daran, dass der Antrag weiter-
        hin an zwei entscheidenden Stellen zu schwach, ungenau
        und damit gefährlich zahnlos ist. Erstens: Sie bieten wei-
        terhin keine Antwort darauf, wie sichergestellt werden
        kann, dass das Gewaltmonopol des Staates unbedingt
        eingehalten und gesichert wird. Und zweitens: Sie leis-
        ten keinen Beitrag dazu, die komplexe Frage nach der
        rechtlichen Stellung privater Sicherheitsunternehmen zu
        klären.
        Militärische Aufgaben sind und bleiben Aufgaben des
        Staates. Was Sie hier als Antrag präsentieren, der die
        Aushöhlung dieses Prinzips unterbinden soll, ist so ne-
        bulös, dass er maximal ein Feigenblatt ist. Und dahinter
        können private Sicherheitsunternehmen weiterhin un-
        kontrolliert ihren Geschäften nachgehen!
        Da ist sogar der Antrag der Linksfraktion konsequen-
        ter; denn er sieht wenigstens dem Problem ins Auge.
        Doch es wird der Sache nicht gerecht, dass Sie, liebe Kol-
        leginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sich auch
        bei einem so heiklen Thema nicht zu schade sind, Ihr
        Mantra vom Ende der Auslandseinsätze der Bundeswehr
        abzuspielen. Was wollen Sie eigentlich? Das Problem der
        unkontrollierten privaten Sicherheitsfirmen lösen oder
        uns weiter Ihre außenpolitische Verantwortungslosigkeit
        vorführen?
        Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Zahl der
        privaten Sicherheitsunternehmen auffällig zugenommen.
        Sie sind international aktiv, in Konfliktgebieten, in de-
        nen vor allem eines herrscht: Unübersichtlichkeit. Viele
        Staaten ziehen sich immer weiter zurück und schaffen so
        überhaupt erst das Operationsgebiet für private Sicher-
        heitsunternehmen – land- wie seeseitig. Das ist der fal-
        sche Weg! Wenn der Staat seine Aufgaben ernst nimmt
        und erfüllt, dann löst sich die äußerst heikle Frage des
        Einsatzes privater Sicherheitsunternehmen von selbst.
        So wird ein Schuh daraus!
        Um Missverständnissen vorzubeugen: Mir geht es
        nicht darum, private Sicherheitsunternehmen zu verbie-
        ten. Das Beispiel Südafrika zeigt, dass dieser Schritt
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23735
        (A) (C)
        (B) (D)
        keine Lösung darstellt. Uns geht es darum, dass der Staat
        seine Aufgaben erfüllt, das Gewaltmonopol nicht ausge-
        höhlt wird und dass klargestellt wird, was private Sicher-
        heitsunternehmen dürfen und was nicht, und vor allem,
        wie sie effektiv kontrolliert werden.
        Auch vor dieser Frage – der Kontrolle privater Sicher-
        heitsunternehmen – ziehen Sie, liebe Kolleginnen und
        Kollegen von der Koalition, den Kopf ein. „Selbstregu-
        lierung“ ist Ihr Vorschlag: freiwillige Verhaltenskodizes.
        Meine Fraktion hat in dieser Woche eine interne Anhö-
        rung zu diesem Thema durchgeführt, bei der der Ge-
        schäftsführer einer privaten Sicherheitsfirma anwesend
        war. Seine Firma ist selbst im Irak aktiv. Ich habe ihn auf
        Ihr Wundermittel „Selbstregulierung“ angesprochen.
        Seine Reaktion war klar: Das ist doch alles nur – Zitat –
        „blah, blah“; daran halte sich sowieso niemand. – Sie
        präsentieren uns hier einen Feigenblatt-Antrag, wir wol-
        len Klarheit und verbindliche Regeln. Anders geht es
        nicht!
        Ein Beispiel dazu: Mir hat bis heute noch niemand er-
        klären können, warum wir im Außenwirtschaftsgesetz
        den Export von Waffen regeln, aber nicht den Export
        von Menschen, die diese benutzen. Wir sind der Ansicht,
        dass auch Dienstleistungen im Außenwirtschaftsgesetz
        reguliert werden müssen! Natürlich sind solche klaren
        Regelungen auf nationaler Ebene nur der Anfang. Wo
        wir hinkommen müssen, das sind internationale Regeln
        und Mechanismen zu Lizenzierung, Kontrolle und Sank-
        tionierung! Der Antrag der Koalition ist kein hilfreicher
        Schritt auf diesem Weg. Daher werden wir ihn ablehnen.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der
        abfallrechtlichen Produktverantwortung für
        Batterien und Akkumulatoren
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Schad-
        stoffbelastung durch Batterien begrenzen
        (Tagesordnungspunkt 18 a und b)
        Michael Brand (CDU/CSU): Der heute zu beratende
        Gesetzentwurf zu einem Batteriegesetz ist vor allem er-
        forderlich, um die entsprechende EU-Richtlinie umzu-
        setzen. Dass wir dabei noch immer auf entsprechende
        Ausführungsbestimmungen der EU-Kommission war-
        ten, ist bedauerlich und erfordert die Einfügung von Ver-
        ordnungsermächtigungen für die Bundesregierung. Dass
        wir bei der Ausformulierung der dann zu erlassenden
        Bestimmungen darauf setzen, dass das Bundesumwelt-
        ministerium dies im Geiste der Beratungen dieses Batte-
        riegesetzes tut, will ich ausdrücklich zu Beginn meiner
        Rede betonen.
