Protokoll:
16205

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 205

  • date_rangeDatum: 12. Februar 2009

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:17 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/205 Zusatztagesordnungspunkt 2: Eidesleistung des Bundesministers für Wirt- schaft und Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . . Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Aufstiegsfortbildungsför- derungsgesetzes (Drucksachen 16/10996, 16/11904) . . (Drucksachen 16/11374, 16/11202, 16/11904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22088 D 22088 D 22089 A 22089 B 22089 C 22090 A 22091 B 22092 B 22094 B 22096 A 22098 A 22099 A 22100 B Deutscher B Stenografisc 205. Si Berlin, Donnerstag, d I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Ortwin Runde, Karin Roth (Esslin- gen) und Dr. Michael Fuchs . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Ute Berg in den Bei- rat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisen- bahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entsendung der Abgeordneten Maria Michalk als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 22087 A 22087 B 22087 B 22087 B 22088 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/11905) . . . . . . . . . . . . 22089 C undestag her Bericht tzung en 12. Februar 2009 l t : b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Lothar Bisky, Cornelia Hirsch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verlässliche Bildungsförderung für Erwachsene noch in dieser Legisla- tur auf den Weg bringen – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Förderung des lebenslangen Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Grasedieck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 22100 D 22101 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- ter), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für ein einfaches, transparentes und leistungsgerechtes Gesundheitswesen (Drucksache 16/11879) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . . Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: a) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Christian Ahrendt, Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Nationale Küstenwache schaffen (Drucksache 16/8543) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Ver- braucherfreundliche und praxistaugliche Lebensmittelkennzeichnung durchset- zen – Verbots- und Bevormundungspo- litik verhindern (Drucksache 16/11671) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, wei- 22102 A 22103 D 22105 D 22106 A 22107 A 22108 C 22109 C 22111 A 22113 C 22115 D 22117 C 22119 C 22121 C 22121 D 22122 A 22123 D 22126 A 22127 A 22128 C 22129 C 22130 C 22130 C terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anreizregulierung im Strom- und Gassektor nachbessern – Benach- teiligung von städtischen Versorgern verhindern (Drucksache 16/11878) . . . . . . . . . . . . . . d) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA) TA-Projekt: Gendoping (Drucksache 16/9552) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Omid Nouripour, Winfried Nachtwei, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Westeuropäi- sche Union als überholtes Konstrukt auflö- sen (Drucksache 16/11765) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Datenschutz für Beschäf- tigte stärken (Drucksache 16/11376) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Marion Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung des wissenschaftli- chen Nachwuchses ausbauen (Drucksache 16/11883) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Entwicklungschancen für den wis- senschaftlichen Nachwuchs schaffen (Drucksache 16/11880) . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Ackermann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Faires Nachversicherungsangebot zur Vereinheitlichung des Rentenrechts in Ost und West (Drucksache 16/11236) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Gesetzes über 22130 D 22130 D 22131 A 22131 A 22131 A 22131 B 22131 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 III den Bau und den Betrieb von Versuchs- anlagen zur Erprobung von Techniken für den spurgeführten Verkehr (Drucksachen 16/9899, 16/11304) . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Götz, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die integrierte Stadtentwick- lung weiter ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Gisela Piltz, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: In- nenstädte stärken – Kooperationen fördern – Städtebauförderung wei- terentwickeln (Drucksachen 16/11414, 16/8076, 16/11875) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu der Verordnung der Bundesregierung: Einhundertsiebenundfünfzigste Verord- nung zur Änderung der Einfuhrliste – An- lage zum Außenwirtschaftsgesetz – (Drucksachen 16/11614, 16/11718 Nr. 2.1, 16/11779) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Ände- rung der Verordnung zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen und La- gern von Ottokraftstoffen – 20. BimSchV (Drucksachen 16/11719, 16/11818 Nr. 2, 16/11897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) – k) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 523, 524, 525, 526, 527, 528 und 529 zu Petitionen (Drucksachen 16/11766, 16/11767, 16/11768, 16/11769, 16/11770, 16/11771, 16/11772) Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Ar- 22131 D 22132 A 22132 C 22132 D 22133 A beitszeitrichtlinie – Hohen Arbeitnehmer- schutz EU-weit sicherstellen (Drucksachen 16/11758, 16/11894) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (Drucksache 16/10700) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Kranz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Pfand- briefrechts (Drucksachen 16/11130, 16/11195, 16/11886, 16/11929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 45 c) (Drucksache 16/10397) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten 22133 C 22133 D 22134 A 22135 C 22136 D 22138 B 22139 D 22141 D 22143 A 22144 A 22145 B 22146 D 22148 C 22148 D 22151 A 22152 C 22153 D 22154 B 22155 B 22156 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 Entwurfs eines Gesetzes über die Be- handlung von Petitionen und über die Aufgaben und Befugnisse des Petitions- ausschusses des Deutschen Bundesta- ges (Petitionsgesetz – PetG) (Drucksache 16/10385) . . . . . . . . . . . . . . . Kersten Naumann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Bernd Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck (Reut- lingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordne- ten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen stärken und wei- terentwickeln (Drucksache 16/11882) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck (Reutlin- gen), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- ten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Betreuung bei post- traumatischen Belastungsstörungen stär- ken und weiterentwickeln (Drucksachen 16/11410, 16/11842) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Medizinische Ver- sorgung der Bundeswehr an die Ein- satzrealitäten anpassen – Kompe- tenzzentrum für posttraumatische Belastungsstörungen einrichten 22156 D 22156 D 22158 A 22159 A 22160 A 22161 C 22162 C 22163 B 22163 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Inge Höger, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Adäquate Behandlungs- und Betreuungskapa- zitäten für an posttraumatischen Be- lastungsstörungen erkrankte Ange- hörige der Bundeswehr (Drucksachen 16/7176, 16/8383, 16/10024) Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Thießen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungs- maßnahmen (Drucksache 16/11434) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Angemessene Haftentschädi- gung für Justizopfer sicherstellen (Drucksache 16/10614) . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Versor- gungsausgleichs (VAStrRefG) (Drucksachen 16/10144, 16/11903) . . . . . . . . Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22163 C 22163 D 22165 A 22166 A 22167 B 22168 B 22169 A 22170 A 22170 A 22170 B 22171 A 22172 B 22172 C 22173 B 22174 B 22175 A 22175 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 V Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Agrardieselbesteue- rung senken – Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirtschaft abbauen (Drucksache 16/11670) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- grenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen (Drucksache 16/10120) . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Peter Müller, Ministerpräsident (Saarland) . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Monika 22176 B 22177 A 22179 A 22180 A 22181 B 22182 A 22182 B 22183 C 22184 A 22185 B 22185 D 22186 C 22187 C 22188 A 22189 A 22189 C 22190 A 22190 D 22191 A 22191 D 22192 C 22193 D 22194 C Knoche, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Keine Abschiebungen in das Kosovo (Drucksachen 16/9143, 16/11370) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Renate Gradistanac, Angelika Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Frauen und Mädchen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern (Drucksache 16/11775) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Alexander Bonde, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen strategisch nutzen (Drucksache 16/11761) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (Drucksache 16/11644) . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alfred Hartenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Entschä- digungsregelung für durch Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen (Drucksache 16/11685) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Kleiminger (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 22195 B 22195 C 22195 D 22196 A 22196 B 22197 B 22198 A 22199 B 22199 D 22200 B 22201 A 22202 C 22202 D 22203 C 22204 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung (Neuregelung des Zugangs zum Anwalts- notariat) (Drucksachen 16/4972, 16/11906) . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Vertragstreue Ab- schaltung alter Atomkraftwerke in Ost- europa (Drucksache 16/11764) . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtli- nie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungs- diensterichtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht (Drucksache 16/11643) . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 22204 B 22205 A 22205 D 22206 B 22206 B 22207 C 22208 D 22209 C 22210 C 22211 A 22212 A 22212 B 22213 A 22214 D 22215 B 22215 D 22216 C 22216 D 22218 B 22219 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Kran- kenhausinfektionen vermeiden – Multiresis- tente Problemkeime wirksam bekämpfen (Drucksache 16/11660) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Besitz und Anbau von Cannabis zum Eigengebrauch entkri- minalisieren – Glaubwürdige und am Men- schen orientierte Cannabisprävention um- setzen (Drucksache 16/11762) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Margrit Spielmann (SPD) . . . . . . . . . . . . Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Kürzun- gen bei künstlicher Befruchtung zurück- nehmen (Drucksache 16/11663) . . . . . . . . . . Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 22220 D 22221 D 22222 C 22223 C 22223 D 22225 A 22225 C 22225 D 22226 D 22227 C 22228 A 22228 B 22229 B 22230 A 22230 C 22231 C 22232 C 22232 D 22233 B 22234 B 22236 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 VII Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Kontraproduktive US-Ope- rationen in Pakistan sofort einstellen – Um- fassende Strategie zur Stabilisierung Pakis- tans entwickeln (Drucksachen 16/10333, 16/11251) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Biopatentrecht verbessern – Patentierung von Pflanzen, Tieren und bio- logischen Züchtungsverfahren verhindern (Drucksache 16/11604) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor- ständen (Tagesordnungspunkt 12) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: 22236 B 22237 B 22238 A 22238 D 22239 A 22239 B 22240 B 22241 B 22241 D 22242 C 22243 D 22245 A 22245 C Keine Abschiebungen in das Kosovo (Tages- ordnungspunkt 13) Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Frauen und Mädchen mit Behin- derungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern (Tagesordnungs- punkt 14) Antje Blumenthal (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kontrollrechte aus Bundesbetei- ligungen strategisch nutzen (Tagesordnungs- punkt 15) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Un- tersuchungshaftrechts (Tagesordnungspunkt 16) Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Kontraproduktive US-Operationen in Pakis- tan sofort einstellen – Umfassende Strategie 22246 B 22247 C 22248 B 22249 A 22249 C 22250 B 22251 A 22251 D 22253 A 22253 C 22254 D 22255 C 22257 A 22257 D 22258 C 22259 B 22259 D VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 zur Stabilisierung Pakistans entwickeln (Zu- satztagesordnungspunkt 5) Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22260 C 22261 D 22262 B 22263 C 22264 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22087 (A) (C) (B) (D) 205. Si Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22245 (A) (C) (B) (D) Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 12.02.2009 rung ist unangebracht. Anders als der Entwurf vor- schlägt, sollen die weiteren Vorstandsmitglieder sichDIE GRÜNEN Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Akgün, Lale SPD 12.02.2009 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12.02.2009 Burkert, Martin SPD 12.02.2009 Ernstberger, Petra SPD 12.02.2009 Gabriel, Sigmar SPD 12.02.2009 Heller, Uda Carmen Freia CDU/CSU 12.02.2009 Dr. Högl, Eva SPD 12.02.2009 Hörster, Joachim CDU/CSU 12.02.2009 Homburger, Birgit FDP 12.02.2009 Lafontaine, Oskar DIE LINKE 12.02.2009 Menzner, Dorothée DIE LINKE 12.02.2009 Mücke, Jan FDP 12.02.2009 Nitzsche, Henry fraktionslos 12.02.2009 Parr, Detlef FDP 12.02.2009 Paula, Heinz SPD 12.02.2009 Pflug, Johannes SPD 12.02.2009 Schily, Otto SPD 12.02.2009 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 12.02.2009 Schultz (Everswinkel), Reinhard SPD 12.02.2009 Steinbach, Erika CDU/CSU 12.02.2009 Dr. Strengmann-Kuhn, Wolfgang BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 12.02.2009 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich täti- gen Vereinsvorständen (Tagesordnungspunkt 12) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Es ist richtig und notwendig, alles Vernünftige zu tun, um die Übernahme von ehrenamtlichen Ehrenämter zu erleichtern und die Bürger sogar dazu zu ermuntern, dies zu tun. Wir wollen auch nicht, dass engagierte Per- sonen durch Haftungsregelungen unzumutbaren Risiken ausgesetzt und von der Übernahme solcher Ämter in Vereinen abgehalten werden. Deshalb unterstützen wir Intentionen, Haftungseinschränkungen vorzunehmen. Aber doch nicht so, wie der Bundesrat es in seinem Ent- wurf vorgeschlagen hat. Damit würde das Haftungsri- siko zulasten der Vereine, der Interessen der Vereinsmit- glieder und Dritter umverteilt. Die Gegenäußerung der Bundesregierung enthält zahlreiche zutreffende Erwä- gungen und Argumente gegen die vom Bundesrat vorge- schlagene gesetzliche Neuregelung. Wir lehnen den Entwurf des Bundesrates ab. Maß- gelblich sind die folgenden Gründe: Große Vereine, auch gemeinnützige, sind häufig auch große Wirtschaftsunter- nehmen mit großen Umsätzen und zahlreichen Mitarbei- tenden. Gerade die Angestellten der Vereine, aber auch Mitglieder, Spender und Geschäftspartner sollten nicht schlechtergestellt werden. Im Interesse der Mitarbeiten- den sollten die gesamten Vereinsvorstände nicht aus der Verpflichtung entlassen werden, die Tätigkeit und die Geschäfte der Vereine so zu organisieren und zu kontrol- lieren, dass etwa die Steuer-, Sozial- und Versicherungs- angelegenheiten ordnungsgemäß geregelt und abgewi- ckelt werden, damit ihre berechtigten Interessen keinen Schaden nehmen können. Die Freistellung eines Teils der Vorstandes von der Haftung für fahrlässiges Handeln und Unterlassen könnte sich so auswirken, dass Vor- standsmitglieder meinen, ihre Verpflichtungen nicht mehr so ernst nehmen zu müssen wie bisher. Schuldhaf- ter Pflichtverletzung muss weiterhin vorgebeugt werden durch die Möglichkeit, für eventuelle Folgen oder Schä- den haften zu müssen. Beschäftigte von Vereinen, die sich auf ihre vertrag- lich vereinbarte Sozialversicherung verlassen, dürfen nicht gegenüber anderen Beschäftigten benachteiligt werden, indem ehrenamtlich unentgeltliche Vereinsvor- stände als Arbeitgeber letztlich folgenlos die Abführung von Sozialversicherungsbeiträge unterlassen, und dies zulasten der Versichertengemeinschaft. Das erscheint uns nicht verantwortbar. Diese Arbeitgeberfunktion müssen alle Vereinsvorstände gesamtschuldnerisch wahrnehmen oder innerorganisatorisch sicherstellen, dass jedenfalls ein Mitglied die Beiträge abführt. Die strafrechtliche Haftung der anderen ist dann ohnehin auf Vorsatz begrenzt; eine noch weiter gehende Verringe- 22246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) diesbezüglich nicht von jeglichen Kontroll- und Über- wachungspflichten freizeichnen können. Wenn in Konsequenz dieser Vorschläge nur einzelne ehrenamtliche Vorstände haftungsbefreit würden, aber wenigstens ein anderer ehrenamtlicher Vorstand dann al- lein das volle Haftungsrisiko tragen müsste, würde dies absehbar die Offenheit verringern, ehrenamtlich be- stimmte Vorstandsämter zu bekleiden. Hinzu kommt: Schädigt ein Vereinsvorstand leicht fahrlässig einen Dritten und bliebe er gleichwohl von dessen Ansprüchen freigestellt, würde der gesamte Verein mit dem Vereins- vermögen, das Mitglieder und Spender für gemeinnützige Zwecke aufgebracht haben, bis zur Insolvenz haften, nicht aber alle Vereinsvorständler. Diese Folgenlosigkeit von Pflichtverletzungen durch Vorstandsmitglieder können wir nicht wollen. Wenn in Konsequenz dieser Vor- schläge nur einzelne ehrenamtliche Vorstände haftungs- befreit würden, aber wenigstens ein anderer ehrenamtli- cher Vorstand dann allein das volle Haftungsrisiko tragen müsste, würde dies absehbar die Offenheit verrin- gern. Sorgen möglicher Vereins- und Stiftungsvorständler vor Haftungsrisiken aus ihrem Amt und ihrer Stellung im Verein können und sollen durch eine obligatorische Versicherung des Vereins gegen derlei Risken entgegen- gewirkt werden. Auch wäre die vorgeschlagene zivil-, steuer- und sozialrechtliche Haftungsprivilegierung von unentgeltlich tätigen Vereinsvorständen etwa gegenüber ebenso unentgeltlich ehrenamtlich tätigen Stiftungsvor- ständen, Vormünden, Betreuern und Pfleger erscheint unangemessen. Hier wäre eine stimmige Gesamtlösung für alle unentgeltlich und ehrenamtlich Tätigen nötig. Die vorgeschlagene steuerrechtliche Haftungsbegren- zung von ehrenamtlich unentgeltlich tätigen Vereinsvor- standsmitgliedern ist nicht vertretbar. Dies könnte dazu führen, dass sich alle Vorstandsmitglieder bis auf eines durch vorstandsinterne Abreden von der Erfüllung steu- erlicher Vereinspflichten zulasten des Steueraufkom- mens freizeichnen. Sie würden nur mithaften, wenn ih- nen Kenntnis etwaiger Pflichtverletzungen des haftenden Vorstandsmitglieds – in Missbrauchsfällen eventuell so- gar eines mittellosen Strohmanns – nachgewiesen wer- den könnten. Das jedoch wird kaum je gelingen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat folglich bereits im Bundesrat beantragt, jedenfalls diese steuerliche Privile- gierung zu streichen, war damit jedoch unterlegen. Das richtige Ziel, die Übernahme von Ehrenämtern zu fördern, muss auf andere, überlegtere Art und Weise weiter verfolgt werden. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Keine Abschiebungen in das Kosovo (Tagesordnungspunkt 13) Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Zum wieder- holten Male behandeln wir hier einen Antrag der Frak- tion Die Linke, der einen totalen Abschiebestopp für Flüchtlinge fordert. Diesmal handelt es sich um Flücht- linge aus dem Kosovo. Der Antrag wird von der Linken mit dem mangelnden Schutz von Minderheiten wie zum Beispiel den Serben begründet. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist die Lage seit der Unabhängigkeitserklärung, abgesehen von Nordkosovo, weitestgehend stabil. In dem bisher von der UNMIK kontrolliertem Gebiet sind sehr wohl Fort- schritte bei der Stabilisierung und Demokratisierung festzustellen. Seit der Unabhängigkeitserklärung sind militante bzw. gewaltbereite kosovo-albanische Gruppen kaum mehr in Erscheinung getreten. Aber auch wenn nun das Ziel der „Unabhängigkeit“ erreicht ist, können wir nicht davon ausgehen, dass sich diese vollkommen zurückziehen oder gar auflösen werden. Die Mehrzahl der Menschen will aber letztendlich in Frieden leben und endlich zur Tagesordnung übergehen. Am 21. Januar dieses Jahres nahm die Kosovo Security Force, KSF, als volksübergreifende Sicherheitseinheit ihre Arbeit auf. Sie soll Unruhen zwischen Kosovo- Albanern und Serben niederschlagen helfen. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Einheit im Gegensatz zum Vorgänger Kosovo Protection Corps nicht von UCK-Veteranen dominiert wird, sondern multiethnisch zusammengesetzt ist. Auch dies ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung in der Region. Es gibt derzeit keinen triftigen Grund für einen totalen Abschiebestopp. Die Lage in Nordkosovo ist allerdings noch verhältnismäßig angespannt. Die serbische Regierung in Belgrad versuchte bisher mit allen Mitteln, die serbischen Siedlungsgebiete unter ihre volle Kontrolle zu bringen. Kosovo-serbische Beamte – Polizisten, Richter, Eisenbahner – verweigerten dem neuen Staat und der Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX zum Teil ihre Dienste. Dies betrifft wohlgemerkt hauptsächlich den Nord- kosovo. Es sicher notwendig, dass in dieser Beziehung auch entsprechend stärker auf die serbische Regierung eingewirkt wird. Ein Schritt in die richtige Richtung ist damit getan worden, dass nunmehr die UNMIK im Nordkosovo Aufgaben der EULEX übernommen hat, was zu einer besseren Akzeptanz durch die Serben füh- ren soll. Hin und wieder sind immer noch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern zu beobachten. Hier ist jedoch nach Erkenntnissen des BAMF nicht immer klar, ob diese im- mer einen ethnischen Hintergrund haben oder ob es sich um Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Verei- nigungen handelt. Trotz aller Probleme sollten wir die weiteren Fort- schritte in der Region abwarten. Ich bin der Meinung, hier geht es um Ursachenbekämpfung und nicht um den Kampf gegen die Symptome, sodass ein genereller Ab- schiebestopp und die damit verbundene Einstellung von Einzelfallprüfungen überhaupt keinen Sinn machen. Im Gegenteil: Mit einer Besserstellung der Flüchtlinge aus dem Kosovo gegenüber anderen Flüchtlingen verlassen wir den Pfad einer gerechten, aber konsequenten Flücht- lingspolitik. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22247 (A) (C) (B) (D) Als Begründung für einen generellen Abschiebestopp führt die Fraktion Die Linke ferner die schwierige öko- nomische Lage vor Ort an. Auch dies rechtfertigt keinen generellen Abschiebestopp. Hier sei auf das EU-Rück- kehrprojekt verwiesen, welches die Rückkehrer auch in wirtschaftlichen Belangen unterstützt. So hat die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich Migration Rückkehrern, die sich selbstständig machen wollen, sowohl in Deutschland als auch im Kosovo spe- zielle Seminare für Existenzgründer angeboten. Auch die Arbeiterwohlfahrt Nürnberg bietet Qualifizierungsmaß- nahmen an, um freiwillige Rückkehrer bestmöglich auf die Anforderungen im Berufsleben vorzubereiten. Gegen einen generellen Abschiebestopp sprechen auch die ak- tuellen Fallzahlen: 2008 stammten insgesamt 879 Asyl- bewerber aus dem Kosovo. 0,5 Prozent der Anträge von Personen aus dem Kosovo wurden anerkannt. Für 1,9 Pro- zent der Antragsteller wurde 2008 subsidiärer Schutz ge- währt, indem ein Abschiebungsverbot für diese Personen erlassen wurde. Ich bin dem Bundesinnenministerium und dem Bundes- amt für Migration und Flüchtlinge in diesem Zusammen- hang dankbar, dass nunmehr statistisch zwischen Antrag- stellern aus dem Kosovo und aus Serbien unterschieden wird. Ich hoffe jedoch, die Kolleginnen und Kollegen der Linken werfen der Bundesregierung hierbei nicht auch wieder die Unterstützung von völkerrechtswidrigem Separatismus vor. Durch die statistische Differenzierung wird es zukünftig möglich sein, genaue Schlussfolgerungen aus den Zahlen der Asylbewerber aus Serbien und dem Kosovo zu ziehen. Addiert man die Fallzahlen aus Serbien und Kosovo, so ergäbe sich bei 1 536 Asylerstanträgen im Jahr 2008 ein Rückgang um 460 Anträge, also 23 Pro- zent, im Vergleich zu 2007. Damit sind Serbien und Ko- sovo die einzigen unter den Hauptherkunftsstaaten mit einem deutlichen Rückgang an Asylbewerbern im Jahr 2008. Leider ist bisher noch nicht daraus zu erkennen, welchen Anteil Flüchtlinge aus dem Kosovo an diesem signifikanten Rückgang haben. Aber die Zahlen des letzten Quartals 2008 lassen schon eine Tendenz erkennen. So war innerhalb des vierten Quartals die Zahl der monatli- chen Asylanträge aus dem Kosovo ebenfalls rückläufig. Auch ist bei den Asylbewerbern aus Serbien eine zu- rückgehende Tendenz zu beobachten. Das Bundesamt für Migration für Flüchtlinge lässt zudem bei den bewährten Einzelfallprüfungen auch die notwendige Sorgfalt walten. So werden zum Beispiel Rückführungen bei Kranken, deren ausreichende medi- zinische Versorgung vor Ort nicht sichergestellt werden kann, schon mal ausgesetzt. Zweifel an der guten Arbeit des BAMF sind in diesem Zusammenhang unange- bracht. Auch für die Roma wird ein besonderes Schutz- bedürfnis vor dem Hintergrund des UNHCR-Papiers vom Juni 2006 beachtet. So können nur besonders schwere Straftäter de facto zurückgeführt werden. In den meisten Fällen hat UNMIK im Rahmen der Einzelfall- prüfung die Rückführung nicht gestattet. Ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Fraktion steht für eine maßgeschneiderte Flüchtlingspolitik. Wozu haben wir denn sonst die vielen Ausnahmetatbestände, die es erlauben, gegebenenfalls auf Rückführungen im Einzel- fall zu verzichten? Mit ihren steten Forderungen nach generellen Abschiebestopps haben die Linken den Blick für eine Flüchtlingspolitik, die der jeweiligen Situation gerecht wird, verloren. Ihre Realitätsferne zeigt erneut, dass sie noch in einem anderem Staat zu Hause sind. Alle beteiligten Stellen, UNMIK, die Länder und auch das BAMF leisten eine gute Arbeit und gehen auf die berechtigten Interessen der Flüchtlinge ein. Trotz al- ler Schwierigkeiten zeichnet sich im zehnten Jahr der UNMIK-Mission eine, wenn auch nur allmähliche, Sta- bilisierung der Situation ab. Ich hoffe, dass die serbische Regierung, der ja einige Kolleginnen und Kollegen hier im Hause auch gerne das Wort reden, nach dem Rückzug von EULEX aus dem Nordkosovo sich dort auch koope- rationsbereiter zeigt. Ferner zeigt auch die offensichtlich zurückgehende Zahl von Anträgen aus dem Kosovo, dass es keine Veranlassung gibt, bei den Ländern einen generellen Abschiebestopp zu erwirken. Aus diesen Gründen lehnen wir von der Union den Antrag der Frak- tion Die Linke ab. Wir folgen damit der Empfehlung des Innenausschusses. Rüdiger Veit (SPD): Vor knapp acht Monaten haben wir über genau den gleichen Antrag schon einmal bera- ten. Damals habe ich gesagt, dass wir die Sicherheitslage im Kosovo nach wie vor kritisch beobachten müssen. „Sobald sich diese negativ entwickle, seien selbstver- ständlich weitere Maßnahmen zu ergreifen“, heißt es im Bericht und in der Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses zum vorliegenden Antrag. Die auch von mir geteilte Befürchtung, es könne nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 erneut zu schweren ethnisch motivierten Unruhen kommen, hat sich erfreulicherweise nicht bewahrheitet. Auch wenn die Lage von Minderheiten im Kosovo im- mer noch nicht stabil ist, so hat sich doch in den vergan- genen acht Monaten die Situation immer mehr verbes- sert. Bereits im Februar 2008 verpflichteten sich das Parla- ment und die politische Führung des Kosovo auf rechts- staatliche und demokratische Standards für ihr Land. Sie sagten zu, dass das Kosovo Heimat aller seiner Bürger sein werde. Dieses klare Bekenntnis zu Rechtsstaat, De- mokratie und Multiethnizität findet sich auch in der ko- sovarischen Verfassung, die am 15. Juni 2008 in Kraft trat. Seit Juni 2008 wurde dann auf Initiative des UN-Ge- neralsekretärs Ban Ki-Moon mit der Umgestaltung und Anpassung der internationalen zivilen Präsenz im Ko- sovo begonnen. Der UN-Sicherheitsrat hat dem Plan zum Aufbau der EU-Polizei- und -Justizmission EULEX zugestimmt. Am 9. Dezember letzten Jahres hat die zi- vile Polizeimission der Europäischen Union offiziell mit ihrer Arbeit auf dem gesamten Territorium des Kosovo begonnen. Das Ziel von EULEX ist es, eine multiethnische Poli- zei, Justiz und Verwaltung im Kosovo aufzubauen und eine Unterdrückung der serbischen Minderheit zu ver- hindern. EULEX ist die größte zivile Mission, die im 22248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik, ESDP, bisher jemals aufgestellt wurde. Von den insgesamt 3 000 Mitarbeitern werden 1 900 an- reisen, die restlichen werden aus der örtlichen Bevölke- rung angeworben. Momentan zählt die Mission rund 1 300 Mitarbeiter. Der EULEX-Etat für die ersten 16 Monate beträgt 205 Millionen Euro. Der EU-Einsatz ist zunächst auf 28 Monate befristet. Diplomaten rechnen aber bereits mit einer Dauer von fünf bis zehn Jahren. Die EU ist mit beachtlichem Ein- satz im Kosovo vor allem auch zur Verhinderung von ethnisch motivierten Konflikten vor Ort und leistet prak- tische Hilfe beim Aufbau einer multiethnischen Verwal- tung. Auch wenn es immer noch jede Menge Probleme gibt, hat sich die Situation doch entschärft. Es ist zu kei- nen neuen ethnisch motivierten Krawallen mehr gekom- men. Für die Minderheitengruppe der Aschkali und Ägypter fordert selbst Amnesty International keinen ge- nerellen Abschiebestopp mehr. Schwieriger sieht die Situation generell für Roma aus und Serben, die aus dem Süden des Kosovo stammen. Immer noch werden Roma in allen Teilen des Landes schwerwiegend diskriminiert; die im Süden des Kosovo lebenden Serben sind dort die Minderheit. Sie leben in Enklaven und können sich häufig nur in Begleitung von Polizeischutz durchs Land bewegen. Auf der anderen Seite werden gegenwärtig aus der Gruppe der Roma nur schwere Straftäter abgeschoben. Auch seit das kosovarische Innenministerium die Kom- petenz für die Rückführungen innehat und nicht mehr UNMIK, ist die Zahl der Abschiebungen nicht sprung- haft angestiegen. Im Gegenteil: Jetzt, in den Wintermo- naten, sind die Abschiebungen in das Kosovo fast einge- stellt worden. Von Massenabschiebungen kann nicht die Rede sein. Auch die Zahl der Rückführungen insgesamt ist im vergangenen Jahr 2008 im Vergleich zu den Zah- len von 2007 gesunken und nicht etwa angestiegen. Dies alles lässt darauf schließen, dass in Einzelfällen mit Augenmaß entschieden und häufig auch auf Rück- führungen verzichtet wird. Wir werden die Entwicklung des Kosovo jedoch weiterhin kritisch verfolgen und un- ser Handeln den jeweils aktuellen Erfordernissen anpas- sen. Aus den vorgenannten Gründen kann ich einem gene- rellen Abschiebestopp heute allerdings genauso wenig oder eher noch weniger als vor knapp einem Jahr zustim- men. Ich empfehle daher, den Antrag abzulehnen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Auch nach den Ausschussberatungen ist der Eindruck, den die FDP vom vorliegenden Antrag hat, unverändert: Die Linke unter- nimmt einmal mehr einen Anlauf, das deutsche Auslän- derrecht auszuhebeln. Diesmal soll das Kosovo als Not- standsgebiet dargestellt werden, in das Deutschland niemanden abschieben dürfe. Das Auswärtige Amt und die diesbezügliche Praxis der Bundesregierung rechtfer- tigen eine solche Pauschalausnahme vom Ausländer- recht nicht. Die bisherigen Anträge der Linken zum Thema Ausländerrecht haben deren Weltbild zu deutlich gemacht: Die ganze Welt ist Notstandsgebiet, und diese Not nur auf deutschem Boden zu heilen: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen – auf sozialistisch. Die Linke, so können wir auf ihrer Netzseite lesen, hält die Unabhängigkeit des Kosovo für „völkerrechts- widrig“; Denn, so heißt es dort: Letztendlich ist die Unabhängigkeit des Kosovo das Ergebnis des Krieges der NATO gegen das dama- lige Jugoslawien und basiert dementsprechend auf einer gewaltsam herbeigeführten Grenzverände- rung. Damit sind die jetzigen Entwicklungen eine direkte – zeitlich verzögerte – Folge des Krieges. Dass an einem solchen, gegen den strammen Sozialis- mus eines Milosevic und seiner Epigonen gegründeten Staat kein gutes Haar gelassen werden kann, ist in der Linken-Logik klar. Deshalb muss natürlich nach Sicht der Linken sofort ein Abschiebestopp für Menschen her, die zwar kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, aber vor „diesem“ Kosovo unbedingt zu schützen sind. Niemand bestreitet mögliche Probleme in der inneren Ordnung des neuen Staates. Aber die Linke will diese Probleme nicht lösen. Sie vergießt Krokodilstränen in ihrem Antrag, wenn sie moniert, dass die KFOR-Trup- pen nicht gegen Ausschreitungen gegen Minderheiten vorgegangen seien. Gleichzeitig hat sie sich selbst laut- hals gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo aus- gesprochen. Die Linke will das Kosovo in möglichst schlechtem Licht erscheinen lassen, sein staatliches Existenzrecht und seine Legitimität in Abrede stellen, keinen wirksa- men Beitrag zur Problemlösung vor Ort leisten, schon gar nicht militärisch, und nutzt das so systematisch un- terstützte Chaos zur Forderung, dieses nun möglichst umfassend noch zu einem innenpolitischen Problem der Bundesrepublik zu machen. Das ist keine Politik; das ist Propaganda unter dem Deckmantel der Humanität. Es ist unerträglich, dass die Linke auch den Holocaust heran- zieht, um ihre Chaosförderungspolitik zu begründen. Ein genereller Abschiebestopp, wie die Linken for- dern, ist sachlich nicht angemessen. Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft werden. Der generelle Abschiebestopp ist ein politisches Instrument im Falle einer akuten Entwicklung, die ra- sches Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht in- flationär verwendet werden. Die individuelle Prüfung, ob ein Asylgrund vorliegt, bleibt ja nicht ausgeschlos- sen. Eine darüber hinausgehende kollektive Ausnahme von den ausländerrechtlichen Bestimmungen scheint kaum angemessen. Die Konflikte im Kosovo sind unzweifelhaft eine langfristige Entwicklung. Die Probleme im Zusammen- leben verschiedener Ethnien und verfeindeter Gruppen können nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden. Stattdessen müssen wir hel- fen, dass diese Konflikte im Kosovo beigelegt werden können. Wir tun das durch EULEX, der Rechtsstaats- mission der EU. Sie hilft, rechtsstaatliche Strukturen im Kosovo aufzubauen und nachhaltig zu entwickeln. Wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22249 (A) (C) (B) (D) tun das, indem wir dem Bundeswehreinsatz im Kosovo zugestimmt haben, die hilft, diese Entwicklung militä- risch abzusichern. Es ist gerade die Linke, die das stän- dig und systematisch zu torpedieren versucht. Ihr Antrag ist durchsichtig: Ihre Ideologie ist der Linken wichtiger als das langfristige Wohl der Menschen. Der Antrag der Linken ist in seiner mehrfachen Ziel- setzung, der Destabilisierung des unabhängigen Kosovo, der Diffamierung der westlichen Anerkennung derselben und auch bei der Infragestellung wesentlicher Merkmale des bestehenden deutschen Ausländerrechts, allzu durchsichtig. Die FDP lehnt ihn ab. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir beraten heute ab- schließend einen Antrag der Fraktion Die Linke, keine Angehörigen von Minderheiten in das Kosovo abzu- schieben. Der Bundesinnenminister soll sich dafür ein- setzen, dass alle Maßnahmen beendet werden, die solche Abschiebungen zum Ziel haben. Leider ist die Abschiebemaschinerie in Deutschland schon angelaufen. Ein Beispiel vom vergangenen Herbst: Am frühen Dienstagmorgen des 4. November reißen circa 30 Polizeibeamte die Familie Berisha in Mannheim aus dem Schlaf. Die Mutter und vier Kinder werden mit Handschellen gefesselt zum Flughafen Ba- den-Baden gebracht. Sie können nur mitnehmen, was sie am Körper tragen. Die Mutter ist schwer herzkrank, drei der Kinder sind minderjährig und in Deutschland gebo- ren, nachdem die Mutter vor 17 Jahren hierherkam. Sie leben nun auf der Straße und erhalten keinerlei Unter- stützung von den kosovarischen Behörden. Familien wie diese gibt es viele. Nach Schätzungen leben circa 100 000 Roma-Flüchtlinge in Europa. Allein in Deutschland geht es um schätzungsweise 23 000 Menschen, die seit zehn Jahren und länger hier leben. Die meisten von ihnen werden nur geduldet, weil die Be- hörden eine Rückkehr in das Kosovo grundsätzlich für zumutbar halten. Die Fraktion Die Linke findet es nicht zumutbar, Menschen in ein Land zu schicken, in dem der Minder- heitenschutz weiterhin nur auf dem Papier steht. Die Linke findet es nicht zumutbar, Menschen in Armut und Rechtlosigkeit abzuschieben. Die Linke findet es nicht zumutbar, Kinder abzuschieben, die zehn Jahre und län- ger in Deutschland leben und das Kosovo nur aus Erzäh- lungen kennen. Circa ein Drittel der Roma, Aschkali und der soge- nannten Ägypter aus dem Kosovo haben keine gültigen Ausweispapiere. Es ist ihnen unmöglich, bei einer Rück- kehr in das Kosovo ihre Identität nachzuweisen und ih- ren früheren Besitz zurückzuerlangen. Und selbst wenn sie ihre Identität nachweisen können, hilft ihnen das oft nicht weiter. Denn ihnen fehlen die Mittel, um ihr Recht einzuklagen. Die Justiz im Kosovo ist nicht willens und oft schlicht nicht in der Lage, Angehörigen von Minder- heiten zu ihrem Recht zu verhelfen. Die soziale Situation vor allem der Roma ist insge- samt erbärmlich. Die meisten leben von weniger als ei- nem US-Dollar pro Tag, also in purer Armut. Vom sozia- len Sicherungssystem und vom Gesundheitssystem sind die Roma ebenfalls ausgeschlossen. Selbst wenn sie re- gistriert sind, können sie sich die Medikamente nicht leisten. Ich fordere Sie daher auf: Stoppen Sie Abschiebungen in Not und Elend! Sorgen Sie für eine dauerhafte Per- spektive der Roma-Flüchtlinge in der Bundesrepublik! Und nicht zuletzt: Leisten Sie einen Beitrag zur dauer- haften Stabilisierung des Kosovo! Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Stabilisierung der kosovarischen Institutio- nen muss aus unserer Sicht so kurz nach der Unabhän- gigkeit des Landes das wichtigste Ziel sein. Die Stabilisierung der kosovarischen Institutionen benötigt Zeit und die notwendige Hilfestellung durch EULEX. In diesem Zusammenhang sind Tausende von abge- schobenen ethnischen Minderheitsangehörigen aus Deutschland gar nicht hilfreich und schaffen ein großes Risiko der Destabilisierung. Es gibt nach wie vor im Ko- sovo keine Aufnahme- und Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder für Rückkehrer, die mittellos sind. Es gibt für Abgeschobene keine Unterstützung im Kosovo, weder von kosovarischen noch von internatio- nalen Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völ- lig auf sich selbst gestellt bzw. auf Unterstützung aus dem Familenverbund angewiesen. Roma und andere eth- nische Minderheiten haben häufig keine Unterkunfts- möglichkeit und finden keine Arbeit etc. Es gibt keine nachhaltige Verbesserung der medizinischen Versor- gungslage gerade im Bereich der Traumabehandlung, worauf auch zahlreiche Experten und die zuständigen Behörden immer wieder hinweisen. Auch aktuelle Be- richte, wie der der International Crisis Group, ICG, be- schreiben die Sicherheitslage nach wie vor als fragil und insbesondere für ethnische Minderheiten unvorherseh- bar. Auch kommt es nach wie vor zu interethnischen Zwischenfällen. Daher teilen wir das Grundanliegen des vorliegenden Antrags. Zu den Forderungen der Fraktion Die Linke im Ein- zelnen: Die Forderung nach einem generellen Abschie- bestopp für Flüchtlinge aus dem Kosovo, die keinen Aufenthaltstitel haben – also auch für alle ethnischen Al- baner – ist zwar sehr weitgehend; es sei aber noch ein- mal daran erinnert, dass die Bundesregierung den Vor- schlag des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für den zukünftigen Kosovo Martti Ahtisaari unterstützt hat. Herr Ahtisaari hat unmissverständlich deutlich ge- macht hat, dass eine Rückkehr ins Kosovo nur freiwillig erfolgen sollte. Im Annex zu seinem Bericht an den UN- Sicherheitsrat vom 26. März 2007, S/2007/168, wird dies klar. Es ist sehr bedauerlich, dass sich die Bundes- länder der Umsetzung dieser Empfehlung nicht ver- pflichtet fühlen. So kommt es trotz eines grundsätzlichen Rückführungsverbotes für Roma in den Kosovo insbe- sondere in Nordrhein-Westfalen – übrigens unter einem FDP-Innenminister – immer wieder zu Rückführungs- 22250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) versuchen dieser Gruppe. Der Abschiebungsschutz für Roma aus dem Kosovo wird in der Praxis der NRW- Ausländerbehörden umgangen, indem die Volkszugehö- rigkeit bei Rückführungsersuchen nicht angegeben wer- den und die Zuständigen im Kosovo diese nicht prüfen. Dies widerspricht eklatant der Readmission Policy, die regelt, dass den kosovarischen Behörden bei jedem Er- suchen unter anderem auch die ethnische Zugehörigkeit der Person mitgeteilt werden soll. Die zweite Forderung im Antrag der Linksfraktion nach der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ethni- sche Minderheiten teilen wir ausdrücklich. Ähnliches hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schon mehr- fach gefordert. Es geht insbesondere um Roma und Ser- ben und Albaner aus Gebieten im Kosovo, in denen sie eine Minderheit darstellen, zum Beispiel in der Stadt Nordmitrovica. Auch die Forderung nach Beendigung bzw. Einstel- lung von Widerrufsverfahren gegenüber Flüchtlingen aus dem Kosovo teilen wir prinzipiell. In der Realität sind die Widerrufsverfahren für Kosovaren beim Bun- desamt für Migration und Flüchtlinge allerdings schon weitgehend abgeschlossen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Frauen und Mäd- chen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern (Tages- ordnungspunkt 14) Antje Blumenthal (CDU/CSU): Weltweit sind circa 650 Millionen Menschen behindert. Für sie haben wir vor zwei Monaten, am 4. Dezember 2008, im Bundestag das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beschlossen und der Ratifizierung den Weg geebnet. Das Ziel ist, ihr Recht auf Teilhabe, auf Bildung und auf Arbeit zu gewährleisten. Für viele der 650 Millionen Menschen mit Behinderungen welt- weit sind diese Rechte jedoch nicht selbstverständlich. Bei uns in Deutschland dagegen sieht die Lage der Men- schen mit Behinderungen vergleichsweise gut aus. Die Menschenrechte und damit natürlich auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind im Grundgesetz verankert und in einer Vielzahl von Gesetzen konkretisiert. Aber wir wissen alle, dass es bei der Umsetzung in die Praxis allzu oft noch hapert. Deswegen ist auch für uns das Übereinkommen der Vereinten Nationen ein beachtlicher Meilenstein in der Behindertenpolitik. Wir haben damit unsere politische Verpflichtung erneuert, immer wieder auf die Praxis zu schauen und uns ständig dafür einzusetzen, dass die Teilhabe, die wir in Gesetze schreiben, auch gelebt werden kann. Denn ein Gesetz al- lein ändert leider nichts an der Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen immer noch Opfer von Diskriminie- rung und Opfer von Gewalt werden, und das weit häufi- ger als nicht behinderte Menschen. Ihr Risiko, vernach- lässigt, missbraucht oder geschlagen zu werden, steigt sogar noch weiter an, wenn die Behinderten Frauen oder Mädchen sind. Das Europäische Parlament geht davon aus, dass nahezu 80 Prozent der Frauen und Mädchen mit Behin- derungen Opfer von psychischer oder physischer Gewalt werden. Erste Stichproben zeigten: Mehr als jede zweite Frau mit Behinderungen hat bereits sexualisierte Gewalt erleben müssen. Wir haben eine Vermutung, eine dunkle Ahnung, dass die Täterinnen und Täter aus dem direkten sozialen Umfeld kommen. Wir können uns vorstellen – und lesen es immer wieder in der Presse –, dass Menschen mit Behinderungen vielfach Gewalt von den Menschen erfahren, die sie pflegen und betreuen. Bisher wissen wir in Deutschland nicht verlässlich über das Ausmaß und den Umfang von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen Bescheid. Die Datenlage ist dünn. Bisherige Studien fußen nicht auf repräsentativen und belastbaren Zahlen; meist greifen sie nur auf Stichproben zurück. Wenn wir die Frauen und Mädchen mit Behinderungen aber wirksam vor Gewalt und Übergriffen schützen wollen, brauchen wir genauere Informationen über Täter und Tatumstände. Wir müssen wissen, wer wo und wie betroffen ist, damit wir unter- stützende Strukturen aufbauen können und damit diese Gewalt verhindert werden kann. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, im Rahmen einer Studie, die Situation der Frauen und Mädchen mit Behinderungen genau zu untersuchen. Denn die Frauen und Mädchen sind es, die wegen ihrer doppelten Aus- grenzung besonders gefährdet sind. Da die Bundesregie- rung derzeit eine Studie zu diesem Thema plant, können wir daran anknüpfen. Die Untersuchung im Rahmen des Aktionsplans II soll den häuslichen, den beruflichen und öffentlichen Bereich abdecken und auch ambulante und stationäre Einrichtungen in den Blick nehmen. Wir wol- len, dass bei der dreijährigen Studie besonders die Tat- umstände sowie die Täter- und Gewaltstruktur untersucht werden. Wir wollen weiter, dass dem Parlament ein Zwi- schenbericht vorgelegt wird, denn sonst geht wieder zu viel Zeit ins Land, ehe wir als Parlament gegebenenfalls dringend erforderliche Maßnahmen einleiten können. Unser Antrag hat noch ein weiteres Ziel: Gerade wenn wir wissen, dass Frauen und Mädchen mit Behin- derungen zu Opfern von Gewalt und Übergriffen werden können, muss es uns darum gehen, sie nicht ausschließlich als Opfer zu sehen. Vielmehr muss es uns darum gehen, Frauen und Mädchen mit Behinderungen bei ihrer Teil- habe und ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Gerade in dem heute diskutierten Kontext geht Teilhabe über die Bereiche Arbeit, gesundheitliche Versorgung und Bil- dung hinaus. Sie betrifft den Bereich Partnerschaft und Sexualität, der in Verbindung mit Menschen mit Behin- derungen lange Zeit tabuisiert wurde. Aber gerade hier handelt es sich um Erfahrungen, die ganz wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Identitätsfindung und auch zur Selbstbestimmtheit beitragen können. Und ge- rade in der sexuellen Selbstbestimmung scheinen Lü- cken zu klaffen. Sexualaufklärung und Sexualerziehung müssen daher auch für Menschen mit geistigen Behinde- rungen selbstverständlich werden. Nur so können sie im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22251 (A) (C) (B) (D) Rahmen ihrer Möglichkeiten befähigt werden, Über- griffe als solche zu erkennen und sich zur Wehr setzen. Das Bewusstsein der Mädchen und Frauen muss dafür geschärft werden, wo sexuelle Übergriffe beginnen und welche Folgen sie haben. Die mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen verbundenen Erwartungen der Menschen mit Behinde- rungen sind hoch. Ich wünsche mir deshalb sehr, dass wir mit diesem Antrag den Handlungsspielraum für Frauen und Mädchen mit Behinderungen auf ihrem Weg zu mehr Selbstbestimmtheit und Teilhabe verbessern können. Ich denke, dass wir damit einen Teil dazu beitra- gen, die berechtigten Erwartungen, die die Menschen mit Behinderungen in das UN-Übereinkommen setzen, zu erfüllen. Michaela Noll (CDU/CSU): Psychische und physi- sche Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen einschließ- lich sexueller Gewalt sind Menschenrechtsverletzun- gen, deren Ausmaß jeder aufgedeckte Fall aufs Neue bewusst werden lässt. Das Erschrecken darüber ist dann ganz besonders groß, wenn Mädchen und Frauen mit Behinderung betroffen sind. Das Thema Frauen und Mädchen mit Behinderung muss daher verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und darf nicht länger tabuisiert werden. Gerade diese Frauen und Mädchen sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sexueller Gewalt zu begegnen. Die Dunkelziffer ist hoch. Frauen und Mädchen mit Seh- oder Hörschäden, mit körperlicher Beeinträchtigung oder geistiger Behinderung können Gefahren nicht immer rechtzeitig erkennen. Sie haben noch weniger Möglichkeiten, sich zu schützen. Wie können wir nun Gewalt gegen behinderte Frauen und Mädchen reduzieren? Die bisher allgemein aner- kannten Strategien der Prävention oder Bewältigung se- xueller Übergriffe können nicht ohne Weiteres auf die Situation behinderter Frauen übertragen werden. Vieler- orts wird Aufklärungs- und Präventionsarbeit geleistet, aber darüber hinaus wollen wir mit unserem Antrag er- reichen, dass zielgruppenspezifisches Aufklärungs- und Informationsmaterial erarbeitet und auch den behinder- ten Frauen und Mädchen zur Verfügung gestellt wird. Mit dem Antrag verfolgen wir zudem das Ziel, Hilfsan- gebote für die Betroffenen zu verbessern. Denn die psy- chischen und körperlichen Folgen für diese Opfer sind in vieler Hinsicht identisch mit denen nicht behinderter Menschen. Die behinderten Frauen und Mädchen befinden sich in einem Teufelskreis, denn ihre Signale werden eher als Folge ihrer Behinderung und nicht als Folge von Gewalt interpretiert. Wenn es Vertrauenspersonen gelingt, Op- fern Mut zu machen, sich mitzuteilen und professionelle Hilfe anzunehmen, kann dies ein erster Schritt sein, Ta- buisierung aufzubrechen. Deshalb müssen wir Projekte und Modellversuche fördern, die zum Ziel haben, das Betreuungs- wie Pflegepersonal und die Ärzteschaft über Gewaltfolgen und Prävention in Bezug auf betrof- fene Frauen und Mädchen mit Behinderung fortzubil- den. Im Unterschied zu nicht behinderten Menschen befin- den sich Mädchen mit Behinderung nicht nur im Jugend- alter, sondern auch als Erwachsene in einer erhöhten so- zialen Abhängigkeit. Damit vergrößert sich auch die Gefahr, bis ins hohe Alter Opfer von Gewalt zu werden. Deshalb fordern wir, bei der Entwicklung von entspre- chenden Maßnahmen die Altersverteilung der Betroffe- nen besonders in den Blick zu nehmen und entsprechend zu berücksichtigen. Eine der wirksamsten Präventionsmöglichkeiten vor Gewalt ist es, die Betroffenen selbst im Vorfeld zu stär- ken, damit sie Übergriffen entgegentreten können. Häu- fig werden sexuelle Übergriffe aus dem ganz nahen Um- feld der betroffenen Frauen verübt. Die Täter sind meist in dem Personenkreis zu finden, auf den die behinderten Frauen täglich angewiesen sind. Je größer das Abhän- gigkeitsverhältnis, desto höher ist das Risiko sexueller Gewalterfahrung. Um uns ein genaueres Bild vom Aus- maß und Umfang von Gewalt gegen Frauen und Mäd- chen mit Behinderung unter Berücksichtigung der Ge- walt- und Täterstruktur zu verschaffen, wollen wir, dass die dazu geplante Studie schnellstmöglich in Auftrag ge- geben und dem Parlament ein Zwischenbericht vorgelegt wird. Weiterhin brauchen wir barrierefreie Beratungsange- bote. Kaum einer Frau, die Opfer sexueller Gewalt wurde, gelingt es ohne Hilfe von außen, sich aus dieser Situation zu befreien und die Folgen zu bewältigen. Be- hinderte Frauen mit Assistenzbedarf haben noch größere Probleme zu bewältigen und benötigen deshalb auch weitgehende und umfassende Beratung und Unterstüt- zung. Behindertenberatungsstellen sind eher selten in der Lage, frauenspezifisch zu sexueller Gewalt zu bera- ten, Frauenberatungsstellen sind hingegen nicht immer barrierefrei. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass das Hilfesystem verstärkt den Bedürfnissen von Frauen und Mädchen mit Behinderung gerecht wird und spezielle Unterstützungsangebote entwickelt und bereit- gestellt werden. Die Flucht ins Frauenhaus ist oftmals auch für die be- hinderten Frauen der letzte Ausweg. Barrierefreie Frau- enhäuser gibt es in der Bundesrepublik nur wenige. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, dass ein ausrei- chendes Angebot an barrierefreien Frauenberatungsstel- len und Frauenhäusern für Frauen mit Behinderung, die von Gewalt betroffen sind, zur Verfügung gestellt wird. Neben Prävention und Förderung der Selbstbestimmt- heit brauchen wir eine umfassende Hilfestruktur. Nur so kann es uns gelingen, Mädchen und Frauen mit Behinde- rung wirksam vor Gewalt zu schützen. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Gewalt- freiheit ist einer der zentralsten Grundwerte unserer Ge- sellschaft. Die Ausübung von Gewalt verletzt Menschen in ihren gesetzlich verbürgten Grundrechten und be- schränkt sie in ihrer Entfaltung und Lebensgestaltung. Studien zeigen, dass Frauen quer durch alle Alters- gruppen, soziale Schichten und ethnische Zugehörigkei- ten in einem hohen Ausmaß von Gewalt betroffen sind. 22252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) Mit dem ersten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen 1999 wurde in Deutschland ein Gesamt- konzept entwickelt, dessen Erfolge sich sehen lassen können, sei es das Gewaltschutzgesetz, Projekte gegen häusliche Gewalt oder das Gesetz zur gewaltfreien Er- ziehung. Eine Gruppe, die aber noch nicht genügend Beach- tung bekommen hat, ist die der behinderten Frauen und Mädchen. Die Datenlage ist schwierig. Es gibt noch keine repräsentativen Daten oder wissenschaftlichen Un- tersuchungen zum Thema Gewalt gegen behinderte Frauen und Mädchen. Doch man geht davon aus, dass 80 Prozent der Frauen mit Behinderungen zu Opfern von physischer oder psychischer Gewalt werden. Sie sind oft von Mehrfachdiskriminierungen betroffen. Sie sind in höherem Maße als andere Frauen der Gefahr sexueller Gewalt ausgesetzt. Und Gewalt kommt bei behinderten Frauen nicht nur häufig vor, sondern ist oft selbst die Ur- sache für die Behinderung. Die Täter und manchmal auch Täterinnen kommen meistens aus dem sozialen Umfeld der behinderten Frauen und Mädchen. Die Übergriffe finden im häuslichen Bereich und in Ein- richtungen statt oder auf Fahrten zu Schule oder Werk- statt. Dabei wird die vorhandene Abhängigkeitssitua- tion ausgenutzt. Geistig behinderte Frauen und Mädchen sind oft un- genügend sexuell aufgeklärt und wissen über sexuelle Gewalt nicht Bescheid. Wenn es zu Übergriffen kommt, können sie sich oft nicht verständlich mitteilen oder das Betreuungspersonal kann die Mitteilung nicht richtig einschätzen. Dies stellt die Bekämpfung dieser Gewalt vor vielschichtige Probleme, und man muss hier ganz anders ansetzen als bei Fällen von Gewalt gegen nicht behinderte Frauen und Mädchen. Die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen wird auf nationaler und internationa- ler Ebene verfolgt. Neben der auf internationaler Ebene im Jahr 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechts- konvention sind die EU-Ebene, die Europaratsebene so- wie die nationale Ebene zu nennen. Um in Deutschland die Umsetzung der UN-Behinder- tenrechtskonvention voranzutreiben, haben wir diesen Antrag auf den Weg gebracht. Wir sind der Auffassung, dass die Benachteiligung und Mehrfachdiskriminierun- gen von geistig und körperlich beeinträchtigten Frauen und Mädchen viel stärker als bislang in das Licht der Öf- fentlichkeit gerückt werden müssen. Die UN-Konven- tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat das Ziel, die Chancengleichheit der Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, ihre Grundrechte zu garantieren und ihnen umfassende Teilhabe in der Ge- sellschaft zu fördern. In Art. 6 der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen heißt es: (1) Die Vertragsstaaten erkennen an, dass behin- derte Frauen und Mädchen mehrfacher Diskrimi- nierung ausgesetzt sind, und ergreifen in dieser Hinsicht Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten uneinge- schränkt und gleichberechtigt genießen können. (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maß- nahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen, damit gewährleistet wird, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschen- rechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können. Deutschland hat die Konvention ratifiziert und ver- pflichtet sich damit zur Umsetzung. Frauen mit Behinde- rung nehmen so im zweiten Aktionsplan der Bundesre- gierung zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erstmals größeren Raum ein. Im Rahmen dieses zweiten Aktionsplans hat die Bun- desregierung eine Untersuchung zu Ausmaß und Um- fang der Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen ange- kündigt. Die Studie soll über drei Jahre hinweg den häuslichen, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie die ambulanten und stationären Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe untersuchen. Diese Un- tersuchung wird dringend gebraucht. Denn es wird deut- lich, dass sich Erkenntnisse aus dem Bereich häuslicher Gewalt gegen nicht behinderte Frauen nicht einfach übertragen lassen. Eine Verbesserung der Datenlage ist dringend notwendig. Auch an zielgruppenspezifischem Aufklärungsmaterial mangelt es. Gewalt gegen behinderte Frauen ist nicht altersspezi- fisch. Sie kann sich bis ins hohe Alter fortsetzen oder gar erst im höheren Lebensalter beginnen. Die Untersu- chung wird auch hier nützlich sein, denn bei der Ent- wicklung von Maßnahmen gegen Gewalt muss die Al- tersverteilung der Betroffenen natürlich erkannt und berücksichtigt werden. Das Schlüsselwort bei der Bekämpfung von Gewalt heißt Prävention. Unser Ziel ist es, die Betroffenen im Vorfeld zu stärken. Mit dem entsprechenden Selbstbe- wusstsein können behinderte Frauen und Mädchen Grenzüberschreitungen und Übergriffen rechtzeitig ent- gegentreten. Bei der Präventionsarbeit sehr wichtig ist ein behin- dertengerechter Zugang zu Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern. Alle Barrieren, die das Aufsuchen von Gewaltberatungsstellen erschweren, müssen aus dem Weg geräumt werden. Damit ist nicht nur der uneinge- schränkte, hindernisfreie Zugang zu Beratungsstellen gemeint, sondern auch die Überwindung von sprachli- chen Missverständnissen, die im Rahmen der Beratung entstehen können. Ich denke hierbei an spezielle Beglei- terinnen und Begleiter und Ärztinnen und Ärzte, die in der Lage sind, die Kommunikation zwischen geistig be- hinderten Menschen und dem Beratungspersonal zu ver- mitteln. Die Fortbildung des Betreuungspersonals ist von ent- scheidender Bedeutung. Wir fordern die Bundesregie- rung daher auf, Projekte und Modellversuche zu fördern, die die Fortbildung des Betreuungs- und Pflegepersonals und der Ärzteschaft, die im Bereich Gewalt gegen behin- derte Frauen und Mädchen arbeiten, zum Ziel haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22253 (A) (C) (B) (D) Wir wollen weiterhin, dass die Öffentlichkeit mithilfe von Projekten und Kampagnen noch intensiver mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinde- rungen vertraut gemacht und dafür sensibilisiert wird. Wir wollen Menschen ermutigen, sich nicht mit Ge- walt abzufinden, sondern ihr aktiv entgegenzutreten. Und wir wollen Frauen, behinderte und nicht behinderte, darin stärken, ihre Rechte wahrzunehmen und ein Leben ohne Gewalt und Angst zu führen. Ina Lenke (FDP): Mit dem vorliegenden Antrag set- zen Union und SPD ihre unentschlossene Politik für Menschen mit Behinderung fort. So wird zum Beispiel Art. 6 der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen zwar wörtlich zitiert, verschwiegen wird al- lerdings, dass die Bundesregierung über kein Konzept zur Umsetzung der Konvention verfügt. Das haben die Beratungen im Deutschen Bundestag im vergangenen Dezember gezeigt. Die Konvention, die von der FDP ausdrücklich begrüßt und mitgetragen wird, wurde im Hauruckverfahren und ohne eine angemessene parla- mentarische Beratung durch Bundesrat und Bundestag gepeitscht. Wie die Konvention mit Leben gefüllt wer- den soll, kann die Bundesregierung bis heute nicht erklä- ren. Auch die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD versprochene Weiterentwicklung der Eingliede- rungshilfe wurde Jahr um Jahr verschoben und ist jetzt endgültig von der Tagesordnung dieser Bundesregierung gestrichen worden. Frühestens im November 2009, nach der Wahl, wird wieder über Behindertenpolitik gespro- chen werden. Sie beschreiben in Ihrem Antrag, dass in den Ver- tragsstaaten behinderte Frauen und Mädchen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und geben die Auffor- derung nach Art. 6 der Konvention wieder: „dass die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Siche- rung der vollen Entfaltung, Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen und Mädchen treffen, damit gewährleistet wird, dass sie die in dem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten aus- üben und genießen können.“ Sie fordern also ihre eigene Bundesregierung auf, dass das Thema Frauen und Mäd- chen mit Behinderungen verstärkt in den Fokus der Öf- fentlichkeit gerückt werden müsse. Sie beschreiben rich- tigerweise die Probleme durch erhöhte Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden. Da ist es sicher auch von beson- derer Bedeutung, dass sich Frauen und Mädchen mit geistiger Behinderung bei Übergriffen nicht immer ge- genüber Dritten entsprechend äußern können. Es verwundert nicht, dass der vorliegende Antrag zwar viele Probleme benennt, aber kaum Konkretes zur Verbesserung der Situation behinderter Frauen und Mäd- chen beinhaltet. Sie fordern als CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion, eine geplante Studie schnellstmöglich in Auftrag zu geben, bei der Entwicklung von entsprechen- den Maßnahmen die Altersverteilung in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen, Aufklärungsmaterial zu erarbeiten, öffentliche Kampagnen aufzulegen, zu prü- fen, sich einzusetzen … Also außer Studien und Prüfaufträgen beinhalten die Forderungen wenig Substanzielles. Was soll dieser Antrag erst jetzt zum Ende der Legis- laturperiode? Wenn, dann würden konkrete, in diesem Jahr noch von der Bundesregierung umsetzbare Vor- schläge der beiden Regierungsfraktionen für Frauen und Mädchen mit Behinderungen von Nutzen sein. Ange- sichts der mehr als zögerlichen Behindertenpolitik der Koalition ist deshalb leider nicht damit zu rechnen, dass diesem Antrag voller Willensbekundungen auch Taten folgen werden. Wir werden den Antrag im Familienausschuss beraten und zu konkreteren Vorschlägen kommen. Wir sind uns sicher einig, dass sich nicht die Behinderten der Lebens- welt von Nichtbehinderten anpassen müssen, sondern die Lebenswelt so gestaltet werden sollte, dass alle gleichberechtigt teilhaben können. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Dass Frauen mit Be- hinderungen nachweisbar in vielen Lebensbereichen ei- ner Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind, wissen Sie spätestens seit dem im November 2005 vom Famili- enministerium vorgelegten Gender-Datenreport. Mehr als drei Jahre später legen Sie nun diesen Antrag vor. Gut finde ich beim Koalitionsantrag, dass der Art. 6 – „Frauen mit Behinderungen“ – der inzwischen auch in der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten UN-Behin- dertenrechtskonvention genannt und zitiert wird. Ich finde es aber nicht gut, wenn die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage auf Drucksache 16/11603 antwor- tet, dass ihrer Meinung nach „aufgrund des Übereinkom- mens Änderungen der deutschen Rechtslage nicht erfor- derlich sind“, und wenn sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Treffen mit dem Deutschen Behinder- tenrat, DBR, am 10. Februar 2009 zwar offen für die Er- stellung eines konkreten Aktionsplanes zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Natio- nen zeigt, aber gleichzeitig verkündet, dass dieses durch- aus sinnvolle Vorhaben realistischerweise erst in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden könne. Auch der hier vorliegende Antrag der Koalition so kurz vor der Wahl spricht für sich bzw. für die „Ernsthaf- tigkeit“ und das Engagement, mit der die Regierungsko- alition um wirkliche Veränderungen für Frauen und Mädchen mit Behinderungen kämpft. So fordert sie un- ter anderem, „die geplante Studie zum Ausmaß und Um- fang von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behin- derungen“ schnellstmöglich in Auftrag zu geben und „zu prüfen, ob die Einführung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen erfolgen sollte“. Das hört sich sehr sinn- voll an. Wer aber über die Maßnahmen im behinderten- politischen Bereich informiert ist, reibt sich verwundert die Augen: Im Haushaltsplan 2007 sind sowohl die Stu- die als auch das Modellprojekt „Etablierung von Frauen- beauftragten in Einrichtungen für Menschen mit Behin- derungen“ als neue Maßnahme des Aktionsplans II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgeführt – als Titel 684 21 zu Kapitel 1702, klar benannt mit Laufzeit und Ausgaben. In den Haus- haltsplänen 2008 und 2009 sind dann beide Projekte als 22254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) Fortsetzungsmaßnahme aufgelistet. Laut Haushaltsplan 2009 läuft die wissenschaftliche Untersuchung zu Ge- walt gegen behinderte Frauen und Mädchen bereits seit Oktober 2008. Auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion listete die Bundesregierung am 8. Juli 2008 – Drucksa- che 16/9934 – die gleiche Untersuchung plötzlich wie- der als neue – in der Vorbereitung befindliche – Maß- nahme auf. Und auf meine Anfrage antwortete erst gestern Staatssekretär Dr. Hermann Kues, dass das Bun- desministerium für Familie, Senioren und Jugend voraussichtlich noch in dieser Woche einen diesbezügli- chen Werkvertrag mit der Universität Bielefeld abschlie- ßen wird. Es erübrigt sich jeder weitere Kommentar dazu. Inte- ressant zu wissen wäre allerdings, was mit den bisher veranschlagten Geldern passiert ist. Für das Haushalts- jahr 2007 waren für die Studie und das Modellprojekt „Frauenbeauftragte“ jeweils 150 000 Euro veranschlagt, für 2008 jeweils 250 000 Euro und für 2009 für die Stu- die 335 000 Euro und für das Modellprojekt 161 000 Euro. Beim Verein Weibernetz gibt es ja nun seit Dezember 2008 das Projekt „Frauenbeauftragte in Einrichtungen“, das vom Familienministerium bezahlt wird. Also wozu dann noch die Aufforderung dazu in diesem Antrag? Die anderen Forderungen des Antrags sind vernünf- tig, allerdings fehlt mir die klare Benennung, dass, wie und wo Gesetze konkret geändert werden sollen. Dazu verpflichtet bereits die UN-Behindertenrechtskonven- tion. Es reicht nicht, wenn sich die Bundesregierung bei den Ländern dafür einsetzt, das Hilfesystem zu verstär- ken, wie hier im Antrag gefordert. Vielmehr lese ich da- bei heraus, der Bund müsse sich nicht in der Verantwor- tung fühlen. Und wir müssen auch über weitere Ursachen reden: über die hohe Zahl von Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind. Und wir müssen etwas dage- gen tun. Seit dem 30. Dezember 2003 gilt das neue Strafrecht mit neuen Regelungen, die auch behinderte und „wider- standsunfähige“ Frauen betreffen. Dabei sind einige For- derungen der Frauen- und Behindertenbewegung umge- setzt worden. Das war angesichts der Tatsache, dass nahezu 80 Prozent der Frauen und Mädchen mit Behin- derungen durchaus zu Opfern physischer und psychi- scher Gewalt werden und im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen doppelt so häufig Opfer sexueller Ge- walt sind, ein wichtiger Teilerfolg. Aber es bleibt für mich unakzeptabel, wenn in § 179 des Strafgesetzbuches nicht klargestellt wird, dass „behindert“ nicht gleich „widerstandsunfähig“ ist; denn widerstandsunfähig sind nur solche Personen, die keinen eigenen Willen entwi- ckeln können. Dies ist zum Beispiel bei Wachkomapa- tientinnen der Fall, aber bei weitem nicht bei allen Frauen mit Behinderung. Unerträglich ist für mich, dass „leichtere“ Sexualstraftaten bei behinderten Frauen nur als Vergehen bezeichnet werden, während diese bei nicht behinderten Frauen – richtigerweise – als Verbrechen ge- ahndet werden. Hier sieht die Linke dringenden Ände- rungsbedarf. Auch fehlt mir im Koalitionsantrag die klare Forde- rung nach einem flächendeckenden Präventionsnetz zum Schutz vor Gewalt gegen behinderte Frauen und Mäd- chen. Ohne dieses Netz ist der strukturellen Gewalt nicht wirklich zu begegnen. Strukturelle Gewalt liegt auch vor, wenn das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt ist oder vermeidbare Beeinträchtigungen gegeben sind. Hier trägt die Bundesregierung generell mit ihrer Spar- politik nicht zur Verbesserung der Situation behinderter Frauen bei – sei es bei der Gesundheitsreform, der Pfle- gereform oder der Föderalismusreform, die einen weite- ren Rückfall in Kleinstaaterei erwarten und befürchten lässt, dass die erkämpften Rechte der Behindertenbewe- gung im Hinblick auf bundeseinheitliche Standards wei- ter zerbröckeln. Nötig sind eine tatsächlich barrierefreie Gesundheitsversorgung, der Rechtsanspruch auf Eltern- assistenz, tatsächlich erreichbare Angebote der Frühför- derung usw. Auch die sogenannte Pflegereform im vergangenen Jahr war eine verpasste Chance, wirksame Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt zu er- greifen. Die Linke forderte das Recht der Wahl der Pfle- geperson; denn gerade vor dem Hintergrund der Gefahr von sexualisierter Gewalt in der Pflege wünschen sich viele Frauen mit Behinderung eine Frau als Pflegeperson für die (Intim-)Pflege. Sie haben den diesbezüglichen Antrag der Linken abgelehnt. Stattdessen steht nun im § 2 Satz 3 des SGB XI: Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege haben nach Möglich- keit Berücksichtigung zu finden. – Diese Formulierung ist viel zu schwammig; denn mit dieser Formulierung ist es Pflegediensten nach wie vor möglich, einen Mann in die Pflegesituation zu schicken, wenn der Dienstplan es so ergibt. Welch eine Zumutung, wenn sich Frauen und Mädchen mit Behinderungen – darunter viele gewalter- fahrene Frauen – von Männern bei der Intimpflege hel- fen lassen müssen! Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Hören Sie auf, sich mit solchen Schaufenster- anträgen in Wahlkampfzeiten zu schmücken, und tun Sie wirklich etwas zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen und Mädchen – mit und ohne Behinderun- gen, und zwar vor der Wahl! Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind einer er- höhten Gefahr ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden. Dabei sind sie auch von sexualisierter Gewalt und Aus- beutung betroffen. Seit Mitte der 90er-Jahre gibt es hier- über ausführliche empirische Studien. So ergab 1994 eine bundesweite Erhebung über sexualisierte Gewalt in stationären Einrichtungen, dass in der Hälfte der be- forschten Einrichtungen Fälle sexualisierter Gewalt ge- gen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung bekannt waren. Eine Studie in Wohneinrichtungen der Berliner Behindertenhilfe aus dem Jahr 1998 zeigt, dass jede dritte bis vierte Bewohnerin in der Altersgruppe der 12- bis 25-Jährigen von sexualisierter Gewalt betroffen war. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22255 (A) (C) (B) (D) Die Gründe für die besondere Gefährdung behinderter Mädchen und Frauen sind vielfältig. Sexualisierte Gewalt wird dabei jedoch nicht durch individuelle Verhaltens- weisen des Opfers provoziert; dies ist bekannt. Gewalt ist vielmehr im Kontext gesellschaftlicher Einstellungen zu den Opfergruppen zu sehen. Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung, dass alle Frauen und Mädchen mit Behinderungen den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit wie Menschen ohne Behin- derung haben. Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Noch bis zur letzten Reform des Strafgesetzbuches wirkte sich der sexuelle Missbrauch an sogenannten widerstandsunfähigen Personen, das heißt an Personen, die ihren Widerstand nicht äußern können, erheblich strafmildernd aus. Dies war ein unhaltbarer Zustand. Die rot-grüne Bundesregierung hat daher im Jahr 2003 dafür Sorge getragen, dass der Strafrahmen bei sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen an den Strafrahmen, der üblicherweise bei sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung Anwendung findet, weitgehend angepasst wurde. Nichtsdestotrotz kann es auch heute noch zu Fallkonstellationen kommen, in denen bei sexu- ellem Missbrauch sogenannter Widerstandsunfähiger ein unterschiedlicher Strafrahmen zur Anwendung kommt. Auch Rot-Grün hat es in der vergangenen Legislatur nicht vermocht, die Frage der „Widerstandsunfähigkeit“ politisch abschließend zu klären. Diese Entscheidung wurde den Gerichten überlassen. Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen bekräftigt, dass eine Widerstandsunfähigkeit voraussetze, dass der oder die Geschädigte aufgrund ihres Zustands zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Lage sei, sexuelle Übergriffe des Täters abzuwehren. Dieser Zustand ist beispielsweise bei Wachkoma oder epileptischen Anfällen anzunehmen. Allein aus dem Umstand einer sogenannten geistigen Behinderung sei, so das Gericht, eine Widerstandsunfähig- keit nicht mehr abzuleiten. Diese Ausführungen sind nicht zufriedenstellend, zu- mal wenn man bedenkt, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse darüber vorliegen, ob und wie häufig auch heute noch die Justiz bei sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen weiterhin auf den strafmil- dernden § 179 des Strafgesetzbuches – sexueller Miss- brauch widerstandsunfähiger Personen – zugreift. Ich ver- weise auf die Antwort auf unsere Große Anfrage auf Drucksache 16/9283. Um diese Erkenntnisse zu erlangen, bedarf es nach Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen daher einer rechtstatsächlichen Untersuchung über die Anwendungspraxis des § 177 Strafgesetzbuch – sexuelle Nötigung, Vergewaltigung – und des § 179 Strafgesetz- buch bei sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen. Es obliegt der Bundesregierung, heraus- zufinden, inwiefern auch heute noch der sexuelle Miss- brauch behinderter Menschen strafmildernd beurteilt wird. Fernab der Frage des Strafrahmens ist es insbesondere Aufgabe der Prävention, sexualisierte Gewalt zu verhin- dern. So gibt es verschiedenste Faktoren, die behinderte Frauen und Mädchen besonders verletzlich machen. Fremdbestimmte Abhängigkeit, Diskriminierung, Stig- matisierung sowie Uninformiertheit sind da nur einige Stichpunkte. Das von der rot-grünen Bundesregierung im Rahmen des § 44 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch initiierte Projekt „SELBST – Selbstbewusstsein für behinderte Mädchen und Frauen“ hatte zum Ziel, Selbst- behauptungs- und Selbstverteidigungskurse für behin- derte Frauen und Mädchen innerhalb und außerhalb des Behindertensports zu konzipieren. Das Projekt endete im September 2006. Aus der Praxis hören wir jedoch, dass die Übungspläne im Rehabilitationssport nicht zur An- wendung kommen. Der nun vorliegende Antrag gibt uns die Möglichkeit, diese Problematiken in den Ausschüssen zur Sprache zu bringen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen strategisch nutzen (Tages- ordnungspunkt 15) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): In Zeiten wie den gegenwärtigen, in denen wir als Staat aus Sorge um die Funktionsfähigkeit des Finanzsektors mit dem Finanz- marktstabilisierungsgesetz gewaltig in das Marktgesche- hen eingegriffen haben, mag die Verlockung groß sein, den Staat in weiteren Bereichen zum Akteur, gar zur Schlüsselfigur zu machen. Die Grünen bewegen sich in diesem Fahrwasser, wenn sie ein einheitliches Beteili- gungsmanagement für den Bund entwickeln wollen. Sie bemängeln darüber hinaus in ihrem Antrag, dass der Bund bei seinen Beteiligungen Kontrolldefizite habe und unter anderem die Aufsichtsratsmitglieder und die Ver- treter in den Hauptversammlungen ungenügend schule. Im Rahmen des Haushaltsrechts soll eine effektivere Kontrolle des Bundestages erreicht werden, welches nicht durch Geheimhaltungspflichten, zum Beispiel aus dem Aktiengesetz, unterlaufen werden soll. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag aus verschiedenen Gründen ab. So ist nicht nur die von den Grünen geforderte Entwicklung von sozialen und ökolo- gischen Kriterien für eine Unternehmenspolitik des Bun- des vollkommen sachfremd. Unternehmen sollten nach betriebswirtschaftlichen Kennziffern, nicht nach tages- politischen Opportunitäten oder Kategorien von Gut- menschentum und Political Correctness geführt werden. Dies ist für mich jedoch nicht der einzige Grund. Die ständigen Kollisionen von parlamentarischen Auskunfts- wünschen und betrieblichen Geheimhaltungspflichten machen deutlich, dass es klug ist, wenn der Staat sich weitgehend aus dem operativen Geschäft im Markt he- raushält. Diese beiden rechtlichen Regelkreise sind von ihrer Regulierungsabsicht her zu unterschiedlich, als dass sie sich sinnvoll versöhnen ließen: Parlamentarische Kon- trolle von Regierungshandeln ist auf Transparenz und Offenheit angelegt, um so eventuelles Fehlverhalten, Inef- fizienzen mit öffentlicher Kritik begleiten und abstellen zu können. Im Wirtschaftsrecht steht das Unternehmen im Vordergrund, Betriebsgeheimnisse und Wettbewerbs- 22256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) vorteile gegenüber Mitanbietern sind zu schützen, es müssen strategische Überlegungen zur zukünftigen Aus- richtung des Unternehmens vertraulich ausgetauscht und vereinbart werden können. Werden hier Fehler gemacht, werden sie vom Markt bestraft. Von Ausnahmen abgesehen – etwa bei herausragenden nationalen Interessen oder bei Marktversagen – ist der Staat in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Regelsetzer, Normengeber, Regulierer, Überwacher, kurz: Er gibt den Rahmen vor und wacht über die Einhaltung der Regeln, er ist aber eben nicht Akteur im Markt. Beim Fußball gehört der Schiedsrichter zu keiner der beiden Mannschaften im sportlichen Wettbewerb, sondern er wacht über die Ein- haltung der Regeln und greift bei Verstößen ein, damit die bessere oder glücklichere Mannschaft sich im fairen Wettstreit durchsetzt. Natürlich sitzt er weder bei der einen noch bei der anderen Mannschaft bei der Teambespre- chung dabei, er würde seine Unparteilichkeit damit nachhaltig verspielen. Deshalb sollten wir uns von allen staatlichen Firmenbeteiligungen trennen, sofern diese nicht aus wichtigen nationalen Interessen erforderlich sind, sobald es das Marktumfeld zulässt. Neben diesen mehr grundsätzlichen Feststellungen muss der Antrag der Grünen auch als überflüssig bezeichnet werden, da die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ausführlich über die Wahrnehmung der Aufsichts- und Kontrollfunktion des Staates als Anteilseigner berichtet hat. Die darin enthaltenen Informationen zeigen mir, dass hier keine weitere Regulierung notwendig ist. Dass Aufsichtsräte auch einmal Fehler begehen oder gewisse Entwicklungen nicht absehen können, ist nur natürlich. Weltweit haben nur wenige Wissenschaftler, Politiker, Manager und Aufsichtsräte die Finanz- und Wirtschaftskrise vorhergesehen. Die Schulung möchte ich sehen, welche Aufsichtsräte dazu in die Lage versetzt hätte, die aufziehende Gefahr in diesen Dimensionen zu erkennen. Ich habe hier Zutrauen in unser Spitzenpersonal: Der größte Teil der Mitglieder von Aufsichtsräten wird seine Aufgabe mit der notwendigen Sachkenntnis und großem Engagement erfüllen. Dazu gehört auch, dass sich die Aufsichtsräte bei Antritt ihres Postens in die Materie einarbeiten und auch während ihrer Zugehörig- keit selbstständig für eine entsprechende Weiterbildung sorgen. Sie erfüllen ihre Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen. Die Grünen übersehen auch, dass wir eine klare Geset- zeslage haben: Vorstände deutscher Unternehmen haften für eine ordnungsgemäße Unternehmensführung. Falls Sorgfaltspflichtverletzungen vorliegen, können die Kapital- geber Schadensersatzansprüche geltend machen; die Staatsanwaltschaft hat gegebenenfalls Straftatbestände wie den der Untreue zu prüfen. Aufsichtsratsmitglieder haften für die Sorgfalt eines ordnungsgemäßen Überwa- chers, ihnen drohen vergleichbare Sanktionen im Falle von Pflichtverletzungen. Ich bin davon überzeugt, dass die Krise im Finanzsektor der letzten Monate dazu führt, dass diejenigen Aufsichtsräte, welche sich bisher der Verantwortung nicht genug bewusst waren, sich nun we- sentlich intensiver mit ihrer Aufgabe auseinandersetzen. Auch treten die Aufsichtsräte durch die Vorgänge in der derzeitigen Krise mehr in den Blickpunkt der Öffentlich- keit und unterliegen somit verstärkt einer Kontrolle durch die Gesellschaft insgesamt. Ich habe mir im Vorfeld der Debatte einmal die Beset- zung der Aufsichts- bzw. Verwaltungsräte von Deutscher Telekom, Deutscher Bahn, Deutscher Post und KfW angesehen. Nach der Theorie der Grünen sollten wir zumindest den Vertretern des Bundes in diesen Gremien Nachhilfe zur Erfüllung der Aufgaben im Aufsichtsrat geben. Demnach sollten wir also die gesamte Führungs- spitze des Bundesfinanzministeriums auf die Schulbank schicken. Meine lieben Kollegen von den Grünen, das wird doch nicht Ihr Ernst sein. Zudem hat die Bundes- regierung in ihrer Antwort darauf hingewiesen, dass bei besonderem Bedarf bereits Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden. In ihrer Kleinen Anfrage aus dem Dezember führen die Grünen die Überwachungsskandale bei der Deut- schen Telekom AG und der Deutschen Bahn AG als Be- lege für das Versagen des Staates bei der Kontrolle sei- ner Beteiligungen an. Wie hätte hier der Staat Regeln entwickeln sollen, die diese Vorgänge verhindert hätten? Vor wenigen Monaten hätte wohl kaum jemand vermu- tet, dass solche Vorgänge möglich sind. Oder wie hätten bundespolitische Vorgaben die berühmte Montagsbu- chung der KfW an Lehman verhindern sollen? Wie hät- ten die Aufsichtsräte der Deutschen Bahn die Achsen der ICEs mit ihrem Röntgenblick selbstständig untersuchen sollen? Es gibt Vorgänge in Unternehmen, die durch noch so viele Regeln nicht zu verhindern oder zu beeinflussen sind. Bitte bedenken Sie: Der Staat ist kein guter Unterneh- mer, wofür wir in jüngster Vergangenheit eine Reihe trauriger Belege vorgefunden haben. Umso weniger sollte er versuchen, privatwirtschaftlich wirtschaftende Unternehmen etwa Leitlinien für ein Geschäftsmodell vorzugeben. In der Sondersituation durch die Finanz- krise sind in Teilen besondere Schritte eingeleitet worden. Diese staatliche Einflussnahme sollte jedoch nicht zur Regel werden, sondern eine Ausnahme bleiben und strikt auf die zur Zweckerreichung erforderliche Zeit be- schränkt werden. Wie andere börsennotierte Unternehmen auch unter- liegen Unternehmen mit Bundesbeteiligung dem An- wendungsbereich des Deutschen Corporate Governance Kodex. Darüber hinaus haben die auf Veranlassung des Bundes gewählten oder entsandten Mitglieder in Überwa- chungsorganen sowie die beteiligungsführenden Stellen des Bundes mit den Hinweisen für die Verwaltung von Bundesbeteiligungen eigene Grundsätze guter Unterneh- mensführung. Die Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten des Bundes aus den vorgenannten Sachverhalten sind ausreichend, um die Kontrollrechte in Unternehmen mit Bundesbeteiligun- gen auszuüben. Daher sei abschließend noch einmal fest- gestellt: Meine Fraktion lehnt den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen ab. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22257 (A) (C) (B) (D) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass der heutige Antrag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf einer Ant- wort der Bundesregierung beruht, die anlässlich einer Kleinen Anfrage bereits ausführlich behandelt worden ist. Schon der Ausgangspunkt dieser Anfrage und der heute gestellte Antrag gehen nach Auffassung der SPD- Fraktion von unzutreffenden Annahmen und falschen Tatsachen aus. Ich möchte das an zwei Beispielen deutlich machen: Erstens. Die Aussage, es gebe massive Probleme im Management von Unternehmen mit bedeutenden staatli- chen Beteiligungen, ist weit hergeholt und trifft nicht zu. Unternehmerisches Handeln ist nicht per se erfolgreich, sondern auch mit dem Risiko von Verlusten verbunden. Wer etwas anderes behauptet und dabei die Deutsche Post AG, die Deutsche Telekom oder die Deutsche Bahn AG – aktuell den Überwachungsskandal – als pauschale Gründe für das Versagen des Staates aufführt, handelt unverantwortlich und fahrlässig, denn gerade in den ak- tuellen Fällen erfolgt eine Aufarbeitung und Überprü- fung auch durch die Aufsichtsräte des Unternehmens. Zweitens. Der Staat übt wie jeder private Anteilseig- ner seine Funktionen aus. Er hat bei der Kontrolle seiner Beteiligungen nicht versagt, sondern er verhält sich nach Aktien- und Beteiligungsrecht sehr verantwortungsbe- wusst und korrekt. Auch hier hat der hehre Grundsatz Gültigkeit: „Wo Menschen tätig sind, passieren auch Fehler“ – fehlerfrei ist jedenfalls niemand. Die Unter- nehmen mit Bundesbeteiligungen werden wie Unterneh- men mit privater Anteilsstruktur geführt, und das ist auch gut so. Dies ist der richtige Ansatz der seit Jahr- zehnten bewährten privatwirtschaftlich orientierten Be- teiligungsführung. Der Bund kann hier auch nur den Einfluss geltend machen, der ihm aufgrund seiner Betei- ligung zusteht. Nicht mehr und auch nicht weniger. Der Bund verfolgt mit seinen Beteiligungen keine übergeordnete Konzernstrategie, denn der Staat ist nicht Unternehmer im Wettbewerb auf verschiedenen Märk- ten. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung soll er sich nach Auffassung meiner Fraktion grundsätzlich nicht an industriellen oder sonstigen erwerbswirtschaftlichen Un- ternehmen beteiligen, es sei denn, dieses dient, wie § 65 BHO sagt, zur Erfüllung einer wichtigen Aufgabe des Bundes. Die aktuellen Ereignisse, die in der internatio- nalen Finanzkrise begründet sind, bedürfen einer gründ- lichen Prüfung. Das wird durch die Bundesregierung auch gewährleistet. Darüber hinaus gilt für den Umgang mit den aus Bundesbeteilungen entstehenden Kontroll- rechten seit langem eine Grundlage, die auch über das Internet einsehbar ist. Hier gibt es viele „Hinweise für die Verwaltung von Bundesbeteiligungen“. Auch der populistische Hinweis, die vom Bund ge- wählten oder entsandten Mitglieder von Überwachungs- organen seien nicht ausreichend qualifiziert und müssten darüber hinaus regelmäßig geschult werden, geht völlig ins Leere. Wie bei jedem privaten Anteilseigner ist es im Interesse des Bundes, nur entsprechend qualifizierte Per- sonen in Aufsichtsräte zu berufen oder in Hauptver- sammlungen zu entsenden. Aus diesem Grund wurden die bereits seit 1959 bestehenden und auch im Internet einsehbaren „Berufungsrichtlinien für die Besetzung von Gremien“ fortentwickelt. Dort sind auch die Krite- rien – insbesondere fachliche Qualifikation; keine Inte- ressenskonflikte – und Entscheidungswege dargelegt. Bei Bundesbeteiligungen sehen diese Regeln auch vor, dass bei der Besetzung von Aufsichtsräten keine Personen berücksichtigt werden sollen, die bereits drei Aufsichtsratsmandate haben – und sind damit enger ge- fasst als im Deutschen Corporate Governance Kodex. Die Qualifikation der Aufsichtsräte etc. beruht auf Ausbildung, erfolgreichem beruflichen Werdegang und einer entsprechenden Persönlichkeit, nicht auf Schulun- gen. Man kann „Aufsichtsrat“ meines Erachtens nicht erlernen, man muss aber bereit sein, sich das „Hand- werkszeug“ anzueignen. Gleichwohl werden Schulun- gen mit unterschiedlichen Zielsetzungen angeboten. Der Bund ist kein Konzern: Angesichts der Band- breite der Unternehmen, die von Forschungseinrichtun- gen wie dem Deutschen Primatenzentrum über die Fi- nanzagentur bis hin zu Minderheitsbeteiligungen in der Telekommunikation reichen, sind einheitliche uniforme Strategien weder sinnvoll noch möglich. Die Unternehmensplanung und -organisation, wie etwa Investitions- und Standortpolitik, Datenschutz, technische Kontrolle bei Maschinen und Geräten, ist zu- dem grundsätzlich Aufgabe des Vorstands bzw. der Ge- schäftsleitung. Diese Maßnahmen werden – soweit rechtlich vorgesehen – mit den Überwachungsorganen und/oder der Anteilseignerversammlung abgestimmt. Besonderheiten aus der Umsetzung der Konjunkturpa- kete sind für jedes Unternehmen einzeln durch die zu- ständigen Unternehmensorgane zu beurteilen. Eine Änderung des Haushaltsrechts mit Blick auf die Kontrollfunktion des Parlaments ist nicht erforderlich. Das operative Geschäft organisationsprivatisierter oder teilprivatisierter Gesellschaften mit Bundesbeteiligung fällt nach geltender Verfassungslage in die alleinige Zu- ständigkeit der Unternehmen selbst. Diese Trennung ist mit Blick auf klare Zuständigkeiten und Verantwortlich- keiten wichtig und hat sich bewährt. Soweit Informatio- nen, die den Zuständigkeitsbereich der Regierung und zugleich die Rechte der Unternehmen betreffen, erbeten werden, können diese mit Einverständnis der Betroffe- nen in Verfahren, die die Vertraulichkeit sichern, auch dem Parlament oder den zuständigen Ausschüssen zur Kenntnis gegeben werden. Geheimhaltungspflichten ste- hen einer parlamentarischen Kontrolle nicht entgegen, sondern sind ihr notwendiger und fester Bestandteil. Meine Ausführungen haben deutlich gemacht, dass der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zielgerichtet ist und daher abgelehnt wer- den muss. Ulrike Flach (FDP): Der vorliegende Antrag greift ein Problem auf, das auch die FDP-Fraktion erkennt und ernst nimmt. Wie geht der Bund mit seinen Möglichkei- ten um, die ihm aus den strategischen Beteiligungen an Unternehmen erwachsen? 22258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) In der Analyse können wir durchaus zustimmen. Der Bund hat bisher offenbar keine Strategie, was er durch seine Beteiligungen erreichen will, wie er sie nutzt und entsprechend dem politischen Willen steuert. Bei Bahn, Post oder Telekom ist das klar zu erkennen. Und ich füge hinzu: Bei der IKB gab es ebenfalls keine Strategie. Beim Einstieg in die Bankenlandschaft fehlt mir auch nach wie vor eine klare Perspektive, welche Rolle sich der Bund hier vorstellt. Allerdings gibt es deutliche Akzentverschiebungen zwischen Ihrem und unserem Lösungsansatz. Ihr Antrag sagt zwar, es solle keine Rückkehr zu Wirtschaftsdirigis- mus und Eingriffen ins operative Management geben. Aber einige Spiegelstriche dahinter fordern Sie die An- wendung ökologischer und sozialer Kriterien in den bun- desbeteiligten Unternehmen. Sie meinen, mit ein wenig Schulung könnten Sie aus Bundesbeamten Manager ma- chen. Das wird scheitern. Unser Weg geht in eine andere Richtung: Wenn der Staat bzw. seine Repräsentanten in den Aufsichtsräten nicht strategisch ausgerichtet agieren, wenn sie nicht für ihre Rolle ausgebildet sind und ihre Kontrollrechte nicht kennen, dann ist nicht ein bisschen Schulung die Lö- sung, sondern der Rückzug des Staates aus solchen Un- ternehmen. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer. Das haben die Landesbanken gezeigt, das hat auch die KfW gezeigt, und ich fürchte, das wird sich auch bei der Commerzbank zeigen. Deshalb kann man zwar einzelne Punkte Ihres Antrags durchaus begrüßen, aber die Lö- sung liegt nicht in einer Begrenzung der Zahl der Auf- sichtsratsmandate, sondern in einer Begrenzung des Staatsanteils. Ich sage das gerade, weil der Trend momentan in eine andere Richtung geht. Es wird die große Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein, eine Ausstiegsstrategie für die staatlichen Unternehmensbeteiligungen zu entwi- ckeln. Wir sollten uns beispielsweise nicht in den 25 Prozent plus eine Aktie Anteil an der Commerzbank eine ökologische Nische bauen, sondern der Bund sollte dort baldmöglichst mit einer gewinnorientierten Strate- gie wieder aussteigen, sobald die Bank eigenständig ihr Geschäftsmodell weiterfahren kann. Größere Staatsanteile an Unternehmen verzerren den Markt. Wir können das jetzt schon erkennen in einer Flucht der Anleger hinter einen vermeintlichen staatli- chen Garantieschirm. Diesen Ausnahmezustand als Dau- erzustand zu akzeptieren hieße, diejenigen Unterneh- men, die nicht staatliche Beteiligungen oder Garantien bekommen, mittelfristig ebenfalls zu Bittstellern zu ma- chen. Das wäre der Einstieg in den Staatskapitalismus, den zumindest der überwiegende Teil des Hauses sicher- lich nicht will. Ich glaube, viele haben noch gar nicht erkannt, wel- che massiven Probleme wir uns mit den Staatsanteilen an Unternehmen ins Haus holen. Diesen Ausstieg zu or- ganisieren wird eine der historischen Aufgaben der deut- schen Liberalen sein, denn alle anderen Parteien sind zu staatsgläubig, um dies entschieden durchzusetzen. Ihr Antrag bringt zwar einige kleine Verbesserungen; der Herausforderung eines völlig neuen Verhältnisses von Staat und Wirtschaft wird er aber nicht gerecht. Des- halb werden wir uns zu Ihrem Antrag enthalten. Roland Claus (DIE LINKE): Selbstverständlich ist der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen von ak- tueller Bedeutung. Und weil er das ist, will ich mir auch die Frage verkneifen, warum diese strategische Kontroll- rechtenutzung nicht in den sieben Jahren bündnisgrüner Regierungsbeteiligung verwirklicht worden ist. Es ist ja gut und wichtig, dass der einen oder anderen einstigen Verfechterin, dem einen oder anderen einstigen Verfech- ter neoliberaler Wirtschaftsstrategien nun doch endlich ein Licht aufgeht. Und da soll man dann ja auch nicht kleinlich sein, sondern an einem Strang ziehen. Allerdings ist der Begriff „strategisch“ im Antrags- titel zu vollmundig gewählt. Strategie heißt Summe und Vielfalt aller Wege zu einem vorbestimmten Ziel. Was die Grünen-Fraktion hier anbietet, ist ein respektabler Reparaturbetrieb des bestehenden Gefüges. Ein Weg zu neuen Zielen der Bundesbeteiligung an übergroßen Un- ternehmen jedoch ist das nicht. Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Tage eine De- batte wie die heutige auf die Deutsche Bahn AG fokus- siert. Es gibt dort einen in seinem Gesamtausmaß immer noch nicht bekannten Mitarbeiterausspionierungsskan- dal, und sowohl Vorstandsvorsitzender Hartmut Meh- dorn als auch der zuständige Minister Wolfgang Tiefen- see versagen vollständig bei der Aufklärung, bei einem Konzern, bei dem der Staat, also die öffentliche Hand Alleingesellschafter ist. Der Skandal macht deutlich, wie viel da absolut im Argen liegt. Wenn man nun etwa versucht, sich mittels des Beteili- gungsberichts 2008 der Bundesregierung ein wenig ins Bild zu setzen über die Situation des Konzerns Deutsche Bahn AG, wächst die Undurchsichtigkeit von Seite zu Seite. Nehmen wir nur die Deutsche Bahn AG als Be- standteil des Konzerns Deutsche Bahn AG, zu dem au- ßerdem Unternehmen wie DB Mobility Logistics AG, Schenker AG, Railion Deutschland AG, DB Netz AG, DB Regio AG, DB Fernverkehr AG und DB Station& Service AG gehören. Beim Teilunternehmen Deutsche Bahn AG stellt die öffentliche Hand mit 2,15 Milliarden Euro 100 Prozent des Grundkapitals, aber im 25-köpfi- gen Aufsichtsrat ist sie mit ganzen 5 Personen – also ei- nem Fünftel – vertreten: einem Mitglied des Bundesta- ges und vier Staatssekretären; einem aus dem Bundes- ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, ei- nem aus dem Bundesministerium der Finanzen und zweien aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Was müssen die wissen, was können die beeinflussen, was dürfen die tun als so kleine Minder- heit? Im Aufsichtsrat des Konzernbestandteils DB Mobi- lity Logistics AG ist die öffentliche Hand gar nicht ver- treten, bei DB Netz mit 3 von 22 Mitgliedern usw. Mit Recht wird im Antrag die Forderung nach einer Beteiligungsstrategie aufgestellt. Bleiben wir beim Kon- zern Deutsche Bahn AG. Die Gewinn- und Verlustrech- nung des Konzerns weist im Beteiligungsbericht keine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22259 (A) (C) (B) (D) Angaben dahin gehend aus, wie sich die Umsatzerlöse auf die Inlands- und Auslandsgeschäfte verteilen. Es wird ein Jahresüberschuss 2007 in Höhe von 1,716 Milliarden Euro vermeldet, aber man weiß nicht, wie er sich zusammensetzt. Und das lässt die Bundesre- gierung zu. Sie lässt zu, dass es keine Klarheit darüber gibt, was dieses ganze Getöne der Konzernspitze vom „Globalen Logistiker“ wirklich gebracht hat und wie groß der Anteil der öffentlichen Gelder, die aus den Län- dern an die DB Regio AG für den Regionalverkehr ge- zahlt werden, am Jahresüberschuss ist. Die Frage ist also ganz einfach: Hat die Bundesregierung die Strategie, dass die DB AG vor allem der Daseinsfürsorge in Deutschland zu dienen hat, oder ist ihre Strategie noch immer der Börsengang, dem – wie man von Tag zu Tag deutlicher erkennen kann – alle Dienstleistung im Sinne der Daseinsfürsorge geopfert werden wird? Eine höchst undurchsichtige Beteiligungsstrategie verfolgt die Bundesregierung auch in Bezug auf Ost- deutschland. Der Beteiligungsbericht 2008 weist insge- samt für Deutschland und das Ausland 454 Beteiligun- gen des Bundes mit einem Nennkapital von mindestens 50 000 Euro und mindestens 25 Prozent aus. Von diesen 454 Beteiligungen sind ganze 18 – ich wiederhole: 18, also ganze 3,9 Prozent – in Ostdeutschland ohne Berlin angesiedelt. Die bedeutendsten unter diesen 18 sind mit dem Konzern DB AG verbunden. Übrig bleiben dann solche Posten wie etwa eine Beteiligung mit 51 129 Euro an der Abwicklung – ja, Abwicklung! – des DFA Fertigungs- und Anlagenbaus GmbH Chemnitz. Solche Zahlen sagen über den Stand der deutschen Einheit mehr aus als alle Reden des Ost-Beauftragten der Bundesregierung zum Osten zusammen. Man stelle sich nur für einen winzigen Moment vor, er hätte sich dafür eingesetzt, dass die High-Tech Gründerfonds GmbH & Co. KG mit 88,24-prozentiger Bundesbeteiligung, die 239,95 Millionen Euro ausmacht, statt in Bonn in Dres- den oder Jena angesiedelt wird. So aber begnügen wir uns freudig damit, dass der Bund über die TLG mit 188 000 Euro – gleich 94 Prozent – am Hotel de Saxe an der Frau- enkirche GmbH & Co. KG in Dresden beteiligt ist – und hoffen, dass es wenigstens da keine Skandale gibt. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Immer wieder geraten Unternehmen im staatlichen Be- sitz, mit staatlicher Mehrheit bei den Anteilen oder mit maßgeblicher staatlicher Beteiligung in die Schlagzeilen. Der Überwachungsskandal bei der Telekom und die Spit- zelaffäre bei der Deutschen Bahn, die immer weitere Kreise zieht, sind aktuelle und besonders negative Bei- spiele. Die Telekom hat auch durch Rationalisierungsmaß- nahmen bei den Servicecentern heftigen Protest auf sich gezogen, die Deutsche Bahn ist mit den Problemen beim ICE-Einsatz in der Kritik. Die Deutsche Post AG musste nach den Verlusten auf dem US-Paketmarkt ihre Ge- winnerwartungen drastisch reduzieren. Managementpro- bleme bei der KfW und den Landesbanken haben sowohl die Medien als auch Bund und Länder stark beschäftigt. An schlechten Beispielen mangelt es wahrhaftig nicht. Und für die meisten Skandale brauchte es noch nicht einmal die Finanzkrise. Da drängt sich doch die Frage auf, ob der Staat bei der Kontrolle seiner Beteili- gungen versagt. Nun haben wir die Finanz- und Wirt- schaftskrise, Skandale und Versagen können wir noch weniger gebrauchen als sonst. Doch beim Bankenret- tungspaket ist genau das zu befürchten, da der Bund auf verbindliche Vorgaben für die Geschäftspolitik der Ban- ken verzichtet und eine aktive Rolle als Anteilseigner ausschließt. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zum Beteiligungsmanagement des Bundes zeigt: Der Bund verfolgt beim Umgang mit seinen Betei- ligungen keine Strategie. Die Schulung von Aufsichts- ratsmitgliedern und Vertretern auf Hauptversammlungen findet nicht statt. Zwar sprechen die „Hinweise für die Verwaltung von Bundesbeteiligungen“ des Finanzminis- teriums davon, dass der Einfluss des Bundes bei Beteili- gungen an Unternehmen entsprechend sichergestellt werden muss. Es gibt Aufgabenbeschreibungen für die Vertreterinnen und Vertreter des Bundes in den Unter- nehmen. Die Praxis lässt aber deutliche Zweifel am ver- antwortlichen Umgang mit diesen Kontrollrechten zu. Vertreter des Bundes in Aufsichtsräten oder Anteilseig- nerversammlungen von Unternehmen werden nicht be- sonders auf ihre Aufgabe vorbereitet. Sie sollen sich die notwendigen Kenntnisse selbst aneignen, heißt es in der Antwort der Bundesregierung. Die Unternehmenspla- nung und -organisation sei grundsätzlich Aufgabe des Vorstandes bzw. der Geschäftsleitung. Auch wir wollen nicht, dass der Staat dirigistisch in die Unternehmensführung eingreift. Es geht lediglich um Kontrollrechte, wie sie jeder private Investor auch ausübt. Doch die massiven Probleme im Management von Unter- nehmen mit bedeutenden staatlichen Beteiligungen oder Mehrheitsbeteiligungen haben die Bundesregierung nicht zu einer Änderung dieser Haltung bewegt. Sie hat aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt und wird diese auch bei den weiteren Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzmarktkrise wiederholen. Darum fordern wir die Bundesregierung noch einmal nachdrücklich auf, ihrer Verantwortung bei den Bundesbeteiligungen nachzu- kommen und ihre Kontrollrechte auszuüben. Sonst sind die nächsten Skandale durch Missmanagement vorpro- grammiert. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (Tages- ordnungspunkt 16) Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Seit Jahrzehnten demonstriert der Gesetzgeber an kaum einem anderen Rechtsgebiet so deutlich fehlendes rechtsstaatliches Inte- resse wie bei dem Untersuchungshaftrecht. Eine Hand- voll Normen, gewürzt durch Verwaltungsvorschriften der Länder aus dem Jahre 1953 waren schon alles, was der Rechtsstaat aufbot, um der Unschuldsvermutung und den Freiheitsrechten der Beschuldigten Rechnung zu tragen. 22260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) Umso höher waren die Erwartungen an den nun einge- brachten Entwurf. Es hätte sich die Gelegenheit geboten, zahlreiche sinnvolle Forderungen aus Wissenschaft und Praxis der letzten Jahrzehnte zu berücksichtigten. Der Entwurf berücksichtigt jedoch nicht die geforderte Ein- schränkung und Konkretisierung der Haftgründe, die Forderung nach der Abschaffung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, die Notwendigkeit, den Beschleuni- gungsgrundsatz zu präzisieren, und auch nicht die ange- mahnte Festschreibung von zwingenden Höchstgrenzen der Haftdauer. Trotz einer längst überfälligen großen Reform des Untersuchungshaftrechts hinsichtlich dieser und anderer Forderungen hat sich Frau Zypries nicht einmal in der Lage gesehen, ein Reförmchen auf die Beine zu stellen. Das liegt nicht nur am unzureichenden politischen Gestal- tungswillen der Ministerin, sondern auch daran, dass sie in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, ein Juwel sozial- demokratischer Rechtspolitik aus der Zuständigkeit des Bundes den Ländern zu überantworten. Im Rahmen der Föderalismusreform hat sie das Strafvollzugsgesetz aus dem Jahre 1976 gegen den heftigen Widerstand der Fachwelt aus rein opportunistischen Gründen in die Kompetenz der Länder gegeben. Hierbei hat man im Untersuchungshaftrecht den vollzugsrechtlichen Teil, der bisher immer Teil des Gerichtsverfahrens gewesen war, auch den Ländern übertragen. Damit hat man sinnwidrig getrennt, was früher einheit- lich geregelt war und heute nicht mehr einheitlich geregelt werden kann. Bisher lag gemäß § 119 StPO der gesamte Vollzug einheitlich in der Hand desselben Richters. Das betraf nicht nur den Zweck der Untersuchungshaft, sondern auch den der Ordnung in der Vollzugsanstalt. Da nun der Bund nicht mehr einheitlich zuständig ist, muss die bishe- rige Rechtsgrundlage in § 119 StPO geändert werden. Die neuen Regelungen erfassen nur noch diejenigen An- ordnungen und Beschränkungen der Rechte, die dem Zweck der Untersuchungshaft zur Sicherung der Durch- führung des Strafverfahrens dienen. Die Länder dürfen nun selbst darüber entscheiden, wie die Regelungen aussehen sollen, die den Vollzug als solchen betreffen, also alles, was man für die Wahrung von Sicherheit und Ordnung in der Vollzugsanstalt regeln muss. Die Trennung hat sich in der Praxis bisher als völlig untauglich erwiesen. Das zeigen zum Beispiel die Erfahrungen mit dem niedersächsischen Justizvollzugsgesetz. Jetzt werden zwei verschiedene Richter auf der Grundlage von zwei verschiedenen Ge- setzen Entscheidungen treffen müssen, die durchaus denselben Gegenstand betreffen können. Denn für die Durchführung des Verfahrens ist auch die Sicherheit der Haftanstalt maßgeblich, die wiederum durch Regelungen zur Durchführung des Verfahrens betroffen sein kann. Für diesen groben Unfug findet der Gesetzentwurf eine feine Sprache. Er nennt es eine „gewisse Über- schneidung der Kompetenzen“. Es bleibt aber ein grober Unfug. Es ist ein grober Unfug auf dem Rücken der Beschuldigten, der Richter und der Strafvollzugsanstalten. Es bleibt zu hoffen, dass sich in Zukunft verstärkt euro- päische Organisationen dieses Problems annehmen. Denn nahezu alles, was am vorgelegten Entwurf begrüßenswert ist, stammt aus deren Initiativen. So enthält der Entwurf tatsächlich die Umsetzungen von Forderungen nach erweiterten Informationsrechten für die Beschuldigten, wie sie der Europäische Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behand- lung oder Strafe erhob. Das führt mich zum Fazit: Die Justizministerin zeigt erneut, dass sie ihr Amt lediglich mit dem Bewusstsein einer Politikbeamtin verwaltet. Große rechtspolitische Gestaltungsakte sind von ihr nicht zu erwarten. Für das Untersuchungshaftrecht heißt das konkret: Wenn auch die Rechte der Beschuldigten bei Festnahmen und in der Untersuchungshaft weiterhin unzureichend ausgestaltet sind, sollen die Beschuldigten nun wenigstens in umfas- sender Weise über ihre unzureichenden Rechte informiert werden. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen – Umfassende Strate- gie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln (Zu- satztagesordnungspunkt 5) Holger Haibach (CDU/CSU): In einem trifft der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Kern der Sache: Es ist höchste Zeit, dass die interna- tionale Gemeinschaft die Situation in Pakistan vertieft in den Blick nimmt und hilft, Lösungsansätze zu entwi- ckeln. Das ergibt sich aus der Bedeutung Pakistans an sich, aber auch aufgrund seiner geografischen Lage. Pakistan ist mit mehr als 150 Millionen Menschen ein sehr bevölkerungsreicher Staat. Er ist Atommacht, hat sich aber nicht oder nur teilweise den entsprechenden in- ternationalen Kontrollregimen unterworfen. Pakistan be- findet sich durch vielfältige Interessenkollisionen seit seiner Gründung in einer ständigen Auseinandersetzung mit Indien, die bisweilen gewaltsame Züge annimmt. Und nicht zuletzt ist Pakistan Nachbar Afghanistans und damit auch deshalb für Deutschland und die internatio- nale Staatengemeinschaft ein wichtiger Partner. Es ist als Transitland für Drogen, Rückzugsort für Terroristen, aber eben auch als wichtiger regionaler Akteur und mili- tärischer Verbündeter Teil des „Problems“ und Teil der Lösung des Problems. Da sich die Lage aber als dermaßen komplex darstellt, greift der vorliegende Antrag meines Erachtens zu kurz. Im Wesentlichen auf die Militäroperationen der USA ab- zustellen, die man kritisieren kann, wird nicht die Lö- sung des Problems bringen. Interessanterweise enthält dann der Forderungsteil viele richtige Ansätze, auch wenn sie im einen oder anderen Fall zumindest sprach- lich extrem ambitioniert und überdimensioniert daher- kommen. Es hängt viel von der Frage ab, wie man die gegen- wärtige Lage in Pakistan einschätzt. Es ist jedenfalls richtig – das wird im Antrag auch betont –, dass das Mi- litärregime von General Pervez Musharraf durch eine in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22261 (A) (C) (B) (D) Wahlen legitimierte Regierung ersetzt wurde. Ob man allerdings der leicht romantisierenden Vorstellung an- hängen sollte, damit sei sozusagen der Siegeszug der Demokratie in Pakistan eingeläutet, wage ich dann doch zu bezweifeln. Zu sehr werden auch demokratische Wahlen in diesem wie in vielen anderen Ländern entlang der Linien von ethnischer Verbundenheit und nicht im Wettbewerb von Ideen entschieden, zu instabil ist die Lage, zu wenig ausgebildet ist dabei noch das rechts- staatliche System, das unbedingte Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist. Allerdings ist es richtig, dass den Vereinigten Staaten als langjährigem wichtigen Partner bei der Stabilisierung und weiteren Entwicklung Pakistans eine entscheidende Rolle zukommt. Ich will nicht in die aufgekommene Mode verfallen, die neue amerikanische Administration als omnipräsenten und omnipotenten Heilsbringer zu se- hen, aber es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass es eine grö- ßere Bereitschaft gibt als bisher, die eigene Politik auch in diesem Fall mit der der anderen Verbündeten besser zu koordinieren. Angesichts der Tatsache, dass die USA in Pakistan über lange Zeit durch verschiedenste Maß- nahmen ihre Einflusssphäre ausgebaut haben, ist dies dringend geboten. Wenn auch die Rolle der USA nicht unterschätzt wer- den darf, so gibt es keinen Grund anzunehmen, Deutsch- land und die EU hätten hier keine Aufgabe oder keine Handlungsmöglichkeiten und auch -notwendigkeiten. Die Tatsache alleine, dass in Afghanistan mehrere Tau- send Soldaten ihren Dienst versehen und dass es ohne ein stabiles Pakistan ein stabiles Afghanistan nicht wird geben können, ist schon Grund genug, sich in und für Pakistan zu engagieren. Der Vorwurf, Deutschland und die EU seien hier ohne eigenen Ansatz, ist allerdings falsch. Gerade die Bundesregierung hat durch entspre- chende Initiativen des Außenministers gezeigt, dass sie bereit und in der Lage ist, einen eigenen substanziellen Beitrag zu leisten. In einem weiteren Punkt geht der Antrag ebenfalls fehl. Zwar ist es sicherlich richtig, Pakistan in seinem re- gionalen Umfeld zu sehen, aber es ist meines Erachtens nicht richtig, Pakistan hauptsächlich in seiner Funktion als Nachbar Afghanistans zu betrachten. Deshalb ist die zum Teil etwas mühsam hergestellte Verbindung zwi- schen Militäraktionen in Afghanistan und Pakistan pro- blematisch. Dass sich militärische Aktionen nach Ansicht des Deutschen Bundestages auf das absolute Minimum beschränken und dabei die sogenannten Kollateralschä- den möglichst niedrig gehalten werden müssen, versteht sich zumindest aus der Sicht meiner Fraktion von selbst. Dass die Forderung, Deutschland möge sich nicht weiter an OEF beteiligen, inzwischen faktisch erfüllt ist, dürfte sich inzwischen auch herumgesprochen haben. Einigkeit besteht aus meiner Sicht darin, dass Deutsch- land mit seiner Expertise wichtige Beiträge leisten kann zum Aufbau einer funktionierenden Justiz und einer wa- chen Zivilgesellschaft, zu demokratischen Institutionen und damit zu einem Pakistan, das als stabiler und wichti- ger regionaler Akteur zur Befriedung der gesamten Re- gion beiträgt. Bei aller Richtigkeit dieser Aussagen und bei aller Notwendigkeit, diese Aussagen auch durch entspre- chende Maßnahmen in der Entwicklungszusammenar- beit zu flankieren, ist es notwendig – da enthält der An- trag einen wichtigen Punkt –, die Krisen und Krisenherde an den Grenzen Pakistans ebenfalls in Betracht zu zie- hen. Dies betrifft die von der Zentralregierung in Islama- bad völlig unkontrollierten Tribal Areas an der Grenze zu Afghanistan ebenso wie die Kaschmir-Region, die be- reits seit Jahrzehnten Streitpunkt zwischen Indien und Pakistan sind. Sollte durch den Antrag allerdings der Ein- druck erweckt werden, Deutschland könne durch sein Engagement diese zum Teil seit mehr als 50 Jahren wäh- renden Probleme lösen, wäre dies eine fatale Überschät- zung unserer Möglichkeiten. Viele Schwierigkeiten in internationalen Konflikten der vergangenen Jahre sind auch dadurch entstanden, dass mancherorts – manchmal auch in Deutschland – der Eindruck erweckt wurde, dass die Lösung dieser Kon- flikte eigentlich recht einfach sei, wenn man nur mit ge- nügend Mitteln und einem in der Theorie gut funktionie- renden Plan vorgehe. Auch hier beginnt gute Politik mit der richtigen Analyse der Lage und der nüchternen Be- trachtung der eigenen Möglichkeiten. Wer diese einfache Weisheit nicht beherzigt, wird sich verheben und der Glaubwürdigkeit Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft einen Bärendienst erweisen. Deshalb ist es richtig, dass im vorliegenden Antrag von uns Engagement, und zwar intensives Engagement, in und für Pakistan eingefordert wird. Aber wir sollten dieses Engagement mit Blick auf unseren tatsächlichen Einfluss und unsere tatsächlichen Möglichkeiten erbrin- gen. Dann kann unser Beitrag für Pakistan und seine Menschen ein substanzieller sein. Johannes Pflug (SPD): Pakistan hat seit dem 9. September 2008 unter dem neuen Präsidenten Asif Zardari wieder eine Zivilregierung. Trotzdem bleibt die Situation an der 1 600 Kilometer langen Grenze zu Af- ghanistan – Durant-Linie – weitgehend unkontrollierbar. Insbesondere die FATAS, Federally Administrative Tri- bal Areas, im Nordwesten werden zunehmend zum Rückzugs-, Ausbildungs- und Versorgungsraum der Ta- liban. Die Stabilität der Atommacht Pakistan spielt des- halb eine zentrale Rolle für den Erfolg der ISAF-Mission in Afghanistan. Präsident Zardari erklärte bei seiner Amtseinführung, der Bekämpfung des Terrorismus oberste Priorität einzu- räumen; aufgrund des Terroranschlags auf das Mariott- Hotel in Islamabad würden diese Anstrengungen ver- stärkt. Pakistan hat bereits rund 120 000 Soldaten in der Grenzregion, die ein Eindringen von Taliban und Al- Qaida-Kämpfern nach Afghanistan verhindern sollen. Im Rahmen der Triparite-Kommission haben Pakistan, Afghanistan und die ISAF-Truppen ihre militärische Zu- sammenarbeit verstärkt und wollen sechs gemeinsame Grenzpunkte errichten. Im März 2008 eröffneten sie das erste Border Coordination Centre, BCC. Die Talibanisierung ist in den vergangenen Monaten trotzdem weiter vorangeschritten. In den Stammesgebie- 22262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) ten haben die Taliban und mit ihnen paktierende Banden viele Familienoberhäupter – Maliks – umgebracht. Bei vielen Beobachtern gilt es als wahrscheinlich, dass auch Teile des pakistanischen Geheimdienstes ISI und des Militärs afghanische Taliban unterstützen. Sie hoffen, dass die Taliban nach dem Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan wieder die Macht übernehmen und sich als Verbündete an die Seite Pakistans stellen in der Frage des Kaschmir-Konfliktes und im Falle von Auseinandersetzungen mit Indien. Bei den andauernden Kämpfen wurden bereits mehr als 2 000 Menschen getötet, mehr als 200 000 sind aus den Stammesgebieten im Grenzland geflohen. Dabei su- chen aber andererseits viele afghanische Flüchtlinge Schutz in Flüchtlingslagern auf pakistanischer Seite. An- fang 2007 lebten bereits 2,2 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan, die bis Ende 2009 auf Drängen Pakistans zurückgeführt werden sollten. Die Sicherheits- lage in Afghanistan hat dies aber unmöglich gemacht. Der Plan wurde im August 2008 wieder verworfen, und das Problem verschlimmert sich rasend schnell. In Kara- chi leben mittlerweile 700 000 Flüchtlinge aus den Stammesgebieten, die dort auf andere große Bevölke- rungsgruppen treffen. Dies birgt permanentes zusätzli- ches Konfliktpotenzial. Die internationale Gemeinschaft muss von Pakistan auch weiterhin harte Anstrengungen im Kampf gegen den Terrorismus verlangen, aber Pakistan auch stabili- sieren helfen. Nur ein stabiles Pakistan kann ein guter Nachbar für Afghanistan sein. Dafür müssen auch die re- gionalen Player Indien und China einbezogen werden. Dazu zählt aber auch ein maßvolles und völkerrechts- konformes Vorgehen der USA im Grenzgebiet zu Afgha- nistan. Die Stimmung der Pakistani gegenüber den Ame- rikanern ist bestenfalls reserviert, häufig auch feindselig. Das ist nicht nur Reaktion auf die amerikanischen An- griffe auf pakistanisches Territorium. Man fühlt sich ver- raten durch die amerikanische Annäherung an Indien. Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag al- lerdings zu viel und das zu schnell. Wir würden uns übernehmen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. Elke Hoff (FDP): Wir behandeln heute einen Antrag, der in einigen Teilen seines Forderungskatalogs überholt ist, da eine deutsche Beteiligung an der Operation Endu- ring Freedom in Afghanistan nicht mehr mandatiert ist. Darüber hinaus vermischt der Antrag leider Dinge, die nicht zielführend sind. Dies hat uns auch bereits in den Ausschüssen bewogen, ihn abzulehnen, obwohl er viele Punkte enthält, die wir unterstützen. Eine Pakistan-Strategie der Bundesregierung ist über- fällig und immer noch nicht erkennbar. Es genügt nicht, immer wieder Pakistan als einen Schlüssel zur Lösung der Probleme in der Region zu benennen, wenn dann nur sehr wenige gemeinsame Anstrengungen tatsächlich un- ternommen werden. Nach meinen Beobachtungen sind die Impulse, die nach der Reise des Bundesaußenminis- ters im Herbst letzten Jahres gesetzt werden sollten, weitgehend verpufft. Von der pakistanischen Freund- schaftsgruppe hört man seit geraumer Zeit nichts mehr. Von einer Stabilisierung Pakistans kann insbesondere in den teilautonomen Stammesgebieten im Nordwesten des Landes leider keine Rede sein. Der zunehmende Verlust der Kontrolle im Swat-Tal, die Angriffe auf Nachschub- lager und Nachschubwege der ISAF am Khyber-Pass und die große Zahl ziviler Verluste bei Gefechten zwi- schen Extremisten und den pakistanischen Sicherheits- kräften machen wenig Mut. Pakistan ist sich allerdings zunehmend bewusst, dass es einen eigenen Beitrag zur Bekämpfung des internatio- nalen Terrorismus leisten muss. Es besteht auch die Be- reitschaft Pakistans, dabei militärische Mittel einzuset- zen. Damit dies aber in der Praxis auch Erfolg haben kann, muss die pakistanische Bevölkerung diesen Kampf gegen Extremisten und Terroristen als ein ureige- nes Anliegen begreifen. In der Vergangenheit war dies leider nicht der Fall. Die Wahrnehmung innerhalb der pakistanischen Bevölkerung, dass das Vorgehen der pa- kistanischen Regierung und der Sicherheitskräfte ledig- lich stellvertretend und im Auftrag der US-Amerikaner erfolge, ist fatal. Diese Wahrnehmung kann nur überwunden werden, wenn unabgestimmte militärische Operationen der USA in Pakistan unterbleiben. Die nationale Souveränität Pa- kistans ist zu achten. Auf der anderen Seite wäre es aber auch hilfreich, wenn die pakistanische Regierung gegen- über der eigenen Bevölkerung offener kommunizieren würde, dass sie mitunter auf die militärische Koopera- tion mit den USA und anderen Partnern im Kampf gegen Extremisten und Terroristen im eigenen Land angewie- sen ist. Daher sollte die Gunst der Stunde genutzt werden, die der Wechsel der Administration in Washington mit sich bringt. Ich finde es ermutigend, dass US-Vizepräsident Joe Biden am Wochenende auf der Münchner Sicher- heitskonferenz angekündigt hat, dass die Regierung von Barack Obama die Politik für Afghanistan und Pakistan überprüfen wird und über Anregungen der Partner dank- bar ist. Auch der Umstand, dass die neue US-amerikani- sche Regierung mit Richard Holbrooke einen Sonderge- sandten für Afghanistan und Pakistan benannt hat, ist ein gutes Signal. So banal die Wiederholung dieser simplen Erkenntnis klingt: Ohne Pakistan wird es keine Lösung in Afghanistan geben und umgekehrt. Deshalb ist es auch alternativlos, eine internationale Strategie zur Stabilisierung und Entwicklung der pakis- tanischen und zugleich der afghanischen Wirtschaft kurzfristig auf den Weg zu bringen. Dies bedeutet neben der Entwicklung von lokalen und regionalen Märkten auch die Öffnung westlicher Märkte für Produkte aus beiden Ländern. Die Rekrutierungswelle von immer neuen Extremisten ist nur durch eine positive ökonomi- sche Entwicklung, durch Zukunftsperspektiven für junge Menschen zu stoppen. Ein weiterer gravierender Konfliktherd Pakistans ist die mangelhafte Versorgung mit Energie und Elektrizi- tät. Die Gasversorgung über eine neue Pipeline aus dem Iran wird von der internationalen Gemeinschaft nicht ge- rade unterstützt, sodass die pakistanische Regierung kaum eine Alternative zu chinesischer Atomenergie hat, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22263 (A) (C) (B) (D) um seine 170 Millionen Bürger mit Energie zu versor- gen. Gerade in diesem Bereich könnte Deutschland ei- nen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans leis- ten. Hilfe bei der konzeptionellen Entwicklung und beim technologischen Ausbau erneuerbarer Energien wären auf pakistanischer Seite hochwillkommen. Der Bau und die Wartung dieser Anlagen vor Ort würden mittelfristig neue Arbeitsplätze generieren und knappe Ressourcen schonen. Ein weiterer Bereich, der eine Stabilisierung des Lan- des gefährdet, ist das hohe Ausmaß an Analphabetismus sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Eine breit angelegte, gut strukturierte Alphabetisierungskampagne, verbunden mit der Unterstützung zum Aufbau funktio- nierender staatlicher Schulen und entsprechender Curri- cula unter Berücksichtigung religiöser Befindlichkeiten, könnte ein äußerst sinnvoller Beitrag der internationalen Gemeinschaft sein. Diese Anstrengungen müssten je- doch weit über einen Projektcharakter hinausgehen und langfristig angelegt sein. Pakistan hofft gerade nach der überraschend fair und demokratisch verlaufenen Parlamentswahl vor einem Jahr auf deutsche Unterstützung bei der weiteren Stabili- sierung und Demokratisierung des Landes. Deutschland ist als ehrlicher Makler hochwillkommen. Uns sollte Mut machen, dass Pakistan trotz des ver- breiteten Analphabetismus auch über ein großes Reser- voir an gut ausgebildeten jungen Menschen verfügt, die Teil einer zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Elite sein können. Mit diesen Hoffnungsträgern muss ein intensiver Dialog aufgenommen werden. Ohne Frage ist Pakistan auch ein Jahr nach den Wah- len weiterhin von stabilen demokratischen Verhältnis- sen, wie wir sie uns vorstellen, entfernt. Daher brauchen wir Geduld und sollten unsere Erwartungen an die Ge- schwindigkeit von Modernisierungsprozessen auf ein re- alistisches Maß reduzieren. Nur wenn wir die gesell- schaftlichen und kulturellen Besonderheiten Pakistans verstehen, wird ein Dialog mit Pakistan Erfolg haben können. Bei aller angebrachten Skepsis teile ich die düstere Einschätzung der Lage in Pakistan der Grünen nicht und halte die Zustandsbeschreibung auch für keine sinnvolle Grundlage, die Rolle Deutschlands im Stabilisierungs- prozess Pakistans zu definieren. Pakistan steht nicht an der Grenze zum Staatszerfall, und die Nuklearwaffen drohen derzeit auch nicht in die Hände von Extremisten zu fallen. Auch wenn sich die Rolle des Militärs in Pa- kistan mit unseren Vorstellungen von Streitkräften inner- halb einer Demokratie nicht vereinbaren lässt, so muss man aber konstatieren, dass es auch in den Zeiten größ- ter Instabilität die Kontrolle über die pakistanischen Nu- klearwaffen sichergestellt hat. Die Wahlen haben gezeigt, dass die Masse der pakis- tanischen Bevölkerung die Islamisten nicht will und po- litisch nicht unterstützt. Sie haben nur einen Sitz im Par- lament errungen und haben darüber hinaus in den paschtunischen Stammesgebieten an der Grenze zu Af- ghanistan und in der Nordwestprovinz ihre Regierungs- beteiligung verloren. Die Bewegung der Rechtsanwälte hat in den letzten Monaten gezeigt, dass es auch außer- halb der Parteien ein großes zivilgesellschaftliches Po- tenzial in Pakistan gibt. Wenn Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans leisten will, muss es auch möglich sein, die pa- kistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere die Grenz- polizei sowohl bei deren Ausbildung als auch bei der Ausstattung zu unterstützen. Pakistan muss vor allem auch durch die internationale Unterstützung in die Lage versetzt werden, gegen die Proliferation von sensiblem Wissen und Technologien nichtstaatlicher Akteure bes- ser gerüstet zu sein. Hier war Pakistan in der Vergangen- heit zu anfällig, wie der Erfolg des Khan-Netzwerkes ge- zeigt hat. Ich möchte die Bundesregierung ermuntern, die Anstrengungen beim Ausbau der bilateralen Bezie- hungen deutlich zu verstärken und die in Pakistan bisher gemachten Erfahrungen dafür zu nutzen. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen hat in den vergangenen Wochen eine neue Aktualität erhalten. Die Entscheidung des neuen US-Präsidenten Obama, das militärische Engage- ment in Afghanistan zu verstärken, ist der Mühlstein, der die gesamte außenpolitische Konzeption Obamas in den Abgrund reißen kann. Die Beendigung des Krieges in Afghanistan ist ohne eine intensivere Einbeziehung Pa- kistans nicht möglich. Das heißt auch, dass die USA so- fort und bedingungslos ihre völkerrechtswidrigen An- griffe auf pakistanisches Territorium einstellen müssen. Wenn diese Forderung Zustimmung im Deutschen Bundestag fände, wäre es auch ein Argument, dass Deutschland seine Waffenlieferungen an Pakistan ein- stellen muss. Es ist schlichtweg inakzeptabel, dass Deutschland an Pakistan unter anderem U-Boote liefert. Diese U-Boote könnten technisch auch auf den Ab- schuss atomar bestückter Raketen umgerüstet werden. Wir alle wissen: Pakistan und Indien sind Atommächte, deren gegenseitige Beziehungen höchst angespannt sind. Wer Waffen an Pakistan liefert, verschärft den Konflikt. Verschärfend für diesen Konflikt ist auch der Atom- deal zwischen den USA und Indien. Zu Recht werden im vorliegenden Antrag diese Probleme angesprochen; das begrüßt die Linke. Er verweigert sich aber der notwendi- gen Konsequenz, den Krieg in Afghanistan sofort zu be- enden. Deswegen können wir nicht zustimmen. Wir haben es mit einem Übergreifen des afghanischen Widerstandes auf die paschtunischen und belutschischen Stammesgebiete Pakistans zu tun. Diese Stammesge- biete kennen keine Grenzen zwischen Staaten und keine wirkliche Kontrolle durch den pakistanischen Staat. Dies ist so seit der kolonialen Staatsbildung. Alle staatlichen Versuche seit dem Ende der Militärdiktatur Musharrafs, die westlichen Stammesgebiete zu befrieden, scheiterten an der zunehmenden Intensität des Krieges in Afghanis- tan. Deshalb ist eine Lösung des pakistanischen Pro- blems immer mit der Beendigung des Krieges in Afgha- nistan verbunden. 22264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 (A) (C) (B) (D) Krieg als Mittel zur Befriedung Afghanistans ist ge- scheitert. Die jüngste Umfrage der ARD zu Afghanistan zeigt deutlich, dass immer größere Teile der afghani- schen Bevölkerung die westliche Präsenz als Besatzung empfinden. Aus der Umfrage geht auch hervor, dass im- mer mehr Menschen in Afghanistan es als legitim emp- finden, sich gegen die ausländische Besatzung zur Wehr zu setzen. Mittlerweile sind aber die afghanischen Erschütterun- gen nicht nur in Pakistan, sondern auch in Indien zu spü- ren und tragen zu einer Verschärfung der Lage zwischen den beiden Atommächten bei. Die Frage ist: Was ist zu tun? Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir hier behandeln, zeigt ein Maß an selbstkritischer Refle- xion. Wir können vielen der Detailforderungen zustim- men. Ebenso wie wir fordern die Grünen einen zivilge- sellschaftlichen Ansatz in Pakistan, mit dem Demokratie und die Achtung der Menschenrechte gestärkt, aber auch wirtschaftliche und soziale Reformen eingeleitet werden sollen. Pakistan gehört zu den Ländern mit den krasses- ten sozialen Unterschieden. Neben einer reichen Elite lebt eine Mehrheit der Bevölkerung unter unbeschreibli- chen sozialen Verhältnissen. Dies ist Nahrung für den militanten Islamismus. Große Teile der Bevölkerung sind Analphabeten. Ebenso wichtig ist, das Wettrüsten zwischen den Staaten in der Region zu beenden. Die Bundesrepublik kann dazu einen Beitrag leisten, indem sie nicht weiter deutsche Rüstungsgüter in die Region liefert. Wir benötigen einen ernsthaften Neuanfang in Ko- operation mit den Anrainerstaaten und unter Verantwor- tung der Vereinten Nationen. Die NATO sollte umge- hend ihre Bereitschaft deutlich machen, in Verbindung mit einem Waffenstillstand in Afghanistan ihre Truppen aus dem Land abzuziehen. Die USA ihrerseits dürfen keine weiteren Angriffe auf pakistanisches Territorium ausführen, und die pakistanische Regierung sollte ihre militärischen Operationen in den Stammesgebieten be- enden. In Afghanistan und in Pakistan bilden sich immer mehr „Friedens-Jirgas“, das heißt, der Weg einer natio- nalen Versöhnung ist nicht mehr ausgeschlossen. Die Arbeit der „Friedens-Jirgas“ sollte durch die Vereinten Nationen und auch von Deutschland intensiv gefördert werden. Nationale Versöhnung, Rechtssicherheit und der Aufbau ziviler Strukturen sind der Weg, um Stabilität in Afghanistan und in Pakistan zu erreichen. Dieser Weg ist versperrt, solange in Afghanistan und Pakistan der Ein- druck besteht, militärisch besetzt und politisch fremdbe- stimmt zu sein. Selbstbestimmung ist die entscheidende Voraussetzung, Gewalt und Krieg zu beenden. Die Linke wirbt seit Monaten für die Idee einer regio- nalen Sicherheitskonferenz. Wir freuen uns darüber, dass sich die Bundesregierung offensichtlich ebenfalls von der Sinnhaftigkeit eines solchen Vorschlages überzeugt hat. Die Staaten der Schanghai-Gruppe haben dieses Thema zum Mittelpunkt ihrer nächsten Konferenz ge- macht. Insbesondere gilt es, Pakistan, seine Nachbarn China, Indien, Iran und Afghanistan sowie Russland und die zentralasiatischen Nachbarn für einen Prozess der re- gionalen Stabilisierung zu gewinnen. Auch die USA sind sich darüber im Klaren, dass ein Prozess der regio- nalen Stabilisierung nicht ohne Einbeziehung des Iran auf den Weg gebracht werden kann. Solange aber die Drohungen gegen den Iran auch vonseiten der USA, nicht vom Tisch sind, ist dieser Weg nur sehr schwer zu beschreiten. Es bleibt unverständlich, warum die vielen Bereitschaftserklärungen des Iran, zur Lösung des Af- ghanistan-Konfliktes vermittelnd zur Verfügung zu ste- hen, nie ernsthaft geprüft und aufgegriffen worden sind. Das kann und muss sich ändern. Neben Themen der Demokratisierung und der Ver- besserung der sozialen Lage der Menschen in der Region müssen auch die Grenzstreitigkeiten zwischen Pakistan und Afghanistan sowie zwischen Pakistan und Indien behandelt werden. Ohne Beteiligung des Volkes der Paschtunen wird es nicht gehen. Eine solche Konferenz würde einem Waffenstillstand Dauerhaftigkeit verleihen können und wäre der Weg zu Frieden und Stabilität in der Region. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Den Antrag, den wir heute hier diskutieren, haben wir eingebracht, als in Washington noch die Bush-Admi- nistration regierte. Mittlerweile haben wir mit Barack Obama einen neuen US-Präsidenten, der sich dem Thema Afghanistan und Pakistan von Anbeginn mit ho- her Aufmerksamkeit zuwendet. Er hat mit Richard Holbrooke einen Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan eingesetzt, der gerade beide Staaten be- sucht. Er hat damit von Anfang an klar gemacht, dass die Stabilisierung der Region hohe Priorität hat. Auf seiner Reise wurde Holbrooke unmittelbar mit der Instabilität und dem Eskalationspotenzial in der Re- gion konfrontiert: Bei einem extremistischen Anschlag in Peschawar kam ein Politiker ums Leben, mehrere Menschen wurden verletzt. Zeitgleich machten die bluti- gen Angriffe der Taliban in Kabul deutlich, wie groß die Schwierigkeiten für die Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan weiter sein werden. Wir wissen: Der logisti- sche Nachschub für diese Gewalttaten läuft über Pakis- tan. Auch die Anschläge in Mumbai im November 2008 mit über 170 Toten zeigen, dass das Thema einer regio- nalen Stabilisierung dringend auf die internationale Agenda rücken muss. Insofern bleibt unser Antrag zum Thema Pakistan hochaktuell. Mit dem neuen US-Präsidenten besteht grundsätzlich die große Chance zu einer Überprüfung der Strategie in Afghanistan, aber auch des diplomatischen Konzepts für die ganze Region. Auf der Münchner Sicherheitskonfe- renz wurde bereits eine große 60-tägige Revision der Af- ghanistan-Strategie angekündigt. Vor allem aber bieten sich große Chancen für eine regionale Strategie, weil die neue Administration hier einen bedeutsamen Wechsel angekündigt hat. So soll mehr Diplomatie möglich wer- den, insbesondere auch im direkten Kontakt mit Iran. Eine Einbeziehung Irans in die regionale Diplomatie kann eine Verbesserung bei der Zusammenarbeit und die Suche nach gemeinsamen Interessen erleichtern. Die Nachbarländer teilen durchaus das gemeinsame Interesse Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22265 (A) (C) (B) (D) an Stabilität in der Region – das gilt auch für Russland und China, die auch einen beachtlichen muslimischen Bevölkerungsanteil haben. Die seit längerem diskutierte „Kontaktgruppe Afghanistan/Pakistan“ einzurichten und entsprechende Konferenzen zu planen, wäre deshalb ein wichtiger Fortschritt. Ungeachtet dieser Chancen möchte ich hier ausdrück- lich unterstreichen, dass die Gefahren, auf die wir in un- serem Antrag hinweisen, keinesfalls vom Tisch sind: In den letzten Wochen kam es wieder zu Bombardements im Grenzgebiet, bei denen mehrfach erneut Zivilisten starben. Gerade der Anstieg der Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung in Afghanistan – 2008 kamen in Af- ghanistan 40 Prozent mehr Zivilisten ums Leben als 2007 – ist Besorgnis erregend und trägt zur Vertrauens- krise in der Region bei. Es ist deshalb dringend erforder- lich, dass die Bundesregierung sich nachdrücklich für ei- nen militärischen Strategiewechsel der NATO einsetzt. OEF muss endlich beendet werden. Wir müssen zu einer einheitlichen Rechtsgrundlage für die militärische Prä- senz in Afghanistan zurückkehren und endlich die Al- leingänge der USA im pakistanischen Grenzgebiet been- den, die destabilisierend wirken. Bei der neuen US- Administration wird sie dafür zweifelsohne offenere Oh- ren finden als bei der Bush-Regierung. Joe Biden hat sich in seiner Rede in München deutlich von der „Bush- Doktrin“ – also von Präventivschlägen und Alleingän- gen – distanziert; entsprechend muss der militärische Ansatz geändert werden. Die Bemühungen der neuen Administration in Rich- tung Abrüstung müssen ebenfalls – mit Bezug auf diese Region – ernst genommen werden: Es darf kein Wettrüs- ten zwischen Pakistan, Indien, China und anderen Staa- ten der Region einsetzen, und dieses darf nicht mit deut- schen Rüstungslieferungen angeheizt werden. Es muss alles getan werden, damit Pakistan nicht weiter eine Quelle der Weiterverbreitung von Massenvernichtungs- waffen und deren Trägerwaffen bleibt, sondern sich den internationalen Rüstungskontrollregimen anschließt. Um Pakistan zu stabilisieren, gilt darüber hinaus vie- les, was auch für Afghanistan richtig ist: Notwendig sind eine Sicherheitssektorreform, eine Stärkung des Justiz- wesens und der Aufbau einer effektiven rechtsstaatli- chen Polizei. Die Entwicklungszusammenarbeit muss nachhaltig gestärkt werden. Investitionen in die Grund- bildung, Basisgesundheit und ländliche Entwicklung so- wie die Förderung der unabhängigen Justiz und Presse sowie der Rechte der Frauen sind unerlässlich für eine langfristige Stabilisierung. Die pakistanische Regierung muss dabei ihrerseits in die Pflicht genommen werden, die notwendigen Beiträge entschlossen umzusetzen. Ohne Stabilität in Pakistan wird es keine Stabilität in Af- ghanistan und der ganzen Region geben. Lassen Sie uns die Chancen ergreifen, die sich mit der neuen US-Admi- nistration für einen Neustart ergeben. 205. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500000

Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.

Vor Aufruf der Tagesordnung habe ich einige Mittei-
lungen zu machen. Zunächst gibt es einige Geburtstage
zu würdigen: Der Kollege Ortwin Runde feiert heute
seinen 65. Geburtstag. Dazu möchte ich ihm die Glück-
wünsche des ganzen Hauses übermitteln.


(Beifall)


Bereits am vergangenen Freitag haben die Kollegin Ka-
rin Roth und der Kollege Dr. Michael Fuchs ihre
60. Geburtstage begangen. Auch dazu die Glückwün-
sche des ganzen Hauses!


(Beifall)


Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege
Dr. Rainer Wend aus dem Beirat der Bundesnetzagen-
tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post
und Eisenbahnen austritt. Als Nachfolgerin wird die
Kollegin Ute Berg vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

Rede
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Kollegin Berg in den Beirat der Bundesnetzagentur
gewählt.

Der Kollege Arnold Vaatz hat sein Amt als stellver-
tretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur niedergelegt. Als
Nachfolgerin schlägt die Fraktion der CDU/CSU die
Kollegin Maria Michalk vor. Darf ich auch dazu Ein-
vernehmen feststellen? – Das ist offenkundig der Fall.
Dann ist die Kollegin Maria Michalk hiermit zum stell-
vertretenden Mitglied des Stiftungsrates gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpu
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen d
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
tzung

en 12. Februar 2009

.01 Uhr

Führungsverantwortung der Bundeskanzle-
rin in Zeiten der Wirtschaftskrise

(siehe 204. Sitzung)


ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Wirt-
schaft und Technologie

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 33)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Datenschutz für Beschäftigte stärken

– Drucksache 16/11376 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion

text
Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase,
Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Förderung des wissenschaftlichen Nachwuch-
ses ausbauen
– Drucksache 16/11883 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss

usschuss
ss für Wirtschaft und Technologie
ss für Arbeit und Soziales
ss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
nktliste auf-

er Fraktion

Finanza
Ausschu
Ausschu
Ausschu
Ausschu

Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Entwicklungschancen für den wissenschaftli-
chen Nachwuchs schaffen

– Drucksache 16/11880 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Acker-
mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Faires Nachversicherungsangebot zur Verein-
heitlichung des Rentenrechts in Ost und West

– Drucksache 16/11236 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Ausspra-
che

(Ergänzung zu TOP 34)


Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steen-
block, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen
Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen

– Drucksachen 16/11758, 16/11894 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich

ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nacht-
wei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kontraproduktive US-Operationen in Pakis-
tan sofort einstellen – Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln

– Drucksachen 16/10333, 16/11251 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)


ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Dividenden streichen – Gewinne in Arbeits-
plätze investieren

– Drucksache 16/11877 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Der bisher mit Aussprache vorgesehene Tagesord-
nungspunkt 24 – dabei geht es um die Westeuropäische
Union – soll bei den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufen
werden.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der in der 200. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-

(11. Ausschuss)


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
fachung und Modernisierung des Patentrechts

– Drucksache 16/11339 –
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:

Eidesleistung des Bundesministers für Wirt-
schaft und Technologie

Es handelt sich dabei um Herrn Dr. Karl-Theodor
Freiherr zu Guttenberg. Dass er wesentlich mehr Vorna-
men hat, als ich vorgetragen habe, ist inzwischen allge-
mein bekannt,


(Heiterkeit)


wenn auch nicht ganz so viele, wie gelegentlich in Le-
xika zu lesen war. Wir setzen das für die Eidesleistung
als bekannt voraus.


(Heiterkeit)


Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom
10. Februar 2009 Folgendes mitgeteilt:

Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf
Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Mi-
chael Glos, auf seinen Antrag aus seinem Amt als
Bundesminister entlassen und Herrn Dr. Karl-Theo-
dor Freiherr zu Guttenberg, MdB, zum Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie ernannt.






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.

Herr Kollege Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg, ich
darf Sie nun zur Eidesleistung zu mir bitten.

Ich darf Sie bitten, den im Grundgesetz vorgesehenen
Eid zu sprechen.


(Die Anwesenden erheben sich)


Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.


(Beifall – Abgeordnete aller Fraktionen gratulieren Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg – Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg wird ein Blumenstrauß und ein Präsent überreicht)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500100

Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie den vom

Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet haben, darf
ich Ihnen auch im Namen all derjenigen Mitglieder des
Deutschen Bundestages, die Ihnen noch nicht persönlich
die Hand schütteln konnten, ganz herzlich zur Über-
nahme dieses Amtes gratulieren,


(Beifall)


Freude an der Aufgabe wünschen und Gottes Segen für
die Wahrnehmung dieses Amtes.

Zugleich möchte ich dem ausgeschiedenen Bundes-
minister Michael Glos für seine Tätigkeit als Mitglied
der Bundesregierung danken.


(Beifall)


Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Aufstiegsfortbil-
dungsförderungsgesetzes

– Drucksache 16/10996 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (18. Ausschuss)


– Drucksache 16/11904 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patrick Meinhardt
Volker Schneider (Saarbrücken)

Priska Hinz (Herborn)


(8. Ausschuss)


– Drucksache 16/11905 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Klaus Hagemann
Ulrike Flach
Michael Leutert
Anna Lührmann

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker
Schneider (Saarbrücken), Dr. Lothar Bisky,
Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Verlässliche Bildungsförderung für Erwach-
sene noch in dieser Legislatur auf den Weg
bringen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz

(Herborn), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Förderung des lebenslangen Lernens unver-
züglich entscheidend voranbringen

– Drucksachen 16/11374, 16/11202, 16/11904 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patrick Meinhardt
Volker Schneider (Saarbrücken)

Priska Hinz (Herborn)


Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfs liegt ein
Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.


(Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg nimmt weitere Glückwünsche entgegen)


Herr Wirtschaftsminister, darf ich einen Verfahrens-
vorschlag machen? Wenn Sie sich am Ende des Ganges
aufbauen würden, könnten Sie die Gratulationscour der
ausziehenden Kollegen ohne Störung der weiteren Bera-
tungen abnehmen. Diejenigen, die an der Beratung die-
ses Tagesordnungspunktes beteiligt sind, könnten sich
dann den damit verbundenen Themen widmen.

Das Wort erhält zunächst die Frau Bundesministerin
Annette Schavan.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zur Qualifizierungsinitiative
der Bundesregierung gehören Impulse für eine konzep-
tionelle Weiterentwicklung von Bildung und Qualifizie-
rung und Anreize für Weiterqualifizierung, also Anreize
dafür, Bildungschancen und Qualifizierungschancen
wahrzunehmen.

Wir haben dies im Hohen Hause auch deshalb beraten
und beschlossen, weil wir davon überzeugt sind, dass
das Thema Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren
noch stärker als in den vergangenen Jahren auf der Ta-
gesordnung stehen wird. Wir beschäftigen uns also nicht
allein mit der Sicherung von Beschäftigung, sondern im-
mer stärker auch mit der Frage, wie es uns gelingt, am
Hochtechnologiestandort Deutschland genügend hoch-
qualifizierte Fachkräfte zu haben.

Erste wichtige Schritte sind erfolgt. Dazu gehört zum
Beispiel, dass wir im Jahre 2008 mit rund 616 000 Aus-
bildungsverträgen ein Niveau des Ausbildungsumfangs
wie seit langem nicht mehr erreicht haben. Diesen jun-
gen Menschen wird mit ihrer qualifizierten Ausbildung
eine Chance auf weitere Berufs- und Lebensperspekti-
ven gegeben. Eine qualifizierte Ausbildung ist die Vo-
raussetzung für den Aufstieg durch Bildung.

Bund und Länder haben in Dresden ihren Willen zum
Ausdruck gebracht, jeden zu unterstützen, der lernen
will. Diese Vereinbarung von Dresden setzen Bund und
Länder im AFBG, also mit dem sogenannten Meister-
BAföG, jetzt konkret um. Die Förderung wird vom Bund
und den Ländern gemeinsam verantwortet und finan-
ziert.

An zahlreichen Stellen sind in den letzten Wochen
und Monaten sowohl die Erfahrungen der Länder als
auch die Anregungen der Wirtschaftsverbände und
Sozialpartner in die Beratungen über die Novelle einge-
flossen. Auch die Experten haben sich in der Anhörung
am 26. Januar 2009 positiv zu dem Gesetzentwurf und
den Veränderungen geäußert.

Die Koalitionsfraktionen – dafür möchte ich aus-
drücklich danken – haben in einer sehr vertrauensvollen
und konstruktiven Weise und vor allen Dingen sehr
schnell zu einer Verständigung gefunden. Ich freue mich
auch, dass es in der Opposition in den letzten Tagen
positive Stellungnahmen hierzu gegeben hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


– Jawohl, Frau Pieper, ich weiß, woher sie kommen. Ich
habe in der Opposition aber auch noch um weitere Zu-
stimmung geworben.

Mit dem Meister-BAföG stärken wir das lebensbe-
gleitende Lernen, das – davon sind wir alle überzeugt –
immer bedeutsamer werden wird, und zwar nicht nur,
wie es durch den Namen suggeriert wird, im Handwerk,
sondern in allen Berufsbereichen. Das ist ein entschei-
dender Punkt der Weiterentwicklung des Gesetzent-
wurfs.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir motivieren Berufstätige, sich beruflich weiterzu-
entwickeln und fortzubilden. Dabei stehen die Ab-
schlüsse nach dem Berufsbildungsgesetz und der Hand-
werksordnung im Vordergrund des Gesetzentwurfs. Wir
übernehmen mit der Förderung von Abschlüssen im so-
zialen Bereich auch eine sozialpolitische Verantwor-
tung. Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens
darüber, dass zum Beispiel die frühkindliche Bildung
und Erziehung verbessert werden muss.

Deshalb ist es wichtig gewesen – dies ist ein ganz
deutliches Signal an diese Berufsgruppe –, jetzt auch die
Aufstiegsfortbildungen der Erzieherinnen und Erzieher
ebenso wie die Aufstiegsfortbildungen in den Pflegebe-
rufen zu fördern. Wir wissen, dass die Attraktivität die-
ser beiden Berufe darunter leidet, dass es weder Auf-
stiegschancen noch lebenslange Berufsbiografien gibt.
Eine Erzieherin scheidet in der Regel nach acht Berufs-
jahren aus dem Beruf aus. Das ist ein wichtiger Schritt
zur Modernisierung der Aufstiegsqualifikation für Er-
zieherinnen und Erzieher und für die Pflegeberufe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt ganz deutlich
auf, dass es nach der Ausbildung weitergeht. Wir unter-
stützen die berufliche Weiterbildung. Mit dem neuen
Darlehensteilerlass bei Bestehen der Prüfung geben wir
das Signal, dass sich Leistung lohnt. Wir fördern die
Motivation, eine Fortbildung zu beginnen und erfolg-
reich zum Abschluss zu bringen. Damit wird eine Vo-
raussetzung für die weitere Entwicklung der Berufsbio-
grafie geschaffen.

Mit dem Meister-BAföG wird die zukünftige mittlere
Führungsebene in den Betrieben gefördert. Meister,
Techniker und Fachwirte leisten einen wesentlichen Bei-
trag zur Entwicklung von Innovationen in den Unterneh-
men. Sie erarbeiten Produkte und Dienstleistungen und
gestalten diese kundengerecht. In der Regel nehmen sie
Schlüsselfunktionen bei der Sicherung der Wettbewerbs-
fähigkeit der Betriebe wahr.

Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Weiterentwick-
lung dieses Gesetzes sind die besseren Perspektiven für
Fachkräfte mit Migrationshintergrund. Dies ist ein
besonderer Beitrag zur Förderung der Integration von
Ausländern. Wir wissen, dass sich nach wie vor gerade
diese Gruppe nur in sehr geringem Umfang an Weiterbil-
dungsmaßnahmen beteiligt. Erst kürzlich hat eine Studie
des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
gezeigt, dass gerade in dieser Bevölkerungsgruppe noch
ein großes Potenzial steckt.

Zugleich sollen diejenigen, die nach der Fortbildung
eine Existenz gründen, Auszubildende einstellen, Ar-
beitsplätze schaffen und in diesem Kontext weitere fi-
nanzielle Vergünstigungen erhalten.

Meine Damen und Herren, wir haben das AFBG breit
aufgestellt. Die Förderung beruflich Qualifizierter – da-
von bin ich überzeugt – darf nicht hinter der von Schü-
lern und Studenten zurückstehen. Dies ist ein Prüfstein






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Annette Schavan
für die Frage, ob wir es mit der Gleichwertigkeit von
beruflicher und allgemeiner Bildung ernst nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb folgt nach der Modernisierung und Weiter-
entwicklung des BAföG nun die Modernisierung und
Weiterentwicklung des Meister-BAföG. Damit sollen für
neue Berufsgruppen neue Anreize, mehr finanzielle
Leistungen und eine höhere Akzeptanz im öffentlichen
Bildungssystem geschaffen werden. Außerdem soll
deutlich gemacht werden, dass wir längst an lebenslan-
gen Bildungsbiografien arbeiten. Das sind die Vorausset-
zungen dafür, den künftigen Fachkräftebedarf in
Deutschland zu decken.

Mit den vorgesehenen Leistungsverbesserungen von
zusätzlich 272 Millionen Euro in den nächsten vier Jah-
ren werden Bund und Länder spürbare Anreize für die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer an beruflichen Auf-
stiegsfortbildungen schaffen. Ich appelliere an dieser
Stelle ausdrücklich an die Länder, im Interesse der Fort-
bildungswilligen im Bundesrat den Weg freizumachen
für diese Verbesserungen. Wir brauchen bis zum Ende
den Schulterschluss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, ich muss es nicht wirklich
betonen: In den nächsten Jahren werden uns in vielen
Bereichen von der frühkindlichen Bildung bis zum le-
bensbegleitenden Lernen die Fragen beschäftigen: Wie
kommen wir zu besserer Bildung? Wie kommen wir zu
mehr Qualifikation? Wie kommen wir zu einer höheren
Beteiligung an Weiterbildung?

Was wir heute beraten und beschließen, ist ein guter
nächster Schritt, es ist ein Meilenstein in der Akzeptanz
und der hohen Bewertung der beruflichen Bildung in
Deutschland. Damit wird Aufstieg durch Bildung noch
besser möglich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500200

Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1620500300

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin, Politik – gerade
Bildungspolitik – darf nicht nach der Abgrenzungsscha-
blone „Hier Opposition, dort Regierung“ erfolgen.


(Beifall bei der FDP)


Wenn wir ins Detail gehen und das Aufstiegsfortbil-
dungsförderungsgesetz Punkt für Punkt genauer durch-
gehen, dann werden wir darin sicherlich eine ganze
Reihe von Einzelmaßnahmen finden, die uns Liberalen
nicht weit genug gehen. Wir würden auch sehr schnell
feststellen, wo jeweils der CDU/CSU und der SPD ihre
Handschrift zu undeutlich erscheint.
Wir als Liberale haben deswegen einen eigenen Ent-
schließungsantrag vorgelegt. Das ändert aber nichts da-
ran, dass dieser Gesetzentwurf genau in die richtige
Richtung geht. Das Meister-BAföG wird auf wichtige
Zielgruppen ausgedehnt. Dabei geht es nicht um Opposi-
tion oder Regierung, sondern es ist eine Frage der richti-
gen Zukunftspolitik dieses Parlamentes. Deswegen
stimmt die FDP-Bundestagsfraktion zu.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir stimmen auch deswegen zu, weil die Berufsgrup-
pen der Altenpflegerinnen und Altenpfleger und Erzie-
herinnen und Erzieher diese Chance auf Fortbildung
brauchen. Die höchste Verantwortung in dieser Gesell-
schaft tragen zum einen die Menschen, die sich um die
Entwicklung der Kinder von Anfang an kümmern, ihre
Talente unterstützen und fördern sollen und mit Sprach-
standserhebungen und der persönlichen Förderung jedes
einzelnen Kindes eine herausragende Aufgabe wahrneh-
men, und zum anderen selbstverständlich auch diejeni-
gen, die den letzten Abschnitt des Lebens fürsorglich
und mit viel Liebe begleiten.

Beide Berufe sind aus unserer Gesellschaft nicht weg-
zudenken. Beide Berufe verdienen nicht das, was sie ge-
sellschaftlich verdienen sollten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)


Auch deswegen ist heute für diese so wichtigen, zentra-
len Berufe ein guter Tag, wenn auch für sie das Meister-
BAföG geöffnet wird. Denn damit wird ihre Arbeit stär-
ker gewürdigt und ihnen die Möglichkeit zur aktiven
Weiterbildung gegeben. Das ist ein wichtiger Schritt zu
mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland.

Aus unserem Entschließungsantrag darf ich zwei
Punkte herausgreifen, die uns wichtig sind. Erstens. Wir
sollten uns in der Frage des Meister-BAföG nicht so sehr
auf die Frage der starren Förderung für Kurse ab
400 Stunden Unterricht orientieren. Solche starren Rege-
lungen bringen in der Bildungsdebatte nichts. Viel wich-
tiger ist es, Qualitätskriterien zu schaffen. Auch für ei-
nen freien Träger, der einen Kurs mit 380 Stunden in der
gleichen Qualität anbietet, sollte die Förderung gelten.
Wir brauchen mehr Flexibilität. Qualität muss beim
Meister-BAföG vor Quantität stehen.


(Beifall bei der FDP)


Wir brauchen Systeme des intelligenten Bildungsspa-
rens. Notwendig ist auch die Stärkung der bestehenden
Maßnahmen wie die nach dem AFBG. Aber wir sagen
als Liberale ganz klar: Wir brauchen kein neues Mam-
mutgesetz für die Erwachsenenbildung in der Bundesre-
publik Deutschland. Wir brauchen kein Gesetz, das von
der Wiege bis zur Bahre alles allumfassend in seinen en-
gen Rahmen hineinpressen will. Wir brauchen kein
neues Bürokratiemonster, das in den Anhörungen nur
von Gewerkschaftsvertretern gewünscht wurde, sondern
eine gute und offensive Weiterbildungspolitik. Deswe-
gen positionieren wir uns an dieser Stelle klar: Wir wol-






(A)



(B) (D)


Patrick Meinhardt
len kein neues Gesetzeswerk. Wir wollen kein neues Bü-
rokratiemonster.


(Beifall bei der FDP)


Ich glaube, wir werden heute insoweit ein gutes Zei-
chen setzen. Wir brauchen ein großes Paket für den Auf-
bruch in der Weiterbildung. Davon sind wir noch viele
Schritte entfernt. Notwendig ist auch eine Stärkung der
Weiterbildungsfinanzierung, aber nicht in Form einer
Weiterbildungsprämie von 154 Euro als Kernstück ei-
ner Offensive in der Weiterbildung, wie Sie es sich sei-
tens der Regierungsfraktionen vorstellen. Eine Weiter-
bildungsprämie in Höhe von 154 Euro pro Person und
Jahr wird nie den qualitativen Aufbruch in der Weiterbil-
dung bringen, den wir in der Bundesrepublik Deutsch-
land brauchen. Wir Liberale wollen nicht, dass die Sta-
tistik verbessert wird, sondern wir wollen, dass die
Weiterbildungsqualität in der Bundesrepublik Deutsch-
land verbessert wird.


(Beifall bei der FDP)


Umso wichtiger ist es, dass die Gesamtkonzeption der
Weiterbildung vorangebracht wird. Hier brauchen wir
mehr Anstrengungen und mehr Initiativen. Zum Schluss
meiner Rede darf ich Bundespräsident Horst Köhler zum
Thema Weiterbildung zitieren:

Wie also schaffen wir es, in einer alternden Gesell-
schaft die richtigen Anreize für Weiterbildung und
lebenslanges Lernen zu setzen? Das ist nicht nur
eine Frage von Strukturen. Dass Weiterbildung bei
uns so selten stattfindet, dürfte auch damit zusam-
menhängen, dass wir uns angewöhnt haben und im-
mer noch glauben, es sei der normale Rhythmus,
das Leben in drei Abschnitte einzuteilen … Dieses
Phasenmodell … entspricht jedoch nicht mehr un-
serer Lebenswirklichkeit, denn immer mehr Ältere
sind länger aktiv, und Lernen ist längst von der Ju-
gend- zur Lebensaufgabe geworden.

Heute schaffen wir mit der vorliegenden Novelle für Er-
zieherinnen und Erzieher sowie für Altenpflegerinnen
und Altenpfleger mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr
Aufstiegschancen; das ist überfällig. Die FDP-Fraktion
unterstützt diesen Gesetzentwurf.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500400

Der Kollege Ernst Dieter Rossmann hat nun für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1620500500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute haben wir eine breite Übereinstimmung, was die
Förderung von Erwachsenenweiter- und Erwachsenen-
fortbildung angeht. Daher ist es gut, den Dreischritt,
den wir im deutschen Parlament vollzogen haben, in
Erinnerung zu rufen. Der erste Schritt ist 1996 durch
den damaligen Bildungsminister Rüttgers vollzogen
worden. Er hat damals – nicht unumstritten – mit dem
Meister-BAföG eine steuerfinanzierte Erwachsenen-
bildungsförderungsleistung in das Gesetzeswerk
hineingebracht. Das war wichtig, obwohl es sicherlich
kritisch zu sehen ist, dass es aus dem damaligen Arbeits-
förderungsgesetz ausgekoppelt wurde. Das Ergebnis
war: 60 000 bis 70 000 Menschen in der anspruchsvollen
Aufstiegsfortbildung bekamen Förderung. Das war ein
erster guter Schritt.

Der zweite gute Schritt erfolgte dann im Jahr 2001,
als wir unter der rot-grünen Regierung mit Herrn Schrö-
der und Frau Bulmahn das Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetz tatkräftig und energisch erweitert haben. Die
Zahl der Geförderten stieg so auf 140 000; denn es wur-
den nicht nur Vollzeitmaßnahmen, sondern auch Teil-
zeitmaßnahmen durch den Maßnahmebeitrag gefördert.
Ich darf an dieser Stelle Kollegin Aigner, die nun Minis-
terin ist, sozusagen eine Blume überreichen. Damals hat
sie für die konservative Seite eingefordert: Fördert die
Maßnahme, damit jeder, der in der Aufstiegsfortbildung
ist und nicht viel Geld hat, Unterstützung bekommt!
Edelgard Bulmahn hat es dann umgesetzt. Das ist ein
ganz wichtiger Schritt gewesen.


(Beifall bei der SPD)


Der dritte Schritt wird heute vollzogen. Dass wir ihn
tun können, ist in erster Linie eine Leistung des Parla-
ments. Wenn Sie sich die Koalitionsvereinbarung an-
schauen, dann stellen Sie fest, dass dort weder eine Ver-
besserung des BAföG noch eine Verbesserung des
Meister-BAföG vorgesehen ist. Es sind bestimmte Abge-
ordnete, auf die diese Novelle zurückgeht. Die Fraktionen
haben aufbegehrt und sind initiativ geworden. Wenn ich
nun einzelne Abgeordnete aufzählte, wären andere si-
cherlich enttäuscht. Jedenfalls handelt es sich um eine
Parlamentsinitiative.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist sicherlich nicht falsch, wenn das Parlament Pro-
bleme aufgreift, Perspektiven aufzeigt und dann entspre-
chende Initiativen in enger Zusammenarbeit mit der Re-
gierung umsetzt. Ich sage an dieser Stelle Staatssekretär
Storm ein Dankeschön für die gute Zusammenarbeit auf
fachlicher Ebene.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben damals analysiert und uns die Entwicklung
der Gefördertenzahl genau angeschaut; denn diese Zahl
ist auch ein Abbild der Dynamik in der Aufstiegsfort-
bildung. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar
Zahlen nennen. Jährlich machen rund 400 000 Men-
schen einen Berufsbildungsabschluss. 200 000 erlangen
einen akademischen Abschluss. Aber nur ein Fünftel
derjenigen mit einem Berufsbildungsabschluss kommt
aktuell in eine Aufstiegsfortbildung; das ist nicht gut.
Wenn wir die Balance bzw. die Gleichwertigkeit von an-
spruchsvoller beruflicher und akademischer Bildung
wollen, dann müssen wir die Gefördertenzahl im berufli-
chen Bereich steigern. Das Ziel könnten ja auch für die-

(C)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ernst Dieter Rossmann
sen Bereich 200 000 Geförderte sein. Wenn wir es errei-
chen, die Zahl von 80 000 Geförderten auf 100 000 oder
120 000 zu steigern, dann hätten wir in allen wirtschaft-
lichen Bereichen einen ganz wichtigen Beitrag zur Qua-
lifizierung geleistet.


(Beifall bei der SPD)


Als man angesichts dieser Perspektive allerdings fest-
gestellt hat, dass die Zahl derjenigen, die eine Aufstiegs-
fortbildung absolviert haben, und auch die Zahl der Ge-
förderten erstmals wieder rückläufig war – das war im
Jahr 2006 –, war das ein Anlass, parlamentarisch initia-
tiv zu werden und auf eine grundsätzliche Leistungsver-
besserung zu dringen, damit die Zahl wieder steigen
kann. Das ist der erste Punkt. Die Analyse der Situation
führte zur politischen Schlussfolgerung, die heute in
dem Reformgesetz aufgenommen wird.

Ein zweiter Punkt. Wenn wir feststellen, dass 68 Pro-
zent derjenigen, die eine Aufstiegsfortbildung absolvie-
ren bzw. sich überhaupt im Rahmen der beruflichen Bil-
dung qualifizieren, Männer und 32 Prozent Frauen sind
und die meisten in der Altersgruppe zwischen 20 und
35 Jahren sind, dann müssen wir erkennen, dass die Ver-
einbarkeit von Aufstiegsfortbildung und Familie ein
Problem darstellt. Schätzungsweise haben nur 10 Pro-
zent derjenigen, die in einer Aufstiegsfortbildung sind,
Kinder. Dass uns dies nicht ruhen lassen kann, dass man
im Gegenteil schauen muss, wie man speziell die Fami-
lien, in denen sich jemand intensiv anstrengt, eine Auf-
stiegsfortbildung zu absolvieren, und gleichzeitig Kinder
erzieht, fördern kann, ist klar. Das ist ein wichtiges An-
liegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben das analysiert und eine Verbesserung durch-
gesetzt. Der Kinderzuschlag wird nämlich jetzt um fast
40 Euro erhöht, und er wird nur zu 50 Prozent als Darle-
hen gegeben. Das ist eine wichtige Konsequenz. Wir
hoffen, dass sich die Aufstiegsfortbildung in Zukunft mit
der Kindererziehung besser vereinbaren lässt.


(Beifall bei der SPD)


Ein dritter Punkt der Analyse. 20 Prozent derjenigen,
die eine Aufstiegsfortbildung machen, brechen sie ab,
nur 80 Prozent bestehen beim ersten Versuch die Prü-
fung. Auch daraus muss man Schlussfolgerungen ziehen
und fragen, ob man helfen kann. Man kann natürlich in-
sofern helfen, als man den Anreiz verstärkt, eine Auf-
stiegsfortbildung wirklich bis zum erfolgreichen Ende
durchzuführen. Das heißt, man kann einen Bonus ge-
währen, wenn die Aufstiegsfortbildung erfolgreich abge-
schlossen wird. Man kann auch helfen, indem man die
schwierige Prüfungsphase – Werkstücke entstehen oft
hinterher, und die intensive Vorbereitung erfolgt eben-
falls oft nach dem Zeitraum, für den man eine Dauerför-
derung bekommt – durch eine Verbesserung der Förde-
rung erleichtert. Auch dies tun wir. Wir hoffen, dass
dadurch die Aufstiegsfortbildung für all diejenigen, die
sich darauf einlassen, erfolgreich wird.
Vierter Punkt der Analyse. Es gibt zu wenige Men-
schen aus Einwandererfamilien, die unser Bildungssys-
tem erfolgreich für sich nutzen können. Wenn wir auch
bei der Aufstiegsfortbildung Migranten erleichtern, mit
einem festen Aufenthaltstitel ohne lange Vorlaufzeiten
dieses Bildungsrecht in Anspruch nehmen zu können,
dann ist das ein Zeichen für die Zukunft.

Fünfter und letzter Punkt. Die Ministerin hat schon
angesprochen, dass wir den Förderkreis deutlich erwei-
tern. Es wird in Zukunft nicht mehr nur und ausschließ-
lich die erste Fortbildung gefördert werden, sondern es
kann auch eine weitere Fortbildung gefördert werden.
Damit wird die Bildungsförderung zu einem kontinuier-
lichen Prozess. Wir nennen das, über das wir reden,
Meister-BAföG, aber in Wirklichkeit ist es ein Fach-
kräfte-BAföG. Nur 36 Prozent der Abschlüsse kommen
aus dem Handwerk, 46 Prozent kommen aus der Indus-
trie und dem Dienstleistungsbereich, der Rest aus dem
Gesundheitssektor und anderen Bereichen. Wenn wir
dies aufgreifen und die Aufstiegsfortbildung auf die Be-
reiche der Altenpflege und Kindererziehung ausdehnen,
dann eröffnen wir den Menschen in diesen Zukunfts-
branchen die Chance zur Qualifizierung.

Das ist ein Gesetz, das aus der Analyse der bestehen-
den Verhältnisse notwendige Konsequenzen zieht. Fest-
zustellen ist, dass die bereitgestellten Mittel einen Zu-
wachs von 60 Prozent darstellen. In welchem Bereich
haben wir das schon, wenn es nicht gerade um den
Schutzschirm für Banken oder konjunkturpolitische
Maßnahmen geht?


(Beifall bei der SPD)


Hier geht es um einen Schirm für die Bildung, den wir
aufspannen müssen, damit in Zukunft möglichst viele
davon profitieren können.

Es bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und
Ländern. Wir stehen nachdrücklich dazu, dass sich die-
ses gemeinsame Anliegen auch materiell niederschlagen
muss. Es bleibt auch entwicklungsfähig – um auf die
Anträge der Linken und der Grünen einzugehen. Sie for-
dern natürlich von diesem Parlament ein, es dabei nicht
bewenden zu lassen und eine längere Perspektive ins
Auge zu fassen. Ich will angesichts der Tatsache, dass
wir in der Koalition uns darüber noch nicht so einigen
konnten, wie es für die Zukunft wünschenswert gewesen
wäre, wenigstens den sozialdemokratischen Standpunkt
erläutern.

Wir sind für ein Erwachsenenbildungsförderungs-
gesetz.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


Wir sind dafür, dass wir die Bildungskette vom Schüler-
BAföG über das Studenten-BAföG bis zum Meister-
BAföG erweitern. Wenn es ein Meister-BAföG für die
beruflich Hochqualifizierten gibt, dann brauchen wir in
der Struktur von Bachelor und Master – das haben wir
gelernt – ein Master-BAföG und auch eine Differenzie-
rung der einzelnen Bildungswege.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ernst Dieter Rossmann
Herr Meinhardt, das, was Sie in Bezug auf die Stun-
denzahl gesagt haben, soll man so verstehen, dass wir
differenzierter hinschauen sollen. Angesichts der Bil-
dungsförderungsgesetzeskette – vom Schüler-BAföG über
das BAföG und das Meister-BAföG bis hin zu einem Er-
wachsenenbildungs-BAföG – verstehe ich Ihre Volte
nicht, das als bürokratisch zu denunzieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Schließlich machen Sie an anderer Stelle mit: Sie be-
schließen heute hier ein Leistungsgesetz hinsichtlich
ganz wichtiger Anliegen für ganz viele Menschen mit.
Es geht darum, Vorschläge zu machen, wie dieses Gesetz
verbessert werden kann. Lassen Sie uns dieses Bildungs-
förderungsgesetz zu dem gemeinsamen Anliegen dieses
Parlamentes machen! Das wird eine Aufgabe der nächs-
ten Legislaturperiode werden.

Auch in dieser Regierung dürfen wir selbstbewusst
sagen, dass wir mit dem heutigen Parlamentsbeschluss
nicht nur bei den steuerfinanzierten Leistungen für die
Weiterbildung Gutes bewirken; auch dort, wo es um So-
zialversicherungsbeiträge geht, haben wir über den Ar-
beitsminister und Bildungsminister Scholz mit dem
Rechtsanspruch auf die Förderung für den Hauptschul-
abschluss Positives bewirkt. Auch beim Kurzarbeiter-
geld gibt es notwendigerweise eine Verbindung zur Qua-
lifizierung. In dieser Zeit ist es nämlich sehr wichtig, im
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht nur an Absiche-
rung, sondern auch an Qualifizierung zu denken.


(Beifall bei der SPD)


Die Große Koalition hat die Perspektive, gemeinsam
den Dualismus – das steuerfinanzierte Erwachsenenbil-
dungsförderungsgesetz und das über die Sozialversiche-
rung finanzierte Arbeitssicherungsgesetz und damit die
Arbeitsversicherung bzw. die Arbeitsversicherung –
weiterzuentwickeln. Das ist die sozialdemokratische
Perspektive. Heute machen wir einen großen Schritt in
diese Richtung.

Wir bedanken uns und freuen uns.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500600

Das Wort erhält nun der Kollege Volker Schneider,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620500700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So ganz kann ich
in die vielen Lobeshymnen, die hier gesungen werden,
nicht einstimmen.


(Beifall des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] – Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir befürchtet!)


Wenn Sie einem Kind die Hoffnung gemacht haben,
dass es zu Weihnachten endlich das lange versprochene
Fahrrad erhält, und es unter dem Weihnachtsbaum ein
Taschenbuch findet, dann wird die Enttäuschung groß
sein, egal wie schön Sie den Raum geschmückt haben,
egal wie groß der Weihnachtsbaum ist und egal wie toll
das Taschenbuch ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Fahrrad, das Sie versprochen haben, heißt: Inte-
gration der Weiterbildung als vierte Säule unseres Bil-
dungssystems. Das, was Sie heute hier weitergeben – die
Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes,
AFBG –, hat, befürchte ich, noch nicht einmal das Zeug
zu einem Taschenbuch. Sie haben in Ihrem Koalitions-
vertrag versprochen – Zitat –:

Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur
4. Säule des Bildungssystems machen und mit bun-
deseinheitlichen Rahmenbedingungen eine Weiter-
bildung mit System etablieren.

Nun neigt sich diese Legislaturperiode ihrem Ende
zu. Es ist daher nicht falsch, anzunehmen, dass Sie mit
dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes Ihre Initiati-
ven zur Stärkung der Weiterbildung abschließen und
krönen wollen. Für Sie ist dieser Gesetzentwurf ein ganz
großer Wurf. Sie wollen – man kann das in Ihrem Ge-
setzentwurf nachlesen – nicht weniger, als dem Fach-
kräftemangel durch individuelle und kontinuierliche Hö-
herqualifizierung begegnen, die Wettbewerbsfähigkeit
der Wirtschaft sichern und die Qualifikation der Bevöl-
kerung auf Dauer erhalten. Damit dies gebührend gefei-
ert werden kann, haben wir heute die Ehre, das zur aller-
besten Debattenzeit diskutieren zu dürfen.

Es ist schon bezeichnend, dass Sie aus so wenig einen
so großen Anlass machen. Sicher, das ist kein schlechter
Gesetzentwurf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das will auch ich zugestehen. Was positiv zu bewerten
ist, ist hier ausführlich dargestellt worden. Ich will das
nicht alles wiederholen. Ich will nur einen Punkt heraus-
greifen: Auch wir Linke sind der Meinung, dass die För-
derung von Migrantinnen und Migranten ein wichtiger
Fortschritt ist, insbesondere weil Menschen mit Migra-
tionshintergrund in unserem Beschäftigungssystem er-
heblich benachteiligt sind. Das ist nicht zuletzt darauf
zurückzuführen, dass unser Bildungssystem und unsere
Bildungsförderung diese Menschen vielfach eher aussor-
tiert als gezielt fördert. Ich betone noch einmal: Das ist
ein wichtiger Schritt.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt auch kritische Anmerkungen zu Ihrem Geset-
zesentwurf; das betrifft Punkte, auf die bis jetzt noch
nicht eingegangen worden ist. So sind die Förderbedin-
gungen im AFBG weiter schlechter als im BAföG – und
das, obwohl Sie selbst angeben, dass mit Strukturverbes-
serungen in der beruflichen Bildung der angestrebten
Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung
Rechnung getragen werden soll. Man muss schon sagen:
ein merkwürdiges Verständnis von Gleichwertigkeit.






(A) (C)



(B) (D)


Volker Schneider (Saarbrücken)

Den Veränderungen durch den Bologna-Prozess wird
in dem Entwurf in keiner Weise Rechnung getragen. Wer
sein Studium mit einem Bachelor beendet und sich ent-
schließt, sofort in die berufliche Praxis zu gehen, um
später eine theoretische Vertiefung in Form eines Mas-
ter-Abschlusses draufzusetzen – ein Szenario, das im
Rahmen der Hochschulreform übrigens ausdrücklich ge-
wünscht war –, der schaut bei der Förderung schlicht in
die Röhre. Ab 30 gibt es kein BAföG mehr, und das
AFBG ist für diesen Personenkreis auch weiter nicht zu-
ständig.

Bei aller Freude über die Einbeziehung der Pflegebe-
rufe sowie der Erzieher und Erzieherinnen: Seit Jahren
diskutieren wir über veränderte Qualifikationsbedarfe.
Seit Jahren stellt sich dabei die Frage, welche Bildungs-
wege – auch und gerade in Erziehung und Pflege – an
die Hochschulen gehören. Längst ist klar, wo die bishe-
rige berufliche Qualifizierung an Grenzen stößt und Be-
rührungspunkte mit der akademischen Bildung entstan-
den sind. Mit der beruflichen Qualifizierung allein
werden Sie diese Probleme nicht lösen können. Bis
heute ist kaum zu erkennen, dass Sie auf diese Entwick-
lungen politisch reagieren. Schon gar nicht haben Sie
über die Instrumente der Bildungsförderung hierfür ge-
zielte Anreize geschaffen.

Frau Ministerin, wenn Erzieher und Erzieherinnen be-
reits nach acht Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden,
dann sollte man sich vielleicht einmal überlegen, ob das
nicht auch etwas mit der beschämend niedrigen Bezah-
lung für eine so anspruchsvolle Tätigkeit zu tun hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein letzter Punkt: Qualitätssicherung findet allen-
falls auf dem Papier statt. Nach dem Entwurf müssen die
Träger ein – das heißt wohl: irgendein – Qualitätssiche-
rungssystem vorweisen. Ich habe mich beim Lesen ge-
fragt, ob auch jene Tante Käthe die Qualität überwachen
kann, die durch die Reden einer Kollegin aus dem Haus-
haltsausschuss geistert. Das alles ließe sich noch fortset-
zen, aber ich will hier nicht Erbsen zählen.

Es bleibt dabei: Dieser Gesetzesentwurf ist nicht der
schlechteste.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber ist es auch der große Wurf? Können Sie so – das ist
Ihr Anspruch – wirklich dem Fachkräftemangel begeg-
nen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichern
und die Qualifikation der Bevölkerung auf Dauer erhal-
ten?

Sie selbst rechnen mit einem Anstieg – das muss ich
schon fast in Anführungszeichen setzen – der Zahl der
Geförderten von 134 000 im Jahr 2007 auf 160 000 im
Jahr 2012.


(René Röspel [SPD]: Immerhin!)


Selbst wenn ich nicht 50 Millionen Menschen zwischen
20 und 65 Jahren als potenzielle Adressaten lebenslan-
gen Lernens sehe, sondern nur 27 Millionen sozialversi-
cherungspflichtig Beschäftigte,


(Jörg Tauss [SPD]: Jahr für Jahr!)

geht es hier nicht einmal um einen Anstieg von 0,5 auf
0,6 Prozent oder – exakter – um einen Anstieg von et-
was mehr als 0,9 Promille. Damit verliert man sicher den
Führerschein, aber damit werden Sie mit Sicherheit nicht
dem Fachkräftemangel begegnen, die Wettbewerbsfä-
higkeit der Wirtschaft sichern und die Qualifikation der
Bevölkerung auf Dauer erhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Viel Lärm um verdammt wenig! Da graut mir nur noch
davor, dass die Finanzkrise massiv auf den Arbeitsmarkt
durchschlägt.

Schließlich zu Ihrem eigenen Anspruch, die Weiter-
bildung zur vierten Säule des Bildungssystems auszu-
bauen und mit bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen
eine Weiterbildung mit System zu etablieren: Außer star-
ken Worten in der ganzen Legislaturperiode wenig ge-
wesen, allenfalls Trostpflästerchen – und die oft noch an
den falschen Stellen!

Seit den 70er-Jahren, verstärkt seit Beginn der 80er-
Jahre, wird über die Notwendigkeit lebenslangen Ler-
nens diskutiert. Seit Anfang der 80er-Jahre ist es eine
politische Forderung, Weiterbildung zu einem Bestand-
teil des Bildungssystems zu machen. Nichts Wirksames
in dieser Richtung ist in dieser Legislaturperiode gesche-
hen. Die Weiterbildungsförderung bildet auch nach der
vorliegenden Gesetzesänderung einen Flickenteppich
unübersichtlicher Einzelmaßnahmen: von WeGebAU bis
zum Meister-BAföG – und das mit riesigen Lücken. Ein
konsistentes System der Förderung ist nicht erkennbar.
So können Bildungsbarrieren nicht überwunden werden.
So wird lebenslanges Lernen für die Mehrheit der Bevöl-
kerung keine tatsächlich erfahrbare Realität.

Dabei liegen die Reformvorschläge seit Jahren auf
dem Tisch. Die Bundesregierung selbst hat eine Exper-
tenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“
ins Leben gerufen, die umfassende Konzepte für eine
Stärkung der Weiterbildung vorgelegt hat. So forderte
die Kommission nicht nur eine Ausweitung bestehender
Leistungen, sondern ausdrücklich auch die Schaffung ei-
nes gemeinsamen Rahmens, unter dem diese Leistungen
vereint werden. Das waren wichtige Vorschläge für ei-
nen ganzheitlichen Ansatz in der Bildungsförderung.
Nur dafür, dass diese Vorschläge jetzt im Papierkorb ver-
schwinden, haben Sie doch wohl nicht so viel Geld be-
zahlt?

Die Linke hält die Umsetzung dieser Vorschläge nach
wie vor für elementar. Auch hier und heute wiederhole
ich unsere Forderung, nicht länger bei Flick- und Stück-
werk zu verharren, sondern mit einem Erwachsenenbil-
dungsförderungsgesetz verlässliche Rahmenbedingun-
gen für Nachfrager und Anbieter der Weiterbildung zu
schaffen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Sie fordern, wir arbeiten daran!)


So viel Mut werden Sie schon brauchen, damit Sie die
bislang doch recht hohle Formel vom lebenslangen Ler-
nen mit Leben erfüllen können.






(A) (C)



(B) (D)


Volker Schneider (Saarbrücken)

Ein letztes Wort zur FDP: Ihre Angst vor Bürokra-
tiemonstern macht Sie blind für die Erkenntnis, dass
kaum ein Markt so sehr versagt hat wie der Weiterbil-
dungsmarkt.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Da hat der Staat versagt!)


Dort herrscht in hohem Maße Intransparenz, da finden
Angebot und Nachfrage nur in seltenen Fällen zueinan-
der. Viel schlimmer als jedes noch so schlimme Bürokra-
tiemonster ist ein krebsartig wuchernder Wildwuchs in
diesem Bereich.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Pure Ideologie!)


Um dem abzuhelfen, braucht es Strukturen und ein
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500800

Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
muss Wasser in den Wein gießen.


(Jörg Tauss [SPD]: Oh!)


Denn was heute als großer Schritt der Koalition gefeiert
wird, ist in Wahrheit nur ein Trippelschritt im Bereich
des lebenslangen Lernens. Herr Schneider hat ja schon
angeführt, was im Koalitionsvertrag steht. Da heißt es,
dass die Weiterbildung „mit bundeseinheitlichen Rah-
menbedingungen“ zu einer „Weiterbildung mit System“
zu etablieren ist. Davon ist gegen Ende der Wahlperiode
wirklich nichts übrig geblieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass das Meister-BAföG fortentwickelt wird, ist


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sagen Sie es ruhig: Ist gut!)


ein sinnvoller Trippelschritt. Natürlich ist es auch sinn-
voll, im entsprechenden Gesetzentwurf dieses auch auf
zukunftsträchtige Berufsfelder wie Altenpfleger und Al-
tenpflegerinnen sowie Erzieherinnen und Erzieher aus-
zudehnen. Der Effekt, den Sie damit erzielen, nämlich
Weiterbildung für 26 000 Menschen mehr zu ermögli-
chen, ist zwar im Hinblick auf diesen Personenkreis gut
und sinnvoll,


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


aber in Bezug auf Ihr Vorhaben, die Weiterbildungsquote
von jetzt 43 Prozent auf 50 Prozent im Jahre 2015 zu
steigern,


(René Röspel [SPD]: Schaffen wir!)


ist das einfach nichts. Das müssen Sie doch heute auch
zur Kenntnis nehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Sonntagsreden und Ihr Alltagshandeln klaffen hier
weit auseinander.

Meine Damen und Herren, auch die Weiterbildungs-
prämie, über die ja immer wieder diskutiert wird und
die gerade von der Ministerin gerne ins Feld geführt
wird, bewahrt Sie nicht davor, dass Sie sich eingestehen
müssen, dass Sie Ihre eigenen Ansprüche nicht einlösen
können.


(Patrick Meinhardt [FDP]: So ist es!)


Eine Weiterbildungsprämie von 154 Euro kann nämlich
Individuen nicht dazu verführen, zusätzlich viel Auf-
wand und Zeit in Weiterbildung zu investieren und tat-
sächlich an formalisierten Weiterbildungsangeboten teil-
zunehmen. Mit den beiden jetzt von mir angesprochenen
Instrumentarien erreichen Sie die Weiterbildungsquote
von 50 Prozent nicht. Das muss heute klar und deutlich
gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch innerhalb des Systems entstehen durch die Re-
form des Meister-BAföG Probleme. Warum wird der
Kinderzuschlag teilweise nur als Darlehen gezahlt und
nicht generell als Vollzuschuss? Warum werden die Un-
terhaltszuschüsse im AFBG nicht in gleicher Weise ge-
regelt wie im BAföG? Warum sehen Sie einen Darle-
hensteilerlass für bestandene Prüfungen vor, obwohl Sie
die dafür nötigen Mittel zur Gewährung des Kinderzu-
schlages als Vollzuschuss einsetzen könnten?

Gerade wenn man Frauen für die Weiterbildung zur
Altenpflegerin oder zur Erzieherin interessieren will,
dann muss man wissen, dass diese Frauen in aller Regel
ganz wenig Geld haben, dass sie aber Kinder haben. Sie
brauchen einen Vollzuschuss. Die Menschen, die eine
Weiterbildung machen, brauchen keinen Darlehensteil-
erlass für das Bestehen einer Prüfung. Wer sich nach drei
Jahren Weiterbildung auf eine Prüfung vorbereitet, will
diese auch bestehen. Von daher setzen Sie innerhalb die-
ser Reform eine falsche Gewichtung. Wir sagen: Der
Trippelschritt ist in Ordnung. Aber wir enthalten uns,
weil noch nicht einmal dieser Schritt richtig ausgefeilt
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war ein Rittberger! Kompliziert eingesprungen!)


Wissen Sie, was das Hauptproblem ist? Das Haupt-
problem ist, dass Sie mit dem AFBG immer noch von
der klassischen Bildungsbiografie ausgehen: Man erlernt
einen Beruf, arbeitet ein paar Jahre und macht dann den
Meister, den Techniker oder eine Ausbildung zur Erzie-
herin oder Altenpflegerin. Das läuft aber der heutigen
Alltagsrealität und den heutigen Lebens- und Lernbio-
grafien völlig hinterher. Viele Menschen haben weder ei-
nen Schulabschluss noch einen Berufsabschluss. Sie ar-
beiten seit Jahren und wollen eine Weiterbildung
machen. Dafür brauchen sie aber einen Unterhaltszu-
schuss, weil sie oft schon eine Familie haben und aus ih-
rem Beruf nicht völlig aussteigen können. Diese Men-






(A) (C)



(B) (D)


Priska Hinz (Herborn)

schen stehen aber heute vor dem Nichts, wenn sie eine
Weiterbildung machen wollen, um den Berufsabschluss
nachzuholen.

Viele Menschen gehen nach dem Bachelor in den Be-
ruf und wollen später den Master nachholen. Darauf sind
diese Studiengänge im Sinne eines lebenslangen Lernens
schließlich ausgerichtet worden. Diese Menschen erhal-
ten aber wegen ihres Alters kein BAföG. Auch das Meis-
ter-BAföG bekommen sie nicht, weil sie eine akademi-
sche Laufbahn eingeschlagen haben.

Viele Menschen wollen im Sinne des lebenslangen
Lernens – man soll es kaum glauben – mehrere Weiter-
bildungen machen. Auch diese Menschen haben keine
Chance auf Förderung. Insofern ist das AFBG tatsäch-
lich nicht der große Wurf, als den Sie es heute feiern.

Wir legen Ihnen einen echten Alternativvorschlag
vor, der auf Rot-Grün und die Ergebnisse der Experten-
kommission „Finanzierung Lebenslanges Lernen“ zu-
rückgeht. Wir wollen ein Erwachsenenbildungsförde-
rungsgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir auch!)


Wir wollen ein Erwachsenen-BAföG. Die verschiedenen
Instrumente sollen transparent, verständlich und klar ge-
ordnet sein. Dann wird das kein Bürokratiemonster,
Herr Meinhardt. Die Instrumentarien müssen so auf-
einander abgestimmt werden, dass lebenslanges Lernen
auch für die Menschen möglich wird, die gebrochene
Biografien haben, die schon eine Familie haben und teil-
weise aus dem Beruf aussteigen wollen, um eine Weiter-
bildung zu machen.

Unser Erwachsenen-BAföG kennt keine Altersgren-
zen und auch keine Beschränkung auf Berufsgruppen
wie Meister, Techniker, Altenpfleger oder Erzieher. Un-
ser Erwachsenen-BAföG ist so ausgestaltet, dass alle
Menschen, die eine formale Weiterqualifikation anstre-
ben, die Möglichkeit erhalten, dies durch Zuschüsse,
Darlehen oder Bildungskredite zu erreichen, im wahrs-
ten Sinne des Wortes: je nach eigenem Vermögen. Das
ist ein modernes Instrument der Weiterbildung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Kämpfen wir dafür!)


Wir wollen, dass es einen Rechtsanspruch auf Förde-
rung von zertifizierter Weiterbildung gibt. Wir brauchen
flankierende Maßnahmen, und zwar in Form von Bera-
tung, Beratung, Beratung. Wir brauchen individuelle Be-
ratung für die verschiedenen Formen der Weiterbildung,
die heutzutage möglich sind. Wir brauchen Beratung für
die Finanzierungsmöglichkeiten, die es gibt. Diese Bera-
tung muss niedrigschwellig sein. Das ist ein ganz we-
sentliches Moment. Auch da haben Sie bis heute versagt.
Auf diesem Gebiet hat es schon viele Versprechungen
gegeben: beim Bildungsgipfel und entsprechende Forde-
rungen in der Koalitionsvereinbarung. Im Rahmen der
Weiterbildungsprämie wurde ebenfalls beschlossen: Wir
schaffen Beratungsstrukturen. – Geschehen ist bislang
nichts.

Nötig sind aber Beratungsstrukturen, die so niedrig-
schwellig sind, dass die Menschen zu diesen Beratungs-
stellen tatsächlich hingehen und die notwendige indivi-
duelle Förderung und Unterstützung erhalten. Wir
plädieren nach wie vor dafür, Kooperationsstrukturen zu
nutzen, um die Beratung in den Verbraucherberatungs-
stellen anzusiedeln.

Notwendig ist Beratung für die KMU; denn gerade
Fachkräfte in den kleinen und mittleren Betrieben sind
heute zu wenig in der Weiterbildung präsent. Es reicht
nicht, ein Programm wie WeGebAU aufzulegen und
BA-Mitarbeiter in die Betriebe zu schicken. Das ist ver-
fehlt.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist zu wenig, aber gut ist es!)


Wir brauchen Beratungsstrukturen für die KMU, die
es ermöglichen, dass die einzelnen Betriebe dahin ge-
hend beraten werden, wie sie sich selber weiterentwi-
ckeln können und welche angepassten Weiterbildungs-
strukturen sie etablieren können. Da liegen Sie weit
hinter dem zurück, was selbst in Großbritannien möglich
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem brauchen wir ein Bildungssparprojekt,
das nicht nur auf eine Weiterbildungsprämie in Höhe
von 154 Euro setzt, sondern Bildungssparkonten für alle
erwachsenen Menschen möglich macht. Wir brauchen
eine Förderung für das Bildungssparen, das besonders
die Geringqualifizierten begünstigt, die eben auch Ge-
ringverdiener sind. Dieses Instrument des Bildungsspa-
rens soll wie die steuerlichen Anreize wirken, die den
Hochqualifizierten und Gutverdienenden zugutekom-
men. Wer mit einer guten Qualifikation und einem hohen
Einkommen eine Weiterbildung macht, erhält steuerliche
Anreize durch Anrechnung auf das zu versteuernde Ein-
kommen. Wer hingegen nur ein geringes Einkommen
hat, hat diese steuerlichen Anreize nicht. Insofern ist ein
Bildungssparkonto mit einer besonders hohen Prämie
wichtig für diejenigen, die geringqualifiziert und gering-
verdienend sind. Darauf haben Sie mit Ihrem Weiterbil-
dungssparmodell überhaupt nicht geachtet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620500900

Frau Kollegin.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich komme zum Schluss. – Deswegen wird es in die
Leere laufen.

Meine Damen und Herren – –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620501000

Nein, Sie können jetzt wirklich nicht zu einem weite-

ren Abschnitt kommen.






(A) (C)



(B) (D)

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Nein, das ist kein weiterer Abschnitt, sondern der
letzte Satz.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620501100

Sie wollten also nur noch ein Schlusswort sprechen;

das ist schön.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. – Weil die
Große Koalition sich mit Kleinigkeiten zufrieden gibt,
ist es eben kein großer Tag für die Weiterbildung. Es
wird erst ein großer Tag, wenn wir das Erwachsenenbil-
dungsgesetz im Bundestag beschlossen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620501200

Das Wort hat nun der Kollege Michael Kretschmer

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1620501300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! In dieser Legislaturperiode wird ein deutlicher
Schwerpunkt auf Innovation und Fortschritt gesetzt.
Keine Bundesregierung in der Geschichte der Bundesre-
publik Deutschland hat so viel wie diese für Forschung
und Entwicklung getan. Denn wir alle wissen, dass wir
nur mit den besten Produkten und mit Innovation unse-
ren Lebensstandard in Deutschland halten können.

Wir haben uns in einer ganz umfassenden Weise für
Bildung und Forschung eingesetzt: Wir haben die Exzel-
lenzinitiative auf den Weg gebracht, um Spitzenwissen-
schaftler und den Nachwuchs in den Naturwissenschaf-
ten zu fördern. Wir haben das BAföG erhöht, um den
akademischen Nachwuchs zu fördern.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Vergessen Sie nicht Frau Bulmahn! – Ulla Burchardt [SPD]: Wir setzen fort, was Frau Bulmahn angefangen hat!)


Wir haben den Bildungsgipfel auf den Weg gebracht,
Frau Kollegin, um in einem nationalen Kraftakt zwi-
schen Ländern und Bund etwas für die Bildung zu tun,
und zwar von den Gymnasiasten bis hin zu den Kindern
in der vorschulischen Bildung. 10 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts für Bildung und Forschung ausgeben zu
wollen, das ist eine gewaltige Aufgabe, die wir gemein-
sam angehen. Damit setzen wir ein deutliches Zeichen.

Was wir heute tun, ist nicht minder wichtig. Es ist die
Fortführung dieser Politik für Bildung, die das Verspre-
chen beinhaltet, dass Aufstieg und Wohlstand durch Bil-
dung erreicht werden können. Die ganze Welt ist voller
Anerkennung für die deutschen Meister, Techniker und
Fachwirte. Sie sind unsere Praxiselite. Ihr Fachwissen,
ihre Führungskompetenz sind der Schlüssel zum Erfolg.
Sie sind die Basis für die Qualität „Made in Germany“,
den größten Wettbewerbsvorteil, den Deutschland hat.

Aus diesem Grund setzen wir in diesem Bereich ganz
konsequent eine Politik fort, die wir 1996 mit dem da-
maligen Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers begon-
nen haben, der das Meister-BAföG eingeführt hat. Im
Jahr 2007 wurden damit insgesamt 134 000 Personen
gefördert. Allein diese Zahl zeigt, zu welch großem Er-
folg die Politik von Jürgen Rüttgers geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Vergessen Sie nicht Frau Bulmahn! Die Fairness gebietet es!)


Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deswegen
werden wir gemeinsam in der Koalition die Ausgaben
für das Meister-BAföG deutlich erhöhen und die Förder-
konditionen verbessern. Wir werden den Kreis der För-
derberechtigten deutlich ausweiten und mehr Geld in
diesem Bereich ausgeben.

Wir wollen, dass auch die in Deutschland lebenden
Ausländer, die hier ausgebildet wurden, in Zukunft von
diesen Möglichkeiten profitieren können; denn wir brau-
chen auch diese Fachkräfte und wollen sie mobilisieren.
Wir wollen dieser Gruppe in unserer Bevölkerung eine
Chance geben und sie mitnehmen.

Meine Damen und Herren, die Fortbildung soll auch
in einem anderen Bereich, nämlich in der Altenpflege,
in Zukunft gefördert werden. Dies ist ein wichtiger Be-
reich. Gerade hier ist Qualität notwendig. Wir wollen
denjenigen, die in Pflegeheimen arbeiten, die Chance ge-
ben, sich weiterzuqualifizieren und ein höheres Einkom-
men zu erzielen. Auch hier gilt: Aufstieg durch Bildung.

Wir wollen den beruflichen Aufstieg bzw. die Höher-
qualifizierung des Einzelnen erreichen. Dafür setzen wir
klare Leistungsanreize. Beim Bestehen der Fortbil-
dungsprüfung gibt es einen Erlass von 25 Prozent auf die
Restdarlehensschuld. Wir wollen damit die Abbrecher-
quote von 20 Prozent, die im Vergleich zu der im Stu-
dium eher gering ist, weiter senken.

Wir wollen und werden für Unternehmensgründun-
gen etwas tun: Diejenigen, die nach der Qualifizierung
ein Unternehmen gründen und ausbilden, sollen stärker
davon profitieren. Wir werden einen Anreiz für Ausbil-
dung in diesem Bereich schaffen. Diejenigen, die ausbil-
den, werden noch stärker gefördert.

Dieser Gesetzentwurf zum Meister-BAföG, der Ent-
wurf eines Aufstiegsqualifizierungsgesetzes, ist ein
wichtiger Schritt. Wir lassen ihn uns nicht kleinreden.
Im Gegenteil: Wir sind stolz darauf. Wir glauben, dass
wir damit Aufstieg durch Bildung und Wohlstand durch
Qualifikation erreichen. Das gilt für jeden Einzelnen;
das gilt aber vor allen Dingen für unseren Wirtschafts-
standort Deutschland. Das Meister-BAföG leistet dazu
einen wichtigen Beitrag. Deswegen werben wir für eine
breite Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620501400

Cornelia Pieper ist die nächste Rednerin für die Frak-

tion der FDP.


(Beifall bei der FDP)



Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1620501500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Kretschmer,
bei aller berechtigten Zustimmung, die Sie von der FDP
zur Änderung des AFBG erhalten, sollte man doch bei
der Wahrheit bleiben. Wir alle wissen, dass Deutschland
mehr Bildungsinvestitionen braucht, dass wir im interna-
tionalen Vergleich hinterherhinken und dass wir bei den
Bildungsinvestitionen immer noch unter dem OECD-
Durchschnitt liegen. Dass Deutschland inzwischen
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und
Forschung ausgibt, ist immer noch eine Mär. Sie haben
dies auf dem Bildungsgipfel nicht beschlossen, sondern
angekündigt. Sie haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
Wir wissen natürlich, dass wir mehr in Bildung investie-
ren müssen. Wir wollen auch mehr in Bildung investie-
ren. Wir können Ihnen aber nur sagen: Machen Sie es
und reden Sie nicht nur darüber! Das wäre eine Politik,
die glaubwürdig ist und nicht auf Märchen beruht.


(Beifall bei der FDP)


Ich will meinem Kollegen Schneider von den Linken
sagen: Ich halte das, was Sie zu den Weiterbildungs-
unternehmen gesagt haben, für einen Skandal. 84 Pro-
zent der Weiterbildungsunternehmen leisten eine gute
Bildungsarbeit und behaupten sich auf dem Bildungs-
markt mit qualitativ hohen Standards. Ich finde, das
sollte man einmal anerkennen. Sie haben die freien Wei-
terbildungsträger hier diffamiert. Dies unterstützen wir
auf keinen Fall. Wir sind für eine verantwortungsvolle
Politik und sind dagegen, dass man Bildungsunterneh-
men in ein Licht stellt, das ihnen nicht gerecht wird,
bzw. ihr Licht unter den Scheffel stellt. Ihre Behauptung
möchte ich, auch im Namen der Bildungsunternehmen,
zurückweisen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620501600

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schneider?


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1620501700

Nein. Das, was er hier gesagt hat, kann durch eine

Zwischenfrage nicht besser werden.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da ist eine Menge Selbstgerechtigkeit bei der FDP!)


Die größte soziale Herausforderung, vor der wir in
diesem Land stehen, ist, bessere Bildungschancen für
junge Menschen zu schaffen. Aufstieg durch Bildung,
hat der Bundespräsident dazu zu Recht gesagt. Heute
können wir sagen: Aufstieg durch Aufstiegsfortbildung.
Das ist das beste Konjunkturprogramm. Das ist die beste
Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und natürlich auch
gegen Perspektivlosigkeit im Leben.
Uns allen ist bewusst, dass die Arbeitslosenquote bei
Akademikern sehr niedrig ist. Sie liegt bei 3 Prozent. Ich
glaube nicht nur, dass wir mit dem Gesetz, das wir heute
verabschieden, dem Ziel, eine Gleichwertigkeit von aka-
demischer und beruflicher Bildung herzustellen, näher-
kommen, sondern auch, dass wir mit diesem Gesetz
gewährleisten können, dass bei Personen, die durch Qua-
lifikation aufsteigen, die Arbeitslosenquote sinkt. Das ist
uns wichtig.


(Beifall bei der FDP)


Je höher die Qualifizierung, desto niedriger die Arbeits-
losenquote; das wissen wir. Deswegen unterstützen wir
die Novelle des AFBG nachdrücklich.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wis-
sen, dass wir bereits im Winter 2007 die BAföG-
Reform mitgetragen und damit die Situation der Studie-
renden mit BAföG-Anspruch verbessert haben. Auch das
war uns wichtig. Es ging uns darum, einen größeren Teil
des Nachwuchses auf ein möglichst hohes Qualifika-
tions- und Kompetenzniveau zu bringen. Das ist das Ziel,
das wir in diesem Land verfolgen sollten. Deswegen be-
grüßen wir, dass mit diesem Gesetzentwurf Änderungen
vorgenommen werden, die zu einer Verbreiterung der
Zielgruppe und zur Senkung der Zugangshürden führen.

Natürlich muss – auch das sagen wir ganz deutlich –
noch mehr getan werden. Deswegen hat die FDP einen
Entschließungsantrag vorgelegt. Wir sehen die Notwen-
digkeit, die Förderfähigkeit mittelfristig auf mehr als
eine Maßnahme der Aufstiegsfortbildung auszuweiten.


(Beifall bei der FDP)


Gerade in der Wissensgesellschaft brauchen wir eine
stärkere Orientierung auf lebenslanges Lernen. Nach un-
serer Auffassung ist die Förderung mehrerer Aufstiegs-
fortbildungen genauso wichtig wie die Anerkennung von
Fortbildungsmodulen.

Ferner meinen wir, dass wir unseren Blick – das hat
Herr Rossmann zu Recht angesprochen – insbesondere
auf die Frauen richten müssen, die Maßnahmen nach
dem AFBG nutzen können. 34 Prozent nutzten diese
Maßnahmen im Berichtsjahr 2007. Während die Frauen
die akademische Bildung förmlich erobert haben – die
Mehrheit der Hochschulabgänger ist weiblich, wie wir
wissen –, ist es im Bereich der beruflichen Bildung, bei
der Aufstiegsfortbildung nicht so. Durch die Aufnahme
des Altenpflege- und des Erzieherberufs in den Katalog
wird sich eine Verbesserung ergeben; das ist klar. Wir
meinen, dass man auch bei den Gesundheitsberufen ei-
nen Schritt voran hätte gehen können, indem man auch
die Gesundheitsberufe – also Ergotherapeuten, Physio-
therapeuten und Logopäden – in den Katalog aufgenom-
men hätte. Das wäre gut gewesen, gerade für die Frauen
in diesem Land.


(Beifall bei der FDP)


Frau Ministerin, schließlich will ich Ihnen mit auf den
Weg geben: Sie haben zu Recht gesagt, dass wir mit der
Novelle des AFBG einen wichtigen Schritt seitens des
Bundes tun, aber viele Länder noch nachziehen müssen.
Das wissen wir. Wir müssen darauf drängen, dass die






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Pieper
notwendigen landesrechtlichen Regelungen geschaffen
werden, damit das AFBG gerade im Bereich der Alten-
pflege- und der Erzieherberufe bundesweit Wirksamkeit
entfalten kann. Bis heute ist das AFBG in zehn Bundes-
ländern noch nicht anerkannt. Das ist die Mehrheit der
Bundesländer in Deutschland. Ich denke, angesichts des-
sen muss man als Bundesministerin Druck auf die Bun-
desländer ausüben, damit es umgesetzt wird.


(Jörg Tauss [SPD]: In wie vielen Länder regiert ihr eigentlich zwischenzeitlich mit? – Gegenruf des Abg. Jörg van Essen [FDP]: Gott sei Dank in immer mehr!)


– Es sind viele, Herr Tauss.


(Jörg Tauss [SPD]: Dann macht mal!)


Ich weiß, dass Ihnen das Sorge bereitet, aber das ist jetzt
nicht das Thema.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620501800

Frau Kollegin.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1620501900

Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Rede. –

Sorgen Sie dafür, dass insbesondere bei der Erzieherin-
nen- und Erzieherausbildung die Qualität zunimmt. Das,
was die Ministerin geleistet hat, das Internetportal, trägt
sicher nicht zu einer Steigerung der Qualität der Erzie-
herausbildung bei. Wir erwarten eine Weiterbildungs-
offensive, die diesen Namen wirklich verdient, insbeson-
dere für den Erzieherberuf in Deutschland.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620502000

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker

Schneider das Wort.


Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620502100

Frau Kollegin Pieper, als jemand, der 16 Jahre lang

als Dozent in der beruflichen Weiterbildung gearbeitet
hat,


(Jörg Tauss [SPD]: Das sind Sie!)


bin ich sicherlich der Allerletzte, der in irgendeiner
Form Weiterbildungsunternehmen und die Kolleginnen
und Kollegen in diesen Weiterbildungsunternehmen be-
leidigt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD], an Abg. Cornelia Pieper [FDP] gewandt: Sie haben doch einen Popanz aufgebaut!)


Im Gegenteil, ich halte es, nachdem wir im Weiterbil-
dungsbereich jetzt Mindestlöhne haben, nach wie vor für
einen Skandal, dass man Akademikern zumutet, für
1 800 Euro in solchen Unternehmen zu arbeiten. Es ist
fantastisch, dass sie dennoch eine so hervorragende Ar-
beit leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Ich empfehle Ihnen, nachzulesen, was ich in meiner
Rede gesagt habe. Ich habe gesagt, dass dieser Markt
versagt – das sind nicht die Unternehmen –; denn auf
diesem Markt herrscht ein erschreckendes Maß an In-
transparenz. Jeder dort oben auf den Tribünen, der schon
einmal versucht hat, irgendwo an einer Weiterbildungs-
maßnahme teilzunehmen


(Jörg Tauss [SPD]: Auch hier unten! – Heiterkeit)


– ja, auch hier unten –, wird die Erfahrung gemacht ha-
ben, wie schwierig es ist, das passende Angebot zu fin-
den. Das ist das Problem: Dieser Markt ist intransparent,
und Angebot und Nachfrage finden nicht zueinander.
Dies allerdings erkennen Sie in Ihrer bornierten Sicht auf
den Markt überhaupt nicht an.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Vor lauter Schrecken über angebliche Bürokratiemonster
begreifen Sie noch immer nicht, dass die wahre Gefahr
auf diesem Markt das wie ein Krebsgeschwür wu-
chernde Angebot ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620502200

Frau Pieper zur Erwiderung.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1620502300

Herr Schneider, ich glaube nicht, dass wir durch sol-

che polemischen Diskussionen dazu beitragen werden,
dass wir in Deutschland eine bessere Qualität im Bereich
der beruflichen Weiterbildung und Fortbildung erreichen
werden. Deswegen will ich diese polemische Form der
Auseinandersetzung auch nicht fortführen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie haben sie aber angefangen! – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sie haben angefangen!)


Für die Freien Demokraten mache ich noch einmal
deutlich, dass es uns darum geht, dass Angebot und
Nachfrage auf dem Bildungsmarkt funktionieren. Das
heißt aber auch, dass man Wettbewerb zwischen den
Bildungsträgern zulassen muss


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber zu welcher Qualität?)


und diesen Markt nicht überregulieren und durch neue
Gesetze blockieren darf. Ich erinnere Sie daran, dass
viele freie Weiterbildungsunternehmer gerade auch
durch Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit daran
gehindert wurden, ihre Angebote zu machen, sodass sie
letztendlich ihre Angebote nicht unterbreiten konnten.
Dann ist es für solche Bildungsunternehmen auch
schwer, sich auf dem Markt zu behaupten. Zu viel Staat,
zu viele Gesetze sind für diesen Markt nicht gut. Wir
müssen den Rahmen setzen und dafür sorgen, dass die






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Pieper
Qualität der Bildungsunternehmen gut ist, dass bei ihnen
die Qualität und die Zertifizierung stimmen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Deswegen müssen wir Regeln schaffen!)


Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, zu verhindern,
dass Angebot und Nachfrage auf dem Bildungsmarkt
funktionieren.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620502400

Nun hat der Kollege Dieter Grasedieck für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dieter Grasedieck (SPD):
Rede ID: ID1620502500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wer die Zukunft gewinnen will, darf an der Bil-
dung nicht sparen. Genau dies ist das Ziel dieses Geset-
zes. Auch deshalb begrüßen die Gewerkschaften, die In-
dustrie und das Handwerk dieses Gesetz. Eine solche
Kombination gibt es ja selten. Insgesamt geht es hier um
eine Steigerung von 60 Prozent. Jeder Jugendliche hat
eine Chance und bekommt eine Möglichkeit der Weiter-
bildung. Ältere Menschen können sich fit machen und
die Herausforderungen des Marktes annehmen. Die ei-
gentliche Botschaft des Gesetzes lautet: Macht mit, eure
Qualifikation wird gefördert! Damit führt die Koalition
jetzt das fort, was Edelgard Bulmahn damals eingeführt
hat. Wir wollen durch solche Initiativen auch unseren
Status als Exportweltmeister erhalten.


(Beifall bei der SPD)


Handwerk und Industrie suchen heute schon Fach-
arbeiter, sie suchen händeringend Ingenieure und andere
Akademiker. Eine weitere Herausforderung, die man na-
türlich berücksichtigen muss, stellen die sinkenden Ge-
burtenzahlen dar, was man in Deutschland besonders
deutlich sieht. Das bedeutet, dass es wesentlich mehr äl-
tere und weniger jüngere Menschen gibt. Dies führt
dazu, dass wir unbedingt qualifizieren müssen. Auf der
anderen Seite gehen ältere Menschen natürlich auch in
Pension. Wir brauchen eine langfristige Planung. Für die
Qualifizierung ermöglichen wir durch diesen Gesetzent-
wurf eine langfristige Planung. Auch Betriebe und der
öffentliche Dienst müssen dies bieten. Es fehlt an der ei-
nen oder anderen Stelle, ist aber unbedingt erforderlich.

Unsere Betriebe brauchen qualifizierte Facharbeiter,
und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen
Qualifizierungsmöglichkeiten. Denn der Wissensstand
steigt. Tagtäglich kommen neue Patente hinzu. Die Ar-
beitsprozesse verändern sich dramatisch. Im Bereich der
kaufmännischen Arbeit sieht man das besonders deut-
lich. Der Informationsfluss ist heute wesentlich schnel-
ler. Schauen Sie sich einmal die Technik an. Vergleichen
Sie einmal den Beruf des Drehers von vor 15 Jahren mit
dem des Zerspanungsmechanikers von heute. Hier sieht
man besonders deutlich, dass man eine Qualifizierung
benötigt. Der Dreher hat eine handwerkliche Arbeit ver-
richtet, während der Zerspaner mehr und mehr eine theo-
retische Arbeit durchzuführen hat. Auch dieses Beispiel
zeigt: Wir brauchen eine kontinuierliche Weiterbil-
dung.

Der Gesetzentwurf der Koalition bietet viele Qualifi-
zierungsmöglichkeiten. Da kann man nicht von Stück-
werk oder von Trippelschritten sprechen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marion Seib [CDU/CSU])


Das ist ein Gesamtkonzept. Ist es kein Gesamtkonzept,
wenn man die eigentlichen Probleme aufgreift, zum Bei-
spiel den Mangel an Ausbildungsplätzen? Ausbildungs-
plätze für Jugendliche und für Altbewerber werden auch
dadurch gefördert, dass man die Existenzförderung mit
berücksichtigt. Das ist ein wichtiger Punkt. Ist es kein
Gesamtkonzept, wenn man die frühkindliche Erziehung
in den kommenden Jahren für entscheidend hält und des-
halb eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen und
der Erzieher erreichen möchte? Ist es kein Gesamtkon-
zept, wenn man die Migranten berücksichtigt, wenn man
zum Beispiel den ausländischen Jugendlichen, die länger
in Deutschland leben, eine Weiterbildungschance, eine
Ausbildungschance bietet? Ist es kein Gesamtkonzept,
wenn die Seniorenbetreuung in den Blick genommen
wird?


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Hospizpflege muss
verbessert werden. Wir brauchen auch eine Verbesse-
rung der Pflege der Senioren. Auch das ist in diesem Ge-
setzentwurf berücksichtigt.

Ein Punkt ist besonders entscheidend: Unsere Leis-
tungsträger, unsere Stützen der Industrie und des Hand-
werks werden weiterqualifiziert. Die Ausbildung der
Meister, Techniker und Fachwirte wird ganz besonders
gefördert. Wir benötigen mehr Meister.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marion Seib [CDU/CSU])


Denn eines muss man sehen: Meistermangel ist gleich-
zeitig Fachkräftemangel, und zwar aus dem einfachen
Grund, weil eine Ausbildung im Handwerk nur durch ei-
nen Meister durchgeführt werden kann. Deshalb brau-
chen wir in der Zukunft mehr Meister. Unsere Ausbil-
dung wird in der Welt anerkannt. Unsere Meister werden
zum Beispiel in England, in Frankreich und auch in Ös-
terreich gesucht. Ist es kein Gesamtkonzept, wenn man
bei allen Weiterbildungsmaßnahmen die Familienkom-
ponente berücksichtigt? Kinder werden unterstützt.