        Dass wir die Gelegenheit dazu nutzen, um weitere
        Verbesserungen an der Sammlung und auch dem Inver-
        kehrbringen von Batterien und Akkus sowie eine zeitge-
        mäße Erhöhung des Umwelt- und Verbraucherschutzes
        zu bewirken, ist ein gutes Beispiel für eine besonnene
        Umsetzung von Richtlinien der EU, an deren Zustande-
        kommen auf europäischer Ebene wir als Mitgliedstaat
        im Jahre 2006 schon intensiv beteiligt waren.
        Folglich will ich vorab für die CDU/CSU ausdrück-
        lich hervorheben, dass wir im Batteriegesetz nicht nur
        das wichtige Recycling von gebrauchten Altbatterien
        und -akkus regeln und modernisieren. Wir setzen auch
        klare Eckpunkte in der Information beim Verbraucher-
        schutz: Durch die erweiterte Kennzeichnungspflicht
        wird in Zukunft auf jeder Batterie die Kapazität abzule-
        sen sein, was bei der doch sehr unterschiedlichen Leis-
        tungsfähigkeit der in unserem Alltag immer wichtiger
        werdenden Batterien einen sehr wichtigen Beitrag gegen
        Billigbatterien von schlechterer Qualität leisten kann.
        Allerdings ist aus umweltpolitischer Sicht der starke Zu-
        wachs des Gebrauchs von wiederaufladbaren Akkus sehr
        zu begrüßen; zudem ist dort die Angabe der Leistungsfä-
        higkeit schon lange Standard.
        Wir können uns in Deutschland auch im Bereich des
        Batterie-Recyclings durchaus als Vorreiter in Europa be-
        trachten. Die bereits seit zehn Jahren durch die nun ab-
        zulösende Batterieverordnung etablierten Rücknahme-
        systeme in Deutschland haben dazu geführt, dass wir
        bereits heute die im Batteriegesetz vorgesehene Rück-
        nahmequote von 35 Prozent ab dem Jahr 2012 mit
        41 Prozent erfüllen und ohne Frage auch die ab dem Jahr
        2016 geltende Quote von 45 Prozent sicher ebenfalls er-
        reichen bzw. überschreiten werden. Es ist möglich, dass
        wir mit dem zentralen Register eventuell rechnerisch die
        Basis der in Verkehr gebrachten Batterien vergrößern,
        weil wir dann auch diejenigen Hersteller und Inverkehr-
        bringer erfassen, die sich bislang an den Rücknahmesys-
        temen vorbeimogeln. Wenn das kurzfristig zu einem
        langsameren Anstieg der Quote führen sollte, ist dies si-
        cherlich durch entsprechende Maßnahmen kompensier-
        bar. Ohnehin wird es – wie später auszuführen ist – eine
        sorgfältige weitere Beobachtung der Auswirkungen ein-
        zelner Teile des Batteriegesetzes geben.
        Natürlich begrüßen wir als CDU/CSU auch die künf-
        tige weitere Beschränkung der Verwendung von Gift-
        stoffen wie vor allem Cadmium. Wir haben einen hohen
        Stand an Schutz für Verbraucher und Umwelt erreicht,
        und wir bauen diesen mit diesem Gesetz weiter aus. In
        diesem Zusammenhang ist auch zu sagen, dass die weit
        überdehnten Anträge von Bündnis 90/Die Grünen übers
        Ziel hinausschießen und deshalb abgelehnt werden müs-
        sen.
        Durch das in Deutschland seit zehn Jahren erfolgrei-
        che System werden weit höhere Rücknahmequoten als
        die in der Vorgabe der Batterierichtlinie genannten er-
        reicht. Dieses erfolgreiche System ist im Zusammenspiel
        zwischen Hersteller und Handel auf der einen und quali-
        fizierten mittelständischen Entsorgern und Kommunen
        auf der anderen Seite eingerichtet und erfolgreich umge-
        setzt worden.
        In diesem Zusammenhang soll und muss hier aus-
        drücklich die stabilisierende und den Wettbewerb stär-
        kende Rolle der mehr als 400 mittelständischen Sammler
        herausgehoben werden. Umso kritischer muss daher
        23736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        (A) (C)
        (B) (D)
        auch hier zum BMU-Entwurf angemerkt werden, dass
        diese zum Teil diskriminiert werden, indem die gewerb-
        lichen Sammler – sie sind doch besser als andere im
        Umgang mit dem Sondermüll Altbatterie qualifiziert –
        aus eben dieser gewachsenen Struktur nun herausge-
        drängt werden können, wenn die nun ermöglichte Ge-
        staltung der Verträge zwischen Herstellern und Handel
        den Herstellern quasi einen Monopolzugriff auf den
        wichtigen Stoffstrom der Altbatterien durch die Hinter-
        tür ermöglicht. Dieses Aussperren des Mittelstandes
        durch den Gesetzentwurf des BMU ist und bleibt ein
        Makel. Wir bedauern als CDU/CSU, dass es in den Ge-
        sprächen mit der SPD-Fraktion nicht mehr gelungen ist,
        die erfolgreiche Praxis aus den letzten zehn Jahren abzu-
        sichern und die Aussperrung des Mittelstandes aus dem
        Sammlungs- und Verwertungsprozess zurückzuweisen.
        Und nun werden ja alle möglichen Einwände vorge-
        tragen, um dieses eher ideologisch motivierte Heraus-
        drängen qualifizierter privater mittelständischer Samm-
        ler zu begründen. Dazu ist klar festzustellen: Im
        Gegensatz zu erkennbar übertriebenen Formulierungen
        wird auch künftig niemand in Deutschland das Problem
        haben, auf Gehwegen über alte Autobatterien zu stolpern –
        wie dies teils vorgetragen wurde, um ein Argument zu
        finden, private Mittelständler herauszudrängen. Die Er-
        fahrung der vergangenen Jahre zeigt im Gegenteil: Die-
        ses ungeeignete Argument ist nur ein Vorwand, um fach-
        lich qualifizierte mittelständische Entsorger bewusst von
        der Sammlung auszuschließen, weil man in Teilen der
        SPD die totale Kommunalisierung der Abfallentsorgung
        anstrebt – und damit die großen Fortschritte der unter
        den Umweltministern Töpfer und Merkel entwickelten
        und durchgesetzten Kreislaufwirtschaft als Wirkung aus
        hohen Umweltstandards und Umsetzung im Wettbewerb
        der besten Lösungen gefährdet.
        Die CDU/CSU hat immer wieder – bis hin zur EU-
        Ebene – das Prinzip der Subsidiarität und der Daseins-
        vorsorge vertreten und dies mit Erfolg getan. Bei allem
        Eintreten für die Verantwortung und die Rechte der
        Kommunen in der Daseinsvorsorge und der Abfallwirt-
        schaft wenden wir uns allerdings entschieden gegen eine
        von manchen in der SPD offenbar angesteuerte totale
        Dominanz der Kommunen in der Abfallwirtschaft und
        die damit verbundene Schwächung des regionalen Mit-
        telstandes. Wir wollen in der Recyclingwirtschaft keinen
        Kampf der Konzerne gegen die Kommunen um jede
        Tonne an der Ecke. Aber wir wollen auch keine Aus-
        grenzung des Mittelstandes durch die Kommunen – wir
        brauchen vielmehr eine faire Partnerschaft statt künstli-
        cher Gegnerschaft. Diese Haltung findet sich in der
        Mehrzahl der Kommunen in Deutschland, deren Sicht
        nicht von den Partikularinteressen der kommunalen Un-
        ternehmen und der dort zahlreich vertretenen Vertreter
        aus der Politik beeinträchtigt wird. Vor allem die Land-
        kreise ohne eigene Abfallwirtschaft werden an einer
        Partnerschaft mit mittelständischen Partnern interessiert
        sein.
        Insofern erwarten wir als CDU/CSU durchaus bereits
        früh in der nächsten Wahlperiode einen Korrekturbedarf
        am heute auf den Weg gebrachten Gesetz. Sofern wir
        Fehlentwicklungen im Bereich Mittelstand oder auch
        Missbrauch von Marktpositionen bei Handel oder Her-
        stellern identifizieren, müssen wir nachbessern. Dies gilt
        im Übrigen auch für den Fall, dass die von uns durchaus
        gewünschte Rolle der Kommunen in einer zu starken
        Form überdehnt würde. Gerade in den letzten Wochen
        haben wir hier das eine oder andere Signal erhalten, dass
        auch bei der Trägerschaft für die Kosten des Batterie-
        Recyclings die einen bestellen wollen, um dann anderen
        einfach die Rechnung zu schicken. Verantwortung in der
        Daseinsvorsorge bedeutet sicher auch, die aktive Teil-
        nahme an einem bislang erfolgreichen Sammelsystem
        nicht völlig zurückzufahren und einen fairen Ausgleich
        der Lasten zu suchen. Dass es dabei primär auf die Pro-
        duzenten ankommt, ist wohl eindeutig. Dies darf aber
        weder den Handel zu überzogenen Forderungen führen,
        noch sollten sich die Kommunen als wesentlicher Teil
        der Sammlung allzu stark zurückziehen.