Ich meine, dass dies ein gelungener Gesetzentwurf
ist. Wir von der CDU/CSU und SPD haben ihn gemein-
sam erarbeitet. Die Wissensexplosion, die eigentliche
Herausforderung des Jahrhunderts, erfordert lebenslan-
ges Lernen. Dafür brauchen wir mehr Ausbildungs-
plätze. Die schleichende Dequalifizierung muss verhin-
dert werden. Wir können das nur durch solche
Maßnahmen verhindern, wie sie hier aufgeführt wurden.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marion Seib [CDU/CSU])







(A) (C)



(B) (D)


Dieter Grasedieck
Nur so ist ein Wissensvorsprung erreichbar und erhaltbar.
Um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu er-
halten, müssen wir unsere Facharbeiter und Ingenieure
qualifizieren. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz.

Zusammenfassend kann man feststellen: Deutsch-
land braucht auch in der Zukunft kreative, innovative
Fachkräfte. In der Vergangenheit haben unsere Fachar-
beiter, Ingenieure, Fachwirte, Techniker und Akademi-
ker ihr Können längst bewiesen. Das Können und die
Fähigkeiten müssen weiterentwickelt werden. Das kön-
nen wir durch die Qualifizierungsmaßnahmen, die wir
eingeführt haben. Nur so gewinnen wir die Zukunft.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620502600

Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1620502700

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe

Kollegen! Liebe Frau Hinz, ich mag Sie. Ich muss Ihnen
aber sagen: Ihre Reden haben immer den Dreiklang:
Man sollte, man könnte, man müsste.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! So ist es! Man muss ja auch einiges tun!)


Der Punkt ist, dass die Große Koalition konkret und
Schritt für Schritt etwas im Sinne der beruflichen Bil-
dung bewegt. Dafür steht auch die Reform der Auf-
stiegsförderung bzw. des alten Meister-BAföG.

Wenn man solche Reden hält wie Sie, Frau Hinz,
dann sollte man auch einmal in den Rückspiegel
schauen. Das erste Problem, das die Große Koalition zu
lösen hatte, war, dass Sie damals die agenturgeförderte
Weiterbildung, die Berufsorientierung und die Berufsbe-
ratung – teilweise durch die Hartz-Gesetze – in Grund
und Boden geschossen haben.


(Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


Das haben wir korrigiert. Das wird auch am Instrument
der Kurzarbeit deutlich. Wir wollen sie nicht nutzen, um
den Menschen eine Prämie dafür zu zahlen, dass sie zu
Hause bleiben; vielmehr wollen wir Kurzarbeit mit Qua-
lifizierung und Förderung verbinden.

Ein weiterer Punkt. Ein Kernelement des Meister-
BAföG ist der Meisterbrief. Im Rahmen der Hand-
werksnovelle 2004 konnte noch in letzter Minute, übri-
gens auch vonseiten der Union und des Handwerks,
durchgesetzt werden, dass neben der Gefahrengeneigt-
heit auch die Ausbildungsleistung im Handwerk für den
Erhalt des Meisterbriefes gewertet wird.
Herr Kollege Grasedieck hat zu Recht darauf hinge-
wiesen, dass der Meisterbrief zur Lösung des Problems
des Facharbeitermangels beitragen kann; denn ein Meis-
ter bildet auch aus. Wir haben festgestellt: Dort, wo der
Meisterbrief weggefallen ist, beispielsweise bei den
Fliesenlegern oder bei den Parkettbodenlegern, hat die
Meisterkultur von 2005 bis zum letzten Jahr dahin ge-
hend Schaden gelitten, dass nicht mehr 560 Meister-
briefe, sondern nur noch 90 Meisterbriefe pro Jahr aus-
gehändigt werden.

Das hat die Konsequenz, dass die Zahl der Betriebe in
diesen Bereichen um 342 Prozent gestiegen ist, dass aber
die Zahl der Ausbildungsplätze um 20 Prozent gesunken
ist. Fast alle diese Betriebe sind Ein-Mann-Unternehmen
bzw. Ein-Frau-Unternehmen, die in Konkurrenz zu Hand-
werksbetrieben mit sozialversicherungspflichtigen Ar-
beitsplätzen stehen. Über diesen Irrweg sollten wir mit-
einander und mit der Gruppe Wirtschaft im Sinne des
Meister-BAföG noch einmal diskutieren. Wir sollten
darüber nachdenken, ob wir an dieser Stelle eine Korrek-
tur vornehmen können. Als es damals um diese Rege-
lung ging, saßen die Grünen übrigens in der ersten Reihe
und waren an der Regierung beteiligt.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, richtig! So war es!)


Sie haben Beifall geklatscht, als dieser Irrweg beschrit-
ten worden ist. Auch das gehört zur Wahrheit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])


Im Handwerk gibt es mittlerweile 500 000 Auszubil-
dende. Daran wird deutlich, dass es beim Handwerk nicht
nur um Wirtschaft geht – die FDP nickt freundlich –, son-
dern auch um eine Ausbildungskultur, die wir stärken
müssen und nicht schwächen dürfen. Das Potenzial un-
seres Landes ist nicht das Erdöl und sind nicht die Erze,
sondern qualifizierte und motivierte Menschen. Bildung
ist auch der Schlüssel zur Lösung sozialer und wirt-
schaftlicher Probleme. Weiterbildung bringt Beteili-
gungschancen für die Menschen, aber auch Beteili-
gungschancen für unsere Volkswirtschaft.

Schon heute wird uns vom Institut der deutschen
Wirtschaft prognostiziert, dass der deutschen Wirtschaft
aufgrund des Facharbeitermangels jährlich Aufträge in
einer Größenordnung von 18,5 Milliarden Euro verlo-
ren gehen. Dies zeigt, dass mangelnde Qualifikation be-
reits heute ein großes Wachstumshemmnis für die bun-
desdeutsche Wirtschaft ist. Hinzu kommt, dass der
Anteil der an unseren Hochschulen Studierenden, die
kein Abitur haben, bisher nur 2 Prozent beträgt. In den
skandinavischen Ländern liegt er bei über 20 Prozent.
Ich glaube, dass mehr Praktiker an den Hochschulen so-
wohl für die Universitäten als auch für unser Land gut
wären.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch auch einmal etwas zur Finanzierung! Wie sollen diese Menschen denn ihren Unterhalt finanzieren?)







(A) (C)



(B) (D)


Uwe Schummer
Im Übrigen ist die Aussage von Herrn Schneider, dass
ein 30-Jähriger, der aus der beruflichen Weiterbildung
kommt und im Anschluss daran eine Hochschule besu-
chen möchte, kein BAföG mehr bekommt – auch wenn
das in der Anhörung so gesagt worden ist –, falsch. Für
Studierende, die aus der beruflichen Weiterbildung kom-
men, gibt es Ausnahmeregelungen, sodass auch sie
BAföG beantragen können. Das ist ein wichtiger Punkt.
Er ist allerdings bereits Realität.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Mir ging es aber um die BachelorAbsolventen!)


Bei dieser Reform geht es darum, das Meister-BAföG
weiter zu verbessern. Wir wollen konkrete Schritte nach
vorne machen, statt Fata Morganas aufzuzeigen. Wenn
durch die Verbesserung der Förderung die Zahl der Ge-
förderten um 20 Prozent steigt, dann sind es mehrere
Zehntausend Menschen zusätzlich, die in den Genuss
von Meister-BAföG kommen.


(Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] und Dieter Grasedieck [SPD])


Wenn wir statt der Darlehensleistung den Zuschuss bei
erfolgreichem Abschluss von bisher 30,5 Prozent auf
fast 48 Prozent verbessern, dann ist auch dies eine wich-
tige Hilfe für diejenigen, die diesen Weg beschreiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ganz wichtig ist die Öffnung für Pflege- und Erzie-
hungsberufe, ein Zukunftsfeld der Arbeit. Auch hier
schaffen wir Optionen. Erstmals können wir mit den
Ländern bundeseinheitliche Standards für Erziehungs-
und Pflegeberufe entwickeln.

Mut zum Risiko wird belohnt: Wenn ein Absolvent
zum Unternehmensgründer wird und ausbildet, sein
Wissen weitergibt, erhöht sich der Zuschuss, reduziert
sich der Darlehensanteil.

Dass nicht nur die erste, sondern eine Weiterbildung
gefördert wird, sorgt dafür, dass nicht derjenige bestraft
wird, diejenige bestraft wird, die aus eigenen Mitteln
oder mit einer anderen Finanzierung eine Weiterbildung
bereits absolviert hat.

Hinzu kommt die verbesserte Förderung von Fami-
lien und die Einbeziehung der Prüfungsphase.

Das Gesetz leitet also sehr konkrete, zielgerichtete
Schritte zur Verbesserung der Weiterbildung ein. Es ist
ein Beitrag der Großen Koalition zur Umsetzung der Be-
schlüsse des Bildungsgipfels mit den Ländern. Die natio-
nale Bildungskonferenz, die in Dresden stattgefunden
hat und die sich die Aufgabe gestellt hat, darauf hinzu-
wirken, dass für Bildung und Forschung in den nächsten
Jahren öffentliche Mittel im Umfang von bis zu
10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eingesetzt wer-
den, sollte eine ständige Einrichtung werden,


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aus öffentlichen Mitteln! Bravo!)

weil damit die Koordination, das Zusammenwirken von
Bund und Ländern, sichergestellt werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Ich sehe große Euphorie bei der SPD; das wird bei der
CDU/CSU sicher auch noch zunehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Rechts noch nicht so! Das steigert sich!)


Aufstiegsfortbildung ist ein Teil der vorhandenen
Instrumente, die wir, Christliche Demokraten und
Christlich-Soziale Demokraten und Sozialdemokraten,
miteinander geschaffen haben. Hinzu kommen die Sti-
pendien für Berufsausbildungsabsolventen, die beson-
ders exzellent sind; mehr als 15 000 Menschen werden
gefördert. Die Bildungsprämie ist mehrfach – auch kri-
tisch – angesprochen worden; aber sie ist ein neues In-
strument, ein Instrument, an dem wir weiter arbeiten
können. Hinzu kommt die Öffnung der Vermögensbil-
dung – neben Bausparen und Produktivsparen – für das
Bildungssparen, hinzu kommen aber auch Weiterbil-
dungsdarlehen und Langzeitkonten für Qualifizierungs-
phasen. Es gibt einen roten Faden.

Ich habe noch 0,3 Sekunden Zeit. Liebe Freunde, ich
möchte abschließen mit dem, was Ludwig Erhard in sei-
nem Manifest ‘72 formulierte: Nicht Privilegien, son-
dern persönliche Leistungen legitimieren den berufli-
chen Aufstieg in der sozialen Marktwirtschaft. – Das ist
die Politik der Union.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620502800

In der gefühlten Zeit des Präsidiums hat der Kollege

Schummer die verbliebenen 0,3 Sekunden optimal ge-
nutzt.


(Heiterkeit)


Nun erhält als letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt der Kollege Jörg Tauss das Wort.


(Beifall bei der SPD)


Ihm stehen dafür sieben Minuten zur Verfügung.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1620502900

Recht herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben

Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der SPD-Fraktionsvorsit-
zende hat diese Woche gefragt, ob uns nichts Schöneres
als „Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ eingefallen
sei. Wir haben darüber nachgedacht. Ich werde im Wei-
teren vom „Aufstiegs-BAföG“ reden. Ich glaube, dass
diese Formulierung, die analog zum Meister-BAföG ist,
dem Sachverhalt gerecht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was wir hier heute beschließen, ist, glaube ich, die
richtige Antwort auf die Krise, über die ja im Moment
viel diskutiert wird. Wir brauchen in Deutschland – das
ist festzustellen, egal wie tief das Tal ist oder in den
nächsten Jahren noch wird – Fachkräfte, mit denen wir






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Tauss
unseren wirtschaftlichen Erfolg – wir sind Exportnation
Nummer eins – fortsetzen können. Dieser wirtschaftli-
che Erfolg sichert erst die sozialen Leistungen. Insofern
ist das, was wir heute beschließen, in der Tat ein wichti-
ger Baustein.


(Beifall bei der SPD)


Allen, die kritisieren, dass die Mittel nicht reichen
würden, will ich sagen: Auch die Maßnahmen, um die es
heute geht, stehen nicht für sich allein. Ich war letzte
Woche im Wahlkreis in Karlsruhe in einer Einrichtung
des Handwerks. 7 Millionen Euro wurden dort in den
Ausbau eines überbetrieblichen Ausbildungszentrums
investiert. Wir haben uns gestern in der Anhörung darü-
ber unterhalten, wie wir im Rahmen des Konjunkturpa-
kets etwas für Wohnungen für Studierende tun können,
die landauf, landab, insbesondere dort, wo viele Men-
schen studieren, gebraucht werden. Warum wird eigent-
lich gemäkelt? Wir haben die Leistungen des BAföG um
10 Prozent erhöht und die Freibeträge angehoben. Das
gibt vielen Menschen aus sozial schwächeren Familien
zusätzliche Chancen.


(Beifall bei der SPD)


Lasst uns das einmal würdigen!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Vielleicht hat die schlechte Stimmung im Land, die wir
gelegentlich beklagen, auch damit zu tun, dass all das,
was wir hier tun, zerredet und nicht so rübergebracht
wird, wie es notwendig wäre.

154 Euro Prämie für die berufliche Weiterbildung!
Mein Gott, natürlich sind 154 Euro nicht furchtbar viel;
aber das ist ein bisschen mehr als 0 Euro, um das an die-
ser Stelle einmal deutlich zu sagen. Vorher gab es
0 Euro, jetzt gibt es 154 Euro.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Warum gibt es 154 Euro? Wir wollen damit ein Signal
setzen und den Menschen – beispielsweise den 20 Pro-
zent der 6 Millionen Menschen, die zu den Volkshoch-
schulen gehen, um sich dort beruflich fortzubilden – sa-
gen: Leute, was ihr da tut, das ist nicht allein euer Privat-
vergnügen. Es ist toll, dass ihr das tut, und wir wollen
euch auch Anreize dazu geben. Wir zeigen, dass dieser
Staat, dieses Land, nicht nur darüber redet, dass wir qua-
lifizierte Menschen brauchen, sondern wir wollen, dass
diejenigen, die etwas für ihre Fortbildung tun, auch et-
was dafür bekommen, wenn es auch aus fiskalischen
Gründen noch nicht so viel ist, wie wir uns vorstellen
könnten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten hier etwas positiver über diese Dinge reden.
Das ist auch meine Bitte an Teile der Opposition.

Das gilt auch für den Rechtsanspruch auf einen be-
rufsqualifizierenden Schulabschluss. Man kann fra-
gen, warum jemand in hohem Alter eigentlich noch ei-
nen Schulabschluss nachholen soll. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass so mancher einen Job be-
kommt. Das gilt gerade für die An- und Ungelernten, die
zum Teil keinen Schulabschluss haben. Sie können ei-
nem Arbeitgeber beweisen, dass sie noch in der Lage
sind, qualifiziert zu werden, etwas aufzunehmen, zu ler-
nen und die betrieblichen Aufgaben zu bewältigen. Das
ist doch nicht nichts, sondern das ist im Grunde genom-
men eine zentrale Entscheidung für ein ganzes Leben,
die Chancen beinhaltet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heute haben wir in der Tat sehr viel über das Auf-
stiegs-BAföG geredet. Die Erzieherinnen und Erzieher
und die Pflege sind angesprochen worden. Christel
Humme, das ist eine gute Geschichte. Ich will noch ein-
mal daran erinnern, dass ihr für diesen Bereich und des-
sen Verbesserung kämpft.

36 Prozent der Leistungen fließen weiterhin ins
Handwerk. Ich halte dies für richtig und wichtig. Kol-
lege Schummer, was wir in diesem Bereich zusätzlich
tun, ist auch angesprochen worden: Wer diese Leistung
in Anspruch nimmt und einen zusätzlichen Ausbildungs-
platz schafft – auch als Existenzgründer –, der bekommt
dies angerechnet und muss keine Leistungen zurückge-
währen. Das ist also auch ein Anreiz, Ausbildungsplätze
zu schaffen. Sie geht also nicht nur darum, sich selber
weiterzubilden, sondern auch darum, das in der eigenen
Weiterbildung Gelernte an junge Menschen weiterzuge-
ben. Auch das ist großartig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lieber Kollege Kretschmer, Sie haben hier schon ein
bisschen viel Wahlkampf betrieben. Das ist okay. Wir
beide sind ja Generalsekretäre unserer Parteien in unter-
schiedlichen Bundesländern. Insofern kann ich das nach-
vollziehen. Der Kollege Schummer hat mir aber besser
gefallen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe Ihnen hoffentlich nicht geschadet, lieber Kol-
lege Schummer. Sie haben ja gemerkt, dass wir auch bei
Ihnen geklatscht haben. Auch dem Kollegen Storm ha-
ben wir heute Beifall gezollt. Ich bedanke mich übrigens
beim gesamten Haus und bei allen, die dafür zuständig
waren, dieses Werk auf den Weg zu bringen.

Frau Kollegin Pieper, Ihnen wollte ich mich nun zu-
wenden. – Sie ist leider nicht mehr hier; das ist wirklich
jammerschade. Frau Flach, dann muss ich Sie an-
schauen.


(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)


Frau Kollegin Pieper hat heute kritisch gefragt, was
wir eigentlich mit den 10 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts tun. 7 Prozent wollen wir für Bildung ausgeben
und 3 Prozent für Forschung und Entwicklung. Das ist
doch ein tolles Ziel. Eines ist aber doch klar – das sollten
wir hier in aller Ehrlichkeit sagen, weil Sie gefragt ha-
ben, wie weit wir mit unserer Vereinbarung sind –: Das
bedeutet 50 Milliarden Euro mehr für den Bund pro Jahr,






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Tauss
hat also den Umfang des Konjunkturprogramms, das wir
gerade besprochen haben, und zwar jedes Jahr. Das
kommt doch nicht von irgendwo. Liebe Liberale, die ihr
euch so nennt, ihr müsst euch schon darüber im Klaren
sein, ob ihr diese 50 Milliarden Euro auf Pump finanzie-
ren wollt – wenn dies gefordert wird, stimme ich zu –
oder ob ihr Steuersenkungen wollt. Ihr müsst mal sagen,
was ihr wollt.


(Beifall bei der SPD)


Mit Steuersenkungen werden wir dieses 10-Prozent-Ziel
nie im Leben erreichen.

Liebe Kollegin Hinz, jetzt nehme ich Sie mir auch
noch ein bisschen vor. 52 Sekunden habe ich noch; der
Herr Präsident ist heute ganz großzügig. Bei Rot-Grün
war es nicht so, dass ihr Grünen bei der Weiterbildung
die Vorreiter wart. Ich sage das ganz zart und bedächtig.
Das können wir an anderer Stelle aber noch einmal an-
sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen heute ja keine Schlechte-Laune-Beiträge ab-
geben.

Liebe FDP, Sie haben gesagt, wir würden mit der
Aufstiegsfortbildung etwas von der Wiege bis zur Bahre
fordern. Nein, das tun wir weiß Gott nicht. Für die
„Wiege“ brauchen wir keine Aufstiegsfortbildung und
auch keine Weiterbildung. Hierfür haben wir Maßnah-
men ergriffen. Wir tun etwas für die Kindergärten und
für die Schulen. Wir wollen mit der Aufstiegsfortbildung
etwas für die Erwachsenen tun. Dies muss sinnvoll in ein
Erwachsenenbildungs- bzw. Erwachsenenfortbildungs-
förderungsgesetz eingebettet sein, egal wie es dann
heißt; dafür finden wir noch einen schönen Namen.
Heute wird mit unserem Aufstiegs-BAföG ein wichtiger
Schritt in diese Richtung gegangen. Wir sind stolz da-
rauf, dass wir das hinbekommen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein wichti-
ges Signal, dass wir in diesem Lande etwas für die Wei-
terbildung tun, und zwar entgegen all denjenigen, die he-
rummäkeln. Das dürfen sie zwar, aber ich mache dabei
nicht mit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620503000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu-
nächst zur Abstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes.


(Jörg Tauss [SPD]: Aufstiegs-BAföG!)


– Sie haben nach unserer Geschäftsordnung die Mög-
lichkeit, noch Anträge zur Veränderung des Titels dieses
Gesetzentwurfs zu stellen.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/11904,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 16/10996 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom-
men.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –
Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/
CSU, der SPD und der FDP bei Stimmenthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke mit breiter Mehrheit angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/11914. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Entschließungsantrag abgelehnt.

Wir setzen die Abstimmungen mit der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses auf Drucksache 16/11904 zu
Tagesordnungspunkt 3 b fort. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/11374 mit dem Titel „Verlässliche Bildungsför-
derung für Erwachsene noch in dieser Legislatur auf den
Weg bringen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit brei-
ter Mehrheit angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/11202 mit dem Titel „Förderung des lebenslan-
gen Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen“.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Auch
diese Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit an-
genommen.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Enthaltung!)


– Nachdem wir nun die Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke ordnungsgemäß ins Protokoll aufgenommen
haben, stelle ich Einvernehmen über meine Mitteilung
fest, dass auch diese Beschlussempfehlung mit breiter
Mehrheit angenommen worden ist.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Für ein einfaches, transparentes und leistungs-
gerechtes Gesundheitswesen

– Drucksache 16/11879 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 75 Mi-
nuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann kann das als vereinbart gelten.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1620503100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Fragt man die Bürger, wie sie unser Gesundheits-
system beurteilen, gibt es durchaus viel Lob, nämlich für
die vielen Menschen, die dort nicht nur ihre Pflicht tun,
sondern oft viel mehr und den Patienten helfen.

Die Gesundheitspolitik als solche wird jedoch kaum
gelobt und die zuständige Ministerin am allerwenigsten.
Das kann man auch gut verstehen: Für den höchsten
Zwangsbeitrag aller Zeiten gibt es immer schlechtere
Leistungen und längere Wartezeiten. In der Apotheke
gibt es mal dieses, mal jenes Medikament, je nachdem,
wer mit wem welchen Rabattvertrag geschlossen hat.
Bei den Hilfsmitteln gibt es große Probleme, und die
freie Arztwahl ist sehr gefährdet.

Vieles ist nur noch absurd.


(Elke Ferner [SPD]: Ihr Antrag!)


Ein aktuelles Beispiel: SPD und Union haben gegen alle
Warnungen einen hoch komplizierten, morbiditätsorien-
tierten Risikostrukturausgleich geschaffen und damit
bewusst die falschen Anreize gesetzt. Was ist das für ein
System, in dem Ärzte und Krankenkassen einen finan-
ziellen Vorteil davon haben, dass die Menschen in den
Akten kranker als bisher eingestuft werden?


(Beifall bei der FDP)


Das ist erstens eine Einladung zur Manipulation.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist rechtswidrig!)


Zweitens stellt sich die Frage, ob Folgen für die Thera-
pie – zum Beispiel bei einem Arztwechsel – wirklich
auszuschließen sind.

Oder denken Sie an die Honorarreform. Die Ge-
sundheitsministerin verspricht 3 Milliarden Euro mehr
für ärztliche Behandlung, aber Tausende von Praxen be-
kommen erheblich weniger Geld. Frau Schmidt spielt
das Unschuldslamm und schiebt die Schuld auf Ärzte
und Krankenkassen. Die Selbstverwaltung soll schuld
sein. In Wahrheit macht sie ein schlechtes Gesetz und
mischt sich massiv in die Verhandlungen ein – das be-
richten alle, die dabei waren –, aber dann hat sie nichts
mehr damit zu tun. Nein, Verantwortung und Chaos ha-
ben einen Namen, Frau Schmidt.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: FDP!)


Unser Gesundheitswesen ist krank. Es erstickt an der
Regulierungswut. Es gibt immer mehr Gesetze und Vor-
schriften, die keiner mehr versteht. Es ist alles viel zu
kompliziert. Im Gesundheitswesen hat sich Planwirt-
schaft breitgemacht: höhere Kosten, geringere Effizienz,
Dirigismus, Zuteilung und am Ende Mangel und Pleite.
Genau deswegen warten viele Menschen hoffnungsvoll
auf die nächste Bundestagswahl. Sie warten auf den Po-
litikwechsel, auf die Umkehr weg von der Staatsmedi-
zin.

Wir wollen den einzelnen Bürger, der jetzt Objekt ei-
nes aufgeblähten bürokratischen Systems ist, das seine
Beiträge verschlingt und verstreut, wieder in den Mittel-
punkt stellen. Seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine
Wahlfreiheit als Kunde sind unser Maßstab für die Ge-
sundheitspolitik.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Ihn alleinlassen wollt ihr!)


Wir schützen seine Rechte, sehen aber auch seine Pflich-
ten gegenüber den Mitbürgern. Er hat Rechte und Pflich-
ten.

Die FDP sieht daher für alle Bürger eine gesetzlich
verankerte Pflicht zur Versicherung vor, die alles Not-
wendige abdeckt und gleichzeitig für jeden Bürger
Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn in Ihrem Antrag? Das steht hier doch gar nicht drin!)


– Wenn Sie das lesen wollen, Frau Ferner, brauchen Sie
nur in den Antrag zu sehen, der hier diskutiert wird. – In
einem gesetzlichen Rahmen, der für alle gleich und fair
ist, können alle Krankenversicherungen ihre Erfahrun-
gen und Kompetenzen einbringen und den Bürgern ihre
Angebote machen, unter denen dann jeder Bürger frei
wählen kann. An dieser klaren Ansage kann auch jeder
erkennen, dass die Behauptung, wir wollten die Kran-
kenkassen abschaffen, wie hier und da zu lesen war,
schlichtweg falsch ist.


(Beifall bei der FDP)


Sie erhalten vielmehr neue Möglichkeiten. Genauer ge-
sagt: Wir befreien sie aus der Schmidt’schen Bevormun-
dung.

Wir wollen selbstverständlich eine soziale Kranken-
versicherung, bei der denen geholfen wird, die ihren
Beitrag nicht oder nur teilweise aus eigener Kraft auf-
bringen können. Das ist vernünftige Sozialpolitik; sie
setzt dort an, wo Hilfe nötig ist, im Gegensatz zu der
angeblich sozialen Politik, bei der der Staat den Bür-
gern möglichst viel Geld abnimmt, um es dann wieder
höchst kompliziert zu verteilen. Wir wollen keine
Bürgerzwangsversicherung mit einer Einheitskasse à la
Schmidt.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen drei Ziele erreichen. Erstens wollen wir
eine gesundheitliche Versorgung für alle Bürger, garan-
tiert durch die Pflicht zur Versicherung und getragen
durch die Solidarität der Bürger.


(Lachen bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Heinz Lanfermann
Zweitens wollen wir die größtmögliche Freiheit für alle
Bürger mit einem Wahlrecht, zum Beispiel durch Eigen-
beteiligungen selber Einfluss auf die Gestaltung ihrer
Krankenversicherung zu nehmen, und zwar stärker als
bisher. Damit erreichen wir drittens bessere Leistungen
für alle zu günstigeren Preisen;


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


denn es kann ein fairer Wettbewerb zwischen allen An-
bietern stattfinden, die sich um den Gesundheitsbürger
als Kunden bemühen müssen.

Ich lade Sie zu dieser Diskussion ein und danke Ihnen
für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Ich habe noch nie so viele Widersprüche in einer Rede gehört!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620503200

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Zöller (CSU):
Rede ID: ID1620503300

Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Kollege Lanfermann, man kann mit eini-
gen Zielen, die Sie angesprochen haben, einiggehen.
Aber die entscheidende Frage, wie Sie das alles finanzie-
ren wollen, haben Sie nicht beantwortet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damit eines klar ist: Mit uns wird es eine Abschaffung
der gesetzlichen Krankenversicherung nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die deutsche Krankenversicherung ist ein Modell, das
aufgrund der Qualität, des Versorgungsgrades, des Aus-
maßes der Leistungen sowie des Nebeneinanders von
gesetzlicher und privater Krankenversicherung weltweit
geachtet wird. Sie steht weltweit an erster Stelle. Nun
muss die Politik ihren Teil dazu beitragen, dass dies so
bleibt. Wenn jemand das System ändern will oder ein
neues System einführen will, muss er zuerst die Frage
beantworten: Welche medizinische Versorgung wollen
wir? Wollen wir rein wirtschaftlich vorgehen, oder
wollen wir mehr Menschlichkeit? Wollen wir mehr Frei-
beruflichkeit oder mehr Staatsmedizin? Wollen wir me-
dizinischen Fortschritt für alle, oder wollen wir Aus-
grenzung?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, was wollen wir denn? Das ist eine gute Frage!)


Um eine qualitativ hochwertige medizinische Versor-
gung zu gewährleisten, sind für uns grundlegende Ele-
mente unverzichtbar. Dazu gehören an erster Stelle die
Solidarität und an zweiter Stelle die Freiberuflichkeit.
Letztere kann man durch Planungssicherheit, Beendigung
der Budgetierung – das haben wir bereits gemacht –, leis-
tungsgerechtere Bezahlung, feste Preise und weniger
Bürokratie stärken. Aber alle müssen daran mitarbeiten.
Die freie Arztwahl ist für uns ein hohes Gut, genauso
wie die Beitragsfinanzierung. Man kann natürlich eine
Finanzierung allein über Beiträge als nicht zukunftsfähig
darstellen; das ist richtig. Aber eine Finanzierung ohne
Beiträge ist nicht krisenfest. Deshalb müssen wir zu ei-
ner vernünftigen Mischkalkulation kommen. Wir brau-
chen zudem mehr Transparenz. Wie ist der Geldfluss?
Wir treten dafür ein, dass die gesetzlich Krankenversi-
cherten eine Rechnung bekommen, wenn sie zum Arzt
gehen. Auch das schafft mehr Transparenz. Schließlich
treten wir für die Selbstverwaltung ein. Allerdings
muss auch die Selbstverwaltung in schwierigen Zeiten
ihre Hausaufgaben erledigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bestreite nicht, dass es innerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung eine Reihe von Problemen gibt.
Deshalb werden strukturelle Verbesserungen der Kran-
kenversicherung sowie die Optimierung von Qualität
und Effizienz eine Daueraufgabe bleiben.


(Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU])


Ich halte es im Übrigen für eine Illusion, dass es bei der
Reform des deutschen Gesundheitswesens eine Wunder-
waffe gäbe, die man nur realisieren müsste, um ein für
allemal Ruhe im System zu schaffen. Gestatten Sie mir
in diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Wir können
uns in diesem System zu Tode reformieren. Wenn aber
die Moral der Beteiligten nicht stimmt, fahren wir alle
Sozialsysteme an die Wand.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist ärgerlich, wenn zum Beispiel in einem Bundes-
land behauptet wird, ein Arzt bekomme im Quartal nur
30 Euro pro Patient. Die Ärzte sind dadurch verunsi-
chert; das kann ich verstehen. Wenn man das aber auf
das Jahr hochrechnet und mit der Versichertenzahl multi-
pliziert, dann kommt man auf einen Bedarf von
600 Millionen bzw. maximal 1 Milliarde Euro. Tatsäch-
lich stehen dieser KV aber 2,5 Milliarden Euro zur Ver-
fügung. Angesichts dessen muss doch die Frage erlaubt
sein: Wo ist das Geld?


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es wird höchste Zeit, dass solche Widersprüche
schnellstens aufgeklärt werden, damit die Ärzte wieder
Planungssicherheit bekommen und damit die Verunsi-
cherung der Patienten endlich aufhört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich habe auch kein Verständnis dafür, wenn zum Bei-
spiel Krankenkassen ihren Versicherten ein Wellness-
wochenende anbieten und dafür mehr Geld erstatten, als
die Vergütung eines Arztes für die Behandlung über das
ganze Jahr beträgt. Das passt nicht zu einem solidarisch
finanzierten Gesundheitssystem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer hat die Anreize denn gesetzt?)







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Zöller
Ich halte es ebenfalls für nicht richtig, wenn Ärzte
Krankenkassen drohen, ihre Versicherten niedriger ein-
zustufen, wenn die Verträge nicht in ihrem Sinne abge-
schlossen werden. Wir brauchen gerade in diesem
Gesundheitssystem mehr Ehrlichkeit und Ethik statt Mo-
netik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein weiterer Punkt. Pluralität ist für uns ein Garant
für Wettbewerb und Qualität; dies kommt bei den betrof-
fenen Menschen an. Deshalb bekennen wir uns zu unse-
rem System mit seiner Vielfalt und dem Nebeneinander
von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Die
zentrale Frage der Politik besteht doch darin, wie wir
Rahmenbedingungen so verändern können, dass die Ak-
teure im Gesundheitswesen diesen Prozess möglichst
ohne ständige gesetzgeberische Begleitung gestalten
können. Die Diskussionen über die Finanzierung der
Krankenversicherung haben gezeigt, dass es ein Irrweg
ist, wenn man glaubt, ein System nur zentralistisch durch
den Gesetzgeber steuern zu können. Dies führt automa-
tisch zu mehr Kontrolle, Bürokratie und immer neuen
Paragrafen. Die Politik sollte die Menschen nicht bevor-
munden und ihnen bis ins Detail vorschreiben, was sie
zu tun haben. Daraus ergibt sich nämlich eine falsche Si-
cherheit.

Die Menschen müssen allerdings auch mehr für ihre
eigene Gesundheit tun. Es gibt eine Fülle von Möglich-
keiten und Angeboten zur Prävention von Krankheiten,
ob das die Krebsvorsorge ist, ob das die Zahnprophylaxe
ist oder ob das der Gesundheits-Check-up ist. Diese soll-
ten und müssten mehr als bisher in Anspruch genommen
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wenn es stimmt, dass durch falsche Ernährung oder
durch mangelnde Bewegung ursächlich circa 30 Prozent
der Gesundheitsausgaben entstehen, dann brauchen wir
schnellstmöglich einen Bewusstseinswandel.


(Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU])


Jeder muss sich selbst fragen, wie gesundheitsschädi-
gendes Verhalten eingeschränkt werden kann. Fehlende
Mundhygiene, Nikotinkonsum und mangelnde Bewe-
gung sind nicht schicksalhaft. Hier kann jeder mehr für
sich tun. Dies kann aber kein Gesetzgeber vorschreiben;
er kann allenfalls finanzielle Anreize setzen.

Künftig wird es darauf ankommen, der Bevölkerung
die Alternativen aufzuzeigen: entweder die solidarische
Absicherung einer hochwertigen medizinischen Versor-
gung der großen Risiken und Übernahme von Eigenver-
antwortung bei kleinen Risiken und Selbstbeteiligung im
Gesundheitswesen oder eine Vollversorgung auf niedri-
gerem Niveau mit Leistungsausgrenzung und Reduzie-
rung der medizinischen Versorgung; entweder ein frei-
heitliches Gesundheitswesen, in dem die Versicherten
ihre Krankenkassen, das Krankenhaus und ihren Arzt
frei wählen und sich für verschiedene Gestaltungsfor-
men ihrer medizinischen Versorgung entscheiden kön-
nen oder Bevormundung der Versicherten; entweder eine
flächendeckende und wohnortnahe ärztliche und fach-
ärztliche Versorgung oder große Kliniken und zentrale
Versorgung.

Wenn alle am System Beteiligten ihr Handeln danach
ausrichten, wie man dem Patienten optimal helfen kann,
dann ist es mir um unser Gesundheitssystem nicht
bange.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620503400

Das Wort erhält nun der Kollege Frank Spieth für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620503500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Man kann der FDP-Bundes-
tagsfraktion vorwerfen, was man will, aber eines mit Si-
cherheit nicht,


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt sind wir gespannt!)


nämlich dass sie unehrlich in den Bundestagswahlkampf
geht und nicht klar ihre gesundheitspolitischen Vorstel-
lungen für die nächste Legislaturperiode hier im Hause
auf den Tisch legt. Man kann sich bei ihr regelrecht da-
für bedanken, dass sie heute mit diesem Antrag der Be-
völkerung klar sagt: Wir wollen den Ausstieg aus der so-
lidarischen gesetzlichen Krankenversicherung


(Zuruf von der FDP: Oh!)


und hinein in die Abdeckung der Gesundheitsrisiken
durch die Privatversicherung.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Allianz und Co. geben nicht nur Spenden, sondern lassen
hier auch grüßen. Sie verlassen mit Ihren Vorschlägen
nach unserer festen Überzeugung das Solidarprinzip im
Gesundheitswesen, in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung. Das wird von fast allen Akteuren, die sich mit
Ihren Vorschlägen in den letzten Tagen auseinanderge-
setzt haben, genauso gesehen.

Was mich dabei erstaunt, ist, dass Sie selbst – an-
scheinend aufgrund Ihrer guten Umfrageergebnisse –
mittlerweile soweit im Orbit gelandet sind, dass Sie jede
Bodenhaftung verloren haben, sogar zu Ihren eigenen
Wählerinnen und Wählern. 80 Prozent von diesen sagen
– nachzulesen im letzten Gesundheitsmonitor der
Bertelsmann-Stiftung –, dass Gesunde Kranke unterstüt-
zen müssen und dass Junge Alte in den Risiken unter-
stützen sollen. Außerdem sagen sie: Besserverdienende
sollen Schlechterverdienende unterstützen. Ich betone:
Für all diese Aussagen gibt es eine 80-prozentige Zu-
stimmung, sogar bei den FDP-Wählerinnen und -Wäh-
lern.


(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Alles in unserem Konzept drin, Herr Spieth! Das müssen Sie mal lesen!)


Genau das missachten Sie mit Ihren Vorschlägen.






(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
Damit Sie das nachvollziehen können – vielleicht
wissen Sie das selbst nicht –, möchte ich das einfach ein-
mal an ausgewählten Punkten klarmachen.

Mit der von Ihnen geforderten Abschaffung der Kran-
kenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts
würde der Ausstieg aus der gesetzlichen Krankenversi-
cherung herbeigeführt; die Risiken wollen Sie privat ab-
sichern lassen. Das ist Ihre eindeutige Botschaft. Das hat
mit Solidarität nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wollen die Absicherung im Krankheitsfall über
leistungsgerechte Prämien. Sie sollten uns hier einmal
erklären – wir haben im weiteren Verfahren Gelegenheit
dazu –, was Sie mit „leistungsgerechten Prämien“ mei-
nen. Meinen Sie das Kopfpauschalmodell der CDU mit
170 Euro für jeden Erwachsenen?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Lesen Sie doch mal den Antrag!)


Oder meinen Sie, dass zwar im Mittel 170 Euro gezahlt
werden, dass die Versicherten aber pauschal einen risi-
kobezogenen Vertrag abschließen? Das sollten Sie uns
und der Öffentlichkeit erklären. Ich meine, die Öffent-
lichkeit sollte wissen, was Sie vorhaben.

Tatsache ist: Wenn wir von jedem Erwachsenen eine
Prämie verlangen – ich will es einmal an dem alten
CDU-Modell klarmachen –, dann heißt das, dass in der
Krankenversicherung zukünftig pauschal für jeden Er-
wachsenen über 18 Jahre 170 Euro zu zahlen sind. Die
beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen
ohne eigenes Einkommen gibt es dann nicht mehr. Bei-
spiel: Ein Kind in einem Dreipersonenhaushalt wird
nach Ihren Vorstellungen möglicherweise steuerfinan-
ziert abgesichert, während ein bisher beitragsfrei mitver-
sicherter Angehöriger, der kein eigenes Einkommen hat,
dann Krankenversicherungsbeiträge – 340 Euro – zahlen
muss. Das ist fast doppelt so viel, wie ein Krankenversi-
cherter jetzt in der gesetzlichen Krankenversicherung zu
zahlen hat. Das ist die Realität hinter diesem Vorschlag.
Ich finde, das ist nicht nur unsozial, sondern asozial. Das
hat mit Solidarität nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Sie sagen, dass das Sachleistungsprinzip, das dem Pa-
tienten nach Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge
einen freien Zugang zu den Gesundheitsleistungen bie-
ten soll, durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzt
werden soll. Das hört sich fantastisch an. Allerdings
weiß kaum jemand das vernünftig zu bewerten. Was
heißt das denn? Das heißt auf gut Deutsch: Wenn jemand
ein künstliches Hüftgelenk braucht, dann kostet das in
der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland
im Durchschnitt 15 000 Euro. Sie erwarten, dass ein Ver-
sicherter künftig diese 15 000 Euro vorlegt, also die
Rechnung des Leistungserbringers begleicht, und an-
schließend mit dieser Rechnung zur Krankenversiche-
rung geht und sich dort diese Sachleistung erstatten lässt.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist unseriös bis zum Gehtnichtmehr!)

– So ist doch die Regel. Da können Sie reden, was Sie
wollen. Das steckt dahinter. Ihre Aufregung ist beredt,
meine Damen und Herren von der FDP.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Versicherte legt also vor und holt sich dann bei
der Krankenkasse einen Zuschuss. Der Versicherte weiß
in der Regel nicht, wie hoch dieser Zuschuss sein wird.
Das ist Abenteurertum. Das hat mit sozial verantwortli-
cher Politik überhaupt nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich könnte Ihnen eine Reihe weiterer Beispiele nennen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ja eher Ihr
Kampfblatt ist,


(Lachen bei der FDP – Zurufe von der FDP: Kampfblatt? – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt kommt hier der Klassenkampf ins Spiel!)


hat am 10. Februar sehr konkret und deutlich zu Ihrem
Antrag geschrieben: Man kann sich nur verwundert die
Augen reiben. Offenkundig hat die FDP nicht begriffen,
dass sie 2005 gemeinsam mit der CDU die Mehrheit ver-
fehlt hat, weil sie schon damals mit derartig unsozialen
Konzepten in der sozialen Absicherung gestartet ist.

Ich glaube, das kapieren die Menschen in diesem
Land auch diesmal. Ich hoffe, dass Sie von Ihrem Hö-
henflug wieder auf den Boden kommen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1620503600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1620503700

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, sehr geehrte Her-
ren und Damen von der FDP, zeigt, wes Geistes Kind Sie
sind. Sie wollen zurück zu einer Ellenbogengesell-
schaft, die wir eigentlich seit Bismarck überwunden ha-
ben, statt die elementaren Risiken, die wir in solidari-
schen Sozialversicherungssystemen abzusichern haben,
auch tatsächlich solidarisch abzusichern.

Was Sie hier vorlegen, ist eigentlich ein Zeugnis kol-
lektiver Verantwortungslosigkeit.


(Beifall bei der SPD)


Es ist im Übrigen – wenn man sich die Einzelpunkte an-
schaut, stellt man das fest; ich werde nachher noch da-
rauf zu sprechen kommen – die Lizenz zum Gelddru-
cken für die Leistungserbringer.


(Zuruf von der LINKEN: Richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
Die Patienten und Patientinnen werden zum Spielball
der Leistungserbringer. Ihre Forderungen schaffen nicht
mehr, sondern weniger Transparenz.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Alles Plattitüden, Frau Ferner!)


Die Ausgaben für die Versicherten, insbesondere für die
Patienten und Patientinnen, werden mit Ihrem Konzept
in schwindelerregende Höhen steigen.


(Beifall bei der SPD)

Sie wollen einen Sozialausgleich über das Steuer-

und Transfersystem. Das ist viel bürokratischer als das,
was wir schon heute zur Umverteilung im System der
gesetzlichen Krankenversicherung haben. Gleichzeitig
fordern Sie Steuersenkungen für die Spitzenverdiener.
Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses will Einspa-
rungen bei den Ausgaben. Ich frage Sie ernsthaft: Wie
wollen Sie das finanzieren? Was Sie hier bieten, das sind
alles Luftnummern.


(Beifall bei der SPD)

Sie verabschieden sich vom bisherigen gesellschaftli-

chen Konsens, nach dem im Krankheitsfall die Starken
für die Schwachen, die Gesunden für die Kranken, die
Jungen für die Alten und die Besserverdienenden für die
weniger gut Verdienenden einstehen. Ich glaube nicht,
dass Sie dafür hier irgendeinen Koalitionspartner finden
– zumindest war das aus den bisherigen Redebeiträgen
nicht zu ersehen – oder dass es dafür eine Mehrheit in
der Bevölkerung gibt.


(Beifall bei der SPD)

Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. In der

Nr. 1 des Antrags fordern Sie, dass die Krankenkassen
sich von Körperschaften öffentlichen Rechts zu Unter-
nehmen mit sozialer Verantwortung wandeln.


(Zuruf von der FDP: Richtig!)

Ich kenne keinen Rechtsbegriff, der da lautet „Unterneh-
men mit sozialer Verantwortung“. Die Krankenkassen
würden sofort dem normalen Insolvenzrecht unterlie-
gen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben Sie doch beschlossen!)


Was heißt das eigentlich für die Versicherten und für die
Leistungserbringer, Herr Bahr?


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben Sie doch beschlossen!)


– Moment! Sie wissen ganz genau, dass es nicht das nor-
male Insolvenzrecht ist,


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch!)

sondern dass es durchaus Einschränkungen gibt,


(Jörg van Essen [FDP]: Aber trotzdem! Sie haben es geöffnet!)


sodass dann, wenn es um die Verteilung der Masse geht,
die Ansprüche der Versicherten und der Leistungserbrin-
ger absolut gesichert sind.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Also kann man Regeln setzen!)

Das ist im normalen Insolvenzrecht nicht der Fall.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Also geht es doch, wenn Sie es gemacht haben!)


– Es scheint Sie sehr aufzuregen, dass ich auf die rich-
tige Spur gekommen bin.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Wir wollten Sie loben, weil Sie es gemacht haben!)


Außerdem frage ich mich: Wem sollen diese Unter-
nehmen mit sozialer Verantwortung gehören, was pas-
siert mit möglichen Gewinnen usw. usf.?


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Den Versicherten zum Beispiel, den Mitgliedern!)


Was ist mit den Versicherten? Wer soll deren Rechte
wahrnehmen? Muss jeder Arzt dann mit jeder Kasse ei-
nen Vertrag schließen? Wie soll das praktisch funktio-
nieren?

Sie fordern in der Nr. 1 auch, den RSA zu reduzieren.
Das heißt, Sie wollen weniger Gerechtigkeit im Gesund-
heitssystem, als wir mit dem Gesundheitsfonds geschaf-
fen haben.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eine dolle Gerechtigkeit!)


Das verzerrt die Wettbewerbsbedingungen und macht sie
nicht fairer.


(Beifall bei der SPD)


Die Nr. 2 des Antrags betrifft das Thema „Verständ-
lichkeit und Transparenz für alle Beteiligten“.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Sind Sie auch dagegen?)


Sie wollen gesetzlich vorgegebene Budgets durch leis-
tungsgerechte Preise ersetzen. Was heißt das? Das heißt
klipp und klar, dass die Ausgaben für die ärztliche Be-
handlung im ambulanten Bereich deutlich steigen wer-
den. Wir reden dann locker von 4 bis 5 Milliarden Euro.

Sie wollen die Reduzierung der Zahl der Instrumente
im Arzneimittelbereich. Das bedeutet höhere Arzneimit-
telausgaben. Das bedeutet, dass wir noch einen Beitrags-
satzpunkt oder 1,5 Beitragssatzpunkte draufpacken müs-
sen, damit die Ausgaben finanziert werden können.

Ich möchte an dieser Stelle auch noch etwas zu dem
sagen, was im Moment in den Praxen bezüglich der Be-
zahlung von Leistungen abläuft. Das Honorarsystem
und insbesondere die Verteilung des Honorars ist Sache
der Selbstverwaltung. Offensichtlich schafft es die
Selbstverwaltung in den einzelnen Kassenärztlichen Ver-
einigungen nicht, den Ärzten in den Praxen klarzuma-
chen, wie viel sie am Jahresende wirklich aus dem Ho-
norartopf zu erwarten haben. Von den Ärztinnen und
Ärzten, aber auch von den Krankenkassen erwarte ich,
dass dieser ganze Zoff nicht auf dem Rücken der Patien-
tinnen und Patienten ausgetragen wird.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
Ich erwarte von den KVen, dass sie den Ärztinnen und
Ärzten, die in ihren Praxen Vorkasse verlangen oder die
behaupten, dass die Kassen bestimmte Behandlungen
nicht bezahlen, obwohl die Kassen sie natürlich bezah-
len, aufs Eisen steigen. Von den Kassen erwarte ich, dass
sie für ihre Patienten eintreten und darauf achten, dass
die Verträge, die sie mit den KVen ausgehandelt haben,
auch eingehalten werden.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620503800

Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Lotter von der FDP-Fraktion?


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1620503900

Selbstverständlich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620504000

Bitte schön.


Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1620504100

Frau Kollegin Ferner, ist Ihnen bekannt, dass die

Selbstverwaltung gesetzliche Vorgaben erfüllen und um-
setzen muss, also der Gesetzgeber den Rahmen schafft,
in dem die Selbstverwaltung tätig wird?

Sie sprachen auch von Gerechtigkeit. Finden Sie es
gerecht, dass zum Beispiel ein Augenarzt ein Regelleis-
tungsvolumen von 17 Euro pro Quartal und Patienten
hat? Finden Sie es gerecht, dass Hausbesuche von mir
als Hausarzt grundsätzlich schon mit dem Regelleis-
tungsvolumen abgegolten sind und nur Besuche außer-
halb der Routine, also nur zu bestimmten Zeiten, extra-
budgetär vergütet werden?


(Widerspruch von der LINKEN – Gegenruf des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Der ist in der Praxis! Der weiß das!)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1620504200

Zum einen ist in keinem Gesetz die Höhe dieser Ver-

gütungen festgelegt. Zum anderen: Ja, wir haben den
Rahmen geschaffen, aber die Entscheidung darüber, wie
das ärztliche Honorar auf die einzelnen Arztgruppen ver-
teilt wird – man kann ja durchaus auch fragen, ob es bis-
her gerecht verteilt worden ist –, obliegt allein den Kas-
senärztlichen Vereinigungen und der KBV.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Darauf haben Sie Einfluss genommen!)


Hierfür gibt es den Bewertungsausschuss; da wird über
all das diskutiert.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben die doch nicht alleine beraten lassen! Wollen Sie das abstreiten?)


– Herr Lanfermann, Sie können gerne auch noch einmal
eine Zwischenfrage stellen, aber ich möchte Ihnen eines
sagen: Selbst Herr Köhler sagt durchaus – Sie kennen ja
wahrscheinlich den Brief von Herrn Köhler an die Ärzte-
schaft in Deutschland –, dass mehr Geld im System ist,
unabhängig davon, dass noch einige Probleme zu regeln
sind. Ich begreife nicht, dass die 3 Milliarden Euro, die
jetzt mehr im System sind, nirgendwo ankommen. Das
verstehe ich nicht, und das versteht auch niemand in der
Bevölkerung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist doch Ihr Gesetz!)


Weiterhin fordern Sie strikte Einhaltung der Subsidia-
rität. Sie sagen, Eigenverantwortung gehe vor Kollek-
tivverantwortung und Unterstützung solle es nur für den-
jenigen geben, der nicht in der Lage ist, selbst für sich zu
sorgen. Das heißt übersetzt: Wenn jeder für sich selber
sorgt, ist für alle gesorgt. Das ist also das Motto der FDP.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist Ihre Übersetzung! Ihre Interpretation! – Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist Ihre Interpretation! Sie können nicht einmal richtig lesen!)


Nächster Punkt: Beitragsgerechtigkeit. Die Einfüh-
rung einer Kopfprämie – das haben wir im letzten Bun-
destagswahlkampf gesehen – wäre absolut ungerecht.
Die Leute akzeptieren das nicht, und zu Recht akzeptie-
ren sie es nicht.


(Beifall bei der SPD)


Das Beispiel, das Sie in diesem Zusammenhang anbrin-
gen, ist nun wirklich an Dümmlichkeit nicht mehr zu
überbieten.


(Zuruf von der LINKEN: So ist es!)


Ich habe mir einfach einmal die Zahlen herausgesucht;
das liegt ja heute alles offen. Eine Bäckereifachverkäufe-
rin im Westen zahlt bei einem Bruttoeinkommen von
1 399 Euro inklusive des Sonderbeitrags 114,72 Euro als
Krankenversicherungsbeitrag. Die Millionen von Gene-
raldirektoren, die nach Ihrer Auffassung ja in der gesetz-
lichen Krankenversicherung freiwillig versichert sein
sollen, würden monatlich inklusive Sonderbeitrag je-
weils 301,35 Euro zahlen.


(Zuruf von der SPD: Viel zu wenig!)


Selbst wenn die Ehegattin des Generaldirektors bei ihm
beitragsfrei mitversichert ist, ist es nach meiner Berech-
nung nicht so, dass die Bäckereifachverkäuferin die
Krankheitskosten des Generaldirektors mitfinanziert. Ich
weiß nicht, was Sie sich bei Ihrem Beispiel gedacht ha-
ben, aber auf jeden Fall ist es völlig daneben.

Weiterhin fordern Sie eine Kapitaldeckung. Das ist
eine alte Forderung.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eine gute Forderung!)


Das hieße – das muss man den Menschen aber auch sa-
gen –, dass jeder zusätzlich zu den Ausgaben und Auf-
wendungen für die Finanzierung der medizinischen
Leistungen noch etwas drauflegen muss, damit ein Kapi-
talstock gebildet werden kann.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das nennt sich sparen!)







(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
Dass man sich traut, gerade in Zeiten einer Finanzkrise


(Zuruf von der SPD: In dieser Zeit, ja!)


den Aufbau von Kapitalstöcken zu fordern, ist irrwitzig.
Man sollte sich nur einmal vor Augen führen, dass ver-
schiedene Pensionsfonds in ausgewählten OECD-Staa-
ten im letzten Jahr nahezu 20 Prozent ihres Wertes verlo-
ren haben. Auch damit werden die Kosten nicht
verringert, sondern das ist eine zusätzliche Belastung.
Ich sage Ihnen: Die beste Absicherung ist, wenn Men-
schen für Menschen einstehen,


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das Prinzip einer Versicherung!)


anstatt auf windige Kapitalstöcke zu setzen, die nicht
richtig kontrolliert werden und für kommende Genera-
tionen keine echte Vorsorge darstellen.


(Beifall bei der SPD)


Dann kommt Ihr Lieblingsvorschlag: Planungssicher-
heit für Arbeitsplätze. Der Arbeitgeberanteil soll als
Lohnbestandteil ausgezahlt werden.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Stimmt!)


Das bedeutet, dass dieser Lohnbestandteil direkt der
Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegt. Das
wiederum bedeutet, dass schon nach dem heutigen Mo-
dell für die Bezahlung des Krankenversicherungsbeitra-
ges weniger Geld als bisher zur Verfügung steht


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)


– natürlich stimmt das –,


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Steuerliche Absetzbarkeit!)


es sei denn, Sie wollen – wie auch immer – die Steuern
senken.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Fragen Sie mal den Finanzminister nach der steuerlichen Absetzbarkeit!)


Auf alle Fälle ist dieser Teil steuer- und sozialversiche-
rungspflichtig.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Da gab es doch ein Urteil aus Karlsruhe, Frau Ferner!)


Zur Sozialversicherung gehören nicht nur die Kranken-
versicherung, sondern auch die Arbeitslosenversiche-
rung, die Rentenversicherung und die Pflegeversiche-
rung, falls Ihnen das noch nicht bekannt ist. Das heißt
also: Es gibt nicht mehr Netto für alle, sondern weniger
Netto für alle.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nur bei Ihnen!)


Dann fordern Sie eine Zweckbindung für die Steu-
erzuschüsse. Man kann zwar Steuerzuschüsse politisch
binden, aber man kann sie nicht zweckbinden.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was?)


Das ist eben das System mit Steuern. Beiträge und Ge-
bühren können Sie zweckbinden, aber keine Steuern. Da
gilt immer noch das Nonallokationsprinzip. Man kann
Steuerzuschüsse politisch binden. Aber Sie sind dabei
nicht davor gefeit, dass irgendwann andere Entscheidun-
gen getroffen werden.

Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag wird die Men-
schen zum Nachdenken bringen. Sie fordern die
Konzentration der obligatorisch durch die Solidarge-
meinschaft zu finanzierenden Leistungen auf das medi-
zinisch wirklich Notwendige. Ich frage Sie: Was ist
denn medizinisch wirklich notwendig? Welche Leistun-
gen der GKV sind denn heute nicht medizinisch wirklich
notwendig? Was heißt denn: Menschen sollen zunächst
einmal für sich selbst einstehen?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht fragen, sondern antworten!)


– Ich frage Sie: Welche Leistungen sind das? Das steht
nicht in Ihrem Antrag. Sie machen eine Politik nach dem
Motto: Jeder für sich und keiner für den anderen! Das ist
alles andere als solidarisch und wird nicht dazu führen,
den Zusammenhalt in der Gesellschaft wirklich zu stär-
ken.

Unter dem Stichwort „Stärkung der Patientenautono-
mie“ wollen Sie eine gemeinsame Therapiefestlegung
zwischen Arzt und Patienten. Das ist schon heute so. Ich
kenne niemanden, der sich eine Therapie aufzwingen
lässt.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Oh! – Heinz Lanfermann [FDP]: Bonus-Malus-Prinzip!)


– Von Ärzten oder Patienten? In dem Fall sind Sie offen-
bar nicht da unterwegs, wo ich unterwegs bin. Aber was
Sie eigentlich meinen, ist, dass auch Therapien finanziert
werden sollen, deren Erfolg zumindest zweifelhaft oder
nicht wissenschaftlich erwiesen ist. Sie wollen solche
Therapien aus Geldern der Versichertengemeinschaft
teilfinanzieren und durch eine Eigenbeteiligung der
Patienten ergänzen. Das trägt aber nicht dazu bei, Geld
zu sparen, sondern das hat etwas mit zusätzlichen Kos-
ten zu tun.

Ich frage Sie: Welcher Patient kann seinem Arzt wirk-
lich auf Augenhöhe begegnen? Das, was wir in unseren
Bürgersprechstunden über IGeL-Praktiken hören, spricht
doch Bände.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich glaube, dass hinter dem Stichwort „Stärkung der
Patientenautonomie“ auf Ihrer Ebene etwas ganz anderes
steckt.

Sie fordern eine Stärkung des Verantwortungsbe-
wusstseins auf allen Ebenen. Sie wollen, dass die Versi-
cherten über die unbedingt notwendige Grundversor-
gung hinaus weitere Leistungen absichern. Sie können
aber schon heute weitere Leistungen absichern. Die
spannende Frage ist: Was ist die Grundversorgung? Die
heutige Grundversorgung umfasst das medizinisch Not-
wendige. Wenn Sie als Grundversorgung weniger als das
medizinisch Notwendige wollen, dann müssen Sie das
sagen. Was soll denn dann nicht mehr bezahlt werden?






(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
Ist das die Hüftprothese für über 70-Jährige? Ist das die
Psychotherapie für misshandelte Kinder? Ist das die Ent-
ziehungskur für Drogenabhängige oder die Behandlung
von Freizeitunfällen? Was soll denn Ihrer Meinung nach
nicht mehr bezahlt werden?

Sie müssen auch erklären, wie die Menschen, die es
sich nicht leisten können, Zusatzversicherungen abzu-
schließen, diese Leistungen in Zukunft bezahlen sollen.
Sie wollen offenbar den Zugang zur Spitzenmedizin nur
noch denen ermöglichen, die dafür das Geld haben. Die
anderen können dann sehen, wie sie klarkommen. Das
ist aus meiner Sicht menschenverachtend.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Zum Sachleistungsprinzip und zum Kostenerstat-
tungsprinzip ist eben schon etwas gesagt worden. Ich
sage dazu nur noch so viel: Man sollte sich einmal die
Verwaltungsausgaben bei der GKV und bei der PKV
anschauen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Äpfel und Birnen!)


Ausweislich der Zahlen des PKV-Bundesverbandes be-
trugen pro Versicherten die Verwaltungsausgaben im
Jahr 2007 370 Euro; in der GKV waren es 160 Euro. Das
hat auch etwas mit dem Kostenerstattungsprinzip zu tun.

Sie wollen intelligente Selbstbehalttarife. Das heißt
im Klartext: Jung und Gesund wählt den Selbstbehaltta-
rif, Alt und Krank muss dafür mehr bezahlen. Das ist
wirklich intelligent, Herr Kollege Bahr.

Dann hatten Sie groß angekündigt: ohne Kontrahie-
rungszwang,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht ohne, sondern mit Kontrahierungszwang!)


ohne Altersprüfung, ohne Risikoprüfung und ohne Dif-
ferenzierung nach dem Geschlecht.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Mit Kontrahierungszwang!)


Ausweislich Ihrer Homepage heißt es: „umlagefinan-
zierte Krankenversicherung abschaffen“. In Ihrem An-
trag ist davon nichts zu lesen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Mit diesem Vorschlag werden Sie mit Sicherheit keine
Unterstützung im Parlament oder bei den Bürgerinnen
und Bürgern finden.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dass Sie uns nicht unterstützen, haben wir erwartet, Frau Ferner! Aber gut, dass Sie es noch mal sagen!)


Wir werden für die Bürgerversicherung kämpfen, da-
mit wir ein solidarisch und zukunftsfähig finanziertes
Gesundheitswesen haben,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


in dem Menschen für Menschen einstehen: die Jungen
für die Alten, die Gesunden für die Kranken und die, die
mehr Einkommen haben, für die, die weniger Einkom-
men haben. Ich wünsche Ihnen noch weitere vier Jahre
Spaß in der Opposition.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ernst Burgbacher [FDP]: Das entscheiden andere!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620504300

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von

Bündnis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620504400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bli-

cken in dieser Republik auf 1,6 Billionen Euro Staats-
verschuldung und auf 50 Milliarden Euro Neuverschul-
dung; weitere Kreditaufnahme ist nicht ausgeschlossen.
Und was macht die FDP? Sie fordert Steuersenkungen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist aber ein anderer Antrag!)


Aber das ist noch nicht alles. Heute legen Sie uns, Herr
Lanfermann, einen Antrag vor, dessen Realisierung für
den Bundeshaushalt zu Mehrausgaben weit im zwei-
stelligen Milliardenbereich führen würde. Da fragt man
sich als Erstes: Haben Sie eigentlich den Verstand verlo-
ren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Als Nächstes sagt man sich: Na ja, vielleicht doch nicht.
Die FDP wird sich schon etwas dabei denken. Sie denkt
an alle möglichen Gruppen im Gesundheitswesen. Sie
denkt an Ärzte, an Pharmaunternehmen, an private
Krankenversicherer und sicher auch an Arbeitgeber.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Dann kommt sie nicht über 10 Prozent!)


Versicherte tauchen bei Ihnen nur auf, wenn sie gut ver-
dienen und gesund sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Lesen Sie mal den Antrag!)


Menschen mit geringen Einkommen, Sozialleistungs-
empfänger und Kranke müssen Ihre Politik ausbaden,
denn sie interessieren Sie nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ach!)


Doch der Reihe nach. Die FDP will den sozialen
Ausgleich aus der gesetzlichen Krankenversicherung
herausschneiden. Statt einkommensabhängiger Beiträge
zahlt man dann – wie heißt es so schön? – „leistungsge-
rechte Prämien“. Die, die das nicht bezahlen können
– denn dass viele das nicht bezahlen können, wissen Sie –,
sollen „zielgerichtete Unterstützung“ erhalten. Was heißt
denn das? Das ist Prämiensubvention per Bundeshaus-
halt. Dazu allerdings, was das kostet, schweigen Sie sich
aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber es ist ja nicht so, als hätten wir nicht schon Er-
fahrung mit solchen Modellen und der Diskussion da-






(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender
rüber. Blicken wir doch einmal zurück auf den letzten
Bundestagswahlkampf. Da waren es CDU und CSU, die
sich auf ein Kopfpauschalenmodell mit einem Steuer-
mehraufwand von etwa 20 Milliarden Euro festgelegt
hatten. Das ist das Modell, das der Union jetzt wie Kau-
gummi unter der Schuhsohle klebt


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was?)


und das sie verzweifelt loszuwerden versucht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber was die FDP heute vorlegt, dürfte noch ein gutes
Stück teurer sein. Denn offenbar denken Sie nicht an den
Einheitsbeitrag, sondern an eine Prämie, wie sie derzeit
in der privaten Krankenversicherung üblich ist, eine so-
genannte risikoadjustierte Prämie. Das heißt auf
Deutsch: Dort müssen Frauen, Alte und Kranke höhere
Beiträge zahlen als junge und gesunde Männer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Weitet man diese Art der Beitragsfestsetzung auf die ge-
samte Bevölkerung aus, entsteht ein gigantischer Sub-
ventionsbedarf, sofern man gewährleisten will, dass alle
sich weiterhin eine Krankenversicherung leisten können.
Die genannten 20 Milliarden Euro für das Kopfpauscha-
lenmodell der Union werden da bei weitem nicht ausrei-
chen.

Hinzu kommt der ganze schöne Verwaltungsapparat,
der dadurch entsteht, dass alle, die diese Prämie nicht
zahlen können, Anträge stellen müssen. Es würden An-
träge über Anträge gestellt. Dies wäre eine monströse
Bürokratie.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürokratieabbau?)


Gratuliere, FDP! Das ist wohl der Weg, den Sie wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Tatsächlich ist es doch so: Angesichts der Rekordver-
schuldung wird jede Bundesregierung in den nächsten
Jahren die Aufgabe haben, die Konsolidierung des Bun-
deshaushalts ganz oben auf der Tagesordnung anzusie-
deln. Wer aber in dieser Situation den Zugang weiter Be-
völkerungsteile von ebendiesem Bundeshaushalt mit
Rekordverschuldung abhängig macht, stellt letztlich die
Gesundheitsversorgung von Millionen Menschen zur
Disposition. Wir hätten Jahr für Jahr im Bundestag da-
rüber zu entscheiden, wie die Gesamtsumme der Sub-
ventionen ausfallen soll. Jedes Jahr würden wir wieder
überlegen, wie die steigenden Ausgaben für diese Zu-
schüsse im Bundeshaushalt unterzubringen sind. Das
würde natürlich ständig zu weiteren Leistungskürzungen
führen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Es ist ja nicht so, dass die FDP gar nicht daran ge-
dacht hätte; denn Sie wollen den Leistungskatalog in
der gesetzlichen Krankenversicherung auf das, wie es so
schön heißt, „medizinisch wirklich Notwendige“ be-
grenzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Steht im SGB V!)


Was heißt das? Das medizinisch Notwendige entspricht
der Rechtslage in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Etwas anderes wird nicht bezahlt. Wenn Sie also vom
medizinisch „wirklich“ Notwendigen sprechen, dann
kann das nur als Drohung gemeint sein,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


als Drohung nämlich, dass ganze Leistungsbereiche hi-
nausfliegen werden.

Die FDP verschweigt lieber, welche das sein werden.
Man kann leicht ausrechnen, dass das mit dem Kranken-
geld anfängt. Dann geht es mit der gesamten Zahnmedi-
zin weiter. Was als Nächstes kommt, darüber darf speku-
liert werden. Das ist doch nichts anderes als ein riesiges
Abbruchunternehmen in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer könnte so etwas nun attraktiv finden? Da gibt es
bestimmt welche. Zum einen die privaten Krankenver-
sicherungsunternehmen. Ihnen erschließt sich auf ein-
mal ganz umsonst ein großer Markt. Sie dürfen die
ganze Bevölkerung versichern, ohne irgendetwas an ih-
rem Geschäftsmodell ändern zu müssen. Für das, was
die Leute nicht bezahlen können, also die durch alte und
kranke Versicherte entstehenden Kosten, geht die Rech-
nung an den Bundeshaushalt.

Zudem freuen sich sicher die Arbeitgeber, wenn sie
an weiteren Steigerungen der Kosten im Gesundheitswe-
sen nicht beteiligt werden, sondern dies nur zulasten der
Versicherten geht. Natürlich freuen sich auch solche
Ärztinnen und Ärzte, die in wohlhabenden Regionen
und Stadtteilen tätig sind; denn durch die Reduzierung
des Leistungskataloges auf das vermeintlich wirklich
Notwendige würde ja der Anteil der Leistungen wach-
sen, die man dann zu den höheren privatärztlichen
Gebührensätzen extra abrechnen kann.

Diesem Zweck dient ja auch Ihre Absicht, anstelle der
Sachleistung das Kostenerstattungsprinzip einzufüh-
ren und mit, wie Sie so schön sagen, „intelligent ausge-
stalteten Selbstbeteiligungslösungen“ zu verbinden. Das
lohnt sich für Ärztinnen und Ärzte mit zahlungskräftiger
Kundschaft. Nur die anderen schauen dann wiederum in
die Röhre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das heißt also: Die FDP umreißt in ihrem Antrag ein
Krankenversicherungssystem, in dem sich private Kran-
kenversicherer, eine Ärztearistokratie und auch gutver-






(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender
dienende und gesunde Versicherte so richtig wohlfühlen
können.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie werden noch bei der Linkspartei landen, wenn Sie so weitermachen, Frau Kollegin!)


Das geschieht aber, Herr Lanfermann, zulasten derjeni-
gen, für die die Krankenversicherung vor allem da sein
sollte:


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Richtig!)


für die Kranken, für die Geringverdienenden, für Men-
schen, die Sozialleistungen beziehen. Diese müssen bei
Ihnen nämlich damit rechnen, dass die Zuschüsse zu den
Krankenversicherungsbeiträgen gekürzt und ihre Leis-
tungsansprüche ausgedünnt werden. In Zukunft müssten
sie sich vor jedem Arztbesuch überlegen, ob sie so viel
Geld haben, die Rechnungen vorab zu begleichen; denn
das Kostenerstattungsprinzip bedeutet ja nichts anderes.
Dazu kann ich nur sagen: Der derzeitige Zustand in US-
Amerika lässt grüßen. Das kann unser Weg nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hier
ein sehr ernsthaftes Wort: Sie fordern in Ihrem Antrag
die Abschaffung des Gesundheitsfonds.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dafür waren Sie bisher auch!)


Durch ihn werde die Krankenversicherung zu einem
Spielball wechselnder bundespolitischer Interessen.
Wohl wahr, Herr Kollege Bahr.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da haben wir eine Einigkeit!)


Was wird aber Ihr Antrag bewirken? Besteht Ihrer
Ansicht nach die einzige Alternative zum Gesundheits-
fonds darin, das Solidarsystem vollständig abzuschaffen
und durch eine Privatversicherung zu ersetzen, die nur
für Teile der Ärzteschaft, für Versicherungskonzerne und
Gesunde attraktiv ist?


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Quatsch! Risikostrukturausgleich! – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!)


Das wäre eine Ewigkeitsgarantie für den Gesundheits-
fonds; denn dann würde man sich für das kleinere Übel
entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt, Frau Bender!)


Machen wir uns doch nichts vor: Bei der Bevölkerung
in Deutschland genießt das Prinzip, dass man Beiträge
nach der eigenen Leistungsfähigkeit zahlt und man
Leistungen nach Bedarf bekommt – je nachdem, wie
stark krank man ist –, eine große Akzeptanz. Was wir tun
müssen, ist Folgendes: Wir müssen das Solidarprinzip
durch eine Ausweitung auf die jetzige Privatversiche-
rung stärken und nicht schwächen. Die Bürgerversiche-
rung ist die Alternative, nicht Ihr Modell.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Also doch der Gesundheitsfonds!)


Es wäre doch aberwitzig, wenn wir unser Krankenversi-
cherungssystem ausgerechnet jetzt schleifen würden, wo
in den USA Barack Obama nicht zuletzt deswegen ge-
wählt wurde, weil er eine Krankenversicherung für alle
versprochen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Lassen Sie uns die Stärken des jetzigen Systems aus-
bauen und seine Schwächen abschaffen, indem wir uns
von der Zweiklassenmedizin, von der Trennung in ge-
setzliche und private Krankenversicherung, abwenden,
indem wir die Bürgerversicherung und damit gleiche
Spielregeln für alle einführen und das Ganze nachhaltig
finanzieren. Was wir nicht brauchen, ist Luxusmedizin
für wenige und Schrumpfmedizin für viele. Das ist nicht
unser Weg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620504500

Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann-

Mauz von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1620504600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beschäftigen uns heute mit einem Antrag der FDP, mit
dem sie die Bundesregierung auffordert, das Fünfte
Buch Sozialgesetzbuch komplett neu zu fassen.


(Zurufe von der FDP: Richtig!)


Im Grunde will die FDP also die gesetzliche Kranken-
versicherung in ihrem Kern abschaffen. Dazu sage ich
Ihnen: Das brauchen wir ganz bestimmt nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD])


Die Menschen in unserem Land haben die jüngste Re-
form in weiten Teilen noch nicht einmal richtig ange-
nommen. Sie ist bei vielen auch noch nicht wirklich an-
gekommen.


(Zurufe von der FDP)


Die ersten Kinderkrankheiten sind noch nicht einmal
überstanden, da wollen Sie schon wieder alles umkrem-
peln, alles durchschütteln und erneut auf Weltreise ge-
hen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Menschen
sind keine Objekte, die sich von Jahr zu Jahr, beliebig
oft, von der einen in die andere Ecke stellen lassen. Das
geht nicht. Die im Gesundheitswesen beschäftigten
Menschen und die Versicherten, die Patientinnen und
Patienten, haben eine Phase der Konsolidierung und der






(A) (C)



(B) (D)


Annette Widmann-Mauz
Verlässlichkeit verdient. Auf dieser Grundlage muss das
System weiterentwickelt werden. Darum muss es gehen.
Wir dürfen nicht für Verunsicherung in unserem System
sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie reden zwar viel über Transparenz – darüber steht

auch viel in Ihrem Antrag –, aber Sie werden diesem An-
spruch noch nicht einmal in Ihrem eigenen Antrag ge-
recht. Sie wollen die GKV abschaffen, das Gesundheits-
wesen komplett privatisieren und vereinheitlichen, Sie
wollen eine Bürgerversicherung mit einer Bürgerprä-
mie, aber Sie trauen sich noch nicht einmal, das auszu-
sprechen. Das kann ich mir erklären: Sie wollen allen
gefallen. Darum wählen Sie schöne Worte und reichen
das Kleingedruckte später nach. Vielleicht wollen Sie
auch nur kräftig wedeln, weil Sie wissen, dass die ver-
antwortungsbewussten Menschen in diesem Land das
am Ende wieder austarieren und korrigieren werden.

Sie wollen die Privatisierung der Krankenkassen, ei-
nen einheitlichen Versicherungsmarkt, einkommensun-
abhängige Beiträge, und Sie sprechen von Kontrahie-
rungszwang. Sie haben aber überhaupt nichts zur
Risikoeinstufung bei der Prämienkalkulation gesagt.
Für die Bürgerinnen und Bürger ist das aber eine ent-
scheidende Frage; denn hier geht es darum, ob man trotz
Vorerkrankungen einen bezahlbaren Versicherungs-
schutz erhalten kann oder nicht. Oder habe ich Sie miss-
verstanden?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Mit Sicherheit!)

Vielleicht wollen Sie ja gar keine Risikoeinstufung.
Dann wollen Sie also den PKV-Basistarif für alle? Den
haben Sie in letzter Zeit aber immer kritisiert. Was wol-
len Sie jetzt eigentlich?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es gibt ja auch noch andere Modelle, Frau Widmann-Mauz!)


Ich kann auch über andere Themen sprechen. Sie wol-
len einen Risikostrukturausgleich mit einfacheren Kri-
terien.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Den wollten Sie auch immer, Frau Widmann-Mauz!)


Die Morbiditätsorientierung kritisieren Sie. Jetzt sagen
Sie mir aber einmal, lieber Herr Bahr, welche Aus-
gleichskriterien Sie wollen. Wollen Sie nur Alter und
Geschlecht? Wollen Sie auf die Aufnahme von Krank-
heitskosten verzichten? Was schlagen Sie denn vor? Das
alte System hat doch gerade dazu geführt, dass der Run
auf die Jungen, gut Verdienenden und Gesunden ausge-
brochen ist. Das führte am Ende dazu, dass mehr für
Wellnesswochenenden als für medizinische Behandlun-
gen ausgegeben wird. Genau diese Themen waren also
falsch angesprochen. Morbiditätsorientierung ist richtig;
ein paar Krankheiten weniger tun es auch. Aber Sie blei-
ben jede Antwort schuldig, wie Sie es besser machen
wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie reden zu Recht von mehr Kapitaldeckung;


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Immerhin!)

aber Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie und in wel-
chem Umfang sie aufgebaut werden soll: kollektiv, indi-
viduell, im Bestand oder nur für die Neuzugänge, mit
welcher zusätzlichen Beitragsbelastung? Wir würden
gern von Ihnen einfach einmal hören, was bei Ihrem
Konzept auf die Menschen zukommen soll.

Sie sagen an einer anderen Stelle, Sie wollten das
Sachleistungsprinzip aufheben und über das Rechnungs-
legungsprinzip zum Kostenerstattungsprinzip kom-
men. Das hört sich wunderbar an. Sie sagen aber nicht,
dass damit jede Rechnung für alle Versicherten in unse-
rem Land nach der privatärztlichen Gebührenordnung
gestellt wird. Sie sagen nichts darüber aus, was dies für
die Beiträge bedeutete, und Sie sagen schon gar nicht,
wie Sie die Kostenentwicklung im Griff halten wollen.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Gnadenlose Abzocke!)


Sie wissen es eigentlich besser. Die Prämiensteigerun-
gen im privatärztlichen System betrugen in den letzten
Jahren im Durchschnitt 10 Prozent pro Jahr. Wie wollen
Sie das finanzieren, wo sind Ihre Antworten an dieser
Stelle?

Es kann natürlich auch sein, dass Sie dies nicht wol-
len, weil Sie sagen, die Kostensteigerungen seien sonst
viel zu hoch. Aber dann müssen Sie hier schon eine ehr-
liche Antwort auf die Frage geben, ob Sie für die Öff-
nungsklausel in den Gebührenordnungen für Ärzte
und Zahnärzte sind. Dazu schweigen Sie sich aus. Schaf-
fen Sie Klarheit; dann wissen auch Ihre Wählerinnen
und Wähler, was auf sie zukommt. Das aber tun Sie wie-
der einmal nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben eine Hilfe für die sozial Schwachen vor-
gesehen, die die Prämien nicht mehr zahlen können.
Aber Sie sagen natürlich nichts darüber aus, bei wel-
chem Eurobetrag die Zumutbarkeit endet und die Unzu-
mutbarkeit beginnt. An welchem Prozentsatz des Ein-
kommens wollen Sie das festmachen? Sie sagen hier
schon zum zweiten Mal nicht, woher Sie das Geld neh-
men wollen und welche Milliardensummen Sie brau-
chen, und das in der größten Wirtschaftskrise, die unser
Land seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erlebt.

Sie haben sich natürlich viele Gedanken darüber ge-
macht, woher das Geld kommen kann, und sprechen von
der Auszahlung und Festschreibung des Arbeitgeber-
beitrags. Sie bleiben uns aber auch hier eine Antwort
auf die entscheidende Frage schuldig. Die Frage der Ver-
steuerung ist aus meiner Sicht nicht entscheidend. Viel
entscheidender ist doch, wie Sie diese Beträge auch bei
neuen Verträgen und beim Arbeitgeberwechsel sichern
wollen. Wollen Sie, die Sie doch sonst die Vertragsfrei-
heit so hoch einschätzen, in die Tarifautonomie eingrei-
fen? Wie wollen Sie denn dieses Niveau dauerhaft si-
chern? – Keine Antworten auf entscheidende Fragen, die
bei einem solchen Konzept gestellt werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein weiteres Lieblingsthema der FDP ist der Leis-
tungskatalog. Ich kann es wirklich langsam nicht mehr






(A) (C)



(B) (D)


Annette Widmann-Mauz
hören. Sie reden – Frau Kollegin Bender hat schon da-
rauf hingewiesen – wieder einmal von der Reduzierung
auf das „medizinisch wirklich Notwendige“. Was verste-
hen Sie denn darunter? Ist die palliativmedizinische Ver-
sorgung in den letzten Lebenstagen medizinisch wirklich
notwendig oder nicht? Ist die geriatrische Rehabilitation
medizinisch wirklich notwendig oder nicht? Ist die Be-
handlung von psychiatrischen Erkrankungen medizi-
nisch wirklich notwendig oder nicht? Sagen Sie es uns!
Sie schlagen die Reduzierung des Leistungskatalogs vor.
Wir wollen wissen, wo und für welche Betroffenen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie reden unter der Überschrift „Subsidiarität“, ein
wichtiges Prinzip, vor allen Dingen von der Eigenver-
antwortung der Patientinnen und Patienten, der Versi-
cherten. Das Wort Selbstverwaltung im Gesundheits-
wesen habe ich in Ihrem gesamten Antrag nicht ein
einziges Mal gelesen. Haben Sie sie mittlerweile abge-
schrieben?


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die haben Sie kaputt gemacht!)


Oder passt sie mittlerweile schon gar nicht mehr in Ihr
System, in dem nach Ihrer Vorstellung der freie Markt
und das freie Spiel der Kräfte alles regeln werden? Wir
wollen nicht, dass Krankenkassen in Zukunft den medi-
zinischen Bedarf bestimmen. Wir wollen kein Heraus-
kaufen, keine Rosinenpickerei, sondern wir wollen eine
flächendeckende Versorgung durch freiberuflich tätige
Fachärzte und durch Krankenhäuser. Ihre Vorstellungen,
Ihre Rosinenpickerei lehnen wir schlichtweg ab.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will zum Schluss ein letztes Prinzip, das Ihnen
und uns wichtig ist – in vielen Zielen sind wir uns einig –,
herausgreifen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Also doch! Ich hatte schon das Gefühl, Sie gehören zur SPD! Sie reden wie eine Sozialdemokratin!)


Sie wollen mehr Vertrauen in das System bringen. Da
haben Sie recht. Das Misstrauen unter den Beteiligten ist
der Humus, auf dem die Bürokratie gedeiht. Das ist die
schwierigste Aufgabe. Denn Vertrauen in das System
können Sie weder durch Anträge noch per Gesetz ver-
ordnen, sondern es muss gegenseitig erarbeitet werden.
Darin besteht die große Bewährungsprobe für alle Ver-
antwortlichen im Gesundheitswesen: für uns Politiker,
für Ärzte, für alle Leistungserbringer, für die Kranken-
kassen, für die Patientinnen und Patienten und Versi-
cherten. Daran zu arbeiten, lohnt sich im Interesse der
Menschen in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620504700

Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP – Frank Spieth [DIE LINKE]: Antrag zurück!)



Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620504800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Die Bürger verstehen nicht mehr, was im Ge-
sundheitswesen vor sich geht.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP auch nicht!)


Sie merken, dass die gewohnt gute Qualität der medizi-
nischen Versorgung nachlässt.


(Beifall bei der FDP)


In ihrer Apotheke erhalten sie einmal dieses, einmal je-
nes Arzneimittel, je nachdem mit welchen Firmen Ra-
battverträge abgeschlossen worden sind.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn der Apothekenbeschützer? Das sind doch Sie!)


In den Krankenhäusern müssen sie zum Teil lange war-
ten, bis jemand kommt, um ihnen zu helfen. Bei Hilfs-
mitteln dürfen sie nicht mehr zum Belieferer ihrer Wahl
gehen, sondern die Krankenkassen bestimmen, auf wen
sie zurückgreifen dürfen.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Bahr, wer unterstützt denn die Apotheken?)


Die Patienten werden durch die Politik der schwarz-ro-
ten Bundesregierung gegängelt. Sie werden zunehmend
in eine standardisierte Schablone gepresst.


(Beifall bei der FDP)


Die aktuelle Gesundheitspolitik raubt ihnen mehr und
mehr ihre Selbstbestimmung, gemeinsam mit ihrem
Therapeuten eine Behandlung zu vereinbaren, die bei ih-
nen den besten Erfolg verspricht. Das deutsche Kranken-
versicherungssystem ist durch die letzten Reformen der
schwarz-roten Bundesregierung, aber auch der rot-grü-
nen Bundesregierung deutlich in Richtung eines zentra-
listischen staatsgesteuerten Einheitskassensystems ver-
schoben worden.


(Beifall bei der FDP – Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist die Tatsache!)


Das letzte Reformgesetz hieß Wettbewerbsstärkungs-
gesetz. Da dachte man, dass mehr Wettbewerb das Ziel
war. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb jetzt
aussieht. Sie haben einen Einheitsbeitragssatz für alle
Krankenkassen beschlossen. Den Wettbewerb um die Bei-
tragsautonomie, um den Zusammenhang zwischen Bei-
trag und Leistung einer Versicherung, haben Sie kaputt
gemacht. Wir haben jetzt auf der Beitragsseite eine Ein-
heitskasse, und auf der Leistungsseite ist es ähnlich.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Stimmt nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

Denn was ist denn durch den Fonds passiert? Die
Krankenkassen haben Zusatzleistungen gestrichen:
Auslandsschutzimpfungen wurden gestrichen, Sozial-
psychiatrievereinbarungen, Hausarztverträge und Onko-
logievereinbarungen wurden gekündigt. Das heißt, in
Wahrheit bringen Sie hier die Umsetzung der sogenann-
ten Bürgerversicherung auf den Weg, also nichts anderes
als eine staatlich gelenkte Einheitskasse. Das ist die Poli-
tik, die Sie als Ministerin machen.


(Beifall bei der FDP)


Hier wird gesagt, die FDP wolle unfairen Wettbe-
werb. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb
aussieht, den Sie gestalten. Sie bewirken einen Wettbe-
werb, bei dem Krankenhäuser, Krankenkassen und Ärzte
ein Interesse daran haben, dass Deutschland – zumindest
statistisch gesehen – kränker wird. Denn dann bekom-
men sie mehr Geld. Das ist das perverse System, das Sie
geschaffen haben.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Schwachsinn!)


Es kommt nicht mehr Geld in der Versorgung an.

Heute lesen wir in der Zeitung – Sie sagen ja, dass Sie
mit dem Fonds einen Wettbewerb der Krankenkassen
geschaffen haben –, dass die Berliner jetzt ein Schreiben
der AOK Berlin bekommen, das ein schönes Angebot
enthält. Sie wollten ja einen Wettbewerb der Kranken-
kassen, eine bessere Versorgung erreichen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr wollt doch Wettbewerb!)


In dem Schreiben heißt es, dass AOK-Versicherte in
Berlin vier Erholungstage im Viersternehotel Ramada
Wismar für nur 199 Euro buchen können; dabei würden
sie 100 Euro sparen. Die Barmer Ersatzkasse hatte für
ihre Versicherten – Sie wollten ja Wettbewerb der Kran-
kenkassen untereinander – eine Angebotsaktion im Pro-
gramm, in dessen Rahmen sie bei Karstadt satte Rabatte
auf Einkäufe bekamen.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Unglaublich!)


Das hat nichts mit einem Wettbewerb um bessere Ver-
sorgung, günstigere Tarife und um innovative Lösungen
zu tun; in Wahrheit bereiten Sie hier die Einheitskasse
vor.


(Beifall bei der FDP)


Das ist doch kein Wettbewerb um bessere Versorgung.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das würde bei Ihnen noch viel schlimmer werden!)


Dass Sie alle hier über die Auswirkungen der
Reform gar nicht sprechen wollen, dass Sie sich nur mit
unseren Ideen auseinandersetzen, zeigt, dass Sie ein
schlechtes Gewissen haben. Sechs Wochen nach der
Umsetzung des Gesundheitsfonds wollen Sie gar nicht
über die Fehler der Reform sprechen. Das spüren die
Leute. Warum gibt es denn Massendemonstrationen in
Bayern, Herr Zöller? Warum gibt es Unruhe in den Pra-
xen, weil bestimmte Patienten nicht mehr das bekom-
men, was sie bisher bekommen haben, oder Zuzahlun-
gen verlangt werden?


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Auch das wird schlimmer bei Ihnen!)


Das sind die Folgen der Politik, die Sie gemacht haben.
Davon wollen Sie ablenken.


(Beifall bei der FDP)


Wir, die FDP, wollen ein Gesundheitssystem, bei dem
die Versicherten im Mittelpunkt stehen. Die Bürger müs-
sen weitgehende Wahlfreiheit haben, wie sie ihren
Versicherungsschutz gestalten. Vertragsfreiheit, Thera-
piefreiheit und freie Arztwahl sollten selbstverständlich
sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Reden Sie jetzt doch endlich einmal über Ihren Antrag! Wir sind doch schon so gespannt!)


Wir wollen ein leistungsfähiges Gesundheitswesen mit
mehr Wahlfreiheit, Wettbewerb und Eigenverantwor-
tung.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Geben Sie doch auch einmal Antworten auf unsere Fragen! Oder haben Sie etwa keine?)


Wir wollen nicht, dass die Verantwortung dafür an zen-
tralistische staatliche Organisationen abgegeben wird.
Wir appellieren an die Eigenverantwortung der Versi-
cherten. Dafür wollen wir die richtigen Anreize geben.


(Beifall bei der FDP – Annette WidmannMauz [CDU/CSU]: Ach was! Das sind alles nur Floskeln! Das sind doch keine Antworten auf die Fragen, die wir gestellt haben! – Elke Ferner [SPD]: Diese Eigenverantwortung kann sich nur nicht jeder leisten!)


Frau Ferner, Sie haben viel über Solidarität gespro-
chen.


(Elke Ferner [SPD]: Allerdings! Solidarität ist ja auch wichtig! Die „Solidarität“, die Sie wollen, kann sich aber längst nicht jeder leisten!)


Auch für uns Liberale ist Solidarität eine wichtige Kate-
gorie und eine Voraussetzung für ein leistungsfähiges
Gesundheitswesen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Sie und Solidarität? Das läuft bei Ihnen doch unter Marketing! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh! – Das ist aber neu! – Seit wann denn das?)


Frau Ferner, wissen Sie eigentlich, dass Sie ein verkürz-
tes Verständnis von Solidarität haben?


(Elke Ferner [SPD]: Ach was! Dass ich nicht lache! Das müssen ausgerechnet Sie sagen!)


Eine Versicherung ist eine Solidargemeinschaft. Es ist
die Aufgabe einer Versicherung, zwischen den Kranken
und den Gesunden, die für die Kranken einstehen, einen
Ausgleich zu schaffen. Das tut jede Versicherung. Das
Solidarprinzip, das dem zugrunde liegt, und den solidari-






(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

schen Ausgleich zwischen Jung und Alt wollen wir na-
türlich beibehalten. Genau diese Solidarität machen Sie
kaputt.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Solidarität im Golfclub!)


Die Politik, die Sie betreiben, ist eine Politik zulasten
der kommenden Generationen. Sie schieben die Lasten
auf die kommenden Generationen und versprechen
mehr, als Sie halten können. Ich frage Sie: Wer soll das
in Zukunft bezahlen? Wenn Sie so vorgehen, wird es zu
Konflikten kommen.


(Elke Ferner [SPD]: Ihre Definition von „Solidarität“ ist nach unserem Verständnis höchst unsolidarisch, Herr Kollege!)


Wenn die Beitragszahler in Zukunft vor der Entschei-
dung stehen, entweder Beiträge in Höhe von 25 Prozent
zu zahlen oder ihren Leistungsanspruch rationieren zu
lassen, werden sie die Solidarität aufkündigen. Frau Fer-
ner, wer wird unter einer Politik, die diesem Verständnis
von Solidarität folgt, leiden? Wer wird unter einem Um-
lagesystem, das zur Folge hat, dass die Menschen von
der Hand in den Mund leben müssen, und mit dem die
Lasten auf die kommenden Generationen geschoben
werden, leiden?


(Elke Ferner [SPD]: Erklären Sie doch einmal, welche Maßnahmen Ihrer Meinung nach notwendig wären!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620504900

Herr Kollege Bahr.


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620505000

Lassen Sie mich diesen Gedanken bitte noch kurz zu

Ende führen. – Unter einem solchen staatlichen Einheits-
kassensystem werden nicht die Reichen leiden.


(Elke Ferner [SPD]: Wo, bitte schön, gibt es denn bei uns ein „staatliches Einheitskassensystem“?)


Sehen Sie sich einmal die Situation in Großbritannien
oder Spanien an.


(Elke Ferner [SPD]: Wir leben in Deutschland, Herr Kollege!)


Dort kann man beobachten, dass sich die Reichen eine
bessere Versorgung leisten können. Unter einer solchen
staatlichen Einheitskasse leiden die sozial Schwachen
und die Mittelschicht. Diese Menschen haben nämlich
keinen hinreichenden finanziellen Spielraum, um sich
eine Zusatzversorgung zu leisten.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620505100

Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Bender?


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620505200

Wenn Sie die Uhr anhalten, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620505300

Bitte, Frau Bender.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620505400

Herr Kollege Bahr, Sie sagten, die FDP wolle am

Solidaritätsprinzip festhalten.


(Elke Ferner [SPD]: Ach! Die wissen doch gar nicht, wie „Solidarität“ geschrieben wird! – Weiterer Zuruf von der SPD: Alles Lippenbekenntnisse! Das kennt man doch von denen!)


Diese Aussage verträgt sich nicht mit dem Inhalt Ihres
Antrags.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Klären Sie mich bitte auf, wo die Solidarität bleibt,
wenn Sie den Ausgleich zwischen Gesunden und Kran-
ken im Rahmen des Krankenversicherungssystems ab-
schaffen! Das fordern Sie ja ausdrücklich. Sie wollen,
dass die Höhe der Prämien je nach Krankheit variiert.


(Heinz Lanfermann [FDP]: So ein Quatsch! Das steht in unserem Antrag doch überhaupt nicht drin! Sie erzählen uns hier einen vom Pferd!)


Klären Sie mich bitte auch auf, wo die Solidarität
bleibt, wenn der Ausgleich zwischen Gering- und Bes-
serverdienenden aus dem Krankenversicherungssystem
herausgenommen und auf die Ebene der steuerlichen
Subventionen verlagert wird!

Klären Sie mich bitte auch auf, was Sie im Generatio-
nenmaßstab unter Solidarität verstehen, wenn Sie ange-
sichts der Rekordverschuldung des Bundes ein solch gi-
gantisches Subventionsprogramm fordern!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Frau Bender ist der Beleg dafür, dass PISA überall ist!)



Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620505500

Frau Kollegin Bender, vielen Dank für Ihre Fragen.

Sie geben mir nämlich die Möglichkeit, meine kurze Re-
dezeit etwas zu verlängern, indem ich auf Ihre Fragen
eingehe.

Wir von der FDP wollen die Solidarität zwischen
Kranken und Gesunden, zwischen Jungen und Alten und
zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwa-
chen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja interessant! Jetzt bin ich wirklich gespannt, wie Sie den Bogen zu Ihrem Antrag hinkriegen! – Frank Spieth [DIE LINKE]: Wo steht das denn in Ihrem Antrag?)


Aber die Frage ist: Muss diese Solidarität durch prozen-
tuale Krankenversicherungsbeiträge gewährleistet wer-
den? Ich frage Sie: Ist die Finanzierung der gesetzlichen






(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

Krankenversicherung bzw. ist der Einkommensaus-
gleich gerecht?

Die Bäckereifachverkäuferin, von der Frau Ferner ge-
sprochen hat,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum reden Sie denn immer von Frau Ferner? Erläutern Sie uns doch mal Ihren Antrag! Wie lange sollen wir denn noch warten?)


zahlt mit ihrem prozentualen Beitrag zur gesetzlichen
Krankenversicherung – sie hat keine Wahlmöglichkeit,
sondern ist in der GKV zwangsversichert – für die Fami-
lie des Generaldirektors mit, der davon profitiert, dass
seine Familie mit mehreren Kindern kostenlos in der ge-
setzlichen Krankenversicherung mitversichert ist.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das stimmt so doch überhaupt nicht! – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: So ein Unsinn!)


Der Einkommensausgleich, den Sie vorschlagen, ist
auf ein Lohneinkommen in Höhe von etwa 3 500 Euro
begrenzt.


(Elke Ferner [SPD]: Beherrschen Sie eigentlich die Grundrechenarten? – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Was für ein Unsinn!)


Wir haben allerdings schon ein System, das für den Aus-
gleich zwischen Einkommensstarken und Einkommens-
schwachen da ist: das Steuer- und Transfersystem.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr interessant! Fragen Sie einmal die Bürger, was die davon halten!)


Wir brauchen keine neuen Systeme. Frau Bender, der
Gesundheitsfonds darf nicht zu einem neuen Finanzamt
werden, das die Mittel noch mehr als bisher umverteilt.
Dafür gibt es bereits Systeme. Beim Wohngeld zum Bei-
spiel wurde bewusst ein System geschaffen, das dafür
sorgt, dass diejenigen, die die Unterstützung der Gesell-
schaft brauchen, diese Unterstützung auch erhalten. Je-
der Einzelne trägt dazu in Abhängigkeit von der eigenen
Leistungsfähigkeit bei.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das wollen Sie doch in Wirklichkeit überhaupt nicht! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Ziel verfolgen Sie denn in Wahrheit?)


Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie wollen,
und dem, was wir wollen. Sie verfolgen mit Blick auf
die gesetzliche Krankenversicherung nicht das Ziel einer
gerechteren Einkommensumverteilung.


(Iris Gleicke [SPD]: Dieses Beispiel ist wirklich absoluter Schwachsinn!)


Gerechter ist unser Modell: Trennung von Beiträgen und
Versicherungsleistungen, Einrichtung eines Prämiensys-
tems und Umverteilung von Einkommensstarken zu Ein-
kommensschwachen dort, wo es treffsicher ist, nämlich
über das Steuer- und Transfersystem.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der CDU/ CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben im Zusammenhang mit der Solidarität zwi-
schen Jungen und Älteren auch nach der Kapitalde-
ckung gefragt. Was die Kapitaldeckung angeht, Frau
Kollegin Bender, muss ich Ihnen ein Lob aussprechen.
Mit der Riester-Rente haben Sie in der Altersvorsorge
den Einstieg in die Kapitaldeckung gemacht. Die Frage,
die Sie mir stellen, ist nun: Wie kann diese Solidarität
zwischen den Generationen auf die Gesundheitsversor-
gung übertragen werden?


(Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was für die Altersvorsorge nicht falsch war – auf Ka-
pitaldeckung zu setzen, weil wir eine alternde Bevölke-
rung haben –, kann doch auch für die Gesundheitsver-
sorgung nicht falsch sein. Warum schaffen Sie nicht den
Erkenntnisgewinn, das auch auf die Gesundheitsversor-
gung zu übertragen?


(Beifall bei der FDP – Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist in dem einen Bereich so falsch wie in dem anderen!)


Auch im Gesundheitssystem brauchen wir eine Kapital-
deckung.

Hier wurde pauschal und diffamierend von Amerika
gesprochen. Als ob wir amerikanische Verhältnisse woll-
ten! Wir schlagen eine Pflicht zur Versicherung vor.
Jeder muss Anspruch auf eine Krankenversicherung ha-
ben. Es darf eben nicht so sein wie in Amerika, dass
viele gar nicht versichert sind.


(Elke Ferner [SPD]: Die Versicherungspflicht haben wir längst!)


Schauen Sie in die Niederlande – die Niederlande
sind nicht dafür bekannt, unsozial zu sein –: In den Nie-
derlanden gibt es eine Pflicht zur Versicherung; übrigens
nur bei privaten Versicherungen.


(Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn in Ihrem Antrag?)


Ich lebe im Münsterland; eine Fluchtbewegung von den
Niederlanden nach Nordrhein-Westfalen, weil das Sys-
tem in den Niederlanden als unsozial wahrgenommen
würde, kann ich jedoch nicht feststellen. Diffamieren Sie
dieses System also nicht!


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620505600

Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine weitere Zwi-

schenfrage?


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620505700

Ich habe nur noch eine Minute und würde gerne

meine Punkte zu Ende ausführen.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Bringen Sie es zu Ende!)







(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

Ich glaube, ich bin bei der Beantwortung der letzten
Frage auf viele Punkte eingegangen.

Sie haben das Thema Kostenerstattung angespro-
chen. An diesem Thema sieht man, dass wir hier auch
eine gesellschaftspolitische Debatte führen. Es geht
nämlich um die Frage, wie viel Mündigkeit wir den Bür-
gerinnen und Bürgern zutrauen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


70 Millionen gesetzlich Krankenversicherte in Deutsch-
land erhalten keine Arztrechnung, für sie ist nicht trans-
parent, was für Leistungen sie nachfragen und wie diese
Leistungen abgerechnet werden.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Aber eine Patientenquittung! – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Trotzdem werden sie bezahlt!)


Diese 70 Millionen Menschen dürfen aber Kreditver-
träge abschließen, dürfen Lebensversicherungen ab-
schließen, ja sie dürfen sogar Kinder auf die Welt brin-
gen und die Verantwortung für sie übernehmen.


(Elke Ferner [SPD]: Schlimmer geht es nicht mehr!)


Eine Arztrechnung zu prüfen und sie bei der Kranken-
versicherung einzureichen, trauen Sie ihnen jedoch nicht
zu. Daran sieht man, dass Sie von einem anderen Gesell-
schaftsbild ausgehen als wir.


(Beifall bei der FDP)


Zu einem Krankenversicherungssystem gehören na-
türlich intelligente Selbstbeteiligungen. Sie haben die
Praxisgebühr eingeführt. Ist die Praxisgebühr eine intel-
ligente Selbstbeteiligung? Es weiß doch keiner, wofür er
diese 10 Euro zahlt. Das ist eine Abkassiergebühr. Da
sagen die Versicherten zu Recht: Ich habe eben 10 Euro
gezahlt. Was machen Sie damit? Dafür will ich wenigs-
tens geröntgt werden. – Wir brauchen eine Selbstbeteili-
gung, die in einem Zusammenhang steht. Nur wenn die
Versicherten Transparenz haben im Hinblick auf die
Leistungen, die sie nachfragen, werden sie bereit sein,
die Beiträge zu zahlen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Insofern glaube ich, dass Ihre Modelle – Praxisge-
bühr, Einheitskasse, Gängelung; vor allem, Lasten im-
mer weiter auf die kommenden Jahre zu schieben; aus-
ufernde Bürokratie, die den Versicherten die Wahl- und
Therapiefreiheit nimmt –


(Zurufe von der LINKEN)


angesichts der Herausforderungen einer alternden Be-
völkerung nicht die Lösung sind. Die Lösung ist die Um-
stellung auf Kapitaldeckung, ist das Setzen auf Eigen-
verantwortung mit einem sozialen Ausgleich für die, die
die Unterstützung der Gesellschaft brauchen. Genau das
schlagen wir Liberale vor.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620505800

Ich erteile dem Kollegen Dr. Faust das Wort zu einer

Kurzintervention.


Dr. Hans Georg Faust (CDU):
Rede ID: ID1620505900

Lieber Herr Kollege Bahr, eine Frage bleibt auch

nach dem ausführlichen Studium Ihres Antrages offen.


(Elke Ferner [SPD]: Eine Frage nur?)


– Es bleiben viele Fragen offen; aber ich habe nur Zeit
für eine entscheidende Frage.

Wie halten Sie es mit dem Krankheitsrisiko des Versi-
cherten? Möchten Sie in die Versicherung einen Risiko-
bezug aufnehmen oder nicht? Ohne einen Risikostruk-
turausgleich kommen Sie bei der gesamten Problematik
nicht weiter. Entscheidende Punkte fehlen also in Ihrem
Antrag. Ich bitte Sie um Aufklärung, ob ein mit Krank-
heit belasteter Versicherter einen höheren Beitrag zahlen
soll als ein gesunder und, wenn nein, wie Sie es dann mit
dem Risikostrukturausgleich halten wollen und ob nicht
am Ende bezüglich dieser wichtigen Frage der normale
Basistarif, den wir in der privaten Krankenversicherung
schon eingeführt haben, Modell gestanden hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620506000

Herr Kollege Bahr, zur Erwiderung. Bitte schön.


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620506100

Lieber Herr Kollege Faust, wenn Sie den Antrag le-

sen, dann werden Sie dort die Antwort auf Ihre Frage
finden.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben den Risikostrukturausgleich nicht abge-
schafft, sondern wir haben gesagt, dass er auf das not-
wendige Maß reduziert werden muss.


(Elke Ferner [SPD]: Was ist denn das notwendige Maß?)


Das genau ist die Kritik, die wir an dem morbiditäts-
orientierten Risikostrukturausgleich üben, den Sie einge-
führt haben. Sie haben ja die Idee: Je mehr Krankheiten
wir dabei berücksichtigen, desto gerechter wird das Sys-
tem.

An der jetzigen Umsetzung dieser Reform sehen Sie,
wie neue Ungerechtigkeiten entstehen, weil nur eine be-
stimmte Anzahl von Krankheiten in diesem Risikostruk-
turausgleich berücksichtigt wird.


(Elke Ferner [SPD]: Das wollte die Union so!)


Damit gibt es Krankheiten erster und zweiter Klasse,
weil die Krankenkassen plötzlich ein Interesse daran ha-
ben, nur diese Krankheiten, für die sie mehr Geld be-
kommen, zu berücksichtigen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt will er alle ausgliedern!)







(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

Daneben haben sie plötzlich ein Interesse daran, mög-
lichst viele Versicherte diesen Krankheitsbildern zuzu-
ordnen, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu er-
halten. Das ist ja mein Vorwurf: Statistisch gesehen
machen Sie Deutschland durch diese Reform in Wahr-
heit kränker.


(Beifall bei der FDP)


Hinsichtlich der Prämien haben wir klar gesagt, dass
unser Modell der dritte Weg zwischen der heutigen ge-
setzlichen Krankenversicherung und der heutigen privaten
Krankenversicherung ist. Unser Modell ist der dritte Weg
zwischen der sogenannten Bürgerversicherung – letztlich
der Einheitskasse – und einer einheitlichen Kopfpau-
schale. Mit unserem Modell sehen wir eine Pflicht zur
Versicherung vor, und jeder, auch derjenige mit einer
Vorerkrankung, hat einen Anspruch auf einen Versiche-
rungsschutz zumindest im Umfang der Regelleistungen.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Mit oder ohne Risikoprüfung? Männer anders als Frauen?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620506200

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla

Schmidt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1620506300

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Herr Bahr, ich hätte Ihnen gerne noch län-
ger zugehört; denn je länger Sie reden, desto deutlicher
wird, was tatsächlich in dem Antrag steht. Zu Beginn
hatte ich schon befürchtet, Sie würden nicht über den
Antrag reden, weil Sie lieber darüber schweigen, was da-
mit im Einzelnen verursacht wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch Ihre letzte Antwort ist sehr bezeichnend. Sie sa-
gen, jeder werde versichert, aber auf die Frage des Kol-
legen Faust, ob es risikoadjustierte Prämien gibt, ha-
ben Sie geschwiegen.


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wohin risikoadjustierte Prämien führen, die für Men-
schen, die eine Vorerkrankung haben, nicht mehr bezahl-
bar sind, kann ich Ihnen überall auf der ganzen Welt zei-
gen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Kollege, dadurch wird deutlich, was die FDP will
– das hat sie klar gesagt –,


(Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es!)


nämlich eine Spitzenmedizin für Wohlhabende und eine
Armenversorgung für das Volk. Das ist und bleibt Ihre
Devise in der Gesundheitspolitik.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [FDP]: So ein Quatsch!)