        Zu der von den Grünen wieder einmal vorgeschlage-
        nen Überregulierung ist zu sagen: Vorschläge wie die to-
        tale Ausdehnung der Pfandpflicht auf alle Batterien oder
        radikale Quoten trotz aller Übererfüllung der bisherigen
        Quoten können nicht akzeptiert werden. Wer die deut-
        sche Vorreiterrolle in der EU weiter innehaben will, darf
        uns nicht mit Überregulierung ins Straucheln bringen.
        Wir brauchen Augenmaß statt blindem Aktionismus.
        Heute allerdings geht es zunächst um eine zügige
        Umsetzung der EU-Richtlinie. Wir bitten als CDU/CSU
        um Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
        Gerd Bollmann (SPD): Zum zweiten Mal befassen
        wir uns heute im Plenum mit dem Batteriegesetz. Mit
        diesem Gesetz setzen wir die entsprechenden europäi-
        schen Richtlinien vom 6. September 2006 um.
        Mit dem vorliegenden „Entwurf eines Gesetzes zur
        Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwor-
        tung für Batterien und Akkumulatoren“ verbessern wir
        Sammlung und stoffliche Verwertung ebenso wie die
        ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Zusätzlich
        erhöhen wir den Gesundheitsschutz durch niedrigere
        Grenzwerte für den Einsatz von Schadstoffen.
        Gestern haben wir im Umweltausschuss dieses Batte-
        riegesetz abschließend beraten. Dabei haben wir diejeni-
        gen Änderungswünsche des Bundesrates übernommen,
        denen auch die Bundesregierung zustimmt. Dies begrüßt
        die SPD ausdrücklich. Bevor ich auf Einzelheiten und
        konkrete Änderungswünsche eingehe, will ich noch ein-
        mal die Kernpunkte des Gesetzentwurfes ansprechen.
        Aufgrund der geltenden Batterieverordnung gibt es
        bereits ein gut funktionierendes gemeinsames Rücknah-
        mesystem der Industrie. Darüber hinaus unterhalten
        auch viele Kommunen freiwillig eingerichtete Rücknah-
        mestellen. Bundesweit kommen wir damit auf über
        170 000 Sammelstellen. Unsere Bürger haben somit
        zahlreiche Möglichkeiten, gebrauchte Batterien zurück-
        zugeben.
        Mit dem neuen Batteriegesetz wird sich daran nichts
        Grundlegendes ändern. Auch nach dem neuen Gesetz
        müssen die Vertreiber, sprich der Handel, deutlich sicht-
        bare Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen einrichten.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23737
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das Gesetz verpflichtet die Hersteller, Altbatterien von
        den Sammelstellen abzuholen und weitgehend stofflich
        zu verwerten. Wie bisher können die Hersteller diese
        Aufgabe über das bereits bestehende Rücknahmesystem
        der Industrie bewerkstelligen. Auch herstellerindividu-
        elle Rücknahmesysteme, quasi Selbstentsorger, sind zur
        Durchführung zugelassen, bedürfen aber einer Genehmi-
        gung. Diese Genehmigungen sind meiner Ansicht nach
        unbedingt notwendig. Ohne ein Genehmigungsverfahren
        würden, wie bei der Verpackungsverordnung, Probleme
        entstehen. Die Gefahr, dass Trittbrettfahrer den Vollzug
        des Gesetzes unterlaufen, wäre sehr groß.
        Für die Kommunen wird die Sammlung von Altbatte-
        rien zukünftig freiwillig sein. Im Gegensatz zur bisheri-
        gen Regelung sind sie nicht verpflichtet, Sammelstellen
        einzurichten. Ich gehe davon aus, dass die Kommunen
        auch weiterhin Altbatterien sammeln werden. Die Bür-
        ger haben sich an diese Rücknahmemöglichkeiten ge-
        wöhnt. Zugunsten der Bürger appelliere ich daher an die
        Kommunen, die Rücknahmesysteme beizubehalten.
        Wichtig für uns Sozialdemokraten ist hierbei aber die
        Freiwilligkeit.
        Das Batteriegesetz legt eindeutig fest, dass die Her-
        steller und Vertreiber für die umweltgerechte stoffliche
        Entsorgung und Sammlung zuständig sind. Damit wird
        die ungeteilte Produktverantwortung in diesem Bereich
        der Abfallwirtschaft durchgesetzt. Dies begrüße ich aus-
        drücklich. Damit ist ein sozialdemokratisches Ziel in der
        Abfallpolitik zumindest in einem Teilbereich durchge-
        setzt worden. Positiv hervorzuheben sind die Einschrän-
        kung des Einsatzes gefährlicher Stoffe und die Festle-
        gung verbindlicher Sammelziele für Altbatterien.
        Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist nach Ansicht
        der Sozialdemokraten grundsätzlich positiv zu bewerten.
        Neben den genannten einzelnen Punkten ist besonders
        hervorzuheben, dass sich für die Bürger nichts Grundle-
        gendes ändert. Sie können wie gewohnt die Altbatterien
        beim Handel oder bei kommunalen Rückgabestellen ab-
        geben.
        Aus der Wirtschaft, von anderen Parteien und von den
        Bundesländern gibt es weitgehende Änderungswün-
        sche. So fordert der ZVEI eine Sammelpflicht der Kom-
        munen. Ich habe bereist dargelegt, dass die SPD aus
        grundlegender Überzeugung dagegen ist. Wir sind für
        die ungeteilte Produktverantwortung. Wer ein Produkt in
        den Markt bringt, muss auch die umweltgerechte Entsor-
        gung sicherstellen. Darüber hinaus gibt es weitere sach-
        liche Gründe, einen Sammelzwang der Kommunen ab-
        zulehnen.
        In dem Entwurf zum Batteriegesetz stehen sich öf-
        fentlich-rechtliche Entsorger und Hersteller gleichrangig
        gegenüber. Die öffentlich-rechtlichen Entsorger müssen
        nicht sammeln, und die Hersteller müssen nicht für die
        Sammlung der öffentlich-rechtlichen Entsorger bezah-
        len. Grundsätzlich sind beide Seiten dazu bereit, umstrit-
        ten ist nur die Höhe der Zahlungen.
        Wenn wir die Kommunen zum Sammeln zwingen
        würden, müssten wir auch Regelungen für die Höhe des
        Deckungsbeitrages festlegen. Im Hinblick auf die
        schwankenden Rohstoffpreise und das Marktgeschehen
        sind privatwirtschaftliche Regelungen sinnvoller. Gefor-
        dert wird auch, dass gewerbliche Abfallentsorger Fahr-
        zeugaltbatterien bei privaten Endnutzern sammeln bzw.
        abholen dürfen. Mit anderen Worten: Eine solche Ände-
        rung hätte zur Folge, dass gefährliche Abfälle direkt bei
        privaten Haushalten gesammelt werden. Ich frage mich:
        Wie soll die Sammlung durchgeführt werden? Sollen die
        Bürger Fahrzeugaltbatterien auf die Straße stellen oder
        in Behältern vor die Haustür? Ohne Aufsicht, sodass
        zum Beispiel Kinder an diese gefährlichen Abfälle kom-
        men? – Absolut unmöglich, finde ich. Oder klingeln die
        gewerblichen Sammler an den Haustüren? – Ich weiß,
        die Befürworter argumentieren, dass diese gewerblichen
        Abfallentsorger ja zertifiziert sind.
        Aber bei einer Sammlung bei privaten Haushalten
        müsste der Bürger entscheiden, ob der Sammler zertifi-
        ziert ist. Er müsste entscheiden, ob die Zertifizierung
        korrekt ist. Wollen wir wirklich, dass der Bürger darüber
        entscheidet? Und das bei gefährlichen Abfällen? Können
        Sie mir garantieren, dass keine Trittbrettfahrer oder
        schwarze Schafe dies ausnutzen? Wollen wir wirklich
        die Gefahr neuer Skandale riskieren? Dazu sage ich ganz
        klar Nein. Wie haben im Abfallbereich schon genug
        Vollzugsdefizite.
        Außerdem lehnen wir Sozialdemokraten die Samm-
        lung bei Privathaushalten durch die gewerbliche Wirt-
        schaft aus grundsätzlichen Überlegungen ab. Dies gehört
        zur Daseinsvorsorge und damit in die Zuständigkeit der
        Kommunen. Eine Ausweitung des Kreises, der sammeln
        darf, erschwert auch die Vollzugskontrolle. Wir wollen
        keine Verhältnisse, wie sie zeitweise bei den Verkaufs-
        verpackungen herrschten. Aus diesem Grund ist eine
        Genehmigungspflicht für herstellereigene Rücknahme-
        systeme absolut notwendig. Eine Anzeigepflicht genügt
        dem nicht. Ohne ein Genehmigungsverfahren wären
        Trittbrettfahrern Tür und Tor geöffnet. Eine Kontrolle
        wäre nicht mehr möglich.
        Zum Schluss noch einige Worte zu den Anträgen der
        Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Ziele gehen
        durchaus in die richtige Richtung: höhere Sammelquo-
        ten, keine Ausnahmen für den Einsatz gefährlicher
        Stoffe, Begrenzung des Einsatzes von Einwegbatterien.
        Das sind grundsätzlich alles Punkte, die zu befürworten
        sind. Allerdings geht es auch um die praktische Umset-
        zung. Nach meinem Kenntnisstand gibt es zum Beispiel
        momentan keine Alternativen zu Knopfzellen mit
        Quecksilber, wie das gefordert wird. Eine Pfandpflicht
        für Altbatterien halte ich ebenfalls für sehr schwer zu or-
        ganisieren. Insgesamt halte ich das Gesetz in der jetzigen
        Fassung für gut und bitte Sie um Ihre Zustimmung.
        Horst Meierhofer (FDP): Dass die Entsorgung von
        Altbatterien bei uns in Deutschland auch jetzt schon
        funktioniert, habe ich ja bereits an mehreren Stellen
        deutlich gemacht. Und auch die vorgesehene Kennzeich-
        nung mit den chemischen Zeichen „Cd“ für Cadmium,
        „Pb“ für Blei und „Hg“ für Quecksilber habe ich bereits
        mehrfach kritisiert, denn ich glaube nicht, dass eine sol-
        che Kennzeichnung für die Verbraucher wirklich ver-
        23738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
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        ständlich ist. Aus rein deutscher Sicht wäre das Batterie-
        gesetz also nicht unbedingt nötig gewesen. Doch die
        Vorgaben hierzu kommen wie so oft aus Brüssel.
        Im Großem und Ganzen können wir Liberale mit dem
        Umsetzungsvorschlag der Großen Koalition leben, zu-
        mal gestern im Ausschuss noch einmal einige Klarstel-
        lungen beschlossen wurden. Trotzdem: Hundertprozen-
        tig zufrieden sind wir nicht. An der einen oder anderen
        Stelle hätten wir Liberale es uns schon anders ge-
        wünscht. Das betrifft vor allem die Rolle des Mittelstan-
        des.
        Natürlich begrüßen wir das Ziel der Bundesregierung,
        den Fortbestand der dezentralen Rücknahmestrukturen
        – und darum geht es, wenn wir vom Mittelstand spre-
        chen – zu gewährleisten. Aber wenn man in den Geset-
        zestext schaut, dann sieht die Realität doch anders aus:
        Gerade dem Mittelstand wird das Leben – oder besser
        gesagt die Existenz – schwer gemacht. Deshalb auch un-
        ser Änderungsantrag, den wir gestern in den Ausschuss
        eingebracht haben.
        Wir sind der Meinung, Endverbraucher müssen ihre
        alten Fahrzeugbatterien eben auch bei gewerblichen Alt-
        batterieentsorgern abgeben können, und nicht nur bei
        Vertreibern oder öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträ-
        gern. Dafür spricht auch, dass der Mittelstand bei Indus-
        triebatterien nach dem Gesetzentwurf bereits mit im
        Boot ist. Warum hier eine solche Differenzierung vorge-
        nommen werden soll, leuchtet mir nicht ein.
        Doch obwohl die Union diese Ansicht in der Sache
        teilt, hat sie unseren Antrag abgelehnt und uns auf die
        nächste Legislaturperiode vertröstet. Statt sinnvoller
        Sachpolitik also Koalitionsraison. Und die heißt bei
        Schwarz-Rot anscheinend: Der Mittelstand muss drau-
        ßen bleiben. Schade!
        Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auch noch ein-
        mal auf die Befürchtung, dass große Hersteller mit dem
        jetzigen Gesetzesvorschlag die Möglichkeit hätten, den
        Verkauf von Neubatterien durch die Zahlung von Um-
        weltprämien an die Rücknahnahme von Altbatterien zu
        koppeln und so einmal mehr die mittelständischen Ent-
        sorger – die sich eben nur auf das Entsorgen beschrän-
        ken – das Nachsehen hätten.
        Gerade noch die Kurve bekommen hat die Große Ko-
        alition im Übrigen bei der Frage, welche Rolle die öf-
        fentlich-rechtlichen Entsorgungsträger spielen sollen.
        Vor allem der CDU-Kollege Brand hat in der ersten Le-
        sung noch über den Sinn bzw. Nichtsinn einer verpflich-
        tenden Beteiligung der Kommunen philosophiert. Ich
        bin froh, dass entsprechende Änderungsanträge ausge-
        blieben sind, denn nur so kann dem Prinzip der Produkt-
        verantwortung auch vollumfänglich Rechnung getragen
        werden. Gegen eine freiwillige Teilnahme der Kommu-
        nen habe ich im Übrigen nichts einzuwenden.
        Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antrag
        der Grünen eingehen: Eine zusätzliche Pfandpflicht für
        Gerätebatterien ist und bleibt falsch. Wir glauben nicht,
        dass dies zu einer nennenswerten Lenkungswirkung
        führt, sondern lediglich dem Handel eine ähnlich hüb-
        sche Zusatzeinnahme bescheren wird, wie wir das schon
        vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen.
        Den Antrag der Grünen lehnen wir daher ab. Bei dem
        Gesetzentwurf werden wir uns enthalten.
        Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Bundesre-
        gierung betonte bei der Vorlage ihres Entwurfs eines
        Batteriegesetzes, dieser Rechtsakt sei nur eine 1:1-Um-
        setzung der entsprechende EU-Richtlinie. So verzichtet
        sie in diesem Bereich der Abfall- und Produktpolitik je-
        doch auf eine Vorreiterrolle in der EU. Mehr noch: In
        zentralen Details ist der Entwurf sogar ein Rückschritt.
        Denn wie kann es sein, dass für Gerätealtbatterien ledig-
        lich Rücknahmequoten von 35 Prozent bis zum Jahr
        2012 gefordert werden, wo doch in der Praxis schon
        2007 rund 40 Prozent erreicht wurden? Hier sind min-
        destens 70 Prozent gefordert. Die Sammelquoten könn-
        ten noch weiter erhöht werden, indem die Pfandpflicht
        von Starterbatterien auf alle Batterien ausgedehnt
        würde – auch hier Fehlanzeige im Gesetzentwurf.
        Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter an-
        derem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobiler
        Endgeräte der Bedarf an ökologisch problematischen
        Einwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegen
        ist und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sind pa-
        rallel energische Schritte, um den Einsatz von Einweg-
        batterien zugunsten von langlebigen wiederaufladbaren
        Akkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindern
        2 bis 3 Prozent mehr Akkus in den entsprechenden An-
        wendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Doch von
        solchen Regelugen ist im künftigen Gesetz nichts zu le-
        sen. Deshalb finden wir den Vorschlag der Grünen im
        Ausschuss sinnvoll, das Inverkehrbringen sogenannter
        Primärbatterien – welche ja nicht wiederaufladbar sind –
        bis 2012 auf 80 und bis 2016 auf 50 Prozent gegenüber
        2007 zu senken.
        Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produkt-
        politik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in
        Batterien und Akkus zu reduzieren und einen hohen
        Anteil stofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat
        die Bundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen,
        etwa bei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerk-
        zeugen, durchlöchern das weitgehende Verbot des Ein-
        satzes von Quecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnah-
        men sind nicht zu verstehen, denn es gibt bereits Alter-
        nativen für den Einsatz der gefährlichen und
        umweltbelastenden Stoffe. Bei der Verwertung fordert
        die Linke anspruchsvolle Quoten für die stoffliche Ver-
        wertung sowie – angesichts der hohen Schadstoffbelas-
        tung – die „bestverfügbare Technik“ als Standard bei den
        Verwertungsverfahren anstelle des vorgesehenen „Stan-
        des der Technik“.
        Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlung
        von Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Ge-
        setz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknah-
        meweg für Altbatterien für entsprechende Elektrogeräte
        nicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von der
        Rücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach
        § 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Ak-
        kus unsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009 23739
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        Sinnvollerweise müsste also hier ein grundsätzliches
        Verbot des festen Einbaus – etwa über eine Stichtagsre-
        gelung – die vorgesehene Lösung flankieren.
        In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Grü-
        nen und lehnen den Gesetzentwurf ab.
        zum Tod des Fötus führen kann. Was nützt uns heute das
        Quecksilberverbot, wie es auf der letzten UNEP-Konfe-
        renz in Nairobi beschlossen wurde, wenn wir auf Jahre
        weitere ordnungsrechtliche Maßnahmen und ambitio-
        nierte Quoten scheuen? Bis ein Vertrag rechtskräftig
        wird, der Produktion und Emissionen von Quecksilber
        regelt, wird sicher ein Jahrzehnt vergehen. Das ist nicht
        Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir stimmen heute über einen Gesetzesvorschlag ab, der
        die Vorreiterrolle Deutschlands gerade im Bereich der
        Abfalltechnologie und des Recyclings bestenfalls igno-
        riert, möglicherweise sogar konterkariert, haben die
        Sammelsysteme doch, wie sie zur Vermeidung der Um-
        weltverschmutzung mit Cadmium und Quecksilber be-
        reits mit dem Elektro- und Elektronikgerätegesetz 2005
        eingerichtet wurden, bisher auch ohne das heute zur De-
        batte stehende Batteriegesetz 42 Prozent der Altbatterien
        wieder eingesammelt. Liegt es nun „nur“ am Dogma der
        Großen Koalition, dass man grundsätzlich nicht über die
        europaweiten Vorgaben von umzusetzenden Richtlinien
        hinausgeht? Oder – weitaus schlimmer für die Umwelt –
        geht die Regierungskoalition davon aus, dass auch den
        Sammelquoten bei Batterien dasselbe Schicksal wie dem
        Mehrwegsystem bei Flaschen blühen könnte: fallende
        Rückläufe, nicht zu steuernde Quotenverfehlungen? Die
        Debatte im Umweltausschuss hat gezeigt: Auch für die
        FDP wiegt im Falle von Vorschriften für Hersteller zur
        Produktverantwortung offensichtlich das Gut des unein-
        geschränkten Marktes schwerer als das der unversehrten
        Gesundheit. Wie ließe sich sonst erklären, dass der
        bündnisgrüne Vorschlag, die Mindestsammelquoten in
        § 16 – die laut Gesetzentwurf bis 2012 für Geräte-Alt-
        batterien auf mindestens 35 Prozent festgesetzt ist – mit
        mindestens 50 Prozent vorzugeben, abgetan wird mit
        dem Hinweis auf eine „unzumutbare“ Belastung der Bat-
        teriehersteller?