Gelernt haben Sie auch nichts. In der Vorbereitung zu
dieser Debatte fiel mir ein Interview Ihres Vorsitzenden
vom 11. Dezember 2008 im Stern ein. Dort wurde Herr
Kollege Westerwelle gefragt:

Ist Ihr Weltbild durch die Finanzkrise auf den Kopf
gestellt worden?

Antwort: „Nein“. – Es wurde weiter gefragt:

Die freien Finanzmärkte kollabieren – und für den
Marktanhänger Westerwelle ändert sich nichts?

Antwort: „Nein“.

Mit Ihrem Antrag, einen Angriff auf die gesetzliche
Krankenversicherung zu starten und die gesamte Ge-
sundheitsversorgung in ein kapitalgedecktes System zu
überführen, zeigen Sie, dass Sie nichts gelernt haben,
nicht einmal in Zeiten, in denen alle Menschen merken,
dass man dem Kapitalmarkt nicht alles anvertrauen
kann.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wollen Sie jetzt die Riester-Rente abschaffen, Frau Schmidt?)


Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Angriff auf das Herz-
stück unseres Sozialstaates;


(Beifall bei der SPD)


denn die medizinische Versorgung für alle, also unab-
hängig vom Einkommen, zeichnet unseren Sozialstaat
und auch das europäische Modell aus. Sie wollen hier
das bisherige amerikanische Modell einführen. Ich
bleibe dabei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620506400

Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Bahr?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1620506500

Nein.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr schwach, dass Sie meine Frage nicht zulassen!)


Wenn man Sie fragt, was Sie eigentlich dazu treibt,
dann müssten Sie sagen, dass das die Interessen Ihrer
Klientel und derjenigen sind, die Sie wählen. Die Sorge
um die Patientinnen und Patienten kann das aber nicht
sein. Dabei geht es auch nicht um Kostenerstattung oder
um Rechnungslegung. Wir alle haben nichts gegen
Rechnungslegung. Wir haben ein neues, transparentes
System eingeführt


(Lachen des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Ulla Schmidt
und wollen auch, dass die Versicherten wissen, was eine
Leistung kostet. Das bewirken wir im Moment durch die
Umstellung des Honorarsystems. Wir wollen aber nicht
das Kostenerstattungsprinzip, Herr Kollege.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kollegen von der FDP, eines ist auch klar:
Heute hat jeder Bürger und hat jede Bürgerin in
Deutschland Zugang zu einer medizinischen Versorgung
auf der Höhe des medizinischen Fortschritts, und zwar
durch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche-
rung.

Wenn Sie das Kostenerstattungsprinzip wollen, dann
sagen Sie den Menschen doch auch, was das bedeutet.
Das heißt, die Kreditkarte zu zücken, wenn man zum
Arzt geht. Etwas anderes ist das nicht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Quatsch!)


Man muss die Rechnung bezahlen und sich dann mit der
Versicherung darüber streiten, was erstattet wird und
was nicht erstattet wird. Deshalb wird zu Recht von de-
nen, die gegen Ihre Vorschläge sind, die Frage aufgewor-
fen, wie denn ein Durchschnittsverdiener in Deutsch-
land, dessen Verdienst bei rund 1 700 Euro netto liegt,
eine Transplantation bezahlen soll. Soll er mit bis zu
30 000 Euro für einen Herzschrittmacher in Vorleistung
treten? Muss man erst bezahlen, bevor man ins Kranken-
haus gehen darf? Was alles muss sonst noch vorgelegt
werden?

Nein, die Spitzenmedizin und die medizinische Ver-
sorgung für alle in Deutschland funktioniert nur deshalb,
weil Menschen diese Leistungen erhalten, ohne dass sie
in Vorleistung treten müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie von der FDP wollen ein bewährtes System zer-
schlagen. Gleichzeitig gehen Sie in der derzeitigen
Situation einen weiteren Schritt, indem Sie den Bereich
der Gesundheitsversorgung den Risiken der Finanzkrise
aussetzen wollen. Wir sind sehr froh darum, dass unser
Gesundheitssystem sehr unanfällig für diese Krise ist.
Sie hingegen holen die Krise rein. Wir könnten dann in
eine Situation wie in den USA kommen, wo heute Rent-
nerinnen und Rentner um ihre Rentenansprüche aus der
Kapitaldeckung bangen müssen.

Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir
werden mit dem ganzen Herzblut kämpfen, das wir ha-
ben: Menschen für Menschen. Das hat nichts damit zu
tun, dass man von der Hand in den Mund lebt.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist doch so bei Umlagesystemen!)


Sondern das hat etwas damit zu tun, dass nur die Solida-
rität aller, die Solidarität der Jungen mit den Alten, die
Solidarität der Gesunden mit den Kranken, die Solidari-
tät derer, die mehr haben, mit denen, die weniger haben,
dafür sorgt, dass die Frage, wo man eine gute Versor-
gung bekommt, wenn man krank ist, nicht davon ab-
hängt, ob man viel Geld oder wenig Geld hat. Das wer-
den wir nicht zulassen. Wir werden dafür streiten, dass
dieses System in unserem Land erhalten bleibt, weil es
das Kernstück ist.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620506600

Frau Ministerin, erlauben Sie jetzt eine Zwischen-

frage?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1620506700

Lassen Sie mich jetzt weiter zur Sache sprechen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620506800

Wenn Sie die Kollegen persönlich ansprechen, dann

sollten Sie ihnen auch eine Zwischenfrage erlauben.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1620506900

Gut. Das ist Ihr Kollege. Ich verstehe das, Herr Präsi-

dent.


(Widerspruch bei der FDP)


Vielleicht darf man aber auch eine Rede zu Ende hal-
ten. – Bitte schön.


(Zurufe)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620507000

Das hat damit nichts zu tun, Frau Kollegin.


(Iris Gleicke [SPD]: Das hat damit etwas zu tun! Das ist nicht gerechtfertigt!)


Sie wissen das. Wenn Sie persönlich ansprechen, sollten
Sie auch eine Zwischenfrage erlauben.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1620507100

Ich hatte die FDP angesprochen. Aber bitte.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Ich hatte mich auch angesprochen gefühlt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620507200

Herr Kollege Lanfermann.


(Elke Ferner [SPD]: Der neue Westerwelle!)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1620507300

Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, dass es in

Deutschland circa 8 Millionen Menschen, darunter circa
4 Millionen Beamte, gibt, die privat versichert sind, von
denen die meisten keineswegs Großverdiener sind, son-
dern Menschen mit ganz normalem oder oft sogar gerin-
gem Einkommen, die alle nicht nach dem Sachleistungs-
prinzip, sondern nach dem Kostenerstattungsprinzip
behandelt werden? Das heißt, diese Menschen bekom-
men Rechnungen, die sie prüfen und einreichen können.

Ist Ihnen bekannt, dass diese Menschen vor teuren
Behandlungen, deren Kosten sie schlecht verauslagen
können, eine entsprechende Anfrage bei ihrer Versiche-






(A) (C)



(B) (D)


Heinz Lanfermann
rung einreichen können und die Versicherung dann Kos-
tendeckung zusagt und die Kosten übernimmt, sodass
keineswegs – wie es vorhin schon falsch behauptet wor-
den ist – Menschen über ihre Leistungsfähigkeit hinaus
in Vorleistung treten müssen?


(Elke Ferner [SPD]: Das ist aber wenig Bürokratie!)


Sind Sie deswegen etwa der Meinung, dass diese Mil-
lionen von Bürgern in Deutschland jetzt in Armut verfal-
len oder geknebelt sind durch ein System, das Sie den
anderen 70 Millionen Menschen vorenthalten wollen?


(Beifall bei der FDP)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1620507400

Herr Kollege Lanfermann, bevor ich Ihnen antworte,

möchte ich mich zunächst bei dem Herrn Präsidenten
entschuldigen. Das war vorhin nicht in Ordnung.

Herr Kollege Lanfermann, sicher werden auch Sie in
Ihrer Eigenschaft als Abgeordneter deswegen ange-
schrieben. Ist Ihnen bekannt, dass es viele Menschen
gibt, die privat versichert sind, ihre Rechnungen einrei-
chen und dann feststellen, dass das eine oder andere
nicht von der Versicherung bezahlt wird? Das nimmt im-
mer mehr zu.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das kennen die Gesetzlichen auch!)


Wie wäre denn die Situation, wenn wir das flächende-
ckend einführen würden? Wie viele Menschen würden
erst gar nicht zum Arzt gehen, weil sie die Rechnung be-
zahlen und anschließend einreichen müssen, aber nicht
wissen, was sie zurückbekommen?

Ein System, wie wir es haben, ist wirklich ideal. Da-
bei geht es nicht darum, dass wir nicht die Transparenz
haben, dass der Versicherte weiß, welche Kosten entste-
hen. Mit der Transparenz habe ich kein Problem. Ich will
sie, und auch die Menschen wollen sie. Es geht darum,
dass man nicht in Vorleistung treten muss, sondern si-
cher sein kann, nach einer Krankenhausbehandlung
nicht anschließend eine Rechnung seiner Krankenkasse
oder des Krankenhauses zu bekommen, weil die Kran-
kenkasse sie nicht bezahlt hat. Das ist ein Herzstück der
gesetzlichen Krankenversicherung. Daran wollen wir
nichts ändern; denn es ist die Voraussetzung dafür, dass
wir die nötige Infrastruktur und eine medizinische Ver-
sorgung haben, an der jeder unabhängig vom Alter teil-
haben kann.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist denn mit meiner Frage?)


– Denn sonst muss man die Kreditkarte zücken.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Man muss doch keine Kreditkarte vorlegen! Das ist doch Unsinn!)


Wie sähe es denn bei den Ärzten aus, wenn nicht nur
10 Prozent der Patientinnen und Patienten, sondern
100 Prozent privat versichert wären? Wie sähe es dann
mit der Vorkasse aus, wenn man schon jetzt glaubt, Vor-
kasse einführen zu können? Ich kann mir lebhaft vorstel-
len, wie das aussähe. Dafür brauche ich nicht viel Fanta-
sie. Dann würde von Kunden, von denen ein Arzt
befürchtet, sie könnten das Geld für die Behandlung
nicht aufbringen oder das Geld von der Versicherung
würde nicht beim Arzt ankommen, Vorkasse verlangt,
ehe die Behandlung stattfinden kann. Das wollen wir
nicht.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Wir werden mit unserer ganzen Kraft dagegen kämpfen,
dass so etwas in diesem Land eine Mehrheit findet. Denn
das wäre das Ende unseres Sozialstaats.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist jetzt mit der Antwort auf meine Frage?)


– Das ist die Antwort auf Ihre Frage.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Und die Beamten?)


– Für die Beamten gilt das auch. Bekommen Sie solche
Briefe nicht? Die Beamten haben aber zumindest die Si-
cherheit, dass sie die Beihilfe bekommen.

Sie wollen ein ganzes Land privat mit risikoadjustier-
ten Prämien versichern. Sie wollen Kapitaldeckung
einführen. Rechnen Sie das einmal hoch! Heute hat die
PKV für 10 Prozent der Versicherten Altersrückstellun-
gen in Höhe von 130 Milliarden Euro. Das muss man
auf 82 Millionen Menschen hochrechnen. Dann kommt
man bis auf zu 2 Billionen Euro. Wo sollen die 2 Billio-
nen Euro denn angelegt werden? In Deutschland, bei
Lehman Brothers, oder was schlagen Sie vor?


(Beifall bei der SPD)


Wo soll das Geld denn hin? Nach Island? Ich kann das
noch weiter ausführen. Wenn Sie mit diesem Geld die
deutsche Industrie aufkaufen wollen, so könnten Sie da-
mit alle Dax-Unternehmen fünfmal bezahlen. Kommen
Sie auf den Boden der Tatsache zurück! Die Kapitalde-
ckung können wir in der Gesundheitsversorgung nicht
gebrauchen. Klar ist auch: Selbst in den USA kommt
keiner – nicht einmal die Republikaner – auf die Idee,
die Kapitaldeckung in der Gesundheitsversorgung einzu-
führen. Das sollte Ihnen zu denken geben.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein anderer Punkt: Unsere gesetzliche Krankenversi-
cherung, die bald 126 Jahre alt wird, ist gegründet wor-
den, um Menschen gegen Lohnausfall bei Krankheit
abzusichern und eine gute Versorgung der Versicher-
ten einschließlich der Familien für den Fall, dass ihr Er-
nährer krank wird, im Krankheitsfall sicherzustellen. Die
gesetzliche Krankenversicherung hat sich bewährt. Sie
hat zwei Kriege überstanden.

Die gesetzliche Krankenversicherung hat auch bei der
deutschen Wiedervereinigung dafür gesorgt, dass die






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Ulla Schmidt
Menschen über Nacht versichert waren. Was glauben
Sie, wie die privaten Krankenversicherungen dies ge-
schafft hätten, wenn sie für 15 Millionen Menschen pri-
vate Versicherungsverträge hätten abschließen müssen?
Was wäre dann mit der Kapitaldeckung gewesen? Was
hätten Sie gemacht, um dies zu finanzieren? In Ihrer Re-
gierungsverantwortung sind auch die Gelder der Sozial-
kassen dazu herangezogen worden, die deutsche Einheit
zu finanzieren. Man kann vieles glauben. Aber dass Sie
damals die Rücklagen der privaten Krankenversicherung
für die Finanzierung eingesetzt hätten, wie man es bei
den sozialen Sicherungssystemen gemacht hat, glaube
ich Ihnen nicht.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr froh über Ihren Antrag, weil damit noch
einmal deutlich wird, worin wir uns unterscheiden.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist gut!)


Unsere Politik setzt auf Solidarität statt auf Ausgren-
zung. Wir wollen, dass Menschen füreinander einstehen,
statt dass jeder für seine individuellen Lebensrisiken pri-
vat einstehen soll. Wir wollen nicht, dass das Guthaben
auf der Bank entscheidend dafür ist, ob man eine gute
medizinische Versorgung erhält. Was Sie in Ihrem An-
trag fordern, führt – es wurde bereits angesprochen –
weg von dem, was unseren Sozialstaat auszeichnet, und
was ihn für die Menschen in der ganzen Welt – auch für
Gesundheitsökonomen und Mediziner – so attraktiv
macht, die sich anschauen, wie es die Deutschen schaf-
fen, dass wir eine gute medizinische Versorgung haben.
Es handelt sich um eine einzigartige Infrastruktur, die es
nur deshalb gibt, weil die gesetzliche Krankenversiche-
rung mit ihren Verträgen dafür sorgt.


(Beifall bei der SPD)


Unser Weg ist anders als Ihrer. Wir wollen keine Um-
stellung auf sogenannte leistungsgerechte Prämien. Da-
rüber haben wir bereits 2005 debattiert. Drei Viertel der
Versicherten würden dann zu Antragstellern auf Sozial-
leistungen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Bei Ihnen werden sie zu Bittstellern einer Einheitskasse!)


Es hat für mich etwas mit der Würde des Menschen zu
tun, wenn künftig drei Viertel unserer Bürgerinnen und
Bürger Zuschüsse beantragen müssten. Ich habe dazu
noch andere Fragen an Sie, meine Damen und Herren
von der FDP. Wie passt das alles denn zu Ihrer Steuer-
senkungsideologie?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie geben vor, die Partei der Steuersenkungen zu sein,
und brauchen dann 35 Milliarden Euro oder noch mehr
für das Gesundheitswesen.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Die nehmen das aus dem Steuersäckel, ist doch klar!)


Nein, wir beschreiten einen anderen Weg. Wir behalten
das bei, was die Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre
als demokratischen und sozialen Bundesstaat ausge-
zeichnet hat und was in Art. 20 des Grundgesetzes steht.
Das ist für uns eine Verpflichtung. Daran werden wir
nicht rütteln.

Die gesetzliche Krankenversicherung muss sicher-
lich ständig weiterentwickelt werden. Wir brauchen Re-
formen und eine Antwort auf die Herausforderungen.
Unser Gesundheitswesen ist in all den Jahren unserer
Republik von sozialdemokratischen, konservativen und
manchmal auch von liberalen Politikern mitgetragen
worden. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie hat-
ten Parlamentarier wie Dieter-Julius Cronenberg in Ihren
Reihen, die auch als Liberale wussten, dass der Sozial-
staat einen Wert an sich hat. Ich bin davon überzeugt:
Jeder, der glaubt, dass man an dieses bewährte System
die Axt anlegen kann, wird sich in diesem Land warm
anziehen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ernst Burgbacher [FDP]: Sie legen doch die Axt an!)


Die Menschen mögen über das eine oder das andere
schimpfen, protestieren oder verärgert sein. Aber eines
möchten sie nicht – darin bin ich mir ganz sicher –:


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dass Sie weiterhin Gesundheitsministerin sind! Das möchten die Menschen wirklich nicht!)


das bewährte Umlageprinzip aufgeben; denn sie haben
erfahren, dass das Prinzip „Menschen für Menschen“ so-
zialer, besser und gerechter ist, als sich den Risiken des
Kapitalmarktes auszusetzen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die Absicherung des sozialen Risikos Krankheit ist
für uns Sozialdemokraten eine wesentliche Vorausset-
zung für Freiheit, und zwar nicht irgendwann, sondern
jetzt. Dabei ist Freiheit zugleich Weg und Ziel. Wir wol-
len Freiheit, die durch soziale Gerechtigkeit ermöglicht
wird und in Solidarität mündet. Deshalb werden wir das
bestehende Gesundheitswesen verteidigen. Wir werden
es zu einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, in der
alle Menschen zu gleichen Bedingungen einzahlen und
ihre Krankenkasse frei wählen können, jede Kranken-
kasse jeden ohne Berücksichtigung des jeweiligen Risi-
kos versichern muss und es keine risikoadjustierten Prä-
mien gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheitsver-
sorgung ist gegen die Krise gut geschützt. Für Experi-
mente à la FDP sollte uns die gesetzliche Kranken-
versicherung zu schade sein. Ich bin mir jedenfalls mit
dem Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse, Jo-
hannes Vöcking – und mit ihm bin ich durchaus nicht
immer einer Meinung –, in einem Punkt einig. Er hat ge-
sagt – andere Vorstandsvorsitzende von Krankenkassen
haben das ähnlich ausgedrückt –, die FDP-Pläne seien
„ein Programm gegen den sozialen Frieden in unserem
Land“.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Ulla Schmidt

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Vöcking, der in Ihrer Regierungszeit eine hohe
Funktion im Kanzleramt innehatte, hofft, dass „die Wäh-
lerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl solche Vor-
stellungen gründlich abstrafen“. Dem ist nichts hinzuzu-
fügen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ihre Angst, nicht wiedergewählt zu werden, muss sehr groß sein, Frau Schmidt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620507500

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-

gin Dr. Martina Bunge von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620507600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Antrag zeigt sehr deutlich, wes Geistes Kind die FDP ist.
Der Antrag trägt meines Erachtens nicht unbedingt zu ei-
ner ernsthaften Debatte über ein zukunftsfähiges, ge-
rechtes und bezahlbares Gesundheitssystem bei. Die De-
batte zeigt: Wir alle fechten hier Abwehrkämpfe aus, es
ist aber dringend notwendig, sich über die Zukunft des
Gesundheitssystems den Kopf zu zerbrechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Grunde zeigt Ihr Antrag vor allem, worum es Ih-
nen nicht geht: Ihnen geht es nicht um die Gesundheit
der Bürgerinnen und Bürger. Ihnen geht es darum, die
viel beschworene Eigenverantwortung hervorzuheben.
Sie soll auch bei Krankheit greifen. Besonders hier zeigt
sich, wie absurd diese Vorstellung – an falscher Stelle
gedacht – ist. Diese Vorstellung blendet völlig aus, dass
Menschen bereits unterschiedlich gesund und mit unter-
schiedlichen Möglichkeiten auf die Welt kommen. Diese
Vorstellung blendet aus, dass Menschen in diesem Land
nicht im luftleeren Raum leben; sie leben in ganz realen
gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir wissen: Menschen
mit geringerer Bildung leben kürzer als Menschen mit
höherer Bildung, Ärmere leben kürzer als Reichere, Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer leben kürzer als Ar-
beitgeber. Krankheit hat in den seltensten Fällen etwas
mit Schuld zu tun, für die man Verantwortung überneh-
men könnte. Sie hat aber viel mit der sozialen Lage der
Menschen zu tun, und die haben sich die Menschen zu-
meist nicht ausgesucht.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach Ihrer Ansicht sollen die Menschen die Verant-
wortung dafür übernehmen, dass sie arm, krank oder bei-
des sind. Menschen für etwas zur Verantwortung heran-
zuziehen, worauf sie keinen oder kaum Einfluss haben,
ist einfach zynisch.


(Beifall bei der LINKEN)

Es ist ein Glück, gesund zu sein. Es sollte dazu
verpflichten, mit denen, die weniger Glück haben,
solidarisch zu sein. Wir brauchen eine gemeinsame Ver-
antwortung für soziale Risiken. Wir brauchen kein unso-
lidarisches Privatversicherungssystem, sondern eine so-
lidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen ein präventives Gesundheitssystem
– das ist die Herausforderung der Zukunft, von der ich
anfangs sprach –, und wir brauchen unbedingt eine ge-
sundheitsfördernde Gesamtpolitik. Den Blick dafür hat
meines Erachtens das ganze Haus noch nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Gesundheitssystem darf die sozial Benachteiligten
nicht von einer umfassenden Gesundheitsversorgung
ausschließen. Dabei knüpfe ich an die Debatte über das,
was wirklich medizinisch notwendig ist, an. Ich denke,
hier haben wir den Ausschluss von umfassender Ge-
sundheitsversorgung.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das steht im SGB V! Sie haben nie beantragt, das zu ändern!)


Im Gegenteil: Wir müssen gerade den Menschen, die so-
zial benachteiligt sind, die gesellschaftliche Teilhabe er-
möglichen und einen Ausgleich für die Benachteiligung
schaffen.

Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
erwähnen in Ihrem Antrag mit keiner Silbe Prävention
oder Gesundheitsförderung. Sie haben offensichtlich de-
ren Bedeutung noch nicht wirklich – jetzt benutze auch
ich dieses Wort – erkannt.


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei besteht nach Ansicht aller Fachleute akuter Hand-
lungsbedarf. Schlimm ist, dass auch die Koalition in die-
ser Frage versagt. Uns in der Bundesrepublik fehlt drin-
gender denn je ein Präventionsgesetz. Wir alle wissen
auch – deshalb mein Blick zur SPD –, woran das in die-
sem Haus liegt.

Ebenso scheinen die wissenschaftlichen Erkenntnisse
zur sozialen Ungleichheit und zu ungleich verteilter Ge-
sundheit vollends an der FDP vorübergegangen zu sein.
Ansonsten hätten Sie bemerkt, dass Sie mit Ihrer un-
sozialen Politik sogar gegen die Interessen Ihrer eigenen
Wählerschaft verstoßen;


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Glauben Sie, die kennen Sie besser als wir?)


denn in Ländern mit besonders großen sozialen Un-
gleichheiten ist die Gesundheit aller schlechter, also
auch derer, denen es finanziell besser geht. Sie verwen-
den andauernd die sinnentleerte Phrase, Solidarität sei
keine Einbahnstraße, und verweisen auf die Eigenver-
antwortung. Übersetzt heißt das für mich nichts anderes,
als die Solidarität aufzulösen.

Aber: Solidarität hält die Gesellschaft zusammen.
Deshalb gelten für die Linke in der Gesundheitspolitik
weiterhin die Grundsätze: Gesundheit ist ein Menschen-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Martina Bunge
recht. Jeder gibt nach seinen Möglichkeiten, und jeder
erhält nach seinem Bedarf. Das wäre gelebte Solidarität.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620507700

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Koschorrek

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rolf Koschorrek (CDU):
Rede ID: ID1620507800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! In der vergangenen Woche wurde uns in
der Presse ein großes gesundheitspolitisches Konzept
der FDP in Aussicht gestellt. Dieses Konzept sollen wir
nun heute hier im Bundestag empfangen.


(Elke Ferner [SPD]: Nicht angekommen!)


Um es kurzzufassen: Ich bin sehr erstaunt – um nicht
zu sagen: enttäuscht – darüber, dass der FDP nichts Bes-
seres, vor allen Dingen nichts Konkreteres zur Gesund-
heitspolitik einfällt.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich bin gespannt, mal was über das Konzept der Union zu hören!)


– Das steht hier heute nicht zur Debatte.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Es gibt überhaupt kein Konzept der Union, oder was?)


Was die FDP uns hier vorlegt, ist kein gesundheits-
politisches Programm und schon gar kein Konzept; es ist
vielmehr eine Zusammenstellung von Allgemeinplätzen
und banalen Feststellungen. Es ist ein Wunschkonzert,
das Forderungen nahezu aller am System Beteiligten zu
erfüllen versucht. Es gibt vor, dass bei seiner Umsetzung
alle Wünsche und Erwartungen von allen am System Be-
teiligten – von Patienten, Ärzten, Heilberuflern – erfüllt
werden können.


(Elke Ferner [SPD]: Insbesondere die Wünsche der privaten Versicherungswirtschaft!)


Dieses vermeintliche Konzept ist allseits gefällig. Es
hat nur einen entscheidenden Fehler: Sie stellen es nicht
auf den Boden der Realität.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)


Wer gute Ideen verkündet, sollte sich auch Gedanken
darüber machen, wie sie zu verwirklichen sind, sollte ei-
nen Plan haben, welche Maßnahmen in welcher Reihen-
folge zur Realisierung zu ergreifen sind. Vor allem schei-
nen Sie überhaupt keinen Ansatz zu haben, wie das
rundherum perfekte System, das Sie sich hier vorstellen,
finanziert werden soll. Sie scheinen auch keinen Ansatz-
punkt dafür zu haben, welche Kosten aufgeworfen wer-
den, welche Finanzierungsverschiebungen entstehen. Ich
finde kein Wort zur Überwindung der erheblichen recht-
lichen Hürden, die Ihren Weg sicherlich noch behindern
werden.
Dabei kann ich der Kritik, die Sie Ihren Ausführun-
gen voranstellen, zumindest teilweise durchaus zustim-
men. Sie beschreiben die Schwächen und Probleme un-
seres jetzigen Systems weitgehend richtig und geben
eine nicht ganz unzutreffende Analyse. Die Konsequen-
zen, die Sie daraus ziehen, sind aber leider nur plakativ
und populistisch.

Tatsächlich bestreitet doch kaum jemand, dass unser
Gesundheitswesen weiterer Reformen bedarf. Unter-
schiedliche und teilweise konträre Auffassungen beste-
hen sicherlich nur darüber, in welche Richtung diese
Strukturen geändert werden sollen. Weil die Notwendig-
keit struktureller Veränderungen allgemein bekannt und
akzeptiert ist, beinhaltet die von uns in der Großen
Koalition in dieser Legislaturperiode beschlossene Ge-
sundheitsreform auch Strukturveränderungen, während
es in den vorausgegangenen Reformjahren eigentlich
immer nur um verschiedene Varianten der Kostenbe-
grenzung ging.

Das GKV-WSG führte den Wettbewerb unter den
Krankenkassen ein und stellte die gesamte Finanzierung
– die Einnahme- wie die Ausgabenseite unseres Gesund-
heitssystems – auf eine solidere, zukunftsfestere Basis.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich glaube nicht, dass Sie das glauben, Herr Koschorrek!)


Die Union will diese Strukturen durch konkrete, sauber
kalkulierte und rechtlich einwandfreie Maßnahmen nach
der Bundestagswahl mit einer neuen Mehrheit der bür-
gerlichen Mitte sicherlich weiterentwickeln. Neben aller
Kritik an Ihren grundsätzlichen Ausführungen, die sich
bisher allem Konkreten verweigern, finden sich doch ei-
nige Punkte, die wir seitens der Union durchaus teilen.
Zwei Beispiele möchte ich dafür nennen:

Da ist zum einen das Prinzip der Subsidiarität. Es
stellt eine der fundamentalen Grundüberzeugungen auch
der Union dar und lautet: Die individuelle Verantwor-
tung hat Vorrang vor staatlichem Handeln. Für das Ge-
sundheitswesen heißt dies, dass der Einzelne wieder
mehr Eigenverantwortung übernehmen muss,


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Art. 1 des Grundgesetzes!)


sowohl hinsichtlich der Prävention als auch der finan-
ziellen Beteiligung und der Wahlmöglichkeiten hinsicht-
lich der medizinischen Leistungen. Allerdings finde ich
in Ihrem Antrag kein Wort zu den Bedingungen, die da-
für erforderlich sind: die nötige Förderung von Transpa-
renz, von Übersichtlichkeit in diesem System. Wenn ich
Eigenverantwortung in einem System einfordere, dann
muss ich dafür sorgen, dass diejenigen, die ich in diese
Eigenverantwortung stellen will, auch in der Lage sind,
das System zu verstehen. Dazu schweigen Sie sich völlig
aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine weitere Gemeinsamkeit – zumindest nach der
Überschrift – betrifft die Wertschätzung für den freibe-
ruflichen Heilberufler. Auch nach unserer Überzeugung
– so steht es auch im Grundsatzprogramm der Union –
gehören die freie Arztwahl und die freien Gesundheits-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Rolf Koschorrek
berufe zum Kern eines freiheitlichen Gesundheitswe-
sens, wie wir es in Deutschland haben wollen. Da be-
steht zwischen uns sicherlich Einigkeit.

Was Sie allerdings zur Finanzierung des ganzen Sys-
tems vorschlagen, ist Ausdruck von Realitätsverlust. Sie
haben kein Wort dazu gesagt, wie Sie die Prämien kal-
kulieren wollen. Mehrere Nachfragen zur Risikoadjus-
tierung haben Sie unbeantwortet gelassen. Für mich ist
eindeutig: Bei Ihrem System – das als Zusammenfas-
sung – steht der Basistarif für die gesamte Bevölkerung
im Raum. Das ist ein Weg, den wir als Union mitzuge-
hen nicht bereit sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Mittelstandsverarmungsprogramm! Man braucht nur in die USA zu gucken!)


Zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven
brauchen wir mehr Wettbewerb der Anbieter im Ge-
sundheitswesen. Mit unserer Gesetzgebung der letzten
Jahre haben wir eindeutig diesen Weg eingeschlagen.

Gleichzeitig kann es nicht darum gehen, den Kräften
des Marktes durch Angebot und Nachfrage freies Spiel
zu gewähren. Es ist klar, dass wir seitens der Gesund-
heitspolitik lenkend und regulierend eingreifen müssen,
um die Qualität der Gesundheitsversorgung in unserem
Land zu gewährleisten. Für den Patienten, den Versi-
cherten und den Kunden muss die Wahlmöglichkeit zwi-
schen Ärzten und Anbietern auf dem Gesundheitsmarkt
gewährleistet bleiben. Wir verhindern, dass unser Ge-
sundheitssystem in die Hand von Konzernen fällt, wo,
losgelöst von den Verpflichtungen und vom Ethos der
Heilberufler, rein kommerzielle Interessen zählen.

Wenn Sie nach der Wahl tatsächlich Regierungsver-
antwortung übernehmen wollen


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Letztes Mal lag es an Ihnen!)


und auch in der Gesundheitspolitik ein Wörtchen mitre-
den möchten, müssen Sie mehr bieten und können nicht
nach Art reiner Opportunisten nur Fundamentalkritik
vorbringen. Es reicht nicht, dass die Abschaffung des
Gesundheitsfonds die zentrale Forderung der FDP in den
Koalitionsverhandlungen sein soll, so wie Sie als ge-
sundheitspolitischer Sprecher es in der letzten Woche im
Handelsblatt verkünden ließen.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das wissen die auch!)


Da gehören schon konkretere Pläne und Vorstellungen
auf den Tisch. Es reicht nicht, eine Reihe guter Ideen zu
haben; Sie müssen auch sagen, wie diese Ideen in die
Realität umgesetzt werden können.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir und die Wähler haben ein begründetes Interesse
daran, etwas genauer zu erfahren, was die FDP will, was
sie für realistisch hält und vor allem was es kostet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da können wir gegenseitig Papiere vorlegen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620507900

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Jens Spahn von der CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1620508000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-

nes finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege Bahr:
Sie beantragen eineinhalb Stunden Debatte zu Ihrem An-
trag und wundern sich fortwährend darüber, dass wir Ih-
ren Antrag und alles, was an Unschärfe darin enthalten
ist, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Kein Problem!)


Dann hätten Sie nicht beantragen dürfen, ihn heute zu
behandeln, schon gar nicht in dieser Länge.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Debatte über einen solchen Antrag beinhaltet na-
türlich die Chance, Schnittmengen – der Kollege Ko-
schorrek hatte schon auf einige hingewiesen –, aber auch
Trennendes aufzuzeigen, wenn es etwa darum geht, das
Wettbewerbs- und Kartellrecht auch im Gesundheitsbe-
reich konsequent anzuwenden oder eine Kapitalrücklage
einzuführen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!)


Frau Ferner, „Kapitalrücklage“ heißt per definitionem:
sparen, um für die Kosten in der Zukunft vorzusorgen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Es geht doch!)


Herr Kollege Koschorrek hat gerade gesagt, dass es auch
darum geht, die Freiberuflichkeit in den Mittelpunkt zu
stellen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Endlich hören wir das mal wieder von der CDU!)


Denn das wollen wir: freiberuflich tätige Ärzte – nicht
Ärzte, die als Angestellte Dienst nach Vorschrift ma-
chen, von 8 bis 16 Uhr –, wie sie heute mit großem
Engagement im Land unterwegs sind. Es gibt also viele
Chancen, Gemeinsamkeiten zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Endlich hören wir so etwas mal wieder von der Union! Das haben wir lange vermisst!)


Wenn ich gerade beim Thema Ärzte bin – Sie haben
das auch im Zusammenhang mit den Vergütungen ange-
sprochen –: Es gibt in diesem Jahr mit 30 Milliarden
Euro einen enormen Zuwachs bei der ärztlichen Ver-
sorgung. Gleichzeitig ist überall das Gefühl vorhanden,






(A) (C)



(B) (D)


Jens Spahn
dass für die Versorgung weniger zur Verfügung steht.
Wir müssen in diesem Hause deutlich machen, dass wir
die Selbstverwaltung in der Verantwortung sehen,


(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)


wenn es darum geht, Verteilungsprobleme in den Griff
zu bekommen, aber auch die Bundesregierung in der
Verantwortung sehen, Frau Ministerin, wenn es darum
geht, das, was wir als Gesetzgeber zur Honorarordnung
gewollt haben, gemeinsam mit den Selbstverwaltungs-
gremien jetzt auch auf den Weg zu bringen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie haben sich andauernd eingemischt und Vorgaben gemacht!)


Es geht aber auch darum, Herr Kollege Bahr, zu
schauen, wo es nicht ganz so passt im Antrag. Darin
heißt es sinngemäß, man solle mit mehr Kreativität Effi-
zienzreserven heben. Das klingt gut. Gleichzeitig sagen
Sie: Rabattverträge sind furchtbar. Ausschreibungen und
Wettbewerb zwischen den Ärzten, das geht gar nicht. Da
muss man sich schon entscheiden. Wenn man ein biss-
chen mehr Kreativität fordert, muss man das auch ir-
gendwie ausfüllen. Gleichzeitig lehnen Sie aber alles ab,
was wir in den letzten Jahren an neuen Strukturelemen-
ten in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt
haben. Diese hatten gerade das Ziel, Effizienzreserven
zu heben, und zu erreichen, dass man im Arzneimittelbe-
reich, etwa im Generikamarkt, im Sinne der Patienten
und für die Versorgung der Patienten noch Geld heraus-
holt.

Beim Wettbewerb muss man immer einen Spagat
machen. Wettbewerb ist immer unübersichtlich, eben
weil es verschiedene Angebote gibt, zwischen denen
man wählen muss. Die Krankenkassen haben nämlich
nun die Möglichkeit, Verträge mit unterschiedlichen Ra-
batten abzuschließen und unterschiedliche Ausschrei-
bungen zu machen. Ein Gesundheitssystem mit Wettbe-
werb ist natürlich unübersichtlicher als eines mit einer
Einheitskasse. Trotzdem wollen wir Wettbewerb. Es ist
aber völlig diffus, wenn Sie einerseits Uneinheitlichkeit
ablehnen, aber andererseits fordern, Effizienzreserven zu
heben. Beides zusammen geht in diesem Bereich nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum Sie sich
weigern, im Rahmen dieser Diskussion klar zu sagen, in
welcher Form und Höhe Prämien erhoben werden sol-
len. Ich unterstelle Ihnen gar nicht, dass Sie eine risiko-
äquivalente Prämie wie in der privaten Krankenversiche-
rung fordern, dass also der Kranke mehr als der Gesunde
zahlen muss. Aber wenn Sie das nicht wollen, bleibt als
Ihr Konzept nur noch die Bürgerprämie à la Rürup und
anderer übrig.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)


Das kann man wollen. Das ist okay. Ich sehe darin sogar
eine gute Basis für eine Diskussion.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Es gibt ja kein Konzept der Union!)


Aber das Problem ist, dass Sie das nicht klar sagen. Da-
durch, dass Sie so diffus und unpräzise in Ihren Aussa-
gen bleiben, liefern Sie denjenigen im Hause, die etwas
ganz anderes wollen, eine ideale Vorlage. Das haben Sie
ja an den heutigen Reden gesehen. Das hat den Tenor der
Debatte heute bestimmt. Dass das in Ihrem Antrag nicht
klarer dargestellt wird, finde ich schade.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620508100

Herr Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Bahr?


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1620508200

Ja, klar. Immer.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620508300

Bitte schön.


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1620508400

Herr Kollege Spahn, Sie haben der FDP vorgeworfen,

im Diffusen zu bleiben. In der Ärzte Zeitung werden al-
lerdings Sie, Herr Kollege Spahn, mit der Aussage zi-
tiert,

dass der Union momentan eine „Leitidee“ in der
Gesundheitspolitik fehle.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Frage, sondern eine Antwort!)


Sie haben in schönen Worten gesagt, was Sie sich
vorstellen. Gleichzeitig lesen wir an vielen Stellen, dass
Sie sich von der Prämienfinanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung verabschieden wollen. Können Sie
mir einmal erklären, wie jetzt der Stand der Dinge bei
der Union ist?


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1620508500

Ich kann Ihnen erstens erklären – das wissen Sie aus

eigener Erfahrung –, dass das mit Zitaten in Zeitungen
immer so eine Sache ist.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!)


Zum Zweiten möchte ich festhalten: Sie stellen sich hier
hin und behaupten, Sie hätten das Konzept für die Zu-
kunft. Sie beantragen dazu eine Debatte über anderthalb
Stunden im Deutschen Bundestag und füllen seit Tagen
die Zeitungen mit dem „Gegenmodell der FDP“. Fragt
man dann aber, nachdem man sich das genauer ange-
schaut hat, hier konkret nach, wie das genau aussehen
soll, kommt nichts. Hier liegen Anspruch und Wirklich-
keit einfach nicht nahe genug beieinander.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem habe ich bei der Veranstaltung zum
Gesundheitsfonds im Übrigen auch gesagt, dass es






(A) (C)



(B) (D)


Jens Spahn
darum gehen muss, den Gesundheitsfonds weiterzuent-
wickeln. Allerdings zu behaupten, der Gesundheitsfonds
an sich würde in den nächsten zwei bis drei Jahren wie-
der abgeschafft, ist unrealistisch; das wissen Sie selber,
auch wenn Sie in Ihren Reden etwas anderes fordern.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wollen Ihre eigenen Leute! Herr Söder will ihn abschaffen!)


Sicher ist nicht alles perfekt. Bei einer Weiter- und
Fortentwicklung geht es deshalb zum Beispiel um die
Fragen, ob die Begrenzung des Zusatzbeitrages auf
1 Prozent sinnvoll ist, wie der Risikostrukturausgleich
weiterentwickelt werden kann und wie das Verhältnis
zwischen Steuergeldern und Gesundheitssystem grund-
sätzlich aussehen soll. Insofern bin ich für eine Weiter-
entwicklung des Fonds. Diese ist auf jeden Fall nötig.

Ich halte es auch für eine gute Diskussionsgrundlage,
das alles unter dem Ziel der Einführung einer Bürgerprä-
mie zu diskutieren. Das eigentliche Problem ist aber,
dass Sie jetzt sofort den Totalumbau fordern, ohne genau
zu benennen, wie das vonstatten gehen soll. Mit solchen
Forderungen verunsichern Sie – das tun Sie ja mittler-
weile fast schon im Jahresrhythmus – 70 Millionen Ver-
sicherte und die Menschen, die im Gesundheitswesen tä-
tig sind. Es ist also unrealistisch, in den nächsten zwei
bis drei Jahren eine Totalreform zu machen. Man muss
nämlich erst einmal die Dinge, die man beschlossen hat,
entsprechend wirken lassen.

Schließlich auch noch etwas zu Ihrer Aussage, Herr
Lanfermann, dass Patienten Kunden seien. Man kann si-
cherlich Teilaspekte des Patientendaseins auch unter
dem Kundenaspekt betrachten, aber zu sagen, Patienten
seien Kunden


(Heinz Lanfermann [FDP]: Habe ich nicht gesagt!)


– haben Sie mehrfach gesagt, auch auf entsprechende
Nachfragen –,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nein! Ich habe gesagt: „auch Kunden“!)


im Sinne eines Marktteilnehmers, der nachfragt, ist eine
zu radikale Formulierung,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Was lesen Sie denn da wieder?)


die auch leider nicht konsequent zu Ende gedacht ist.
Das taugt vielleicht für einen momentanen Höhenflug,
aber das taugt mit Sicherheit nicht dazu, zu einer Volks-
partei zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Haben wir auch nicht vor!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620508600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11879 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d, 24
sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:

33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Christian Ahrendt, Gisela
Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP

Nationale Küstenwache schaffen
– Drucksache 16/8543 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP

Verbraucherfreundliche und praxistaugliche
Lebensmittelkennzeichnung durchsetzen –
Verbots- und Bevormundungspolitik verhin-
dern

– Drucksache 16/11671 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Anreizregulierung im Strom- und Gassektor
nachbessern – Benachteiligung von städti-
schen Versorgern verhindern
– Drucksache 16/11878 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung

Technikfolgenabschätzung (TA)


TA-Projekt: Gendoping
– Drucksache 16/9552 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Omid Nouripour, Winfried Nacht-
wei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Westeuropäische Union als überholtes
Konstrukt auflösen

– Drucksache 16/11765 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Verteidigungsausschuss
Federführung strittig

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Datenschutz für Beschäftigte stärken

– Drucksache 16/11376 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase,
Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Förderung des wissenschaftlichen Nachwuch-
ses ausbauen

– Drucksache 16/11883 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Entwicklungschancen für den wissenschaft-
lichen Nachwuchs schaffen

– Drucksache 16/11880 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Acker-
mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Faires Nachversicherungsangebot zur Verein-
heitlichung des Rentenrechts in Ost und West

– Drucksache 16/11236 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisun-
gen: Das sind die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d sowie
Zusatzpunkte 3 a bis 3 d. Interfraktionell wird vorgeschla-
gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen, wobei die Vorlage auf Druck-
sache 16/11376 – das ist der Zusatzpunkt 3 a – federführend
bei dem Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden
soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist: Tagesordnungspunkt 24. Inter-
fraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen betreffend die Westeuropäische
Union auf Drucksache 16/11765 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-
führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union. Wer ist für diesen Vorschlag von
Bündnis 90/Die Grünen? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung
von Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller ande-
ren Fraktionen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Ge-
genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stim-
men aller übrigen Fraktionen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.

Zunächst einmal Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes über den Bau und den Be-
trieb von Versuchsanlagen zur Erprobung von
Techniken für den spurgeführten Verkehr
– Drucksache 16/9899 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 16/11304 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11304, den Gesetzentwurf des Bundesra-
tes auf Drucksache 16/9899 abzulehnen. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen von FDP und den Linken abge-
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 34 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Götz,
Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Die integrierte Stadtentwicklung weiter aus-
bauen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Dö-
ring, Gisela Piltz, Horst Friedrich (Bayreuth),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP

Innenstädte stärken – Kooperationen för-
dern – Städtebauförderung weiterentwi-
ckeln

– Drucksachen 16/11414, 16/8076, 16/11875 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Weis
Peter Hettlich

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/11875, den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck-
sache 16/11414 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung hat in seine Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/11875 den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/8076 zur Städtebauförderung miteinbe-
zogen. Über die hierzu ergangene Beschlussempfehlung
soll jetzt ebenfalls abgestimmt werden. Sind Sie mit die-
sem Verfahren einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
machen wir das so.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/11875 die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/8076 mit dem Titel „Innenstädte stärken – Koopera-
tionen fördern – Städtebauförderung weiterentwickeln“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion
und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 34 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung

Einhundertsiebenundfünfzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste

– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –

– Drucksachen 16/11614, 16/11718 Nr. 2.1,
16/11779 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Burgbacher

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11779, die Aufhebung der Ver-
ordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-
tionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Änderung der Verordnung
zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger or-
ganischer Verbindungen beim Umfüllen und
Lagern von Ottokraftstoffen – 20. BImSchV

– Drucksachen 16/11719, 16/11818 Nr. 2,
16/11897 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Detlef Müller (Chemnitz)

Michael Kauch
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11897, der Verordnung zuzu-
stimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen ange-
nommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 34 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 523 zu Petitionen

– Drucksache 16/11766 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 523 ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 34 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 524 zu Petitionen

– Drucksache 16/11767 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 524 ist ebenfalls einstim-
mig angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 525 zu Petitionen

– Drucksache 16/11768 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 525 ist bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-
tionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 526 zu Petitionen

– Drucksache 16/11769 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 526 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 527 zu Petitionen

– Drucksache 16/11770 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 527 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 528 zu Petitionen

– Drucksache 16/11771 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 528 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Gegenstimmen von FDP und der Linken ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 34 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 529 zu Petitionen

– Drucksache 16/11772 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 529 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Nun kommen wir zum Zusatzpunkt 4:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steen-
block, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen
Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen

– Drucksachen 16/11758, 16/11894 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11894, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11758 abzu-
lehnen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nach-
haltigkeitsstrategie

– Drucksache 16/10700 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Ernst Kranz von der SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ernst Kranz (SPD):
Rede ID: ID1620508700

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Vor vier Jahren haben wir uns genau an dieser
Stelle mit dem ersten Fortschrittsbericht beschäftigt. Die
Bundesregierung hat in diesem Fortschrittsbericht ihre
Strategie der Nachhaltigkeit dargestellt. Wir haben da-
mals nach kurzer Zeit – es war nach nur zwei Jahren;
denn erst im Jahre 2002 ist diese Strategie in die Politik
der Bundesregierung implementiert worden – über die-
sen Bericht beraten.

Wenn wir heute das Wort „Nachhaltigkeit“ hören, hat
es einen ganz anderen Klang. Es wird meiner Meinung
nach sogar inflationär gebraucht. Viele Begriffe wie zum
Beispiel „Ökologie“, „dauerhaft“ und „transparent“ wer-
den unter dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verstanden. Ich
bin der Meinung, es geht hier um viel mehr, und das ist
immer zu beachten. Es geht uns vor allem um eine vo-
rausschauende und über den Tellerrand der Ressorts
hinausreichende Entscheidungspolitik.

Nachhaltigkeit umfasst drei Dimensionen: die ökolo-
gische, die soziale und die ökonomische Dimension. Auf
die soziale Dimension will ich etwas ausführlicher ein-
gehen. Wir müssen uns bei jedem Gesetzentwurf, den
wir verabschieden, und bei jeder Maßnahme, die wir da-
durch auslösen, fragen, ob wir damit sicherstellen, dass
die Teilhabe aller Teile der Gesellschaft gewährleistet
und verbessert wird oder ob wir dadurch nicht sogar ein-
zelne Bürger und Gruppen ausgrenzen. Es ist wichtig,
dass wir mit all unseren Entscheidungen gleiche Chan-
cen im persönlichen, sozialen und beruflichen Bereich
einräumen und dass die Kompetenzen all unserer Bürger
in allen Bereichen zur Verfügung stehen und eingesetzt
werden können.

Die soziale Dimension wird auch sichtbar, wenn wir
an die Auswirkungen der aktuellen Finanz- und Kon-
junkturkrise denken. Hier müssen wir jetzt alle Kräfte
bündeln, um einen Arbeitsplatzabbau in größerem Um-
fang zu verhindern. Schon die Konjunkturprogramme
zeigen die Notwendigkeit einer ressortübergreifenden
Zusammenarbeit. Meiner Meinung nach sollte genau
diese Zusammenarbeit, also das Denken über Ressort-
grenzen hinaus und vorausschauendes Denken, viel stär-
keres Gewicht in unserer Politik erhalten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Nachhaltige Politik bedeutet, finanzielle Mittel mög-
lichst effizient einzusetzen. Mit ökonomischen Stüt-
zungsmaßnahmen versuchen wir, die negativen Folgen
der Krise für die Bürger und damit für die Gesellschaft
möglichst gering zu halten. Wir müssen die anstehenden
Probleme heute und möglichst schnell lösen. Nur nach-
haltiges Handeln im nationalen und internationalen Rah-
men, wozu wir beitragen möchten, kann künftige Krisen
verhindern oder zumindest ihre Auswirkungen von An-
fang an abschwächen. Zu Recht fordert der Vorsitzende
des Rates für Nachhaltige Entwicklung, Volker Hauff,
eine klare Weichenstellung für eine nachhaltige Wirt-
schaftsordnung, um deutliche Fortschritte bei der zu-
kunftsfähigen Umgestaltung unserer Wirtschaft zu errei-
chen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, hinter
dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verbirgt sich ein großes
Aufgabenspektrum.

Im Jahr 2002 hat sich die rot-grüne Bundesregierung
auf bestimmte Kriterien und innerhalb dieser Kriterien
auf Ziele festgelegt, um eine nachhaltige Entwicklung in
Deutschland messen zu können. Diese insgesamt 21 In-
dikatoren sind sozusagen eine Messlatte für uns, an der
wir ablesen können, ob und inwieweit wir uns auf den
jeweiligen Politikfeldern auf den Weg der Nachhaltig-
keit begeben haben.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Es ist wichtig, dass die heutige Generation gut leben
kann – das ist klar –, es muss aber auch ganz deutlich ge-
sagt werden, dass wir dadurch nicht die Möglichkeiten
nachfolgender Generationen schon heute einschränken
dürfen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist der Kern nachhaltiger Politik.

In dem nun vorliegenden „Fortschrittsbericht 2008
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“ zieht die Bun-
desregierung Bilanz. In einigen Bereichen gibt es posi-
tive Entwicklungen; das ist sehr zu begrüßen. Wir haben
uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Ich glaube, ohne diese ehr-
geizigen Ziele wären wir in vielen Bereichen nicht so
erfolgreich. Positives gibt es zum Beispiel aus den Be-
reichen Klimaschutz, regenerative Energien, Beschäfti-
gung, Ganztagsbetreuung von Kindern und aus dem Be-
reich Staatsverschuldung – zumindest bis zum Zeitpunkt
der Finanzkrise – zu berichten. Es gibt jedoch leider
auch zahlreiche Indikatoren, die darauf hinweisen, dass
wir uns auf vielen Gebieten zu langsam in die richtige
Richtung bewegen. Das ist zum Beispiel im Bereich Mo-
bilität der Fall. Genauso gilt das für den täglichen Flä-
chenverbrauch. Auf diesen Gebieten müssen wir noch
einiges erreichen.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Wir haben es aber auch mit Entwicklungen zu tun, die
das angestrebte Nachhaltigkeitsziel in weite Ferne rü-
cken lassen. Das gilt vor allem für die Bereiche Bildung,
Mobilität und Artenvielfalt.






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Kranz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
rung hat zum Thema nachhaltige Entwicklung Stellung
bezogen. An dieser Stelle möchte ich meine Meinung zu
einem wesentlichen Thema äußern. Mir geht es um das
Politikfeld „Erhaltung und Bewirtschaftung der natürli-
chen Ressourcen“ und dabei insbesondere um die Ele-
mentarressource Wasser. Ich finde, es ist bedauernswert
und nicht zu verstehen, dass Wasser als essenzielle Res-
source nicht als Indikator im System verankert ist, wie
das zum Beispiel bei der Luftqualität der Fall ist. Wasser
spielt zwar für die Politik in Deutschland eine große
Rolle, auf internationaler Ebene können wir aber viele
Missstände feststellen.

Wasser ist mehr als nur Trinkwasser. Die Ressource
Wasser ist Grundlage für das Leben. Wasser dient als Le-
bensraum, Lebensmittel und Rohstoff. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft bezeichnet Wasser als die
wichtigste natürliche Ressource des 21. Jahrhunderts.
Zwar sind 71 Prozent der Erdoberfläche von Wasser be-
deckt, aber nur 2,5 bis 3 Prozent des Gesamtwasservolu-
mens sind Süßwasser. Die meisten Süßwasservorkom-
men wiederum sind in den Polkappen gebunden. Wenn
wir uns das verdeutlichen, ist uns klar, wie effektiv bzw.
schonend wir mit dieser Ressource umgehen müssen.

Wasser bestimmt viele Bereiche unseres Lebens.
Klima: Für das Klima ist Wasser ein bestimmender Fak-
tor. Ökosysteme: Wasser kennzeichnet sowohl die ter-
restrischen als auch die aquatischen Ökosysteme. Land-
wirtschaft: Wasser ist Rohstoff, letztendlich sogar
Lebensspender für alle Produkte der Landwirtschaft.
Anzumerken ist, dass 70 Prozent des Süßwasserver-
brauchs durch die Landwirtschaft erfolgen. Für die In-
dustrie ist Wasser ein wichtiger Rohstoff. Gesundheit:
Da können wir bei uns selbst anfangen; denn der Mensch
besteht zu circa 70 Prozent aus Wasser. Ohne genügend
Wasser und Nahrung kann die Körpertemperatur nicht
gehalten werden, und wir bekommen Probleme. Deshalb
an dieser Stelle noch einmal der Hinweis – letztendlich
ist das meine Forderung –: Wasser sollte als Indikator in
das System aufgenommen werden.

Ich möchte zum Abschluss erklären, wie unsere Ar-
beit im Beirat strukturiert ist. Es kommt uns darauf an,
unsere Themen im Beirat konsensorientiert zu behan-
deln. Sie sind uns zu wichtig, als dass wir bereit wären,
am Ende Papiere herauszugeben, die nur Anmerkungen
einzelner Fraktionen enthalten und ansonsten strittig ge-
stellt sind.

Der Beirat muss im Hinblick auf das Thema Nachhal-
tigkeit als Vorbild wirken.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620508800

Herr Kollege Kranz, kommen Sie bitte zum Schluss.


Ernst Kranz (SPD):
Rede ID: ID1620508900

Mein letzter Satz: Damit versuchen wir, auch für

künftige Koalitionen und künftige Legislaturperioden
grundlegende Voraussetzungen zu schaffen, auf denen
einheitlich aufgebaut werden kann.

Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620509000

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1620509100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachhal-

tigkeit ist kein Luxusthema für Schönwetterzeiten. Ge-
rade in der Krise brauchen wir eine klare Orientierung,
an welchem Leitbild sich Politik ausrichten soll. Wir
brauchen eine soziale Marktwirtschaft, die langfristig
tragfähig ist. Dazu gehören ökologische Verantwortung,
wirtschaftliche Freiheit, Innovationskraft und soziale
Stabilität. Es geht um politische Rahmenbedingungen,
aber auch um die Haltung von Akteuren in der Wirt-
schaft und in der Gesellschaft.

Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie soll einen Leit-
faden für eine möglichst parteiübergreifende Perspektive
für die Zukunft unseres Landes bieten. Die Nachhaltig-
keitsstrategie soll dem Denken in Wahlperioden eine
Absage erteilen und über den Wechsel der Regierungen
hinaus Orientierung geben. Deshalb ist es erfreulich,
dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung den Parteienstreit auf ein Mindestmaß be-
grenzen und versuchen, wo immer möglich einen Kon-
sens zu finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie hat durch die
Verknüpfung strategischer Ziele mit nachprüfbaren Indi-
katoren eine wichtige Wirkung für die Tagespolitik. Da-
durch wird deutlich, ob man sich auf Schönwetterreden,
auf Sonntagsreden beschränkt, sich aber ansonsten leider
nichts ändert. Wir Liberale unterstützen eine solche Stra-
tegie. Wir sagen aber zugleich: Der Kern der Debatte um
Nachhaltigkeit müssen die Chancen kommender Gene-
rationen sein. Nachhaltigkeit darf nicht für alles und je-
des missbraucht werden, was man tagesaktuell als gut,
effizient oder gerecht empfindet. Die Themen müssen
einen Zukunftsbezug haben; denn es geht hier vor allem
um eines: um Generationengerechtigkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Ernst Kranz [SPD])


Meine Damen und Herren, Folgendes ist schon be-
merkenswert – ich habe gerade das Thema Sonntagsre-
den angesprochen –: Es geht hier um einen Bericht, den
die Bundesregierung einmal in dieser Wahlperiode vor-
legt. Es ist die Strategie der Bundesregierung; federfüh-
rend ist das Kanzleramt. Ich hätte erwartet, dass eine Re-
gierung dann, wenn sie eine solche Strategie ernst
nimmt, in der ersten Lesung eines Berichtes in die De-
batte einführt, dass also der Kanzleramtsminister von






(A) (C)



(B) (D)


Michael Kauch
dieser Stelle aus erklärt, was die Politik der Bundes-
regierung ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gerade war noch ein Staatsminister des Kanzleramtes
kurz anwesend. Ich dachte: Wenigstens ein Staatsminis-
ter. Aber pünktlich zu Beginn dieser Debatte nahm er
seine Akten und verschwand. So kann man mit der
nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wirklich nicht umge-
hen.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE] und Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im Bereich der finanziellen Nachhaltigkeit gibt es
derzeit viel Bewegung. Einerseits werden angesichts der
Wirtschaftskrise die größten Verschuldungsprogramme
beschlossen, die die Republik je gesehen hat, und ande-
rerseits hat die Föderalismuskommission II zumindest
eine Skizze für die Aufnahme einer Schuldenbremse ins
Grundgesetz aufgelegt. Letzteres ist aus Nachhaltig-
keitssicht zu begrüßen. Ob diese Schuldenbremse dazu
ausreichen wird, Generationengerechtigkeit zu schaffen,
wird sich erst entscheiden, wenn der Text vorliegt und
wir sehen, welche Hintertüren es möglicherweise wieder
für die Verschuldung gibt.

Sinnvoll wäre es aus unserer Sicht, darüber hinaus
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit in die
Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes aufzuneh-
men; denn anders als geborene Kinder werden kom-
mende Generationen bisher vom Grundgesetz nicht ge-
schützt. Es freut mich, dass der Parlamentarische Beirat
für nachhaltige Entwicklung auf seiner gestrigen Sitzung
– mit Ausnahme der Vertreter der Linken – dieses Ziel
unterstützt hat. Es freut mich auch, dass der Bundesprä-
sident nach der heutigen Debatte die Initiatoren des Be-
richts empfängt und sich mit dieser wichtigen Frage aus-
einandersetzt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen endlich mehr Transparenz in der Poli-
tik. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Gesetzesfol-
genabschätzung alles Mögliche abprüfen: die Auswir-
kungen eines geplanten Gesetzes auf das Preisniveau,
auf den Mittelstand und die Geschlechtergerechtigkeit.
Aber die möglichen Auswirkungen unserer geplanten
Gesetze auf künftige Generationen überprüfen wir nicht.
Das sollte sich in der nächsten Wahlperiode ändern.

Um eine solche Nachhaltigkeitsprüfung durchzufüh-
ren, brauchen wir allerdings klare und transparente
Instrumente. Dazu gehören Generationenbilanzen, die
die finanziellen Ströme zwischen den Generationen ab-
bilden, die zeigen, welche Leistungen wir für künftige
Generationen erbringen, zum Beispiel bei Infrastruktur
und Bildung. Sie müssen aber auch die Lasten auswei-
sen, die es neben der Staatsverschuldung gibt, zum Bei-
spiel durch die Rentenversicherung, die Krankenversi-
cherung und die Beamtenbesoldung. All diese Lasten
werden auf künftige Generationen verschoben. Das wird
heute in den Büchern nicht ausgewiesen. Aus meiner
Sicht ist das ein reformbedürftiges Feld.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, schließlich braucht eine
bessere Nachhaltigkeitsprüfung eine bessere Veranke-
rung des Parlamentarischen Beirats in der Geschäftsord-
nung des Bundestages; denn es muss eine parlamentari-
sche Begleitung der Gesetzesfolgenabschätzung geben.

Generationengerechtigkeit ist mehr als die Frage, wie
viel Schulden wir kommenden Generationen hinterlas-
sen. Es geht auch um die Fragen, was wir investieren
statt konsumieren, ob wir langfristig tragfähige Sozial-
versicherungssysteme bauen, und nicht zuletzt darum,
ob wir kommenden Generationen eine lebenswerte Um-
welt hinterlassen. Biologische Vielfalt und Klimaschutz
müssen zentrale Bestandteile einer Strategie für Genera-
tionengerechtigkeit sein.

Abschließend möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck
verleihen, dass wir nicht wieder vier Jahre warten müs-
sen, bis wir über den nächsten Fortschrittsbericht disku-
tieren. Die frühere Bundesregierung hatte sich zum Ziel
gesetzt, alle zwei Jahre einen solchen Bericht vorzule-
gen. Schwarz-Rot hat sich – wie bei vielen anderen The-
men auch – viel zu viel Zeit gelassen. Das muss sich in
der nächsten Wahlperiode ändern. Wir Liberale werden
das ändern.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1620509200

Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Scheuer von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1620509300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Kauch, ich werde mich bemühen, keine
Schönwetterrede zu halten, sondern auf die Inhalte des
Fortschrittsberichtes einzugehen. Ich möchte mich vor-
neweg bei allen Kolleginnen und Kollegen des Parla-
mentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung be-
danken. Ich glaube, wir haben eine Arbeitsweise
gefunden, die sehr kollegial ist. Über viele Themen be-
steht Konsens, obgleich es, Herr Kollege Heilmann, bei
verschiedenen Themen manchmal Ausreißer und Aus-
nahmen gibt.


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wer ist jetzt der Ausreißer?)


Ich glaube, das Klima in diesem Parlamentarischen Bei-
rat ist sehr gut. Die deutsche Öffentlichkeit soll wissen,
dass Politik nicht nur aus Streit und beinhartem Ringen
besteht, sondern vor allem auch an Kollegialität ge-
knüpft ist.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Scheuer

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltig-
keitsstrategie bietet eine breit gefächerte Grundlage, eine
zukunftsfähige Politik für Deutschland über verschie-
dene Themenfelder zu machen. Dies wurde in einer an-
deren Regierungskonstellation begonnen und wird jetzt
weitergeführt. Ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wir
politisches Handeln viel transparenter und vor allem für
die Bürgerinnen und Bürger nachprüfbar machen.

Es gibt 21 Schlüsselindikatoren, die in verschiedene
Unterkategorien unterteilt sind. Dies ist ein Beitrag für
eine bessere politische Kultur in Deutschland, vor allem
um die Politik langfristig fit für die Zukunft zu machen.
Ich glaube, mit einem Image von Politik muss man gene-
rell aufräumen – das richte ich auch an die Medienver-
treter –: Politik denkt nicht nur bis zum nächsten Wahl-
termin. Wir befassen uns im Parlamentarischen Beirat
mit Themen, die weit über die nächsten Jahre hinausge-
hen. Die Ziele, die im Fortschrittsbericht formuliert sind,
reichen bis ins Jahr 2015 oder sogar bis ins Jahr 2020.

Nachhaltigkeitspolitik ist eine Querschnittsaufgabe.
Später werden noch Mitglieder des Umweltausschusses
zu diesem Thema sprechen. Als Verkehrspolitiker
möchte ich an dieser Stelle nur sagen: Über Nachhaltig-
keitspolitik sollte in jedem einzelnen Fachbereich um-
fassend diskutiert werden. Sie sollte zum Leitprinzip der
Politik insgesamt gemacht werden.

Der Kollege Kranz hat bereits darauf hingewiesen,
dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ sehr oft strapaziert
wird, von der Finanzpolitik über die Umweltpolitik bis
hin zur Verkehrspolitik. Es ist richtig, dass wir diesen
Begriff nicht inflationär verwenden sollten. Allerdings
müssen wir es in die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger
bekommen, dass die deutsche Politik ein Interesse daran
hat, über den nächsten Wahltag hinauszudenken.

Meine Damen und Herren, natürlich gibt es auch
Rückschläge. Wenn man die drei großen Bereiche Wirt-
schaft, Umwelt und Soziales – sie bilden die Grundlage
der Nachhaltigkeitsstrategie – betrachtet, so lässt sich im
Hinblick auf die Schlüsselindikatoren bzw. die Messgrö-
ßen für politisches Handeln feststellen, dass im vorlie-
genden Fortschrittsbericht natürlich auch Indikatoren zu
finden sind, die uns nicht zufrieden stimmen.

Der Fortschrittsbericht ist noch vor Beginn der
Finanzkrise fertiggestellt worden. Ich möchte diese
Krise nicht noch krisenhafter beschreiben, als sie in
Wirklichkeit ist. Aber sie hat uns vor Augen geführt,
dass wir uns im Parlamentarischen Beirat bei der Erar-
beitung des nächsten Fortschrittsberichts bzw. eines In-
dikatorenberichts mehr Gedanken als bisher über die
Prinzipien der Finanzpolitik, der Haushaltsführung und
der Staatsverschuldung machen müssen.

Ich bin der gleichen Meinung wie meine Vorredner,
dass wir ein krisenfestes Nachhaltigkeitsmanagement
entwickeln müssen, das bei globalen Krisen weniger an-
fällig ist. Außerdem müssen wir Indikatoren kreieren,
die es ermöglichen, Krisensituationen im Rahmen der
Analyse zu berücksichtigen. Unser Managementkon-
zept besteht aus Managementregeln, Indikatoren, Zielen
und Monitoring. Die Bundesregierung sollte sich sehr
intensiv mit dem Fortschrittsbericht 2008 befassen und
ihn bei der Erarbeitung eines krisenfesten Nachhaltig-
keitsmanagements als Orientierungsrahmen verwenden.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Bei-
spiel auf den Indikator der Gütertransportintensität zu
sprechen kommen. Das im Fortschrittsbericht formu-
lierte Ziel zur Gütertransportintensität wurde verfehlt.
Das liegt allerdings auch daran, dass wir in den letzten
Jahren einen Aufschwung und demzufolge eine große
Intensität in Bezug auf Mobilität und Güter erlebt haben.

Die Bundesregierung hat die Nachhaltigkeitsstrategie
zum Anlass genommen, bestimmte Leitplanken in politi-
sches Handeln umzusetzen. Was die Gütertransport-
intensität angeht, hat die Bundesregierung die Mittel für
den Lärmschutz erhöht und verschiedene Masterpläne
im Hinblick auf Logistik und Güterverkehr erstellen las-
sen. Außerdem ging es um die Entwicklung alternativer
Möglichkeiten, Güter zu transportieren, und um einen
Mix verschiedener Verkehrsträger, um auf diesem Wege
die Klimabilanz Deutschlands zu verbessern.

Die Forschungsintensität im Bereich alternativer An-
triebstechniken macht deutlich, dass die Bundesregie-
rung auf diese Indikatoren reagiert hat. Das möchte ich
als Beispiel dafür anführen, dass all diese Indikatoren in
einem globalen Kontext zu sehen sind. Insbesondere in
Anbetracht der Finanzmarktkrise brauchen wir solche
globalen Indikatoren, um nachzusteuern.

Der Parlamentarische Beirat hat sich Gedanken ge-
macht, wie die soziale Teilhabe zu verbessern ist. Es
wurden Anhörungen durchgeführt und Konzepte entwi-
ckelt. Dabei ging es unter anderem um die Themen De-
mografie und Infrastruktur. Unser Hauptaugenmerk lag
auf der sozialen Komponente, gerade im ländlichen
Raum. Trotz des Bevölkerungsrückgangs und des zum
Teil stattfindenden Aussterbens der ländlichen Räume
müssen wir die Probleme unserer Bürgerinnen und Bür-
ger im Hinblick auf die sozialen Infrastrukturen, die
Teilhabe und die Mobilität lösen. Unser Ziel darf nicht
sein, nur die Situation in den Ballungszentren zu verbes-
sern, sondern wir müssen auch die Lage in den ländli-
chen Räumen im Blick haben, sowohl im Interesse der
dort lebenden älteren Menschen als auch im Interesse
der jungen Generation.

Meine Damen und Herren, der Parlamentarische Bei-
rat ist auch ein Kontrollorgan. Wir haben aktiv daran
mitgearbeitet, diesen Fortschrittsbericht zu verbessern.
Wir haben der Bundesregierung geholfen, die Indikato-
ren anzupassen, sie modern auszugestalten. Denn natür-
lich ist dieser Fortschrittsbericht ein dynamischer Pro-
zess. Die Indikatoren sollen nicht in Stein gemeißelt
sein. Beispielsweise wollen wir bei der Gesundheitspoli-
tik einen zusätzlichen Schwerpunkt auf Prävention set-
zen. Da müssen wir auch einmal den Mut haben, den
Fortschrittsbericht zu überarbeiten und die Indikatoren
anzupassen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Scheuer

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, dass der Parlamentarische Beirat für nach-
haltige Entwicklung immer imstande ist, der Bundes-
regierung unterstützend zur Seite zu stehen. Ich bedanke
mich beim Bundeskanzleramt und beim Parlamentari-
schen Beirat für nachhaltige Entwicklung explizit für die
gute Kommunikation zwischen den verschiedenen Gre-
mien. Ich möchte gern, dass es dabei bleibt, dass an den
Sitzungen im Parlamentarischen Beirat Beamte aus dem
Bundeskanzleramt zugegen sind; diese Verzahnung
sollte weitergeführt werden. In diesem Sinne arbeiten
wir konstruktiv weiter. Die Bürgerinnen und Bürger kön-
nen sich sicher sein, dass sich alle Politiker, die ganze
Mannschaft in diesem Hohen Haus – die Frauschaft na-
türlich auch – Gedanken macht, wie es in Zukunft mit
Deutschland weitergeht. Dieser Fortschrittsbericht ist
eine gute Grundlage dafür.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620509400

Das Wort hat jetzt Lutz Heilmann für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Lutz Heilmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620509500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Gäste! „Für ein nachhaltiges Deutschland“, heißt
es im Titel des Fortschrittsberichts 2008 zur nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie. Was heißt „ein nachhaltiges
Deutschland“? Für die Linke bedeutet ein nachhaltiges
Deutschland, dass erstens soziale Gerechtigkeit, zwei-
tens der Erhalt der Umwelt und drittens eine wirtschaftli-
che Entwicklung verwirklicht wird. Wenn diese drei
Punkte erfüllt sind, bei allen Entscheidungen der Politik
beachtet werden, dann werden die Interessen heutiger
und künftiger Generationen gewahrt.

Gerade soziale Gerechtigkeit ist ein wichtiger Punkt,
für heutige und künftige Generationen. Meine Frage an
die Bundesregierung lautet deshalb: Ist Ihre Politik in
diesem Sinne nachhaltig? – Ich würde mich freuen,
wenn die anwesenden Staatssekretäre das den Ministern
und der Kanzlerin mit auf den Weg geben.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das kommt darauf an, was jetzt kommt! – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wir sind doch nicht in einer Fragestunde, Herr Kollege!)


Schon der Titel „Für ein nachhaltiges Deutschland“
zeigt, dass es um einen Wunsch geht, dass Nachhaltig-
keit noch nicht Realität ist. Schon mit der Überschrift
dieses Berichts stellt sich die Bundesregierung ein Ar-
mutszeugnis aus. Aber schauen wir uns die Politik der
Bundesregierung einmal konkret an!
Hat die Politik der Bundesregierung irgendetwas mit
Nachhaltigkeit zu tun? Wie steht es mit sozialer Gerech-
tigkeit für alle? In Deutschland leben ungefähr 2,5 Mil-
lionen Kinder in Armut. 7,5 Millionen Menschen in
Deutschland leben von Hartz IV. Millionen müssen, ob-
wohl sie vierzig Stunden in der Woche arbeiten, am Mo-
natsende zum Amt gehen, damit das Geld zum Leben
reicht. Altersarmut von Rentnerinnen und Rentnern ist
an der Tagesordnung. Ein besonderer Skandal: Frauen
bekommen für die gleiche Arbeit sage und schreibe
23 Prozent weniger Lohn, und das 60 Jahre nach Einfüh-
rung des Grundgesetzes. Sinkenden Realeinkommen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht ein Ret-
tungsschirm für sogenannte notleidende Banken gegen-
über, mit dem Sie den Zockern von der Hypo Real Estate
und anderen Banken das Leben versüßen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Da arbeiten auch Frauen!)


Soziale Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werte Bundesregierung, sieht anders aus. Was Sie tun,
hat damit nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Ich komme zum zweiten Punkt, dem Erhalt der Um-
welt für alle. Tun Sie genug, um für uns und für unsere
Kinder eine lebenswerte Umwelt zu erhalten? Die Ant-
wort ist klipp und klar Nein.

Die Bundesregierung ist 2005 mit dem Ziel gestartet,
ein Umweltgesetzbuch zu schaffen. Vor knapp zwei Wo-
chen teilte uns Umweltminister Gabriel mit: Puste-
kuchen. – Der bayerische Löwe hat hier der Bundes-
regierung einen kräftigen Strich durch die Rechnung
gemacht. Damit haben Sie die Chance verspielt, ein gu-
tes, ambitioniertes Umweltrecht zu schaffen.

Die Kfz-Steuerreform. Es ist richtig: So schlimm, wie
sie am Anfang angedacht war, wird sie doch nicht, aber
wirksame Anreize für den Ausstoß von weniger Schad-
stoffen setzen Sie wirklich nicht. Spritfresser werden
weitestgehend verschont. Da wir von Generationenge-
rechtigkeit und Schulden sprechen: Durch diese Kfz-
Steuerreform lassen Sie sich glattweg 1,8 Milliarden
Euro entgehen. Sonst schauen Sie auf jeden Euro, wenn
es aber um die Schonung der Eigentümer großer Autos
geht, dann sind Sie relativ großzügig.


(Patrick Döring [FDP]: Das ist doch Quatsch!)


Ein weiterer Punkt ist die Abwrackprämie. Diese als
Umweltprämie zu bezeichnen, ist schon fast dreist. Zum
Teil werden völlig funktionsfähige Pkw in der Presse
verschrottet. Dazu besteht noch die Möglichkeit zum
staatlich subventionierten Betrug. Ja, Sie haben richtig
gehört: Da alles so schnell wie möglich und unbürokra-
tisch ablaufen soll, kann Mann oder Frau mit etwas gu-
tem Willen nicht nur 2 500 Euro vom Staat abkassieren,
sondern das alte Auto auch noch gut nach Polen oder
Übersee verkaufen.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch, Herr Kollege!)


Ich sage: Gut so. Dann stinkt der deutsche Schrott we-
nigstens in der übrigen Welt weiter!






(A) (C)



(B) (D)


Lutz Heilmann
Zum Thema unbürokratische Handhabung habe ich
einmal eine Frage an die Bundesregierung: Wissen Sie,
wie viele Formulare jemand ausfüllen muss, um
Hartz IV zu beantragen und zu bekommen?


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist doch völlig am Thema vorbei!)


Ich empfehle Ihnen, sich einmal zu einer Arbeitsgemein-
schaft zu bewegen. Dort können Sie etwas zum Thema
unbürokratische Verwaltung lernen.

Als Letztes hierzu möchte ich auf das Engagement
der Bundesregierung hinsichtlich der CO2-Werte bei
Pkw verweisen.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wann kommen Sie endlich zum Mindestlohn?)


Von Klimaschutz ist dort weit und breit nichts zu sehen.

Ich komme zum dritten Punkt, nämlich zur wirt-
schaftlichen Entwicklung für alle.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Jetzt kommt es!)


Auch hier: Fehlanzeige! Sie legen Konjunkturpro-
gramme auf, die den Namen nicht verdienen. Nehmen
wir ganz einfach einmal das Konjunkturpaket II: 50 Mil-
liarden Euro für zwei Jahre. Demgegenüber stehen
480 Milliarden Euro für einen Bankenrettungsschirm.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Garantien!)


Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich.

Mit der beabsichtigten Schuldenbremse wird noch ei-
nes draufgesetzt und der öffentlichen Hand der Gestal-
tungsspielraum für soziale und ökologische Aufgaben
genommen. Dabei von Generationengerechtigkeit zu
sprechen, ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Es hilft
unseren Kindern und Enkeln nichts, wenn sie sich viel-
leicht schuldenfrei wähnen können, aber vor Schulen,
Krankenhäusern und Straßen stehen, die sprichwörtlich
einem Trümmerhaufen gleichen.

Was ist nach Auffassung der Linken erforderlich? Wir
brauchen erstens eine konsequente Abkehr vom Neo-
liberalismus, zweitens eine Abkehr vom Sozialraub,
drittens eine Abkehr von der Umweltzerstörung und
viertens eine Abkehr von der wirtschaftlichen Deregulie-
rung.

Zur sozialen Gerechtigkeit. Wir, die Linken, fordern
einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,71 Euro.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Endlich!)


Wir brauchen die sofortige Anhebung der Regelsätze bei
Hartz IV auf 435 Euro. Das Bundessozialgericht hat Ih-
nen das vor zwei Wochen um die Ohren gehauen: Für
Kinder brauchen wir bei Hartz IV eigene Regelsätze
nach Altersstufen. Wir brauchen die sofortige Anhebung
der Renten um 4 Prozent, und es muss endlich Schluss
mit der Diskriminierung von Frauen sein. Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit! Demgemäß muss sich die Bundes-
regierung ihrer Verantwortung stellen und endlich han-
deln.
Zum Erhalt der Umwelt. Wir brauchen ein Umwelt-
recht, mit dem wir den Anforderungen der Zukunft ge-
recht werden. Es reicht nicht aus, da stehen zu bleiben,
wo wir jetzt sind. Wir brauchen eine Kfz-Steuerreform,
die diesen Titel verdient. Die Abwrackprämie gehört
abgeschafft. Wir brauchen mehr Verkehr auf der Schiene
und andere umweltverträgliche Verkehrsträger. Wir
brauchen eine Energiewende. Wir brauchen ein Schutz-
gebietsnetz anstelle von Schutzgebietsinseln für den
Stopp des Artensterbens. Wir brauchen hohe Umwelt-
standards für alle und nicht nur für eine Handvoll.

Wirtschaftliches Wachstum für alle. Ja, das ist richtig,
bedeutet aber, dass wir eine Demokratisierung der Wirt-
schaft durch mehr Mitbestimmung der Belegschaften
brauchen.

Was wir zuallerletzt brauchen, ist eine Schulden-
bremse.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Und Verstaatlichung!)


Eine Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. Eine
Schuldenbremse verschärft die Auswirkungen der jetzi-
gen Wirtschaftskrise. Eine Schuldenbremse wird zur
weiteren Privatisierung der Daseinsvorsorge führen.

Stattdessen fordern wir die Einführung einer Bundes-
schuldenverwaltung, die einen Teil der Altschulden von
Bund, Ländern und Gemeinden übernimmt, sowie die
Umsetzung der vorhandenen Pläne zur Einführung einer
zentralen Bundessteuerverwaltung. Wir brauchen zudem
eine zentrale Börsenaufsicht. Wir brauchen vor allen
Dingen die Reform der Bildungsfinanzierung durch die
Einführung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe und die
Aufhebung des Kooperationsverbotes.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusam-
men: Die Bundesregierung muss in ihrer Politik radikal
umlenken, um ihrer Politik das Attribut „nachhaltig“
verleihen zu können. Davon sind Sie leider meilenweit
entfernt. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, endlich
umzudenken und Ihren Worten Taten folgen zu lassen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Am Thema vorbei! Diese Rede hätten Sie auch zu jedem anderen Thema halten können!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620509600

Nun hat der Kollege Winfried Hermann von der Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620509700

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Als wir vor rund zehn Jahren aus dem Parlament
heraus die Nachhaltigkeitsstrategie angestoßen haben,
war uns wichtig, dass die drei Dimensionen der Nach-
haltigkeit – soziale Gerechtigkeit, ökologische Verträg-
lichkeit und Wirtschaftlichkeit – dynamisch und eng
miteinander verbunden, aber nicht als drei Säulen neben-
einander gestellt werden. Ein dynamisches Denk- und






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Hermann
Entwicklungskonzept war eine wesentliche Vorausset-
zung für diesen Ansatz.

Herr Kollege Heilmann hat uns gerade deutlich ge-
macht, was die Linke unter Nachhaltigkeit versteht,
nämlich erstens soziale Gerechtigkeit, zweitens Aufsto-
ckung von Hartz IV und drittens Mindestlohn für alle.
Das ist eine unverhältnismäßige und einseitige Interpre-
tation dieses Begriffs und führt meines Erachtens völlig
in die Irre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Damals hatten wir den Anspruch, mit diesem neuen
politischen Ansatz zu versuchen, eine neue Diskurskul-
tur im Parlament zu entwickeln. Das heißt unter ande-
rem, dass man die anderen differenziert kritisiert – auch
scharf –, aber nicht pauschal alle anderen nur schlecht
macht und platt kritisiert. Das habe ich vorhin jedoch
verärgert zur Kenntnis genommen. Die Linke hat an die-
sem Diskurs nicht differenziert teilgenommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir haben damals zu Recht versucht, aus einem wol-
kigen Begriff einen strategischen politischen Ansatz zu
machen, und zwar mit Zielen, mit Konzepten für be-
stimmte Bereiche, mit Zeitangaben, Maßnahmen, Me-
thoden und Gesetzen, mit denen wir vorankommen kön-
nen.

Diesen Anspruch haben wir damals erhoben. Nach
rund zehn Jahren und mehreren Fortschrittsberichten
kann man sagen, dass es sich gelohnt hat, in diesem Be-
reich Politik strategisch zu formulieren und wegzukom-
men von der allgemeinen Wolkigkeit, hinter der sich
jeder verstecken kann, wobei aber nichts herauskommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Daraus ist eine Strategie der Bundesregierung entwi-
ckelt worden. Ich finde es wirklich positiv, dass diese
Strategie den Regierungswechsel überlebt hat und dass
die Strategie, mit der man das Land langfristig im Sinne
der Nachhaltigkeit voranbringen will, im Kern gleichge-
blieben ist. Das ist ein Erfolg all derer, die im Parlament
für nachhaltige Entwicklung gestritten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Der Fortschrittsbericht ist an den sogenannten Am-
pelbericht des Rats für nachhaltige Entwicklung gekop-
pelt. Wir messen also, ob wir in Richtung Zielerreichung
gekommen sind oder uns gar davon entfernen. Dieser
Bericht zeigt klar auf, in welchen Bereichen wir auf dem
falschen Dampfer sind, in welchen Bereichen wir viel zu
langsam in Richtung Nachhaltigkeit unterwegs sind und
in welchen Bereichen wir wirklich gut sind.

Wenn Sie diesen Ampelbericht durchblättern und ein
bisschen aktualisieren, dann stellen Sie fest, dass es ei-
nige Felder gibt, bei denen wir tatsächlich auf dem rich-
tigen Weg sind und sagen können, dass wir etwas
erreicht haben. Die Förderung erneuerbarer Energien
beispielsweise ist wirklich gelungen. Dabei haben wir
das Ziel sogar übererfüllt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In anderen Bereichen haben wir die Ziele nur teil-
weise erreicht, oder die Kluft ist ziemlich groß.

Ein wirkliches Grundproblem nicht nur dieser Regie-
rung, sondern auch der Vorgängerregierung ist, dass die
Regierung von der eigenen Administration im Austausch
mit dem Parlament zwar eine ambitionierte nationale
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten lässt, dass aber die
praktische Politik manchmal meilenweit davon entfernt
ist. Das ist der einzige Punkt, in dem ich der Kritik der
Linken recht gebe.

Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die kurzfris-
tig verfolgte Politik ins langfristige Konzept passt. Wir
sehen an dieser Stelle eine große Lücke. Es ist aber die
Aufgabe des Parlaments und des Parlamentarischen Bei-
rats, darauf hinzuweisen und immer wieder darauf zu
pochen. Ich meine, es hat sich gelohnt, dass wir den Par-
lamentarischen Beirat eingerichtet haben. Wir Grünen
sind sehr dafür, dass dieses Gremium verstetigt und auch
in der Geschäftsordnung gut verankert wird, damit auch
das nächste Parlament als Anwalt nachhaltiger Entwick-
lung dieses Projekt aus der Gesellschaft heraus weiter
verfolgt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Es hat sich übrigens bewährt, dass innerhalb der Re-
gierung das Green Cabinet gestärkt wurde, dass es Mit-
arbeiternetzwerke zwischen den verschiedenen Ressorts
gibt und dass es gelingt, die Ressorts zu vernetzen und
einen ganzheitlichen Politikansatz zustande zu bringen.
Aber wir haben, wie gesagt, auch einen großen Nachhol-
bedarf. Ich will einige Beispiele aufzählen, von denen
ich glaube, dass man sie endlich angehen muss.

Beim Flächenverbrauch haben wir ein ambitioniertes
Ziel, mit dem wir seit Jahren nicht vorankommen. Der
Flächenverbrauch ist unerhört hoch, obwohl die Bevöl-
kerungszahl nicht mehr steigt.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Wir haben kein Konzept gefunden, um den Flächenver-
brauch von 120 Hektar pro Tag auf die angestrebten
30 Hektar pro Tag zu senken.

Der ökologische Landbau war uns immer ein wichti-
ges Anliegen. Dabei sind wir weit von dem Ziel entfernt,
das wir erreichen wollten. Wir bedauern, dass dabei der
Eindruck entsteht, dass wir, wenn wir das Ziel nicht er-
reichen können, es lieber ganz sein lassen. Wir hielten
das für einen kapitalen Fehler. Wir müssen in der Ziel-
setzung nachsteuern, aber auch in der Politik, um Ver-
besserungen zu erreichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Winfried Hermann
Die Verkehrspolitik ist insofern interessant, als alle
Dimensionen der Nachhaltigkeit – sozial, wirtschaftlich
und ökologisch – in diesem Bereich gebündelt auftreten.
Man kann feststellen, dass wir in Teilbereichen etwas er-
reicht haben. So hat sich zum Beispiel die Energiepro-
duktivität – also das Ausnutzen der Energie – im Trans-
portsektor deutlich verbessert.

In der Summe stellt sich der Energieverbrauch aber
nicht so gut dar. Wenn man das mit dem wirtschaftlichen
Wohlstand nach dem Bruttoinlandsprodukt ins Verhält-
nis setzt, dann müssen wir feststellen, dass das ange-
strebte Ziel mitnichten erreicht wurde – weder im Perso-
nenverkehr noch im Güterverkehr –, obwohl wir das
klare Ziel haben, mehr Wohlstand ohne eine ständige
Zunahme des Verkehrs zu erreichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum wurde das Ziel nicht erreicht? Die größten
Probleme bestehen im Güterverkehr. Ich glaube, dass
sich die Politik zu sehr darauf verlässt, dass man gegen
manche Trends nichts machen kann, statt ambitioniert
genug das Konzept des Umsteuerns und Verlagerns zu
verfolgen. Das angestrebte Ziel, 25 Prozent des Güter-
verkehrs auf die Schiene zu verlagern, ist über die Jahre
beibehalten worden. Der Anteil schwankt zwischen
16 und 18 Prozent; wir kommen nicht weiter voran. Wir
können Fortschritte erzielen, wenn wir konsequent in
den kombinierten Schienengüterverkehr investieren.
Wenn wir dabei am Ball bleiben und uns stärker anstren-
gen als bisher, dann können wir dieses Ziel erreichen.
Aber es muss auch der Wille vorhanden sein, zu han-
deln.

Beim Personenverkehr haben wir zwar die richtige
Richtung eingeschlagen, sind aber weit von dem eigenen
Anspruch entfernt. Das hat meines Erachtens damit zu
tun – damit komme ich noch einmal zu dem Grundge-
danken meiner Rede –, dass Politik in Krisensituationen
dazu neigt, kurzfristige Lösungen anzubieten. Die Auto-
mobilindustrie kommt in die Krise, und kurzfristig wird
eine Abwrackprämie für nötig gehalten, und wir müssen
schnell etwas tun, um den Verlust von Arbeitsplätzen zu
verhindern. Ich glaube, an dieser Stelle wird derzeit ein
großer Fehler gemacht. Wir sollten dafür sorgen, dass er
korrigiert wird. Denn die Krise der Automobilindustrie
ist nicht durch die Finanzkrise zustande gekommen, son-
dern sie hat sich schon lange angebahnt. Gerade das Bei-
spiel der amerikanischen Automobilindustrie macht das
deutlich. Die Politik hat über Jahre hinweg die Automo-
bilindustrie nicht gefordert. Sie hat sie ineffiziente Fahr-
zeuge produzieren und in die Krise rutschen lassen.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)


Aus unserer Sicht ist es absolut zwingend, dass man
aus der Krise heraus eine Chance entwickelt, indem in-
novative Ansätze gefördert und andere Antriebstechno-
logien, Kraftstoffe und andere Formen von Energienut-
zung und Verkehrssystemen entwickelt werden. Das
wäre der richtige, der nachhaltige Ausweg aus der Krise.
Darin liegt eine gute Chance. Das ist zwar Bestandteil
der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und
anderer Konzepte, aber die Praxis ist durch kurzfristiges
Handeln geprägt. Wir meinen, dass die beschlossenen
Vorschläge den langfristigen Perspektiven nachhaltiger
Entwicklung glatt widersprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine gute nachhaltige Politik würde die Krise als
Chance begreifen. Eine gute nachhaltige Politik würde
in einer Krise die Nachhaltigkeitsstrategie nicht beiseite-
legen, gewissermaßen als Buch für schöne Zeiten, in das
man später wieder hineinschaut. Vielmehr müsste man
jetzt schauen, welche Ansätze wir in den letzten Jahren
zusammen mit unseren Experten in den Bereichen Ver-
kehr, Landwirtschaft, Soziales und Bildung entwickelt
haben und welche geeignet sind, uns aus der Krise he-
rauszuführen. Eine Krise bietet eine Chance für eine
nachhaltige Entwicklung. Wir, die wir hier im Parlament
für eine nachhaltige Entwicklung kämpfen und streiten,
sollten nicht aufgeben, sondern unsere Stimme erheben
und für nachhaltige strategische Konzepte plädieren.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620509800

Der Kollege Dr. Matthias Miersch spricht jetzt für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1620509900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist genau richtig, sich an diesem Tag und zu dieser
Stunde, an so exponierter Stelle, mit dem Thema nach-
haltige Entwicklung zu befassen; denn die Zeit, in der
wir leben, schreit förmlich nach einem neuen Denken,
nach einem neuen Bewusstsein. Herr Kauch, Sie haben
die mangelnde Präsenz der Regierung moniert. Ich bin
froh und stolz, dass auf der Regierungsbank mit dem
Parlamentarischen Staatssekretär Michael Müller je-
mand sitzt, der schon vor 30 Jahren den Begriff der
nachhaltigen Entwicklung als möglichen Schlüssel zur
Bewältigung vieler Krisen etabliert hat. Man sieht heute,
dass er recht hatte, das zu problematisieren.


(Beifall bei der SPD)


Die Debatte zeigt sehr deutlich, dass es genau richtig
war, dass die rot-grüne Regierung 2002 dem Begriff der
nachhaltigen Entwicklung Substanz verliehen hat, und
zwar dadurch, dass man Indikatoren aufgestellt hat, die
überprüfbar sind, an denen man eine Regierung messen
kann, Indikatoren, die es ermöglichen, Fehler einzuge-
stehen, und anhand derer man erklären kann, warum et-
was nicht funktioniert. Das Problem, dass der Begriff der
nachhaltigen Entwicklung häufig missbraucht wird, ha-
ben wir auch in dieser Debatte feststellen können. Was
der Kollege Heilmann – leider ist er nicht mehr da – zu
diesem Begriff gesagt hat, ist aus meiner Sicht genauso
fehlerhaft gewesen wie der Gebrauch des Begriffs der
nachhaltigen Entwicklung von einigen Managern in den
letzten Wochen. Sie machen keinen Unterschied und






(A) (C)



(D)


Dr. Matthias Miersch
missbrauchen den Begriff der nachhaltigen Entwicklung.
Die Menschen sind es leid, wenn Politik etwas sugge-
riert, das sie letztlich nicht halten kann. Auch hier Gren-
zen aufzuzeigen, heißt für mich, nachhaltig zu handeln.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Zeit macht deutlich, dass wir einen neuen Wachs-
tumsbegriff brauchen. Bislang haben wir ihn nur im
Kontext von „immer höher, immer weiter, immer schnel-
ler“ verwendet. Wir brauchen aber einen Begriff, der
Wachstum als „immer besser“ definiert. Wir konnten er-
leben, dass die Kurssprünge bestimmter Unternehmen
nicht dazu führten, dass es den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der betreffenden Unternehmen besser ging.
Wir konnten sehen, dass kurzfristige Kurssprünge nicht
dazu führten, dass die Substanz der Unternehmen ver-
bessert wurde. Wir konnten erleben, dass es höchst fatal
ist, wenn sich die Gehälter der Manager an Kurssprün-
gen orientieren.


(Beifall bei der SPD)


Wir sind aufgerufen, die Konsequenzen aus diesen
Beobachtungen zu ziehen und zu fragen, wie wir dieses
Denken verändern können. Auch dazu sind wir in einer
solchen Stunde aufgerufen, und zwar in allen Ressorts
und interdisziplinär, wie es der Begriff der nachhaltigen
Entwicklung nahelegt.

Wir müssen überlegen, was es heißt, wenn die natürli-
chen Ressourcen immer geringer werden und parallel zu
dieser Entwicklung immer mehr Menschen auf diese
Ressourcen zugreifen wollen. Nachhaltige Entwicklung
heißt, dort anzusetzen.

Ich bin dem Kollegen Hermann dankbar, dass er das
Thema der erneuerbaren Energien hier angesprochen
hat. Gerade an diesem Thema zeigt sich doch, dass Ener-
gie nicht nur ökologische Aspekte beinhaltet, sondern
dass Energie in Zukunft ein ursoziales und ein ökonomi-
sches Thema sein wird. Es stellt sich die Frage, wer
künftig noch mobil sein wird, wer künftig noch ein Auto
fahren kann, sich einen Kühlschrank leisten bzw. am so-
zialen Leben teilhaben kann. Es stellt sich außerdem die
Frage, wie Deutschland in der globalen Welt seinen
Stammplatz als Exportweltmeister verteidigen kann. Die
Entwicklung der erneuerbaren Energien zeigt doch, dass
wir mit diesem Thema genau auf das richtige Pferd ge-
setzt haben, als wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz
unter Rot-Grün auf den Weg gebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind dabei, auf Energien zu setzen, die endlose
Ressourcen haben. Wir sind dabei, auf eine Technologie
zu setzen – gemäß dem Motto: Die Sonne schickt keine
Rechnung –, die es erlaubt, eine immer größer werdende
Anzahl von Menschen mit dem Luxusgut Energie ver-
sorgen zu können. Das ist ein Beispiel gelebter nachhal-
tiger Politik.

Allerdings müssen wir uns die Frage stellen, wie wir
mit dem Begriff der Nachhaltigkeit auch im parlamenta-
rischen Verfahren und im Kontext mit der Regierung
umgehen wollen. Ich bin dankbar, dass wir Vertreter des
Rats für Nachhaltige Entwicklung unter uns haben, die
in den vergangenen drei Jahren bei diesem Thema sehr
eng mit uns zusammengearbeitet haben. Ich finde es
richtig, dass wir an allen Stellen die Frage aufgeworfen
haben, wie wir es schaffen, bereits während der Geset-
zesberatung den Begriff der nachhaltigen Entwicklung
zu etablieren. Wenn wir Technikfolgenabschätzung be-
treiben, dann muss es auch möglich sein, Ministerien zu
zwingen, Farbe in Bezug auf die Frage zu bekennen, wie
nachhaltig Gesetze sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU])


Dass alles unterschiedlich interpretierbar ist, ist uns
allen klar. Das hat auch die Diskussion heute gezeigt.
Aber wenn wir im Gesetzesberatungsverfahren zu klaren
Nachhaltigkeitschecks kommen, dann sorgen wir für die
notwendige Transparenz. Dann sieht man, warum ein
Gesetz auf den Weg gebracht wird und welche Schwä-
chen und welche Stärken es hat.

Damit bin ich bei den großen Themen, die uns sicher-
lich auch in diesem Parlament noch in sehr unterschied-
licher Weise beschäftigen werden. Es geht um die gro-
ßen Zukunftsfragen, die wir hier, aber auch an anderer
Stelle diskutieren. Wie halten wir es mit der Energiever-
sorgung? Wir werden die Debatte „Atomkraft – ja oder
nein?“ erleben. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel, an
dem man zeigen kann, dass es falsch wäre, in diese
Technologie zu investieren. Sie ist eben nicht nachhaltig,
jedenfalls nicht aus der Sicht der SPD-Fraktion, weil den
nachfolgenden Generationen Müll unerträglichen Aus-
maßes hinterlassen wird, von dem wir nicht wissen, wel-
che Gefahren für nachfolgende Generationen von ihm
ausgehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das zweite große Thema betrifft die Frage, wie je-
mand gestellt werden soll, der Vollzeit in Deutschland
arbeitet. In der Diskussion über den Mindestlohn geht es
nicht nur um die Würde von Arbeit. Man muss vielmehr
gleichzeitig bedenken, dass ausreichender Lohn auch zu-
künftig dazu führen wird, dass Menschen ausreichend in
die Sozialversicherungssysteme einzahlen werden. Ge-
lebte nachhaltige Politik ist auch, dass man an die Zu-
kunft und an spätere Rentenansprüche etc. denkt. Das
können aber diejenigen nicht, die nicht einzahlen kön-
nen, weil sie zu wenig verdienen.


(Beifall bei der SPD)


Der dritte Punkt, der augenblicklich intensiv disku-
tiert wird, betrifft die Schuldenbremse. Kollegen von der
Linken, ich glaube, es ist wichtig, dass man im Interesse
der nachfolgenden Generationen die Schuldenaufnahme
eindämmt. Denn was könnte man alles mit dem Geld,
das man für die Zinszahlungen aufwendet, tun, was
könnten wir beispielsweise für die Bildung tun, wenn
wir diese Lasten nicht tragen müssten?

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Matthias Miersch
Insofern ist es aus meiner Sicht richtig, dies zumin-
dest im Blick zu haben. Man sollte aber auch im Blick
haben – das ist an die Adresse der FDP gerichtet –, wie
die Einnahmen des Staates garantiert werden können.
Beides ist wichtig, und für beides werden wir uns einset-
zen.

Ich habe drei Beispiele für nachhaltige Politik ge-
nannt. Wir freuen uns auf die Beratung des Fortschritts-
berichts in den Ausschüssen. Wir freuen uns, an dem
Thema „nachhaltige Politik“ zusammen mit allen in die-
sem Hause arbeiten zu können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620510000

Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege Pa-

trick Döring.


(Beifall bei der FDP)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1620510100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Debatte über die Nachhaltigkeitsstrategie zeigt sehr
deutlich, dass sich jeder gern diejenigen Indikatoren he-
raussucht, die ihm gefallen. Besonders bei der Rede des
Kollegen Heilmann ist aufgefallen, wie weit man sich
vom eigentlichen Thema entfernen kann, nur um in sei-
ner Redezeit die üblichen Stichworte des Wahlpro-
gramms unterzubringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will versuchen, mich auf drei Teile dieses Berichts
zu konzentrieren.

Erstens. Wir stellen fest – auch der Kollege Hermann
hat es angedeutet –, dass wir beim Thema „Güterver-
kehrsintensität und Verkehrsentwicklung insgesamt“
nicht in allen Punkten diejenigen Ziele erreicht haben,
die wir angestrebt haben. Wir sollten auch darüber dis-
kutieren, dass man das relative Wachstum der Gesamt-
menge und die Intensität weiterhin auseinanderhalten
muss. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, Kol-
lege Hermann: Wenn wir unsere Position als Export-
nation – unser Außenhandel hat ein Volumen von
1 250 Milliarden Euro – nicht verschlechtern wollen, soll-
ten wir nachhaltige Politik nicht über eine Beschränkung
der Gesamtmenge von Verkehrsbewegungen betreiben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist einfach die lautere Wahrheit. Wir werden unsere
Ökonomie nicht innerhalb von wenigen Jahren zu einer
binnenmarktorientierten Ökonomie umbauen können.
Ich glaube auch nicht, dass das vernünftig wäre.

Vernünftig ist es, eine Politik zu machen, die dazu
führt, dass wir die vorhandenen Verkehrswege und die
vorhandenen Kapazitäten besser nutzen. Wir sollten mit
den Schienenverkehrsunternehmen am Potsdamer Platz
und der DB Netz diskutieren, wie wir das vorhandene
Schienennetz so nutzen können, dass mehr Züge auf die-
sen Gleisen fahren können. Anders als beim Lkw-Ver-
kehr brauchen Züge relativ große Mindestabstände. Da-
her stellt sich die Frage: Wie kann man die
Sicherheitsabstände durch intelligente technische Inves-
titionen verkürzen, damit es zu mehr Intensität auf dem
vorhandenen Netz kommt. Dadurch würde auch die Pro-
blematik des Bodenverbrauchs weiter in den Blickpunkt
rücken.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zweitens. Ich warne davor, die Bundesregierung jetzt
zu sehr aufzufordern, kleine und kleinste Programme
aufzulegen. Ein Beispiel sind die Aktivitäten im Bereich
des nachhaltigen Bauens. Ich bin sehr dafür, dass wir mit
der deutschen Bauwirtschaft, mit dem deutschen Hand-
werk auf dem Gebiet „Energieverbrauch, Ökobilanz und
Lebenszeit eines Gebäudes“ allergrößte Anstrengungen
unternehmen. Die Bauforschung in unserem Land ist da
wirklich schon weit fortgeschritten. Allerdings sind mitt-
lerweile 60 Kategorien mit zahlreichen Unterkategorien
für nachhaltiges Bauen gefunden worden. Das Ganze
ging bis hin zu den Fragen, welche Wandfarbe verwen-
det wurde, welche Art von Kacheln in den Bädern ver-
legt wurde und ob ein oder zwei Waschbecken in dem
Hauptbad untergebracht sind. Das alles wird unter dem
Begriff „nachhaltiges Bauen“ subsumiert. Dazu kann ich
nur sagen: Damit werden wir die Menschen in unserem
Land für dieses Thema nicht begeistern können.


(Beifall bei der FDP)


Deshalb sollten wir im Parlament diese Verästelungen in
Einzelprogramme und die damit verbundenen Verwir-
rungen am besten stoppen.

Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der mir in ei-
nigen Reden aufgefallen ist, zu meiner Überraschung
auch in der, die eben mein geschätzter Kollege Miersch
gehalten hat. Es geht um das Thema Wirtschaftsordnung
und Wirtschaftskrise. Die Mehrheit der Menschen in
Deutschland ist nicht in börsennotierten Unternehmen
beschäftigt. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer ist nicht in Unternehmen mit wie auch im-
mer bezahlten Vorständen beschäftigt. Die Mittelständ-
ler, die Handwerker, die Gewerbetreibenden und die
Freiberufler in unserem Land sind erfreulicherweise viel
weniger kurzfristig orientiert, als Sie es gelegentlich in
den ökonomistischen Zerrbildern, die Sie in manchen Ih-
rer Reden zeichnen, darstellen.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. MarieLuise Dött [CDU/CSU])


In der deutschen Wirtschaft wird überwiegend nachhal-
tig gehandelt. Das sollten wir an dieser Stelle anerken-
nen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620510200

Andreas Jung hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1620510300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst möchte ich mich jenen Vorrednern anschlie-
ßen, die in den Mittelpunkt gestellt haben, dass es gut ist,
ein Gremium wie den Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung zu haben, und die hervorgeho-
ben haben, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
eine Freude ist, in diesem Gremium zu arbeiten, weil
dort in der Regel das gemeinsame Ringen um die Sache
und nicht die parteipolitische Polemik oder der parteipo-
litische Streit im Mittelpunkt steht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch die konstruktive Arbeit haben wir gemeinsam
Erfolge erzielt, auf die wir ein Stück weit stolz sein kön-
nen. Das betrifft inhaltliche Fragen, aber auch eine for-
male Frage. Wir haben erreicht, dass die Bundesregie-
rung unsere Anregung aufgenommen hat, die
Nachhaltigkeitsprüfung in die Gesetzesfolgenabschät-
zung einzubeziehen. Das ist ein wichtiger Punkt. So wird
in den ganz normalen Lauf eines jeden Gesetzes der Ta-
gespolitik der Gedanke der Nachhaltigkeit hineinge-
bracht. Das ist sicher ein Erfolg unserer Arbeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist unser gemeinsames Bemühen – das wurde zu
Recht schon gesagt –, den Beirat weiter zu stärken, auch
formal weiter zu stärken. Wir treten dafür ein, dass in der
nächsten Legislaturperiode dieser Beirat – parallel zu an-
deren Ausschüssen – mit stärkeren Rechten und stärke-
ren Befugnissen ausgestattet wird, weil das die formale
Fundierung unseres inhaltlichen Bemühens um mehr
Nachhaltigkeit wäre.

Nun zu den Inhalten, zu dem materiellen Gehalt der
Nachhaltigkeit. Letztlich geht es uns darum, Nachhaltig-
keit in allen Bereichen zu verankern, Deutschland insge-
samt nachhaltiger zu machen und dafür zu sorgen, dass
wir in Zukunft weniger auf Kosten kommender Genera-
tionen leben, dass wir heute nicht auf Kosten von mor-
gen leben, so wie das in der Vergangenheit in unter-
schiedlichsten Bereichen leider zu oft der Fall war.

Die wichtigen Bereiche, um die es hier geht, sind an-
gesprochen worden: erstens wirtschaftliche und soziale
Nachhaltigkeit – dies ist durch die Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise noch mehr in den Mittelpunkt gerückt – und
zweitens – das zu betonen ist mir wichtig – finanzielle
Nachhaltigkeit. Dabei geht es um das Bemühen, den
künftigen Generationen nicht immer mehr Schulden zu
hinterlassen, von denen sie irgendwann erdrückt werden
würden. Deshalb ist es jetzt umso richtiger und wichti-
ger, gemeinsam für eine wirksame, für eine harte Schul-
denbremse einzutreten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind in einer Krise. Da ist es richtig, zu investie-
ren und mehr Geld auszugeben, als ursprünglich vorge-
sehen war. Die andere Seite der Medaille ist: Wenn es
wieder besser geht, dann müssen die Schulden, die jetzt
aufgenommen werden, wieder abgezahlt werden. Dafür
brauchen wir die Schuldenbremse im Grundgesetz.