        Batterien gehören nicht in den Hausmüll! Unbestrit-
        ten sind die metallischen Stoffe, die für den Vorgang der
        Elektrolyse zur Energiespeicherung notwendig sind, to-
        xikologisch hoch gefährlich! Blei, Zink, Nickel, Kupfer,
        Lithium, Cadmium und Quecksilber gelangen bei über
        33 000 Tonnen verbrauchten Batterien tonnenweise in
        die Umwelt, wenn die Altbatterien nicht ordnungsgemäß
        entsorgt werden! Jedes Gramm dieser Schwermetalle,
        das in die Umwelt gelangt, sei es nun durch unsachge-
        mäße Entsorgung oder auch durch eine Müllverbren-
        nung von tonnengängigen Batterien zusammen mit dem
        Siedlungsabfall, ist ein Gramm zu viel! Nehmen wir
        Quecksilber: Bereits geringe Dosen von Quecksilber
        können im menschlichen Organismus durch Anreiche-
        rung Hirn, Nerven und Organe schädigen. Quecksilber
        steht zudem im Verdacht, das Alzheimer-Risiko zu erhö-
        hen. Bei Babys und Kindern sind Entwicklungsstörun-
        gen möglich. Schwangeren wird vom Verzehr bestimm-
        ter Fischarten abgeraten, da eine Quecksilbervergiftung
        verwunderlich, wenn schon die 1 : 1-Umsetzung einer
        EU-Richtlinie in deutsches Recht – die keine Verände-
        rung in der Versorgungspraxis bedarf – ein Dreiviertel-
        jahr länger als die vorgegebene EU-Frist braucht. Es ist
        wohl dieser Folgenlosigkeit geschuldet, dass sich ledig-
        lich der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-
        torsicherheit mit dem Gesetzentwurf befasst.
        Das Instrument von Bündnis 90/Die Grünen zur Er-
        höhung der Rückgabemengen für Gerätebatterien ist das
        Pfand. Bei den Autobatterien hat sich die bereits einge-
        führte Pfandpflicht bewährt. Gerade für die Unzahl an
        kleinen Batterien wäre die Rückgabe gegen Pfand über
        den Handel eine gute Lösung, um kurzfristig zu weit hö-
        heren Rückführungen zu gelangen. Alle notwendigen
        Einrichtungen für die Pfandeinführung gibt es bereits
        mit den Rücknahmesystemen. Es fehlt nur der politische
        Wille. Auch kritisieren Bündnis 90/Die Grünen die nun
        durch die Regierungskoalition in das neue Batteriegesetz
        gestimmte Einschränkung der Unverletzlichkeit der
        Wohnung (§ 21, Abs. 2). Ich zitiere: „Das Grundrecht
        auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des
        Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt.“ Es er-
        schließt sich nicht, warum Überwachungspflichten der
        Behörden zur Einhaltung des Abfallrechtes das Betreten
        von Privatwohnungen auch ohne einen richterlichen Be-
        schluss sinnvoll und notwendig machen könnten. Ande-
        rerseits wird nichts weiter unternommen, als durch EU-
        Recht ohnehin bereits geltend. Ohne weitere Erläuterung
        einen solchen – angesichts der aktuellen Datenskandale
        namhafter Firmen – beunruhigenden Satz aufzunehmen,
        ist äußerst hilflos!
        Das Gemeinsame Rücknahmesystem hat nach der
        nun durch dieses Gesetz abgelösten Batterieverordnung
        von 2001 gut gearbeitet, und es kann mit anderen Rück-
        nahmesystemen der Hersteller gemeinsam noch viel mehr
        leisten! Ebenso wie die Hersteller, deren Innovationen für
        die mobile Stromversorgung gebraucht werden. Die
        Chance, hier für Batterien die Produktverantwortung zu
        stärken, wird leider vorerst vertan. Dem Gesetzentwurf, in
        den keiner unserer Änderungsvorschläge Aufnahme ge-
        funden hat, verweigern wir deshalb unsere Zustimmung.
        Ich wünsche mir allerdings sehr, dass der Zustimmung zu
        unserem Antrag auf Bundestagsdrucksache 16/1117 le-
        diglich der Koalitionszwang entgegensteht und dass un-
        sere inhaltlichen Vorschläge – Pfandausweitung, Schad-
        stoffbegrenzung – bald in anderer Form aufgenommen
        und umgesetzt werden.
        217. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10