Ich komme zum dritten Bereich, zur ökologischen
Nachhaltigkeit und zum Umweltschutz, sozusagen zur
Geburtsstätte des nachhaltigen Denkens überhaupt. Im
Hinblick auf das, was kritisch diskutiert wurde und was
anhand der einen oder anderen Entscheidung auch pro-
blematisiert wurde, ist mir schon wichtig, zu fragen: Wie
steht es um unseren Fortschritt? Da will ich den Bereich
Klimaschutz herausgreifen. Ich gebe zu, dass es richtig
ist, zu fordern, dass die Berichte zur Strategie in kürze-
ren Zeitabständen vorgelegt werden. Andererseits finde
ich es aber auch spannend, über einen Zeitraum von eini-
gen Jahren zu betrachten: Wie haben wir uns entwickelt?
Wie werden wir unserem Anspruch, Vorreiter im Klima-
schutz zu sein, gerecht?

Die Zahlen, die im Bericht zur Nachhaltigkeitsstrate-
gie enthalten sind, zeigen uns, dass wir in der langfristi-
gen Perspektive unserem Anspruch gerecht werden. Das
gilt für die Formulierung der zukünftigen Ziele. Wir ver-
treten jetzt nämlich ehrgeizigere Ziele als noch vor weni-
gen Jahren. So bekennt sich die Bundesregierung zu dem
Ziel, dass bis zum Jahre 2020 40 Prozent der Treibhaus-
gase eingespart werden sollen.

Das gilt aber auch für das Erreichen der Ziele, die wir
uns in der Vergangenheit gesetzt haben. Wir können dem
Bericht entnehmen – es handelt sich um den Stand von
2007; wir sind jetzt sogar einen Schritt weiter und haben
die Zahlen von 2008 –, dass wir die Ziele, die wir laut
unserer Selbstverpflichtung im Kioto-Abkommen erst
im Jahre 2012 hätten erreichen sollen, bereits jetzt er-
reicht haben. Wenn wir uns weiter anstrengen – das soll-
ten wir machen –, dürften wir diese Ziele sogar überer-
füllen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Was für die Ziele im Allgemeinen gilt, gilt auch für
einzelne Bereiche. Diese sind schon von den Kollegen
Hermann und Miersch angesprochen worden.

Im Bereich der erneuerbaren Energien haben wir
schon jetzt die Ziele, die wir für uns 2012 gesetzt haben,
nicht nur erreicht, sondern übererfüllt. Ich denke, das
sollte uns ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Das
zeigt uns auch, dass man, wenn man gemeinsam für
Nachhaltigkeit streitet, Ziele nicht nur erreichen, son-
dern manchmal sogar mehr erreichen kann, als man vor-
her glaubte.

Auch im Bereich der Energieproduktivität und im Be-
reich der Energieeffizienz gilt das Gleiche. Wir alle wis-
sen, dass wir hier noch Spielräume haben. Es ist aber
doch eine wichtige Wegmarke, dass, wie wir dem Be-






(A) (C)



(B) (D)


Andreas Jung (Konstanz)

richt entnehmen können, die Energieproduktivität in
Deutschland seit 1990 um 40 Prozent gestiegen ist. Wir
wollen daran weiterarbeiten und wollen gerade auch die
Krise nutzen, auf diesem Weg fortzuschreiten.

Ich möchte betonen – das halte ich für ganz wichtig –,
dass die Krise in der Wirtschaft nicht dazu führen darf,
dass die ökologischen Ziele hintangestellt werden. Eine
Lehre aus dieser Krise ist ja gerade, dass es richtig ist,
für nachhaltige Investitionen in allen Bereichen zu sor-
gen. Das tun wir etwa mit den zusätzlich bereitgestellten
Milliarden für das Gebäudesanierungsprogramm. Mit
diesem Geld leisten wir einen Beitrag zur nachhaltigen
Entwicklung im Umweltschutz sowie zur Nachhaltigkeit
bei den Finanzen der öffentlichen und privaten Haus-
halte; denn beide werden zukünftig von Verbrauchskos-
ten entlastet. Auch im Bereich Arbeit und Soziales trägt
das zur Nachhaltigkeit bei; denn durch diese Maßnah-
men werden Aufträge ausgelöst, die ganz konkret Ar-
beitsplätze im Handwerk erhalten bzw. schaffen.

Damit können wir feststellen, dass wir in diesem Be-
reich auf einem guten Weg sind. Sicherlich bleibt auch
hier noch einiges zu tun. Es wurde kritisch angemerkt,
dass noch nicht ganz konkret und verbindlich festgezurrt
wurde, wie es langfristig weitergehen soll. Ich denke, es
ist unsere gemeinsame Aufgabe, im Parlament und im
Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit daran zu ar-
beiten. Dieser Bereich ist aber ein gutes Beispiel dafür
– deshalb habe ich ihn herausgegriffen –, um zu zeigen,
dass wir auf einem guten Weg sind. All das stellt auch
eine Ermunterung für unser Eintreten für mehr Nachhal-
tigkeit in Deutschland dar.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620510400

Ulrich Kelber hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1620510500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Etwas Negatives zu Beginn: Wir müssen, wie
ich denke, bilanzieren, dass unsere Debatten darüber,
wie Nachhaltigkeit und nachhaltige Politik zu bewerk-
stelligen sind, noch nicht an die breite Öffentlichkeit
durchgedrungen sind. Würde man fragen, welche The-
men die deutsche Innen- und Außenpolitik sowie andere
Politikfelder beherrschen, würde der Begriff der Nach-
haltigkeit in einer Aufzählung nicht an vorderer Stelle
stehen. Würde man in der Öffentlichkeit, in den Medien
oder auch in einer Runde von Abgeordneten fragen:
„Wie definieren Sie für sich Nachhaltigkeit?“, würde
man vielfach auf Ratlosigkeit treffen.


(Andreas Jung [Konstanz] [CDU/CSU]: In meiner Fraktion nicht!)


Parallel zu dieser Debatte erleben wir fast schon eine
Trivialisierung des Begriffs Nachhaltigkeit. Er ver-
kommt zu einem überhäufig verwendeten Füllwort. Es
gibt zwei Ursachen für diesen Zustand, der auch schon
von einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochen
wurde.

Erstens. Es gibt einen Missbrauch des Begriffs. Den
findet man natürlich vor allem im Bereich von Lobby-
verbänden, von Unternehmen und Interessengruppen,
die bestimmte Dinge durchsetzen bzw. für ihr Handeln
werben wollen. Diesen Missbrauch, auch „green
washing“ genannt, kann man relativ leicht auf einen
Punkt bringen: Man macht so weiter, wie man bisher ge-
arbeitet hat; man bezeichnet das aber ab sofort als nach-
haltig. Man verändert also die Begründung für das, was
man tut. Früher, als es noch keinen interessierte, ob et-
was nachhaltig ist oder nicht, hat man die Leute, die für
nachhaltige Politik eingetreten sind, veräppelt. Heute, da
sich die Mehrheit der Leute dafür interessiert, behauptet
man einfach, dass das, was getan wird, nachhaltig ist. –
Diesem Missbrauch muss man natürlich entgegentreten.
Es wäre gut, wenn wir das als Politiker relativ geschlos-
sen täten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens. Darüber hinaus beinhaltet dieser Begriff
eine gewisse Sperrigkeit. Wir müssen einen neuen Be-
griff mit Leben füllen und klarstellen, wie wir ihn ver-
wenden wollen. Ein wichtiger Schritt, um das zu errei-
chen, wäre, die Vorteile nachhaltiger Politik deutlicher
zu machen: der Erhalt von Chancen; der Wunsch, in ei-
nigen Jahren den kommenden Generationen die gleichen
Chancen, die gleichen Handlungsspielräume und die
gleiche Qualität von öffentlichen Gütern einzuräumen.

Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit zur Koopera-
tion. Wir merken das zum Beispiel in Klimaschutzver-
handlungen. Wir können andere Länder nur dann über-
zeugen, mitzuziehen, wenn diese das Gefühl haben: Die
westliche Welt und die industrialisierten Staaten sind be-
reit, eine nachhaltige Politik zu machen, mit der uns die
gleichen Chancen, die gleichen Partizipationsmöglich-
keiten und die gleichen Anteile am weltweiten Wohl-
stand eingeräumt werden.

Nachhaltigkeit gibt die Chance für dauerhafte Lösun-
gen. Es geht nicht nur um Lösungen, mit denen ich für
drei, vier oder fünf Jahre ein Problem behoben habe.
Vielmehr muss der Ansatz sein, dass das Problem dauer-
haft gelöst wird. Das muss man den Menschen deutlich
machen. Dafür gibt es eine gute Methode: Wir sollten
nicht nur darüber sprechen, was wir an Instrumenten ein-
setzen wollen, sondern wir müssen die Menschen über-
zeugen, welchen Vorteil eine Welt beispielsweise im
Jahr 2020 hätte, wenn wir die Ziele mit Blick auf die In-
dikatoren erreicht hätten. Das muss einmal dargestellt
werden, auch in der Öffentlichkeitsarbeit.

Stellen Sie sich einmal vor, wie die Tagesthemen im
Jahr 2020 in einer Gesellschaft aussehen, die die Ziele
erreicht hat, die wir im Fortschrittsbericht für eine nach-
haltige Politik beschreiben. Das wäre eine andere, eine
bessere Gesellschaft mit mehr Lebensqualität als die
heutige. Für solche Ziele kann man vor allem bei jungen






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
Menschen werben. Wir müssen die Zielvorstellungen
und nicht die Instrumentendebatte nach vorne stellen.

Dabei bietet die Breite der Nachhaltigkeitspolitik eine
große Chance. Als jemand, der in der Umweltpolitik zu
Hause ist, nenne ich diesen Punkt bewusst an erster
Stelle. Ich mache das auch deswegen, weil man dann,
wenn man von den drei Säulen der Nachhaltigkeit
spricht, eines nicht vergessen darf: Die verletzlichste
dieser Säulen ist die uns umgebende Umwelt, die Ökolo-
gie. Sie kann am leichtesten unwiederbringlich verloren
gehen. Daher darf sie bei der Verfolgung unserer Ziele
nicht relativiert werden, sondern sie muss immer mitge-
dacht werden. Sie bildet klare Grenzen für all das, was
man in der Politik machen kann.

Wir debattieren natürlich auch über die Bildungsziele.
Ein Land wie Deutschland muss sich fragen: Sind wir
richtig aufgestellt, um die Empfehlungen der internatio-
nalen Organisationen wie der OECD umzusetzen, näm-
lich die Anzahl der Menschen mit einem Hochschulab-
schluss, den sie zum Beispiel für die Jobs der Zukunft
benötigen, zu erhöhen? Ist unser System, mit dem wir
Bildung vermitteln, und sind die Investitionen in die ver-
schiedenen Stufen der Bildung richtig ausgerichtet, um
dieses Ziel zu erreichen?

Wir sehen, dass führende Länder wie Finnland bei
Bildungsvergleichen besser abschneiden, weil dort
90 Prozent eines Jahrgangs einen Schulabschluss ma-
chen, der den Zugang zur Hochschule erlaubt. Um es auf
unsere Verhältnisse zu übertragen: 90 Prozent eines
Jahrgangs machen dort Abitur. Wenn in Debatten Bil-
dungspolitiker erklären, es könne nicht das Ziel sein,
dass die Mehrheit eines Jahrgangs Abitur macht, dann
muss man sagen: Diese Politiker sind in ihrem Lösungs-
ansatz nicht nachhaltig. Sie müssen entweder dazulernen
oder abgelöst werden.


(Beifall bei der SPD)


Angesichts der Tatsache, dass in der Bundesrepublik
Deutschland die Hälfte aller Kinder in den Ballungsge-
bieten aus Familien mit Migrationshintergrund kommt,
muss die sprachliche Integration weit über das Maß der
Verbesserung in den letzten Jahren – die Situation hat
sich hinsichtlich der Bemühungen um Integration schon
verbessert – fortgesetzt werden. Das sind so einfach ab-
lesbare Größenordnungen, dass die Debatten der Vergan-
genheit über die Instrumente leicht überwunden werden
können.

Wie auch andere Staaten in Europa – wir haben diese
Debatte etwas früher begonnen – stellt uns natürlich die
demografische Veränderung, also die Tatsache, dass das
Durchschnittsalter der Menschen steigt und es immer
mehr ältere Menschen gibt, vor entsprechende Heraus-
forderungen. Wir müssen uns fragen: Wie muss eine In-
frastruktur ausgerichtet werden, die eventuell später von
weniger Menschen genutzt wird? Wie werden die
Sozialsysteme gestützt?

Wenn wir wissen, dass in Zukunft mehr Menschen
durch ihr Alter auf Solidarität in den Sozialsystem ange-
wiesen sind, dann stellt sich die Frage, ob wir es uns er-
lauben können, die Sozialsysteme aufzuteilen in einen
Teil von Niedrig- und Mittelverdienern, die in das Soli-
darsystem einzahlen müssen, und in einen Teil von Bes-
serverdienenden, denen es freigestellt wird, ob sie in das
Solidarsystem einsteigen oder nur unter sich für Solida-
rität sorgen. Diese Frage muss man erneut stellen, weil
man ansonsten viele Menschen ihrer Zukunftschancen
beraubt.

Deswegen müssen wir uns wirklich überlegen: Wel-
che Methoden haben wir eigentlich, nachhaltig zu arbei-
ten? Im Rahmen einer Nachhaltigkeitsprüfung jedes Ge-
setzes wäre es nötig, eine Debatte über die Frage zu
führen: Machen wir ein Gesetz, mit dem wir notdürftig
etwas flicken? Machen wir ein Gesetz, mit dem wir ei-
nen ersten Baustein für eine Lösung schaffen, was ja
auch in Ordnung ist? Oder machen wir ein Gesetz, mit
dem wir nachhaltig etwas verändern? Letzteres führt
möglicherweise dazu, dass die heutige Generation mehr
tragen muss, zumindest so viel, wie sie selber davon pro-
fitiert; aber das wäre im Sinne der nächsten Generation,
und die Probleme wären in zehn Jahren umso geringer.
Diese Debatte sollten wir jedes Mal auf der Grundlage
von Expertisen ausführlich führen; das ist die Anstren-
gung wert.

Wenn wir diese Debatte im Zusammenhang mit einer
Nachhaltigkeitsprüfung für jedes neue Gesetz führen, soll-
ten wir eines noch ergänzen – das wäre meine Bitte –: Wir
sollten auch darüber nachdenken, ob wir nicht für die
Gesetze, die keine nachhaltigen Subventionen betreffen,
die Selbstverpflichtung einführen, sämtliche Subventio-
nen – wir haben ja den Subventionsbericht – noch ein-
mal auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen, und wir
sollten überlegen, ob wir nicht zumindest die Subven-
tionen, die nicht nachhaltig wirken, in der Gesamt-
summe – nicht jede einzelne; sonst kommt immer eine
neue dazu – um 10 Prozent jedes Jahr reduzieren. Auch
das wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigen
Politik.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620510600

Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege

Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1620510700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Ich möchte, auch meiner Rolle als
Vorsitzender des Parlamentarischen Beirats gemäß, die
letzte Rede in dieser Debatte zunächst dazu nutzen, mich
zu bedanken: bei allen Kolleginnen und Kollegen im
Beirat für die Arbeit, die wir im Zusammenhang mit der
Erarbeitung unserer Stellungnahme zu diesem Fort-
schrittsbericht, die kurz vor der Vollendung steht, bereits
geleistet haben, sowie bei der Bundesregierung für die
Erstellung des Berichts. Ich darf auch meiner Freude
Ausdruck verleihen, dass nicht nur der Staatsminister






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Günter Krings
aus dem Kanzleramt, Bernd Neumann, in dieser Debatte
anwesend ist, sondern – jedenfalls auf dem Höhepunkt
der Debatte und ich nehme es nicht persönlich, dass der
Höhepunkt in der Wahrnehmung einiger schon vorbei zu
sein scheint – auch über ein halbes Dutzend Ministerien
vertreten waren. Daran zeigt sich, dass die Bundesregie-
rung begriffen hat, dass es sich um eine Querschnittsauf-
gabe handelt. Allerdings muss die Ausdauer mancher
Ressorts noch gesteigert werden.


(Otto Fricke [FDP]: Nachhaltigkeit beim Zuhören!)


Aber der Grad der Anwesenheit war auf jeden Fall ein
gutes Zeichen.

Der Bericht selber weist Licht und Schatten auf. Das
wird mit den schönen Symbolen für Sonne über Wolken
bis hin zu Gewitter dargestellt. Zwölfmal scheint die
Sonne über Indikatoren; deutlich weniger – nur sieben-
mal – sind Gewitterwolken zu sehen. Das zeigt, dass wir
in vielen Punkten – wenn auch nicht in allen – auf einem
guten Wege sind. Stichworte wurden genannt: Reduzie-
rung der Treibhausgase, die Übererfüllung der Ziele bei
den erneuerbaren Energien, eine stärkere Berücksichti-
gung älterer Erwerbstätiger im Erwerbsleben, Ausbau
der Ganztagsbetreuung – insbesondere aufgrund der letz-
ten Initiativen aus dem von-der-Leyen-Ministerium – für
die Drei- bis Fünfjährigen. Insofern sind zu Recht einige
Sonnen zu sehen.

Aber das Wetter kann sich manchmal schnell ändern.
Das sehen wir etwa beim Indikator Staatsverschuldung.
Vor der Finanzmarktkrise sah das noch alles sehr gut
aus. Es war wichtig, dass wir die Anstrengungen zur
Konsolidierung unternommen haben; denn sonst hätten
wir es noch schwerer, in dieser Krise zu reagieren.

Dass Nachhaltigkeit ein Thema ist, das – Herr Kol-
lege Kelber, da stimme ich Ihnen zu – von den Medien
und in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend wahr-
genommen worden ist, ist sicherlich richtig. Aber das
liegt auch daran, dass unsere mediale Öffentlichkeit in
erster Linie Probleme wahrnimmt und beschreibt. So
sind die Nachrichten im Fernsehen und in den Zeitungen
aufgebaut. Nachhaltigkeit ist aber keine Problembe-
schreibung, sondern ein Lösungsansatz. Deshalb ist es
gerade jetzt, in der Zeit der Finanzmarktkrise, wichtig,
dass wir dieses Thema gemeinsam nach vorne bringen.

In Teilen der Wirtschaft – nicht in allen Bereichen der
Wirtschaft –, die übrigens auch von Ihrer Partei, Herr
Kollege Döring, als besonders modern, wegweisend und
dynamisch dargestellt worden sind, war und ist vielleicht
noch heute oft zu kurzfristiges, zu kurzatmiges Denken
und Handeln an der Tagesordnung. Es wurde mehr auf
Quartalsberichte und weniger auf langfristige Erfolge,
mehr auf Tageskurse als auf bleibende Werte geachtet.


(Patrick Döring [FDP]: Vom Gesetzgeber vorgeschrieben!)


– Da gab es zugegebenermaßen falsche Wegweisungen,
teilweise auch durch den Gesetzgeber.

Es gibt einen zweiten aktuellen Anlass, warum dies
heute eine besonders wichtige Debatte ist. Ich habe in ei-
ner guten Stunde das Vergnügen, den Beratungen in der
Endphase der Föderalismuskommission II beizuwohnen.
Hier versuchen wir, mit den Folgen eines nicht nachhal-
tigen politischen Denkens, mit dem Marsch in den
Schuldenstaat seit über vier Jahrzehnten aufzuräumen.
Die Instrumente wurden genannt: Schuldenbremse, Sta-
bilitätsrat. Es soll ferner ein Frühwarnsystem gegen neue
Schulden eingeführt werden. Es ist allerdings ein biss-
chen gewöhnungsbedürftig, wenn man nach vier Jahr-
zehnten des Schuldenmachens jetzt von einem Früh-
warnsystem spricht. In der Sache kommen wir dadurch
aber weiter. Die Nachhaltigkeitsstrategie und der Grund-
satz der Nachhaltigkeit müssen stärker in der Tagespoli-
tik ankommen. Daran werden wir gemeinsam arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Um das zu erreichen, ist das Management von Nach-
haltigkeit ein ganz entscheidender Punkt. Wir begrüßen
es daher sehr, dass die Bundesregierung sich bereit er-
klärt hat, diesen Punkt in die Gemeinsame Geschäftsord-
nung der Bundesministerien – das klingt sehr langweilig,
ist aber ganz wichtig – aufzunehmen und zu sagen: Teil
der Gesetzesfolgenabschätzung, die sich in der Praxis
leider seit Jahren in einem Dornröschenschlaf befindet,
soll jetzt die Nachhaltigkeitsprüfung werden. – Dies ist
die große Chance, die Gesetzesfolgenabschätzung end-
lich zu reaktivieren. Ich war vor einigen Monaten sehr
erfreut, als wir sehr kurzfristig und sehr rasch von Bun-
desinnenminister Schäuble in dieser Frage grünes Licht
bekommen haben und er sich sehr klar hinter diese For-
derungen des Nachhaltigkeitsbeirates gestellt hat.

Wir brauchen also ein stärkeres Langfristdenken – das
bedeutet auch mehr Generationengerechtigkeit – in der
Politik. Es ist gut, dass die Regierung jetzt ihren Teil
dazu beitragen will. Es ist genauso wichtig, dass das Par-
lament in dieser Frage aktiv und führend bleibt. Dies ist
eine Querschnittsaufgabe. Deswegen ist es unverzicht-
bar, dass wir vom Nachhaltigkeitsbeirat diese Frage wei-
ter behandeln und daran mitwirken, bei der Fortschrei-
bung der Nachhaltigkeitsstrategie die richtigen Weichen
zu stellen, aber auch die Regierung da kontrollieren, wo
sie ihre Ziele nicht erreicht hat, oder ihr Hilfestellung ge-
ben, sie besser zu erreichen. Aus diesem Grunde wird si-
cherlich, ohne große hellseherische Fähigkeiten zu ha-
ben, am Ende der Wahlperiode ein Vorschlag unseres
Gremiums sein, diesen Beirat dauerhaft zu verankern
und für uns eine aktive Rolle vor allem bei der Durch-
führung von Nachhaltigkeitsprüfungen vorzusehen. Wir
wollen einfordern, dass Gesetze im Hinblick auf ihre
Nachhaltigkeit geprüft werden.

In der Regierung macht das federführend das Kanz-
leramt. Das ist eine gute Sache. Wir würden uns wün-
schen – mehr können wir nicht tun –, dass dies im Kanz-
leramt weiter aufgewertet wird, zum Beispiel in Form
eines eigenen Referates. Es sollte darüber hinaus in je-
dem Ministerium ein eigenes Referat für diese Aufgabe
geben. Das wäre sicher ein richtiges Signal.


(Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulrich Kelber [SPD]: Dr. Günter Krings Im Kanzleramt muss es eine ganze Abteilung werden!)





(A) (C)


(B) (D)


– Es kann auch über ein Referat hinausgehen. Wir fan-
gen mal klein an, Herr Kollege Kelber.

Das Herzstück der Nachhaltigkeitsstrategie sind die
Indikatoren. Das ist ein fast revolutionärer Politikansatz,
der in anderen Bereichen Schule machen sollte. Wir ge-
hen nicht von Instrumenten aus und sagen nicht, wie viel
Geld wir für ein bestimmtes Thema ausgeben wollen,
sondern sagen, was wir erreichen wollen. Wir haben in
der Nachhaltigkeitsstrategie definierte, klare Ziele ver-
bunden mit messbaren Zahlen. Jeder, der sich in Wirt-
schaftsfragen etwas auskennt, weiß: Nur das, was ich
messen kann, kann ich letztlich auch managen. Es ist ei-
gentlich ein bisschen traurig, dass man in der Politik die-
sem Grundsatz außerhalb des Bereichs der Nachhaltig-
keitsstrategie noch zu wenig Beachtung schenkt.

Wenn Indikatoren aber so wichtig sind, dann ist es na-
türlich logisch, dass Kontinuität gewahrt bleiben muss.
Wir können nicht in dem einen Jahr Äpfel und im ande-
ren Jahr Birnen zählen; es muss bei den Indikatoren
Kontinuität geben. Trotz allem sind behutsame Anpas-
sungen und Lehren aus der Entwicklung richtig und not-
wendig. Als Mitglied des Rechtsausschusses in diesem
Hause möchte ich einen Punkt herausgreifen: Der Indi-
kator „Zahl der Wohnungseinbrüche“ hat eine gegen null
tendierende Aussagekraft für das Thema Nachhaltigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten den Mut haben, solche Indikatoren auch zu
streichen. Wenn alles nachhaltig ist, ist eben leider bald
nichts mehr nachhaltig. Der Begriff benötigt Konturen.
Dabei sollte man sich auf die wesentlichen Punkte kon-
zentrieren.

Ein wesentlicher Punkt etwa ist all das, was mit dem
demografischen Wandel zu tun hat. Ich finde es gut, dass
ein Indikator der Ausbau der Ganztagsbetreuung ist. Wa-
rum gibt es keinen Indikator zur Entwicklung der Gebur-
tenrate insgesamt? Das wäre sicherlich ein sinnvoller
Punkt für künftige Fortschreibungen.

Mein letzter Punkt – ich komme zum Schluss –: Ich
glaube, dass wir in diesem Land gemeinsam dafür sor-
gen müssen – dieses Ziel ist noch nicht erreicht –, dass
Nachhaltigkeit zu einem echten Leitprinzip der Politik
wird, dass sich auch die Tagespolitik aus der Nachhaltig-
keitsstrategie heraus entwickelt. Die Beiratsmitglieder
sind der Überzeugung – ich hoffe, das gilt auch über un-
seren Beirat hinaus –, dass der Nachhaltigkeitsgrundsatz
insbesondere in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten
sowohl eine Stabilitätsgarantie als auch ein Innovations-
motor für unser Land sein kann. In diesem Sinne erhoffe
ich mir für den nächsten Fortschrittsbericht: noch mehr
Sonne und noch weniger Wolken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620510800

Damit ist die Aussprache beendet.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10700 an die Ausschüsse vorgeschla-
gen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Fortentwicklung des Pfandbriefrechts

– Drucksachen 16/11130, 16/11195 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 16/11886, 16/11929 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Ingrid Arndt-Brauer
Carl-Ludwig Thiele

Es ist vorgesehen, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Als Erster hat das Wort der Kollege Bernd Scheelen
für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1620510900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Sind Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken
eigentlich langweilige Institute?


(Ute Kumpf [SPD]: Nein!)


Sind Bausparverträge langweilige Verträge?


(Ute Kumpf [SPD]: Das habe ich früher gedacht!)


Sind Pfandbriefe eigentlich langweilige Wertpapiere?


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Werthaltige!)


Es mag sein, dass manch einer in dieser Republik das
glaubt oder in der Vergangenheit geglaubt hat und diese
Fragen alle mit Ja beantwortet hätte;


(Ute Kumpf [SPD]: Viele wollen jetzt Spießer werden!)


möglicherweise, weil wir Menschen dazu neigen, all
das, was wir lange kennen, was sich bewährt hat und uns
vertraut ist, als nicht besonders aufregend zu empfinden,
sondern als langweilig, jedenfalls nicht als in irgendeiner
Weise sexy. Die Menschen wissen aber auch, dass ein
vielleicht nicht besonders aufregendes Image für Zuver-
lässigkeit, für Vertrauen und für Sicherheit steht.

Hätten wir in der derzeitigen Krise die Stabilitäts-
anker Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken nicht,
hätten wir diese Institutionen nicht jahrelang gegen An-






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Scheelen
griffe von allen möglichen Seiten verteidigt, hätten wir
sie nicht gestärkt, dann sähe es, so glaube ich, auf dem
Finanzsektor in Deutschland schlimmer aus, als es jetzt
der Fall ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Es zeigt sich, dass es richtig war, das Dreisäulenmodell
zu verteidigen und zu erhalten.

Die Älteren unter Ihnen, zu denen auch ich mich
zähle, werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass
die Pfandbriefbanken in den 70er-Jahren im Fernsehen
– Sie erinnern sich: mit der Schwurhand – für Pfand-
briefe und Kommunalobligationen mit dem Spruch „si-
cher ist sicher“ geworben haben. Die Bausparkassen
haben in jüngster Zeit mit ihrem vermeintlichen Spießer-
image geworben. Sie erinnern sich an den Spot – Ingo
Naujoks gab den Hippie –, in dem der Vater gegenüber
seiner Tochter diejenigen, die in eigenen Immobilien
wohnen, als Spießer bezeichnet. Die Tochter hat dann
gesagt: Du Papa, wenn ich groß bin, möchte ich auch
mal Spießer werden!


(Zuruf von der CDU/CSU: Auch Schwäbisch Hall hat diese Werbung! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wüstenrot nicht zu vergessen! – Ute Kumpf [SPD]: Alle in Baden-Württemberg!)


– Ich sage ja: Die Bausparkassen und die Pfandbriefban-
ken haben so geworben.

Als meine drei Kinder 18 Jahre alt wurden, bekamen
sie die Gelegenheit, über sieben Jahre einen festen, klei-
nen Betrag monatlich anzulegen. Zwei von den dreien
haben sich für einen Bausparvertrag entschieden.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie spießig!)


Ein Kind hat sich damals für den sogenannten Neuen
Markt entschieden. Nach den sieben Jahren waren alle
drei reicher: zwei an Geld, einer an Erfahrung.

Anleger müssen Entscheidungen treffen. Sie müssen
sich fragen: Was will ich? Will ich Sicherheit oder eine
hohe Rendite? Da stellt man fest, dass es sich dabei wie
bei kommunizierenden Röhren verhält: Wenn ich ein hö-
heres Risiko habe, dann habe ich auch die Chance, mehr
Rendite zu erwirtschaften. Aber es kann eben auch sein,
dass die Rendite am Ende, weil das Risiko zu groß ist,
negativ ist.

Viele Anleger haben sich in der Vergangenheit für Si-
cherheit und Qualität entschieden. Sie haben sich für den
deutschen Pfandbrief entschieden. Hauptsächlich han-
delt es sich dabei um institutionelle Anleger wie Banken,
Fonds und Versicherungen. Das wissen die meisten
nicht. Allen, denen ich gesagt habe, dass ich zum Thema
Pfandbrief rede, meinten: spannendes Thema. – Auch sie
hielten das für langweilig. Aber wenn ich dann erkläre,
dass sich das Umlaufvolumen deutscher Pfandbriefe auf
900 Milliarden Euro beläuft und wir sie zur Staatsfinan-
zierung aller Ebenen brauchen, dann schlucken sie, weil
sie das nicht wussten. Wenn man dann noch nachschiebt,
dass sich das Gesamtvolumen solcher gedeckter Schuld-
verschreibungen auf der Welt auf rund 2,1 Billionen
Euro beläuft, dann stellt man fest, dass der deutsche
Pfandbrief eine starke Stellung hat.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der ist der sicherste von allen!)


– Er ist der sicherste von allen. – Deswegen hat er so
eine starke Stellung. Er deckt 42 Prozent des Weltmark-
tes ab. Das unterstreicht auf der einen Seite seine Bedeu-
tung und seine Qualität. Auf der anderen Seite unter-
streicht es aber auch die Notwendigkeit – deswegen
sitzen wir heute zusammen –, das Pfandbriefrecht wei-
terzuentwickeln.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Diejenigen, die zu diesem Gesetzentwurf die Bericht-
erstatter für ihre Fraktionen sind, sind zum großen Teil
auch im Februar 2005 dabei gewesen, als wir das Gesetz
zur Neuordnung des Pfandbriefrechts aus Anlass des
Wegfalls der Gewährträgerhaftung verabschiedet haben.
Wir haben damals einstimmig ein gutes Gesetz gemacht.
Aber Märkte und Notwendigkeiten entwickeln sich wei-
ter.


(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)


Man muss auch als Gesetzgeber darauf achten, dass man
bei solchen Gesetzesvorhaben auf der Höhe der Zeit
bleibt. Wir müssen also den Pfandbrief weiterentwi-
ckeln.

Die ersten Überlegungen zur Weiterentwicklung des
Pfandbriefes sind schon etwas älter als die akute Krise.
Ein Teilnehmer der Anhörung hat das so formuliert: Die
ersten Überlegungen fanden zu Schönwetterzeiten statt. –
Jetzt haben wir Hagel und Sturm. Es war klar, dass sich
der Regierungsentwurf dieser Situation anpassen musste
und wir darauf reagieren mussten. Deshalb hat sich das
Gesetz, das jetzt verabschiedet wird, gegenüber dem Ka-
binettsentwurf deutlich verändert.

Der Schwerpunkt des Kabinettsentwurfs lag auf der
Ausdehnung des Geschäftsfeldes für Pfandbriefe, zum
Beispiel durch die Einführung des Flugzeugpfandbrie-
fes, die wir 2005 bewusst noch nicht in die Wege geleitet
haben. Sie ist aber jetzt vorgesehen. Wir bilden ihn dem
seit über 75 Jahren bewährten Schiffspfandbrief nach. Er
stellt eine Bezugsgröße dar, von der wir wissen, dass sie
sehr verlässlich ist.

Nun haben wir den Fokus auf weitere Qualitätsverbes-
serungen des Pfandbriefes gelenkt. Qualitätsverbesse-
rung heißt im Wesentlichen Verbesserung von Transpa-
renz für den Anleger. Insofern war die Anhörung sehr
wichtig. Wir haben Anregungen des Zentralen Kreditaus-
schusses und auch der Bundesanstalt für Finanzdienst-
leistungsaufsicht aufgegriffen, zum Beispiel indem wir
erstens den Zeithorizont für die Darstellung des kurzzei-
tigen Liquiditätsbedarfs im Falle einer möglichen Insol-
venz von 90 auf 180 Tage verdoppelt haben. Das heißt,
ein im Falle einer solchen Insolvenz einzusetzender
Sachwalter – einen solchen Fall hat es noch nie gegeben,






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Scheelen
und es wird ihn sehr wahrscheinlich auch nicht geben –
hat ein halbes Jahr Zeit, seine Tätigkeit vorzubereiten.

Zweitens haben wir Veränderungen bei den soge-
nannten Laufzeitenbändern vorgenommen. Sie werden
enger gefasst. Bei der Darstellung der Laufzeitenstruktur
und der Zinsbindungsfristen für die Deckungswerte, die
veröffentlicht werden, gibt es in Zukunft nicht mehr vier
Stufen wie bisher. Das schien einigen Anlegern zu wenig
zu sein. Wir haben das nachvollziehen können. Es wird
demnächst sieben Stufen geben. Das wird zu deutlich
mehr Transparenz, insbesondere bei den kurz- und mit-
telfristigen Fälligkeiten, führen. Das ist im Interesse der
Anleger, schafft mehr Durchsichtigkeit und damit auch
mehr Vertrauen. Wir brauchen Vertrauen auf den Finanz-
märkten. Der Markt der Pfandbriefe ist ein besonders
wichtiger Bereich des Finanzmarktes.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens erleichtern wir mit dem vorgelegten Gesetz-
entwurf die Konsortialfinanzierung. Das heißt, wir er-
möglichen es auch kleineren Banken, sich durch Zusam-
menschlüsse auf dem Pfandbriefmarkt zu betätigen. Das
wiederum stärkt die Sicherheit; denn eine Konsortialfi-
nanzierung ist ein Beitrag zur Risikostreuung. Das bringt
auch dem Anleger Vorteile, weil die Risiken breiter ge-
streut werden.

Der Pfandbrief – das wissen alle, die hier sind und
sich mit dem Thema beschäftigen – hat in den letzten
vier Monaten nach dem Zusammenbruch von Lehman
Brothers gelitten – wie wir wissen, zu Unrecht, weil er
mit den inkriminierten Papieren, den Subprime-Papieren
oder vergifteten Papieren – oder welchen Namen man
sich mittlerweile noch hat einfallen lassen –, überhaupt
nichts zu tun hat. Pfandbriefe sind absolut sichere Pro-
dukte, weil hinter ihnen reale Werte stecken, die sehr,
sehr konservativ geschätzt sind. Der Pfandbrief ist sozu-
sagen in Sippenhaft genommen worden, obwohl er ja
kein Subprime-Papier, sondern ein Premiumpapier ist.
Für Pfandbriefe brauchen wir keine Bad Bank; Pfand-
briefe sind sozusagen eine Best Bank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke [FDP]: Bei Bad Government weiß man das nicht!)


– Ich finde, das kann man beklatschen.

In ihrer über 200-jährigen Geschichte hat es keinen
einzigen Ausfall bei Pfandbriefen gegeben. Es wird auch
in dieser Finanzkrise zu keinem Ausfall kommen, weil
reale Werte dahinterstecken.

Allerdings müssen wir feststellen, dass die Sensibili-
tät der Anleger gestiegen ist. Dem haben wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf Rechnung getragen. Es
handelt sich dabei um ein Artikelgesetz, durch das wir
eben nicht nur das Pfandbriefrecht weiterentwickeln,
sondern auch Änderungen im Kreditwesengesetz verein-
baren. Zum Beispiel war ursprünglich vorgesehen, es
den Finanzholding-Gesellschaften zu ermöglichen, auf
eigenen Wunsch unter die Aufsicht der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, zu kom-
men. In der Anhörung wurde deutlich, dass es Sinn hat,
der BaFin die Möglichkeit zu geben, selber den Antrag
zu stellen, einen Finanzdienstleister unter Aufsicht zu
stellen. Das war ein Punkt, den der Kollege Carl-Ludwig
Thiele besonders unterstrichen hat.


(Otto Fricke [FDP]: Ein guter Mann, der Herr Thiele!)


– Ja, ich bestreite das ja gar nicht. Zum Lob komme ich
gleich noch; das mache ich am Schluss. Dann werdet ihr
alle pauschal gelobt; das ist keine Frage.

Wir sind diesem Wunsch gefolgt. Es ist jetzt Bestand-
teil des vorgelegten Gesetzentwurfes.

Bezüglich der Erlaubnispflicht im Bereich der Anla-
gen gab es den Wunsch des Kollegen Dr. Schick, sich in
diesem Zusammenhang mit dem grauen Kapitalmarkt zu
beschäftigen. Dieses Anliegen hat er schon länger vorge-
tragen. Dem sind wir gefolgt. Wir werden – so ist es,
glaube ich, gestern vereinbart worden – eine Anhörung
dazu durchführen. Das BMF wird für einen Bericht sor-
gen.

Weil der Kollege Dr. Axel Troost – er ist gerade nicht
anwesend – sich sehr konstruktiv an den Beratungen be-
teiligt hat, möchte ich auch ihn hier namentlich erwäh-
nen, genauso wie den Kollegen Leo Dautzenberg.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat die Kollegin Höll dann übernommen!)


– Ja, aber an den Beratungen, die wir als Berichterstatter
durchgeführt haben, war im Wesentlichen Kollege Tro-
ost beteiligt.

Ich nenne alle fünf namentlich, weil wir heute einen
seltenen Fall erleben werden: Wir werden diesen Ent-
wurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Pfandbrief-
rechts einstimmig in diesem Hohen Haus beschließen.
Das kommt nicht allzu oft vor.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist allerdings eine Tradition. Auch 2005 haben wir
das Gesetz einstimmig beschlossen. Es ist ja so: Wenn
man zweimal dasselbe macht, ist es Tradition; wenn wir
es das nächste Mal machen, ist es schon Brauchtum. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir dieses Gesetz einstimmig
beschließen, weil das ein Signal nach draußen ist,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!)


dass der Deutsche Bundestag die Qualität des Pfandbrie-
fes unterstreicht und dass er sagt: Habt Vertrauen in die-
ses Instrument. Es ist ein Instrument, das das absolute
Vertrauen der Anleger verdient.

Herzlichen Dank an alle Beteiligten in den Fraktio-
nen!

Mein Dank gilt auch dem Ministerium, das unsere
Beratungen sehr konstruktiv begleitet hat. Ich glaube,
das heutige einstimmige Votum zeigt einmal mehr, dass
die Demokratie auch in Zeiten der Krise handlungsfähig






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Scheelen
ist. Heute machen wir, wenn auch im Kleinen, ein Stück
weit die gleiche Erfahrung, die wir im Zusammenhang
mit dem Rettungsschirm für die Banken gemacht haben:
In diesem Fall hat die Demokratie ebenfalls gezeigt, dass
sie auch in schwierigen Zeiten in der Lage ist, zusam-
menzustehen. Das stärkt nicht nur das Vertrauen in den
deutschen Pfandbrief, sondern auch das Vertrauen in die
deutsche Politik. – Wie ich sehe, habe ich es tatsächlich
in exakt 14 Minuten geschafft.

Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620511000

Der Kollege Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die

FDP-Fraktion.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1620511100

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr ver-

ehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schee-
len, ich kann Ihrem Lob für den deutschen Pfandbrief
zustimmen. Die FDP beurteilt das genauso. Es ist gut,
dass wir heute eine Fortentwicklung des im Jahre 2005
in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuordnung des Pfand-
briefrechts beschließen. Damals ging es darum, öffentli-
che und private Pfandbriefe zusammenzuführen. Mit
dem heutigen Gesetz erweitern wir den Pfandbrief um
eine wesentliche Komponente.

Bislang gab es Schiffspfandbriefe zur Schiffsfinanzie-
rung. Dieses bewährte Institut übernehmen wir jetzt
auch für den Bereich der Flugzeuge, weil dort ähnliche
Regeln gelten. Dieses Vorhaben haben wir schon im
Jahre 2005 erörtert. Ich bin froh darüber, dass das Ergeb-
nis unserer Beratungen jetzt spruchreif ist und wir end-
lich beginnen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Herr Kollege Scheelen, auch Ihren Ausführungen
zum Dreisäulensystem stimme ich ausdrücklich zu.
Trotz aller Probleme, die es auf dem Finanzmarkt derzeit
gibt, muss man festhalten, dass es nicht in allen Berei-
chen solche Probleme gibt. Man sollte einmal deutlich
machen, dass es gerade bei den Pfandbriefen keine der-
artigen Probleme gibt.

Sie haben erwähnt, dass wir mit diesem Gesetzge-
bungsvorhaben, was die Situation im Finanzsektor an-
geht, angefangen haben, als schönes Wetter herrschte.
Inzwischen stehen die Zeichen aber auf Sturm. Insofern
muss man sich fragen: Was ist verbessert worden? Wo
sind Fehlentwicklungen festzustellen? Wo ist in der Ver-
gangenheit etwas falsch gelaufen? Bei den Pfandbriefen
sind wir Weltmarktführer, und das wollen wir bleiben.
Insofern begrüßt die FDP die Änderungen, die mit die-
sem Gesetzentwurf verbunden sind.

Sie haben auch angesprochen, dass es sich bei diesem
Gesetz um ein Artikelgesetz handelt. In diesem Artikel-
gesetz ist das KWG, das Gesetz für die Kreditwirtschaft,
enthalten. Im KWG sind die Sicherungsmaßnahmen für
Finanzinstitute geregelt. Nun wurde im Hinblick auf die
Aufsicht von Finanzholding-Gesellschaften eine neue
Regelung getroffen. Der konkrete Anlass für diese Rege-
lung besteht darin, dass wir, was die Aufsicht betrifft,
vor kurzem ein komplettes Versagen erleben mussten,
nämlich bei der Hypo Real Estate.


(Beifall bei der FDP)


Die Hypo Real Estate hat eine irische Bank übernom-
men. Die Mitglieder des Finanzausschusses haben zu ih-
rer Überraschung erst im Herbst letzten Jahres erfahren,
dass die Hypo Real Estate, eine Finanzholding, die im-
merhin ein DAX-Wert war, nicht der Bankenaufsicht un-
terliegt. Das kann nicht richtig sein, und das konnte nicht
richtig sein. Hier ist die Frage zu stellen: Wann war das
den Verantwortlichen bekannt?


(Otto Fricke [FDP]: Staatsversagen!)


In einem aktuellen Bericht des Spiegel heißt es, dass
die Finanzaufsicht das Bundesfinanzministerium schon
Anfang 2007 auf diese Regelungslücke bezüglich der
Aufsicht hingewiesen hat. Diesem Vorgang muss weiter-
hin nachgegangen werden.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Gesetzentwurf sieht für die Zukunft die Prü-
fungsmöglichkeit vor. Diese Regelung wurde im Finanz-
ausschuss auf Initiative der FDP im Vergleich zum Re-
gierungsentwurf verschärft. Dort hieß es nur, dass „auf
Antrag“ des jeweiligen Instituts geprüft werden darf.

Was ist bei der Hypo Real Estate eigentlich gesche-
hen? Ein deutsches Finanzinstitut, ein DAX-Wert, hat
eine ausländische Beteiligung erworben. Die Banken-
aufsicht hatte überhaupt keine rechtliche Möglichkeit,
dieses Institut zu überprüfen. Die Probleme dieses Insti-
tuts gingen auf die Mutter und von der Mutter auch auf
die Töchter über. Im Ergebnis hat das dazu geführt, dass
der deutsche Steuerzahler bis heute mit 102 Milliar-
den Euro dafür haftet, dass unsauber operiert und der
Aufsichtspflicht nicht nachgekommen wurde. Wenn ich
mir das vor Augen halte, muss ich feststellen: Das sind
Vorkommnisse, mit denen sich das Parlament, auch über
diesen konkreten Gesetzentwurf hinaus, noch sehr inten-
siv beschäftigen muss.


(Beifall bei der FDP)


An dieser Stelle ist zu sagen: Das KWG ist nicht ir-
gendein Gesetz. Wir haben keinen Bereich unserer Wirt-
schaft so stark reglementiert und mit Aufsichtsvorschrif-
ten versehen wie den Finanzsektor. Wir haben in § 11
KWG sichergestellt, dass ein Finanzinstitut über Liqui-
dität verfügen muss. Das wird bei jedem deutschen Fi-
nanzinstitut von der Aufsicht, der BaFin, überprüft, und
auch von der Deutschen Bundesbank.

Insofern ist es erstaunlich, dass der Chef der Aufsicht,
Herr Sanio, erklärt hat, das System sei zwar geprüft wor-
den, aber die Liquidität habe man nicht prüfen können.
Wenn man sich klarmacht, welche Probleme in Finanz-
instituten entstehen können, weiß man diese Stellen im






(A) (C)



(B)


Carl-Ludwig Thiele
KWG zu schätzen. Auch das KWG als Rechtsrahmen
für die Finanzaufsicht ist nämlich im Grundsatz einver-
nehmlich beschlossen worden. Keiner von uns wusste
allerdings, dass, wenn die Konstruktion einer Finanzhol-
ding, die selbst keine Bankgeschäfte betreibt, gewählt
wird, die Holding von der Aufsicht nicht überprüft wird.


(Otto Fricke [FDP]: Vielleicht war das Absicht?)


– Das ist nicht ausgeschlossen. Denn bei der HRE han-
delt es sich um eine Neugründung; diese Bank ist noch
nicht allzu alt. Ich vermute, dass bei der Neugründung
bestimmte Kriterien gewählt wurden, um eine solche
Konstruktion zu ermöglichen.

Als die HRE die Bank im Ausland erworben hat, hat
die Aufsicht von vornherein gesehen, dass Probleme
kommen können. Sie hat an das BMF geschrieben; doch
das BMF ist untätig geblieben. Dass das BMF an dieser
Stelle untätig geblieben ist, ist aus meiner Sicht unent-
schuldbar.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In wie vielen Bereichen, bei wie vielen Gesetzen wendet
sich die Regierung in den Ausschüssen an uns und weist
auf Regelungslücken hin! Wenn es vernünftig war, ha-
ben wir als FDP immer zugestimmt, andere auch. Doch
dieser Punkt ist nicht auf den Tisch gelegt worden. Da
kann ich nur sagen: Eine Regierung haftet auch dafür,
wenn sie etwas unterlässt. Auch für Unterlassen bei
Kenntnis muss sie die Verantwortung übernehmen. Das
Unterlassen bestand darin, dass sie die Aufsicht nicht
durchgesetzt hat. Denn dass die Probleme der einen aus-
ländischen Tochter über die Mutter auch bei den anderen
Töchtern und damit im Gesamtinstitut landen, ist inzwi-
schen offensichtlich.

Das ist nicht mehr nur ein Problem der Hypo Real Es-
tate. Das ist zwischenzeitlich ein Problem des deutschen
Steuerzahlers geworden. Von den 480 Milliarden Euro,
die das Paket umfasst, ist ein Großteil, nämlich
102 Milliarden Euro, für die der Steuerzahler haftet, nur
zur Sicherung dieses einen Institutes aufgewandt wor-
den. Eine der Ursachen dafür liegt in Irland.

Insofern sage ich: Die Gesetzesänderung begrüßen
wir; aber den Finanzminister entlassen wir noch lange
nicht aus seiner Verantwortung für das Fehlverhalten
durch Unterlassen an dieser Stelle.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620511200

Als Nächster spricht der Kollege Leo Dautzenberg für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1620511300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte des deut-
schen Pfandbriefs ist – darauf ist schon hingewiesen
worden – eine Erfolgsgeschichte. Der Pfandbrief hat
mehrere Finanzkrisen überstanden. Er ist zum Vorbild
für zahlreiche Schuldverschreibungen im Ausland ge-
worden und hat sich damit zum größten Segment des
globalen Marktes gedeckter Schuldverschreibungen ent-
wickelt.

Es gibt dabei Qualitätsunterschiede. Wenn man sich
die Covered Bonds im Ausland anschaut, muss man fest-
stellen, dass es sich zwar auch um gedeckte Schuldver-
schreibungen handelt; aber vom Deckungsstock her
steckt nicht die Qualität dahinter, die wir beim deutschen
Pfandbrief kennen. Der deutsche Pfandbrief ist nach wie
vor ein Unikat. Wir sollten dafür werben, dass sich diese
Standards international durchsetzen.

Bisher hatten wir diese Qualitätsmerkmale vor allem
in zwei Segmenten, nämlich mit Hypotheken oder mit
Grundschulden als Deckungsmasse, wobei die Pfand-
briefe, anders als es bei den Subprimes in den Vereinig-
ten Staaten der Fall war, nur nach bestimmten Belei-
hungswerten vergeben werden konnten. Darüber hinaus
gab es schon einen Schiffspfandbrief. Deutsche Bank-
institute haben bereits eine hohe Expertise in der Finan-
zierung der Pfandbriefe, die auf Hypotheken, Grund-
schulden oder Schiffen basieren. Jetzt wird es auch einen
Flugzeugpfandbrief geben. Damit wird eine Lücke ge-
schlossen. Über den Pfandbrief und die Verbriefung sol-
len sich diese Institute am Markt refinanzieren können.
Von daher ist das an hohe Standards gebunden.

Kollege Scheelen hat schon darauf hingewiesen, dass
es 2005 eine grundsätzliche Novelle gab, die wir einver-
nehmlich auf den Weg gebracht haben. Jetzt ging es da-
rum, noch Verfeinerungen vorzunehmen. Dies wurde be-
reits vor Beginn der Finanzkrise angedacht und wird
jetzt hier im Deutschen Bundestag zum Abschluss ge-
bracht, sodass die Fortentwicklung der Pfandbriefrechts
Platz greift. Es ist gut, dass wir diesen Gesetzentwurf im
Konsens, also über alle Fraktionsgrenzen hinweg, verab-
schieden werden. Es ist darauf hingewiesen worden,
dass dies für den Finanzmarkt ein wichtiges Zeichen ist.
Es zeigt, dass wir uns als Gesetzgeber bemühen, hier
einvernehmliche Regelungen zu finden.

Ein zentrales Element ist die Einführung des Flug-
zeugpfandbriefs. Daneben wird die Konsortialfinanzie-
rung erleichtert. Zudem werden Qualitätsstandards
hinsichtlich der Deckungsfähigkeit von Forderungen ge-
genüber Drittstaaten aufgestellt, was ein zusätzliches
Qualitätsmerkmal darstellt. Das sind die Punkte, die im
Gesetzentwurf schon vorhanden waren.

Was wir nach der guten Anhörung auf dem Weg der
parlamentarischen Beratung eingefügt haben, ist die An-
lageverwaltung, Herr Kollege Schick, und zwar mit der
Maßgabe, dass wir dies auch in Bezug auf den grauen
Kapitalmarkt weiter im Fokus behalten und dazu ge-
meinsam eine Anhörung durchführen wollen.

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Leo Dautzenberg
Kollege Thiele und Kollege Scheelen haben darauf
hingewiesen, dass wir auch hinsichtlich der Finanzhol-
ding-Gesellschaften eine Ergänzung im Vergleich zum
Regierungsentwurf vorgenommen haben. Ursprünglich
hieß es, dass sich diese Finanzholdings auf Antrag der
Aufsicht unterstellen können. Es war schwer nachvoll-
ziehbar, warum dies auf Antrag geschehen sollte. Wer
beantragt denn so etwas? Das Gegenteil wäre gewesen,
wir hätten es zur Pflicht gemacht. Das ging auch nicht,
weil dann zu viele Finanzdienstleister in die Aufsicht
einbezogen worden wären, für die sie im Grunde nicht
gedacht ist.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es sind auch nicht alle relevant!)


Deshalb war es unser gemeinsames Ziel, dass die Auf-
sicht das Recht erhält, von sich aus Finanzholdings unter
Aufsicht zu stellen und von daher eine hoheitliche Funk-
tion ausüben zu können. – Darüber hinaus haben wir
noch Änderungen im Finanzdienstleistungsaufsichtsge-
setz vorgenommen.

Daran sehen Sie, welche Verbesserungen im parla-
mentarischen Bereich erreicht wurden. Es sind weitere
Stichworte zu nennen: Der Zeithorizont für die Abde-
ckung des Liquiditätsbedarfs ist von 90 auf 180 Tage
ausgedehnt worden. Zur Transparenz der Laufzeitstruk-
tur ist schon einiges gesagt worden ist. Daneben gibt es
weiterhin geografische Beschränkungen für die Staats-
finanzierung. Man kann nicht alle Staaten in die Staatsfi-
nanzierung einbeziehen, wenn die Finanzierung in Form
von Anleihen und Kredite an diese Staaten pfandbrieffä-
hig werden soll. Diese Beschränkung ist nochmals eine
Verstärkung des Qualitätsmerkmals. Es ist auch klarge-
stellt worden, dass beispielsweise Hybridkapitalforde-
rungen und Forderungen mit Nachrangvereinbarungen
nicht zur Deckung geeignet sind und damit auch nicht in
die Pfandbriefregelung einbezogen werden.

Der gemeinsame Dank geht an alle Berichterstatter
und Berichterstatterinnen und auch an das Finanzminis-
terium, die uns hier gut zugearbeitet haben. Erlauben Sie
mir, abschließend noch einen Punkt zu nennen, den wir
auch beachten sollten, wenn wir heute eine weitere No-
vellierung des Pfandbriefrechts verabschieden, was wir
einvernehmlich tun werden und womit wir ein gutes Zei-
chen setzen: Es gibt Bestrebungen, die Garantiezeiten im
Finanzmarktstabilisierungsgesetz zu ändern. Bisher gilt
eine Garantiezeit von drei Jahren. Forderungen, diese
Garantiezeit von drei auf fünf, sechs oder mehr Jahre
auszudehnen, sollten wir nicht vorschnell nachkommen,
weil wir dem Pfandbrief damit einen Bärendienst erwie-
sen und Verwerfungen am Finanzmarkt für gut einge-
führte Produkte herbeiführten. Wir dürfen diese kontra-
produktiven Ansätze nicht übernehmen.

Ich danke für die Beratungen. Wir können hier ge-
meinsam etwas zum Wohle des Finanzmarktes Deutsch-
land auf den Weg bringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620511400

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620511500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Finanzprodukte aller Art überschwemmen seit einigen
Jahren den Markt. Traumhafte Gewinne werden verspro-
chen; in Banken, Sparkassen und Kreditinstituten wer-
den und wurden den Kunden suspekte Produkte ange-
dreht, die selbst die meisten Beraterinnen und Berater
kaum verstehen. Unkalkulierbare Risiken, wohin das
Auge reicht – genau das ist eine der Hauptursachen der
gegenwärtigen Finanzkrise.

Den größten Teil dieser hoch gelobten Finanzinnova-
tionen stellen die Kreditverbriefungen dar, also die Um-
wandlung von Krediten in handelbare Wertpapiere. Zu-
gegeben, auch der Pfandbrief ist eine Kreditverbriefung,
aber – wie bereits betont – eine bereits lange erprobte
und bewährte Form. So zeigt sich auch in der aktuellen
Finanzkrise, dass die mit Pfandbriefen verbundenen Ri-
siken nicht nur gering, sondern auch für alle Beteiligten
gut überschaubar sind; denn im Unterschied zu den
neuen Kreditverbriefungen bieten Pfandbriefe hohe Si-
cherheiten für die Anlegerinnen und Anleger.

Klar ist: Pfandbriefe dürfen nur von extra zugelasse-
nen und beaufsichtigten Banken ausgegeben werden.
Hinzu kommt, dass Pfandbriefe erstens zusätzlich abge-
sichert sind, entweder durch einen realen Vermögensge-
genstand – wie Immobilien bei Hypothekenpfandbriefen
und Schiffen bei Schiffspfandbriefen – oder aber durch
die öffentliche Hand bei öffentlichen Pfandbriefen.
Zweitens ist festgelegt, dass die Wertermittlung von
Schiffen und Immobilien strengen Vorschriften unter-
liegt. Zudem dürfen sie nur bis zu 60 Prozent beliehen
werden. Drittens ist im Fall der Insolvenz der Pfand-
briefbank gesichert, dass die Ansprüche der Pfandbrief-
inhaber bevorzugt behandelt werden.

Veränderungen des Pfandbriefrechts müssen diesen
hohen Sicherheitsstandard bewahren, auch und gerade
wegen der massiven Verunsicherung der Anlegerinnen
und Anleger durch die Finanzkrise. Diesem Anspruch
wird der vorliegende Gesetzentwurf gerecht. Deshalb
werden wir ihm zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)


So wird die Sicherheit der Pfandbriefe erhöht, indem
die Banken jetzt für die in den nächsten 180 Tagen fällig
werdenden Pfandbriefe ausreichend Geldmittel vorhal-
ten müssen. Außerdem können Pfandbriefe jetzt gemein-
sam durch mehrere Banken herausgegeben werden. Da-
mit bekommen auch kleinere Banken die Möglichkeit,
am Pfandbriefgeschäft teilzunehmen. Darüber hinaus
werden dadurch Kreditrisiken verringert. Dies alles ist
durchaus im Interesse der Anlegerinnen und Anleger.

Wir unterstützen ausdrücklich die Verbesserung der
Finanzaufsicht über Finanzholding-Gesellschaften à la
Hypo Real Estate; darauf ist Herr Thiele ausführlich ein-
gegangen. Nunmehr können auf Verlangen der Bundes-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Barbara Höll
anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Risiken der
einzelnen Institute auf der Ebene der Holding zusam-
mengefasst und dadurch verringert werden.

Ich kann Ihnen jedoch ein großes Aber nicht ersparen;
denn sowohl die rot-grüne Regierung als auch die Große
Koalition haben in den vergangenen Jahren massiv dazu
beigetragen, dass der deutsche Pfandbrief erhebliche
Konkurrenz bekommen hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Seine Bedeutung schwand nach und nach unter anderem
deshalb, weil die neuen spekulativen Formen der Kredit-
verbriefung durch Sie massiv gefördert wurden, zum
Beispiel durch steuerliche Begünstigungen: Anpassun-
gen im Gewerbesteuerrecht, aber auch durch die letzte
Unternehmensteuerreform, nach der Verbriefungszweck-
gesellschaften unter bestimmten Bedingungen nicht der
Zinsschrankenregelung unterstellt sind. In der Folge
wurde den Anlegern und Anlegerinnen vorgegaukelt,
dass im Prinzip alle Arten der Verbriefungen sicher sind,
aber die neuen Kreditverbriefungen gegenüber den
Pfandbriefen angeblich einen großen Vorteil haben: Sie
würden riesige Renditen zwischen 10 und 20 Prozent
bringen. – Dadurch haben Sie den Pfandbrief entwertet.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer in Pfandbriefen anlegt, kriegt 5 Prozent! Andere kriegen gar nichts!)


Derzeit ist die Aufregung allerorts sehr hoch. Die an-
geschlagene Bundesregierung schwadroniert viel, han-
delt aber leider kaum. Wir meinen, wir brauchen unbe-
dingt eine wirkliche Reform der Finanzmärkte bzw. des
Finanzsektors hin zu mehr Sicherheit und Stabilität, we-
niger Spekulation und zum Abbau von überzogenen
Renditeansprüchen. Hierbei vermissen wir Maßnahmen.
Zu Recht wurde festgestellt, dass wir die Novellierung
des Pfandbriefrechts schon vor der Finanzkrise in An-
griff genommen haben. Aber Antworten auf die Finanz-
krise haben Sie nicht. Der Gesetzentwurf, den wir heute
verabschieden, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Er
stellt aber noch keine Trendwende dar. Dafür müssen Sie
noch viel tun.

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie die Vorschläge zur
Abkehr von der Liberalisierung der Finanzmärkte auf-
greifen; denn das ist die Ursache für die Krise, in der wir
uns derzeit befinden. Wir als Linke lassen Ihnen nicht
durchgehen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Zeche
für eine verfehlte Politik zahlen müssen, für die Sie die
Verantwortung tragen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620511600

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Übereinstimmung bei einem wichtigen Finanz-
marktgesetz mag angesichts der Rhetorik, die wir sonst
bei Finanzmarktthemen in den letzten Wochen häufig
betrieben haben, überraschen. Ich glaube, das hat einen
einfachen Grund. Es geht heute um einen Gesetzentwurf,
mit dem wir die Stabilität eines Finanzprodukts sicher-
stellen und auf eine hohe Qualität dieses Produkts setzen
statt auf eine schnelle Finanzmarktentwicklung, die
kurzfristig Vorteile verschafft, mit der man aber langfris-
tig auf die Nase fällt. Diese Form der Finanzmarktpolitik
fordern wir als Grüne auch an anderer Stelle ein. Mit
dem Gesetzentwurf haben wir gemeinsam die richtige
Richtung eingeschlagen. Deswegen unterstützt Bünd-
nis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf zur Fortentwick-
lung des Pfandbriefrechts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Der Markt hat eine große Bedeutung; die Zahlen wur-
den bereits genannt. Das Volumen, das am deutschen
Pfandbriefmarkt in Umlauf ist, beträgt 900 Milliarden
Euro. In der derzeitigen Finanzmarktkrise ist aufgrund
der Konkurrenz mit staatlich garantierten Anleihen aller-
dings eine gewisse Reduzierung der Neuemissionen zu
verzeichnen.

Auch die wichtigen Schritte, die wir jetzt vornehmen,
sind schon genannt worden: zum einen die Einführung
des Flugzeugpfandbriefs, zum anderen die Möglichkeit
der Konsortialfinanzierung. Des Weiteren ist die Aus-
weitung des Liquiditätspuffers für den Sachverwalter
von 90 Tagen auf 180 Tage vorgesehen. Das alles sind
Verbesserungen, die wir unterstützen und die wir mit Ih-
nen gemeinsam vornehmen wollen, damit der Pfandbrief
auch in Zukunft ein stabiles Produkt bleibt.

Richtig ist auch, bei der Finanzholding auf die
Schwächen der bisherigen Regulierung zu reagieren und
der BaFin die Möglichkeit zu geben, die Prüfung auch
auf der Ebene der Holding vorzunehmen. Für die Unter-
nehmen kommt es zu Vereinfachungen, weil verschie-
dene Rechtsmaterien jetzt besser ineinandergreifen.

Ich will in dieser Debatte noch zwei Punkte anspre-
chen. Erstens steuern wir mit dem Pfandbriefgesetz, das
wir schon vor der Krise angegangen sind, jetzt in der
Krise nach. Ich glaube, wir müssen auch bei anderen
Produkten am Finanzmarkt prüfen, ob ein Nachsteuern
nötig ist. Ich denke, damit werden wir nicht bis zur
nächsten Legislaturperiode warten können. Zum Bei-
spiel sollten wir uns noch einmal mit den offenen Immo-
bilienfonds befassen. Wir haben bereits eine Novelle
durchgeführt, die aber nicht ausreicht. Ich glaube, wir
sollten die Stabilität auch in anderen Produktwelten ernst
nehmen.

Zweitens war es uns ein besonderes Anliegen – da-
rauf ist bereits hingewiesen worden –, uns mit dem
grauen Kapitalmarkt, also dem Bereich, in dem Men-
schen direkte Anlagen in Unternehmensbeteiligungen
und häufig in geschlossene Fonds vornehmen, zu befas-
sen. Mit dem Erlaubnistatbestand bei der Anlageverwal-
tung nach dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nur ein
kleiner Bereich korrigiert, bei dem es durch die Recht-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gerhard Schick
sprechung für die BaFin unmöglich geworden ist, tätig
zu werden. Wenn man aber eine Gleichbehandlung über
verschiedene Produktwelten hinweg haben will, dann
kann es nicht sein, dass wir dieses Ansinnen nur für die
Finanzprodukte verfolgen, die auf dem grauen Kapital-
markt angeboten werden. Vielmehr müssen wir das auf
den ganzen Bereich ausweiten.

Ich will Zahlen nennen. Schätzungen besagen, dass
jährlich 20 Milliarden bis 30 Milliarden Euro in schlech-
ten Anlagemodellen versickern. Unsere Aufgabe ist es,
für einen seriösen Finanzmarkt zu sorgen, nicht nur im
Bereich des Pfandbriefs, sondern auch in allen anderen
Bereichen. Nur so können wir eine stabile Finanzmarkt-
entwicklung über die verschiedenen Produktwelten hin-
weg hinbekommen. Wir müssen eine Struktur auf dem
Finanzmarkt herstellen, die Seriosität garantiert und es
den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, die
verschiedenen Finanzprodukte einzuschätzen.

Ich bin dankbar, dass unser Ansinnen, das Ganze
noch einmal in Gründlichkeit anzugehen, aufgegriffen
wurde. Ich hoffe, dass es gute Vorschläge geben wird
und dass wir dieses große Problem zügig angehen wer-
den.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620511700

Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1620511800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Finanzprodukte der Zukunft brauchen Transparenz, Soli-
dität und Vertrauen. Der deutsche Pfandbrief hat diese
Eigenschaften. Deswegen ist er ein Finanzprodukt mit
Zukunft.

Mit der Weiterentwicklung des Pfandbriefrechts stel-
len wir heute die richtigen Weichen. Dabei war von An-
fang an klar, dass der Maßstab für die Novelle Qualität
sein muss. Qualität heißt hier Transparenz, Sicherheit,
Solidität und dennoch eine angemessene Weiterentwick-
lung. Ich glaube, diese hohe Qualität ist gelungen. Quali-
tät ist uns beim Flugzeugpfandbrief gelungen. Qualität
ist uns bei der Erleichterung der Konsortialfinanzierung
gelungen. Wir erreichen damit, dass kleinen Kreditinsti-
tuten entgegengekommen wird, die wesentlich zur Fi-
nanzierung unserer Wirtschaft beitragen. Wir steigern
zwar die Effizienz, lockern aber die Vorgaben beim Be-
leihungswert nicht und schützen auf diese Art und Weise
die Anleger.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese und weitere Maßnahmen sichern Qualität und
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Pfandbriefes, und
das sichert zwingend notwendiges Vertrauen. Ohne
Zweifel gab es – insbesondere in der zweiten Hälfte
2008 – Nachfrageeinbußen. Das hat aber nicht das Pro-
dukt Pfandbrief zu verantworten. Der Pfandbrief war
vielmehr Opfer der Krise auf dem Gesamtmarkt.

Auf zweierlei haben wir in den nächsten Wochen be-
sonders zu achten. Erstens. Mit jeder staatlichen Maß-
nahme zur Stützung von Banken greifen wir in den
Markt ein. Das führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen.
SoFFin-garantierte Anleihen verdrängen andere Pro-
dukte vom Markt, auch den Pfandbrief. Deswegen müs-
sen wir höllisch aufpassen, dass der SoFFin nur dort ein-
greift, wo es zur Stabilisierung des Finanzmarktes
unerlässlich ist. Anderenfalls schaden wir gesunden Pro-
dukten, gesunden Instituten und gesunden Märkten. Das
sage ich in aller Ernsthaftigkeit allen, die von „mehr
Staat“ – wie die Linken – oder von „intelligenter Ver-
staatlichung“ – wie die Grünen – reden. Ich sage aber
auch selbstkritisch der eigenen Regierung und dem
SoFFin: Mich konnte bis heute noch niemand davon
überzeugen, dass die Unterstützung von Autobanken
notwendig ist, um den Finanzmarkt zu stabilisieren.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


Eine SoFFin-Unterstützung von Autobanken führt aber
zu Wettbewerbsverzerrungen und Ausfällen bei Tausen-
den Sparkassen und Genossenschaftsbanken.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Deswegen bin ich nach den Diskussionen in den letzten
Wochen und den Informationen, die uns vorliegen, der
Meinung, dass der SoFFin die Anträge der Autobanken
ablehnen sollte.

Zweitens. Man kann am 12. Februar 2009 nicht über
Pfandbriefe reden, ohne auch über die Hypo Real Estate
zu reden, immerhin der zweitgrößte deutsche Pfandbrief-
emittent. Es handelt sich um ein tolles Produkt in einer
vormals miserabel geführten Bank. Ohne Zweifel haben
wir es hier mit einer durch und durch systemrelevanten
Bank zu tun. Die achtgrößte deutsche Bank würde, wenn
sie stürzte, nicht nur Genossenschaften und Sparkassen
mit sich reißen, sondern auch Kommunen, Versorgungs-
werke und sogar europäische Staaten in Schwierigkeiten
bringen. Deswegen besteht überhaupt kein Zweifel da-
ran, dass die Hypo Real Estate gestützt werden muss.
Eine Enteignung kann nur die Ultima Ratio sein.

Von daher verwundert es mich schon ein Stück, dass
im Finanzministerium ein Enteignungsgesetz formuliert
wird, aber bis gestern noch kein Gespräch mit dem be-
troffenen Großinvestor Flowers stattgefunden hat.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unglaublich!)


Ich bin der Meinung, das ist die falsche Reihenfolge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Nochmals: Wir wissen, dass wir die Hypo Real Estate
nicht fallen lassen können, aber wir als Unionsfraktion
erwarten, dass das zuständige Finanzministerium alle






(A) (C)



(B) (D)


Albert Rupprecht (Weiden)

Varianten sachlich prüft und vor allem auch ernsthaft
verhandelt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erwarten auch wir!)


Das ist eine sachliche und grundgesetzliche Notwendig-
keit. Vom Übernahmeangebot über die Kapitalerhöhung
und den Kapitalschnitt bis hin zum von Michael Glos
vorgeschlagenen Modell einer eingeschränkten Insol-
venz – alles muss geprüft werden.

Ich kann in diesem Zusammenhang die immer stärker
werdende Sehnsucht nach Verstaatlichung von Banken
überhaupt nicht teilen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Hinter dieser Sehnsucht steckt der Gedanke, dass dann,
wenn der Staat schon mit Steuergeldern stabilisiert, der
Steuerzahler doch möglichst viel Eigentum an den Ban-
ken bekommen soll. Ich glaube, dass dies aus drei Grün-
den ein Irrweg ist.

Erstens. Je mehr Anteile der Staat an Banken hält,
desto größer wird das Risiko für den Steuerzahler. Auf-
gabe des SoFFin ist es, zu stabilisieren, aber mit mög-
lichst wenig Risiko. Aktionär zu werden, ist aber ein
hohes Risiko. Das Risiko sollte jedoch bei den Alteigen-
tümern bleiben.

Zweitens. Trotz aller Fehler von Bankenchefs in den
vergangenen Jahren: Politiker sind nicht die besseren
Banker. Ich zumindest kenne keinen Politiker, der die
Fachexpertise eines Bankkaufmanns, der über Jahr-
zehnte hinweg sein Handwerk gelernt hat, ersetzen kann.

Drittens. Je größer der Staatseinfluss ist, desto größer
ist die Gefahr, dass politische Interessen Fachentschei-
dungen ersetzen und der Wettbewerb um die beste Qua-
lität ausgehebelt wird. Die bittere Folge wäre ein Verlust
von Wohlstand, Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen.

Der Fehler der vergangenen Jahre war nicht eine zu
geringe Staatsbeteiligung; der Fehler war, dass der Staat
seine originäre Aufgabe unzureichend wahrgenommen
hat. Diese ist: Ordnung schaffen, Regeln setzen, die Ein-
haltung der Regeln kontrollieren und Verstöße sanktio-
nieren. Das ist die staatliche Aufgabe, und darauf sollten
wir uns konzentrieren.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU] sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Wir brauchen nicht Karl Marx, sondern vielmehr Lud-
wig Erhard. Das ist die richtige Antwort auf die
Finanzkrise.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Graf Lambsdorff war auch nicht schlecht!)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620511900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Fortentwicklung des Pfandbriefrechts. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den
Drucksachen 16/11886 und 16/11929, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11130 und
16/11195 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kers-
ten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

(Artikel 45 c)

– Drucksache 16/10397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kers-
ten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Behandlung von Petitionen und über
die Aufgaben und Befugnisse des Peti-
tionsausschusses des Deutschen Bundestages

(Petitionsgesetz – PetG)


– Drucksache 16/10385 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei die Linke fünf Minuten sprechen will und
auch soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Kersten
Naumann für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620512000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Dieses Recht






(A) (C)



(B) (D)


Kersten Naumann
muss so gestaltet werden, dass es von den Bürgerinnen
und Bürgern gut handhabbar ist. Das bestehende Peti-
tionsrecht ist aber in fünf verschiedene, für die Bürgerin-
nen und Bürger nicht nachvollziehbare Vorschriften zer-
splittert: Das ist das Grundgesetz, das ist das Gesetz über
die Befugnisse des Petitionsausschusses, das ist die Ge-
schäftsordnung des Bundestages, das sind die Grund-
sätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von
Bitten und Beschwerden, und das sind die Richtlinien
für die Behandlung von öffentlichen Petitionen. Mit dem
vorliegenden Petitionsgesetzentwurf will die Fraktion
Die Linke diese Vorschriften zusammenführen, aber
auch das Petitionsrecht bürgernäher, transparenter, nach-
vollziehbarer und einklagbar machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Fest steht: Die Einführung elektronischer und öffent-
licher Petitionen im Jahre 2005 war ein großer Schritt in
Richtung mehr Demokratie. Bürgerinnen und Bürger
können sich jetzt noch einfacher an den Petitionsaus-
schuss wenden; die Nutzerzahlen steigen stetig. Dafür
wurde der Petitionsausschuss mit dem Politik-Award
ausgezeichnet.

Trotzdem bleibt noch viel zu tun; denn die Erfahrun-
gen im Petitionsausschuss zeigen, dass das bisherige Pe-
titionsrecht an seine Grenzen stößt: Beschwerden über
Verfahrensweisen, mangelnde Transparenz, mangeln-
den öffentlichen Zugang, nicht nachvollziehbare Aus-
wahlkriterien und lange Bearbeitungszeiten häufen sich.
Auf diesen Erfahrungen basieren auch die Forderungen
nach mehr Transparenz und Verbindlichkeit, die seit den
70er-Jahren von Rechtsexperten und der Vereinigung zur
Förderung des Petitionsrechts in der Demokratie erho-
ben wurden.

Unser Petitionsgesetzentwurf fußt auf mehreren Aus-
arbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bun-
destages zu teilweise strittigen rechtlichen Themen.
Intensive und ausführliche Diskussionen mit Rechtsex-
perten und Wissenschaftlern sowie eine Expertenanhö-
rung der Fraktion Die Linke bestätigten unsere im Ge-
setzentwurf verankerten Auffassungen in weiten Teilen,
gaben uns aber auch Anregungen zur weiteren Verbesse-
rung unseres Entwurfes.

So ist ein Schwerpunkt unseres Entwurfes die Stär-
kung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, das heißt
die Stärkung ihrer Informationsrechte und der demokra-
tischen Teilhabe. Wichtig ist dabei:

Erstens. Sitzungen des Petitionsausschusses sind
grundsätzlich öffentlich,


(Beifall bei der LINKEN)


sofern es sich – das betone ich hier – nicht um private,
individuelle Anliegen handelt.

Zweitens. Es muss möglich sein, Petitionen öffentlich
an den Petitionsausschuss zu übergeben.

Drittens. Es ist wichtig, dass es keine petitionsfreien
Zonen gibt. Auch Betriebsräte und Beamte müssen ihr
Anliegen als Petition einreichen können.


(Beifall bei der LINKEN)

Viertens. Massen- und Sammelpetitionen sind zu stär-
ken. Natürlich nehmen wir jede einzelne Petition ernst;
doch die Bürgerinnen und Bürger können gerade mit
Massen- und Sammelpetitionen verstärkt gegenüber dem
Gesetzgeber anregen, gesetzliche Veränderungen vorzu-
nehmen.

Fünftens. Wir schlagen vor, das für eine öffentliche
Anhörung erforderliche Quorum von 50 000 Unter-
schriften auf 20 000 Unterschriften herabzusetzen, um
auch kleineren Interessengruppen der Bevölkerung eine
verbindliche Chance auf öffentliche Anhörung ihres An-
liegens zu geben.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ein zweiter Schwerpunkt unserer Vorlage ist die Stär-
kung der parlamentarischen Einwirkung und der Kon-
trolle; denn Petitionen müssen noch mehr Wirkung ha-
ben. Unter Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung
ist es dennoch rechtlich möglich, in begründeten Fällen
behördliche Maßnahmen außer Vollzug zu setzen, so-
lange das Petitionsverfahren läuft. Es ist rechtlich mög-
lich, ein eingeschränktes Selbstbefassungsrecht festzu-
schreiben. Außerdem ist es rechtlich möglich, die
Bundesregierung zur besseren Umsetzung der Aus-
schussbeschlüsse anzuhalten. In fast jedem zweiten Fall
der Petitionen mit hohen Voten erklärt die Bundesregie-
rung nach sechs Wochen oder nach einem Jahr, dem An-
liegen nicht positiv zu entsprechen.

Zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle gehört
für die Fraktion Die Linke die Stärkung der Minderhei-
tenrechte der Opposition. Das wurde bereits 1975 von
der damaligen Oppositionsfraktion, von der CDU/CSU,
gefordert; deshalb denke ich, dass Sie uns da vielleicht
unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Uns ist bewusst, dass dieser Gesetzentwurf auch
Punkte enthält, die zwischen den Fraktionen strittig sind.
Trotzdem bitte ich Sie, die von meiner Fraktion unter-
breiteten Vorschläge nicht einfach zu verwerfen. Lassen
Sie uns in der weiteren parlamentarischen Debatte ge-
meinsam um Verbesserungen im Interesse der Bürgerin-
nen und Bürger ringen und streiten. Für die Fraktion Die
Linke ist ein starkes Petitionsrecht wichtig; denn Bür-
geranliegen sind auch ein Spiegel der Politik der Bun-
desregierung und der Arbeit der Volksvertreter.

Wir wollen mit unserem Petitionsgesetzentwurf das
Signal geben: Wir nehmen Demokratie ernst. Die Bürge-
rinnen und Bürger sehen ihr in Art. 17 des Grundgeset-
zes verankertes Grundrecht nicht nur als ein Recht, sich
mit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu
wenden; sie verstehen es auch als Chance und Möglich-
keit, Hilfe zur Lösung ihrer Probleme zu erhalten.

Halten wir uns also gemeinsam an Christoph Lichten-
berg, der sagte: Wenn etwas besser werden soll, muss es
anders werden. – In diesem Sinne freue ich mich auf die
Diskussion mit Ihnen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620512100

Der Kollege Günter Baumann hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1620512200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns
heute mit einem Anliegen der Fraktion Die Linke – frü-
her: Fraktion der PDS –, mit einem Petitionsgesetz. Sie
erwecken hier im Plenum und vor der Öffentlichkeit den
Eindruck, dass unser Petitionswesen mit seinen Regula-
rien nicht ausreichend ist,


(Zuruf von der LINKEN: Man kann es doch verbessern!)


dass es einige Fehler hat und dass da nachgebessert wer-
den muss. Dem möchte ich ganz klar widersprechen.

Unsere Tätigkeit im Petitionsausschuss beruht auf
einer ganzen Reihe von Regelungen. Es gibt den
Art. 17 Grundgesetz sowie eine Reihe von Paragrafen in
unserer Geschäftsordnung. Wir haben Verfahrensgrund-
sätze, die flexibel sind, die wir relativ einfach und
schnell verändern können. Das haben wir in der letzten
Zeit mehrmals getan. Das sind also Regularien, die aus
meiner Sicht sehr gut funktionieren.

Ich vertrete die Meinung – und die Statistik gibt mir
recht –, dass die Bürger im Land das Petitionswesen an-
nehmen und damit zufrieden sind; da sind wir auf einem
guten Weg. Ich nenne ganz wenige Zahlen: Wir haben in
den letzten Jahren im Schnitt etwa 17 000 Petitionen im
Jahr zu bearbeiten gehabt. Wenn wir Massenpetitionen,
Sammelpetitionen und alle anderen Petitionen zusam-
men betrachten, haben sich in den letzten zwei Jahren
etwa 400 000 bis 500 000 Bürger mit Problemen an uns
gewandt. Das ist ein Zeichen dafür: Unser System wird
angenommen; es funktioniert.

Durch die flexiblen Verfahrensgrundsätze haben wir
in der letzten Zeit relativ einfach eine Reihe von Neue-
rungen einführen können. Sie alle kennen das: E-Mail-
Petitionen, öffentliche Petitionen und dergleichen mehr.

Wir haben als Ausschuss eine Reihe ganz besonderer
Rechte, die andere Ausschüsse so nicht haben. Wir kön-
nen zum Beispiel Ortstermine durchführen, Aktenein-
sicht nehmen und Regierungsvertreter laden.

Also: Die Regularien funktionieren insgesamt. Die
Bürger nehmen das System an.

Wir sind als Petitionsausschuss ein wichtiges Binde-
glied zwischen den Bürgern im Land, dem Parlament
und der Regierung. Wir helfen mit, Politikverdrossen-
heit, von der oft gesprochen wird, ein Stück weit abzu-
bauen. Wir helfen auch mit, Vertrauen in unsere Verwal-
tung, das manchmal verloren gegangen ist,
wiederherzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Unsere Hauptaufgabe sollte sein, unser funktionieren-
des Petitionswesen den Bürgern noch näher zu bringen.
Ein Mittel dazu ist, dass wir auf Messen auftreten und
für die Bürger direkt ansprechbar sind. Das funktioniert
sehr gut.

Eine grundgesetzliche Aufgabe wird also, denke ich,
gut wahrgenommen. Die Frage ist: Warum soll ein be-
währtes Instrument verändert werden? Bei dem Entwurf
der Linksfraktion kommen wir schnell dahinter: Das Pe-
titionssystem soll komplett umgestaltet werden. Es soll
instrumentalisiert werden. Sie wollen ein ganzes Stück
Parteipolemik hineinbringen. Das werden wir nicht mit-
machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Sie haben Ihren Vorschlag in ähnlicher Form bereits
in der 14. Wahlperiode eingebracht, haben aber eigent-
lich wenig dazugelernt. Einige Beispiele dazu, wie Sie
Parteipolemik in unsere Arbeit hineinbringen wollen:

Sie wollen, dass der Petitionsausschuss Sachverhalte
selbst aufgreifen kann. In Ihrem Entwurf eines Petitions-
gesetzes steht sogar: Der Petitionsausschuss muss von
diesem Recht Gebrauch machen, wenn 5 Prozent der
stimmberechtigten Mitglieder dies wollen. – Bei 25 Aus-
schussmitgliedern sind es 1,25 Abgeordnete, die errei-
chen können, dass wir uns mit bestimmten Themen der
Politik beschäftigen müssen. Das wollen wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir alle können uns lebhaft vorstellen, was im Petitions-
ausschuss los wäre, wenn wir die politischen Diskussio-
nen, die im Plenum nicht zu einem Erfolg geführt haben,
im Petitionsausschuss fortsetzen. Das kann nicht sein.
Das ist nicht Sinn unserer Demokratie.

In § 13 Ihres Entwurfs fordern Sie die grundsätzliche
Öffentlichkeit der Sitzungen. Das wollen wir nicht. Da-
gegen sprechen nicht nur datenschutzrechtliche Gründe.
Wo nach einer entsprechenden Prüfung Öffentlichkeit
möglich ist, gibt es bereits öffentliche Sitzungen, und
das wissen Sie auch ganz genau. Generelle Öffentlich-
keit lehnen wir ab.

Ein besonderes Verfahren für Petitionen ab 20 000
Unterschriften lehnen wir ganz entschieden ab. Sie versu-
chen hier eine extensive Interpretation des Art. 17 Grund-
gesetz. Das geht in Richtung plebiszitärer Elemente wie
Volksbegehren, was wir in der Form nicht wollen.

Meine Damen und Herren, die Formulierung „Jeder-
mann hat das Recht“ in Art. 17 des Grundgesetzes weist
eindeutig auf ein bürgerliches Grundrecht und nicht auf
ein staatsbürgerliches Grundrecht hin. Das ist ein ent-
scheidender Unterschied, auf den wir Wert legen.

Ich möchte auch betonen, dass die Vorstellungen in
§ 10 „Beweiserhebung“ Ihres Gesetzentwurfes abenteuer-
lich sind. Sie wollen, dass wir im Ausschuss Zeugen ver-
nehmen, Zeugen und Sachverständige vereidigen lassen
und Ordnungsstrafen verhängen können. Meine Damen
und Herren, wir sind kein Untersuchungsausschuss. Der






(A) (C)



(B) (D)


Günter Baumann
Petitionsausschuss behandelt Probleme der Bürger. Etwas
anderes wollen wir nicht, erst recht nicht in dieser Form.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele
anführen. Meine Redezeit ist aber bereits zu Ende. Ich
komme deshalb zum Schluss: Uns liegen zum wieder-
holten Mal untaugliche Gesetzentwürfe der Linksfrak-
tion vor, durch die das Petitionswesen verändert werden
soll. Sie wollen es instrumentalisieren. Das wollen wir
nicht. Unser Petitionswesen funktioniert. Die Bürgerin-
nen und Bürger im Land nehmen es an. Dafür sind wir
dankbar. Es besteht natürlich die Möglichkeit, über die
Verfahrensgrundsätze Änderungen einzubringen, wenn
es von einer Mehrheit gewollt ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620512300

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens

Ackermann das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1620512400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Fraktion Die Linke hat den Vorschlag unter-
breitet, unser Petitionswesen zu reformieren. Sie hat
einen umfassenden Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt.
Sehr detailliert wird in Paragrafen darauf eingegangen,
wie sich die einzelnen Akteure, die an der Bearbeitung
eines Bürgeranliegens beteiligt sind, zu verhalten haben:
die Berichterstatter, die Fraktionen, die Bundesregierung
mit ihren Ministern, Staatssekretären usw. Nur an den
Menschen, der sich mit einer Bitte oder einer Be-
schwerde an uns wendet, haben Sie nicht gedacht.

Es ist doch so, dass die Bürgerinnen und Bürger,
wenn sie einen Brief an den Petitionsausschuss schrei-
ben, schon eine Ochsentour durch viele Institutionen und
viele Behörden hinter sich haben. Sie sehen vor lauter
Bürokratie einfach nicht mehr durch. Unser Ausschuss
ist oft der letzte Hoffnungsschimmer, den die Menschen
haben. Nun kommen Sie mit weiteren Paragrafen. Ihr
Vorschlag bringt für die Menschen keine Verbesserung.
Im Gegenteil! Durch Ihren Vorschlag wird das Petitions-
recht in ein enges Korsett gezwängt, und uns als Bericht-
erstattern wird die Möglichkeit genommen, flexible Lö-
sungen für die Bürger zu finden, die sich an uns wenden.

Ein Beispiel möchte ich Ihnen nennen: Es wäre
unmöglich gewesen, einen runden Tisch für die Heim-
kinder der 50er- und 60er-Jahre einzurichten, wenn wir
uns nach Ihrem Vorschlag hätten richten müssen. Es
hätte unter der Präsidentin Antje Vollmer dann nicht
mehr die Möglichkeit gegeben, für diese Heimkinder
– die Verfahren waren ja abgeschlossen; die Dinge wa-
ren verjährt – einen runden Tisch einzurichten und nach
Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

Ich komme auf die einzelnen Paragrafen zu sprechen.
In § 3 „Petitionsgegenstände“ schreiben Sie:
Rechtsprechung kann nicht Gegenstand von Petitio-
nen sein.

Sehr richtig. Dann folgt aber ein weiterer Satz mit einem
Aber, obwohl es hier kein Aber geben darf. Gerichte
sind nämlich unabhängig, und niemand hat in die Recht-
sprechung hineinzureden, auch nicht der Petitionsaus-
schuss.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das war in der DDR anders!)


In § 6 Ihres Vorschlages schreiben Sie:

Der Petitionsausschuss kann Sachverhalte selbst
aufgreifen und sich mit ihnen befassen, … wenn
das 5 vom Hundert der stimmberechtigten Mitglie-
der des Petitionsausschusses verlangen.

Ich bin strikt dagegen. Wir sollten uns mit dem befassen,
was die Bürgerinnen und Bürger uns in ihren Briefen
schreiben. Wir sollten uns nicht mit Dingen befassen,
mit denen wir uns nach dem Willen eines einzelnen Ab-
geordneten befassen sollten. Das geht in die falsche
Richtung.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Sie sprechen in Ihrem Antrag auch davon, dass
Ermittlungen durchgeführt werden sollen. Hier sollen
Beweise gesichert, Zeugen vorgeladen und Vernehmun-
gen durchgeführt werden. Dieser Duktus, der hier vor-
herrscht, erinnert mich sehr an ein Tribunal und nicht an
einen bürgerfreundlichen Ausschuss. Ich möchte das nicht.

§ 14 Ihres Gesetzentwurfs, „Einstweilige Regelun-
gen“, finde ich sehr bedenklich. Dort schreiben Sie: Die
Bundesregierung oder andere staatliche Behörden sollen
maximal drei Monate lang Maßnahmen aussetzen, bis
der Petitionsausschuss entschieden hat. – Damit nehmen
Sie in das Petitionsrecht die Möglichkeit auf, bestimmte
Vorhaben der Bundesregierung oder einer Landesregie-
rung bis zu drei Monate zu blockieren. Das ist ein massi-
ver Eingriff in die Gewaltenteilung und überhaupt nicht
sachdienlich. Die FDP lehnt diesen Vorschlag ab.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe den Eindruck, Sie wollen den Ausschuss für
politische Spielchen missbrauchen.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Jawohl!)


Ich finde das schade; denn so bleibt der Hilfesuchende,
der einzelne Mensch auf der Strecke. Die FDP wird da-
bei nicht mitmachen. Wir stellen uns an die Seite der
Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620512500

Das Wort hat der Kollege Klaus Hagemann für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1620512600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Alle Jahre wieder bringt die ARD zu Silvester
„Dinner for one“. Und alle Jahr wieder bringt die PDS,
Entschuldigung, die Linke einen Antrag ein, ein Petitions-
gesetz einzuführen. Zumindest für „Dinner for one“ ist zu
sagen: Irgendwann ist das Bonbon abgelutscht. Auch
beim Gesetzentwurf wird das irgendwann so werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: „Dinner for one“ ist mir trotzdem lieber!)


Ich erinnere mich, Frau Naumann, sehr geehrte Frau
Vorsitzende, dass Frau Lüth schon in der 14. Legislatur-
periode ähnliche Reden wie Sie gehalten hat.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Sie haben nichts dazugelernt!)


– Es kann natürlich auch sein, dass die Linke nichts da-
zugelernt hat.

Die Fragen sind jetzt – das wurde schon so dargelegt
und ich kann wenig Neues hinzufügen –: Brauchen wir
ein neues und erweitertes Petitionsgesetz, um unserer
Arbeit als Petitionsausschussmitglieder nachzukommen?
Reichen die bestehenden Regelungen aus oder nicht?
Brauchen wir ein Gesetz um des Gesetzes willen, oder
reichen, wie gesagt, die Verfahrensregeln und die ande-
ren Bestimmungen aus?

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes – wir feiern
dieses Jahr 60 Jahre Grundgesetz in der Bundesrepublik
Deutschland – haben dem Petitionswesen gerade nach
den Erfahrungen des Dritten Reiches eine starke Stel-
lung gegeben. Es ist schon auf einiges hingewiesen wor-
den: Art. 17 des Grundgesetzes sei erwähnt. Noch nicht
genannt wurden die Art. 45 ff. des Grundgesetzes, in
denen ausdrücklich hervorgehoben wird, dass der Peti-
tionsausschuss neben den Ausschüssen für Außen-, Ver-
teidigungs- und Europapolitik einer von vieren ist, die
gebildet werden müssen. Dies ist eine sehr starke Stel-
lung. Entsprechend ist auch schon gesetzlich über die
Befugnisse entschieden worden.

Unsere Verfahrensgrundsätze – darauf haben meine
Vorredner hingewiesen – erlauben uns eine gewisse Fle-
xibilität in der Behandlung von Petitionen. Frau Nau-
mann, Sie haben auf Lichtenberg verwiesen. Ich möchte
hier nun herausstellen: Wir haben doch gerade in der
letzten Zeit sehr viel verändert. Ich komme darauf noch
einmal zu sprechen.

20 000 bis 25 000 Anliegen im Durchschnitt im Jahr
– mal mehr, mal weniger – und 1,3 oder 1,4 Millionen
Unterschriften für Petitionen zeigen: Das Petitionsrecht
wird wahrgenommen und genutzt. Da wir die Petitionen
zu bearbeiten haben, wissen wir, dass wir nicht unter
Arbeitsmangel leiden. Das wollen wir hier hervorheben.
Ich betone darüber hinaus, dass wir mit dem Ausschuss-
dienst sehr gut zusammenarbeiten und dass wir auch die
Hinweise und Fingerzeige, die uns hier gegeben werden,
aufnehmen.

Wir müssen natürlich darüber nachdenken, ob nicht
das eine oder andere, was uns mitgeteilt wird, noch bes-
ser in die politische Arbeit der Fraktionen und der Fach-
ausschüsse eingeführt werden muss. Wir haben zusam-
men darüber nachzudenken, wie wir das machen. Durch
das Petitionswesen ist uns ein Seismograf in die Hand
gegeben. Da ist noch Handlungsbedarf vorhanden. Aber
dafür brauchen wir kein Gesetz, sehr verehrte Frau Nau-
mann.

Ich nehme immer wieder einmal Praktikanten mit in
den Petitionsausschuss. Diese stellen fest: In diesem
Ausschuss herrscht eine besondere Atmosphäre. – Wenn
ich meine Kolleginnen und Kollegen so anschaue, dann
stelle ich fest: Das ist so. Man geht aufeinander zu und
man nimmt Rücksicht. Das Ziel ist, das Anliegen des
Bürgers möglichst durchzusetzen. Das ist gut so. Dass es
hier weniger um parteipolitische Spielchen geht, sei hier
noch einmal erwähnt. Wir loten bei fast jeder Petition
aus, ob eine einstimmige Beschlussfassung möglich ist.
Dabei gibt jede Seite einmal nach; das sei gerade den
vielen Zuhörerinnen und Zuhörern hier gesagt. Gerade
deswegen sind wir im Petitionsausschuss so erfolgreich:
Weil wir nicht so starke gesetzliche Einschränkungen
haben und deshalb unsere Arbeit freier gestalten können.

Nicht jede Petition – auch das möchte ich sagen, denn
wir stehen kurz vor Wahlkampfzeiten – eignet sich für
parteipolitische Kampagnen in den Wahlkreisen. Diese
Bemerkung richtet sich sicherlich ein bisschen mehr an
die eine oder andere Seite, aber sie gilt für uns alle.

Meine Damen und Herren, auf die flexiblen Hand-
lungsmöglichkeiten habe ich bereits hingewiesen. Die
bestehenden rechtlichen Bestimmungen reichen unserer
Ansicht nach aus. Das Gute ist, dass der Bundestag sie
alleine ausgestalten kann. Wenn wir eine spezielle ge-
setzliche Regelung einführen würden, müssten unter
Umständen andere Verfassungsorgane, beispielsweise
der Bundesrat oder der Bundespräsident, diese mit be-
schließen oder unterzeichnen. Damit würde Einfluss auf
unser Petitionsrecht genommen. Ob das sinnvoll und
hilfreich ist, möchte ich mit einem ganz dicken Fragezei-
chen versehen. Der Wissenschaftliche Dienst hat – einer
der Vorredner hat schon darauf hingewiesen – im Jahre
2007 ein Gutachten dazu vorgelegt, aus dem ich einen
Satz zitieren möchte:

Ein Gesetz eröffnet Mitwirkungsmöglichkeiten an-
derer Verfassungsorgane und beeinträchtigt die Ge-
schäftsordnungsautonomie des Bundestages.

Meine Damen und Herren, ich plädiere nicht für Still-
stand. Vielmehr müssen wir unser Petitionswesen stän-
dig weiterentwickeln. Wir bekommen genügend Hin-
weise. Kollege Winkler, Kollegin Pfeiffer und ich haben
beispielsweise vor vier Jahren bei einem Besuch des
schottischen Parlaments tiefschürfende Erkenntnisse ge-
wonnen, auf deren Grundlage wir unser Petitionswesen
weiterentwickeln konnten. Wir haben unter anderem die
Möglichkeit elektronischer Petitionen eingeführt. Auf-
grund von Art. 17 des Grundgesetzes war es in verfas-
sungsrechtlicher Hinsicht gar nicht so leicht, das umzu-
setzen. Wir haben es aber getan, und die Bürgerinnen
und Bürger nehmen dieses Instrument sehr stark an. Ich
bin froh und dankbar, lieber Kollege Winkler, dass wir
das damals in der SPD-Grünen-Koalition massiv voran-
getrieben haben. Der eine oder andere musste zum Jagen






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Hagemann
getragen werden; aber heute sind alle froh, dass wir ent-
sprechende Regelungen getroffen haben. Die Evalua-
tionsberichte, die inzwischen vorliegen, machen deut-
lich, dass wir richtig gehandelt haben und den richtigen
Weg gegangen sind.

Die Verfahrensregeln, liebe Kollegin Naumann, ma-
chen auch deutlich, welche Werkzeuge uns an die Hand
gegeben worden sind. Auf die Vor-Ort-Termine hat der
Kollege Baumann bereits hingewiesen. Ich erinnere bei-
spielsweise an die beeindruckenden Vor-Ort-Termine in
Ramstein, wo es um den Fluglärm ging, wo wir uns mit
Bürgerinitiativen unterhalten haben, und in Völklingen,
wo es um Senkungen von Häusern durch den Bergbau
ging. Bei diesen Terminen kümmern wir uns um die In-
teressen der Bürger und können dann auch etwas bewe-
gen.

Ein anderes Werkzeug ist, Regierungsvertreter einzu-
laden. Hier verweise ich beispielsweise auf die große
Anhörung zum Thema „Generation Praktikum“, die wir
durchgeführt haben. Bei der letzten Beratung des The-
mas hat die Bundesregierung kein sehr gutes Bild abge-
geben; ein Ministerium hat gute Vorschläge gemacht, ein
anderes blockiert diese. Auch das muss aufgegriffen
werden. Da streuen wir ab und zu Salz in die Wunden.

Dazu gehören auch die Berichterstattergespräche. Auf
der Tagesordnung des Obleutegesprächs standen diesmal
fünf, sechs Termine für Berichterstattergespräche mit
Regierungsvertretern. Aus den Ministerien wissen wir,
dass bei den Regierungsvertretern keine Freude auf-
kommt, wenn sie zu Berichterstattergesprächen kommen
müssen, weil wir immer wieder den Finger in die Wunde
legen.

Was die Akteneinsicht angeht, gibt es tolle Beispiele
dafür, wodurch wir Menschen helfen konnten. Auch da
kommt in den Ministerien keine Freude auf. Aber der
Petitionsausschuss ist ja nicht dazu da, für Freude zu sor-
gen, sondern er soll die Interessen der Bürgerinnen und
Bürger wahrnehmen. Denn das Petitionsrecht, liebe Kol-
legin Naumann, ist ja auch ein Individualrecht. Deswe-
gen ist es auch gar nicht möglich, grundsätzlich öffentli-
che Petitionsausschusssitzungen durchzuführen. Dies
soll etwas Besonderes sein. Im Jahre 2005 haben wir
eingeführt, dass öffentliche Petitionsausschusssitzungen
stattfinden können. Dies wird auch angenommen; sie
finden Interesse.

Im Hinblick auf das Beispiel der Heimkinder der
40er-, 50er- und 60er-Jahre ist zu sagen – da schließe ich
mich Ihnen, Herr Ackermann, voll und ganz an –: Wir
haben durch ein kluges und rücksichtsvolles Vorgehen
viel erreicht. Es wäre schön, wenn Frau von der Leyen es
so umsetzen würde, wie es der Petitionsausschuss vorge-
schlagen hat. Ich hoffe, dass wir zu entsprechenden Re-
gelungen und Ausführungen kommen.

Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:
Wir haben genügend Handwerkszeug, um unsere Arbeit
als Petitionsausschuss im Interesse des einzelnen Bür-
gers und der einzelnen Bürgerin zu machen. Wir werden
deshalb Ihrem Gesetzentwurf, Frau Naumann, nicht zu-
stimmen, obwohl das eine oder andere, was Sie vorge-
schlagen haben, recht vernünftig ist, beispielsweise die
Aspekte unter dem Stichwort „Sprache“. Da muss noch
gehandelt werden. Wir müssen unsere Beschlussempfeh-
lungen in einer verständlicheren Sprache abfassen. Das
sind aber Detailarbeiten; dafür brauchen wir keine ge-
setzliche Regelung.

Vielen Dank, dass ich meine Rede zu Ende führen
durfte.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620512700

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Josef Winkler das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Das Petitionsrecht ist bürgerfern und zersplittert …“, so
steht es im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke.


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Hört! Hört!)


Die Fraktion Die Linke hält unser Petitionsrecht also für
bürgerfern. Aber es kommt noch besser – ich zitiere aus
einem anderen Teil des Gesetzentwurfs –:

Zuständig für die vom Petitionsausschuss zu bean-
tragenden gerichtlichen Maßnahmen ist das Amts-
gericht Berlin-Tiergarten.

Die Linke hält unser Petitionsrecht also für bürgerfern
und zersplittert und will daher die Gerichte bemühen,
damit diese die Aufgaben des Parlaments erfüllen. Ei-
gentlich könnte man den Gesetzentwurf schon an dieser
Stelle wieder zuklappen und die Rede beenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Zurufe von der CDU/CSU: Vernünftige Idee! – Es reicht auch!)


Aber um 15.22 Uhr darf man noch ein bisschen weiter-
sprechen. Mit der Realität unserer Arbeit im Petitions-
ausschuss hat das, was wir von Ihnen, Frau Naumann,
vorgetragen bekommen haben, meiner Meinung nach re-
lativ wenig zu tun. Sie müssten es als Vorsitzende des
Ausschusses eigentlich besser wissen.

Der Petitionsausschuss ist eine der bürgerfreundlichs-
ten staatlichen Institutionen in diesem Land, und das Pe-
titionsrecht aus Art. 17 des Grundgesetzes ist eines unse-
rer stärksten Bürgerrechte. Die Bürgerinnen und Bürger
wenden sich auch an das Parlament. Frau Naumann, Sie
argumentieren anlässlich der Jahresberichtsdebatte im-
mer wieder: Wenn es mehr Petitionen gibt, dann hat die
Regierung schlechter gearbeitet. – So kann man nicht ar-
gumentieren. Ich freue mich, wenn es mehr Petitionen
gibt, auf die Mehrarbeit im Ausschuss; denn dann kön-
nen wir uns um die Anliegen der Bürgerinnen und Bür-
ger auch mehr kümmern.

Während Sie drei Jahre lang an Ihrem Gesetzentwurf
gearbeitet haben, haben wir – zwar mit Ihrer Mithilfe;






(A) (C)



(B) (D)


Josef Philip Winkler
heute habe ich aber den Eindruck, dass das eher unter Ih-
rer Duldung geschehen ist – die Möglichkeit öffentlicher
Petitionen und öffentlicher Ausschusssitzungen einge-
führt. Wir haben im Ausschuss sogar einmal in öffentli-
cher Sitzung eine Petition beschlossen. Wir haben Mas-
senpetitionen beraten, die von Zehntausenden Menschen
unterschrieben wurden. Das Einreichen von Petitionen
ist jetzt auch elektronisch möglich. Wir sind also schon
viele Schritte gegangen.

Im Hinblick auf das Selbstaufgriffsrecht bin ich nicht
gar so kritisch. Unsere Fraktion kann sich vorstellen – wir
hatten das schon einmal in der 11. und in der 13. Wahl-
periode vorgeschlagen –: Wenn es ein Petitionsaus-
schussmitglied im Zusammenhang mit der Sachaufklä-
rung im Rahmen einer Petition für richtig hält, einen
Randaspekt oder einen anderen Aspekt, der mit dem Ge-
genstand der Petition zu tun hat, näher zu beleuchten,
dann wäre es sinnvoll, dies zu ermöglichen. Das aber,
was Sie dazu vorschlagen, geht weit darüber hinaus. Wir
können uns das nur in begrenzten Ausnahmefällen vor-
stellen. Man sollte das Petitionsrecht nicht überfrachten.

Sie haben gefordert – Kollege Baumann hat darauf
hingewiesen –, dass 1,25 Mitglieder des Ausschusses
Minderheitenrechte in Anspruch nehmen können sollten.
Dazu würde ich jedoch sagen: Das übliche Verfahren ge-
mäß der Geschäftsordnung des Bundestages ist, dass je
nach parlamentarischem Vorgang eine Fraktion, fünf
vom Hundert oder ein Drittel bzw. ein Viertel der Mit-
glieder des ganzen Hauses mit über 600 Abgeordneten
bestimmte Rechte beanspruchen können.

Es wäre interessant, herauszufinden, wie Sie auf 5 Pro-
zent des Ausschusses gekommen sind. Doch das würde
heute zu weit führen.

In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass öffentliche Über-
gaben von Petitionen durchgeführt werden können. Sie
wollen das normieren.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Wir haben ein gutes Beispiel gehabt!)


Ich nutze diese Gelegenheit, um die Öffentlichkeit da-
rauf hinzuweisen – ich habe das an anderer Stelle schon
einmal getan –, dass die Linksfraktion schuld daran ist,
dass der Ausschuss zurzeit keine öffentlichen Petitionen
entgegennimmt.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Jawohl!)


Sie hat dieses Instrument nämlich mehrfach


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Missbraucht!)


für Kinkerlitzchen und kleinliche parteipolitische Spiel-
chen genutzt.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Sie sind bis heute nicht bereit, uns zuzusichern, damit
aufzuhören. Wenn Sie uns das zusicherten, könnten die
Obleute aller Fraktionen schon morgen wieder gemein-
sam öffentliche Petitionen entgegennehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Sie haben diese Zusage bis heute nicht gegeben. Damit
haben Sie dem Petitionsrecht einen Schaden zugefügt.
Deswegen habe ich leider keine andere Möglichkeit, als
meiner Fraktion für die weitere Beratung die Ablehnung
Ihres Gesetzentwurfs zu empfehlen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Günter Baumann [CDU/CSU]: Josef, das war eine gute Rede!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620512800

Der Kollege Siegfried Kauder hat nun für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Es bringt mehr
Transparenz und mehr Rechte für die Bürgerinnen und
Bürger. Das hören die Damen und Herren auf der Besu-
chertribüne, denen wir dafür danken, dass sie uns zuhö-
ren, gern. Das hören auch die Zuschauerinnen und Zu-
schauer an den Fernsehschirmen gern.

Doch das Ganze hat etwas Rattenfängerisches. Dass
das, was die Linken vorschlagen, nicht im Interesse des
Bürgers ist, sieht man sehr schnell daran, dass sie eine
öffentliche Beratung im Petitionsausschuss vorsehen.
Werden persönliche Belange eines Petenten berührt, soll
die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden – nicht: muss.
Wenn es um die Interessen des Bürgers geht, muss der
betroffene Bürger einen Anspruch darauf haben, dass die
Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, und er muss ange-
hört werden. Das sind elementare Rechte, die zu berück-
sichtigen sind. Sie haben diese Rechte nicht vergessen,
auf diese Rechte kommt es Ihnen nicht an, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Linken.

Sie wollen nicht nur eine öffentliche Erörterung von
Themen, die die Privatsphäre berühren. Sie wollen auch,
dass 5 Prozent der Mitglieder des Petitionsausschusses
den Ausschuss dominieren können. Zwei Mitglieder des
Petitionsausschusses können beantragen, dass eine Be-
weisaufnahme durchgeführt wird, so, als wären wir vor
Gericht. Derjenige, der als Zeuge gehört wird, soll auch
noch vereidigt werden können. Das gibt es nicht einmal
mehr im Strafprozess. Wer sich § 59 der Strafprozess-
ordnung anschaut, der weiß, dass die Vereidigung die ab-
solute Ausnahme ist.

Man könnte das alles ein bisschen abkürzen. Wenn
man die Rechte der Linken stärken wollte – das bezwe-
cken Sie –, dann würde es genügen, wenn man in
Art. 45 c des Grundgesetzes aufnehmen würde: Der Pe-
titionsausschuss hat die Rechte eines Untersuchungsaus-
schusses. Genau diese Rechte wollen Sie haben.

Wenn Sie in das Gesetz zur Regelung des Rechts der
Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages
schauen, stellen Sie sehr schnell fest, dass dort zwar






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

Minderheitenrechte vorgesehen sind, entsprechende An-
träge aber nicht von lediglich 5 Prozent der Mitglieder
des Ausschusses, sondern von 25 Prozent, also von ei-
nem Viertel der Mitglieder des Ausschusses gestellt wer-
den müssen, damit sie umgesetzt werden können. Ich
finde es nicht fair, was Sie hier der Öffentlichkeit darzu-
stellen versuchen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen mehr Rechte für die Linke und haben eiskalt
kalkulierend einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nur Ihre
Rechte stärken soll.

Sie fordern ein Selbstbefassungsrecht. Zwei Mitglie-
der des Petitionsausschusses sollen entscheiden können,
womit sich der Petitionsausschuss befasst. Es sollen
nicht nur Beschwerden der Bürger, sondern ganz be-
wusst auch Bitten berücksichtigt werden. Beschwerden
reichen in die Vergangenheit hinein, Bitten zielen auf die
Zukunft ab. Sie wollen damit gesetzgeberische Initiati-
ven über den Petitionsausschuss in das Parlament brin-
gen und so deren Behandlung erzwingen.

Meine Damen und Herren, es ist schade, dass wir auf
diesem Niveau über Rechte der Bürgerinnen und Bürger
sprechen müssen. Auf einen groben Klotz gehört ein
grober Keil. Deswegen bin ich deutlich geworden. Die
Menschen, die uns zuhören und zuschauen, müssen wis-
sen, dass man Rattenfängern nicht folgen soll. Diese bei-
den Gesetzentwürfe kann man nur ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620512900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/10397 und 16/10385 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck

(Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Elke Hoff, Birgit Homburger,
Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Renate
Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Betreuung bei posttraumatischen Belastungs-
störungen stärken und weiterentwickeln

– Drucksache 16/11882 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck

(Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rainer Arnold,
Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD

Betreuung bei posttraumatischen Belastungs-
störungen stärken und weiterentwickeln

– Drucksachen 16/11410, 16/11842-

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Brüning
Jörn Thießen
Elke Hoff
Dr. Hakki Keskin
Winfried Nachtwei

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Hoff,
Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Medizinische Versorgung der Bundeswehr
an die Einsatzrealitäten anpassen – Kompe-
tenzzentrum für posttraumatische Belas-
tungsstörungen einrichten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer

(Köln), Inge Höger, Monika Knoche, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Adäquate Behandlungs- und Betreuungs-
kapazitäten für an posttraumatischen Belas-
tungsstörungen erkrankte Angehörige der
Bundeswehr

– Drucksachen 16/7176, 16/8383, 16/10024 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Siebert
Jörn Thießen
Elke Hoff
Paul Schäfer (Köln)

Winfried Nachtwei

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister Dr. Franz Josef Jung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundeswehr ist zwischenzeitlich eine Ar-
mee im Einsatz für den Frieden. Sie ist gut ausgebildet,
ordentlich ausgerüstet und gut motiviert. Aber in diesen






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
Einsätzen sind die Soldatinnen und Soldaten besonderen
Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt.

Deshalb denke ich, dass es richtig ist, dass sich der
Deutsche Bundestag mit dieser Gefahrensituation, was
die psychische Belastung anbetrifft, konkret beschäftigt.
Denn ich finde, dass unsere Soldatinnen und Soldaten
gerade im Hinblick auf diese Herausforderung, die Ge-
fahr für Leib und Leben, unsere allgemeine Unterstüt-
zung verdient haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die seelischen Verwundungen sind aus meiner Sicht
genauso ernst zu nehmen wie körperliche Verwundun-
gen. Deshalb ist es, wie ich finde, gut gewesen, dass bei-
spielsweise die ARD mit dem Film Willkommen zu
Hause dieses Thema ins Bewusstsein der breiten Öffent-
lichkeit gerückt hat.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr angemessen!)


Ich bin dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen dankbar,
dass dadurch die Problematik, die sich für unsere Solda-
tinnen und Soldaten ergibt, verstärkt ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit gelangt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])


Die Bundeswehr hat die Bedeutung der posttraumati-
schen Belastungsstörung – allgemein wird auch vom
Rückkehrertrauma gesprochen – erkannt und handelt im
Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten. Seit Beginn
der Auslandseinsätze hat die Bundeswehr die Behand-
lungs- und Betreuungsmaßnahmen ständig ausgebaut.
Unser derzeitiges Konzept lautet: Vorbereitung, Durch-
führung und Nachbereitung von Einsätzen. Das Ziel ist
die frühzeitige Diagnostik und schnelle und gezielte
Hilfe – je früher, desto besser. Das gilt besonders mit
Blick auf unsere Soldatinnen und Soldaten, weil teil-
weise in der Öffentlichkeit, aber auch von den Betroffe-
nen selbst eine solche Verwundung – wie ich sie be-
zeichne – immer noch als Schwäche empfunden wird.
Deshalb glaube ich, dass wir dagegen angehen und deut-
lich machen müssen: Je schneller sich unsere Soldatin-
nen und Soldaten in ärztliche Behandlung begeben,
umso größer ist die Chance auf Gesundung. Deshalb ist
das ein richtiger und wichtiger Schritt, um die Behand-
lung effektiver zu gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben unsere Vorsorge in drei Abschnitte geglie-
dert:

Erstens. Das Thema Psychotraumatologie ist fester
Bestandteil der vorbereitenden Ausbildung.

Zweitens. Im Einsatz bemühen wir uns ebenfalls um
die psychische Stabilisierung der Soldatinnen und Solda-
ten.
Drittens. Für die heimkehrenden Soldaten haben wir
ein psychosoziales Netzwerk aufgebaut: über den Sani-
tätsdienst, den psychologischen Dienst, den Sozial-
dienst, die Militärseelsorge und die Truppe. Dieses Netz-
werk bietet standortnah allen Soldatinnen und Soldaten
rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr kompetente Hilfe
und Unterstützung an. Wir haben eine anonyme Online-
beratung unter www.angriff-auf-die-seele.de eingerich-
tet. Wir werden ebenfalls eine anonyme Telefonhotline
einrichten. Ich will auch darauf hinweisen, dass die Un-
terstützung der Familien besonders wichtig ist. In dem
Zusammenhang spielen die Familienbetreuungszentren
eine wichtige Rolle.

Im Krankheitsfall erfolgt eine effektive Behandlung
in unseren fünf Bundeswehrkrankenhäusern und den
14 fachärztlichen Untersuchungsstellen für Psychiatrie.
Wir kooperieren auch mit zivilen Kliniken; denn – da-
rauf will ich hinweisen – dies ist kein Problem, das nur
Soldatinnen und Soldaten betrifft. Unter solchen psychi-
schen Belastungen leiden auch Mitarbeiter der Polizei
und der Feuerwehr sowie Menschen, die aus Bürger-
kriegsgebieten zu uns kommen.

Wir richten einen Arbeitsbereich „Psychische Ge-
sundheit“ beim Institut für Medizinischen Arbeits- und
Umweltschutz der Bundeswehr hier in Berlin ein. Er soll
ab Mitte des Jahres die Forschung auf diesem Gebiet
stärken. Hierbei werden die Fachabteilungen für Psychi-
atrie an den Bundeswehrkrankenhäusern, der Psycholo-
gische Dienst der Bundeswehr und die zivilen Einrich-
tungen eingebunden. So entsteht ein Forschungs- und
Kompetenzzentrum der Bundeswehr.

Es trifft zu: Die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten
mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ist ange-
stiegen. Im Jahre 2005 gab es 121 Fälle, im Jahre 2008
gab es 245 Fälle; diese sind im Wesentlichen auf Ein-
sätze in Afghanistan zurückzuführen. Der Durchschnitt
liegt in etwa bei 1 Prozent. Damit liegen wir im interna-
tionalen Vergleich recht gut. Den Anstieg, den wir ver-
zeichnen, nehmen wir sehr ernst. Natürlich liegt die stei-
gende Zahl der Fälle an der Einsatzintensität, aber auch
– das ist unsere Erkenntnis – an der Zunahme der Bereit-
schaft unserer Soldatinnen und Soldaten, sich in ärztli-
che Behandlung zu begeben.

Ich kann unterstreichen, dass aus meiner Sicht – dazu
trägt auch diese Debatte bei – die Sensibilität für diese
Erkrankung spürbar zugenommen hat. Deshalb, denke
ich, ist es richtig und gut, unseren Soldatinnen und Sol-
daten diese Behandlungsmethoden anzubieten und zur
Verfügung zu stellen, aber auch alles zu tun, damit schon
erste erkannte Symptome sofort behandelt werden, weil
dies zur schnellstmöglichen Heilung beiträgt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Unser Ziel ist es, ein Auftreten dieser seelischen Krank-
heit möglichst zu verhindern, aber im Krankheitsfall die
bestmögliche Behandlung und Versorgung unserer Sol-
datinnen und Soldaten sicherzustellen.

Insofern bin ich dem Deutschen Bundestag sehr dank-
bar, dass er sich mit diesem Thema beschäftigt. Es ist






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
wichtig, deutlich zu machen, dass wir alle Anstrengun-
gen unternehmen, um unseren Soldatinnen und Soldaten
Hilfe zuteil werden zu lassen. Es ist ebenso wichtig,
diese Problematik in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn
das, was unsere Soldatinnen und Soldaten leisten, ist
letztlich im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen
und Bürger. Sie setzen sich Gefahren aus und riskieren
Leib und Leben. Deshalb haben sie unser aller Unterstüt-
zung verdient.

Haben Sie recht schönen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620513000

Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1620513100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich sehr
darüber freue, dass es uns im Deutschen Bundestag ge-
lungen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu die-
sem wichtigen Thema auf den Weg zu bringen und heute
zu verabschieden. Ich glaube, damit senden wir ein star-
kes Signal an die Bundeswehr, dass wir am Schicksal,
das unsere Soldatinnen und Soldaten zu tragen haben,
Anteil nehmen. An dieser Stelle sollten wir auch ein
Dankeschön an die Soldaten richten, die den Mut hatten,
an die Öffentlichkeit zu gehen und sich dazu zu beken-
nen, dass es hier ein Problem gibt, mit dem sie sich
selbst, mit dem sich aber auch ihre Familien auseinan-
dersetzen müssen, und das im Grunde auch ein Ergebnis
dessen ist, was wir hier beschließen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])


Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, dass
wir uns an dieser Stelle auch mit der Kehrseite der Me-
daille befassen. Wir müssen unseren Soldaten das Ge-
fühl geben, dass wir sie ernst nehmen. Wir wissen, dass
sie in ihren Einsätzen die extremsten Erlebnisse machen,
die ein Mensch machen kann: dass ein Kamerad stirbt,
dass Kameraden verwundet werden, dass man selbst zu
Schaden kommt und dass daher auch die eigene Familie
unter Druck steht. Damit müssen wir uns im Deutschen
Bundestag gemeinsam befassen.

Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie heute
sehr deutliche Worte gefunden und die Bereitschaft Ihres
Hauses dokumentiert haben, sich dieses Themas anzu-
nehmen. Sie können davon ausgehen, dass das Parla-
ment diese Schritte begleiten wird. Die Einmütigkeit, die
im Deutschen Bundestag in dieser Angelegenheit
herrscht, finde ich beispielhaft. Wenn Sie sich intensiver
mit diesem Thema beschäftigen, sollten Sie auch die
Probleme berücksichtigen, die viele verbündete Natio-
nen mit Rückkehrern, die unter Traumata leiden, haben,
und aus den teilweise gravierenden Fehlern, die in die-
sem Zusammenhang gemacht werden können und ge-
macht wurden, lernen.

Ich bin der Meinung, wir sollten uns besser schon
jetzt mit diesen Themen befassen, präventiv tätig sein
und die Erfahrungen, die bereits gemacht wurden, sam-
meln, als uns irgendwann den Vorwurf machen lassen zu
müssen, wir hätten zu spät gehandelt und das, was un-
sere Soldatinnen und Soldaten für uns leisten, nicht ge-
würdigt.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es auch richtig, dass Sie, Herr Minister, be-
sonders auf die Betroffenheiten der Familien hingewie-
sen haben. In den Zuschriften von Familienangehörigen,
die mich erreichen – viele meiner Kollegen sicherlich
auch –, lese ich sinngemäß immer wieder: Unsere Söhne
und Töchter gehen mit sehr viel Engagement und Moti-
vation in den Einsatz. Wir allerdings sind zu Hause. Wir
werden tagtäglich mit den Bildern in der Presse konfron-
tiert, sind bedrückt und belastet. Wie es uns geht und
welche Ängste wir haben, das können nur die wenigsten
verstehen.

Insofern ist es wichtig, einen umfassenden Ansatz zu
verfolgen. Familienbetreuungszentren können dabei eine
herausgehobene Rolle spielen, das ist gut und richtig.
Wenn die Entscheidungen anstehen, Kompetenzzentren
aufzubauen und geeignete Angebote zu entwickeln, soll-
ten wir die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zur
Verfügung stellen.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zusätzliches Personal!)


Jetzt erwarten die Soldaten von uns, dass unseren
Worten und Beschlüssen auch Taten folgen. Herr Minis-
ter, Sie können sich der breiten Unterstützung des Deut-
schen Bundestages sicher sein. Alle Maßnahmen, die Sie
auf diesem Gebiet ergreifen, werden von uns unterstützt,
auch im Hinblick auf die Bereitstellung der finanziellen
Mittel.

An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei
den Kolleginnen und Kollegen des Fachausschusses da-
für bedanken, dass es uns gelungen ist, bei diesem
Thema Einigkeit zu erzielen, sodass wir heute gemein-
sam ein starkes Signal an unsere Soldatinnen und Solda-
ten senden können. Ich hoffe sehr, dass das Angebot der
anonymen Hotline in Anspruch genommen wird. So-
wohl die Kameraden, die sich bisher in der Öffentlich-
keit geäußert haben, als auch die Entschlossenheit des
Deutschen Bundestages sollen die Soldatinnen und Sol-
daten motivieren, über Probleme, die sie haben, zu re-
den. Sie sollen wissen, dass sie professionell aufgefan-
gen und aufgenommen werden. Mein herzlicher Dank
gilt allen, die daran mitgewirkt haben. Herr Minister,
viel Glück, alles Gute und „Toi, toi, toi!“ für die Umset-
zung!

Danke schön.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620513200

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Jörn

Thießen.


Jörn Thießen (SPD):
Rede ID: ID1620513300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als ich mich zum ersten Mal mit dem Thema „Posttrau-
matische Belastungsstörungen“ beschäftigt habe, habe
ich mich an ein Erlebnis erinnert, das ich als Kind hatte.
Damals hatte ich einen Onkel Hans. Auf dem Fernseher
in seinem Wohnzimmer stand das Foto eines jungen
Mannes mit Trauerflor. Ich habe Onkel Hans gefragt:
„Wer ist das?“ Er hat einsilbig geantwortet, das sei sein
Sohn gewesen; er wolle darüber nicht sprechen. Als
meine Mutter und ich das Haus verlassen hatten, hat sie
mich gebeten, Onkel Hans nicht noch einmal darauf an-
zusprechen. Er selbst sei im Krieg gewesen, sein Sohn
sei im Krieg gefallen, und er könne über keines dieser
Erlebnisse sprechen; ich möge ihn nicht mehr fragen.

Wir wissen, dass die Grauen, die Menschen aushalten
mussten, eine lange Geschichte haben. Die Menschen,
die darüber krank geworden sind, sind immer anders be-
nannt worden. Das waren „Kriegszitterer“, die hatten
„Granatenfieber“, die sind mit einer „Schützengraben-
neurose“ aus dem Krieg wiedergekommen. Diese Men-
schen sind zeitlebens verstummt, haben zeitlebens unter
diesem Schicksal gelitten. Aus „Kriegsneurose“ wurde
„Kriegsmüdigkeit“, dann „operative Erschöpfung“.
Heute sprechen wir von einer „posttraumatischen Belas-
tungsstörung“. Das ist ein Weg der Erkenntnis, aber auch
ein Weg der Aufmerksamkeit.

Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen Bundes-
tag in seltener Einigkeit das wichtige Signal eines ge-
meinsamen Antrages aussenden. Das sendet ein Signal
an die Betroffenen, an die bisher Schweigenden, an die,
die sich noch nicht gezeigt haben, es sendet aber auch
ein Signal an ihre Familien, an die Soldatinnen und Sol-
daten im Einsatz, an die Öffentlichkeit – dass es uns um
diese Menschen geht – und nicht zuletzt an die Verant-
wortlichen in der Bundeswehr selbst. Dem gesamten
Deutschen Bundestag liegt viel an einer intensiven Aus-
einandersetzung mit diesem Thema.

Herr Minister, wir begrüßen, dass sich das Bundesmi-
nisterium der Verteidigung sichtbar bewegt hat. Was
man in den letzten Tagen auf der Internetseite der Bun-
deswehr erfreulicherweise hat lesen können, wäre noch
vor wenigen Monaten nicht recht denkbar gewesen. Da-
für bedanke ich mich, und ich wünsche Ihnen auf dem
weiteren Wege viel Glück!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Wir danken auch denjenigen, die sich dieser Proble-
matik intensiv angenommen haben, zum Beispiel
Oberstarzt Dr. Biesold aus Hamburg, der viel geforscht
hat und viele Anregungen gegeben hat.

Wir danken aber auch dem Bundeswehrverband, der
die Betroffenen aus der Anonymität herausgeholt hat,
uns Abgeordneten die Chance gegeben hat, mit ihnen zu
reden, sie kennenzulernen. Das hat uns allen, über die
Fraktionsgrenzen hinweg, viele Erkenntnisse ermög-
licht.

Ich bedanke mich bei denjenigen in den Fraktionen,
die diesen Antrag mit vorbereitet haben, namentlich bei
meiner Kollegin Monika Brüning, aber auch bei allen
anderen, deren Forderungen wir in diesen Antrag haben
aufnehmen können.

Wir wissen, dass auch der Wehrbeauftragte eine wich-
tige Rolle gespielt hat, nämlich indem er immer wieder
auf dieses Thema hingewiesen hat. Ich ermutige Sie,
Herr Wehrbeauftragter, auch in Zukunft ihre Aufmerk-
samkeit genau darauf zu richten und zu verfolgen, wel-
che Fortschritte wir gemeinsam machen.

Wir bekommen E-Mails, und wir bekommen Briefe;
Frau Kollegin Hoff, da geht es mir wie Ihnen und ande-
ren. Schauen Sie sich auch den Chat an, den das Bundes-
ministerium für Verteidigung im Internet veröffentlicht
hat! Was die Betroffenen schildern, das sind Schicksale,
da sind Menschen in großer Not.

Es ist für Soldatinnen und Soldaten angesichts des
Selbstbildes eines „starken Menschen“, das sie haben,
nicht leicht, sich im Vertrauen an Familienangehörige,
an Seelsorger, an Vorgesetzte zu wenden. Doch das ist
wichtig. Die Dunkelziffer, von der wir ausgehen müssen,
ist nämlich hoch. Deswegen ist die Studie, die wir anre-
gen, richtig, und sie wird uns wichtige Erkenntnisse ge-
ben.

Der Einsatz der Streitkräfte ist in keiner Weise ein
Spiel, übrigens weder im Inland noch im Ausland. Keine
noch so gute Übung kann vorbereiten auf Gewaltsitua-
tionen, wie Menschen sie erleben und bei denen sie
Schaden nehmen müssen. PTBS ist an sich, im Beginn,
eine gesunde Reaktion auf einen Schock, auf ein Erleb-
nis, das jemand noch nie gehabt hat. Doch dieser Schock
kann sich in einer Krankheit manifestieren, die so
schnell wie möglich bekämpft werden muss. Manchmal
tritt PTBS erst Jahre nach dem entsprechenden Erlebnis
auf.

Sogenannten harten Männern und Frauen fällt es
nicht leicht, zuzugeben, wenn sie Probleme haben. Des-
wegen ist es richtig, dass Auslandseinsätze sorgfältig
vorbereitet werden. Wir brauchen genügend Psycholo-
gen und Seelsorger. Aber auch auf die Nachbereitung
müssen wir großen Wert legen. Die Familienbetreuungs-
einrichtungen müssen für dieses wichtige Thema sensi-
bilisiert werden. Das gilt auch für die Vorgesetzten auf
allen Ebenen. Die Soldaten, die am Ende dauerhaft da-
runter leiden, müssen sich sicher sein, dass ihre Versor-
gung auf dem richtigen Niveau erfolgt.

In der Bundeswehr gibt es heute nach der Aktenlage,
die ich kenne, 42 Dienstposten für Psychiater. Davon
sind nur 21 besetzt. 5 von diesen 21 sind speziell in
Traumatherapie ausgebildet. Es gibt 14 Dienstposten für
Psychologen, wovon 12 besetzt sind. Von diesen ist die
Hälfte speziell ausgebildet. Herr Minister – ich spreche
gleichzeitig auch diejenigen an, die dafür eine Mitver-
antwortung tragen –, hier liegt noch ein Weg vor uns.






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Thießen
Wir wollen ein ernsthaftes und echtes Kompetenz-
und Forschungszentrum für die Behandlung von PTBS
in der Bundeswehr. Ich habe nichts dagegen, dass wir
dies zunächst beim Institut für den Medizinischen Ar-
beits- und Umweltschutz der Bundeswehr ansiedeln,
aber es darf dort nicht zum inhaltlichen Nebengelass
werden, sondern es muss dort im Zentrum der Arbeit
und der Aufmerksamkeit stehen. Ich hoffe sehr, dass das
unser gemeinsames Ziel ist.


(Beifall im ganzen Hause)


Herr Minister, wir werden diese Entwicklung, für die
viele hier im Hause – ich denke, ich kann für alle oder
zumindest für fast alle sprechen – dankbar sind und für
die wir eine Menge gearbeitet haben, und die Umsetzung
der Forderungen sehr genau betrachten. Wir erwarten
von der Bundesregierung noch in dieser Legislatur-
periode einen konkreten Zeit- und Handlungsplan, aus
dem hervorgeht, wie und wann sie diese Forderungen in
unserem Antrag umzusetzen gedenkt.

Wir wissen, dass es Schwierigkeiten damit geben
kann. Wir wissen auch, dass es Bedenken gibt, wir sind
uns aber gewiss, Herr Minister, dass Sie für einen Fort-
schritt offen sind, und wir werden Sie bei dieser Gele-
genheit freundlich, hilfreich und sehr aufmerksam be-
gleiten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620513400

Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620513500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass der Bundes-
tag in Sachen posttraumatisches Belastungssyndrom ei-
nen Handlungsbedarf erkennt. Wir werden sehr darauf
achten müssen, dass das, was heute hier beschlossen
wird, auch tatsächlich umgesetzt wird.

Es ist leider immer wieder dieselbe Geschichte: Die
Betroffenen müssen sich zu Wort melden, sie müssen
sich zusammentun – wie im Verein Skarabäus in der
Bundeswehr –, sie müssen Interessensverbände gewin-
nen, Journalisten überzeugen, die Öffentlichkeit sensibi-
lisieren, und aus dem Parlament heraus müssen Initiati-
ven entwickelt werden. Erst dann wacht die Regierung
auf. Selbst dann noch haben wir es leider – auch in ande-
ren Fällen – erlebt, dass der Regierungsapparat versucht,
zu mauern. Ein abschreckendes Beispiel sind nach wie
vor die durch Radarstrahlen Geschädigten aus der Bun-
deswehr und der NVA, die immer noch Klage über eine
hartherzige Bürokratie führen. Wir hoffen, dass das in
diesem Falle anders läuft.
Mit den Erkrankungen, um die es hier geht – das ist
auch schon gesagt worden –, wird in verschiedener Hin-
sicht an Tabus gerührt:

Am Selbstverständnis der Soldaten. Den harten Jungs
darf es doch nicht passieren, dass sie aus dem seelischen
Gleichgewicht geraten. Das hat leider dazu geführt, dass
man gesagt hat, die psychischen Probleme seien Privat-
sache, dass das Phänomen verdrängt und nicht rechtzei-
tig erkannt wurde, dass die Dunkelziffer hoch ist und
dass Betroffene isoliert sind oder sich selber isolieren.

Die Führung sieht durch dieses Phänomen die Moral
der Truppe allzu schnell gefährdet. Auch deshalb gibt es
den Hang, lieber den Mantel des Schweigens darüber
auszubreiten.

Schließlich fürchtet die staatliche Bürokratie nichts
mehr als Präzedenzfälle und Ansprüche auf Entschädi-
gungszahlungen, die von denjenigen geltend gemacht
werden könnten, deren Wehrdienstfähigkeit nicht mehr
gegeben ist. Daher mussten sich die Betroffenen über ei-
nen längeren Zeitraum leider nicht nur um ihre medizini-
sche Behandlung kümmern, sondern auch um ihre Aner-
kennung als Kranke ringen. Ich finde, das ist gänzlich
inakzeptabel. Ich hoffe, dass das jetzt wirklich Ge-
schichte ist.


(Beifall der Abg. Jörn Thießen [SPD], Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Es geht darum, die Sensibilität in diesem Bereich um-
fassend zu stärken und den Tabus entgegenzuarbeiten.
Die Betroffenen müssen schnell und jederzeit Ansprech-
stellen finden. Der Vorschlag der Einrichtung einer
anonymen Hotline wird hoffentlich aufgegriffen. Vor al-
lem die Forschung muss vorangebracht werden, um da-
mit die Möglichkeiten der Heilung zu verbessern. Das
Kompetenz- und Forschungszentrum der Bundeswehr ist
erwähnt worden. Wir brauchen einen großherzigen und
verständnisvollen Umgang mit den erkrankten Men-
schen. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als
um ein umfassendes Betreuungs- und Rehabilitations-
konzept.

Meine Kolleginnen Pau und Lötzsch haben diese Pro-
blematik schon in der vergangenen Legislaturperiode
aufgegriffen. Meine Kollegin Katrin Kunert hat dies zu
Beginn dieser Legislaturperiode getan. Im März 2008
haben die Linken einen Antrag eingebracht, in dem we-
sentliche Forderungen des Bundeswehr-Verbandes auf-
gegriffen worden sind. Die Regierungsfraktionen haben
Ende vergangenen Jahres nachgezogen.

Ich sage das nicht, um historische Meriten für die Lin-
ken einzuheimsen. Das ist zu billig. FDP und Grüne wa-
ren präsent. Der Wehrbeauftragte hat sich dauernd enga-
giert. Dies gilt genauso für den Bundeswehr-Verband
und Abgeordnete der Koalitionsfraktionen.

An dieser Stelle möchte ich aber deutlich sagen, wa-
rum ich das erwähne. Mir geht es darum, der Verleum-
dung entgegenzutreten, die der Vorsitzende einer kon-
kurrierenden Partei kürzlich in die Welt gesetzt hat,






(A) (C)



(B) (D)


Paul Schäfer (Köln)

indem er gesagt hat, die Linke würde die Soldaten der
Bundeswehr als aggressive Krieger beschimpfen.

Wir haben politische Gründe für die Ablehnung der
Out-of-Area-Einsätze. Wir wollen generell vermeiden,
dass junge Menschen in eine Situation kommen, auf-
grund derer sie an posttraumatischen Belastungsstörun-
gen erkranken. Das ist richtig.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das hat aber mit einer Beschimpfung von Soldatinnen
und Soldaten, die im Auftrag dieses Hauses ihren Dienst
tun, nichts zu tun. Im Gegenteil, wir haben den An-
spruch, dass wir uns um diejenigen kümmern müssen,
die Opfer von Krieg und Gewalt werden können.

Wir fordern daher, dass das Parlament, das diese jun-
gen Leute in Einsätze entsendet, dafür Sorge trägt, dass
ihnen eine angemessene medizinische Betreuung und
Versorgung zuteil wird. Wir unterstützen deshalb den
vorliegenden Antrag.

Wir haben auch im Ausschuss deutlich gemacht, dass
es möglich gewesen wäre, einen gemeinsamen Antrag
einzubringen. Die Union konnte aber leider nicht über
die Schatten des Kalten Krieges springen. Wir hoffen,
dass man in der nächsten Legislaturperiode diese ideolo-
gische Engführung und diesen Kleingeist überwindet.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Es würde dem Parlamentarismus gut tun und das Ver-
trauen der Bürgerinnen und Bürger in das Parlament
stärken, wenn sie erkennen, dass es nicht nur um Partei-
taktik, sondern auch um Sachfragen geht.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620513600

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Winfried Nachtwei das Wort.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620513700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Vorbereitung von Bundeswehrsoldaten auf Auslands-
einsätze ist nach meiner Erfahrung sehr fundiert und
hilfreich. Was es an Konzepten, an Begleitung und an
Strukturen gibt, das ist auch im Verhältnis zu manchen
anderen Armeen recht gut.

Noch im vorigen Jahr – so erinnere ich mich – hörte
ich von der Bundeswehrspitze die Beschreibung, der
Anteil der eingesetzten Soldaten mit posttraumatischen
Belastungsstörungen liege unter 1 Prozent, er steige
nicht, und man habe die Lage im Griff.

Einige von uns Verteidigungspolitikerinnen und -poli-
tikern haben inzwischen Begegnungen mit Betroffenen
gehabt. Dabei hat man fürchterliche Schicksale mitbe-
kommen. Ich erinnere mich an das Beispiel eines Stabs-
unteroffizieres, der im Jahr 2003 im Rahmen des ABC-
Bataillons in Kuwait eingesetzt worden ist. Dieser Ein-
satz ist inzwischen so ziemlich in Vergessenheit geraten.
Zu Beginn des Irakkrieges gab es ständig irakischen Ra-
ketenbeschuss. Dieser Stabsunteroffizier schied kurz da-
nach aus der Bundeswehr aus.

Mehr als ein Jahr später zeigten sich dann diese Stö-
rungen. Es begann ein Kampf, ein Kampf nicht nur um
die Gesundung – das ist schon schwer genug –, sondern
auch ein Kampf mit dem Dienstherrn um die Anerken-
nung als Wehrdienstbeschädigung. Heute vor genau ei-
nem Jahr hat dieser Mann einen Bescheid von der Wehr-
bereichsverwaltung West bekommen. Darin heißt es:

Allgemeine Belastungen, unter Beschuss zu stehen

(häufig Alarm), kann für einen Soldaten im Aus-

landseinsatz nicht als außergewöhnlich belastend
angesehen werden.

Ich glaube, das ist der Gipfel der Ignoranz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Posttraumatische Belastungsstörungen können – das
ist die Erfahrung – jeden erwischen. Dies ist unbere-
chenbar. Verschiedenste Stressfaktoren können dazu füh-
ren. Solche psychischen Verwundungen sind ausdrück-
lich kein Ausdruck menschlicher oder gar soldatischer
Schwäche, sondern das ist eher fast sogar eine mensch-
lich normale Reaktion auf Situationen, die verrückt ma-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Wir müssen feststellen, dass die Dunkelziffer wahr-
scheinlich um einiges größer ist als die offizielle Zahl.
Wir müssen auch klarstellen, dass im Hinblick auf die
Dimension psychische Erkrankungen heutzutage der
häufigste gesundheitliche Folgeschaden von Einsätzen
sind.

Mit diesem Antrag, den wir glücklicherweise inter-
fraktionell gemeinsam hinbekommen haben, formulie-
ren wir die zentralen Notwendigkeiten. Ich will sie nicht
im Einzelnen wiederholen. Es geht um ein niedrig-
schwelliges Beratungsangebot und die Einrichtung einer
zentralen Ansprechstelle und eines Kompetenz- und For-
schungszentrums, und zwar eines echten. Herr Minister,
passen Sie auf, was in dem Konzept zur psychischen Ge-
sundheit vom Juni letzten Jahres vorgesehen ist! Das ist
allenfalls eine Arbeitsgruppe in diesem Institut, aus-
drücklich ohne Mehrausstattung usw. Wir wollen im
Bundestag insgesamt ein echtes Kompetenz- und For-
schungszentrum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Des Weiteren sind in diesem Bereich die persönliche
Begleitung der Betroffenen und – das wurde bisher zu
wenig angesprochen – eine völlig andere Berücksichti-






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
gung der Veteranen von sehr großer Bedeutung. Ich
kenne Leute, die 1999 etwa im Kosovo oder in Bosnien
Fürchterliches erlebt haben. Diese Gruppe meldet sich
jetzt auch etwas stärker zu Wort.

Ich komme zum Schluss. Dieses Thema ist nicht nur
eine Herausforderung für die Bundeswehr und die Bun-
desverwaltung. Inzwischen gibt es eine enorme Kluft
zwischen der Einsatzerfahrung und dem zivilen Alltags-
leben hierzulande. Sprachlosigkeit auf der einen Seite
und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite wirken regel-
recht als Stress- und Verwundungsverstärker.

Der Afghanistaneinsatz wird heute von großen Teilen
der Bevölkerung sehr kritisch gesehen. Unabhängig da-
von verdienen die vom Bundestag nach Afghanistan ent-
sandten Frauen und Männer Interesse, Anteilnahme und
persönliche Unterstützung. Ich meine, auch das ist eine
Form von bürgerschaftlichem Engagement.

Danke schön.


(Beifall im ganzen Hause)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620513800

Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620513900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren.

Der vorliegende Antrag zur Verbesserung der Situation
der von posttraumatischen Belastungsstörungen betrof-
fenen aktiven und ausgeschiedenen Soldaten ist im Ver-
teidigungsausschuss einstimmig angenommen worden.
Das begrüße ich ausdrücklich.

Gleichwohl komme ich nicht umhin, einige kritische
Anmerkungen grundsätzlicher Art zu machen. Denn die-
ses Thema beschäftigt den Bundestag, den Wehrbeauf-
tragten und den Ausschuss bereits seit Jahren. Ich erin-
nere an die Kleinen Anfragen der Linksfraktion und der
FDP aus den Jahren 2006 und 2007. Gleichwohl war bis-
her nicht erkennbar, dass dem Verteidigungsministerium
die Gesundheit seiner Soldaten ebenso am Herzen liegt
wie die Ausrüstung der Bundeswehr mit immer moder-
neren Waffensystemen. Ich hoffe, dass sich dies nun-
mehr ändern wird und dass das Ministerium die Maß-
nahmen ergreift, die der ansteigenden Zahl von
Betroffenen gerecht wird.

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind nach bis-
heriger Lesart der Bundesregierung bis heute reine Sa-
mariterdienste. Ich würde sie hingegen als das konven-
tionelle Gegenstück zur nuklearen Teilhabe bezeichnen,
als Mittel zur Machtteilhabe. Dafür gibt es auch einen
Kronzeugen: den früheren Bundeskanzler Schröder mit
seinem inzwischen geflügelten Wort der „Enttabuisie-
rung des Militärischen“ als normalem Mittel der deut-
schen Politik. Diesen Ausspruch zitiere ich allein deswe-
gen immer wieder gerne, weil er nicht die Position der
Linken ist.

Nun könnte ich es mir leicht machen und sagen, ohne
kriegerische Einsätze gäbe es keine nennenswerten post-
traumatischen Belastungsstörungen und auch keine De-
batte über das Thema in diesem Hause. Dies ginge aller-
dings am Kern vorbei, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens besteht eine Verpflichtung des Parlaments insge-
samt, die erkannten negativen Auswirkungen seiner Ent-
scheidungen zu begrenzen, besonders wenn Menschen
davon betroffen sind. Dies gilt unabhängig vom Abstim-
mungsverhalten. Insofern haben wir alle eine gemein-
same Fürsorgepflicht für Soldaten in der Parlamentsar-
mee.

Zweitens muss an dieser Stelle auch gesagt werden,
warum die Bundesregierung das Thema immer wieder
heruntergespielt hat, warum sie auch der Frage nach der
Dunkelziffer nicht offensiv nachgegangen ist. Sie wird
bekanntlich von Fachleuten als weit höher geschätzt als
die Zahl der als erkrankt Erfassten; denn diese individu-
elle Verdrängung hängt ja unmittelbar mit den Bedin-
gungen und Gruppenzwängen zusammen, denen junge
Soldaten in einer militärisch, überwiegend von Männern
geprägten Gemeinschaft ausgesetzt sind, nämlich: Keine
Schwächen zeigen! Sonst gilt man als Weichei und wird
verachtet. Unter kriegerischen Bedingungen wie in Af-
ghanistan gilt dies ganz besonders. Aber die Bundesre-
gierung hat den dortigen Einsatz aus durchsichtigen
Gründen jahrelang nicht als das bezeichnet, was er ist,
nämlich als einen Krieg. Ergo konnte sie das Problem
der Traumatisierten auch nicht angemessen behandeln,
ohne die eigene Argumentation infrage zu stellen, und
dies zulasten der Betroffenen. Studien aus anderen Ar-
meen, in den USA und in Skandinavien, zeigen deutlich:
Mit Zahl, Dauer und Intensität der Kriegseinsätze steigt
der Prozentsatz der Traumatisierten in den zweistelligen
Bereich an. Auch dies ist für uns ein Grund, Nein zu
weiteren Kriegseinsätzen zu sagen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620514000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11882 mit dem Titel
„Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen
stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Verteidigungsausschusses auf den Drucksachen 16/11842
und 16/10024 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf Drucksache 16/11410 und dem An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7176. Es
ist interfraktionell vereinbart, beide Anträge wegen des
soeben unter Tagesordnungspunkt 8 a angenommenen
gemeinsamen Antrags der Fraktionen von CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Verfahrensweise? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Anträge sind
einstimmig für erledigt erklärt. Damit entfällt insoweit
die Behandlung der Beschlussempfehlungen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über Nr. 2 der Be-
schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Drucksache 16/10024. Der Ausschuss empfiehlt die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/8383 mit dem Titel „Adäquate Behandlungs-
und Betreuungskapazitäten für an posttraumatischen Be-
lastungsstörungen erkrankte Angehörige der Bundes-
wehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tionen, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Entschädigung für Strafverfolgungs-
maßnahmen

– Drucksache 16/11434 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Angemessene Haftentschädigung für Justiz-
opfer sicherstellen

– Drucksache 16/10614 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre zu dieser Vereinbarung keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620514100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In Deutschland gibt es Menschen, die in Untersuchungs-
haft, manchmal sogar in Strafhaft kommen, obwohl sie
unschuldig sind, und die deswegen – man kann es so sa-
gen – durch staatliche Maßnahmen und gerichtliche Ur-
teile ihrer Freiheit beraubt worden sind.

Ich will an drei Fälle erinnern: Ein Säugling stirbt,
und der Vater kommt für neun Monate in Untersu-
chungshaft. Es stellt sich heraus, dass er völlig unschul-
dig ist. Ein Mann wird wegen einer Falschbelastung,
einer angeblichen Vergewaltigung, zu fünf Jahren Ge-
fängnis verurteilt. Er sitzt 1 523 Tage in Haft. Danach
stellt sich seine Unschuld heraus. Hier in Berlin ist eine
Arzthelferin wegen angeblicher Brandstiftung in Haft
genommen worden. Sie saß 888 Tage. Danach stellte
sich heraus, dass sie nicht schuldig war.
Unsere Rechtsordnung sieht eine Entschuldigung
staatlicherseits für diese Freiheitsberaubung nicht vor.
Dafür ist aber eine Entschädigung für diese Freiheitsent-
ziehung vorgesehen. Die grundlegende Frage ist: Was ist
eigentlich die Freiheit einer Bürgerin oder eines Bürgers
wert? Wie viel sollen denn diejenigen erhalten, die un-
schuldig ihrer Freiheit beraubt worden sind? Dafür gibt
es keine festen Sätze, aber es gibt die Rechtslage in
Deutschland. Seit 1987 zahlen wir pro Tag unschuldig
erlittener Haft 20 DM bzw. jetzt 11 Euro. Dieser Betrag
ist seit über 20 Jahren nicht erhöht worden. Wir meinen,
dass dieser Betrag absolut unangemessen ist. Um eine
Relation zu erhalten, halte ich es für vernünftig, einmal
einen Blick ins europäische Ausland zu wagen. Ich will
Ihnen einige Zahlen nennen.

In Luxemburg werden für diese Fälle bis zu 200 Euro
pro Tag gezahlt, in Holland bei Polizeihaft 95 Euro, bei
Gerichtshaft 70 Euro pro Tag. In Österreich gibt es eine
Regelung ähnlich unserem Vorschlag, eine angemessene
Entschädigung zu zahlen. Die Gerichte gehen im Regel-
fall von 100 Euro pro Tag aus. Finnland zahlt 100 Euro
pro Tag. Die Gerichte legen dort aber auch wesentlich
höhere Beträge fest. Spanien zahlt 50 Euro pro Tag, Dä-
nemark pro fünf Stunden 255 Euro, 615 Euro für zwei
Tage, danach pro Tag bis zu 108 Euro mit Aufschlägen
für besonders schwere Vorwürfe. Schweden zahlt für die
ersten zwei Tage unrechtmäßiger Haft 315 Euro, das
heißt 162 Euro pro Tag, danach 70 Euro pro Tag. Dies ist
verglichen mit den 11 Euro, die wir seit 20 Jahren zah-
len, eine völlig andere Dimension.

Schauen wir nach Deutschland. Es gibt Fallgestaltun-
gen, in denen die Gerichte nicht gezwungen sind, als
Entschädigung den festen Betrag von 11 Euro festzule-
gen, sondern nach eigenem Ermessen entscheiden dür-
fen: Bei einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung durch
einen Kaufhausdetektiv bekam der Unschuldige 127 Euro
für einige Stunden. Ein Mensch ist durch Anwaltsver-
schulden in Untersuchungshaft gekommen. Das Landge-
richt Berlin hat entschieden, dass das 92 Euro pro Tag
wert ist. Eine unrechtmäßige Freiheitsentziehung durch
einen Polizisten war dem Landgericht Karlsruhe pro Tag
255 Euro wert. Für eine unrechtmäßige Freiheitsentzie-
hung in psychiatrischen Kliniken hat das OLG Olden-
burg pro Tag 320 Euro festgelegt, das Landgericht Ber-
lin 512 Euro pro Tag und das Oberlandesgericht
Stuttgart 219 Euro. Es gibt sogar Entscheidungen für
eine Entschädigung bei rechtmäßiger Haft. So hat das
Oberlandesgericht München bei einer rechtmäßigen Haft
in einer überbelegten Zelle 50 Euro pro Tag festgelegt.
Wenn wir uns diese Zahlen anschauen, dann merken wir,
wie jämmerlich die 11 Euro sind, die wir seit 20 Jahren
auszahlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deswegen haben wir jetzt nicht mehr auf die Länder
gewartet, die sich angeblich geeinigt haben, die aber kei-
nen Gesetzentwurf vorlegen. Wir warten auch nicht auf
die Koalition, die davon redet, dass man was machen
sollte. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir
fordern, dass endlich eine angemessene Entschädigung






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag
gezahlt wird, mindestens 50 Euro am Tag. Wir bitten
ganz herzlich darum, dass man über diesen Gesetzent-
wurf schnell diskutiert, schnell entscheidet, damit dieser
Skandal – 11 Euro pro Tag – ein Ende hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620514200

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Wir sind uns ja einig: 11 Euro pro Tag sind als Ent-
schädigung für eine unrechtmäßige Haft zu wenig. Wenn
man über das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädi-
gungsgesetz spricht, sollte man sich nicht nur auf die
pauschalierte Haftentschädigung für immateriellen
Schaden beschränken. Wenn man zu Unrecht in Haft ge-
nommen ist, gibt es den Ersatz des materiellen Scha-
dens: Verdienstausfall, Umzugskosten, Sachschäden und
Ähnliches. Erst seit dem Jahr 1970 gibt es für den imma-
teriellen Schaden eine finanzielle Entschädigung: 1970
waren es 10 DM, später waren es 20 DM, und jetzt sind
es 11 Euro. Wir sollten insgesamt überlegen, ob und in-
wieweit wir das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschä-
digungsgesetz reformieren müssen.

Es gibt möglicherweise einen kleinen Webfehler.
Wird ein Beschuldigter nach verbüßter Untersuchungs-
haft freigesprochen, spricht das erkennende Gericht dem
Grunde nach einen Schadensersatz zu. Über die Höhe
des Schadens befinden genau die Behörden, die dafür
gesorgt haben, dass der Beschuldigte in Untersuchungs-
haft gekommen ist, nämlich die Landesjustizbehörde
und die Staatsanwaltschaft. Das ist vielleicht nicht die
günstigste Konstellation für einen Schadensersatzan-
spruch. Also sollten wir uns auch darüber Gedanken ma-
chen.

Es ist richtig, dass es im europäischen Ausland teil-
weise andere Regelungen gibt. Eine hat der Kollege
Montag zu Recht angesprochen, nämlich die österreichi-
sche. Man muss vor seinem geistigen Auge noch einmal
das vorbeiziehen lassen, was Sie, Kollege Montag, ge-
sagt haben: Die Gerichte in Österreich sprechen in aller
Regel einen immateriellen Schaden von 100 Euro pro
Hafttag zu. Eigentlich wollen wir nicht, dass ein zu Un-
recht in Haft Befindlicher vor ein Gericht ziehen muss,
um seinen Schadensersatzanspruch geltend machen zu
können. Deswegen bin ich ein vehementer Verfechter
von Pauschalen.

Mir ist es lieber, ein zu Unrecht Inhaftierter weiß, er
bekommt in der Zukunft 25 Euro je Hafttag, und kann
sich damit ausrechnen, was er insgesamt und relativ
schnell bekommt. Überlegen Sie sich einmal, wie nach
dem Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsge-
setz der Rechtsweg ist: Das Gericht erkennt den Grund
zu. Dann macht der Verurteilte oder Freigesprochene bei
den Justizbehörden seinen Schaden geltend. Kommt er
dort nicht zum Erfolg, was die Höhe des materiellen
Schadens anbelangt, muss er vor das Landgericht ziehen.
In einem langwierigen Verfahren muss er dort seinen
Anspruch geltend machen. Da gibt es auch noch Aus-
schlussgründe, über die wir auch einmal reden müssten.
Also ist die Pauschale doch wohl der bessere Weg.

Doch welche Höhe ist da gerecht? Versuchen Sie ein-
mal, in einem österreichischen Urteil etwas dazu zu fin-
den, warum man dort in aller Regel 100 Euro zuspricht!
Die Höhe dieses Betrages ist willkürlich. Liebe Kolle-
ginnen, liebe Kollegen, für den, der zu Unrecht verfolgt
worden und in Haft gekommen ist, ist es mit dem Aus-
gleich des materiellen Schadens und mit dem Ausgleich
des immateriellen Schadens doch gar nicht getan. Wer
zahlt beispielsweise die Kosten für den Anwalt, wenn
ein Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einge-
stellt wird, weil sich ein Tatverdacht nicht erhärtet hat?
Der Bürger bleibt auf seinen Kosten für den Rechtsan-
walt sitzen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollten wir auch ändern!)


Ist das gerecht? Auch darüber könnte man durchaus ein-
mal diskutieren.

Auch andere Aspekte im Haftrecht könnten sehr wohl
einmal durchleuchtet werden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir heute Abend!)


Ich habe Folgendes immer wieder angesprochen: Ein
Strafhäftling ist verpflichtet, zu arbeiten. Er ist aber nicht
sozialversichert. Er sitzt 17 Jahre in Haft, arbeitet jeden
Tag, kommt aus der Haft heraus und hat keinen Renten-
anspruch. Die Allgemeinheit muss es ohnehin bezahlen.
Da wäre es doch viel besser, man würde für die Häft-
lingsarbeit Sozialversicherungsbeiträge leisten, sodass
er, wenn er aus der Haft herauskommt, ab einem be-
stimmten Alter einen Rentenanspruch hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sehen also: In der Strafprozessordnung und im
Haftrecht gibt es die eine oder andere Ungerechtigkeit,
über die zu diskutieren sich lohnen würde.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst einmal diskutieren wir über das eine!)


Machen wir uns nichts vor! Herr Kollege Montag, wir
können über die Höhe des immateriellen Schadens bei
Haft und damit der Entschädigung befinden, können ein
Gesetz verabschieden, können dabei Ihre Lösung auf-
nehmen: mindestens 50 Euro, in aller Regel 100 Euro
pro Tag. Aber wer zahlt das? Die Länder. Die Länder
werden, weil eine solche Änderung ihrer Zustimmung
bedarf, gerade nicht zustimmen. Deswegen ist der an-
dere Weg doch der viel geschicktere.

Ich habe damals die Bundesjustizministerin ange-
schrieben und gebeten, genau dieses Thema „Entschädi-
gung des immateriellen Schadens“ zu regeln. Sie hat mir
zu Recht geantwortet, es sei vielleicht besser, wenn man
erst einmal die Länder anschreibe, sich mit denen






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

zusammensetze und versuche, gemeinsam eine Lösung
zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

nichts!)

Eine solche Lösung zeichnet sich auch ab. In der
Herbstkonferenz haben sich die Landesjustizminister
darauf geeinigt, 25 Euro pro Hafttag für immateriellen
Schaden zuzusprechen. Jetzt kann man natürlich lange
darüber diskutieren, ob das gerecht ist oder ob das nicht
gerecht ist. Lassen Sie uns doch darangehen, für die
Haftentschädigung insgesamt eine gute Lösung zu fin-
den und das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädi-
gungsgesetz auch auf andere Probleme hin durchzuar-
beiten! Nehmen wir in Angriff, dass wir auch für
Häftlingsvergütungen Sozialversicherungsbeiträge leis-
ten, und machen uns Gedanken darüber, ob derjenige,
der zu Unrecht mit einem Strafverfahren überzogen wor-
den ist, einen Anspruch darauf haben soll, dass er für
seine Verteidigerkosten von der Staatskasse entschädigt
wird!

Auf diesem Wege mache ich gern mit. Darüber kön-
nen wir im Rechtsausschuss in allen Verästelungen dis-
kutieren. Aber auf die Schnelle, Kollege Montag, geht es
halt nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620514300

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg

van Essen.

(Beifall bei der FDP)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1620514400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe Ihnen, Herr Kollege Kauder, gerade aufmerk-
sam zugehört. Sie haben zu Recht auf viele Baustellen
hingewiesen. Ich habe nach Ihren Schlussworten das Ge-
fühl, dass Sie das deshalb getan haben, um deutlich zu
machen, dass Sie eine schnelle Änderung nicht wollen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So haben wir das auch gesehen!)


Wir als Liberale, als FDP-Bundestagsfraktion, wollen
genau diese Frage, nämlich: Wie entschädigen wir die
Menschen, die unberechtigt in Haft genommen worden
sind?, zu einer schnellen Lösung führen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb machen wir Druck. Deshalb bin ich dankbar da-
für, dass Druck nicht nur von meiner Fraktion, sondern
auch – der Beitrag des Kollegen Montag hat es gezeigt –
von den Grünen gemacht wird.


(Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Kollege Kauder.

(Heiterkeit)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620514500

Sie gestatten die Zwischenfrage. Damit hat der Kol-

lege Kauder das Wort.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1620514600

Frau Präsidentin, Sie haben es formgerecht gemacht.

Vielen Dank.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf ver-
ständigen, dass ich schon vor vielen Monaten die Bun-
desjustizministerin angeschrieben und gebeten habe,
sich dieses Problems anzunehmen? Das war die erste
Stufe des Drucks. Die zweite Stufe des Drucks ist ent-
standen, indem wir mit den Ländern verhandeln. Wenn
wir uns noch darauf einigen können, dass nicht der Bund
zahlt, sondern die Länder, und dass deswegen eine kon-
sensuale Lösung mit den Ländern die bessere ist, dann
sind wir uns schon ein Stückchen näher.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1620514700

Ja, wir sind da nicht auseinander. Sie haben vollkom-

men recht: Die Länder müssen zahlen. Es gibt auch Jus-
tizminister aus meiner Partei, die das Problem haben.
Das darf uns aber nicht daran hindern, hier im Bundestag
die richtige Politik voranzutreiben.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]: Das tun wir auch!)


Dass Sie dazu beigetragen haben – Sie haben es ange-
sprochen –, will ich gar nicht verschweigen. Ich bin ganz
froh darüber, dass wir in dieser Frage hier eine relativ
breite Mehrheit haben. Es ist auch gut, dass es so ist.

Ich will sagen, warum ich das gut finde. Mich be-
schäftigt aus meiner früheren Tätigkeit als Oberstaatsan-
walt immer noch ein Vorgang, mit dem ich nur am
Rande befasst war. Es handelt sich um einen britischen
Soldaten, der wegen Mordes nach der Vergewaltigung
einer jungen Frau verurteilt worden ist, mit seinen
Rechtsmitteln bis hin zum Bundesgerichtshof keinen Er-
folg hatte und lange gesessen hat, bis durch die Fort-
schritte bei den DNA-Untersuchungen festgestellt wer-
den konnte, dass er mit Sicherheit nicht der Täter war.
Ich habe sehr persönlich Verantwortung dafür gespürt,
dass wir einem jungen Menschen über zehn Jahre seines
Lebens von Staats wegen geraubt haben. Natürlich war
es für ihn als Engländer, der in Deutschland eine Haft
verbüßt hat, unglaublich schwierig, wieder sozial Fuß zu
fassen. Wenn man ein solches Einzelschicksal miterlebt
hat, wenn auch nur am Rande, fühlt man sich ganz be-
sonders unwohl angesichts der Höhe der Entschädigung,
die zurzeit gezahlt wird.

In einem Punkt bin ich allerdings anderer Meinung
als Sie, Herr Kauder. Sie haben sich hier sehr intensiv
für eine Entschädigung in Form einer Pauschale einge-
setzt und auch Argumente vorgetragen, die man ernst
nehmen muss. Sie sagten zum Beispiel, dass das zu Be-
rechenbarkeit führt, dass keine lange Verfahren nötig






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen
sind, dass möglicherweise schneller entschieden werden
kann. All das sind Argumente, die aus meiner Sicht für
Ihre Position sprechen.

Trotzdem will ich hier nicht verhehlen, dass ich per-
sönlich wie offensichtlich auch der Kollege Montag dem
österreichischen Modell sehr viel abgewinnen kann.
Hier entscheidet nämlich ein Gericht, also nicht eine
Strafverfolgungsbehörde wie die Staatsanwaltschaft
– für die ich früher tätig war –, in einem objektiven Ver-
fahren. Ich glaube, dass man damit auch den Besonder-
heiten der Einzelfälle besser gerecht werden kann. Wenn
man sich einmal die Fälle anschaut, stellt man fest, dass
sie sehr unterschiedlich sind und auch der Grad der Be-
troffenheit sehr unterschiedlich sein kann. Von daher
denke ich, dass es gerechter wäre, wenn jeder Einzelfall
betrachtet würde und erst dann entschieden würde, wie
viel Geld pro unberechtigt verbüßtem Hafttag bezahlt
wird. Ich glaube, dass wir uns auch mit diesem Modell
näher beschäftigen sollten. Wir sollten uns erkundigen,
welche Erfahrungen man in Österreich gesammelt hat.
Ich bekomme aus Österreich nur positive Rückmeldun-
gen.

Auch die Höhe der durchschnittlich gezahlten Sum-
men ist interessant. Die Justizminister wollen die Ent-
schädigungssumme auf 25 Euro anheben; das gilt aber
noch nicht einmal. Dagegen liegt diese in Österreich bei
durchschnittlich 100 Euro. Es ist also ganz offensicht-
lich, dass dort die Menschen besser wegkommen, als es
im Augenblick bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-
land der Fall ist, und selbst dann noch besser wegkom-
men würden, wenn sich die Justizminister mit ihrem
Vorschlag von 25 Euro durchsetzen würden.

Lieber Herr Kauder, Sie haben gesagt, es sind noch
viele Fragen zu klären. Ich würde mir wünschen, dass
wir dieses Thema noch vor der Bundestagswahl voran-
bringen und vielleicht sogar eine Lösung präsentieren
könnten. Sie haben schon darauf hingewiesen, dass es
nicht leicht sein wird, mit den Ländern eine Lösung zu
finden. Ich würde mir aber wünschen, dass wir wenigs-
tens den Versuch unternehmen. Deshalb sollten wir
schnell mit den Beratungen beginnen. Wir als FDP sind
jedenfalls dazu bereit. Ich persönlich mache auch Druck,
wie viele andere hier auch, weil Verbesserungen drin-
gend nötig sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620514800

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege

Dr. Matthias Miersch das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1620514900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, es bringt wenig, darüber zu philosophieren,
wem nun das Erstgeborenenrecht zukommt. Es bringt
aber viel, sich vor Augen zu führen, dass der 67. Deut-
sche Juristentag dieses Thema auf die Tagesordnung ge-
setzt hat, im weiteren Verlauf die Fraktionen der FDP
und der Grünen entsprechende Anträge eingebracht ha-
ben und die Bundesjustizministerin – auf Initiative des
Kollegen Kauder, wie er heute gesagt hat – die Länder
angeschrieben hat. Insofern befinden wir uns alle in ei-
nem Boot. Wir sollten jetzt den Schwerpunkt darauf le-
gen, hier sehr schnell tatsächlich zu einer Lösung zu
kommen.

Bei der Beratung dieses Themas lohnt es sich, wie ich
glaube, auf drei weitere Gesichtspunkte hinzuweisen:

Als Erstes muss es darum gehen, unberechtigte Haft
zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund sind die Perso-
naleinsparungen in den Ländern, die wir in den Justizap-
paraten, aber auch im Polizeidienst an vielen Stellen
feststellen können – darauf muss man an dieser Stelle
immer wieder aufmerksam machen –, ein Schritt in die
falsche Richtung. Dies im Blick müssen wir an die Län-
der appellieren, deutliche Personalaufstockungen vorzu-
nehmen.


(Beifall bei der SPD, der FDP und der LINKEN)


Zweitens geht es um die Frage – wir werden uns in die-
sem Haus heute noch mit diesem Thema beschäftigen –,
wie es mit den Rechten von Menschen bestellt ist, die in
Untersuchungshaft kommen. Ich bin froh, dass der von
den Koalitionsfraktionen vorgelegte Entwurf vieles Gute
beinhaltet und sicherlich dazu führen wird, dass die
Rechte von Beschuldigten besser wahrgenommen wer-
den können. Ich will an dieser Stelle nur sagen, dass es
wichtig ist, zum Beispiel frühzeitig einen Verteidiger zur
Verfügung zu stellen und Akteneinsichtsrechte zu ge-
währen, um eine effektive und schnelle Verteidigung zu
gewährleisten.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kommt doch erst heute Abend!)


Auch das gehört dazu, Herr Montag, wenn es darum ge-
hen soll, ungerechtfertigte Haft möglichst zu vermeiden,

Mein dritter Punkt bezieht sich auf die Themen, die
der Kollege Kauder angesprochen hat. Ich meine, dass
wir sie nicht einfach zur Seite schieben sollten, auch
nicht vor dem Hintergrund, dass wir eine schnelle Rege-
lung brauchen. Im Strafentschädigungsgesetz sind
durchaus Regeln enthalten, die wir uns einmal genauer
anschauen sollten: Warum beispielsweise kann eine Ent-
schädigung versagt werden, wenn es sich um ein Verfah-
renshindernis handelt? Dies ist eine Sache, die ein Be-
schuldigter nicht zu vertreten hat. Warum kann eine
Entschädigung in diesem Fall versagt werden? Auch
diese Punkte sollten wir in den Berichterstattergesprä-
chen aufgreifen. Ich jedenfalls hielte das für sinnvoll.

Schließlich sollten wir uns daran orientieren – der
Kollege Montag hat bereits darauf hingewiesen –, wie es
andere Länder handhaben. Ich finde es interessant, dass
die skandinavischen Staaten teilweise sogar von Stun-
densätzen ausgehen. Dies zeigt nämlich, dass die Haft
das einschneidendste Erlebnis im Leben sein kann. Ich
finde es auch interessant, dass in Dänemark sogar der






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Matthias Miersch
Tatvorwurf eine Rolle bei der Entschädigung spielt.
Auch dieser Punkt gehört in unsere Beratungen.

Es ist natürlich schwierig, eine Angemessenheitsklau-
sel zu finden. Allerdings könnte man bestimmte Dinge
an Vorwürfen festmachen. Es liegt ein Unterschied da-
rin, ob ich einer schweren Sexualstraftat oder eines rela-
tiv einfachen Delikts beschuldigt werde. Ich halte es für
richtig, an dieser Stelle den Blick aufs Ausland zu rich-
ten. Auf diese Weise finden wir vielleicht – ich sage:
vielleicht – noch vor der Bundestagswahl eine Regelung
mit den Justizministern der Ländern.

Ich bin der Überzeugung – ich erkläre dies hier im
Namen der SPD-Fraktion –, dass wir uns an vielen Stel-
len durchaus an Vorbildern, auch im europäischen Aus-
land, orientieren könnten, sodass bei gutem Willen auch
in relativ kurzer Zeit etwas erreicht werden kann. Des-
wegen möchte ich meine Redezeit heute nicht ausschöp-
fen. Ich appelliere an Sie, schnell an die Arbeit zu gehen.
Vielleicht wird dann in dieser Wahlperiode noch etwas
daraus.

Ich freue mich auf die Beratungen und danke Ihnen
für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620515000

Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege

Wolfgang Nešković.


(Beifall bei der LINKEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1620515100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zyp-
ries! Haftentschädigung sollte keine Frage des politi-
schen Standpunktes sein. Es geht hierbei nicht um
Grundsatzfragen zu Wirtschaft, Ökologie oder Sicher-
heit. Es geht auch nicht um Sozialpolitik. Es sind auch
keine spezifischen Wählergruppen betroffen. Es geht
noch nicht einmal um bedeutende finanzielle Belastun-
gen in den Haushalten. Man könnte daher meinen, dass
wir relativ schnell zu einem Konsens gelangen könnten.

Ich darf einmal daran erinnern, worum es eigentlich
geht: Es soll eine angemessene Entschädigung für zu
Unrecht erlittene Haft festgesetzt werden. Schäden füh-
ren zu Schulden, und Schulden müssen ausgeglichen
werden. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von
Staat und Bürger. Es gibt strafrechtliche Fehlentschei-
dungen, und es wird sie so lange geben, wie Menschen
über Menschen richten. Wir benötigen zweifellos ein
Strafrecht, und wir benötigen ebenfalls einen Strafvoll-
zug. Wir sind auf beide angewiesen, obwohl wir Fehler
nicht sicher vermeiden können. Weil die Gesellschaft
das Strafrecht braucht, ist es unvermeidbar, dass einzelne
Menschen zu Unrecht eingesperrt werden. Das ist ein
gesellschaftliches und auch ein moralisches Dilemma.

Unschuldig Inhaftierte zahlen dafür ganz persönlich
den Preis. Sie schultern eine schwere Last für die Gesell-
schaft. Wenn wir aber über Haftentschädigung reden,
dann sprechen wir meist nicht über das Dilemma, das ich
eben beschrieben habe, sondern über ein anderes. Es
geht darum, den immateriellen Wert der verlorenen Frei-
heit materiell – also in Form von Geld – zu bestimmen.
Das ist ein Griff ins Dunkle. Weil die Menschen emotio-
nal verschieden sind, fällt auch der in der Haft erlittene
immaterielle Schaden ganz verschieden aus.

Dazu kommt die Verschiedenheit der einzelnen Haft-
situationen. Der Wert der Freiheit lässt sich in Geld nicht
nachvollziehbar ermitteln. Das ist unser Problem, und
das ist auch unsere gesetzgeberische Hilflosigkeit. Wer
soll die Folgen dieser Hilflosigkeit tragen? Derzeit tra-
gen diese Folgen ausgerechnet diejenigen, die bereits die
Bürde des nicht zu vermeidenden Justizirrtums tragen:
die unschuldig Inhaftierten. Nun sagt man ihnen: Weil
wir den Wert der Freiheit nicht gut ermitteln können, ge-
ben wir euch pro Hafttag einen pauschalierten, noch
dazu einen beschämend geringen Betrag in Höhe von
11 Euro. – Das ist ungerecht und kleinlich,


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


und zwar nicht nur wegen der geringen Höhe des Pau-
schalbetrages, sondern auch weil schon die Pauschalie-
rung als solche ungerecht ist. Wenn der Wert der Freiheit
nur individuell zu bestimmen ist, dann muss auch seine
Bestimmung in Geld individuell erfolgen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wonach?)


– Herr Kollege Wieland, ich verrate Ihnen gerne, wo-
nach. Wir haben eine Rechtsprechung zu § 847 BGB.
Hierzu gibt es sogar Tabellen. All das lässt sich hier in
gleicher Weise etablieren.


(Dirk Manzewski [SPD]: Das geht doch gar nicht! Quatsch!)


Pauschal darf danach nur die Untergrenze der Bemes-
sung sein. Genau so sieht es der Antrag vor. Der Antrag
der Grünen sieht eine Untergrenze von 50 Euro vor. Das
erscheint mir – das hat die Diskussion deutlich gemacht –
im europäischen Ländervergleich auch akzeptabel. Wer
meint, das sei zu viel, sollte sich probeweise einmal
selbst in den Strafvollzug begeben. Im Rahmen des Ab-
geordnetenmandats sollte ein solches Praktikum zur Er-
fahrungserweiterung durchaus möglich sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Christine Lambrecht [SPD]: Waren Sie da drin?)


Der Antrag der Grünen hat demnach grundsätzlich die
Zustimmung aller Fraktionen verdient. Wir, die Linke,
jedenfalls stimmen diesem Antrag zu.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] und Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620515200

Ich schließe die Aussprache.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11434 und 16/10614 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Strukturreform des Versorgungsaus-
gleichs (VAStrRefG)


– Drucksache 16/10144 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/11903 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jörn Wunderlich
Irmingard Schewe-Gerigk

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.


Brigitte Zypries (SPD):
Rede ID: ID1620515300

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Die heute zu beschließende
Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist ein weite-
rer Baustein für ein modernes Familienrecht. Das Unter-
haltsrecht und das Verfahren bei den Familiengerichten
haben wir schon reformiert; das eheliche Güterrecht
wird noch folgen. Heute schaffen wir eine neue Grund-
lage für das wirtschaftlich bedeutendste Ausgleichssys-
tem nach einer Scheidung, nämlich die Verteilung der
Rentenansprüche, die in der Ehezeit von den Partnern
gemeinsam erworben wurden.

Eines war für mich in der Debatte wichtig, und es war
auch die Voraussetzung für den Gesetzentwurf, den wir
vorgelegt haben: Grundsätzlich hat sich der Versor-
gungsausgleich bewährt. Es ist völlig richtig, dass die
Familiengerichte von Amts wegen bei einer Eheschei-
dung die Versorgungsansprüche der Ehegatten ausglei-
chen. Das ist noch immer vor allem für Frauen wichtig.
Denn sie verzichten nach wie vor häufiger als Männer
auf eine berufliche Karriere während der Ehezeit und
kümmern sich um die Kinder. Dementsprechend bauen
sie keine eigenen Rentenansprüche auf. Es ist daher ein
Gebot der Gerechtigkeit, dass die Versorgungsansprü-
che, die während der Ehezeit entstanden sind, gleichmä-
ßig zwischen Mann und Frau geteilt werden.

Der Grundsatz stimmt also, und daran ändern wir des-
halb auch nichts. Was wir mit diesem Gesetzentwurf än-
dern, ist das Verfahren. Eine Reform war insbesondere
aus drei Gründen notwendig:
Der am stärksten auf der Hand liegende Grund war,
dass die sogenannte Barwert-Verordnung in einer Weise
undurchsichtig war, dass nur noch wenige Experten in
Deutschland überhaupt gewusst haben, wie die entspre-
chenden Berechnungen vorzunehmen sind.

Der zweite Grund war, dass die komplizierte Umrech-
nungssystematik, die in dieser Barwert-Verordnung zu-
grunde lag, die gerechte Aufteilung der Rentenanwart-
schaften oft sehr schwer machte und dadurch zu falschen
Ergebnissen führte.

Der dritte Punkt ist, dass die Versorgungen zum Zeit-
punkt der Scheidung nicht immer vollständig aufgeteilt
werden können. Weil die nachträglichen Korrekturmög-
lichkeiten selten genutzt werden, ist es so, dass vor allem
Frauen durch das geltende Recht benachteiligt werden.
Sie bekommen weniger, als ihnen eigentlich zusteht.

Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das ganze
System reformieren und uns etwas vollständig anderes
ausdenken. Wir haben deshalb die Realteilung innerhalb
der Versorgungssysteme vorgesehen. Das heißt bei-
spielsweise, die Ansprüche aus der gesetzlichen Rente
werden innerhalb dieses Systems und die Ansprüche aus
Betriebsrenten werden innerhalb des Betriebsrentensys-
tems geteilt. Dies gilt auch für Versicherungen usw. In-
nerhalb des jeweiligen Systems werden also neue Kon-
ten eingerichtet. Das bedeutet, dass direkt mit der
Scheidung eine vollständige Trennung erfolgt. Mann
und Frau können dann jeweils überblicken, wie hoch
ihre Rentenkonten bei den jeweiligen Versorgungsträ-
gern sind. Der einzige Nachteil, wenn Sie so wollen
– wenn man das überhaupt als Nachteil begreifen will –,
ist die Tatsache, dass sie dann von mehreren Versor-
gungsträgern Gelder erhalten. Aber das summiert sich
auf ihrem Girokonto wieder zur vollen Summe. Diese
interne Teilung jeweils zur Hälfte führt – davon bin ich
überzeugt – zu gerechteren Ergebnissen und verhindert
die sogenannte schuldrechtliche Ausgleichsrente.

Wir haben nicht nur das Verfahren sehr vereinfacht,
sondern auch den Gesetzestext selber. Wir haben hierbei
von vornherein mit der Gesellschaft für deutsche Spra-
che zusammengearbeitet. Der Gesetzentwurf, der heute
beschlossen wird, ist deshalb ein Musterprojekt der
Reihe „Verständliche Gesetze“. Das neue Recht fasst
den Text für die Praktiker gut zusammen. Wir hoffen,
dass künftig auch Bürgerinnen und Bürger, die sich da-
rüber informieren wollen, wie das Versorgungsaus-
gleichsverfahren abläuft, beim Lesen des Gesetzestextes
verstehen, was passiert. Das ist ja nun keineswegs immer
so.

Ich bin davon überzeugt, dass diese Reform nicht nur
sprachlich, sondern auch inhaltlich geglückt ist. Schon
für den Entwurf haben wir breite Zustimmung erfahren.
Alle Sachverständigen haben das Konzept einhellig be-
grüßt. Aber selbstverständlich gilt auch hier: Kein Ge-
setzentwurf der Bundesregierung ist so gut, dass er nicht
durch das segensreiche Zutun des Parlaments noch bes-
ser werden könnte.


(Beifall im ganzen Hause)


So ist es auch hier.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Brigitte Zypries
Auf Empfehlung des Rechtsausschusses haben wir
Änderungen vorgenommen: Erstens. Auch bei einer kur-
zen Ehezeit kann jetzt auf Antrag ein Versorgungsaus-
gleich durchgeführt werden. Zweitens. Die Übergangs-
zeit für Altfälle haben wir auf ein Jahr verkürzt. Das
heißt, die Praxis muss nicht lange mit zwei unterschied-
lichen Systemen arbeiten. Drittens haben wir den elek-
tronischen Datenaustausch zwischen den Versorgungs-
trägern und den Familiengerichten ermöglicht. Wir
haben auch – das hat mich gefreut; dafür danke ich dem
Parlament besonders – die vollständige Gleichstellung
von Lebenspartnerschaften und Ehegatten im Versor-
gungsausgleich erlangt.


(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich möchte all denen sehr
herzlich danken, die mit ihrem Engagement und ihrer
Arbeit dazu beigetragen haben, dass dieser Entwurf
heute verabschiedet werden kann. Ich möchte den Kolle-
ginnen und Kollegen im Parlament für ihre engagierte
Mitarbeit danken. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern im Ministerium danken, die einen wirklich
harten Job gemacht haben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke all jenen, die uns mit ihrem Sachverstand bei
diesem Projekt begleitet haben.

Wir haben immerhin mehr als zwei Jahrzehnte über
eine Reform des Versorgungsausgleichs diskutiert. Ich
persönlich betreibe dieses Projekt schon seit fünf Jahren
mit großem Nachdruck. Ich bin deshalb sehr froh, dass
es heute gelingt, diesen Gesetzentwurf in zweiter und
dritter Lesung zu verabschieden. Ich glaube, dies ist ein
Ergebnis, auf das dieses Haus, wir alle zu Recht stolz
sein können.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620515400

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Sabine

Leutheusser-Schnarrenberger.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1620515500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Der Versorgungsausgleich hat im Rahmen der
Scheidung eine extrem wichtige Aufgabe: Er trägt ent-
scheidend zur eigenständigen Alterssicherung der ge-
schiedenen Ehepartner bei. Er soll natürlich auch helfen,
Altersarmut zu verhindern, und eine gerechte Teilhabe
an den während der Ehe erworbenen Rentenrechten er-
möglichen.

Ich möchte einige Zahlen nennen, um die Bedeutung
des Versorgungsausgleichs hervorzuheben. Die Zahl der
Scheidungen lag in Deutschland im Jahr 2007 bei
180 000. Bei den Folgesachen, die mit den Scheidungs-
urteilen entschieden wurden, liegt der Versorgungs-
ausgleich mit circa 125 000 Verfahren klar an der Spitze.
Auch bei den Verfahren, die vor der Scheidung durch ei-
nen gerichtlichen Vergleich geregelt wurden, nimmt der
Versorgungsausgleich mit circa 27 000 Fällen den ersten
Rang ein. Alles in allem sehen sich jährlich rund
300 000 Bürgerinnen und Bürger mit Fragen des Versor-
gungsausgleichs konfrontiert; sie sind unmittelbar be-
troffen. Deshalb halten wir das Instrument des Versor-
gungsausgleichs – Frau Ministerin, auch Sie haben das
gesagt – für gut, richtig und unverzichtbar.

Wir haben im Gesetzgebungsverfahren die Bemühun-
gen unterstützt, beim Versorgungsausgleich zu den not-
wendigen Strukturreformen zu kommen, über die die
Fachwelt schon seit vielen Jahren nachdenkt und wozu
sie auch Vorschläge unterbreitet hat. Wir stimmen die-
sem Gesetzentwurf zu, weil wir seine Zielrichtung für
richtig halten.


(Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD])


Die wichtigste Änderung ist die Einführung des
Grundsatzes der sogenannten internen Teilung. Dieser
Grundsatz führt dazu, dass es nun möglich ist, beim Ver-
sorgungsträger zu bleiben. Viele Unübersichtlichkeiten
werden mit diesem Gesetzentwurf beseitigt. Ich glaube,
soweit wir anwaltlich tätig sind, möchten wir alle die
Barwert-Verordnung nicht unbedingt weiterhin anwen-
den. Dieser Aufgabe werden wir mit diesem Gesetzent-
wurf enthoben.

Ganz wichtig ist die Vereinbarung, die auf der Zielge-
raden ermöglicht wurde: Mit der Einrichtung einer pri-
vaten Versorgungsausgleichskasse, die mit Inkrafttreten
des Gesetzes erfolgen soll, muss sich nicht zwingend die
gesetzliche Rentenversicherung befassen; kein Versor-
gungsträger übernimmt die damit verbundene zusätzli-
che Arbeit gerne. Wir haben in der Beschlussempfeh-
lung hervorgehoben, dass die Einrichtung einer privaten
Versorgungsausgleichskasse mit der Änderung des
Sozialgesetzbuches zum 1. September dieses Jahres
möglich wird. Mit der Schaffung eines eigenen Instituts
haben wir eine sachlich und fachlich gute Lösung gefun-
den, die allen am Versorgungsausgleich Beteiligten
nützt.

Neben denen, die Ansprüche geltend machen und
diese durchsetzen wollen – sie erfahren jetzt schon bei
der Scheidung, was sie zu erwarten haben –, dürfen wir
nicht die Situation der Versorgungsträger vergessen. Da-
rum haben wir uns schon während der Beratungen da-
rüber verständigt, wie wir mit Ehen von kurzer Dauer
umgehen. Wir haben ausdrücklich nicht die kurze Dauer
genannt, sondern drei Jahre Ehezeit. Wir haben nach der
Anhörung der Sachverständigen im Konsens eine gute
Lösung gefunden: Der Versorgungsausgleich findet auf
Antrag statt – dadurch werden wir der Situation der ein-
zelnen Betroffenen am ehesten gerecht –; ansonsten fin-
det kein Versorgungsausgleich statt. Dadurch verhindern
wir eine unnötige Arbeitsbelastung der Versorgungsträ-
ger, wenn am Ende nur ein geringfügiger Ertrag für den
Versorgungsausgleichsberechtigten steht.

In der Tat ist es gut – Frau Ministerin, Sie haben es
begrüßt –, dass das Parlament Änderungen vornimmt
und dass es uns kurz vor Abschluss der Beratungen und
Gespräche im Kreis der Berichterstatter gelungen ist, im






(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Versorgungsausgleichsgesetz eine Gleichstellung mit
den Lebenspartnern – nicht durch eine generelle Rege-
lung für Lebenspartnerschaften über dieses Gesetz hi-
naus – zu erreichen.

Ich danke allen, die sich noch in letzter Sekunde dafür
eingesetzt haben, dass die Koalition zugestimmt hat. Wir
hatten Änderungsanträge vorgelegt, die Bestimmung
entsprechend anzupassen. Wir waren uns im Kreis der
Berichterstatter alle sehr schnell einig, dass es keine gu-
ten Gründe gibt, diese Anpassung nicht vorzunehmen.

Deshalb glaube ich, dass nach den Beratungen alles in
allem ein guter Gesetzentwurf gelungen ist. Deshalb
stimmen wir als FDP-Fraktion aus Überzeugung dieser
Strukturreform zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620515600

Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Ute

Granold.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1620515700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Die Große Koalition hat im Bereich des Familienrechts
in dieser Legislaturperiode vieles erreicht, auf das wir
stolz sein können: die Unterhaltsreform, die FGG-Re-
form mit dem Familienverfahrensgesetz. Die Reform
des Güterrechts steht an. Wir hatten hierzu heute Morgen
ein erweitertes Berichterstattergespräch, sodass wir auf
einem guten Weg sind. Heute beraten wir die Struktur-
reform im Versorgungsausgleich. Das ist in der Tat eine
nicht einfache Materie, und die Praxis wird sich freuen,
wenn sie ab September mit einem neuen Recht – sowohl
im prozessualen als auch im materiellen Recht – arbeiten
kann.

Bei einer Scheidung – die Zahl der Scheidungen und
die Fälle, die zu regeln sind, hat die Kollegin Leutheus-
ser-Schnarrenberger gerade eben angeführt – werden die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien durch das Un-
terhaltsrecht, das Güterrecht, aber auch durch den Ver-
sorgungsausgleich – und das möglichst in einem Ver-
bundsystem – geregelt. Das ist gut so.

Wir haben 1977 eine große Familienrechtsreform
durchgeführt und das Institut des Versorgungsausgleichs
eingeführt und damit – das ist insbesondere für die
Frauen sehr gut – eine eigenständige Alterssicherung im
Falle einer Scheidung auf den Weg gebracht. Nach dem
jetzigen Gesetz ist es noch so, dass alle Anwartschaften
während der Ehezeit bilanziert werden, dynamische und
statische Anwartschaften vergleichbar gemacht und um-
gerechnet werden – die Barwert-Verordnung wurde an-
gesprochen – und dann ein Ausgleich herbeigeführt
wird.

In der Vergangenheit und auch heute noch gibt es
viele Ungerechtigkeiten oder angestaute Verfahren, weil
eine Möglichkeit der Berechnung nicht gegeben war.
Eine Reihe von Verfahren wurde in den schuldrechtli-
chen Versorgungsausgleich verwiesen. Das ist in der Tat
ein schwieriges Kapitel. Viele Verfahren stauen sich, und
viele Jahre nach der Scheidung wird dann erst der
schuldrechtliche Versorgungsausgleich wiederum auf
Antrag einer Partei durchgeführt. Dann kann es, wenn
eine Scheidung nicht einvernehmlich erfolgt ist, erneut
zu Spannungen kommen, weil nicht geklärt ist, ob da-
mals im Zuge der güterrechtlichen Auseinandersetzung
richtig gearbeitet wurde und man nicht doch noch einen
Anspruch hat. Es ist also ganz schwierig. Deshalb sollte
man dafür sorgen, dass mit der Scheidung alles geregelt
wird, was zu regeln ist.

Wir haben in den letzten Jahren einen Ausbau der Al-
tersversorgung herbeigeführt. Das ist der Wille der Poli-
tik gewesen. Wir haben die betriebliche Altersversor-
gung, aber auch die private Altersversorgung ausgebaut.
Bei uns besteht Einigkeit, dass der Grundsatz der Halb-
teilung beim Ausgleich der Anwartschaften während der
Ehezeit nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir ei-
nen Wechsel in der Berechnung und im System vorneh-
men. Das ist uns, denke ich, mit dem jetzigen Gesetzent-
wurf gelungen.

Der BGH hat – die Frau Ministerin hat darauf hinge-
wiesen – bereits 2001 angemahnt, dass das Gesetz für
die Praxis nicht mehr verständlich ist, sondern nur noch
Insider mit der Materie umgehen können. Anwälte und
Richter haben ihre Probleme, und die Menschen, für die
es eigentlich gemacht wurde, haben mehr denn je ein
Problem, das, was für ihr weiteres Leben entscheidend
ist, zu verstehen.

Es gab eine Expertenkommission, der dann ein Refe-
rentenentwurf folgte. Es hat lange Zeit gedauert, bis die-
ser Gesetzentwurf endlich beraten und verabschiedet
werden konnte. Der Grundsatz dieses Gesetzentwurfes
ist, eine gerechte Teilung und vor allen Dingen Anwen-
derfreundlichkeit zu gewährleisten.

In der Sachverständigenanhörung – es war eine sehr
gute Sachverständigenanhörung, auf hohem Niveau –
wurde ein breites Spektrum von Sachverständigen aus
den verschiedensten Sparten gehört. Wir haben gute An-
regungen vom Bundesrat und eine Vielzahl von Anre-
gungen aus der Fachwelt erhalten, sodass wir heute fest-
stellen können, dass wir ein fachlich fundiertes Gesetz
auf den Weg bringen.

Es wurde eine Reihe von Neuerungen angesprochen.
Wesentlich ist die interne Teilung, das heißt, jede An-
wartschaft, die in der Ehezeit erwirtschaftet wurde, wird
im jeweiligen Versorgungssystem geteilt. Jeder be-
kommt einen direkten Anspruch gegenüber dem jeweili-
gen Versorgungsträger. Das gilt übrigens auch für die
Versorgung der Bundesbeamten; für Landesbeamte liegt
die Gesetzgebungskompetenz aufgrund der Föderalis-
musreform bei den Ländern.

Die Vorteile: Eine gerechte Teilhabe wird garantiert,
es muss keine Verrechnung mehr stattfinden, Prognose-
rechnungen, die nicht ganz zuverlässig sind, werden ent-
behrlich. Zum Zeitpunkt der Scheidung erfolgt einfach
eine Teilung. Dann weiß jeder zum Zeitpunkt der Schei-






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
dung, woran er ist und welche Anwartschaften für ihn
begründet werden. Es gibt auch die Möglichkeit der
externen Teilung, und zwar dann, wenn der ausgleichs-
berechtigte Ehegatte dies wünscht oder wenn kleinere
Anwartschaften auszugleichen sind und der Versor-
gungsträger dies beantragt. Das ist in Ordnung. Zur Aus-
gleichskasse komme ich gleich.

Es gibt einen Ausschluss des Versorgungsausgleichs
bei einer Ehe von kurzer Dauer. Wir haben in den Bera-
tungen einen Zeitraum von drei Jahren festgelegt; das ist
angemessen. Nach einer Ehe, die nicht länger als drei
Jahre bestanden hat, kann auf Antrag der Versorgungs-
ausgleich durchgeführt werden. Es ist mir ganz wichtig,
an dieser Stelle zu sagen, dass dafür kein Anwaltszwang
besteht, sodass für den Antragsteller keine Kosten ent-
stehen; er ist nicht verpflichtet, hierfür einen Anwalt zu
beauftragen.

Das Instrumentarium Ausschluss bei Geringfügigkeit
bzw. bei grober Unbilligkeit ist nach wie vor im Gesetz
verankert. Das ist auch gut so.

Über den Wegfall des Rentnerprivilegs haben wir
lange diskutiert. Es gibt derzeit die Möglichkeit, wenn
jemand schon in Rente ist und dann das Scheidungsver-
fahren durchgeführt wird, dass die Kürzung erst erfolgt,
wenn auch der Ausgleichsberechtigte in Rente geht. Das
soll abgeschafft werden, weil es eine Regelung zulasten
der Versichertengemeinschaft und zulasten derer, bei de-
nen kurz vor dem Renteneintritt über den Versorgungs-
ausgleich entschieden wird, ist. In der Anhörung war
einhellige Meinung, dies abzuschaffen.

Nun ist es so, dass es Berufsgruppen mit besonderen
Dienstzeiten und Altersgrenzen gibt, zum Beispiel – ich
möchte es an dieser Stelle ansprechen – die Soldaten, die
für uns eine ganz wichtige Personengruppe sind. Hie-
rüber gab es viele Gespräche mit den Verteidigungs-
politikern, mit dem Bundeswehr-Verband und mit dem
Reservistenverband. Es wurden sogar Anregungen vor-
getragen, wie der Gesetzentwurf formuliert werden
könnte. Wir haben es uns nicht einfach gemacht; wir ha-
ben lange darüber diskutiert. Aber es gibt keine Mög-
lichkeit, die Berufsgruppe der Soldaten herauszustellen
und ihnen ein Privileg einzuräumen. Das wäre eine Un-
gleichbehandlung gegenüber all denen, die einer Berufs-
gruppe mit einer besonderen Altersgrenze angehören.
Wir haben letztendlich im Hinblick auf den Gleichbe-
handlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz, Gleichbe-
handlung, gesagt: Wir müssen dabei bleiben. Allerdings
gibt es eine Abmilderung durch § 35 Versorgungs-
ausgleichgesetz. Dort steht, dass eine Kürzung bis zur
Höhe des mit der besonderen Altersgrenze verbundenen
Nachteils ausgesetzt wird. Das ist eine sehr komplizierte
Materie. Dies ist eine Möglichkeit der Abmilderung.

Die Kollegin von der FDP hat die Ausgleichskasse
angesprochen. Es war uns ein sehr großes Anliegen, dass
man, wenn es eine externe Teilung gibt und die Deutsche
Rentenversicherung nicht eingeschaltet werden soll, ei-
nen Auffangversorgungsträger als Zielversorgung findet.
Hier haben wir durch den Druck aus dem Parlament er-
reicht, dass es eine Ausgleichskasse gibt, die zum
1. September 2009 installiert wird. Dies geschieht
gleichzeitig mit der Änderung des SGB IV, wobei noch
einige technische Fragen zu klären sind. Es wird eine
Pensionskasse in der Rechtsform eines Versicherungs-
vereins auf Gegenseitigkeit sein. Das war im Übrigen
auch ein Anliegen der Sozialpartner, das heißt der Ar-
beitgeber und der Gewerkschaften.

Die Übergangsvorschriften wurden angesprochen.
Wie auch beim FamFG haben wir darüber in der Anhö-
rung sehr intensiv diskutiert. Uns war wichtig, dass eine
Harmonisierung zwischen FamFG und Versorgungsaus-
gleich stattfindet. Ich denke, das haben wir mit den
Sachverständigen gut auf den Weg gebracht.

Es laufen viele Scheidungsverfahren, bei denen der
Versorgungsausgleich bereits abgetrennt oder ausgesetzt
wurde oder ruht. Es gibt aber auch Verfahren, bei denen
jetzt die Scheidung durchgeführt wird und aufgrund des
Ruhens etc. erst nach dem 1. September 2009 über den
Versorgungsausgleich entschieden wird. Wir haben ge-
sagt: Alle diese Verfahren sollen eingebunden werden.
Wir wollen damit erreichen, dass es keine Verfahren
gibt, bei denen altes und neues Recht jahrelang parallel
angewandt werden.

Wichtig ist auch, dass mehr denn je für die Ehepartner
die Möglichkeit besteht, Vereinbarungen im Rahmen der
Scheidung zu treffen. Das heißt, es gibt die Möglichkeit,
Regelungen zum Unterhalt, zum Güterrecht, aber auch
zum Versorgungsausgleich über notarielle Vereinbarun-
gen zu finden und damit viele individuelle Freiheiten zu
lassen. Allerdings muss geprüft werden, ob diese Verein-
barungen interessengerecht sind. Im Verfahren muss also
eine Prüfung erfolgen. Allerdings bedarf dies nicht wie
bislang einer Genehmigung des Familiengerichts, wenn
innerhalb eines Jahres nach Beurkundung die Scheidung
eingereicht wird.

Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsprivileg
sagen. Auf Antrag unterbleibt eine Rentenkürzung,
wenn der ausgleichspflichtige Rentenbezieher Unter-
haltsleistungen erbringt.

Im geltenden Recht ist es so, dass die Versorgung der
ausgleichspflichtigen Person in voller Höhe gekürzt
wird, nach neuem Recht nur noch in Höhe des Unter-
haltsanspruchs, der bei ungekürzter Versorgung bestehen
würde. Wir haben entschieden – das wurde bereits ange-
sprochen –, das Unterhaltsprivileg auch auf die Lebens-
partner auszudehnen. Diese Regelung war in der bisheri-
gen Fassung des Gesetzentwurfes nicht enthalten. Auch
im derzeitigen Lebenspartnerschaftsgesetz galt das Un-
terhaltsprivileg nicht. Für die Union kann ich Ihnen an
dieser Stelle sagen: Jetzt ändern wir das.

Mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes, der
auch Versichertenrenten und Rentenanwartschaften, die
ein Eigentumsrecht darstellen, umfasst, gibt es nach un-
serem Dafürhalten keinen Grund, diese Personengruppe
weiterhin vom Unterhaltsprivileg auszuschließen.

Lassen Sie mich zum Schluss dem Justizministerium
für die sehr konstruktiven Beratungen und die Zuarbeit
Dank sagen. An dieser Stelle möchte ich ausnahmsweise
eine Person herausgreifen, und zwar den Referatsleiter
Herrn Schmid, der, wie ich sehe, auch hier ist. Er ist der-






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
jenige, der dafür federführend verantwortlich war. Ohne
d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1620515800
Herr Schmid ist der leibhaftige Versor-
gungsausgleich, und er hat seine Arbeit hervorragend
gemacht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Der fleischgewordene Versorgungsausgleich!)


– Genau, der fleischgewordene Versorgungsausgleich.

Ich freue mich sehr, dass alle Fraktionen nach den ab-
schließenden Beratungen im Rechtsausschuss signali-
siert haben, dem Gesetzentwurf heute zustimmen zu
wollen, sodass zum 1. September 2009 ein neuer Versor-
gungsausgleich in Kraft treten kann. Wir haben im Inte-
resse der Menschen ein gutes Gesetz auf den Weg ge-
bracht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620515900

Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620516000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Szenen aus dem Gerichtssaal, die das Fernsehen nicht
zeigt – ich habe das auch schon im Ausschuss vorgetra-
gen –: Beim Scheidungstermin übergibt der Richter den
noch verheirateten Ehepartnern ein dreiseitiges Rechen-
werk, an dessen Ende steht, wie viele Rentenanwart-
schaften von dem einen Ehegatten auf den anderen über-
tragen werden. Dann sagt der Richter: Fragen Sie mich
nicht, wie sich diese Berechnung zusammensetzt. Das
werden Ihnen Ihre Anwälte erklären. Daraufhin werden
die Anwälte bleich. – Das ist der Normalfall. Solche
Szenen dürften bald der Geschichte angehören.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Hoffentlich!)


– Ja, hoffentlich.

Die bislang geltenden Regelungen zum Versorgungs-
ausgleich – das ist schon angesprochen worden – wurden
von Wissenschaft und Praxis einheitlich als kaum be-
herrschbar, undurchschaubar und im Ergebnis ungerecht
empfunden. Leidtragende waren in der Regel Frauen.
Eine Rechtsmaterie, die selbst von Experten als kaum
beherrschbar bezeichnet wird, führt letztlich an die
Grenzen der Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips, näm-
lich des Bestimmtheitsgebots. Somit war eine grundle-
gende Änderung dieser Vorschrift überfällig und gebo-
ten.

In der endgültigen Fassung des Gesetzentwurfes
wurde eines der möglichen Reformkonzepte aufgegrif-
fen, und dieses wurde – so weit ist sich die überwie-
gende Mehrheit der Fachwelt einig – schlüssig und klar
formuliert und gut strukturiert umgesetzt. Es handelt
sich also um einen guten Gesetzentwurf.


(Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


Dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten wir nicht
zustimmen können. Es gab zu viele kritikwürdige
Punkte, die unter anderem auch von den Sachverständi-
gen in der öffentlichen Anhörung aufgegriffen wurden.
Im Laufe der sich daran anschließenden Debatten – an
dieser Stelle möchte auch ich mich bei den Berichterstat-
tern für die sachliche Arbeit in den Gesprächsrunden be-
danken – wurden nahezu alle diese Kritikpunkte ausge-
räumt, sodass der Gesetzentwurf nun stimmig ist und
auch besonderen Fallkonstellationen angemessen Rech-
nung trägt.

Der Gesetzentwurf stellt eine erhebliche Verbesse-
rung und Vereinfachung der Rechtslage dar, nicht nur für
Anwälte und Gerichte, sondern auch für den Rechtsun-
kundigen; er ist nämlich besser zu durchschauen. Ein
wesentlicher Vorteil ist, dass keine Vergleichbarma-
chung an sich nicht vergleichbarer Ansprüche stattfindet.
Die Barwertverordnung – auch dieses Stichwort ist
schon gefallen – gehört der Geschichte an. Bestehende
Ansprüche werden dort ausgeglichen, wo sie tatsächlich
bestehen, also innerhalb der gesetzlichen Rentenversi-
cherung, innerhalb der betrieblichen Altersversorgung.
Auch wenn dies insbesondere den privaten Versorgungs-
trägern ein gewisses Mehr an bürokratischem Aufwand
abverlangt – später wird er ein wenig ausgeglichen –, ist
dies im Ergebnis für alle Beteiligten, insbesondere für
die rechtsunkundigen scheidungswilligen Bürgerinnen
und Bürger, nachvollziehbar und verständlich.

Soweit eine externe Teilung mit Zustimmung des Be-
rechtigten erfolgt – auch das ist bereits angesprochen
worden –, haben wir uns selbst die Aufgabe gestellt – so
steht es auch in der Beschlussempfehlung –, bis zum In-
krafttreten am 1. September 2009 eine entsprechende
Ausgleichskasse gesetzlich zu verankern, damit auch in-
soweit Rechtssicherheit herrscht.

Geblieben ist die Ungleichbehandlung im Rahmen
der nachträglichen Anpassung von Anwartschaftsüber-
tragungen. Dort werden nur die Regelsicherungssysteme
erfasst. Warum nicht auch betriebliche und private Al-
tersversorgungen? Oder sollte die nachträgliche Anpas-
sung vielleicht nicht in Gänze entfallen?

Unter dem Strich sind die Gründe, welche bei der Ab-
stimmung zu einer Enthaltung geführt hätten, letztlich
doch noch, vorgestern Abend, entfallen, nachdem die
Opposition – das ist im Zusammenhang mit den entspre-
chenden Anträgen angesprochen worden – noch einmal
darauf gedrängt hatte, dass die eingetragenen Lebens-
partnerschaften genauso behandelt werden wie Ehe-
schließungen. Vorgestern hat sich die Große Koalition
auf Art. 14 Grundgesetz besonnen und dem Ansinnen
der Opposition Folge geleistet. So kann das Gesetz doch
noch mit den Stimmen des ganzen Hauses verabschiedet
werden.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
Es bleibt die Frage der Renten der geschiedenen
Frauen aus der DDR; aber das ist an anderer Stelle zu
klären.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620516100

Nun hat das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-Ge-

rigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Das Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsaus-
gleichs ist ein wichtiges familienrechtliches Reformpro-
jekt. Wir haben damit schon unter Rot-Grün begonnen,
und wäre uns nicht der Kanzler abhandengekommen,


(Heiterkeit – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für den wäre das auch teuer geworden!)


hätten wir es unter Rot-Grün wahrscheinlich auch been-
det. Nun kommt dieses Projekt zum Abschluss, und das
ist gut so.

Der Versorgungsausgleich bei einer Scheidung ist vor
allem für die Alterssicherung von Frauen von erhebli-
cher Bedeutung. So profitierten 2005 mehr als 2 Millio-
nen Versicherte davon. Ich begrüße sehr, dass wir beim
Familienrecht erneut einen fraktionsübergreifenden
Konsens gefunden haben. Die Reform des viel zu kom-
plizierten Versorgungsausgleichsrechts war ein Mam-
mutprojekt. Ein neues System war aber auch deswegen
erforderlich, weil die Bedeutung betrieblicher und priva-
ter Altersvorsorge zugenommen hat.

Beim Versorgungsausgleich nach Scheidung der Ehe
bzw. Aufhebung der Lebenspartnerschaft werden die Al-
tersversorgung bzw. die entsprechenden Anwartschaften
aufgeteilt. Im bisherigen System ist nur bei der gesetzli-
chen Rentenversicherung ein Ausgleich vorgesehen. Das
ist kompliziert und führte zu Ungerechtigkeiten, gerade
im Hinblick auf die Frauen; denn meist sind ja die
Frauen ausgleichsberechtigt. Die hohe Zahl der einge-
reichten Petitionen hat deutlich gemacht, dass die Idee
der gleichen Teilhabe an der Versorgung nicht durchge-
hend umgesetzt wurde und viele Menschen unter den
Unzulänglichkeiten des bisherigen Rechts zu leiden hat-
ten. Das werden wir jetzt ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Danke schön, Herr Kollege.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen bin ich da! – Heiterkeit – Weiterer Zuruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn du mir noch erklärst, warum Herr Gehb zustimmt, bin ich ganz zufrieden!)

– Der könnte auch klatschen. – So ließ sich das Problem
der Vergleichbarmachung der verschiedenen Ansprüche
nicht befriedigend lösen. Frauen hatten häufig keinen
gerechten Anteil, insbesondere nicht an den Betriebsren-
ten des geschiedenen Ehegatten.

Das Thema hat darüber hinaus eine Ost-West-Rele-
vanz. Der Versorgungsausgleich ist gerade für die Al-
terssicherung geschiedener Frauen in Westdeutschland
bedeutsam. Aufgrund des Fortbestehens des Allein-
ernährermodells stammten 2005 mehr als ein Drittel ih-
rer Rentenansprüche, immerhin 260 Euro im Monat, aus
dem Versorgungsausgleich. Bei den Frauen in Ost-
deutschland – die überwiegend durchgängig erwerbstä-
tig waren – ist es nur etwas mehr als halb so viel.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alte System war
selbst für Spezialistinnen und Spezialisten nicht mehr
durchschaubar. Herr Gehb hat es, wie er mir vorhin ge-
sagt hat, auch nicht verstanden.


(Heiterkeit des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was? Sie verstehen auch nicht die kleinste Ironie! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Selbst wenn es so wäre, würde er es nicht zugeben!)


Das neue System ist gerechter, und der Gesetzentwurf
ist verständlicher und transparenter. Statt eines Einmal-
ausgleichs über die gesetzliche Rentenversicherung wird
die Teilung eines jeden einzelnen Anrechts, innerhalb
des jeweiligen Systems, eingeführt. So werden auch
Leistungen bzw. Ansprüche aus Betriebsrenten hälftig
geteilt, wofür die ausgleichsberechtigte Person ein eige-
nes Konto beim jeweiligen Träger erhält. Jede Einzelver-
sorgung wird also zwischen den Ehegatten entsprechend
der Ehezeit geteilt und innerhalb des gleichen Systems
saldiert. Dadurch entfallen Transferverluste und Progno-
sefehler. Durch diese Regelung schaffen wir echte Teil-
habegerechtigkeit.

Nach der Sachverständigenanhörung im Rechtsaus-
schuss wurden weitere Verbesserungen in den Gesetz-
entwurf übernommen, die auch unsere Anliegen waren.
Ich nenne nur die Antragslösung bei kurzer Ehedauer,
also bei weniger als drei Jahren, und die Erweiterung des
Ausgleichs in Bagatellfällen und bei nicht abgeschlosse-
nen Altfällen.

Im Bericht des Rechtsausschusses ist im Übrigen auf
Wunsch der Grünen eine Klarstellung vorgenommen
worden. Darin kommt die Absicht des Gesetzgebers zum
Ausdruck, die Kosten für die Betroffenen in bestimmten
Fällen zu begrenzen.

Abschließend möchte ich eine Änderung besonders
hervorheben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir uns
doch noch darauf verständigen konnten, die Lebenspart-
nerschaften nahezu vollständig gleichzustellen und die
Ausnahmen von den Härtefallregelungen zu streichen.
Die CDU/CSU war ja bis kurz vor Schluss der Meinung,
ein bisschen Diskriminierung dürfe bei eingetragenen
Partnerschaften schon sein.






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wollen sie das immer! – Ute Granold [CDU/CSU]: Ohne Polemik geht es nicht!)


Ich freue mich, dass sich hier die Kraft unserer Argu-
mente durchgesetzt hat. Ich danke auch Ihnen, Frau Gra-
nold, für Ihre Intervention. Es ist Ihnen vielleicht doch
ein bisschen peinlich; denn in Ihrer Pressemitteilung
stand davon gar nichts. Ich glaube, die Kraft der Argu-
mente hat sich durchgesetzt, und ich denke auch, dass
die von Ihnen ursprünglich bevorzugte Regelung vor
dem Bundesverfassungsgericht möglicherweise keinen
Bestand gehabt hätte.


(Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es gibt wirklich keine rechtlichen und sachlichen
Gründe für einen solchen Anachronismus. Darum danke
ich Ihnen für die Beratungen. Wir sind froh, dass wir
dieses Gesetz jetzt so einvernehmlich beschließen kön-
nen.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620516200

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1620516300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Schewe-Gerigk, unser
Kanzler ist uns nicht aus Furcht vor dem Versorgungs-
ausgleich abhandengekommen. Dafür hätten wir ihn un-
ter Umständen sogar als Sachverständigen benennen
können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, das gesamte Haus wird
heute der Strukturreform des Versorgungsausgleichs zu-
stimmen: die Koalitionsfraktionen, die FDP, die Grünen
und die Linke. Bei so viel Harmonie könnte man fast fra-
gen, ob denn schon wieder Weihnachten ist. Ich glaube
aber, das hat damit etwas zu tun, dass wir in diesem
Fachbereich – wir haben in den letzten Wochen und Mo-
naten ja nicht nur dieses komplexe Thema bearbeitet,
sondern auch die FGG-Reform und das Unterhaltsrecht,
und wir widmen uns jetzt noch dem Zugewinnausgleich –
sehr sachorientiert und ohne Scheuklappen arbeiten und
uns – die Ministerin hat das ja schon aufgeführt – eben
auch von Sachargumenten von außen leiten lassen. Das
merkt man ganz deutlich an diesem Gesetzentwurf.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das würde man sich in manch anderen Ausschüssen auch wünschen!)


Wir haben uns Zeit gelassen und uns die Ausführun-
gen in den Anhörungen nicht nur angehört, sondern die
einzelnen Punkte auch angenommen und umgesetzt.
Deswegen ist dieser runde Gesetzentwurf zustande ge-
kommen.

Warum mussten wir das aber überhaupt tun? Der Ver-
sorgungsausgleich ist immerhin ein bisschen älter als
30 Jahre. Er hat sich bewährt und ist auch keineswegs
obsolet geworden. Das ist vereinzelt schon ausgeführt
worden, weswegen ich das alles jetzt auch nicht wieder-
holen will.

Es hat sich in dieser Zeit sehr viel verändert. Mittler-
weile haben wir eben nicht mehr nur die gesetzliche
Rentenversicherung, wie das vor 30 Jahren vielleicht
noch die Regel war, sondern es haben sich viele Alters-
versorgungssysteme daneben entwickelt. Die betriebli-
che Altersversorgung und die private Altersversorgung
wurden gestärkt. In all diesen Systemen musste es eben
auch einen Ausgleich geben.

Dieser erfolgte bisher im Rahmen der gesetzlichen
Rentenversicherung durch sehr komplizierte Umrech-
nungsmethoden. Deswegen haben die Rechtsprechung
und diejenigen, die dieses Recht anwenden müssen, ge-
sagt, dass sich dort etwas verändern muss und dass wir
auf die Veränderungen, die sich in der Altersversorgung
ergeben haben, Antworten geben müssen.

Mit dieser Strukturreform geben wir die Antwort.
Rein materiell wird sich nichts ändern. Man muss auch
ganz klar sagen, dass wir dort auch gar nichts ändern
wollen. Es muss diesen Ausgleich, wie er im Moment
besteht, geben. Es ist richtig, dass es diesen Ausgleich
gibt. Wie gesagt: Ich bin froh, dass wir uns in einigen
Punkten dann doch bewegt haben.

Das gilt insbesondere dafür – darin waren wir alle uns
schon bei der ersten Lesung einig –, dass wir die starre
Regelung, nach der bei Ehen von kurzer Dauer ein Ver-
sorgungsausgleich ausgeschlossen ist, nicht wollen, so-
dass wir dort mehr auf den Einzelfall eingehen können.
Wir haben uns dabei jetzt auch an dem orientiert, was die
Rechtsprechung als Ehe von kurzer Dauer ansieht, näm-
lich eine Ehe von maximal drei Jahren. Von daher ist das
alles auch in der Systematik geblieben. Das ist richtig
und gut.

Besonders richtig und gut ist, dass es ein Antragsrecht
gibt, weil es natürlich auch bei Ehen von kurzer Dauer
teilweise die Situation gibt, dass dennoch entsprechende
Versorgungsansprüche erworben wurden und es sich
rentiert, diese aufzuteilen. Deswegen gibt es nicht diese
starre Regelung bzw. diesen starren Ausschluss, sondern
ein Antragsrecht.

Meine Damen und Herren, es ist alles gesagt worden,
nur nicht von mir. Deshalb möchte ich das jetzt nicht
überstrapazieren. Vielmehr möchte ich mich bei allen für
das angenehme Klima bedanken, bei allen Berichterstat-
tern, bei den Damen und Herren des BMJ und bei der
Justizministerin. Ich wünsche mir, dass wir beim nächs-
ten großen Thema, beim Zugewinnausgleich, auch ent-
sprechend zusammenarbeiten werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620516400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Struktur-
reform des Versorgungsausgleichs. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/11903, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/10144 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen
aller Fraktionen angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist
jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen angenom-
men.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Gold-
mann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

Agrardieselbesteuerung senken – Wettbe-
werbsnachteile der deutschen Landwirtschaft
abbauen

– Drucksache 16/11670 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP eine Redezeit von sechs Minuten er-
halten soll. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Edmund Geisen für die FDP-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Rede ID: ID1620516500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Landwirt-
schaft dient allen. – Dieser Slogan gilt auch heute noch.
Bei der jetzigen Regierungskoalition – auch in dieser
Zeit der Krise – ist die Landwirtschaft jedoch das letzte
Stiefkind der Nation.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ist doch gar nicht wahr!)


Wir von der FDP-Fraktion fordern seit Jahren eine
Kostenentlastung für die Landwirtschaft in den Berei-
chen, in denen die Politik verantwortlich ist. Die mitre-
gierende CDU/CSU redet nur, zeigt sich aber handlungs-
unfähig.


(Zuruf von der SPD: Das stimmt!)


Sie kann mit der SPD keine vernünftige Agrarpolitik
machen.


(Beifall bei der FDP)


Die FDP-Fraktion war die einzige Fraktion, die die Ent-
lastung bei Agrardiesel und Ökosteuer seit Anfang der
Legislaturperiode nicht nur gefordert, sondern auch im-
mer wieder in die parlamentarische Debatte eingebracht
hat. Wir haben Wort gehalten.

Den Ankündigungen der Union hingegen ist noch
nicht ein Antrag gefolgt. Im Gegenteil, die von uns ein-
gebrachten Anträge sind bislang alle nicht nur von der
SPD, sondern von der gesamten Koalition abgelehnt
worden.

Ich rufe kurz in Erinnerung: Anfang 2007 übernahm
Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und hätte mit
einem Vorstoß zur Harmonisierung bei der Agrardiesel-
besteuerung punkten können. Deshalb hat die FDP-Bun-
destagsfraktion ihren ersten Antrag zu diesem Thema
gestellt. Dieser wurde von der CDU/CSU-Fraktion und
von allen anderen Fraktionen in Bausch und Bogen ab-
gelehnt.

Trotzdem folgten von der Union in kurzen Zeitab-
ständen immer wieder Forderungen nach einer Harmo-
nisierung, zunächst vom damaligen bayerischen Land-
wirtschaftsminister Josef Miller, dann vom Europa-
abgeordneten Albert Deß. Es ist natürlich nichts pas-
siert. Ein Jahr später, kurz vor der bayerischen Landtags-
wahl, forderte Herr Deß erneut eine steuerliche Entlas-
tung. Viele Agrarpolitiker von CDU und CSU wie Peter
Bleser und Herr Miller


(Zuruf von der CDU/CSU: Alles gute Leute!)


forderten die Absenkung der Agrardieselbesteuerung
und eine Harmonisierung innerhalb Europas.

Herr Brunner, der bayerische Agrarminister, wollte
über den Bundesrat den Selbstbehalt bei der Agrardiesel-
besteuerung kippen. Passiert ist allerdings nichts. Statt-
dessen wurde fünf Tage später ein Antrag der FDP zur
Streichung des Selbstbehalts im Agrarausschuss mit den
Stimmen der CDU/CSU und der SPD abgelehnt.

Nichtsdestotrotz hat CSU-Landesgruppenchef Peter
Ramsauer das Thema vor zwei Wochen noch einmal me-
dienwirksam in der Berliner Zeitung aufgegriffen, nach-
dem klar war, dass die FDP erneut einen Antrag in den
Bundestag einbringen wird. Passiert ist allerdings nichts.

Nun schwenkt sogar unsere Landwirtschaftsministe-
rin Ilse Aigner auf die Unionsforderung nach einer Sen-
kung der Agrardieselsteuer ein, und heute hat Minister
Brunner von der CSU in München ebenfalls die Senkung
im Rahmen des Konjunkturpakets II gefordert.

Passiert jetzt endlich etwas? Ich frage Sie: Was soll
das? Seit zwei Jahren erleben wir immer nur leere Wort-
hülsen. Wenn sich die Union und Ministerin Aigner ge-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Edmund Peter Geisen
genüber ihren SPD-Kollegen nicht durchsetzen können,
dann sollten sie bitte schön auch nicht so tun als ob. Wo
bleibt da die Glaubwürdigkeit?


(Beifall bei der FDP)


Übrigens wird, Frau Wolff und meine Damen und
Herren von der SPD, bei dem gesamten Thema wieder
einmal der Stellenwert deutlich, den die Land- und
Forstwirtschaft in der Großen Koalition genießt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das erkläre ich Ihnen nachher noch einmal!)


Während die SPD bei der letzten Novelle des Mineralöl-
steuergesetzes durchsetzen konnte, dass der Dieselein-
satz in Hafenbetrieben aus Wettbewerbsgründen von der
Steuer befreit wird, verweigert sie den Landwirten beim
Agrardiesel jede noch so kleine Kostenerleichterung,
und sei es nur die Aufhebung des Selbstbehalts von
350 Euro. Was ist das für eine Politik?

Die Landwirte sind von der Großen Koalition im Re-
gen stehen gelassen worden.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nein! Nicht überall!)


Das Konjunkturpaket II enthält so gut wie nichts für die
Agrarbereiche. Die FDP will statt staatlicher Stützungs-
programme die Rahmenbedingungen für die heimische
Landwirtschaft verbessern und so ihre Wettbewerbsfä-
higkeit erhalten und stärken. Dazu ist eine Kostenentlas-
tung notwendig.


(Beifall bei der FDP)


Die deutschen landwirtschaftlichen Betriebe zahlen
nach wie vor die mit Abstand höchsten Agrardiesel-
steuern in der EU. Während sie durchschnittlich 40 Cent
Steuern pro Liter zahlen müssen, liegt der Steueranteil
bei unseren Nachbarn in Dänemark bei 3,2 Cent und in
Frankreich bei 6,6 Cent pro Liter. Hinzu kommt in
Deutschland noch die Ökosteuer, die den Treibstoff um
weitere 200 Millionen Euro pro Jahr verteuert. Dieser
extreme Steuernachteil der deutschen Landwirte beim
Agrardiesel und bei der Ökosteuer ist Gift für die Wett-
bewerbsfähigkeit dieser Branche.

Ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Großen
Koalition, eigentlich klar, dass einem durchschnittlichen
bäuerlichen Familienbetrieb in Deutschland durch die
dreijährige Verzögerungstaktik beim Agrardiesel ein
Schaden von circa 20 000 Euro entstanden ist? Sie haben
eindeutig eine im wahrsten Sinne lebensnotwendige
Wirtschaftsbranche vernachlässigt.


(Beifall bei der FDP)


Wir von der FDP fordern dagegen: runter mit der Be-
lastung durch die Ökosteuer, weg mit dem unsozialen
Selbstbehalt und hin zur EU-weiten Harmonisierung der
Steuern auf Agrardiesel!

Ich hoffe, wir finden im Interesse der Landwirtschaft
Ihre Unterstützung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620516600

Nächster Redner ist der Kollege Norbert Schindler für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1620516700

Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ver-

ehrte Damen und Herren im Plenum! Eigentlich ist Ihr
Antrag nur die halbe Miete, lieber Herr Dr. Geisen.
Wenn ihr von der FDP einen Antrag stellt, dann solltet
ihr das richtig und gescheit machen.


(Zuruf von der FDP: Das machen wir immer!)


Was soll eine Teillösung wie die in Ihrem Antrag vor-
geschlagenen Maßnahmen der Dieselölverbilligung zur
Wettbewerbsangleichung auf europäischer Ebene? Ich
könnte zynisch feststellen, dass ihr aus der Sicht der
deutschen Landwirtschaft in eurem Antrag bescheiden
seid. Wenn man den Selbstbehalt von 350 Euro streicht,
wie es in eurem Antrag gefordert wird, stellt sich die
Frage, was den Betrieben bleibt, die bei einer Größe von
150 bis 160 Hektar im Durchschnitt 16 000 Liter Gasöl
verbrauchen. Bleiben diese Betriebe außen vor?

Wir haben in diesen Tagen keine Regelung hinbe-
kommen. Ich rede jetzt für die Union. Zwei Kollegen
von der SPD werden sich noch zu diesem Thema äußern.
Otto Bernhardt, Peter Bleser und andere haben versucht,
im Rahmen des Konjunkturpakets II seitens der Union
noch eine entsprechende Regelung aufzunehmen. Das ist
eine klare Feststellung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mir tut es leid, dass wir dies innerhalb der Koalition
nicht zusammen mit der SPD geschafft haben. Die
Gründe dafür werden mit Sicherheit nachher dargelegt.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Wahlaus-
sage der Union zum Agrarbereich – diese wurde von Pe-
ter Bleser entscheidend mitformuliert –, wonach die
Streichung dieser Steuer im Hinblick auf den europäi-
schen Wettbewerb in der kommenden Legislaturperiode
vorgesehen ist. Wenn es der liebe Herrgott so will und
wir dann mit der FDP koalieren – das wünschen sich
manche – oder wenn es wieder zu einer Großen Koali-
tion kommt – in diesem Staat ist alles möglich –


(Zuruf von der SPD)


– ich vergesse nicht die Partner in der jetzigen Verant-
wortung –, dann muss es ein erklärtes Ziel sein, diese
Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen
Wirtschaftsraums zu beseitigen, selbst wenn sich die
Balken biegen sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Dr. Geisen, damals ist unter Frau Künast und
Herrn Eichel mit der Ökosteuer eine weitere Belastung
hinzugekommen. Das haben wir massiv bekämpft. Aber
Sie sagen, diese Koalition habe für die Landwirtschaft
nichts getan.






(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620516800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollege Dr. Geisen?


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1620516900

Ja, gern.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620517000

Bitte sehr, Herr Kollege.


Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Rede ID: ID1620517100

Selbst wenn Sie mit uns nicht koalieren sollten, inte-

ressiert mich, ob Sie dann einen ähnlichen Antrag ein-
bringen und im Rahmen einer anderen Koalition die
Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung vornehmen
werden.


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1620517200

Ich biete Ihnen eine Wette an. Sie spenden mir einen

Mosel-Riesling, wenn wir es hinbekommen. Ich besorge
Ihnen einen Pfälzer Riesling, wenn wir es nicht hinbe-
kommen, Herr Dr. Geisen. Einverstanden? – Ich habe
übrigens vor vier Jahren schon eine Wette mit Frau Kün-
ast abgeschlossen. Ich sagte damals, dass sie in drei Jah-
ren keine Ministerin mehr sei. Ich habe meine Wette ge-
wonnen. Sie hat sie aber noch nicht eingelöst. Ich
verspreche aber, dass ich meine Wette einlösen werde.
Ich weiß, dass Sie das auch tun werden. – Sie dürfen sich
wieder setzen, Herr Kollege.

Zurück zu dem Vorwurf, wir hätten in der Großen Ko-
alition nichts getan. Wenn man sich die Stabilisierung
der Berufsgenossenschaftsbeiträge anschaut und sich vor
Augen führt, dass wir im Konjunkturpaket II die Verbil-
ligung der Krankenversicherungsbeiträge berücksichti-
gen, muss man diesen Vorwurf mit allem Ernst zurück-
weisen, Herr Dr. Geisen. Ich verweise zudem darauf,
dass es ein großer Kampf war – und das war kein großer
Streitpunkt mit der SPD in der Koalition –, die pauschale
Umsatzsteuer in Höhe von 10,7 Prozent beizubehalten
und wirksam werden zu lassen.

Zur Erbschaftsteuerreform. Natürlich kann man fra-
gen, warum es überhaupt eine gibt. Schließlich wollten
wir, jedenfalls viele in der Union, diese Steuer am liebs-
ten abschaffen. Aber Sie kennen die Zwänge einer
Koalition. Ich kann mir lebhaft die Neiddebatten vorstel-
len, die vor allem von der Linken, die für diesen Staat
noch nichts gemacht haben, außer intelligente oder we-
niger intelligente Zwischenrufe hier im Parlament zu
machen, geführt worden wären. Als es aber darum ging,
Verantwortung zu tragen, ist der Oskar fortgerannt, ge-
nauso wie der Gregor in Berlin. Das zeigt die staatpoliti-
sche Verantwortung der Fraktion Die Linke im Deut-
schen Bundestag. Wenn es an das Arbeiten und um das
konkrete Umsetzen geht, ist mit denen absolut nicht zu
rechnen.

Herr Dr. Geisen, die Leistungen, die diese Große Ko-
alition im Hinblick auf das Image und das erfolgreiche
Wirken unserer Betriebe vollbracht hat – der Getreide-
preis spiegelt das nicht richtig wider; die Grundstim-
mung ist sicherlich von Zweifeln geprägt –, sind unstrit-
tig. – Herr Goldmann, ich komme noch auf Sie zu
sprechen. Sie können ruhig eine Zwischenfrage stellen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!)


Herr Dr. Geisen, wenn wir Ihrem Antrag folgten,
dann würden wir nicht nur die 125 Millionen Euro unten
im Sockel streichen, sondern auch die 170 Millionen
Euro für die Betriebe, die in Zukunft im Rahmen des
Konjunkturprogramms investieren. Deswegen ist Ihr
Antrag im Hinblick auf das Konjunkturprogramm abso-
lut fehlgeleitet. Natürlich sollen die unteren Sockel besei-
tigt werden. Aber die Betriebe, die investieren – das sind
sowohl Familienbetriebe als auch größere Betriebe –, sol-
len ein deutliches Entlastungssignal bekommen; denn
das Geld, das hier investiert wird, kommt direkt der
Wirtschaft zugute. Ich persönlich würde Ihrem Antrag
gern zustimmen. Aber es geht hier noch nicht einmal um
die Hälfte, sondern nur um ein Viertel des Vermögens.

Abschließend sage ich zu den Kollegen der SPD-
Fraktion: Mit uns könnte man reden. Es gibt viel Streit
über das Umweltgesetzbuch, aber eigentlich sind wir
nahe beieinander. Trotzdem hatten wir starke Bedenken,
gerade was Vorkaufsrechte und Grenzabstände betrifft.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gerade fossiler Diesel!)


– Frau Wolff, regen Sie sich doch nicht so auf; auch ich
rege mich nicht so gerne auf, wenn Sie reden.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich habe das nur laut gesagt, damit Sie mich hören!)


– Dann müssen Sie eine Zwischenfrage stellen. Wenn
ich rede, kann ich Ihnen schlecht zuhören. – Die Um-
weltgesetzgebung auf Bundesebene hat den Charme,
dass wir in Zukunft nicht unterschiedliche Länderrege-
lungen haben. Wenn sich die SPD etwas bewegen würde
und wir uns etwas beim Dieselöl bewegen würden, dann
könnten wir eine Kompromisslösung erreichen.


(Heiterkeit des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Zuruf von der SPD: Das ist wie auf einem persischen Basar!)


– Lieber Herr Goldmann, Sie lachen so schön. Wie kom-
men Sie dazu, das Karlsruher Urteil so zu loben? Ich
kann Sie zitieren. Sie wollen jetzt die freie Marktwirt-
schaft. –


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Lies vor, was da steht!)


– Ich will jetzt nicht eine halbe Seite vorlesen. – Sie ha-
ben das Karlsruher Urteil begrüßt, obwohl die Aktivitä-
ten der CMA, sowohl was den Export als auch was die
Werbung für die deutsche Landwirtschaft in der Bundes-
republik betroffen hat, gut waren.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)


Ich kann den Karlsruher Urteilsspruch nicht verstehen.
Die Karlsruher Richter entlassen uns mit diesem Urteil
in den freien Markt. Das Urteil bedeutet nichts anderes,
als dass denjenigen die Unterstützung genommen wird,






(A) (C)



(B) (D)


Norbert Schindler
die erfolgreich waren. Das wird Auswirkungen auf den
Fremdenverkehr, auf den Rundfunk und auf die Wein-
werbung haben. Deshalb halte ich es für zu kurz gegrif-
fen, wenn die FDP jubelt und glaubt, dass jetzt der
Markt alles regelt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Du sagst nicht die Wahrheit! Lies einfach mal vor, was ich gesagt habe!)


– Ich will diese halbe Seite jetzt wirklich nicht vorlesen.
Du weißt doch, was du geredet hast. Hier steht, dass von
Herrn Goldmann begrüßt worden ist, dass der Karlsruher
Urteilsspruch in die richtige Richtung geht.

Jetzt müssen wir die Gesamtverantwortung den
Egoisten überlassen. Das kann doch nicht der richtige
Ansatz sein. Jetzt stellt sich die Frage, wie wir eine gute
Idee, von der sowohl der in- als auch der ausländische
Markt profitiert hat, auf Dauer aufrechterhalten. Deswe-
gen sollten wir in den nächsten Tagen und Wochen unsere
Kraft darauf verwenden – das sage ich zum Schluss –,
dieses neue Problem zum Nutzen aller in der Agrarwirt-
schaft Tätigen zu lösen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620517300

Herr Kollege, Sie haben noch eine Minute Redezeit.


(Heiterkeit)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1620517400

Ich habe eigentlich alles dazu gesagt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620517500

Sie müssen die Redezeit nicht ausschöpfen. – Herr

Goldmann hat eine Zwischenfrage, die der Redner, wie
ich sehe, zulässt. Herr Kollege Goldmann, bitte sehr.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1620517600

Herr Kollege Schindler, machen wir es einmal ganz

einfach. Gestern war Ausschusssitzung. Sie werden sich
erinnern, dass es einen Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz gibt. Sie gehen
manchmal dorthin. In diesem Ausschuss ist gestern ein
relativ umfangreicher Bericht vom Staatssekretär, der
jetzt hier anwesend ist und der gestern von Fachleuten
begleitet war, über die Auswirkung des Urteils von
Karlsruhe auf den Absatzfonds und die angegliederten
Gesellschaften gegeben worden. Sagen Sie mir doch ein-
mal den Grund, warum Sie gestern nicht da waren.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war doch da!)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1620517700

Herr Goldmann, ich war bei der Debatte dabei, aber

Sie wissen, dass ich auch Mitglied des Finanzausschus-
ses bin. So weit ist die Gentechnik noch nicht, auch
wenn die FDP das gerne hätte, dass ich mich zweiteilen
und in beide Ausschüsse gleichzeitig gehen könnte. Das
geht beim besten Willen nicht.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe aber Ihre Äußerung gefunden, die in AGRA-
EUROPE zitiert wird: Für die FDP-Bundestagsfraktion
erklärten deren agrarpolitische Sprecher Goldmann und
Dr. Edmund Geisen, die Bundesverfassungsrichter hät-
ten die ungenügende demokratische Legitimation und
die Zwangsabgabe jetzt völlig zu Recht zum Anlass ge-
nommen, das Absatzfondsgesetz in weiten Teilen als
verfassungswidrig und nichtig zu erklären. – Sie begrü-
ßen das, ich bedaure es.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, das war eine Feststellung!)


– Haben Sie nicht zugehört? Muss ich das jetzt noch
kommentieren? – Wir sollten uns die Frage stellen, ob
wir den Mut haben, eine gute Idee beizubehalten, die er-
folgreich war. Bisher wurden die Egoisten nicht berück-
sichtigt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach!)

– Wenn Sie das nicht wollen, dann bringen Sie einen An-
trag in den Bundestag ein und sagen Sie uns, wie wir den
Mangel schnell beheben. Uns brechen jetzt nämlich
Strukturen weg, die absolut gut gearbeitet haben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620517800

Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann

für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620517900

Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Kommen wir doch zurück zum eigentli-
chen Thema dieser Debatte, zum Agrardiesel. CMA ist
ein anderes Thema. Ich sollte auch darauf verweisen,
dass es da durchaus berechtigte Kritik gab und noch gibt.

Richtig ist, dass es bei der Agrardieselbesteuerung
zwischen den EU-Mitgliedstaaten trotz gemeinschaftli-
cher Agrarpolitik wirklich große Unterschiede gibt; das
ist klar. Richtig ist auch, dass es dabei um viel Geld geht.
Der Raiffeisenverband hat ausgerechnet, dass eine
durchschnittliche deutsche Agrargenossenschaft mit
1 400 Hektar bewirtschafteter Fläche einen Kostennach-
teil von 55 600 Euro pro Jahr gegenüber einem französi-
schen Betrieb von derselben Größe hätte, der quasi keine
Dieselsteuer zahlt.

Aber Diesel ist eben nicht alles, was ein Bauer
braucht. Pflanzenschutzmittelsteuer, Düngemittelsteuer
und Mehrwertsteuer belasten Landwirtschaftsbetriebe in
anderen Mitgliedstaaten zusätzlich. Nur wenn alle ande-
ren Wettbewerbsbedingungen in der EU gleich wären,
wäre die Agrardieselbesteuerung ein klarer Wettbe-
werbsnachteil für die einheimischen Betriebe. Wenn wir
ehrlich sind, müssen wir feststellen: So simpel ist es
eben nicht, zumal wir uns in einer Übergangsphase be-
finden, in der die Harmonisierung im Agrarsektor Schritt
für Schritt vollzogen wird. Deshalb ist aus Sicht der Lin-
ken die Debatte über die Ungerechtigkeit innerhalb des
deutschen Agrardieselbesteuerungssystems viel wichti-
ger.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Kirsten Tackmann
Unser System diskriminiert zwei verschiedene Kate-
gorien von Betrieben – es ist schon angeklungen –: Ers-
tens: Betriebe, die größere Flächen bewirtschaften; denn
sie bekommen ab der Kappungsgrenze 10 000 Liter Die-
sel keine Steuerrückerstattung mehr. Zweitens. Bis zu ei-
nem Selbstbehalt von 350 Euro muss ebenfalls die volle
Dieselsteuer bezahlt werden. Das diskriminiert wie-
derum Klein- und Nebenerwerbsbetriebe, die oft gleich
mehrfach durch das Netz der Agrarförderung fallen. Wer
eine flächendeckende Landbewirtschaftung möchte,
muss auch diese Betriebe fördern.

Daher ist unsere Forderung: erstens mehr Gerechtig-
keit im System und zweitens eine Entlastung der Be-
triebe von Energiekosten durch eine bessere Förderung
des Umstiegs auf alternative Energieversorgungsquellen.


(Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


Eine einfache Steuerrückzahlung in voller Höhe er-
scheint auf den ersten Blick attraktiv. Es ist aber eine
rückwärtsgewandte Lösung für das real existierende Pro-
blem. Aus unserer Sicht ist ein konsequentes Umsteuern
notwendig. Für eine nachhaltige Landwirtschaft in
Deutschland und Europa ist es sinnvoll, Agrarbetriebe
dabei zu unterstützen, die Landmaschinenflotte umzu-
stellen: auf dezentral erzeugte Agrotreibstoffe wie Bio-
diesel, reines Pflanzenöl oder demnächst sogar Biogas.
Das ist kein ganz einfacher und auch kein kurzer Weg;
aber er führt in die Zukunft. Dazu müssen die Rahmen-
bedingungen natürlich so gestaltet sein, dass die Kraft-
stoffkosten der Betriebe real sinken und ihre technischen
Umstellungsrisiken minimiert werden.

Das Kuratorium für Technik und Bauwesen in der
Landwirtschaft hat bereits vor Jahren ausgerechnet, dass
das erstens technisch geht und dass zweitens circa
2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche ausrei-
chen, um eine vollständige Eigenenergieversorgung der
Landwirtschaft zu sichern. Es ist also machbar. Es fehlen
offensichtlich nur die Anreize. Pflanzenöl und Biodiesel
können bereits jetzt in Landmaschinen verwendet wer-
den, und sie sind für die Landwirtschaft bereits steuerbe-
freit.

Trotzdem ist für die Agrarbetriebe unter dem berühm-
ten Strich die Nutzung des fossilen Diesels unter den jet-
zigen Besteuerungsbedingungen immer noch günstiger.
Die von der FDP vorgeschlagene umfassende Steuersen-
kung würde die strukturelle Abhängigkeit der landwirt-
schaftlichen Betriebe von fossilem Diesel noch zemen-
tieren. Und das schlägt ausgerechnet die FDP vor, die
sich doch sonst immer für Biokraftstoffe einsetzt! Damit
würde man aus unserer Sicht sogar eine wichtige Chance
für eine sinnvolle Nutzung von Agrotreibstoffen verpas-
sen. Die Linke streitet deswegen weiter für politische
Rahmenbedingungen, die die Agrarbetriebe bei der Be-
wältigung der Herausforderungen der Zukunft unterstüt-
zen und sie nicht davon abhalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620518000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Arndt-

Brauer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1620518100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Schon der Titel des FDP-Antrags „Agrardiesel-
besteuerung senken – Wettbewerbsnachteile der deut-
schen Landwirtschaft abbauen“ enthält die Unterstel-
lung, dass es Wettbewerbsnachteile gibt. Der Redner der
FDP, Herr Dr. Geisen, hat die zweite Unterstellung
gleich hinterhergeschoben: Die SPD-Fraktion behan-
dele die Landwirtschaft wie ein Stiefkind der Nation.


(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Eindeutig!)


Ich möchte beide Unterstellungen aufs Schärfste zurück-
weisen.


(Beifall bei der SPD)


Ich persönlich komme aus einem dörflichen Bereich
des Münsterlandes. Wir haben dort keine kolchosenarti-
gen Betriebe wie im Osten,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


sondern eher mittelgroße Betriebe, die weder vom
Selbstbehalt noch von der Kappungsgrenze betroffen
sind. Meine Großeltern kommen aus dem landwirt-
schaftlichen Bereich; insofern habe ich keine Vorbehalte
gegenüber der Landwirtschaft.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie hatten doch eine Pferdekoppel!)


– Nein, ich habe keine Pferdekoppel.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der Großvater!)


Wir führen allerdings in der Landwirtschaft bei mir zu
Hause große Diskussionen über die Haushaltsberatungen
und die Wirtschaftswege. Einerseits sagen mir die Land-
wirte immer, die Agrardieselbesteuerung sei ein Pro-
blem; man benutze die Landmaschinen eigentlich nur
auf dem Acker, deshalb brauche man eine Sonderrege-
lung. Bei den Diskussionen über die Haushaltsberatun-
gen erlebe ich aber immer wieder, dass die Landwirte
vor Ort sagen, der Zustand der Wirtschaftswege sei ein
großes Problem für die Landwirtschaft; man brauche
diese Wirtschaftswege. Dazu sage ich immer, dass sich
die Landwirte schon festlegen müssen: Entweder sie fah-
ren auf den Äckern oder sie benutzen die Wirtschafts-
wege.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Solange die Landwirte auf den Wirtschaftswegen fahren,
brauchen sie keine Sonderregelung, und wenn sie nur
auf den Äckern fahren, brauchen sie keine Wirtschafts-
wege.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Arndt-Brauer
Grundsätzlich möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben,
dass die Landwirtschaft in meinem Wahlkreis robust ist;
ihr geht es gut. Die Landwirte meinen, sie seien von der
Wirtschaftskrise nicht betroffen. Das macht Sinn; denn
die Lebensmittelproduzenten erzielen weiterhin gute
Absätze. Deshalb finden die Landwirte keine ausdrückli-
che Erwähnung im Konjunkturpaket II. Die Landwirte
werden wie alle anderen Bürger entlastet; aber der
Agrarbereich bedarf keiner besonderen Entlastung im
Konjunkturpaket. Deswegen war es auch überhaupt
nicht einsichtig, Regelungen zum Agrardiesel in ir-
gendeiner Form in das Konjunkturpaket aufzunehmen.

Ich weise das Ansinnen des Kollegen Schindler aufs
Schärfste zurück, im Zusammenhang mit dem Umwelt-
gesetzbuch über den Agrardiesel zu verhandeln.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das hat er nun nicht gesagt!)


Wenn wir uns auf eine solche Basartaktik einlassen,
dann verfehlen wir unser Ziel, eine vernünftige und zu-
kunftsweisende Politik zu machen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte auf den Antrag der FDP zurückkommen.
Er gliedert sich in drei Bereiche: Der erste Bereich be-
handelt den Selbstbehalt, der zweite die Ökosteuer und
der dritte die EU-Initiative.

Der Selbstbehalt von 350 Euro macht Sinn, weil wir
durch eine Abschaffung den Verwaltungsaufwand im-
mens aufblähen würden. Ich denke, eine gewisse Eigen-
beteiligung in diesem Bereich ist, weil es – auch für die
Kleinbetriebe – immer die Alternative Biodiesel gibt,
durchaus zu verantworten.

Die Ökosteuer greift im landwirtschaftlichen Bereich
nicht stärker als in anderen Bereichen. Ich musste erst
vorgestern erfahren, dass zum Beispiel die Bahn im
Fernverkehr riesige Wettbewerbsnachteile hat, weil die
Ökosteuer im Bahnbereich komplett draufgesattelt wird.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Aber das habt doch ihr gemacht! Die Ökosteuer habt doch ihr draufgesattelt!)


Hingegen werden andere Bereiche völlig ausgenommen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Wenn wir sagen, dass es keine Wettbewerbsverzerrung
gibt – das haben wir hier einvernehmlich festgestellt –,
dann gilt dies auch für die Bauern.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620518200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Geisen?


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1620518300

Ja.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620518400

Herr Kollege, bitte.

Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Rede ID: ID1620518500

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Frau Kolle-

gin, ich möchte gerne von Ihnen konkret wissen: Sind
Sie für eine Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung
in Europa – ja oder nein?

Ich darf Ihnen sagen, dass ich von der belgischen
Grenze komme; wir haben dort einen landwirtschaftli-
chen Betrieb. Ein Betrieb der gleichen Größe und der
gleichen Produktionsrichtung zahlt in Belgien im Ver-
gleich zu Deutschland jährlich 7 000 Euro weniger
Agrardieselsteuer. Halten Sie das für richtig?

Ein anderes Beispiel: In Ihrer Heimat, an der hollän-
dischen Grenze, zahlen die Münsterländer Bauern
10 000 Euro Agrardieselsteuer mehr als der niederländi-
sche Bauer. Halten Sie das für korrekt?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was zahlt denn der niederländische Bauer im Jahr?)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1620518600

Das halte ich nicht für korrekt. Das hätte ich Ihnen

auch noch unter Punkt drei gesagt. Ich war ja erst bei den
Punkten eins und zwei. Sie können sich also ruhig wie-
der hinsetzen.

Ich komme jetzt zu Punkt drei. Ich möchte gerne, dass
es zu einer europaweiten Regelung kommt. Es wäre mir
wirklich ein großes Anliegen, wenn eine Harmonisie-
rung erreicht werden könnte. Sie wissen, dass es schon
häufig Vorstöße gab. Wir können aber für eine Harmoni-
sierung auf europäischer Ebene nicht alleine sorgen. Es
gibt aber immer wieder entsprechende Ansätze. Es gibt
auch eine Initiative unserer Bundesregierung; das hätten
Sie auch nachlesen können. Sie steht auf der Tagesord-
nung für die Kommissionssitzung am 1. April 2009. Es
ist nicht klar, wie die Verhandlungen ausgehen werden.
Ich hoffe aber, dass man bei den Vorverhandlungen, die
es jetzt schon gibt, bis zum 1. April 2009 ein Stück wei-
terkommt.

Auch ich finde, dass es nicht in Ordnung ist, dass in
Europa unterschiedliche Regelungen bestehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)


Das habe ich nie in Abrede gestellt. Ich möchte hier aber
ganz eindeutig Folgendes festhalten: Wir wollen die
Landwirtschaft nicht als Stiefkind behandeln und sie erst
recht nicht benachteiligen; wir wollen aber auch nicht,
dass das Thema Agrardiesel immer wieder mit anderen
wichtigen Themen sozusagen gedealt wird. Das Problem
der Besteuerung des Agrardiesels können wir nämlich
hier prinzipiell nicht vor Ort lösen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)


– Nein. – Mit einer einheitlichen Agrardieselbesteuerung
auf europäischer Ebene habe ich überhaupt keine Pro-
bleme, aber eine Subventionierung aus Mitteln des Bun-
deshaushaltes lehne ich ausdrücklich ab.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum denn? Die Bauern gehen kaputt, und Sie sehen keinen Regelungsbedarf!)


– Die Bauern gehen nicht kaputt. Das ist Quatsch.






(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620518700

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


(Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1620518800

Ich kann Ihre Frage nicht mehr zulassen; ich bin am

Ende meiner Redezeit. Vielleicht können wir es noch bi-
lateral regeln.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620518900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620519000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die FDP fordert in ihrem Antrag zwei wesentliche
Dinge, nämlich die Senkung der Agrardieselsteuer und
die Streichung des Selbstbehaltes. Damit zeigt die FDP
ganz deutlich, dass sie verschiedene Punkte nicht begrif-
fen hat,


(Widerspruch bei der FDP – Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Das eine ist national! Das können Sie direkt machen!)


nämlich zum Beispiel den Zusammenhang zwischen
Energieverbrauch und Klimawandel, dass sie das Pro-
blem der Ressourcenverknappung ignoriert und dass sie
offensichtlich ihren stetigen Ruf nach Entbürokratisie-
rung, den sie wie eine Monstranz vor sich her trägt, sel-
ber nicht wirklich ernst nimmt. Denn der Selbstbehalt
senkt die Zahl der Begünstigten. Auf diese Weise entste-
hen eindeutig weniger Bürokratiekosten aufseiten der
Landwirte wie der Verwaltung. Hier geht es also um die
Frage, ob es mehr Gerechtigkeit oder mehr Bürokratie
geben soll. Ich denke, wie es derzeit läuft, ist es schon
ganz sinnvoll.

Sie ziehen lediglich ein einziges Argument für Ihren
Antrag heran, nämlich die niedrigeren Steuersätze in an-
deren europäischen Ländern, und versuchen, daran ver-
meintliche Wettbewerbsnachteile festzumachen. Das ist
– das werden Ihnen andere Kollegen auch noch sagen –
ziemlicher Unsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie fordern eine Harmonisierung der Steuern – eine Har-
monisierung wäre okay; da bin ich ganz dicht bei Ihnen –,
aber keine Beseitigung der Ausnahmetatbestände für
große Energieverbraucher.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: In Frankreich sind nur 4 Cent drauf!)


Dabei sollte man sich doch um eine Harmonisierung der
Preise für Energie, die ja der Motor unserer Wirtschaft
ist, auf einem vernünftigen Niveau und um einen effi-
zienten Umgang mit Energie auf europäischer Ebene
kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Diskussion um die Agrardieselbesteuerung zeigt
auch die Scheinheiligkeit der Union. Staatssekretär Mül-
ler hat noch beim II. Klimaforum des Deutschen Bauern-
verbandes gesagt, eine Verringerung der Energieeinsätze
in der Landwirtschaft um 20 Prozent in den nächsten
10 Jahren sei unbedingt nötig; daran müsse sich die
Landwirtschaft auch beteiligen. Das ist ein wunderbares
Ziel. Das tragen wir mit. Da sind wir dabei.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Aber auf den Acker muss man trotzdem mit dem Schlepper!)


Doch nur wenige Tage später forderte Ministerin Aigner
in Passau – es war am 2. Februar, wenn ich richtig infor-
miert bin – eine niedrigere Agrardieselsteuer, um Wett-
bewerbsnachteile zu vermeiden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Recht hat die Frau! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Gute Frau!)


Daran sieht man doch: Die Union hat noch weniger als
die FDP begriffen, dass das Öl knapper wird und die
Landwirtschaft beim Klimaschutz nicht außen vor blei-
ben darf.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das hat mit Klimaschutz überhaupt nichts zu tun! Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft!)


Interessant ist auch – das kann ja nun alle Welt im
Spiegel nachlesen –, dass die CSU das ohnehin schon
von der Union ausgehöhlte UGB nur blockiert hat, um
für eine Zustimmung hierzu eine Senkung der Agrardie-
selsteuer einzutauschen. Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Das ist kein verantwortliches
Regierungshandeln, sondern das ist eindeutig Klientel-
politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Die Argumentation mit der mangelnden Wettbe-
werbsfähigkeit läuft dabei vollkommen ins Leere. Der
Umfang der Agrarexporte steigt seit Jahren. Der Herr
Staatssekretär Müller hat im Juni 2008 gesagt, dass bei
den Agrarexporten Rekordzuwächse von 17 Prozent ver-
zeichnet wurden. Noch im Januar haben Sie ganz stolz
und froh gesagt: Die Agrarexporte sind stabil. Wo ist
denn da bitte schön der Bedarf?

Ich komme noch einmal auf den Agrardiesel zu spre-
chen. Ich denke, es ist höchste Zeit, das Märchen vom
„Zurück zur billigen Energie“ zu beerdigen. Es wird nie
wieder billige fossile Energie geben.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620519100

Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Herr

Kollege Bleser würde gerne eine Zwischenfrage stellen.






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620519200

Wunderbar, denn damit verlängert er meine Redezeit.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620519300

Herr Kollege Bleser, bitte.


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1620519400

Danke, Frau Präsidentin! – Liebe Frau Kollegin

Behm, sind Sie wirklich der Meinung, dass die Land-
wirte mehr Diesel verbrauchen würden, wenn er etwas
billiger wäre? Er ist doch der große Kostenfaktor in der
Produktion. Meinen Sie nicht auch, dass es sich wegen
der landwirtschaftlichen Produktion auf den Ackerflä-
chen beim Agrardiesel um Prozessenergie handelt, die in
anderen Bereichen auch steuerbefreit ist? Hier wäre eine
Gleichbehandlung angebracht; das ist sicher auch Ihre
Meinung.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620519500

Lieber Kollege, ich bezweifle überhaupt nicht, dass

Diesel ein sehr wichtiges Betriebsmittel für die Land-
wirtschaft ist. Aber die Landwirte haben Alternativen.
Es ist bereits erwähnt worden, dass Biodiesel bzw. -öle
steuerbefreit sind. Ich muss Ihnen einmal Folgendes sa-
gen: Wenn die Bundesregierung die Landwirte unterstüt-
zen will, dann sollte sie nicht den fossilen Diesel billiger
machen. Sie sollte stattdessen die Umrüstung der alten
Traktoren und die Anschaffung neuer Traktoren fördern,


(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Abwrackprämie!)


damit Pflanzenöl und Biodiesel eingesetzt werden kön-
nen. Damit kann man kleine Kreisläufe schließen. Damit
bleibt die Wertschöpfung erhalten.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie wissen doch, dass das steuerbefreit ist!)


– Ja, eben. – Warum kaufen die Landwirte es nicht? Da
muss man doch Anreize schaffen. An dieser Stelle ist das
Geld doch richtig angelegt.

Was macht aber die Bundesregierung stattdessen? Sie
legt ein Programm für Energieeffizienz in der Landwirt-
schaft in Höhe von 7 Millionen Euro jährlich auf. Diese
Größenordnung ist lächerlich; denn gleichzeitig gibt sie
1,5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie aus. Das ist
eine Investition in alte Technologie. Das ist die Politik
des „Weiter so“.

Hier zeigt sich ganz eindeutig, was Ihnen die Land-
wirtschaft wert ist. Anstatt nach der Senkung von Ener-
giesteuern zu rufen und alte Technologien zu unterstüt-
zen, sollten Sie in Innovation investieren, solange neue
Technologien nicht wettbewerbsfähig sind. Dort ist das
Geld richtig angelegt. Da müssen Sie finanziell unter-
stützen. Das hält die Wertschöpfung in der Region. Das
hilft der Landwirtschaft, und das hilft dem Mittelstand
dieses Sektors, den Sie mit Ihrer Biotreibstoffpolitik oh-
nehin kaputtgemacht haben.

Vielen Dank fürs Zuhören, liebe Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620519600

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin

Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1620519700

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! 1973 gab es
neun Staaten in der Europäischen Gemeinschaft. Seit
2007 haben wir die EU-27. Und was passiert heute? Im
Jahre 2009 legt die FDP einen Antrag vor, in dem ein
EU-Vergleich von acht europäischen Ländern zu einer
Aussage für die gesamte EU führt. Meine Damen und
Herren von der FDP, nehmen Sie es eigentlich immer so
genau?


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Sie berichten in Ihrem Antrag von erheblichen Belas-
tungen für die kleinen Betriebe. Ist Ihnen schon einmal
aufgefallen, dass es nicht nur den Selbstbehalt, sondern
auch eine Kappungsgrenze bei 10 000 Litern gibt?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: So weit haben die nicht gelesen!)


– So weit sind sie nicht gekommen; das ist klar.

In einem Punkt Ihres Antrages gebe ich Ihnen recht:
Die Belastung für Dieselkraftstoff ist in Deutschland im
Vergleich zu anderen europäischen Ländern hoch. Aber
deshalb kann man doch nicht automatisch auf schlechte
Wettbewerbsbedingungen für deutsche Landwirte
schließen. Das ist ein falscher Schluss, und das wird der
Situation der Landwirtschaft überhaupt nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Dann fragen Sie mal die Bauern danach! Die sehen das anders!)


Sie stützen sich in Ihrem Antrag auf ein Gutachten
des Ifo-Instituts. Das Ifo-Institut kommt in seiner Ge-
samtbetrachtung der Steuern auf alle Produktionsmittel
zu dem Ergebnis, dass Deutschland gemeinsam mit Ös-
terreich und den Niederlanden im Mittelfeld liegt. Das
ist richtig; Sie haben selber darauf hingewiesen. Däne-
mark – das haben Sie zufällig vergessen; vorhin haben
Sie jedoch davon gesprochen, dass Dänemark eine ganz
niedrige Agrardieselbesteuerung habe – ist ein wichtiger
Konkurrent Deutschlands und weist nach dieser Gesamt-
betrachtung die höchste Belastung auf. Da stimmt Ihre
Argumentation also nicht.

In der Ifo-Studie, die Sie zugrunde legen, fehlen we-
sentliche Faktoren, zum einen die soziale Absicherung
der Bauern und zum anderen die Ertragsteuern. Ich gebe
zu, dass ein Vergleich gerade dieser Positionen sehr
schwierig ist. Aber Sie können nicht außer Acht lassen,
dass der Bund sehr tief in die Tasche greift, wenn es um
die soziale Absicherung der Bauern geht. Rund 3,7 Mil-
liarden Euro geben wir dafür aus.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Wie viel geben wir denn für die Automobilbranche aus? 90 Milliarden! – Christian Freiherr von Stetten Waltraud Wolff [CDU/CSU]: Wollen Sie das auch noch angreifen?)





(A) (C)


(B) (D)


Wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, in diesem
Segment nicht gut aufgestellt sind, dann weiß ich es
auch nicht.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620519800

Frau Kollegin Wolff, darf ich Sie unterbrechen? Herr

Kollege Dr. Geisen hätte auch bei Ihnen eine Zwischen-
frage.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1620519900

Gerne, Herr Dr. Geisen.


Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Rede ID: ID1620520000

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass diese Zu-

schüsse zu den Sozialversicherungen die Folge eines ge-
samtgesellschaftlichen Problems und damit ein Altlas-
tenproblem sind? Diese Altlasten betreffen, was den
Ursprung angeht, fast jede Familie. Das muss man deut-
lich machen. Dann kann man auch erkennen, weshalb
dieser Zuschuss begründet und notwendig ist.

Sind Sie angesichts der Begründung für diese sozia-
len Zuschüsse des Bundes sicher, dass es richtig ist, dass
die deutschen Landwirte pro Familienbetrieb 7 000 Euro
mehr Agrardieselsteuern zahlen als die Betriebe in den
Nachbarländern? Landwirte aus zwei benachbarten Län-
dern fahren mit ihren Maschinen nebeneinander; die Fel-
der sind zum Teil sogar grenzübergreifend. Können Sie
überhaupt begreifen, was es heißt, wenn die Bauern in
Belgien und Frankreich einen Riesenvorteil durch eine
niedrige Agrardieselbesteuerung haben? Sie plädieren,
wenn ich Sie richtig verstanden habe, für eine eher noch
höhere Agrardieselbesteuerung. Oder wie soll ich das se-
hen?


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist SPD-Ideologie!)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1620520100

Herr Dr. Geisen, ich habe gerade versucht, Ihnen zu

erklären, dass man eine Gesamtbetrachtung der steuerli-
chen Belastung vornehmen muss – auf die Gesamtbe-
trachtung des Ifo-Instituts stützt sich ja auch Ihr Antrag –,
in die alles einbezogen werden muss. Ich sage voller
Stolz, dass wir als Bund diese Verantwortung wahrneh-
men und fast 4 Milliarden Euro in die Hand nehmen.
Das ist auch richtig. Aber das ist eine Entlastung, lieber
Herr Geisen, die die Bauern in anderen Staaten nicht ha-
ben. Auch das muss man in diesem Zusammenhang se-
hen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin nicht für eine höhere Besteuerung, Herr Geisen,
sondern ich bin dafür, dass wir zukunftsorientiert arbei-
ten.

Wenn wir die Wettbewerbssituation betrachten, müs-
sen wir auch die Marktanteile sehen. Da will ich nur ein-
mal den Deutschen Bauernverband zitieren, der – Herr
Kollege Schindler kann das sicherlich bestätigen – in
seinem Situationsbericht 2009 schreibt:

Im Zehnjahresvergleich hat Deutschland seinen
Marktanteil bei den meisten Produkten halten oder
sogar ausbauen können.

Ehrlich gesagt, hört sich das für mich nicht nach einem
gravierenden Wettbewerbsnachteil an. Wettbewerbs-
situationen zu verbessern, ist gut. Dass die Landwirt-
schaft so gut dasteht, ist auch in Ordnung. Die gesetzli-
che Krankenversicherung der Landwirte wurde im
Konjunkturprogramm nicht außen vor gelassen. Sie pro-
fitieren zudem von den Steuersenkungen.

Uns geht es darum, in die Zukunft zu investieren. Uns
geht es darum, die Notwendigkeit der Steigerung der
Energieeffizienz in den Mittelpunkt zu stellen.


(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Effizienz ist immer richtig!)


Da kann man Kosten sparen. Ich muss ganz ehrlich sa-
gen: Es tut mir zutiefst leid, dass unser Koalitionspartner
in der vergangenen Woche nicht zugestimmt hat, als es
um den Verzicht auf Besteuerung der Biokraftstoffe für
den öffentlichen Personennahverkehr ging.


(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Ist denn da alles effizient?)


Sie haben dem eine Absage erteilt. Das wäre eine Inves-
tition in die Zukunft gewesen. Damit hätten wir den
Landwirten geholfen und etwas Gutes für die Zukunft
getan.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620520200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11670 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor-
ständen

– Drucksache 16/10120 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafür
eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann werden wir so verfahren.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort für die Bundesregierung Herrn Parlamenta-
rischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1620520300


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Müller!
Bürgerschaftliches Engagement ist wichtig für unsere
Gesellschaft. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt davon,
dass ihre Mitglieder sich aktiv einbringen und vor allem
dort für Ausgleich und Fürsorge sorgen, wo der Staat
dies nicht leisten kann.

Bürgerschaftliches Engagement muss weiter geför-
dert werden. Dazu gehört es, die rechtlichen Rahmenbe-
dingungen zu schaffen, damit Menschen sich gemeinsam
engagieren können. In Deutschland wird vor allem in
Vereinen, aber auch in Stiftungen beispielhafte gesell-
schaftliche Arbeit geleistet. Das Ehrenamt spielt dabei
eine besonders wichtige Rolle. Viele kleine Vereine kön-
nen nur deshalb effektiv wirken, weil die Vereinsämter
ehrenamtlich wahrgenommen werden. Es wird aller-
dings immer wieder berichtet, dass Vereinsmitglieder
zögern, Vereinsämter zu übernehmen – nicht etwa, weil
sie die damit verbundene Arbeit scheuen, sondern aus
Furcht vor eventuell unüberschaubaren Haftungsrisiken.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Eine begründete Furcht!)


Zwar gibt es bereits nach geltendem Recht die Mög-
lichkeit, die Haftung der Vorstände gegenüber dem Ver-
ein und seinen Mitgliedern durch Satzungsregelungen zu
beschränken. Doch wissen viele dies nicht. Deshalb hat
der Bundesrat in seinem Entwurf eines Gesetzes zur Be-
grenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereins-
vorständen eine gesetzliche Haftungsbeschränkung ge-
genüber dem Verein und den Vereinsmitgliedern
vorgesehen. Ich begrüße dies ausdrücklich als wichtigen
Beitrag zur Förderung des bürgerschaftlichen ehrenamt-
lichen Engagements.

Dabei muss allerdings das Risiko des Vereinsvorstan-
des sorgfältig mit den eventuellen Risiken Dritter abge-
wogen werden. Deshalb ist es in diesem Spannungsfeld
gegenläufiger Interessen sinnvoll, zwischen den Ansprü-
chen Außenstehender und den Ansprüchen des Vereins
sowie einzelner Vereinsmitglieder zu unterscheiden. Es
ist durchaus angemessen, die Haftung des ehrenamtlich
tätigen Vereinsvorstandes gegenüber dem Verein sowie
gegenüber einzelnen Vereinsmitgliedern auf Vorsatz und
grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Nach außen hin,
also gegenüber Dritten, ist dagegen eine volle Haftung
nach wie vor unabdingbar. Der Verein kann hierfür
durch Abschluss einer Risikoversicherung allerdings
Vorsorge treffen.


(Lachen des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Zur Unterscheidung, ob ein Vorstand tatsächlich ehren-
amtlich oder gegen Gehalt tätig wird, schlagen wir vor,
die Regelung des § 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz
einzuführen. Das Haftungsprivileg wollen wir auf die
Personen erstrecken, die für ihre Tätigkeit als Vereins-
vorstand eine Vergütung von nicht mehr als 500 Euro
pro Jahr erhalten.

Bei ehrenamtlich tätigen Vorständen von Stiftungen
– dieser Punkt ist im Bundesratsentwurf nicht enthalten –
besteht eine mit den ehrenamtlichen Vereinsvorständen
vergleichbare Haftungssituation. Auch sie sollten gegen-
über der Stiftung nicht für Schäden haften, die durch ein-
fache Fahrlässigkeit verursacht wurden. Die Stiftung
sollte ihre ehrenamtlichen Vorstände außerdem in glei-
cher Weise wie die Vereine von der Haftung für leichte
Fahrlässigkeit gegenüber Dritten freistellen. Wir können
eine Erstreckung des Haftungsprivilegs auf die Verlet-
zung steuerlicher oder sozialrechtlicher Pflichten nicht
gutheißen, und zwar auch deshalb nicht, weil die bisher
geltenden Risikobegrenzungen insoweit ausreichend
sind.

Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
war und ist auch für die Bundesregierung von herausra-
gender Bedeutung. Wir haben schon vieles zur Förde-
rung des Ehrenamtes getan, und wir sind auch weiterhin
aktiv. Zurzeit wird im Bundesministerium der Justiz ein
umfassender und gut verständlicher Leitfaden für Ver-
eine erstellt, den wir demnächst über das Internet allge-
mein zugänglich machen. Darin werden alle wesentli-
chen Fragen zum Vereinsrecht beantwortet.

Den vorliegenden Gesetzesvorschlag unterstützen wir
mit den eben von mir vorgetragenen Ergänzungen. Die
ehrenamtlich Tätigen leisten einen unschätzbaren, wert-
vollen Beitrag für unser gesellschaftliches Zusammenle-
ben. Wir sollten diesen Beitrag auch für die Zukunft er-
halten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620520400

Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kolle-

gin Mechthild Dyckmans.


(Beifall bei der FDP)



Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1620520500

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Wir haben es gehört: Der Gesetzentwurf soll das
bürgerschaftliche Engagement in Vereinen fördern. Das
begrüßen wir von der FDP ausdrücklich.

Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf, der auf
eine Initiative des Saarlandes und Baden-Württembergs
zurückgeht, nunmehr auch im Bundestag beraten wird.
Der Gesetzentwurf sieht – der Herr Staatssekretär hat
das schon ausgeführt – eine Begrenzung des Haftungsri-
sikos von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstandsmitglie-
dern vor. Auch das unterstützen wir ausdrücklich. Es ist
ja beinahe schon ein Wunder, dass sich überhaupt noch
Menschen finden lassen, die bereit sind, Vorstandsfunk-
tionen zu übernehmen. Man muss bedenken: Für Ver-
einsvorstände gelten die gleichen Haftungsrisiken wie
zum Beispiel bei GmbH-Geschäftsführern. Ich meine,






(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans
hier ist eine Unterscheidung nicht nur erlaubt, sondern
sogar geboten.


(Beifall bei der FDP)


Natürlich macht es einen Unterschied, ob jemand von
Berufs wegen – in der Regel gegen gutes Gehalt – solch
eine Arbeit übernimmt, oder ob er solche Verpflichtun-
gen ehrenamtlich in seiner Freizeit, neben seiner berufli-
chen Tätigkeit, in Sportvereinen, in sozialen Einrichtun-
gen, in Einrichtungen der Kulturpflege, beim Roten
Kreuz, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder sonst wo
übernimmt.

Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Ge-
setzentwurf jetzt offensichtlich unterstützt. Das hat bei
der Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf noch ganz
anders ausgesehen.


(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Wir sind eben flexibel!)


Auch im Dezember des letzten Jahres war die Bundesre-
gierung noch nicht so weit. Auf eine Anfrage meines
Kollegen Burgbacher hat sie zu dem Zeitpunkt geant-
wortet, dass man noch nicht weiß, wie man damit umge-
hen soll. Es ist schön, dass man jetzt offensichtlich auch
in der Bundesregierung zur Einsicht gekommen ist und,
wie im Entwurf vorgesehen, einen § 31 a BGB einführen
will.

Gleichwohl glaube ich auch, dass es einige Punkte
gibt, über die wir noch einmal sprechen sollten. Zum ei-
nen gibt es den angesprochenen Vorschlag, ob man auch
das Haftungsrisiko für Vorstände von Stiftungen be-
grenzen soll. In diesem Zusammenhang muss man prü-
fen, ob die Haftungsrisiken tatsächlich vergleichbar sind.
Falls das so ist, sehen ich und meine Fraktion keinen
Grund, dass man nicht auch den Vorstand einer Stiftung
in den Genuss einer gesetzlichen Haftungsbegrenzung
kommen lassen soll.

Beim zweiten Punkt geht es um das Kriterium der
Unentgeltlichkeit. Dazu wurde im Gesetzentwurf, aller-
dings nur in der Begründung, ausgeführt, dass die Tatsa-
che, dass man für eine Tätigkeit lediglich eine Aufwands-
entschädigung oder ein geringes Entgelt bekommt, der
Unentgeltlichkeit nicht entgegenstehen soll. Der Vor-
schlag aus dem Justizministerium, der eine Konkretisie-
rung des Unentgeltlichkeitskriteriums vorsieht, scheint
mir zielführend zu sein, sodass man diesen Punkt noch
einmal besprechen sollte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin auch froh, dass man im Ministerium offen-
sichtlich wieder davon abgekommen ist, eine Verpflich-
tung der Vereine zum Abschluss einer entsprechenden
Versicherung vorzuschlagen. Gut, dass man sich davon
gelöst hat. Es war gut, dass Sie bis zum Februar gewartet
und heute Ihre Presseerklärung herausgegeben haben, in
der Sie mitteilen, dass Sie allem in der jetzigen Form zu-
stimmen.

Ich würde mich also freuen, wenn wir ohne größere
parteipolitische Auseinandersetzungen diesen Gesetzes-
vorschlag schnell verabschieden könnten; denn das liegt
im Interesse Tausender Frauen und Männer, die sich eh-
renamtlich in Vereinen engagieren und jeden Tag aufs
Neue einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer akti-
ven und lebenswerten Bürgergesellschaft leisten.

Schönen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620520600

Für den Bundesrat hat nun das Wort der Ministerprä-

sident des Saarlandes, Peter Müller.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Müller (CDU):
Rede ID: ID1620520700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dass bürgerschaftliches Engagement einen un-
schätzbaren Wert für unsere Gesellschaft hat und es we-
sentlicher Teil des Kitts ist, der diese Gesellschaft zu-
sammenhält, ist eine Tatsache, die in diesem Hause
bekannt ist und die deshalb nicht weiter vertieft werden
muss.

Folglich ist es unsere Aufgabe, Rahmenbedingungen
zu schaffen, die ehrenamtliches Engagement unterstüt-
zen und Anreize schaffen, dieses Engagement zu erbrin-
gen, und dort, wo ehrenamtliches Engagement behindert
wird, gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Hürden be-
seitigt werden. Das war immer ein Ziel der Arbeit in die-
sem Haus. Das wurde auch beim Gesetz zur weiteren
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, das
wichtige Verbesserungen für bürgerschaftliches Engage-
ment gebracht hat, deutlich.

Die Frage der Haftung von ehrenamtlich und unent-
geltlich tätigen Mitgliedern in den Vereinsvorständen ist
dort nicht geregelt worden. Diese Frage wurde bei den
Beratungen jenes Gesetzentwurfs im Bundesrat ange-
sprochen. Der Diskussionsbedarf wurde bestätigt, und
auf dieser Grundlage beruht der jetzt vorliegende Ge-
setzentwurf des Bundesrates, der auf saarländische Ini-
tiative hin zustande gekommen ist.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf des Bun-
desrates dieses Stadium im Hohen Haus erreicht hat.
Nicht allen Entwürfen des Bundesrates ist dieses Schick-
sal beschieden.


(Dirk Manzewski [SPD]: Erreichen tun sie uns schon!)


Umso mehr freue ich mich, dass dies heute der Fall ist,


(Beifall bei der CDU/CSU)


und zwar auch deshalb, weil wir heute über eine rege-
lungsbedürftige Angelegenheit sprechen. Frau Dyck-
mans hat es eben gesagt: Durch die Rechtsprechung ist
die Haftung der ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstände
derjenigen eines GmbH-Geschäftsführers angenähert
worden. Das ist mit Sicherheit nicht sachgerecht.

Ich will es ganz kurz an einem Beispiel erläutern
– der Fall hat sich in dem von mir vertretenen Bundes-






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident Peter Müller (Saarland)

land zugetragen –: Es geht um einen großen Sportverein,
in dem ein ehrenamtlicher Jugendleiter für die Jugend-
arbeit zuständig ist. Daneben gibt es eine Vertragsspie-
lerabteilung mit einem Geschäftsführer, der Steuern
nicht zahlt und Sozialversicherungsbeiträge nicht ab-
führt. Irgendwann fällt dies auf. Die Ansprüche werden
geltend gemacht. Der Geschäftsführer ist weg. Der Ver-
ein kann die Forderungen aus dem Vereinsvermögen
nicht befriedigen. Plötzlich sieht sich der ehrenamtlich
tätige Jugendleiter einem Haftungsbescheid in der Grö-
ßenordnung von 35 000 Euro gegenüber. Das kann nicht
richtig sein.


(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Da hat der Ministerpräsident nicht aufgepasst!)


– Wenn Sie dazwischenrufen, da habe der Ministerpräsi-
dent nicht aufgepasst, sage ich an dieser Stelle: Im Saar-
land ist das einfacher als in Nordrhein-Westfalen, aber
um alles kann sich auch der saarländische Ministerpräsi-
dent nicht kümmern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Außerdem war das sein Vorvorgänger!)


– Das ist richtig.

Ich glaube, dass die Notwendigkeit besteht, in diesem
Bereich eine faire Verteilung der Haftungsrisiken herbei-
zuführen. Eine faire Verteilung heißt: Natürlich hat jeder
für das einzustehen, was er selber tut. Natürlich hat jeder
für vorsätzliches Handeln und für grobe Fahrlässigkeit
einzustehen. Aber in Fällen des bloßen Nichtwissens, in
Fällen einfacher Fahrlässigkeit muss nach meinem Da-
fürhalten – und das ist auch die Sprache dieses Gesetz-
entwurfes, der im Grundsatz breite Unterstützung fin-
det – eine Haftungsfreistellung gegeben sein.

Ich halte die Bedenken in der ursprünglichen Stel-
lungnahme der Bundesregierung für nicht begründet.
Auf den Hinweis, dass wir vergleichbare Situationen bei
Stiftungen, bei Pflegepersonen und Betreuern haben,
kann mit dem Argument geantwortet werden, dass diese
Personengruppen in die Regelungen einbezogen werden.
Im Übrigen besteht schon ein Unterschied: Bei Vereinen
handelt es sich in der Regel um immateriell orientierte
Tätigkeiten, während die anderen Gruppen, die ange-
sprochen worden sind, typischerweise mit Fragen der
Vermögenssorge befasst sind.

Auch den Hinweis, dass bei einer Haftungsfreistel-
lung das Risiko besteht, dass die Haftung des Vereins
verschärft wird, halte ich für falsch. Es geht meist um
diejenigen Fälle, in denen der Verein nicht haften kann,
weil er nicht leistungsfähig ist, weil das Vereinsvermö-
gen nicht ausreicht. Ich glaube auch, dass der Hinweis
darauf, damit sei das Risiko verbunden, dass Sozialversi-
cherungsbeiträge oder Steuern ausfallen, am Ende nicht
tragen kann. Wir müssen beachten, dass wir über Be-
träge reden, die mit Blick auf das Gesamtsteueraufkom-
men oder das Gesamtaufkommen im Bereich der Sozial-
versicherung von absolut vernachlässigbarer Größe sind.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Wir müssen auch beachten, dass es hier um Tatbestände
geht, die dazu führen können, dass ehrenamtliches
Engagement, dass die Bereitschaft, sich in Vereinen ein-
zubringen, breitflächig zurückgeht. Vor diesem Hinter-
grund hat, glaube ich, das fiskalische Interesse zurückzu-
stehen.

Ich bitte herzlich darum, diesen Gesetzentwurf aus
dem Bundesrat zu unterstützen und zielführend zu bera-
ten.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das tun wir!)


Ich verbinde dies mit der Bitte um Verständnis dafür,
dass ich die Debatte gleich verlasse, weil parallel die Fö-
deralismuskommission tagt und meine Anwesenheit dort
erforderlich ist.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Zehn Minuten noch!)


Es ist keine Missachtung des Hohen Hauses. Unterstüt-
zen Sie bitte diesen Gesetzentwurf im Interesse des
ehrenamtlichen Engagements in unserem Land! Wir
brauchen bürgerschaftliches Engagement. Es macht die
Menschlichkeit dieser Gesellschaft aus.

Ich bitte um Unterstützung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620520800

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620520900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Der vorliegende
Gesetzentwurf ist durchaus vernünftig. Ich denke, wir
werden ihm zustimmen. Über seinen Inhalt gibt es ver-
mutlich nur wenig Streit. Aber worüber reden wir ei-
gentlich? Die wirklichen Probleme werden mit diesem
Gesetz nämlich nicht gelöst.

Auch ich möchte ein Beispiel anführen: Ein Verein
mit 20 Mitgliedern sammelt seit über 20 Jahren Spenden
für die Kinder und jetzt erwachsenen Opfer von Tscher-
nobyl. Das gesamte Geld, das dieser Verein jemals ge-
sammelt hat, wurde gespendet und nach Weißrussland
oder in die Ukraine geschickt. Man hat also geholfen
und gute Arbeit getan.

Einmal im Jahr führt der Verein, weil das Vorschrift
ist, seinen Vereinstag durch, bestätigt seinen Vorstand
oder wählt ihn neu. An diesem Tag entsteht ein Brand
– aus welchen Gründen, lässt sich hinterher nicht mehr
ermitteln –, und die Räumlichkeit, in der der Verein ge-
rade tagt, brennt ab. Es entsteht ein Schaden in Höhe von
25 000 Euro. Das Vereinsvermögen beträgt 38,50 Euro;
das ist das Geld, das der Verein für Briefmarken ausgibt.
Das gesamte übrige Geld wird schließlich, wie gesagt,
gespendet und zum Beispiel nach Belarus geschickt.
Nun fordert der Besitzer der Räumlichkeit, die abge-
brannt ist, Schadensersatz. Der Verein zahlt seine






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
38,50 Euro und ist damit bankrott. Wer muss jetzt zah-
len? Am Ende müssen die Vereinsvorstände zahlen. Das
kann doch nicht sein. Das, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, können wir nicht wollen.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das stimmt so auch nicht!)


– Dann klären Sie mich nachher bitte auf. Ich kann Ihnen
sagen: Das ist die Rechtslage. Das können wir aber nicht
wollen.

Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die ehren-
amtlich tätig sind, keine Angst haben müssen, dass auf
ihr Privatvermögen zurückgegriffen wird. Dafür gibt es
verschiedene Möglichkeiten. Man könnte zum Beispiel
eine Haftungsbegrenzung vornehmen. Man könnte für
Vereine auch eine staatliche Garantie abgeben und die
Kosten für Vereinsschutzbriefe übernehmen, natürlich
nur für die der untersten Kategorie; das ist klar. Das wäre
eine Möglichkeit, Vereine, die nicht das nötige Geld ha-
ben, um eine Versicherung abzuschließen, nicht einmal
eine Versicherung für eine Vereinsveranstaltung, von
diesen Belastungen zu befreien. Das wäre wichtig.

In eine solche Regelung könnten wir auch die anderen
Zielgruppen, von denen immer die Rede ist, einbezie-
hen. Wie sieht es denn mit amtlich bestellten Pflegerin-
nen und Pflegern oder Betreuerinnen und Betreuern aus?
Auch sie haben ein Haftungsrisiko. Auch diesen Perso-
nen müssen wir helfen. Insofern besteht durchaus Hand-
lungsbedarf.

Dass der Staatssekretär diesen Gesetzentwurf jetzt un-
terstützt, finde ich sehr erfreulich. Aber das Schauspiel,
das Sie uns geliefert haben, indem Sie den vorliegenden
Gesetzentwurf des Bundesrates sechs Monate lang ver-
schleppt haben, ist ziemlich beschämend. Ich finde, da-
für hätten Sie zumindest ein Wort der Entschuldigung
sagen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch eines: Wenn wir Politikerinnen und Politiker ei-
nen Fehler machen, sind unsere Diäten, also unsere Ge-
hälter, und unsere Pensionen genauso sicher wie unsere
Vermögen, solange wir nicht ehrenamtliche Vorsitzen-
den eines Vereins sind, von dem ich gerade sprach. Dass
auch Spitzenmanager von Banken und großen Unterneh-
men solchen Haftungsrisiken nicht ausgesetzt sind, erle-
ben wir in letzter Zeit Tag für Tag. Lassen Sie uns dafür
sorgen, dass diejenigen, die von allen und immer wieder
für ihre unverzichtbare ehrenamtliche Arbeit gelobt wer-
den – Sie haben sie sogar als „Kitt der Gesellschaft“ be-
zeichnet –, nicht solchen Risiken ausgesetzt sind.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620521000

Der Kollege Hans-Christian Ströbele hat seine Rede

zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzter Redner in
dieser Debatte der Kollege Dr. Peter Danckert für die
SPD-Fraktion das Wort hat.

1) Anlage 2

Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1620521100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich muss sagen: Es
gefällt mir, dass Sie diesen Gesetzentwurf des Bundes-
rates persönlich vertreten. Das zeigt Ihr großes Engage-
ment. Ich bin Ihnen sehr dankbar – ich sage das ganz
freimütig über Parteigrenzen hinweg –, dass hier eine
Minireform – das muss man so sagen, wenn man sich
vor Augen hält, was wir zum Abbau von Bürokratie in
diesem Bereich eigentlich alles regeln müssten – ange-
stoßen wurde. Dass Sie heute Abend hier sind, ist wirk-
lich verdienstvoll.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich hoffe, dass wir Ihre Anwesenheit nicht nur der Koin-
zidenz mit einem anderen Termin verdanken, sondern
dass Sie auch gekommen wären, wenn Sie hier keine an-
deren Verpflichtungen gehabt hätten. Ich würde Sie
gerne einladen, noch ein bisschen zu bleiben; denn auch
wenn wir nachher über die Reform des Untersuchungs-
haftrechts reden, könnten wir Ihre Unterstützung brau-
chen. Ich weiß allerdings, dass Sie nicht so lange bleiben
können.

Im Prinzip ist zu der großen Rolle der ehrenamtlich
Tätigen alles gesagt worden. Im Sportbereich – diesem
Bereich, Herr Ministerpräsident, sind wir ja beide ver-
bunden – sind mehr als 1 Million Menschen als Vereins-
vorsitzende ehrenamtlich tätig. Die bisherigen Regelun-
gen im Bürgerlichen Gesetzbuch sind defizitär, sie
müssen geändert werden. Insofern – ich habe es eben
schon gesagt –: Danke für die Anregung und den Anstoß
zu dieser Gesetzesinitiative!

Was uns besorgt hat – das will ich freimütig sagen –,
ist der Umstand, dass dieser Gesetzentwurf zu scheitern
drohte. Es ist der Initiative vieler Mitglieder des Sport-
ausschusses und des Rechtsausschusses zu verdanken,
dass es zu einem Gespräch kam, in dem wir zusammen
mit dem Generaldirektor des Deutschen Olympischen
Sportbundes unsere Bedenken geschildert und deutlich
gemacht haben, dass wir eine gesetzliche Regelung in
dieser Richtung wollen.

Von einer Sternstunde zu sprechen, ist vielleicht über-
trieben; aber ein Erfolg ist es, dass aus dieser parlamen-
tarischen Initiative – was ja nicht allzu häufig ist – mit
der Formulierungshilfe, die die Bundesregierung geleis-
tet hat, ein Gesetz geworden ist, das wir hier beraten
können. Das eine oder andere wird im Rahmen eines
Feintunings noch modifiziert werden müssen; aber die
Richtung stimmt, das Gesetz findet ja jetzt Zustimmung.

Ehrenamtliche Tätigkeit muss in der Form, wie es
jetzt vorgesehen ist, ein Stück weit geschützt werden.
Wir wissen von den Vorsitzenden vieler Vereine, dass
die Frage der Haftung sie sehr bedrückt. Das von Ihnen,
Herr Ministerpräsident, genannte Beispiel mit den
35 000 Euro war ja noch relativ harmlos. Als Anwalt
habe ich vor zehn, zwölf Jahren selber erlebt, wie ein
Vereinsvorsitzender einen Haftungsbescheid über 1 Mil-
lion DM bekam – was nicht nur familiär katastrophale






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert
Auswirkungen hatte. Die Forderung konnte aus dem
Vereinsvermögen – indem ein Teil des Geländes ver-
kauft wurde – bezahlt werden.

Die Haftung ist ein kritischer Punkt, es ist kritisch,
wenn sich der Vorsitzende darauf verlassen muss, dass
im größeren Umfeld alles seine Ordnung hat. Von daher
ist die Haftungsbegrenzung, die wir mit diesem Gesetz
vorsehen, notwendig. Auch die Form, in der wir das ma-
chen, ist richtig.

Nachdenken müssen wir vielleicht noch darüber, ob
die unentgeltliche Tätigkeit mit 500 Euro richtig ange-
setzt ist. Klaus Riegert, ich habe das so verstanden, dass
wir darüber in den Gremien noch einmal diskutieren
werden. Ich halte diesen Maßstab für durchaus angemes-
sen; aber man kann darüber diskutieren, ob wir das noch
etwas ausweiten sollten.

Herzlichen Dank noch einmal an Sie, Herr Minister-
präsident Müller. Dank auch an alle anderen, die dazu
beigetragen haben, dass wir in dieser Legislaturperiode
mit der Schaffung eines § 31 a BGB eine seit langem ins
Auge gefasste Änderung des § 31 BGB herbeiführen
können.

Ich glaube, dass diese Änderung draußen akzeptiert
wird und ankommt, weil die ehrenamtlichen Vorsitzen-
den der Sportvereine unter der bisherigen Regelung in
der Tat gelitten haben. Sie mussten besorgt sein, weil sie
nicht genau wissen konnten, was auf sie zukommt.
Durch die Beschränkung der Haftung setzen wir ein
deutliches Zeichen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620521200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10120 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolf-
gang Nešković, Monika Knoche, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Keine Abschiebungen in das Kosovo
– Drucksachen 16/9143, 16/11370 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans-
Werner Kammer, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jel-
pke und Josef Philip Winkler.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11370, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/9143 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU

(Tuchenbach)


(Rosenheim), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der SPD
Frauen und Mädchen mit Behinderungen
wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsange-
bote verbessern
– Drucksache 16/11775 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Auch hier wurde vereinbart, dass die Reden zu Proto-
koll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden fol-
gender Kolleginnen und Kollegen: Antje Blumenthal,
Michaela Noll, Marlene Rupprecht, Ina Lenke, Dr. Ilja
Seifert und Markus Kurth.2)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11775 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Alexander Bonde, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen stra-
tegisch nutzen
– Drucksache 16/11761 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Federführung strittig

Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben,
und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen:

1) Anlage 3
2) Anlage 4






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Klaus-Peter Willsch, Bernhard Brinkmann, Ulrike Flach,
Roland Claus und Dr. Thea Dückert.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11761 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss,
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-
schlag ist damit abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – Federführung
beim Haushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Ist jemand dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit
mit großer Mehrheit angenommen. Das heißt, die Feder-
führung liegt beim Haushaltsausschuss.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Untersuchungshaftrechts

– Drucksache 16/11644 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann wird so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Harten-
bach das Wort für die Bundesregierung.


(Jörg van Essen [FDP]: Nicht die Reden verwechseln!)


A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1620521300


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr van Essen, bis zwei kann ich zäh-
len. Ich habe die richtige Rede.

Die Untersuchungshaft ist eine besonders schwerwie-
gende Beschränkung der Freiheit und mit weitreichen-
den Grundrechtseingriffen verbunden. Ich sehe es des-
halb als eine positive Entwicklung an, dass die Zahl der
Untersuchungshäftlinge trotz einer effektiven Strafver-
folgung seit Jahren sinkt. 2006 gab es insgesamt etwa
24 000 Untersuchungsgefangene. Das ist sicherlich noch
immer eine hohe Zahl; aber 30 Jahre zuvor, 1976, also
weit vor der deutschen Einheit, waren es noch über
42 000. Das ist ein Rückgang um 43 Prozent. Ich glaube,

1) Anlage 5
wir verdanken dies nicht zuletzt den Maßnahmen zur
Haftvermeidung und der Justiz, die diese anwendet.

Trotzdem bleibt die Untersuchungshaft eine beson-
dere Herausforderung für den Rechtsstaat. Mit diesem
Gesetzentwurf der Bundesregierung wollen wir deshalb
klar regeln, unter welchen Voraussetzungen welche Be-
schränkungen der Freiheit zulässig sind. Wir wollen
auch die Rechte der Festgenommenen stärken.

Wenn U-Haft angeordnet wird, geht es nicht nur um
die Freiheitsentziehung selbst, sondern auch um beglei-
tende Maßnahmen wie die Postkontrolle oder Besuchs-
beschränkungen. Im Gesetz war bislang weder geregelt,
welche Beschränkungen zulässig sind, noch, unter wel-
chen Voraussetzungen diese erfolgen können. Es exis-
tierte lediglich eine gemeinsame Verwaltungsvorschrift
der Länder. Infolge der Föderalismusreform regelt nun
der Bund das Ob der Untersuchungshaft und das gericht-
liche Verfahren, während die Regelungskompetenz für
das Wie des Vollzugs bei den Ländern liegt.

Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen vor-
stellen, die der Entwurf der Bundesregierung vorsieht.

Zu den Beschränkungen, die Untersuchungsgefange-
nen über die Freiheitsentziehung als solche hinaus zur
Abwehr von Flucht-, Verdunklungs- und Wiederho-
lungsgefahr auferlegt werden können, gehören vor allem
die Überwachung der sogenannten Außenkontakte: Be-
suche, Telekommunikation und Briefverkehr sowie die
Trennung von anderen Gefangenen, die an derselben Tat
beteiligt waren. Alle diese Eingriffe müssen im Hinblick
auf die Unschuldsvermutung und das Freiheitsrecht des
Beschuldigten sorgfältig abgewogen werden. Dafür
schafft unser Entwurf transparente und klare gesetzliche
Regeln. Nicht ausreichend sind künftig rein standardmä-
ßige, unabhängig von den konkreten Umständen des
Einzelfalls angeordnete Beschränkungen. Die zuständi-
gen Stellen müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob solche
Beschränkungen wirklich erforderlich sind. Damit tra-
gen wir der Unschuldsvermutung in Zukunft noch sehr
viel besser Rechnung.

Im Gesetz wollen wir außerdem den Rechtsschutz
klarer regeln. Damit wird für die Inhaftierten künftig
deutlicher, dass und mit welchen Rechtsmitteln sie sich
gegen Beschränkungen in der U-Haft rechtlich zur Wehr
setzen können. Das schafft mehr Klarheit für die Voll-
zugspraxis, stärkt die Rechte der Betroffenen und ist ein
Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit.

Eine zweite wichtige Neuerung geht auf eine Anre-
gung zurück, die wir den europäischen Institutionen zum
Schutz der Menschenrechte verdanken. Es geht darum,
dass Verhaftete über ihre Rechte möglichst frühzeitig
und umfassend belehrt werden. Wir regeln in diesem Ge-
setz, dass Beschuldigte in Zukunft bereits bei ihrer Fest-
nahme und zudem schriftlich belehrt werden. Das be-
deutet, dass sie nicht nur einen mündlichen Hinweis,
sondern auch ein Papier bekommen, auf dem zum Bei-
spiel steht, dass sie spätestens am nächsten Tag einem
Richter vorgeführt werden, dass sie das Recht haben,
keine Aussage zu machen, und dass sie Zugang zu einem
Verteidiger und einem Arzt bekommen können.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
Des Weiteren verbessern wir das Recht der Inhaftier-
ten, ihre Akten einzusehen. Es gibt natürlich Fälle, in de-
nen die Gewährung von Akteneinsicht die Ermittlungen
und damit den Zweck der Untersuchungshaft gefährden
würde. In solchen Fällen kann die Staatsanwaltschaft die
Akteneinsicht verweigern. Trotzdem muss der Untersu-
chungsgefangene oder sein Verteidiger jedenfalls die In-
formationen bekommen, die notwendig sind, um die
Rechtmäßigkeit der Inhaftierung beurteilen zu können.
Das ist auch ein Gebot der Waffengleichheit; denn wenn
man über die Gründe nicht Bescheid weiß, kann man ge-
gen eine Inhaftierung keine gezielten Rechtsmittel er-
greifen.

Ich denke, es wird deutlich, dass dieser Gesetzent-
wurf ein echter Gewinn an Rechtsstaatlichkeit ist. Wir
stärken die Rechte der Betroffenen und stellen klare und
praxistaugliche Regeln auf. Wir schaffen damit eine gute
Balance zwischen der Unschuldsvermutung, die für Un-
tersuchungsgefangene gilt, und dem Bedürfnis des Staa-
tes nach einer wirksamen Strafverfolgung.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620521400

Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1620521500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Gesetz-
entwurf vorgelegt hat. Trotzdem will ich daran erinnern,
dass ich bei meiner grundsätzlichen Kritik bleibe. Die
Entscheidung im Rahmen der ersten Föderalismusre-
form, wonach die Gesetzgebung für den Strafvollzug auf
die Länder übergegangen ist und nur noch das Ob nach
Bundesrecht entschieden wird, halte ich weiter für
falsch.


(Beifall bei der FDP, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Das ändert aber nichts daran, dass das, was die Bun-
desregierung jetzt vorgelegt hat, ein Schritt in die rich-
tige Richtung ist; er wird von uns ganz außerordentlich
begrüßt. Herr Staatssekretär, ich sehe das genauso wie
Sie. Es ist gut, dass diejenigen, die in Untersuchungshaft
kommen und für die weiter die Unschuldsvermutung
gilt, über das unterrichtet werden, was ihnen vorgewor-
fen wird, dass sie Anspruch darauf haben, dass ihnen ein
Exemplar des Haftbefehls ausgehändigt wird, und
– auch das ist sehr wichtig – dass dies dem Häftling,
wenn er der deutschen Sprache nicht mächtig ist, in sei-
ner Heimatsprache oder einer ihm verständlichen Spra-
che vorgetragen werden muss.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fehlt ja noch im Gesetzentwurf!)


Ich glaube, dass das ein wichtiger und richtiger Schritt
ist.
Ein zweiter Punkt gefällt mir ebenfalls sehr gut. In
den ursprünglichen Entwürfen, die zur Diskussion stan-
den, waren sehr starke Einschränkungen der Außenkon-
takte des Häftlings vorgesehen. Sie sind in dem von Ih-
nen vorgelegten Gesetzentwurf zu einer Vorgehensweise
zurückgekehrt, die mir sehr gut gefällt, nämlich dass im
Einzelnen geprüft wird, ob eine Notwendigkeit zur Be-
schränkung der Außenkontakte besteht. Das muss dann
auch ausdrücklich angeordnet werden. Das entspricht
meines Erachtens dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das
auch bei der Untersuchungshaft zu gelten hat.


(Beifall bei der FDP und der SPD)


Es gibt einen Punkt, zu dem sich der Gesetzentwurf
nicht verhält, auf den ich aber gerne eingehen möchte,
weil er immer wieder Gegenstand von Entscheidungen
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie
auch des Bundesverfassungsgerichts ist: die Länge der
Untersuchungshaft. Das muss einem tatsächlich Sorge
machen. Ich will nicht verhehlen, dass hier durchaus
zwei Seelen in meiner Brust wohnen. Wenn man wie ich
aus der staatsanwaltschaftlichen Praxis kommt, dann
weiß man, dass die Länge der Untersuchungshaft
manchmal gar nicht von der Justiz beeinflusst werden
kann. Wenn man als die Ermittlung führender Staatsan-
walt oder Oberstaatsanwalt immer wieder den Gutachter
mahnt, endlich sein Gutachten vorzulegen – das Gutach-
ten ist für eine Anklageerhebung dringend erforderlich –,


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Es ist präjudizierend!)


– richtig – und wenn man alles unternommen hat, statt
die Hände in den Schoß zu legen, es aber trotzdem zu ei-
ner langen Untersuchungshaftzeit gekommen ist, fällt es
einem manchmal schwer, einzusehen, wenn das Ober-
landesgericht feststellt – wie es mir passiert ist –, dass
das nicht akzeptabel ist.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist doch klar, weil der Beschuldigte nichts dafür kann!)


– Dazu komme ich noch. Deswegen habe ich darauf hin-
gewiesen, dass das am Anfang, wenn man die Ermitt-
lung führt, schwer einzusehen ist, vor allen Dingen,
wenn der Beschuldigte – beispielsweise weil er weiß,
dass ihn eine lebenslange Haft erwartet – schon alles or-
ganisiert und gar keine Unterkunft mehr hat. Aber ich
teile das, was Sie gesagt haben, völlig. Wenn man das
Ganze nicht mehr mit professioneller Betroffenheit, son-
dern mit etwas Abstand sieht – insofern bin ich für Ihren
Einwand dankbar –, wird deutlich, dass der Betroffene
nichts dafür kann. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass
die Gerichte, insbesondere die Obergerichte, in diesem
Punkt sehr streng sind.

Ich hätte mir gewünscht – vielleicht können wir das in
den Berichterstattergesprächen tun –, dass wir uns, wenn
es schon zu einer Reform des Untersuchungshaftrechts
kommt, auch damit befassen, wie wir dem Problem der
zu langen Untersuchungshaftzeit in unserem Land, die
häufig und auch zu Recht kritisiert worden ist, begegnen
können.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen

(Beifall bei der FDP)


Das werden wir als FDP-Bundestagsfraktion in die Bera-
tungen einbringen.

Insgesamt halten wir – das möchte ich abschließend
als Fazit festhalten – diesen Gesetzentwurf für einen
Schritt in die richtige Richtung. Ich habe das Gefühl,
dass alle Fraktionen gemeinsam etwas verbessern wol-
len. Wenn der Wille da ist, sollten wir das auch nutzen,
um zu einem Ergebnis zu kommen, das dem Rechtsstaat
Bundesrepublik Deutschland dient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620521600

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sieg-

fried Kauder das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-
nen!

Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegen-
über einem Unschuldigen.

Das ist kein Ausspruch von mir – auch wenn er von mir
sein könnte –, sondern eine Schlussfolgerung des ehe-
maligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsge-
richts, Hassemer, im Strafverteidiger 1984, Seite 38 ff.

Untersuchungshaft ist die einschneidendste strafpro-
zessuale Maßnahme, die man sich vorstellen kann. Völ-
lig unvorbereitet wird ein Tatverdächtiger, für den die
Unschuldsvermutung gilt, in Haft genommen. Sich aus
der Haft heraus zu wehren, ist außerordentlich schwie-
rig. Deswegen nimmt jemand, der es sich leisten kann,
einen Anwalt. Der Anwalt muss aber rechtzeitig Infor-
mationen haben. Nach geltendem Recht konnte man
dem Strafverteidiger, der unmittelbar nach der Verhaf-
tung mandatiert wurde, Akteneinsicht verwehren, weil
der Ermittlungszweck dem entgegenstand. Hier hilft das
neue Gesetz deutlich. Danach müssen dem Strafverteidi-
ger die Aktenteile sofort zur Verfügung gestellt werden,
die er benötigt, um die Rechtmäßigkeit der Anordnung
der U-Haft zu beurteilen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das steht nicht drin!)


– Genau das steht drin, Herr Kollege.

An dem, was ich gerade geschildert habe, merkt man
aber, dass wir im Bereich des Untersuchungshaftrechtes
ein Zweiklassenwahlrecht haben. Derjenige, der es sich
wirtschaftlich leisten kann, nimmt sich einen versierten
Verteidiger. Nach dem in Diskussion stehenden Gesetz
bekommt der Verteidiger sofort Akteneinsicht und kann
sich für seinen Mandaten gegen die Inhaftierung zur
Wehr setzen. Aber was macht derjenige, der das Geld für
einen Verteidiger nicht hat? Nach geltendem Recht be-
kommt er in aller Regel bei nicht allzu schweren Delik-
ten nach drei Monaten verbüßter Untersuchungshaft ei-
nen Verteidiger. Ich habe genügend Erfahrung damit:
Nach drei Monaten braucht der Verteidiger gar nicht
mehr anzutreten. Die sozialen Kontakte und das Arbeits-
verhältnis sind weg. Das Mietverhältnis ist aufgelöst.
Daher ist in der ersten Sekunde der Festnahme die Ver-
teidigung das Allerwichtigste.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen den Gesetzentwurf, was diesen Bereich
angeht, kritisch betrachten. Der Gesetzgeber hat im Ge-
setzentwurf versucht, dieses Problem zu lösen. § 147
Abs. 7 der neuen Fassung der Strafprozessordnung sieht
vor, dass der nicht durch einen Verteidiger vertretene In-
haftierte über seine Rechte angemessen informiert wird.
Diese Krücke wird nicht helfen; denn mancher wird
nicht am Wohnort, sondern zum Beispiel irgendwo in
Norddeutschland – weil er sich dort gerade aufhält – in
Haft genommen, obwohl er in Süddeutschland lebt. Auf
dem sogenannten Schubweg braucht er etwa 14 Tage,
bis er an seinem Wohnortgefängnis angekommen ist.
Wer will ihn dabei informieren? Das heißt, wir müssen
genau diese Lücke im Gesetz schließen. Ich danke dem
Kollegen Danckert. Wir beide unterstützen das Anlie-
gen, dass dort, wo U-Haft angeordnet wird, ein Pflicht-
verteidiger beizuordnen ist, und zwar sofort, nicht erst
nach drei Monaten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP])


Die Freiheitsentziehung beginnt aber nicht erst mit
der Anordnung von Untersuchungshaft. Nach § 128 der
Strafprozessordnung kann die Polizei nach vorläufiger
Festnahme einen Bürger, gegen den Tatverdacht besteht,
bis zu 48 Stunden in Polizeigewahrsam halten. Auch
dort muss schon interveniert werden. Nach geltendem
Recht mussten die Familienangehörigen erst ab der An-
ordnung von Untersuchungshaft informiert werden. Das
wird im neuen Gesetz anders geregelt. Sofort nach der
vorläufigen Festnahme sind die Familienangehörigen zu
informieren. Sie leben also nicht 48 Stunden im Unge-
wissen.

Wir müssen aber nicht nur regeln, dass der Festge-
nommene sofort nach der vorläufigen Festnahme belehrt
wird, dass er einen Verteidiger in Anspruch nehmen
kann. Vielmehr soll all das, was Kollege Danckert und
ich uns wünschen, schon für den Bereich der vorläufigen
Festnahme gelten. Auch dann soll der Bürger einen An-
spruch auf einen Pflichtverteidiger haben, der angemes-
sen informiert werden muss.


(Beifall bei der SPD)


Der Kollege Montag nickt gefällig. – Das ist eine Forde-
rung, die Strafverteidiger seit langem erheben. Wir wis-
sen, dass das den Ländern Kosten verursachen wird.
Aber es steht in Diskussion, die Tagessatzhöhen bei
Geldstrafen, die bisher nach § 40 Abs. 2 des Strafgesetz-
buches bei 5 000 Euro enden, deutlich anzuheben. Man
denkt darüber nach, die bisherige Obergrenze von 5 000






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

Euro auf 30 000 Euro anzuheben. Das ergibt für die Län-
der die Möglichkeit finanzieller Mehreinnahmen, die
man sehr wohl für eine Pflichtverteidigerbestellung ein-
setzen kann.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch da nicke ich gefällig!)


Vielleicht kann man von diesen Mehreinnahmen noch
eine Forderung der Opfer erfüllen, deren Erfüllung bis-
her am Widerstand der Länder gescheitert ist: 10 Prozent
der Geldstrafen für opferschützende Organisationen.

Sie sehen also: Wenn man will, dann ist einiges mach-
bar. Ich würde mich auf eine weitere Unterstützung un-
seres Anliegens einer vorgelagerten Pflichtverteidiger-
bestellung freuen. Wir werden das im Rechtsausschuss
debattieren können.

Ich habe Ihnen zwei Minuten und 57 Sekunden Rede-
zeit erspart.

Vielen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620521700

Herr Kollege Nešković hat seine Rede zu Protokoll

gegeben1).

Damit hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620521800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bedingungen und Grenzen der Beschneidung der Frei-
heit im Rahmen der Untersuchungshaft aufzeigen – das
ist das, was ein Gesetz zur Reform der Untersuchungs-
haft leisten müsste. Dabei – ich stimme Ihnen völlig zu,
Herr Kollege Kauder – streitet für den nicht rechtskräftig
verurteilten Beschuldigten die Unschuldsvermutung.

Beschränkungen der Freiheit sind nur dann, wenn sie
unerlässlich sind, nur dann, wenn sie auf gesetzlicher
Grundlage erfolgen, und nur dann, wenn sie aufgrund
richterlicher Anordnung und richterlicher Durchführung
erfolgen, zulässig. Wir haben aber stattdessen seit Jahr-
zehnten nur § 119 Abs. 3 und Abs. 6 StPO und eine Ver-
waltungsfiktion in der Untersuchungshaftvollzugsord-
nung, wonach jeder Ermittlungsrichter, der sich zu den
Haftbedingungen der Untersuchungshaft nicht äußert, in
jedem einzelnen Fall fingiert alle Bestimmungen der Un-
tersuchungshaftvollzugsordnung für diesen Beschuldig-
ten anordnet.

In der Praxis ist seit Jahrzehnten über diese immer am
Rande der Verfassungswidrigkeit schrammende Praxis
diskutiert worden. Wir haben seit Jahrzehnten Vor-
schläge zur Reform der Untersuchungshaft von Verbän-
den, von Professoren und aus der wissenschaftlichen De-
batte. Ich finde, dass ein Gesetz zur Reform der
Untersuchungshaft den Stand und das Niveau dieser

1) Anlage 6
jahrzehntealten Debatte widerspiegeln müsste. Aber der
Entwurf greift diese Vorschläge mit keinem einzigen
Wort auf. Er beschäftigt sich nicht mit ihnen; sie werden
schlicht ignoriert. Stattdessen – das lesen wir in der Be-
gründung – wird krampfhaft ausgeführt und beteuert,
dass die Regierung und die Koalition nicht mehr kodifi-
zieren möchten, als seit Jahrzehnten in der Untersu-
chungshaftvollzugsordnung sowieso schon stehe. Dazu
kommt noch das Eingeständnis, dass man nachvollzie-
hen will, wozu die Bundesrepublik Deutschland inzwi-
schen von internationalen Organisationen gezwungen
wird. Sie, Herr Staatssekretär, haben die Entscheidungen
des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter
und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung
oder Bestrafung zitiert. Es gibt auch Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das,
was von diesen Organisationen von Deutschland ver-
langt wird, wird mit diesem Gesetzentwurf implemen-
tiert – auch da nicht vollständig –, aber nichts mehr. Es
fehlt unendlich viel.

Ich will kurz das Wichtigste nennen. Wir brauchen
eine feste Begrenzung der Dauer der Untersuchungshaft.
Herr Kollege van Essen, Sie haben das angedeutet. Wir
brauchen eine Beiordnung der Verteidigung ab dem ers-
ten Tag der U-Haft; Herr Kollege Kauder, darin sind wir
uns einig. Ich hoffe, dass das Parlament die Kraft haben
wird, das tatsächlich durchzusetzen. Wir brauchen die
volle Akteneinsicht in den Fällen der U-Haft. Herr
Staatssekretär Hartenbach meinte, dass nach der jetzt
vorgeschlagenen Regelung die Akten zur Verfügung zu
stellen sind, die die U-Haft begründen.


(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Das habe ich nie gesagt!)


Im Text des Gesetzentwurfs heißt es, es seien der Vertei-
digung „die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in ge-
eigneter Weise zugänglich zu machen“. Das ist eine Ka-
rikatur des Rechts auf Akteneinsicht und eine Karikatur
der unabhängigen Verteidigung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Anordnungen der Freiheitsbeschränkungen müssen
schriftlich und begründet erfolgen. Ihre Ausführung
durch die Staatsanwaltschaft wie auch die Polizei und
die Justizvollzugsanstalt bedarf der Zustimmung der Be-
troffenen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620521900

Herr Kollege, ich möchte Sie ungern unterbrechen,

aber der Kollege Hartenbach hat eine Zwischenfrage.
Gestatten Sie diese?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620522000

Gerne.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1620522100

Herr Kollege Montag, würden Sie als Jurist zur

Kenntnis nehmen, dass das Recht auf Akteneinsicht seit
etwa 100 Jahren in § 147 Abs. 1 StPO normiert ist?
Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass ich nur






(A) (C)



(B) (D)


Alfred Hartenbach
darauf hingewiesen habe? Würden Sie außerdem zur
Kenntnis nehmen, dass die Beschränkung der Aktenein-
sicht ebenfalls seit langem – ich weiß jetzt nicht, ob auch
seit 100 Jahren – in § 147 Abs. 2 StPO normiert ist und
dass dieser Gesetzentwurf den Schritt vollzieht, dass
dem Inhaftierten und seinem Verteidiger auf jeden Fall
ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt wer-
den, damit sie wissen, warum er in U-Haft sitzt, welche
Gründe dazu geführt haben?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620522200

Lieber Herr Kollege und Staatssekretär Hartenbach,

ich nehme als Allererstes zur Kenntnis, dass Sie in Ihrer
Rede davon gesprochen haben, dass dem Verteidiger im
Falle einer Inhaftierung seines Mandanten diejenigen
Aktenteile zur Verfügung gestellt werden


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das habe ich nicht gesagt! Zitieren Sie mich bitte korrekt!)


– doch; wortwörtlich haben Sie dies in Ihrer Rede gesagt –,
die die Untersuchungshaft begründen.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Nein, Sie gehen in die Irre, Herr Kollege!)


Jetzt hingegen reden Sie davon, dass lediglich Informa-
tionen in geeigneter Art und Weise zugänglich zu ma-
chen sind.

Ich bleibe bei meiner Einschätzung, da in dem Ge-
setzentwurf überhaupt nicht klargestellt wird, in welcher
Form dies zu geschehen hat, was geeignet und was we-
sentlich ist; das wird nicht normiert.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Darf ich mich wieder hinsetzen?)


– Natürlich. – All dies bleibt in den Händen der Staats-
anwaltschaft. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf sogar
ein Rückschritt gegenüber der Rechtsprechung des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In der Praxis
wird es zurzeit so gehandhabt, dass diejenigen Akten-
teile, die die Haftgründe beinhalten, vorgelegt werden.
Die Formulierung des Gesetzentwurfs fällt dahinter zu-
rück.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620522300

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, und zwar des Kollegen Kauder?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620522400

Aber sehr gerne. Danke.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege Montag, könnten wir uns auf eine diffe-
renziertere Betrachtungsweise einigen? Es gibt den ver-
teidigten Inhaftierten, und es gibt den nicht verteidigten
Inhaftierten. Eines ist schon nach altem Recht so: Das
Recht auf Akteneinsichtnahme steht nicht dem Beschul-
digten persönlich zu, und zwar aus gutem Grund – es
kann ja passieren, dass er Aktenteile entnimmt –, son-
dern nur dem Verteidiger.
Im Gesetzentwurf ist es wie folgt geregelt: Wird der
Inhaftierte verteidigt, hat der Verteidiger ab der vorläufi-
gen Festnahme einen Anspruch auf Einsicht in die we-
sentlichen Aktenteile, die es ihm ermöglichen, die
Rechtmäßigkeit der Haftanordnung zu beurteilen. Was
Sie zitiert haben, betrifft den nicht verteidigten Inhaftier-
ten. Ihm kann man keine Aktenteile zur Verfügung stel-
len; ich habe es in meiner Rede erwähnt. Deswegen be-
hilft man sich mit einer Krücke. Man sagt: Der nicht
verteidigte Inhaftierte erhält Informationen, die ihm die
Möglichkeit geben, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung
zu beurteilen. Da stellt sich die Frage, wie man ihm
diese Informationen erteilt, wenn er 14 Tage „auf
Schub“ ist. Deswegen sage ich: Für ihn muss man einen
Pflichtverteidiger bestellen.

Bitte, bringen Sie diese beiden Fallvarianten nicht
durcheinander. – Wie ich sehe, nickt der Kollege. Also
können wir uns auf diese Diktion einigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620522500

Ich will Ihre Frage nicht nonverbal, sondern verbal

beantworten.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Nonverbal ist auch gut!)


Ich bin sehr wohl bereit, mit Ihnen jede differenzierte
sachliche Betrachtung nachzuvollziehen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist schon mal super!)


Wenn es so ist, wie Sie es jetzt geschildert haben – dass
der verteidigte Angeklagte über den Verteidiger und zu
Händen des Verteidigers die Aktenteile bekommt, in de-
nen die Untersuchungshaft begründet ist –, dann wäre
der Gesetzentwurf die Wiedergabe der Mindestanforde-
rungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Leider ist in dem Gesetzentwurf bisher noch davon die
Rede, dass die Verteidigung für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit nur Informationen erhalten soll.

Ich schlage vor, dass wir darüber im Rechtsausschuss
diskutieren. Dann können wir uns gegenseitig die Texte
vorhalten und uns überlegen, ob wir vielleicht gemein-
sam zu der Überzeugung kommen, dass es, wenn sich
ein Beschuldigter schon in Untersuchungshaft befindet,
überhaupt keinen Grund mehr geben kann, dem Verteidi-
ger nicht die volle Akteneinsicht zu gewähren, weil dann
eine Konterkarierung des Verfolgungszwecks aufseiten
des Verteidigers überhaupt nicht möglich ist.

Wir sehen es so: Dieser Gesetzentwurf ist – bisher je-
denfalls – nicht der große Wurf. Er enthält nur das Aller-
mindeste dessen, was notwendig ist. Er reflektiert nicht
die jahrzehntelange Diskussion über eine Reform des
Untersuchungshaftrechts. Er muss in Zusammenarbeit
aller Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschuss
noch erheblich verbessert werden.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620522600

Nun hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege

Dr. Peter Danckert.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1620522700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

gen! Der vorliegende Gesetzentwurf bietet uns eine Dis-
kussionsgrundlage. Er nimmt in einigen Bereichen Kor-
rekturen vor, die aus meiner Sicht – man muss es einfach
so sagen – überfällig waren.

Die Norm des § 119 StPO, der bisher die Umstände
der Untersuchungshaft regelt, weist Defizite auf. Jetzt
wird eine neue Rechtsgrundlage geschaffen, die dem in
Untersuchungshaft Befindlichen rechtliche Möglichkei-
ten eröffnet, sich gegen einzelne Maßnahmen zur Wehr
zu setzen. Das ist überfällig.

Es ist notwendig, dass die Angehörigen rechtzeitig in-
formiert werden und nicht erst nach Wochen genau er-
fahren, was Sache ist. Auch das ist überfällig; es soll
jetzt geregelt werden.

Ich bin dem Kollegen Kauder sehr dankbar, dass er
zusammen mit mir eine Initiative gestartet hat. – Herr
Kollege Kauder, ich habe das Bedürfnis, auch zu Ihnen
zu reden.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Herr Montag lenkt mich ab!)


– Dann schicken Sie ihn auf die Oppositionsbank. Was
macht der eigentlich bei der CDU/CSU?


(Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Textexegese! – Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/ CSU]: Er liest das Gesetz!)


– Macht das doch an anderer Stelle. – In einigen Berei-
chen besteht die Notwendigkeit, Defizite zu beseitigen,
die seit langem vorhanden sind. Lieber Kollege Kauder,
Sie haben davon gesprochen, dass wir im Bereich des
Untersuchungshaftrechtes ein Zweiklassenhaftrecht ha-
ben. Das haben wir in der Tat: Einerseits haben wir den
Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen
Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt
und ihn möglicherweise vor der Untersuchungshaft be-
wahrt; andererseits haben wir den nichtverteidigten Be-
schuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungs-
haft wandert und nach drei Monaten – das ist die jetzige
gesetzliche Regelung – möglicherweise Anspruch auf ei-
nen Verteidiger hat. Das müssen wir dringend ändern.

Es ist nicht so – das war vielleicht ein kleines Miss-
verständnis –, dass sich nur Unschuldige in Untersu-
chungshaft befinden. Untersuchungshäftlinge gelten als
unschuldig; das ist ein kleiner Unterschied. Es kann
durchaus sein, dass Personen, die in Untersuchungshaft
kommen, am Ende zu Recht bestraft werden; aber in der
Zeit, in der das noch nicht geklärt ist, gelten sie als un-
schuldig. In dieser Situation müssen sie maximale
Rechte erhalten. Dazu gehört auch – der Kollege
Dr. Miersch ist, glaube ich, derselben Auffassung –, dass
die Betroffenen von der ersten Minute ihrer vorläufigen
Festnahme an – spätestens jedoch, wenn ihnen ein Haft-
befehl ausgestellt wird – Anspruch auf einen Pflichtver-
teidiger haben. Das ist unverzichtbar. Das gehört sozusa-
gen zum rechtsstaatlichen Standard, den wir gesetzlich
normieren müssen.

Wir schaffen in § 147 StPO eine neue Regelung. Hier
wird jetzt endlich etwas festgelegt, was uns das Bundes-
verfassungsgericht schon vor Jahren vorgeschrieben hat.
Ich wundere mich sehr, dass das bisher noch nicht Ein-
gang ins Gesetz gefunden hat. Man könnte ja meinen,
dass sich die Untergerichte, wenn das Bundesverfas-
sungsgericht eine Entscheidung zu der Frage trifft, was
dem Anwalt des Beschuldigten bzw. dem Beschuldigten
selbst zur Verfügung gestellt werden muss – dazu sind
grundlegende Entscheidungen getroffen worden –, da-
nach richteten; sie tun es aber leider nicht. Deshalb ist es
richtig, dass wir das jetzt im Gesetz genau regeln.

Lieber Kollege Kauder – ich könnte noch viele andere
ansprechen –, auch hier legen wir viel Wert darauf, dass
es zu einer Gleichbehandlung des Verteidigten und des
Nichtverteidigten kommt. Das kann man nur erreichen,
indem man dem Beschuldigten von der ersten Minute an
einen Verteidiger an die Seite stellt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu sind wir, die Gesellschaft, gegenüber jemandem,
der als unschuldig gilt, verpflichtet. Erst wenn man im
Umfeld, vielleicht bei einem Bekannten, miterlebt, dass
es in einer ganz speziellen Situation keine Möglichkeit
zur Verteidigung gibt, versteht man, wie unerlässlich es
ist, verteidigt zu werden. Ansonsten weiß man nämlich
gar nicht, wie man sich wehren kann und welche Rechte
man hat.

Ich halte es an dieser Stelle auch für unverzichtbar
– das müssen wir im Rahmen der Ausschussberatungen
regeln –, dass die Informationen über das, was zur Ver-
haftung geführt hat, auch dem nichtverteidigten
Beschuldigten gegeben werden – wir plädieren für Ver-
teidigung von der ersten Minute an – und damit Gleich-
stellung erfolgt. Schon als Strafverteidiger habe ich nicht
verstanden, warum der unverteidigte Beschuldigte bis-
her darauf verwiesen wird, dass er die Akten erst erhält,
wenn er einen Verteidiger hat.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620522800

Herr Kollege, darf ich Sie an die Redezeit erinnern?


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1620522900

Ja, die Redezeit. Ich nehme die Redezeit des Kollegen

Nešković mit in Anspruch.


(Heiterkeit)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620523000

So einfach geht es leider nicht.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1620523100

Liebe Frau Präsidentin, es ist ja die letzte Rede für

heute. Unsere Gäste hier würden sich wundern, wenn
wir schon um 19.06 Uhr Feierabend machten.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt fängt er schon wieder an, zu handeln! – Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Er ist nicht verteidigt! – Heiterkeit)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620523200

Für all das habe ich Verständnis. Ich muss Sie trotz-

dem darauf hinweisen.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1620523300

Ich denke, es ist richtig, dass der Beschuldigte jeder-

zeit weiß, was ihm konkret vorgeworfen wird und wo-
rauf er sich einzustellen hat. Die bisherige Regelung
weist ja starke Defizite auf und wird im Übrigen häufig
auch missbraucht, weil nach § 147 Abs. 2 der Strafpro-
zessordnung eine Akteneinsicht verwehrt werden kann,
wenn der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine
Entscheidung hierüber unterliegt in der Regel der subjek-
tiven Brille des Staatsanwalts. Sie ist dann nicht einmal
anfechtbar, sie kann selbst gerichtlich nicht überprüft wer-
den. Es kann allenfalls eine Dienstaufsichtsbeschwerde
erhoben werden. Das ist aber meistens fruchtlos. Auch
hier müssen wir also für mehr Rechtsstaatlichkeit sor-
gen.

Ich glaube, die unserer Beratung zugrunde liegende
Vorlage sollte von uns dafür genutzt werden, eingehen-
der über das Untersuchungshaftrecht nachzudenken.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Den Kollegen, die das vertieft tun wollen, empfehle ich
meine grundlegenden Ausführungen in den Mitteilungen
der Bundesrechtsanwaltskammer aus dem Jahre 1988,


(Heiterkeit)


die ich als Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bun-
desrechtsanwaltskammer gemacht habe.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon habe ich gesprochen, Herr Kollege Danckert!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620523400

Herr Kollege, wir werden das alles nachlesen.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1620523500

Wir sollten diese Ausführungen im Übrigen in unsere

Beratungen einbeziehen.

Ich bedanke mich für Ihre Geduld, nicht zuletzt bei
den Schriftführerinnen.


(Dirk Manzewski [SPD]: Auch bei uns! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch bei uns!)


– Selbstverständlich auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. – Ich hoffe auf eine fruchtbare, intensive
und weiterführende Beratung sowie dann eine gute Ent-
scheidung des deutschen Parlaments.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620523600

Damit ist die Aussprache zu diesem Punkt geschlos-

sen.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/11644 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Die
Überweisung ist damit so beschlossen. Dann können Sie
alle das noch schön vertiefen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Entschädigungsregelung für durch Blutpro-
dukte mit HCV infizierte Bluter schaffen

– Drucksache 16/11685 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Haushaltsausschuss

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Jens Spahn, Christian Klei-
minger, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald
Terpe und Parlamentarischer Staatssekretär Rolf Schwa-
nitz.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1620523700

Die Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) in

den 1980er-Jahren, die durch die Anwendung von Blut-
produkten ausgelöst wurden, haben vor allem die Gruppe
der Hämophilen betroffen, die aufgrund ihrer Erkran-
kung regelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten
angewiesen sind. Aber auch andere Patienten sind durch
Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden. Uns ist die
Tragik dieser Infektionen für die Betroffenen sehr bewusst
und unser Mitgefühl gilt den Menschen, die mit dem HC-
Virus infiziert wurden. Sie und ihre Angehörige hatten
und haben eine große gesundheitliche und psychische Be-
lastung zu tragen.

Einen Grund für eine staatliche Entschädigungsrege-
lung, wie sie nun im vorliegenden Antrag gefordert wird,
sehe ich jedoch nicht. Eine Entschädigungsregelung des
Bundes kann es nur geben, wenn staatliche Rechts- oder
Prüfungsaufsichten verletzt wurden. Eine staatliche Ver-
antwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrecht-
lich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Ent-
schädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik
Deutschland aber nicht. Im Ergebnis wird meine Ansicht
auch von der Rechtsprechung geteilt, welche in den bis-
herigen Verfahren die Entschädigungsansprüche gegen
den Bund unter anderem aufgrund mangelnder Kausali-
tätsnachweise ablehnt.

Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht ein-
deutig feststellen, da es sich bei dem Infektionsgeschehen
zum damaligen Zeitpunkt wohl – so hart das klingt – um
unvermeidbare Ereignisse handelte. Schließlich ließ sich


(A) (C)



(B) (D)


Jens Spahn
bis weit in die 80er-Jahre kein Verfahren finden, welches
eine Infizierung von Blutprodukten mit HC-Viren voll-
ständig ausschließen konnte. Auch die häufig angeführte
sogenannte ALT-Testung und andere damals bekannte
Verfahren waren nicht hinreichend spezifiziert, um eine
sichere Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu
treffen. Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland
vorgeschriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss
auf das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese
Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird,
bei deren Herstellung tausende Einzelspenden gepoolt
werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasma-
pools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizier-
ten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen
aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test
konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert
werden.

Die häufige Bezugnahme in der Argumentation für
eine Entschädigungsregelung auf die finanzielle Hilfe für
die durch Blutprodukte HIV-infizierten Personen, wie sie
auch im vorliegenden Antrag genommen wird, führt im
Zusammenhang mit der Entschädigungsforderung für
HCV-Infizierte zu Verwirrung. Der vom Deutschen Bun-
destag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIV-In-
fektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legis-
laturperiode erhob die Forderung nach einer finanziellen
Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infizier-
ten, welche der Bund auch direkt erfüllte. Eine Entschä-
digungsregelung oder humanitäre Hilfe für die durch
Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Personen
forderte er jedoch nicht. Insofern stellt sich die Sachlage
bei den HIV-Infektionen anders dar. Es wurde eindeutig
eine seinerzeitige Verantwortung des Staates durch den
Untersuchungsausschuss zugewiesen. Zudem ist eine
HIV-Infektion trotz aller Fortschritte in der medizini-
schen Behandlung im Gegensatz zur HCV-Infektion noch
immer in jedem Fall ein Todesurteil. Auch dies muss zu
einer anderen Bewertung führen. Wichtig ist es, in jedem
Fall sicherzustellen – und das ist bei uns in Deutschland
auch sichergestellt –, dass die HCV-Infizierten Zugang zu
einer flächendeckenden, hochwertigen Versorgung haben.

Bei Verweisen auf Entschädigungsregelungen anderer
Länder muss dieser Punkt differenziert betrachtet wer-
den. Diese Länder weisen eine im Vergleich zur Bundes-
republik abweichende staatliche Verantwortung für das
Gesundheitswesen und die Versorgung von Patienten auf.
Anbieter der Blutprodukte sind innerhalb Deutschlands
weitgehend private Unternehmen oder Einrichtungen,
welche nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik
Deutschland grundsätzlich eigenverantwortlich handeln
und zivil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die
stationäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung
ist in der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich or-
ganisiert.

Zu erwähnen ist aber auch, dass die Bundesregierung
wiederholt um eine gemeinsame Initiative für humanitäre
Hilfe für durch Blutprodukte HCV-infizierte Personen bei
den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, den
Blutspendediensten des Deutschen Roten Kreuzes und
den Ländern bemüht war, jedoch bei diesen auf Ableh-
nung stieß. Es ist zu wünschen, dass die Bundesregierung
Zu Protokoll
die Gespräche mit den genannten Partnern, darunter na-
türlich auch den betroffenen Patientenverbänden, fort-
setzt und vertieft.


Christian Kleiminger (SPD):
Rede ID: ID1620523800

Wir sprechen heute über den Antrag der Fraktion Die

Linke mit dem Titel „Entschädigungsregelung für durch
Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen“. Auch
wenn das Schicksal der von einer durch Blutprodukte ver-
ursachten Hepatitis-C-Infektion betroffenen Patienten-
gruppe bislang in dieser Legislaturperiode noch nicht
Gegenstand einer Plenardebatte war, so haben wir uns
doch auch als Parlamentarier zu verschiedenen Gelegen-
heiten – im Ausschuss und auch im Berichterstatterge-
spräch und ich auch persönlich in Gesprächen mit Be-
troffenen – ausführlich mit der Problematik befasst. Ich
will ausdrücklich sagen, dass es sich hier jenseits aller
fachlichen und juristischen Erwägungen auch mensch-
lich um eine außerordentlich schwierige Materie handelt.
Ich meine allerdings, dass die Linke mit ihrem Antrag der
Komplexität der mit einer Entschädigungsregelung ver-
bundenen Fragen und der Verantwortung gegenüber den
betroffenen Menschen nicht gerecht wird. Auch die Be-
gründung ihres Antrages weist unzulässige Verkürzungen
auf.

Um es aber deutlich zu sagen: Keiner möchte das Leid,
das den Betroffenen durch eine Infizierung mit Hepati-
tis C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine – meist chro-
nisch verlaufende – Krankheit, die auch zu schwerwie-
genden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch Le-
berkarzinomen führen kann. Der Leidensweg vieler
Erkrankter macht mich persönlich betroffen. Dennoch ist
es nicht korrekt, wenn man die von Hepatitis C betroffene
Patientengruppe undifferenziert mit derjenigen Gruppe
gleichsetzt, die mit dem HI-Virus infiziert wurde, auf-
grund dessen 1995 die „Stiftung Humanitäre Hilfe für
durch Blutprodukte infizierte Menschen“ eingerichtet
wurde. Denn bei Aids handelte es sich damals, als die Stif-
tung gegen den anfänglichen Widerstand unter anderem
der Pharmaindustrie eingerichtet wurde, um eine in je-
dem Falle tödlich verlaufende Krankheit. Allein deshalb
war eine schnelle, unbürokratische Hilfe durch die Stif-
tung, an der sich Bund, Länder, die Pharmaindustrie und
die Blutspendedienste beteiligten, so wichtig. Und auch
heute, wo der Krankheitsverlauf bei Aids mehr und mehr
chronisch wird, sind die modernen Therapien weiterhin
mit ganz erheblichen Nebenwirkungen und hierdurch
auch mit einer Beeinträchtigung in der Lebensqualität
verbunden.

Entgegen der Behauptung der Fraktion Die Linke gibt
es auch keinen zwingenden Nachweis dafür, dass im frag-
lichen Zeitraum in den 70er- und 80er-Jahren nach dem
damaligen allgemeinen Kenntnisstand tatsächlich und
nachweisbar eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätte
verhindert werden können. Insoweit macht man es sich
auch zu einfach, diese Problematik allein aus der heuti-
gen Sicht zu betrachten, mit dem Wissen, den Möglichkei-
ten und der Medizin von heute.

Um die Betroffenen nicht mit ihrem Schicksal allein zu
lassen, haben wir in der Vergangenheit die Bemühungen



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christian Kleiminger
der Bundesregierung für eine humanitäre Hilfe unter-
stützt. Alle Bemühungen, mit dem Roten Kreuz, der phar-
mazeutischen Industrie und den Ländern zu einer ge-
meinsamen freiwilligen Regelung zu kommen, scheiterten
jedoch, und dies bereits zu Zeiten, als die Grünen die
Bundesgesundheitsministerin stellten.

Mir ist übrigens trotz intensiver Recherche keine Ini-
tiative aus jenen Jahren bekannt, in denen die PDS das
Gesundheitsressort in meinem Bundesland Mecklenburg-
Vorpommern innehatte. Dazu wäre damals doch ausrei-
chend Gelegenheit gewesen.

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist deshalb wohl
dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet. Dafür ist
mir allerdings die Sache zu ernst. Im Interesse der Betrof-
fenen sollten wir nicht weiter Hoffnungen schüren, die in
Form von Entschädigungszahlungen – durch den Bund
allein – nicht erfüllt werden können.


Dr. Konrad Schily (FDP):
Rede ID: ID1620523900

Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es im

Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von überwie-
gend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und Patien-
ten durch die Anwendung von mit HCV-Viren verseuchtem
Blut bzw. verseuchten Blutprodukten zu HCV-Infektionen
gekommen ist. Je nach Ausprägungsgrad der Krankheit ist
für die Betroffenen hieraus zum Teil großes Leid entstanden,
und sie müssen zahlreiche Einschränkungen ihres Lebens in
Kauf nehmen.

Die immer wieder diskutierte Frage, ob diese Infektio-
nen zum damaligen Zeitpunkt hätten vermieden werden
können, darf nicht anhand der heute vorhandenen Erkennt-
nisse beantwortet werden. Vielmehr müssen die damalige
Situation und die damaligen Erkenntnisse berücksichtigt
werden. Hier geht der Antrag der Linken fehl. Eine staat-
liche Verantwortung, die zu haftungsrechtlichen Entschä-
digungsansprüchen führen würde, ist nach Angaben des
Bundesgesundheitsministeriums nicht gegeben. Gerichts-
verfahren haben in dieser Hinsicht nichts anderes ergeben.

Der 3. Untersuchungsausschuss in der 12. Legislaturpe-
riode „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ hat in
seinem Schlussbericht im Gegensatz zu den HIV-Infizierten
für die HVC-Infizierten keine konkreten Forderungen für
eine Entschädigung oder humanitäre Hilfen aufgestellt. Aus
Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist dennoch
auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch unter-
nommen worden, in Analogie zu dem HIV-Hilfefonds zusam-
men mit den pharmazeutischen Unternehmen, den Blutspen-
dediensten des Deutschen Roten Kreuzes und den Ländern
zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne der Betroffenen
zu kommen. Dies ist jedoch leider nicht gelungen. Es ist auch
nicht zu erwarten, dass sich an dieser Haltung im Hinblick
auf die Beurteilung der Situation etwas ändern wird. Inso-
fern werden mit dem Antrag falsche Hoffnungen geweckt.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620524000

In den 1980er-Jahren wurden einige Tausend Men-

schen durch einen Arzneimittelskandal mit dem Hepati-
tis-C-Virus, HCV, der zu schweren Krankheiten führt, in-
fiziert. Verantwortlich für diesen Skandal waren in der
Bundesrepublik Deutschland das Bundesgesundheitsamt,
Zu Protokoll
die Pharmaindustrie, die Behandler und die Blutspende-
dienste. Das behauptet nicht die Linke, sondern das hat
der Bundestag bereits 1994 durch einen Untersuchungs-
ausschuss festgestellt. Dennoch haben die Bundesregie-
rungen Kohl, Schröder und Merkel bisher diesen Men-
schen eine Entschädigungsregelung verweigert.

Wie kam es dazu? Blutern fehlt ein Gerinnungsstoff,
sodass sie bei geringsten Verletzungen verbluten können.
Seit den 1960er-Jahren kann man ein Gerinnungsmittel
aus Blutspenden gewinnen und als Medikament einset-
zen. Dieses Medikament hatte aber die Folge, dass sich
Bluter mit Krankheiten der Blutspender infizierten. Seit
1977 gab es aber ein funktionierendes Verfahren, mit dem
man Spenderblut behandeln konnte und gefährliche Viren
wie das Hepatitis-C-Virus oder auch HIV abtöten konnte.
Nach Tests und Arzneimittelzulassungsverfahren hätten
die alten, verseuchten Medikamente ab 1982, 1983 nicht
mehr verabreicht werden dürfen. Aber die betroffenen
Bluter wurden teils in den Praxen und in den Kranken-
häusern bis 1987 weiter damit behandelt. Erst 1989
wurde die Virusinaktivierung zur Auflage gemacht.

Bis dahin infizierten sich mehrere Tausend Menschen
mit HIV und HCV – oder beiden Viren. Für die mit HIV
infizierten Menschen wurde infolge des Untersuchungs-
berichts völlig zu Recht das HIV-Hilfegesetz auf den Weg
gebracht. Für diese Gruppe gab es nun eine Entschädi-
gungsregelung. Nicht jedoch für die mit HCV Infizierten.

Die Linke hat dieses Thema im Gesundheitsausschuss
schon mehrfach zur Sprache gebracht und fordert für die
Betroffenen eine Lösung. Dafür gab es auch durchaus
Sympathien bei den anderen Oppositionsfraktionen.
CDU/CSU und SPD und die Bundesregierung wehren
sich jedoch dagegen. Es bestehe keine haftungsrechtliche
Verpflichtung für eine Entschädigung, außerdem sei die
Pharmaindustrie nicht bereit, etwas zu zahlen. Die ein-
zige Schlussfolgerung, die das SPD-geführte Gesund-
heitsministerium daraus gezogen hat: Die Betroffenen
wurden eingeladen. Es wurde ihnen aber lediglich er-
klärt, warum Koalition und Regierung keine Entschädi-
gungslösung beabsichtigen.

Es drängt sich der Eindruck auf: Hier wird auf Zeit ge-
spielt und auf die biologische Lösung des Problems. Denn
nach einer österreichischen Studie verkürzt eine HCV-In-
fektion das Leben um etwa 18 Jahre. In meinen Augen ist
die Untätigkeit der Bundesregierung ein Skandal.

Nicht nur in Deutschland gab es diese Infektionen,
sondern in vielen Ländern. Diese gehen anders mit der
Situation um, zum Beispiel Irland, Großbritannien, Ita-
lien, Spanien, Schweden und Ungarn. Dort wurden Ent-
schädigungsregelungen eingeführt. Anfang 2008 ist auch
Japan nachgezogen. Dort hat die Regierung ihre Verant-
wortung für die Infektionen ausdrücklich anerkannt, bei
den Betroffenen um Entschuldigung gebeten und eine
Einmalzahlung von bis zu etwa 250 000 Euro beschlos-
sen. Und vor wenigen Wochen hat auch Frankreich eine
Entschädigung beschlossen.

Die Fraktion Die Linke fordert deshalb erstens eine
umfassende Entschädigungslösung, zweitens an dieser
Entschädigungslösung die Pharmaindustrie zu beteili-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
gen, drittens die Entschädigung rückwirkend zu zahlen.
Viertens. Alternativ zu monatlichen Zahlungen könnten
auch einmalige Abfindungen gezahlt werden.

Kurz: Die Linke fordert die Bundesregierung auf, um-
gehend zu handeln und dem japanischen und den euro-
päischen Beispielen zu folgen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620524100

Man muss sich fragen, warum wir heute – 25 Jahre

nachdem sich hunderte Bluter durch ein staatliches Ver-
säumnis mit Hepatitis C infizierten – noch darüber debat-
tieren müssen, ob diesen Betroffenen eine Entschädigung
gewährt werden sollte oder nicht. Die Antwort liegt ei-
gentlich auf der Hand. Ich begrüße, dass sich die Linke
nunmehr der Forderung der Grünen anschließt, eine hu-
manitäre Entschädigung für durch Blutprodukte mit HCV
infizierte Bluter durchzusetzen. Unsere Fraktion hat be-
reits im letzten Jahr einen entsprechenden Antrag einge-
bracht, der sich weitgehend mit den Forderungen des
heute zur Debatte stehenden Antrags deckt.

Die Auffassung der Bundesregierung, bei diesen Infek-
tionen handele es sich um ein „unvermeidbares Ereig-
nis“, ist nicht haltbar. Dies hat der Bericht des Untersu-
chungsausschusses „HIV-Infektionen durch Blut und
Blutprodukte“ eindeutig gezeigt.

Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bun-

(Non A/ Non B-)Hepatitis durch infizierte Blutspenden und Blutprodukte übertragen werden konnte. Spätestens ab 1981 standen alternativ virusinaktivierte Präparate zur Verfügung, bei denen eine solche Gefahr nicht bestand. Dennoch wurden bis 1985 auch weiterhin nicht inaktivierte Produkte zugelassen, obwohl beispielsweise Faktor-VIIIHochkonzentrate spätestens ab 1983 als bedenkliche Arzneimittel hätten eingestuft und ihre Verkehrsfähigkeit verlieren müssen. Das Bundesgesundheitsamt ist damals auf dieses Risiko wiederholt hingewiesen worden. Dennoch verharrte es in seiner Untätigkeit – fast wie jetzt die Bundesregierung im Hinblick auf die Schaffung einer angemessenen Entschädigungsregelung. Das Bundesgesundheitsamt hat es damals weder für notwendig erachtet, die Zulassung solcher Risikoprodukte zu widerrufen oder ruhen zu lassen, noch die Auflage erteilt, derartige Produkte zukünftig nur noch nach einer Inaktivierung auf den Markt zu bringen. In diesem Zusammenhang ist es auch völlig unerheblich, ob damals bereits ein entsprechender Antikörpertest zur Verfügung stand oder nicht. Zu Recht hat der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids diese Untätigkeit auch im Falle der Infektionen mit Hepatitis C als schuldhafte Amtspflichtverletzung gewertet. Die Entschädigung der Menschen, die in diesem Zeitraum infiziert wurden, ist dringend notwendig. Das Leid, dass diese Menschen durch ihre Infektion erfahren haben, kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber angesichts der bislang von der Bundesregierung gezeigten Verweigerungshaltung wäre der Einsatz für eine solche Entschädigung auch und in erster Linie ein Zeichen politischer Reife, weil sie die staatliche Mitverantwortung für das Zu Protokoll Geschehene nicht mehr kategorisch leugnet, und ein überfälliger Ausdruck des Bedauerns. Der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids hat 1995 klare Versäumnisse des damaligen Bundesgesundheitsamtes festgestellt. Auf dieser Grundlage wurde eine Entschädigungsregelung für diejenigen Menschen geschaffen, die sich durch verseuchte Blutprodukte mit HIV infiziert hatten. Ursache dieser Infektionen waren exakt dieselben Versäumnisse, die zur Infektion der Hämophilieerkrankten mit Hepatitis C führten. Es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung die Erkenntnisse dieses parlamentarischen Untersuchungsausschusses ignoriert. Und es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung seit Jahren versucht, den Sachverhalt immer weiter zu vernebeln, statt eine gerechte Entschädigungslösung zu schaffen. Es ist vor allem aber eine Ungeheuerlichkeit, wie die Bundesregierung Tatsachen leugnet und diesen Menschen Gerechtigkeit verwehrt. Fiskalische Erwägungen vermögen dieses sture Beharren nicht zu erklären ebenso wenig wie die Angst vor weiteren juristischen Auseinandersetzungen. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hier in erster Linie um einen verzweifelten Versuch der Gesichtswahrung handelt, die ein vor 25 Jahren stattgefundenes staatliches Versagen einfach negieren will. Verlierer sind dabei die Betroffenen. Es ist an der Zeit, eine gerechte Entschädigungsregelung zu schaffen und dabei alle damals beteiligten Akteure – den Bund, die Länder, pharmazeutische Unternehmen und Blutspendedienste – einzubeziehen. Ein Vorbild gibt es dafür bereits: das 1995 beschlossene HIV-Hilfegesetz. Ich fordere daher die Kollegen von den Koalitionsfraktionen auf, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und sich schnellstmöglich für eine humanitäre Entschädigung der Erkrankten einzusetzen. R Die Bundesregierung bedauert es sehr, dass in den 70erund 80er-Jahren durch Blutprodukte Patientinnen und Patienten mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert worden sind. Betroffen sind vor allem Bluter, die zu dieser Zeit mit Gerinnungsfaktoren behandelt wurden. Es ist uns bewusst, dass die Hepatitis C eine sehr schwerwiegende Krankheit sein und sich auch lebensbedrohlich auswirken kann. Die Infektionsgeschehen sind in der Vergangenheit wiederholt erörtert worden, insbesondere im Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legislaturperiode, im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages – zuletzt im Frühjahr 2008 – sowie anlässlich verschiedener parlamentarischer Anfragen und Anträge. Die Bundesregierung ist mit den Fraktionen der CDU/ CSU und SPD der Meinung, dass die HCV-Infektionen durch Blutprodukte tragische, aber unvermeidliche Ereignisse gewesen sind. Eine staatliche Verpflichtung zu einer Entschädigung oder humanitären Hilfe besteht nicht. Das haben Gerichtsentscheidungen bestätigt. Und auch der gegebene Reden Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz Bericht des damaligen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ hat letztlich keine rechtlich zwingenden Feststellungen getroffen. Deshalb hatte der Untersuchungsausschuss auch nicht die Forderung nach einer Entschädigung oder humanitären Hilfe für HCV-infizierte Personen erhoben. Die Bundesregierung hat großes Verständnis für die betroffenen Patientinnen und Patienten. Sie sind unverschuldet in diese Situation geraten und erwarten Hilfe. Deshalb hatte sich das Bundesministerium für Gesundheit schon unter Minister Seehofer und später durch Ministerin Fischer an die Gesundheitsminister der Länder gewandt, um eine weitere gemeinsame Hilfeaktion auf freiwilliger Basis zu vereinbaren. Die Länder haben das klar und deutlich abgelehnt. Auch die betroffenen pharmazeutischen Unternehmen und die Blutspendedienste des Deutschen Roten Kreuzes haben eine solche gemeinsame Aktion mehrfach zurückgewiesen. Die Bundesregierung sieht keine Möglichkeit, dass der Bund diese Hilfe alleine finanziert. Diese Einschätzung wird von den Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages geteilt. Diese Position ist auch mit den Vertretern der Patientenverbände Ende letztes Jahr erörtert worden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11685 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung (Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat)

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1620524200







(A) (C)


(B) (D)

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620524300

– Drucksache 16/4972 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/11906 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Hans-Christian Ströbele

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Mi-
chael Grosse-Brömer, Christoph Strässer, Mechthild Dy-
ckmans, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag, Parlamenta-
rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1620524400

Heute wollen wir in zweiter und dritter Lesung den Ge-

setzentwurf zur Neuregelung des Zugangs zum Anwalts-
notariat beschließen. Dies begrüße ich aus mehreren
Gründen ausdrücklich. Zunächst wird durch die geplante
Anpassung der Bundesnotarordnung dem Regelungsauf-
trag des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2004
entsprochen. Damals hat das Verfassungsgericht dem
Gesetzgeber eine Novellierung des Zugangs zum An-
waltsnotariat aufgegeben, die dem Prinzip der Besten-
auslese eine höhere Gewichtung einräumt. Dieser Auf-
trag wird heute erfüllt.

Wir beschließen die notwendig gewordene Anpassung
heute in diesem Hohen Hause, damit das Anwaltsnotariat
sein hohes Ansehen in der Bevölkerung beibehält. Der In-
stitution des Anwaltsnotariats wird durch den Gesetzent-
wurf gedient, weil die Novelle eine stärkere Berücksichti-
gung notarspezifischer Fachkenntnisse und damit ein
durchgehend hohes fachliches Niveau sicherstellt. Der
Entwurf dient aber auch den einzelnen Notaranwärtern,
weil er ihnen größere Rechts- und Planungssicherheit
verschafft. Letzteres halte ich, der ich selbst viele Jahre
als Anwaltsnotar tätig war, für einen in seiner Bedeutung
nicht zu unterschätzenden Aspekt. Anwältinnen und An-
wälte, die beschließen, das Amt des Anwaltsnotars beklei-
den zu wollen, müssen wissen, worauf sie sich einlassen
und wie ihre Chancen auf eine Zulassung stehen. Diese
Berechenbarkeit eines Lebensentwurfs ist für die Betrof-
fenen von großer Wichtigkeit. Das habe ich aus vielen
Schreiben und Telefonaten erfahren, die mich seit der
Einbringung der Initiative und verstärkt seit der ersten
Lesung in diesem Hohen Hause im Mai letzten Jahres er-
reicht haben.

Der heute unter Tagesordnungspunkt 18 gegenständli-
che Gesetzentwurf verdient also bereits deshalb Zustim-
mung, weil er einen Regelungsauftrag des höchsten deut-
schen Gerichts umsetzt und für die Beteiligten Planungs-
und Rechtssicherheit schafft. Ich halte den Entwurf aber
auch wegen seines materiellen Regelungsgehalts für
überzeugend. Dies möchte ich nachfolgend anhand
dreier Punkte näher darlegen.

Erstens bewirkt der Entwurf, dass künftig nur diejeni-
gen als Anwaltsnotare zugelassen werden, die für diesen
Beruf und diese Berufung objektiv die beste Eignung mit-
bringen. Wer das von mehreren Bewerbern im Einzelfall
ist, wird de lege ferenda anhand einer Punktzahl zu ermit-
teln sein, die sich zu 40 Prozent nach dem Ergebnis des
zweiten juristischen Staatsexamens und zu 60 Prozent
nach dem Ergebnis einer notariellen Fachprüfung be-
misst. Die Einführung dieser notariellen Fachprüfung
stellt gewissermaßen das Kernstück der hier maßgeben-
den Bundesnotarordnungsnovelle dar. In vier schriftli-
chen Aufsichtsarbeiten sowie in einer mündlichen Prü-
fung müssen Notaranwärter vor einem eigens dafür bei
der Bundesnotarkammer einzurichtenden Prüfungsamt
ihre Fachkenntnisse unter Beweis stellen. Der Prüfungs-
umfang wurde dabei im Vergleich zum Ursprungsentwurf
abgespeckt. Das wird der Bestenauswahl keinen Abbruch
tun.

Der zweite Grund, weshalb ich für eine breite Zustim-
mung zu dem uns vorliegenden Entwurf werben möchte,
ist dessen Festhalten am Leitbild des Notars als Träger
eines öffentlichen Amtes. Wer sich unter dem Berufsbild


(A) (C)



(B) (D)


Michael Grosse-Brömer
des Notars lediglich einen „Urkundenvorleser“ vorstellt,
hat weit gefehlt. Als Mittler zwischen den Interessen sor-
gen Notare in dem für jede Gesellschaft so elementar
wichtigen Bereich des außergerichtlichen Rechts für ei-
nen adäquaten Ausgleich unterschiedlicher Interessen.
Diese Hoheitsaufgabe verdeutlicht übrigens ganz plas-
tisch das Amtsschild des Notars mit dem entsprechenden
Landeswappen.

Um die unbedingt erforderliche Unabhängigkeit und
Überparteilichkeit auch künftig zu gewährleisten, muss
der zu bestellende Notar – wie bereits de lege lata – seit
mindestens drei Jahren ununterbrochen in dem in Aus-
sicht genommenen Amtsbereich als Anwalt tätig gewesen
sein. Insgesamt muss ein Bewerber mindestens fünf Jahre
in nicht unerheblichem Umfang die Tätigkeit des Rechts-
anwalts ausgeübt haben. Diese Voraussetzungen sollen
sicherstellen, dass ein Notar über hinreichende Kenntnis
der örtlichen Gegebenheiten, über notwendige Kontakte
und über jene finanzielle Unabhängigkeit verfügt, die von
einem Träger eines öffentlichen Amtes zwingend einzu-
fordern ist.

Als dritten Punkt möchte ich schließlich auf eine durch
die Novelle zu erzielende Verbesserung der Rechtslage
eingehen, die vor allem den am Anwaltsnotariat interes-
sierten Rechtsanwältinnen und deren Familien zugute-
kommen dürfte. Bereits anlässlich der ersten Lesung des
Entwurfs am 8. Mai 2008 habe ich auf das Problem des
geringen Anteils der Frauen bei den Anwaltsnotaren hin-
gewiesen. Dieser bedauerliche Umstand war und ist
maßgeblich auf den derzeit noch bestehenden „Zwang
zum Scheinesammeln“ zurückzuführen. Bislang gestal-
tete sich die faktische Situation nämlich so, dass Notaras-
piranten ihre Chancen auf Zulassung durch ein Anhäufen
von Fortbildungsnachweisen verbessern konnten. Da al-
lerdings die entsprechenden Fortbildungsveranstaltun-
gen hauptsächlich an Wochenenden stattfanden, hatten es
Anwältinnen und vor allem Anwältinnen mit Kindern
häufig schwerer als andere. Hier sorgt die Neuregelung
des Zugangs zum Anwaltsnotariat für Abhilfe. Wie be-
schrieben, soll es künftig mit der notariellen Fachprüfung
maßgeblich auf die Qualität und nicht mehr auf die Quan-
tität der Fachkenntnisse ankommen. Obgleich von den
Bewerbern umfassende Kenntnisse verlangt werden, wird
künftig eine berufsbegleitende Vorbereitung eher möglich
sein, als dies bislang der Fall war. Wenn Juristinnen, wie
in der öffentlichen Anhörung mehrfach vorgetragen
wurde, im zweiten juristischen Staatsexamen eine höhere
Durchschnittsnote erzielen als ihre männlichen Kollegen,
dürfte dies zusammen mit der notariellen Fachprüfung zu
einem insgesamt höheren Frauenanteil bei den Anwalts-
notaren führen.

Des Weiteren möchte ich positiv hervorheben, dass die
im Entwurf bestimmte Übergangsfrist von 24 Monaten
allen Beteiligten hinreichend Zeit einräumt, sich auf die
geänderten Zugangsvoraussetzungen einzustellen.

Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, der
nicht Gegenstand dieses Gesetzentwurfs ist, aber im di-
rekten Zusammenhang damit steht. Es handelt sich um die
angemessene Vergütung der Notare in Deutschland. Das
Notarkostenrecht soll mittelfristig angepasst werden. Da-
Zu Protokoll
für ist es auch höchste Zeit. Das Bundesjustizministerium
hat am 10. Februar 2009 ein entsprechendes Experten-
gutachten vorgestellt und angekündigt, die Ergebnisse
der eingesetzten Kommission mit Blick auf einen mögli-
chen Referentenentwurf eingehend zu prüfen. Ziel muss
es sein, die Kostenordnung nach oben anzupassen. Das
Recht der Notare wird sich somit weiterentwickeln.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Verab-
schiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Neurege-
lung des Zugangs zum Anwaltsnotariat einen wichtigen
Beitrag für ein unverändert hohes Niveau der deutschen
Rechtspflege darstellt.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1620524500

Ich freue mich, dass wir mit dem vorliegenden, in zwei-

ter und dritter Lesung zu verabschiedenden Gesetzentwurf
zur Neuregelung des Zugangs des Anwaltsnotariats ein
Gesetz verabschieden werden, das auf ganz überwiegende
Zustimmung sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch bei
den Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsaus-
schusses und bei meinen Kolleginnen und Kollegen der
anderen Fraktionen stößt.

Das Gesetzgebungsverfahren wurde nötig, da die jet-
zige Verwaltungspraxis dem Grundrecht auf freie Berufs-
wahl nicht hinreichend Rechnung trage, wie das Bundes-
verfassungsgericht in seiner Entscheidung feststellte.
Letztlich beschränkte sich die Verwaltungspraxis beim
Auswahlverfahren auf das Ergebnis des zweiten Staats-
examens und auf eine formalisierte Auswahl nach eher
quantitativ bestimmten Kriterien. Es fehlte beim Zugang
zum Anwaltsnotariat vor allem an einer konkreten und
einzelfallbezogenen Bewertung der fachlichen Leistung
des Bewerbers. Dazu gehört unserer Ansicht nach auch
eine stärkere und differenziertere Gewichtung notarspe-
zifischer Leistungen gegenüber dem Ergebnis des meist
zum Zeitpunkt der Bewerbung länger zurückliegenden
Staatsexamens.

Der unseren Beratungen zugrundeliegende Bundes-
ratsentwurf, den wir heute mit einigen Änderungen ver-
abschieden werden, hat sich als im Wesentlichen sach-
gerechte Lösung für die Einführung eines bewerteten
Leistungsnachweises in Form einer notarspezifischen
schriftlichen und mündlichen Fachprüfung erwiesen. Das
ist das Kernstück der Neuregelung. Daneben muss der
Notariatsbewerber eine fünfjährige Tätigkeit als Rechts-
anwalt nachweisen. Bisher galt sein Zulassungsnachweis
als ausreichend. Als weitere und nach geltendem Recht
bereits bestehende Voraussetzung muss die Tätigkeit als
Rechtsanwalt mindestens drei Jahre ohne Unterbrechung
in dem in Aussicht genommenen Amtsbereich ausgeübt
werden.

Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht umris-
senen Mängel an der bisherigen Verwaltungspraxis halten
wir die beabsichtigte Neuregelung für eine sachgerechte
und rechtssichere Lösung. Sie ist transparenter, objektiver,
leistungsbezogener und damit in der Summe geeigneter,
die fachliche Eignung der einzelnen Bewerber festzustellen.

Gleichwohl hatten sich in der ersten Lesung des Gesetz-
entwurfes sowohl von den Kolleginnen und Kollegen der



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
anderen Fraktionen als auch von mir und meiner Fraktion
einige Änderungswünsche am Bundesratsentwurf ange-
deutet. Die Sachverständigenanhörung hat uns in unserem
Beschluss bestärkt, den Bundesratsentwurf in einigen
Punkten zu ändern. Ich freue mich, dass die wesentlichen
Punkte letztlich im Konsens aller Fraktionen beschlossen
werden konnten. Im Wesentlichen handelt es sich um fünf
Änderungen im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzent-
wurf, die ich kurz erläutern möchte.

Erstens. Wir haben uns dafür entschieden, den Terminus
der „Hauptberuflichkeit“ in § 6 Abs. 2 Nr. 1 BNotO zu
streichen. Die Formulierung, dass die Tätigkeit als Rechts-
anwältin oder Rechtsanwalt in nicht unerheblichem Um-
fang für verschiedene Auftraggeber ausgeübt werden
muss, ist ausreichend. Gleichzeitig verdeutlichen wir damit
im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
dass auch bei einer Teilzeittätigkeit die notwendigen
Voraussetzungen erfüllt werden können.

Zweitens. An gleicher Stelle regeln wir, dass die Tätig-
keit drei Jahre ohne Unterbrechung in dem in Aussicht
genommenen Amtsbereich ausgeübt werden muss. Damit
behalten wir die bisherige Regelung zur örtlichen Warte-
zeit bei. In der Literatur scheiden sich zugegebenermaßen
die Geister an der örtlichen Wartezeit. Doch diese wurde
in der jüngeren Rechtsprechung nicht beanstandet. In der
Anhörung und auch in den Berichterstattergesprächen
hat sich die Mehrheit der Sachverständigen und Abgeord-
neten für die Beibehaltung der bisherigen Regelung aus-
gesprochen, ebenso wie schon zuvor die Bund-Länder-
Arbeitsgruppe. Verfassungspolitisch sind sicherlich noch
andere Lösungen denkbar, verfassungsrechtlich geboten
sind sie allerdings nicht.

Es obliegt der Einschätzungsprärogative des Gesetzge-
bers. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, dass die örtliche
Wartezeit geeignet ist, die Funktionsfähigkeit des Anwalts-
notariats zu sichern und auch bewährte örtliche und regio-
nale Strukturen zu erhalten. Die Gewähr ist hoch, dass ein
Bewerber, der drei Jahre vor Ort tätig war und eine örtliche
Kanzlei aufgebaut hat, als wirtschaftlich unabhängig gelten
kann. Die Aufnahme des Notaramts erfordert das Vorhan-
densein einer personellen und organisatorischen Infra-
struktur, die so sichergestellt werden kann. Gleichzeitig
kann er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut
machen. Dieses Argument gilt noch immer, auch wenn es
sicherlich im Zeitalter modernster Kommunikationstech-
niken an Bedeutung verloren hat.

Einerseits gewährleistet die erfolgreiche Teilnahme
an der Fachprüfung die hinreichende Qualifikation der
Notare, andererseits ermöglicht die örtliche Wartezeit ei-
nen chancengleichen Zugang zum Notaramt für orts-
ansässige Bewerber. Durch die Ausgestaltung als Soll-
vorschrift wird gleichzeitig sichergestellt, dass in
Einzelfällen Bewerber auch ohne Einhaltung der örtli-
chen Wartezeit in dem von ihnen anvisierten Amtsbereich
zum Notar bestellt werden können.

Drittens. Wir führen gegenüber dem Bundesratsent-
wurf eine dreijährige Wartefrist nach der Zulassung zur
Anwaltschaft ein, bevor die notarielle Fachprüfung abge-
legt werden kann. Damit stellen wir sicher, dass die Prüfung
nicht quasi auf Vorrat direkt im Anschluss an das zweite
Zu Protokoll
Staatsexamen abgelegt wird. Damit entkoppeln wir bewusst
die notarielle Fachprüfung vom Staatsexamen, verdeutli-
chen deren eigenständige Bedeutung und stellen sicher,
dass der Bewerber zunächst ausreichend anwaltliche
Berufserfahrung sammeln kann und soll.

Viertens. Wir reduzieren die Anzahl der schriftlichen
Aufsichtsarbeiten um zwei und begrenzen diese damit
insgesamt auf vier Klausuren. In den parlamentarischen
Beratungen hatte sich angedeutet, zu hinterfragen, ob die
Prüfungsanforderungen nach dem Bundesratsentwurf, die
doch eine erhebliche Zusatzbelastung für Rechtsanwältin-
nen und Rechtsanwälte darstellen, über das anvisierte Ziel
der Qualifizierung und Bestenauslese hinausschießen.
Ich bin der Auffassung, dass vier Klausuren ausreichen,
um alle relevanten Tätigkeitsfelder eines Notars in den
Prüfungen abdecken und ein differenziertes Leistungsbild
erstellen zu können.

Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass
der Gesetzgeber darauf verzichtet, Bewerbern vorzugeben,
wie sie sich auf die Prüfungen vorzubereiten haben. Wir
wollen den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten einen
Quasirückfall in studentische Zeiten ersparen, innerhalb
einer bestimmten Zeit oder Reihenfolge Fortbildungs-
nachweise anzusammeln. Wir streben damit die Möglich-
keit einer flexiblen Berufs- und Prüfungsvorbereitung an,
auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Vorbereitung und
Ablegung der notariellen Fachprüfung berufsbegleitend
erfolgen können soll.

Fünftens. Aus den gleichen Gründen haben wir uns dafür
entschieden, den Prüfungsstoff durch das Bundesjustiz-
ministerium mit Zustimmung des Bundesrates in einer
Rechtsverordnung regeln zu lassen. In einer Rechtsver-
ordnung lassen sich die einzelnen Prüfungsgebiete im
Sinne der Transparenz für den Prüfling konkreter und de-
taillierter umreißen mit dem Ziel, insgesamt den Umfang
des Prüfungsstoffes sachlich zu begrenzen. Zu diesem
Zwecke engt das Gesetz den Prüfungsstoff bereits auf den
notarspezifischen Tätigkeitsbereich ein. Wir wollen eine
notarielle Fachprüfung und kein drittes Staatsexamen.
Zudem kann mit einer Rechtsverordnung flexibler als mit
einem Gesetz auf notarspezifische Veränderungen rea-
giert werden.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewahren wir die
Grundstruktur des Anwaltsnotariats, die sich in den letz-
ten Jahrzehnten bewährt hat. Mit dem neuen Prüfungs-
verfahren erfüllen wir die Kriterien einer transparenten
und praktikablen Bestenauslese. Gleichzeitig scheint der
Gesetzentwurf durch seine Ausgestaltung geeignet zu
sein, Frauen einen besseren Zugang zum Anwaltsnotariat
zu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem die Berück-
sichtigung von Teilzeittätigkeiten und die flexiblen Vorbe-
reitungsmöglichkeiten auf die Prüfungen, sodass diese
berufs- und familienbegleitend möglich erscheinen.

Ich denke, dass wir auch im Sinne der Länder ein gutes
Gesetz auf den Weg bringen.


Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1620524600

Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute mit der großen

Mehrheit des Hauses beschließen werden, beenden wir



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans
die derzeitige unklare Rechtslage hinsichtlich des Zu-
gangs zum Anwaltsnotariat. Das Bundesverfassungsge-
richt hat in seiner Entscheidung vom 20. April 2004 fest-
gestellt, dass die Auslegung und Anwendung der Normen
der Bundesnotarordnung, die den Zugang zum Anwalts-
notariat regeln, nicht den verfassungsrechtlichen Erfor-
dernissen genügen. Bei der Auswahl der Bewerber für
das Amt des Anwaltnotars sei nicht der Vorrang desjeni-
gen mit der besten fachlichen Eignung gewährleistet.

Der Gesetzentwurf nimmt den Handlungsauftrag des
Bundesverfassungsgerichts auf und etabliert ein neues,
transparentes System für den Zugang zum Anwaltsnota-
riat. Der Gesetzentwurf enthält eine Kombination aus ei-
ner neuen notariellen Fachprüfung, einer praktischen
Ausbildung im Notariat und der Beibehaltung der allge-
meinen und örtlichen Wartezeiten als Voraussetzung für
die Bestellung von Anwaltsnotaren. Die Fraktionen des
Deutschen Bundestages gehen übereinstimmend davon
aus, dass die Neuregelung geeignet ist, den Zugang zum
Anwaltsnotariat künftig schneller zu ermöglichen und
durch die Fokussierung auf die fachlichen Leistungen der
Bewerber insgesamt eine Qualitätssicherheit und Stär-
kung des Anwaltsnotariats zu erreichen.

Der Gesetzentwurf des Bundesrates hat sich als sehr
sachgerechte Beratungsgrundlage herausgestellt. Auch
in der Anhörung haben die Sachverständigen die Grund-
züge und die Richtung des Entwurfs übereinstimmend ge-
lobt. Im weiteren Verfahren ist es gelungen, die Hinweise
der Sachverständigen und die Vorschläge der Bundesre-
gierung aufzunehmen und damit im Ergebnis den Entwurf
noch weiter zu verbessern.

Vorgesehen ist eine örtliche Wartezeit, die sicherstellt,
dass der Rechtsanwalt vor Ort eine anwaltliche Praxis
aufgebaut hat, bevor er zum Notar bestellt wird. Wir ha-
ben uns darauf geeinigt, das Bezugsgebiet der örtlichen
Wartezeit auf den Amtsgerichtsbezirk zu begrenzen. Ge-
rade durch die Einführung der notariellen Fachprüfung
wird es auch künftig gelingen, in den Amtsgerichtsbezir-
ken eine Besetzung der Stellen mit qualifizierten Bewer-
bern sicherzustellen. Darüber hinaus sieht der Entwurf
nun eine Wartefrist von drei Jahren nach der Zulassung
zur Rechtsanwaltschaft vor, bevor die notarielle Fach-
prüfung abgelegt werden kann. Diese Regelung erschien
notwendig, um sicherzustellen, dass die Bewerber die
praxisbezogene Fachprüfung nicht unmittelbar im An-
schluss an das zweite Staatsexamen ablegen, ohne dass
sie zuvor anwaltliche Berufserfahrung erworben haben.

Wichtig zu erwähnen ist auch, dass Wert darauf ge-
legt wurde, die Fachprüfung nicht zu einem dritten
Staatsexamen ausufern zu lassen. Daher wird die schrift-
liche Prüfung auf vier Aufsichtsarbeiten beschränkt.

Hinweisen möchte ich darauf, dass der Gesetzentwurf
ein wichtiges Signal zur Frauenförderung setzt. Wir ha-
ben in dem Gesetzentwurf sichergestellt, dass auch
Frauen, die aufgrund der Erziehung ihrer Kinder der Tä-
tigkeit als Rechtsanwältin nicht hauptberuflich nachge-
hen können, beim Zugang zum Anwaltsnotariat nicht
schlechter gestellt werden als Kollegen, die sich vollum-
fänglich ihrer Rechtsanwaltstätigkeit widmen können.
Zu Protokoll
Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass wir mit
dem Gesetzentwurf ein gutes Beispiel für die Zusammen-
arbeit zwischen Bundesrat und Bundestag im Rahmen der
Gesetzgebung geben können. Der Bundesrat hat die Ini-
tiative ergriffen und einen Gesetzentwurf zur Neurege-
lung des Anwaltsnotariats vorgelegt, der im weiteren par-
lamentarischen Verfahren im Deutschen Bundestag noch
an entscheidenden Stellen verbessert werden konnte.
Bundestag und Bundesrat haben hier in vorbildlicher
Weise zusammengearbeitet. Das Ergebnis kann sich se-
hen lassen.

Ich bin davon überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf,
den wir heute verabschieden, ein transparentes Auswahl-
verfahren sichergestellt werden kann, das sowohl Chan-
cengleichheit zwischen den Bewerbern herstellt als auch
dazu geeignet ist, die Qualitätssicherung des Anwaltsno-
tariats zu garantieren.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1620524700

Lassen Sie mich etwas Grundsätzliches vorab anmer-

ken: Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf im Interesse der Rechtsu-
chenden auch eine hohe und umfassende Qualifikation
der Anwaltsnotare gewährleistet werden. Wenn man die
Rechtsprechung zur Haftung der Notare einmal genau
analysiert, dann kann man aber das Ziel, den Rechtsu-
chenden eine von hoher und umfassender Qualität ge-
kennzeichnete Beratung zukommen zu lassen, selbst
durch eine noch so gute Bewerberauswahl nur schwerlich
erreichen.

Die Haftungsrechtsprechung gewährt einen guten Ein-
blick in die zwei signifikanten berufstypischen Schwach-
stellen der Anwaltsnotare: Zum einen üben diese den
Notarberuf lediglich im Nebenamt aus und verfügen na-
turgemäß in den allermeisten Fällen – auch nach jahre-
langer Tätigkeit – über weniger Erfahrung als ein haupt-
beruflicher Notar. Zum anderen ist es für Anwaltsnotare
nicht selten schwierig, ihre beiden Berufe strikt voneinan-
der zu trennen. Gegenüber einem aus jahrelanger anwalt-
licher Betreuung bekannten Mandanten ist es schon psy-
chologisch schwer vermittelbar, dass man bei der
Notartätigkeit auf einmal auch die Interessen des „Geg-
ners“ zu wahren hat.

Der Schutz des Bürgers vor unqualifizierter Beratung
ließe sich daher am besten und konsequentesten mit der
Abschaffung des Anwaltsnotariats verwirklichen. Dies
war jedoch von vornherein nicht die Zielrichtung des vor-
liegenden Gesetzentwurfes. Anlass war vielmehr eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die-
ses die Auslegung und Anwendung der Normen der Bun-
desnotarordnung in der Verwaltungspraxis der Länder
bemängelt hat. In der Debatte zur ersten Lesung habe ich
deshalb drei Fragen in den Mittelpunkt gestellt. Erstens:
Wollen wir überhaupt eine bundesrechtliche Lösung?
Zweitens: Ist es sinnvoll, eine notarielle Fachprüfung als
einziges Auswahlkriterium neben dem Ergebnis des zwei-
ten juristischen Staatsexamens einzuführen? Und drit-
tens: Wenn eine notarielle Fachprüfung eingeführt wird,
soll dies in der vorgesehenen Ausgestaltung geschehen?



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Auch unter Berücksichtigung der Sachverständigen-
anhörung sind für mich die ersten beiden Fragen zu ver-
neinen. Der Bund ist nicht die Gouvernante der Länder.
Wenn die Länder ihre Hausaufgaben nicht machen, dann
ist es nicht Aufgabe des Bundes, dies für sie zu erledigen.
Der Gesetzentwurf ist unter diesem Gesichtspunkt schon
überflüssig. Auch die Einführung einer weiteren theoreti-
schen Prüfung als alleiniges Auswahlkriterium zwischen
den Bewerbern ist abzulehnen. Die Anforderungen, die
ein zukünftiger Anwaltsnotar erfüllen und die bei der Be-
werberauswahl im Vordergrund stehen sollten, hat der
Pa
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1620524800
„Wir wollen
Leute, die in der Praxis erfahren sind und gute Arbeit leis-
ten, und wir müssen darauf achten, dass wir nicht dieje-
nigen bevorzugen, die es sich leisten können, sich mit viel
Zeit und Geld auf theoretische Prüfungsfragen vorzube-
reiten.“ Für meine Fraktion birgt der eingeschlagene
Weg eines „dritten juristischen Staatsexamens“ jedoch in
ganz besonderer Weise die Gefahr, genau solche Bewer-
ber zum Zuge kommen zu lassen, die Staatssekretär Har-
tenbach eigentlich nicht wollte. Es ist deshalb auch be-
dauerlich, wenn der Rechtsausschuss die zuvor schon eng
gefasste „Öffnungsklausel“ in § 6 Abs.3 des Entwurfes
für die Berücksichtigung anderer Kriterien als die Ergeb-
nisse der notariellen Fachprüfung beziehungsweise des
zweiten Staatsexamens weiter begrenzt und zukünftig
diese Möglichkeit nur noch bei einem Bewerber, der
schon Notar ist oder in der Vergangenheit war, ange-
wandt werden kann.

Die Frage, ob die Einführung der notariellen Fach-
prüfung in der vorgesehenen Ausgestaltung erfolgen
sollte, hat auch die Mehrheit des Rechtsausschusses mit
Nein beantwortet. Die Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses geht hier auf einige – wenngleich nicht alle –
Einwände der Sachverständigen aus der Anhörung ein
und sieht entsprechende Veränderungen vor. So ist die
Anzahl der zu absolvierenden Prüfungen, die mit sechs
verlangten Leistungsnachweisen überdimensioniert war,
auf angemessene vier reduziert worden. Auch die Tatsa-
che, dass die Festlegung des Prüfungsstoffes nicht mehr
unmittelbar im Gesetz erfolgt, sondern auf den Verord-
nungsgeber delegiert wird, ist zu begrüßen. Damit ist es
besser möglich, den Prüfungsstoff auf die für die nota-
rielle Amtstätigkeit bedeutsamen Bereiche zu begrenzen.

Zwei weitere positive Änderungen, die Ergebnis der
Ausschussberatungen waren, sollen nicht unerwähnt
bleiben. Dass es nun nicht mehr möglich ist, die notarielle
Fachprüfung unmittelbar nach dem zweiten juristischen
Staatsexamen abzulegen, sondern dass zuvor eine drei-
jährige Wartezeit nach Zulassung zur Rechtsanwaltschaft
abgewartet werden muss, sorgt zumindest für eine ge-
wisse Berufserfahrung der Prüflinge und zukünftigen Be-
werber. Ebenfalls richtig ist die Ersetzung des Wortes
„hauptberuflich“ durch die Formulierung „in nicht un-
erheblichem Umfang“ in dem neuen § 6 Abs. 2 der Bun-
desnotarordnung. Das Kriterium der Hauptberuflichkeit
barg die Gefahr, diejenigen weiter zu benachteiligen, die
neben der Anwaltstätigkeit Erziehungsaufgaben wahr-
nehmen und lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nach-
Zu Protokoll
gehen. Derzeit sind dies noch immer vornehmlich
Frauen.

Wegen der angesprochenen grundsätzlichen Ein-
wände wird meine Fraktion den vorliegenden Gesetzent-
wurf jedoch ablehnen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620524900

In meiner Rede zur ersten Lesung habe ich bereits ge-

sagt, dass der Gesetzentwurf im Grundsatz in die richtige
Richtung geht. Ich habe Fragen aufgeworfen, ob der Um-
fang des schriftlichen Teils der Fachprüfung angemessen
ausgestaltet worden ist. Es war auf den ersten Blick nicht
unbedingt nachvollziehbar, warum es hierbei sechs fünf-
stündiger Prüfungsklausuren bedürfen soll, in denen zu-
dem thematisch über die notarspezifischen Bereiche
hinaus zum Beispiel auch Wissen zum Bürgerlichen, zum
Handels- und zu unterschiedlichen Prozessrechten ge-
prüft werden soll. Ist es wirklich gewollt, dass die schrift-
liche Fachprüfung zum Anwaltsnotariat – das ja immer-
hin im Nebenberuf ausgeübt wird – den Umfang eines
dritten juristischen Staatexamens erhält?

Wo stehen wir heute? Nach einer hilfreichen Anhörung
und sehr konstruktiver Auswertung der Stellungnahmen
sind wichtige Verbesserungen vorgenommen worden. So
können wir jetzt sagen: Wir haben ein gutes Gesetz.

Der Bestenauslese wird nun besser Rechnung getra-
gen, und gleichzeitig wird der Zugang zum Anwaltsnota-
riat erleichtert. Es wird eine neue Prüfung eingeführt, die
spezifisch auf den Notarberuf ausgerichtet ist. Die Note
des Staatsexamens fällt geringer ins Gewicht. Die nota-
rielle Fachprüfung wird gegenüber dem Entwurf in ver-
nünftiger Weise abgespeckt und konkretisiert. Wir werden
also kein drittes Staatsexamen mehr haben. Es ist auch
sinnvoll, die Einzelheiten in eine Verordnung auszula-
gern.

Das übertriebene System von zahllosen teuren Wo-
chenendkursen zur Punktejagd, das sich in der Praxis
etabliert hat, wird eingedämmt. Der Praxisnachweis wird
für breitere Kreise zugänglich und kann teilweise durch
notariatsspezifische Praxislehrgänge ersetzt werden.

Das bisherige System hat größere und große Kanzleien
begünstigt, weil diese die immensen Kosten von bis zu
40 000 Euro eher aufbringen und häufiger Notarvertre-
tungen zum Praxisnachweis zur Verfügung stellen kön-
nen. Die Reform kommt damit besonders Frauen zugute,
die überwiegend in kleineren oder Einzelkanzleien arbei-
ten. Sie hatten dadurch weniger Chancen, als Notarver-
treterin bestellt zu werden sowie die Kosten und den Ver-
dienstausfall zu stemmen.

Wichtig ist, dass die Voraussetzungen für die Bestel-
lung zum Notar oder zur Notarin gegenüber dem ur-
sprünglichen Gesetzentwurf so geändert werden, dass die
vorherige fünfjährige Anwaltstätigkeit nicht hauptberuf-
lich ausgeübt worden sein muss. Das wäre eine Benach-
teiligung für alle gewesen, die aus Gründen der Verein-
barkeit von Beruf und Familie in Teilzeit arbeiten, also
besonders für Frauen. Das zu korrigieren war uns ein be-
sonderes Anliegen.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag
Das Konzept des Gesetzes, so wie wir es heute verab-
schieden, legt die Grundlage dafür, dass sich der Anteil
von Anwaltsnotarinnen endlich deutlich erhöht. Dieser
Anteil liegt nämlich immer noch unter 10 Prozent, ob-
wohl der Anteil von Rechtsanwältinnen an der Rechtsan-
waltschaft immerhin etwa 30 erreicht hat.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Die
Zusammenarbeit der Berichterstatter – und auch mit dem
Bundesjustizministerium – nach der Anhörung war sehr
konstruktiv und hat ein gutes Gesetz in mehreren Punkten
weiter verbessert. Wir werden ihm deshalb zustimmen.

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1620525000


Fast 8 000 Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare
üben in Deutschland neben ihrem Rechtsanwaltsberuf
das Amt des Notars aus. Als unabhängige Träger eines öf-
fentlichen Amtes ist es ihre Aufgabe, Beurkundungen vor-
zunehmen und weitere Aufgaben auf dem Gebiet der vor-
sorgenden Rechtspflege wahrzunehmen. Sie tun dies in
guter und bewährter Weise. Nun kann allerdings nicht
jede Anwältin und nicht jeder Anwalt auch Notarin oder
Notar werden. Im räumlichen Bereich eines Anwaltsnota-
riats sind rund 60 000 Rechtsanwältinnen und Rechts-
anwälte tätig. Der Zugang zum Anwaltsnotariat ist also
ein Nadelöhr.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass das bisher gel-
tende Zugangssystem an seine Grenzen stößt: Das gel-
tende Punktesystem, das in großem Umfang auf lediglich
quantitativ messbare Kriterien wie die Dauer der Anwalts-
tätigkeit, die Zahl vertretungsweise vorgenommener Be-
urkundungen und die Zahl besuchter Fortbildungsveran-
staltungen zurückgreift, um eine Auswahl unter den
Bewerbern für eine ausgeschriebene Notarstelle zu tref-
fen, ist streitanfällig. Es verheißt eine Objektivität und
Transparenz im Verfahren der Bestenauslese beim Zu-
gang zum Anwaltsnotariat, die in der Praxis nicht einge-
löst werden kann. Die vor dem Rechtsausschuss des Deut-
schen Bundestages angehörten Sachverständigen haben
die Mängel des geltenden Rechts, die nicht erst seit dem
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April
2004 offenbar sind, einmütig bestätigt.

Bestätigt haben sie auch, dass eine notarielle Fach-
prüfung der einzig gangbare Weg ist, um die Mängel des
geltenden Rechts zu beseitigen. Ich begrüße es daher
sehr, dass wir heute mit der gesetzlichen Neuregelung des
Zugangs zum Anwaltsnotariat ein von Bund und Ländern
lange und intensiv vorbereitetes Gesetzgebungsverfahren
abschließen. Die Zugangsvoraussetzungen werden klar
und eindeutig geregelt. Das schafft Rechtssicherheit und
vermeidet Streitigkeiten. Eine neue notarielle Fachprü-
fung sichert den erforderlichen Qualitätsstandard. Sie
schafft einheitliche Standards. Das ist Voraussetzung da-
für, dass Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare auch
künftig ihre Aufgaben in der vorsorgenden Rechtspflege
erfolgreich für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen
können. Zugleich ermöglicht die notarielle Fachprüfung
eine faire und gerechte Bestenauslese. Sie ermöglicht ei-
nen chancengleichen Zugang von Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälten zum Notarberuf. Und die vorgesehene
praktische Ausbildung im Notariat, die bewusst flexibel
Zu Protokoll
ausgestaltet ist, wird sicherstellen, dass die ausgewählten
Bewerberinnen und Bewerber mit der notariellen Berufs-
praxis so gut vertraut sind, dass sie die Amtstätigkeit so-
fort auf hohem Niveau beginnen können.

Die neuen Zugangsregelungen zum Anwaltsnotariat
stellen sowohl im Interesse der Qualitätssicherung als
auch der Bestenauslese hohe Anforderungen. Die neue
notarielle Fachprüfung erstreckt sich auf den gesamten
Bereich der notariellen Amtstätigkeit. Über eine schrift-
liche und mündliche Fachprüfung, die bei dem bei der
Bundesnotarkammer zu errichtenden neuen Prüfungsamt
durchgeführt wird, müssen Bewerberinnen und Bewerber
beweisen, dass sie fit sind, das Amt einer Notarin oder ei-
nes Notars auszuüben. Ich weiß, dass die Prüfung Lasten
mit sich bringt, und ich weiß, dass die erforderliche Prü-
fungsvorbereitung parallel zur Anwaltstätigkeit erfolgen
muss. Deshalb haben wir besonderen Wert darauf gelegt,
die neue notarielle Fachprüfung so auszugestalten, dass
sie machbar ist. Vier Punkte möchte ich hierzu kurz an-
sprechen.

Es gibt erstens keine gesetzlichen Vorgaben dazu, wie
die Prüfungsvorbereitung erfolgt. Insbesondere gibt es
keine Pflichtkurse für die Bewerber. Die wissen nämlich
selbst am besten, wie sie sich gut und effektiv auf eine
Prüfung vorbereiten. Vorgaben sind daher entbehrlich.
Die mit dem Verzicht auf bürokratische Vorgaben beab-
sichtigte Flexibilität liegt gerade auch im Interesse der
Rechtsanwältinnen. Ich hoffe sehr, dass künftig mehr An-
wältinnen den Weg in das Amt der Notarin finden werden.
Das Potenzial, das die vielen hervorragend qualifizierten
Rechtsanwältinnen haben, muss künftig auch im Notarbe-
reich genutzt werden. Ich bin zuversichtlich, dass das
neue Zugangssystem mit der Stärkung der individuellen
fachlichen Prüfung der Bewerber dazu führen wird, dass
mehr Rechtsanwältinnen als bisher Notarin werden und
dass ihr Anteil an den Anwaltsnotaren, der bisher unter
zehn Prozent liegt, deutlich ansteigen wird.

Zweitens soll der Prüfungsstoff nicht im Gesetz, son-
dern in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Das
dient – neben der damit eröffneten Flexibilität – dazu, den
Prüfungsstoff einzugrenzen und diese Begrenzung für die
Bewerberinnen und Bewerber transparent zu gestalten.
Was nicht konkret als Prüfungsgegenstand benannt wird,
wird auch nicht geprüft.

Drittens haben wir nach den Erörterungen im Rechts-
ausschuss entschieden, dass auch vier statt der im Ge-
setzentwurf vorgesehenen sechs Klausuren genügen, um
die fachliche Eignung der Bewerber festzustellen.

Schließlich haben wir viertens – Sie sehen, wir haben
uns auch um kleine, aber nicht unwichtige Details geküm-
mert – festgelegt, dass entschuldigt versäumte Klausuren
einzeln nachgeholt werden können, dass also nicht alle
Klausuren nochmals geschrieben werden müssen, wenn
nur einzelne Klausuren versäumt wurden.

Insgesamt wird mit der Reform des Zugangs zum An-
waltsnotariat die leistungsbezogene Bestenauslese be-
tont. Ziel ist es, denjenigen Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälten den Zugang zum Notarberuf zu eröffnen,
die dafür am besten geeignet sind. Die Reform sichert und
stärkt damit das Anwaltsnotariat.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620525100

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Rechts-

ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11906, den Gesetzentwurf des Bundes-
rates auf Drucksache 16/4972 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Jo-
sef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft-
werke in Osteuropa

– Drucksache 16/11764 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Christian Hirte, Christoph
Pries, Angelika Brunkhorst, Hans-Kurt Hill und Hans-
Josef Fell.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1620525200

Auf eines kann man sich bei den Grünen immer verlas-

sen: Fällt das Wort „Kernkraftwerk“, kommt es sofort zu
einem Pawlow’schen Reflex, bei dem gebetsmühlenartig
der Ausstieg gefordert wird – ungeachtet bestehender
Verträge und Gesetze. Jetzt bläst die Fraktion der Grünen
zum Kreuzzug wider die slawische Gefahr vom Reaktor-
unfall oder dem Super-GAU, um sich vorbei an aller Re-
alität als Retter nicht nur Deutschlands, sondern ganz
Europas aufzuspielen.

Meine Damen und Herren von der Opposition, es ge-
hört zur Realität, dass auch und gerade die Union die
Frage der Sicherheit von Kernkraftwerken in Osteuropa
sehr ernst nimmt. Nicht erst das Reaktorunglück von
Tschernobyl hat uns deutlich vor Augen geführt, welche
Konsequenzen ein nachlässiger Umgang mit der Kern-
energie haben kann. Zur Realität gehört weiterhin: Die
EU-Beitrittsverträge regeln klar die Abschaltung der un-
sicheren Reaktoren. Die von Ihnen im Antrag erwähnten
Länder können also nicht einfach mal so ein Formular
ausfüllen, einen Antrag auf Laufzeitverlängerung stellen,
und irgendein Amt entscheidet dann nach Gutdünken.
Dazu müssten nämlich erst neue völkerrechtliche Ver-
träge geschlossen werden.

Die Position sowohl der europäischen als auch der
christlichen Union ist klar: Wir wollen keine unsicheren
Reaktoren bei unseren Nachbarn. Das ist auch die Posi-
tion unserer Regierung. Da gibt es gar keine Diskussion.
Sie führen also wieder einmal eine presseheischende
„Hätte-wäre-wenn“-Debatte mit Blick auf Ihre Klientel,
jedoch ohne jede praktische Konsequenz.

Was dabei auch immer wieder gern vergessen wird:
Man kann nicht immer nur aufgeregt „Ausstieg, Aus-
stieg“ fordern und Fragen von Versorgungssicherheit
und Klimaschutz ignorieren. Gleichzeitig, neben dem
Ausstieg aus der Kernenergie, wollen Sie ja die Kohle-
kraftwerke beseitigen. Wo die Energie dann kurzfristig
herkommt, ist dabei scheinbar egal. Liebe Opposition,
hören Sie auf, zu polemisieren!

Alle Zukunftsszenarien gehen davon aus, dass der Be-
darf an Strom in Zukunft stärker wachsen wird als der an
anderen Energieformen. Damit müssen wir umgehen. Ein
Drittel der Stromerzeugung in der EU erfolgt heute mit-
tels Kernkraft. Derzeit sind in der EU 152 Kernkraft-
werke in Betrieb. Der Bedarf, den diese Kraftwerke de-
cken, kann nicht einfach wegdiskutiert werden.
Gleichzeitig darf man auch nicht vergessen, dass wir be-
reits 64 alte Reaktoren stillgelegt haben. Ein deutliches
Signal gerade für eine sichere Energieversorgung.

Es lässt sich aber auch nicht wegdiskutieren, dass Bul-
garien gefroren hat, als Russland und die Ukraine über
Gas stritten. Ich glaube, dass die Bulgaren in einer sol-
chen Situation mehr von ihren Freunden in der EU hören
wollen als: „Und nicht vergessen: Reaktor aus!“ Wir
schulden unseren osteuropäischen EU-Freunden mehr
als nur den erhobenen Zeigefinger. Wir müssen ihnen da-
bei helfen, Energiesicherheit zu erreichen: sichere Ver-
sorgung und sichere Energiegewinnung. Nur dann brau-
chen wir auch nicht zu befürchten, dass alte Kraftwerke
eventuell wieder ans Netz gehen.

Aber auch den baltischen Staaten kann man nicht ein-
fach mal ein paar Windmühlen schicken, und das wars.
Da braucht es schon mehr Unterstützung und Strategien.
Ein einfaches Nein zu fossilen und nuklearen Energieträ-
gern ist noch lange keine realistische Strategie.

Ich bin skeptisch, dass wir Versorgungssicherheit in
Europa in den nächsten Jahren ohne Kernenergie errei-
chen können. Es wäre geradezu töricht, den osteuropäi-
schen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie sichere
Energie realisieren – ganz davon abgesehen, dass sich
die Grünen hier über geltendes EU-Recht hinwegsetzen
möchten. Der Energiemix ist nämlich strikt nationale Sa-
che.

Wenn man zu der realistischen Einschätzung kommt,
dass ein Staat nicht ohne Kernenergie auskommt, dann
müssen wir das berücksichtigen. Deutschland kann mit
seinem Know-how dabei Unterstützung leisten, klima-
freundliche und sichere Lösungen zu finden und umzuset-
zen.


(A) (C)



(B) (D)


Christian Hirte
Kernenergie gehört nach wie vor zum umweltfreundli-
chen Energiemix in Deutschland und in Europa. Sicher
gibt es CO2-ärmere Energieerzeugungsmethoden. Aber
für die Erzeugung der Grundlast und vor allem für be-
zahlbare Energie sind Kernkraftwerke derzeit noch uner-
lässlich. Regenerative Energieträger, die das leisten
könnten, sind noch nicht zu wirtschaftlich vertretbaren
Kosten in Sicht. Deswegen haben nicht nur die Schweden
den Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen, sondern in
mehreren europäischen Nachbarländern befinden sich
neue Kernkraftwerke in Bau oder in Planung.

Europa und Deutschland können es sich im Moment
nicht leisten, Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke
gleichzeitig vom Netz zu nehmen. Lassen Sie uns also da-
ran arbeiten, wie wir die Energieversorgung in Europa
sichern können – mit sicheren, umweltfreundlichen Kraft-
werken und ohne Ideologie!


Christoph Pries (SPD):
Rede ID: ID1620525300

Die nukleare Sicherheit spielte eine zentrale Rolle bei

den Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit
den osteuropäischen Staaten. Die alten Atomkraftwerke
sowjetischer Bauart sollten entweder mit westlicher
Technik nachgerüstet oder – wo dies nicht möglich war –
schnellstmöglich abgeschaltet werden. Die Beitrittskan-
didaten haben diesem Verfahren – trotz ihrer immer wie-
der geäußerten Kritik – zugestimmt.

Folgende Vereinbarungen wurden in den Beitrittsver-
trägen festgeschrieben:

In Litauen wurde der Reaktor Ignalina 1 am 31. De-
zember 2004 abgeschaltet. Der Reaktor Ignalina 2 muss
laut Betrittsvertrag spätestens Ende 2009 vom Netz ge-
nommen werden.

Die Slowakei schaltete die Reaktoren Bohunice 1
und 2 zum 31. Dezember 2006 und 2008 ab.

In Bulgarien wurden die Reaktoren Kozloduj 1 bis 4
bis zum 31. Dezember 2006 schrittweise stillgelegt.

Im Gegenzug erhalten die Beitrittsländer für die Still-
legung umfangreiche finanzielle Unterstützung durch die
Europäische Union. Ich denke, wir alle hier im Hause
sind uns einig, dass dieser Schritt für die Sicherheit von
Mensch und Umwelt wichtig und richtig war.

Nun hat der Gasstreit zwischen Russland und der
Ukraine in Bulgarien und der Slowakei die Diskussion
über die Abschaltung der Atomkraftwerke neu entfacht.
Die slowakische Regierung hatte Anfang Januar ange-
kündigt, aufgrund des Gaslieferstopps den gerade erst
abgeschalteten Reaktor Bohunice 2 wieder anzufahren –
auch um den Preis eines EU-Vertragsverletzungsverfah-
rens. Nach Beendigung der Krise hat die slowakische Re-
gierung am 23. Januar allerdings entschieden, auf die
Wiederinbetriebnahme des umstrittenen Reaktors zu ver-
zichten. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ent-
scheidung ausdrücklich.

In Bulgarien hat das Parlament am 23. Januar einen
Antrag verabschiedet, der die Regierung auffordert, die
Europäische Kommission um eine Überprüfung der Ab-
schaltung der Reaktoren Kozloduj 3 und 4 zu bitten. Da-
Zu Protokoll
bei beruft man sich auf Art. 36 des Protokolls über die Be-
dingungen für die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens
in die Europäische Union. Dieser Artikel sieht für die
Jahre 2007 bis 2009 vor, dass die Beitrittsländer bei
Schwierigkeiten, welche einen Wirtschaftszweig erheb-
lich und voraussichtlich anhaltend treffen oder welche
die wirtschaftliche Lage eines bestimmten Gebiets be-
trächtlich verschlechtern können, die Genehmigung zur
Anwendung von Schutzmaßnahmen beantragen können,
um diese Lage wieder auszugleichen. Die Wiederinbe-
triebnahme von Kozloduj soll Bulgarien bei der Bewälti-
gung seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage helfen.

Grundsätzlich möchte ich sagen: Die Menschen in
Osteuropa haben Anspruch auf eine sichere Energiever-
sorgung. Diese muss durch die Einhaltung eingegange-
ner Verpflichtungen durch die Lieferländer gewährleistet
werden. Es ist deshalb zu hoffen, dass die jetzt erzielte Ei-
nigung zwischen Russland und der Ukraine eine langfris-
tige Versorgungssicherheit gewährleistet.

Anderseits zeigen die Beispiele Bulgarien und Slowa-
kei auch, dass man nach dem Beitritt in die Europäische
Union schnell gelernt hat. Insbesondere die Debatte über
die Atomenergie hierzulande wird offenbar aufmerksam
verfolgt. Von der deutschen Energiewirtschaft hat man
gelernt: Unterschreibe Verträge, wenn du deine Ziele
nicht anders erreichen kannst. Versuche anschließend,
die Verträge zu deinen Gunsten zu ändern.

Wer die Forderungen der Bulgaren und Slowaken als
Vertragsverletzung kritisiert, der muss auch das Abrü-
cken der deutschen Energiewirtschaft vom Atomkonsens
kritisieren. Ich bin hier schon sehr auf die Ausführungen
der Union und der FDP in den Ausschussberatungen ge-
spannt.

Auch von Teilen der deutschen Politik haben Bulgaren
und Slowaken sich etwas abgeschaut: Nutze jede Ener-
giekrise, um auf die Unverzichtbarkeit der Atomenergie
hinzuweisen. Ob damit das eigentliche Problem gelöst
wird, ist egal. – Beim ersten Gasstreit im Januar 2006 hat
es der damalige Wirtschaftsminister Glos vorgemacht.
Als die Gaslieferungen schrumpften, forderte er vehe-
ment, nun müsse man aber endlich die Laufzeiten der
deutschen Atomkraftwerke verlängern. Dass zwischen
Strom aus Atomkraftwerken und Wärme aus gasbetriebe-
nen Heizkraftwerken kein Zusammenhang besteht, war
dem Minister offenbar nicht bewusst.

Das Gleiche gilt auch für Bulgarien und die Slowakei.
Nach den Zahlen der Internationalen Energieagentur be-
trug 2006 in Bulgarien der Anteil der Atomkraft an der
Erzeugung von Heizwärme gerade einmal 1,16 Prozent.
Gas hingegen hatte einen Anteil von 53,5 Prozent. Bei der
Stromproduktion sind die Gewichte umgekehrt.

Auch in der Slowakei betrug der Anteil von Gas an der
Stromproduktion 2006 gerade einmal 6,1 Prozent. Der
Anteil von Atomenergie an der Wärmeenergieerzeugung
lag bei bescheidenen 5 Prozent.

Fazit: Mit Atomkraft lässt sich das Problem der Wär-
meenergieerzeugung nicht beheben. Auch glühende
Atomstromleitungen heizen keine Wohnung.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christoph Pries
Dass Heizen mit Strom ein Irrweg ist, zeigt uns Frank-
reich in jedem kalten Winter. Dann können selbst 58 fran-
zösische Reaktoren den Strombedarf der Elektroheizun-
gen nicht decken – von der Ineffizienz und
Klimaschädlichkeit einer Stromheizung ganz zu schwei-
gen.

Bisher liegt der EU-Kommission kein Antrag der bul-
garischen Regierung vor. Die Erfolgsaussichten eines po-
tenziellen Antrags auf Wiederaufnahme des Betriebs der
Reaktoren Kozloduj 3 und 4 werden von der EU-Kommis-
sion sehr zurückhaltend kommentiert. Zudem müsste der
EU-Rat bei einer positiven Entscheidung der EU-Kom-
mission einbezogen werden.

Was Litauen betrifft: Ein Referendum, das Atomkraft-
werk Ignalina – entgegen den Zusagen Litauens im Bei-
trittsvertrag – bis 2015 am Netz zu lassen, ist im Oktober
2008 gescheitert. Das notwendige Quorum – eine Wahl-
beteiligung von 50 Prozent – wurde verfehlt. Insofern ist
der vorliegende Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen be-
reits vor der Beratung im Ausschuss überholt.

Darüber hinaus erweckt der Antrag den Eindruck, als
habe sich die Bundesregierung bisher nicht in ausrei-
chendem Maße auf europäischer und bilateraler Ebene
für eine vertragsgetreue Abschaltung der Atomkraft-
werke in Osteuropa eingesetzt. Dies ist nicht so, und das
werden wir in den Ausschussberatungen klarstellen.

Unabhängig davon möchte ich für die SPD-Bundes-
tagsfraktion betonen, dass wir selbstverständlich auf ei-
ner vertragsgetreuen Abschaltung der Atomkraftwerke in
Osteuropa bestehen. „Pacta sunt servanda“ – Verträge
müssen eingehalten werden. Das gilt für die EU-Beitritts-
verträge ebenso wie für den Atomkonsens mit den Ener-
giekonzernen in Deutschland.

Für die SPD ist Atomenergie eine Energieform des
letzten Jahrhunderts. Gemessen an den hochfliegenden
Erwartungen der 1950er- und 60er-Jahre ist die Atom-
energie immer „Ankündigungsenergie“ geblieben. Zwei
Beispiele:

Erstens. Die Internationale Atomenergie-Agentur pro-
gnostizierte in ihrem Jahresbericht von 1974, im Jahr
2000 würden weltweit Atomkraftwerke mit einer Leistung
von 4500 Gigawatt installiert sein. Die Realität im Jahr
2008: 372 Gigawatt. Die weltweit 436 Reaktoren decken
nur rund 15 Prozent des weltweiten Strom- und circa
2,5 Prozent des Endenergieverbrauchs. Das Fazit: Die
Erwartungen wurden enttäuscht, die Risiken unter-
schätzt.

Zweitens. Seit Jahren eilt die Atomlobby von Renais-
sance-Ankündigung zu Renaissance-Ankündigung.
Glaubt man den PR-Strategen und den Hochglanzbro-
schüren, schießen überall auf der Welt Atomkraftwerke
wie Pilze aus dem Boden. Die Realität: Im Jahr 2008 ging
zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atomkraft-
werk ans Netz.

Die Bedeutung der Atomenergie wird weiter abneh-
men. Im „World Energy Outlook 2008“ kommt die Inter-
nationale Energieagentur zu dem Ergebnis, dass bis 2030
der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Strompro-
Zu Protokoll
duktion von 15 auf 10 Prozent sinken wird. Auch ein Ver-
treter der Internationalen Atomenergie-Agentur kommt in
der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Schluss, es gebe bei
der Atomkraft lediglich eine Renaissance beim theoreti-
schen Interesse.

Wie so ein theoretisches Interesse aussieht, konnte
man in den letzten beiden Jahren in Südafrika verfolgen.
Im August 2007 brach dort laut n-tv die Atom-Ära an.
15 Milliarden Euro sollten in fünf Jahren in die Atom-
energie investiert werden. Die gute Hoffnung der Atom-
lobby auf fette Aufträge am Kap erlitt dann aber schnell
Schiffbruch. Bereits im Dezember 2008 erklärte der
staatliche Energiekonzern Eskom, der geplante Neubau
eines Druckwasserreaktors werde aus finanziellen Grün-
den aufgegeben.

Dieses Schicksal könnte vor dem Hintergrund der Fi-
nanzkrise auch noch die eine oder andere Neubauankün-
digung in Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, wo
das Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplanten
Atomkraftwerke hernehmen soll. Ob in Schweden wirk-
lich neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen ent-
stehen, bleibt abzuwarten. Denn die Anlagen müssen
komplett privatwirtschaftlich finanziert werden. Derar-
tige Bedingungen haben bisher noch jedem hochfliegen-
den Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen.

Es bleibt auch abzuwarten, wie viele AKW-Neubauten
sich die Hersteller noch leisten können. Der Bau des
Atomkraftwerks in Finnland beschert Areva-Siemens be-
reits einen satten Verlust von mindestens 500 Millionen
Euro. Daher hat das Konsortium Ende 2008 ein Schieds-
gerichtsverfahren angestrengt, um den zugesagten Fest-
preis von 3,2 Milliarden für den Reaktor mit dem finni-
schen Energiekonzern TVO nachzuverhandeln. Die
Finnen zeigten sich hiervon wenig begeistert und überle-
gen stattdessen, Areva-Siemens auf 2,4 Milliarden Euro
Schadensersatz wegen der dreijährigen Bauverzögerung
zu verklagen.

Wir sind nicht die isolierten Nachzügler einer weltwei-
ten Atom-Renaissance. Deutschland ist vielmehr der Vor-
reiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung.
Die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland und
auch in Europa liegt im Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien, der Energieeffizienz und der Energieeinsparung.
Dafür steht die SPD-Bundestagsfraktion.


Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1620525400

2004 sind Polen, Litauen, die Slowakei und Slowenien,

2007 Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten. Ihr
Beitritt war an verschiedene Bedingungen geknüpft, die
vertraglich festgehalten wurden. An diese Verträge müs-
sen sich die betreffenden Länder selbstverständlich hal-
ten.

Dementsprechend ist es richtig, dass die EU-Kommis-
sion mit einem EU-Vertragsverletzungsverfahren droht,
sollte die Slowakei zwei Reaktoren in Bohunice wieder in
Betrieb nehmen. Gleiches gilt für Bulgarien. Staatspräsi-
dent Parwanow hat angekündigt, einen Reaktor des
Atomkraftwerks Kozloduj wieder in Betrieb zu nehmen,
was Bulgarien laut EU-Beitrittsvertrag nicht gestattet ist.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Angelika Brunkhorst
Auch in diesem Fall muss die EU rechtliche Schritte da-
gegen unternehmen. Die deutsche Bundesregierung muss
der EU bei diesen Schritten Rückendeckung geben.

Hinter den Bestrebungen der betreffenden osteuropäi-
schen Länder verbirgt sich deren Wunsch, energiepoli-
tisch unabhängig von Russland zu sein. Welche fatalen
Folgen die alleinige Energieabhängigkeit von Moskau
haben kann, hat der zurückliegende Gasstreit überdeut-
lich gemacht. Dass das Baltikum, Polen, die Ukraine und
alle anderen Staaten – Deutschland eingeschlossen –
Energieunabhängigkeit von Russland anstreben, ist über-
aus verständlich. Einen Vertragsbruch rechtfertigt dieses
Bestreben jedoch nicht. Wir stimmen hier mit den Grünen
überein. Auf eines weisen wir jedoch ausdrücklich hin:
Die Debatte um die vertragsgemäße Abschaltung von ost-
europäischen Reaktoren darf keinesfalls mit der Diskus-
sion über eine Laufzeitverlängerung deutscher Kern-
kraftwerke vermengt oder verwechselt werden. Erst letzte
Woche hat sich das Europäische Parlament klar für die
europaweite Förderung der Kernenergie ausgesprochen.
Das Parlament forderte die Kommission auf, einen kon-
kreten Fahrplan für Investitionen in Kernenergie vorzu-
legen und unverzüglich einheitliche rechtliche und wirt-
schaftliche Bedingungen für die friedliche Nutzung der
Kernenergie zu schaffen. Gut so! Denn mit Kernenergie
lässt sich der Energiemix umweltschonend, wirtschaftlich
und auf Versorgungssicherheit bedacht gestalten. Sich ih-
rer nicht zu bedienen, bis alternative Energien die glei-
chen Möglichkeiten bieten, ist verantwortungsloser Un-
sinn.

Viele europäische Länder haben das erkannt. In Bul-
garien, Finnland, Frankreich und in der Slowakei sind
neue Reaktoren im Bau. Pläne für den Neubau schmieden
derzeit Bulgarien, Finnland, Frankreich, Großbritan-
nien, Italien, Litauen, die Niederlande, Polen, Rumänien,
Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Slowenien, die
Ukraine und Weißrussland.

Länder, die auf technisch sichere Kernkraftwerke set-
zen, haben einige Sorgen weniger. Wir in Deutschland
hingegen schlafen weiterhin den rot-grün-ideologisierten
Dornröschenschlaf und stehen ohne jedes Konzept da,
wie wir unsere Energieversorgung klimafreundlich, ver-
sorgungssicher, bezahlbar und unabhängiger von Impor-
ten gestalten wollen. Auch in Deutschland sollte es Maß-
stab der Vernunft sein, zunächst weiter auf die friedliche
Nutzung der Kernenergie zu setzen.


Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620525500

In einigen osteuropäischen Staaten planen die Regie-

rungen das Wiederanfahren von alten, maroden Atom-
kraftwerken. Dass dieses Vorgehen gegen EU-Beitritts-
vereinbarungen verstößt, schert diese Länder herzlich
wenig. Warum auch? Schließlich lebt Deutschland derar-
tige Rechtswidersprüche vor. Zu besichtigen ist der poli-
tische Atom-GAU: Die CDU wirbt mit freundlicher Un-
terstützung der Atomkonzerne für die Abschaffung des
Ausstiegsgesetzes, die Bundesregierung wird unglaub-
würdig, und Deutschland macht sich zum EU-weiten Ge-
spött.
Zu Protokoll
Was viel schlimmer ist, meine werten Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Sie setzen die Gesundheit der
Menschen in Europa aufs Spiel. Die Wiederbelebung der
radioaktiven Leichen ist mit extrem hohen Gefahren bis
hin zur Kernschmelze verbunden. Die Unbeherrschbar-
keit der Urantechnik ist der Grund, warum die maroden
Anlagen in Deutschland vom Netz müssen. Wer hier jetzt
die Rolle rückwärts macht, hat sicherlich nicht das Recht,
Bulgarien Vorschläge in der Atomfrage zu machen – ob
dies nun EU-konform ist oder nicht. Das heißt: Der Aus-
stieg aus dem Ausstieg ist der europaweite Einstieg in die
Gefahrenwirtschaft.

Doch wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass einige
Osteuropäer nun laut über Atomstrom nachdenken? Da
ist zum einen das Engagement vor allem deutscher Kon-
zerne wie RWE und Siemens zu nennen. Die wollen gern
in Osteuropa neue Atomkraftwerke bauen – gern auch
mitten in Erdbebengebieten. Zum anderen ist der Gas-
streit zwischen Russland und Ukraine wieder einmal
pünktlich zum neuen Jahr aufgeflammt. Der Lieferkon-
flikt fiel diesmal heftiger aus und legte über zwei Wochen
den Gasfluss nach Westen lahm. Länder wie die Slowakei
und Bulgarien, die in der Energiewirtschaft fast aus-
schließlich von russischem Gas abhängig sind, saßen
plötzlich im Dunkeln. Von der EU, die energiepolitisch
aus einzelstaatlichen Egoisten besteht, war nicht viel zu
erwarten – außer fehlendem Verhandlungsgeschick.

Noch weniger konnten die Osteuropäer auf Deutsch-
land hoffen. Wir verfügen zwar über riesige Gasspeicher,
die weiter ausgebaut werden. Doch wir denken gar nicht
daran, dieses Know-how mit unseren Nachbarn zu teilen.
Und mit der Ostseepipeline haben wir schon gegenüber
Polen, Litauen und Lettland gezeigt, dass wir kein Inte-
resse an einer gemeinsamen Gasstrategie mit unseren
osteuropäischen Partnern haben.

Statt acht Milliarden Euro in der Ostsee zu versenken,
müssen wir Osteuropa endlich wirksam in die Gasbevor-
ratung einbinden. Und wir müssen die Energieeffizienz
und den Ausbau erneuerbarer Energien schneller voran-
bringen.

Wir werden aber kein Gehör finden, solange Deutsch-
land seine Nachbarn vor den Kopf stößt und mit schlech-
tem Beispiel vorangeht. Wer jetzt effiziente und erneuer-
bare Energien ausbremst und die gefährliche Atomkraft
bewirbt, wie CDU/CSU und FDP es machen, bleibt un-
glaubwürdig. Deshalb ist der erste Schritt: schnellstmög-
licher Ausstieg aus der Urannutzung.

Der Antrag der Grünen ist deshalb zu unterstützen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620525600

Um wenigstens die größten Risiken von Atomreaktoren

zu verringern, gehören all jene Atomreaktoren, die schon
aufgrund ihrer Konstruktion hochgefährlich sind, abge-
schaltet. Das sieht auch die ansonsten atomfreundliche
EU-Kommission so. Sie hat deshalb in den Beitrittsver-
trägen von Bulgarien, der Slowakei und Litauen fest-
geschrieben, dass hier überalterte Reaktoren zu einem je-
weils festgelegten Zeitpunkt aus Sicherheitsgründen
abgeschaltet werden müssen. In Bulgarien und der Slo-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Josef Fell
wakei ist dies bereits geschehen, in Litauen steht die Still-
legung noch für dieses Jahr an.

Im Zusammenhang mit der jüngsten Erdgaskrise wur-
den in den betreffenden Ländern Forderungen laut, die
veralteten Atomkraftwerke vertragswidrig wieder in Be-
trieb zu nehmen bzw. noch in Betrieb befindliche nicht
zum vereinbarten Zeitpunkt abzuschalten. Trotz einiger
Nachrüstungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten
sind sie weiterhin ein großes Sicherheitsrisiko. Ein länge-
rer Betrieb wäre unverantwortbar. Um dieses Sicher-
heitsrisiko auszuschließen, muss der fortgesetzte Betrieb
verhindert werden.

Teilweise rudern die Regierungen wieder zurück, doch
hat sich das Problem deswegen noch lange nicht erledigt.
Im Gegenteil: Angesichts der Abhängigkeit Osteuropas
von russischen Energieimporten wird die Forderung
schon bei der nächsten Erdgaskrise wieder aufflammen.
Der Argumentation dieser Länder, dass ein Weiterbetrieb
unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich möglich sei
und diese Voraussetzungen jetzt gegeben seien, muss so-
wohl juristisch als auch inhaltlich widersprochen werden –
juristisch, weil diese Ausnahmeregelungen nicht für die
erneute Betriebsaufnahme gelten, sondern lediglich für
einen Weiterbetrieb. In der Slowakei und in Bulgarien hat
sich dies mit dem bereits erfolgten Abschalten bereits er-
ledigt. Aber es muss auch inhaltlich widersprochen wer-
den; denn die Erdgaskrise ist nicht durch den Fortbetrieb
hochgefährlicher Schrottmeiler zu lösen, sondern nur
durch eine Energiewende in den Ländern selbst und ein
solidarisches Handeln in der EU. Die Bundesregierung
sollte sich hier als Vorreiter betätigen. Sollte zusätzlich
Strom benötigt werden, dann kann und muss dieser künf-
tig aus anderen Staaten der EU geliefert werden. Möglich
ist das heute schon. Es bedarf aber sicher auch neuer Ab-
kommen und eines Ausbaus von Kuppelstellen.

Aber auch den betreffenden Ländern selbst steht eine
Fülle von Instrumentarien zur Verfügung, um die Gefahr
zukünftiger Erdgasverknappungen zu vermindern. Dazu
gehören eine höhere Energieeffizienz, der Ausbau der er-
neuerbaren Energien, eine bessere Anbindung an das
Erdgasnetz der EU sowie der Bau von Biogasanlagen.
Hier muss ein Schwerpunkt der immer enger zusammen-
wachsenden europäischen Energiepolitik liegen, um die
berechtigten Sorgen der osteuropäischen Staaten vor
künftigen Energieengpässen in Krisenzeiten zu mindern.
Gerade angesichts der Erfüllung des 20-Prozent-EU-
Ziels im Hinblick auf die erneuerbaren Energien sowie
des 20-Prozent-EU-Ziels im Hinblick auf die Effizienz
sind auch die osteuropäischen Länder in der Pflicht. Ein
Weiterbetrieb der bereits abgeschalteten Reaktoren würde
den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Effizienz-
anreize verhindern.

Von der Bundesregierung haben wir zu diesem Thema
bislang nichts gehört. Wir fordern sie deshalb auf, jetzt
endlich zu handeln und sich auf EU-Ebene und bilateral für
die vertragstreue Abschaltung der betreffenden Altmeiler in
Ost- und Südosteuroapa einsetzt. Aber es müssen auch
Alternativen geboten werden, um die Abhängigkeit von
fossilen und nuklearen Energieimporten zu verringern.
Europa muss alles daransetzen, dass in diesen Staaten die
EU-Ziele erfüllt werden und sich erneuerbare Energien
aus Sonne, Wind, aber auch aus Biogas durchsetzen und
Energieeffizienz vorankommt. Wir fordern deshalb die
Bundesregierung auf, jetzt zu handeln und nicht bis zur
nächsten Erdgaskrise zu warten.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620525700

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11764 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivil-
rechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie
sowie zur Neuordnung der Vorschriften über
das Widerrufs- und Rückgaberecht

– Drucksache 16/11643 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Marco Wanderwitz, Dirk
Manzewski, Mechthild Dyckmans, Karin Binder, Nicole
Maisch, Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Harten-
bach.


Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1620525800

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EU-

Richtlinie zu Verbraucherkrediten und der zivilrechtliche
Teil der Zahlungsdiensterichtlinie umgesetzt sowie die
Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht neu
geordnet. Damit einher geht eine tiefgreifende Weiterent-
wicklung dieser Rechtsgebiete.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Ge-
setzentwurf grundsätzlich. Es ist unser Ziel, entsprechend
der Brüsseler Vorgaben eine Umsetzung in das deutsche
Zivilrecht rechtzeitig bis zum 31. Oktober 2009 zu leisten.
Wegen der besonderen Bedeutung für die Wettbewerbsfä-
higkeit der Zahlungsdiensteanbieter auf der einen Seite
und für den Verbraucherschutz auf der anderen Seite wird
im Laufe der weiteren Beratung sorgfältig zu prüfen sein,
inwieweit die beteiligten Interessen bereits angemessen
berücksichtigt und zu einem vernünftigen Ausgleich ge-
führt werden konnten bzw. inwieweit und an welchen Stel-
len eine Nachsteuerung des Entwurfs erforderlich ist. Wir
dürfen nicht, wie leider bereits so manches Mal, eine über
die Richtlinien hinausgehende Umsetzung anstreben,
wenn dadurch nicht eine Verbesserung der Wettbewerbs-
position im europäischen Vergleich bzw. substanzielle
Verbesserungen im Bereich des Verbraucherschutzes er-
reicht werden können.

Mit der zur Umsetzung in nationales Recht anstehen-
den Zahlungsdiensterichtlinie wird das positive Ziel an-
gestrebt, grenzüberschreitende Zahlungen so einfach,


(A) (C)



(B) (D)


Marco Wanderwitz
effizient und sicher zu gestalten wie rein nationale Zah-
lungen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus
soll der Wettbewerb dadurch erhöht werden, dass durch
die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes neue
Anbieter in den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten kön-
nen, was zur höheren Effizienz und im Ergebnis geringe-
ren Kosten für die Kunden führen soll. Dafür sind gleiche
Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter im EU-weiten
Zahlungsverkehr Voraussetzung, die durch angeglichene
Anforderungen für die Beaufsichtigung der Zahlungsins-
titute und harmonisierte Marktzugangskriterien geschaf-
fen werden sollen. Im Ergebnis sollen Kunden zugleich
bessere Transparenz über Anbieter von nationalen und
grenzüberschreitenden Zahlungsdiensten gewinnen.

Um diese Ziele zu erreichen, enthält die Richtlinie be-
reits sehr detaillierte Regelungen. Neben den aufsichts-
rechtlichen Anforderungen sind umfassende zivilrechtliche
Normierungen vorgesehen, die für alle Zahlungsdienst-
leistungen bis spätestens zum 31. Oktober 2009 in der
Europäischen Union und den Staaten des Europäischen
Wirtschaftsraums in nationales Recht umgesetzt werden
müssen.

Der vorliegende Regierungsentwurf integriert die um-
fangreichen Vorgaben der Richtlinie in Bezug auf den zi-
vilrechtlichen Teil der Umsetzung in das Bürgerliche Ge-
setzbuch bzw. das Einführungsgesetz zum BGB. Um
welche neuen Vorgaben handelt es sich, bzw. welcher
gesetzgeberische Handlungsbedarf besteht? Die Ver-
braucherkreditrichtlinie beinhaltet viele inhaltliche und
technische Neuerungen, indem sie die Bestimmungen ins-
besondere zur Werbung, zur vorvertraglichen Informa-
tion, zum Widerruf, zur vorzeitigen Rückzahlung nebst
Vorfälligkeitsentschädigung harmonisiert. Kurz gesagt:
Neuerungen, durch die Verbraucher zukünftig besser
über den Vertragsinhalt informiert werden sollen und
durch die zugleich Widerrufs- und Rückgaberechte bei
Verbraucherkreditverträgen vereinfacht werden sollen.

Herausheben möchte ich folgende Punkte:

Erstens: Informationspflichten. Der Verbraucher soll
künftig vor Abschluss eines Darlehensvertrages in der
Phase der Vertragsanbahnung über die wesentlichen Be-
standteile des Kredits informiert werden. Unterstützt wird
dies, indem der Verbraucher vor Vertragsschluss einen
Entwurf des Darlehensvertrages anfordern kann. Der
Kreditgeber hat den Verbraucher über dieses Recht, für
das im Übrigen kein gesondertes Entgelt erhoben werden
darf, gesondert vorab zu informieren. Dies soll dem Ver-
braucher die Möglichkeit eröffnen, verschiedene Ange-
bote besser zu vergleichen und in Kenntnis aller Um-
stände sich für oder gegen eine Vertragsofferte zu
entscheiden. Sobald sich die Wahl für einen bestimmten
Kredit abzeichnet, muss der Darlehensgeber dem Ver-
braucher zusätzlich die Hauptmerkmale des Vertrags er-
läutern. Dabei wird nicht nur festgelegt, über was im Ein-
zelnen zu informieren ist, sondern auch, auf welche Weise
dies zu erfolgen hat. Damit geht die Vorschrift hinsichtlich
ihres Detaillierungsgrades deutlich über die bisherigen
Regelungen hinaus. Genauso ist neu, dass der Verbraucher
jederzeit – während der gesamten Vertragslaufzeit – einen
Tilgungsplan vom Darlehensgeber fordern kann.
Zu Protokoll
Zweitens: Werbung. Ein weiterer Punkt ist die Wer-
bung, die für Darlehensverträge strenger reglementiert
werden soll. Es soll nicht mehr als „Lockangebot“ eine
einzige Zahl herausgestellt werden, wie beispielsweise
ein besonders niedriger Zinssatz. Zukünftig müssen die
Konditionen anhand eines repräsentativen Beispiels ver-
deutlicht werden, wobei der Zinssatz, variabel oder fest,
der Nettodarlehensbetrag, der effektive Jahreszins, der
bei mindestens zwei Drittel der zu erwartenden Verträge
Verwendung finden wird, und die sonstigen Kosten darzu-
stellen sind. Auch die Frage, „wie“ geworben werden
darf, wird geregelt – die Informationen sollen auffallend,
also gegenüber dem restlichen Inhalt der Werbung op-
tisch, akustisch oder ähnlich jeweils den Umständen ge-
eignet, hervorgehoben werden. Damit soll der Verbrau-
cher insgesamt in die Lage versetzt werden, aufgrund
eines verbesserten Kenntnisstandes selbst die Vor- und
Nachteile des jeweiligen Kreditangebots abzuwägen.

Hier sehe ich Diskussionsbedarf, denn es ist bisher
noch offen, wie zum Beispiel die Zweidrittelregelung ein-
geschätzt und wirksam kontrolliert werden soll, welche
Vergleichsportfolios heranzuziehen sind und welche Da-
ten offenzulegen sein werden.

Drittens: Musterverträge für Verbraucherdarlehen.
Künftig ist vorgesehen, einheitliche, für ganz Europa gel-
tende Musterverträge für Kreditverträge zu etablieren.
Der Gesetzesentwurf sieht vor, dies in Deutschland erst-
mals auch gesetzlich zu kodifizieren, um an dieser Stelle
die Rechtssicherheit bzw. Verbindlichkeit solcher Muster
zu verbessern.

Viertens: Kündigungsmöglichkeiten. Von besonderem
Interesse wird auch die vorgeschlagene Neuregelung der
Kündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen sein.
Kündigungen durch den Darlehensgeber sollen künftig
bei unbefristeten Kreditverträgen nur noch zulässig sein,
wenn eine Kündigungsfrist von mindestens zwei Monaten
eingehalten wird. Dagegen sollen Verbraucher einen un-
befristeten Kreditvertrag zu jeder Zeit kündigen können.
Eine vertraglich zu vereinbarende Kündigungsfrist darf
für den Verbraucher eine Frist von einem Monat nicht
überschreiten. Im Falle eines befristeten Vertrages soll
das Darlehen entsprechend jederzeit ganz oder teilweise
zurückgezahlt werden dürfen. Ein eventuell entstehender
Anspruch des Darlehensgebers auf eine Vorfällig-
keitsentschädigung soll dabei auf maximal ein Prozent
des vorzeitig zurückgezahlten Kreditbetrages beschränkt
werden. Von den Neuregelungen sollen nicht nur reine
Darlehensverträge, sondern auch andere Finanzierungs-
geschäfte, wie etwa Teilzahlungsgeschäfte und Leasing-
verträge, umfasst werden.

Daneben ist die Zahlungsdiensterichtlinie zu betrach-
ten, die neben den gesondert zu regelnden aufsichtsrecht-
lichen Bestimmungen zivilrechtliche Regelungen für die
verschiedenen Zahlungsdiensteanbieter bzw. Zahlungs-
verfahren vorsieht. Im Gegensatz zu dem aufsichtsrecht-
lichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie, der das Ver-
hältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Staat regelt,
befasst sich der zivilrechtliche Teil mit dem Verhältnis
zwischen Zahlungsdienstleistern und Kunden. Im Bereich
des bargeldlosen Zahlungsverkehrs gelten für Anbieter



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Marco Wanderwitz
und Nutzer von Zahlungsdienstleistungen künftig europa-
weit weitestgehend einheitliche Rechte und Pflichten.
Zum ersten Mal sollen sowohl für rein inländische als
auch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zum
Beispiel Überweisungen, einheitliche Regelungen festge-
legt werden. Interessant ist dies insbesondere für bargeld-
lose Zahlungen. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum
wird es den Anbietern von Zahlungsdiensten darüber hi-
naus erlauben, neue, europaweit funktionierende Verfah-
ren für Zahlungen in Euro zu entwickeln. Insbesondere
für Verbraucher bedeutet das, dass bei einer Bestellung
aus dem europäischen Ausland die Bezahlung nicht mehr
notwendigerweise per Kreditkarte vorgenommen werden
muss, sondern künftig auch mittels einer Überweisung
beglichen werden kann.

Von Bedeutung für die Zahlungsdiensteanbieter sind
auch die neuen Vorschriften zu einer Vereinheitlichung
und Verkürzung der Ausführungs- und Wertstellungsfris-
ten, die nicht mehr zwischen nationalen und grenzüber-
schreitenden Zahlungen innerhalb der EU unterscheiden.
Aktuell müssen grenzüberschreitende Überweisungen in
der EU binnen fünf Werktagen ausgeführt werden. Ab
dem 1. Januar 2012 sind alle Zahlungsaufträge in Euro
innerhalb eines Geschäftstages auszuführen. Bis dahin
kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart werden.

Dies waren jetzt nur einige beispielhafte Neuerungen,
mit denen wir uns in diesem Gesetzgebungsverfahren
auseinandersetzen werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die zur Um-
setzung anstehenden Richtlinien bzw. der vorgelegte
Gesetzentwurf zielen auf eine Verbesserung des Verbrau-
cherschutzes ab. Dies und die zu erwartenden Kostenvor-
teile durch Etablierung eines echten Binnenmarktes auch
für Verbraucherkredite sind grundsätzlich zu begrüßen.
Zu beachten ist jedoch, dass überbürokratische Vor-
schriften, die am Ende lediglich erhebliche Mehrkosten
für die Unternehmen der Kreditwirtschaft, im Ergebnis
jedoch wenig echten Mehrwert für die Verbraucher schaf-
fen und schlussendlich Kreditprodukte zu verteuern ge-
eignet sind, was wiederum für Verbraucher von Nachteil
wäre, vermieden werden.

Insoweit wird im Rahmen des weiteren Gesetzge-
bungsverfahrens, eine Expertenanhörung ist jedenfalls
erforderlich, zu untersuchen sein, ob der gesetzgeberi-
sche Spielraum bei der Umsetzung der vorgenannten
Richtlinien richtig genutzt wurde. Uns als Union geht es
darum, die Umsetzung der Richtlinien als Chance zu nut-
zen, gleichermaßen den Verbraucherschutz wie die Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen Kreditinstitute im künftig
intensiver werdenden europäischen Wettbewerb zu ver-
bessern.


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1620525900

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen vor allem

Richtlinien des europäischen Parlaments in nationales
Recht umgesetzt werden. Dabei geht es zum einen um die
Zahlungsdiensterichtlinie, mit der ein harmonisierter
Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischen
Binnenmarkt geschaffen werden soll, und zum anderen
um die Verbraucherkreditrichtlinie, mit der verbraucher-
Zu Protokoll
rechtliche Bestimmungen insbesondere zu Werbung, In-
formationspflichten, Widerruf und Entschädigung har-
monisiert werden sollen.

Ich gehe davon aus, dass durch den Gesetzentwurf ins-
besondere das Schutzniveau für die Verbraucher bei Ver-
braucherkreditverträgen verbessert wird. Das gilt nicht
nur für den Abschluss, sondern auch für die Durchfüh-
rung von Darlehen. Verbraucher werden besser über den
Vertragsinhalt informiert werden, und unseriösen Lock-
vogelangeboten wird ein Riegel vorgeschoben.

Auch die geplante einheitliche Regelung über die Aus-
gestaltung der Widerrufs- und Rückgabebelehrung in
§ 360 BGB bei Verbraucherverträgen wird von mir dabei
ausdrücklich begrüßt. Die neue Vorschrift fasst die An-
forderungen an eine ordnungsgemäße Widerrufs- bzw.
Rückgabebelehrung zusammen, was zu einer Vereinfa-
chung und Erleichterung für den Rechtsanwender führen
wird.

Für den europäischen Markt werden darüber hinaus
einheitliche Rechte und Pflichten für den bargeldlosen
Zahlungsverkehr geschaffen. Ich teile dabei die Auffassung
der Ministerin aus der entsprechenden Pressemitteilung
des BMJ, dass hiervon die Kunden und die Zahlungs-
dienstleister profitieren werden. Ich finde übrigens gut,
dass die Werbung für Darlehensverträge stärker regle-
mentiert wird. Dadurch, dass nicht nur der meinetwegen
niedrige Zinssatz, sondern auch die weiteren Kosten des
Vertrages angegeben werden müssen, werden Lockange-
bote unterbunden und dem Verbraucher aussagekräftigere
Informationen zugeleitet. Dies wird unterstützt dadurch,
dass künftig für die unterschiedlichen Kreditverträge ein-
heitliche Muster zur Unterrichtung der Verbraucher gel-
ten; denn die unterschiedlichen Angebote können so bes-
ser verglichen werden.

Profitieren werden die Verbraucher auch von den neuen
Kündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen – zum
einen, weil Kündigungen durch den Darlehensgeber bei
unbefristeten Verträgen nur noch zulässig sind, wenn eine
Kündigungsfrist von mindestens zwei Monaten vereinbart
wurde, der Darlehensnehmer demgegenüber aber jeder-
zeit kündigen kann, und zum anderen, sollte dies der Fall
sein, weil eine vereinbarte Vorfälligkeitsentschädigung
auf maximal 1 Prozent des vorzeitig zurückgezahlten Be-
trags beschränkt ist.

Im Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs werden
künftig für Anbieter und Nutzer von Zahlungsdienstleis-
tungen europaweit weitestgehend einheitliche Rechte und
Pflichten gelten. Dies wird bargeldlose Zahlungen er-
leichtern und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten er-
höhen. Als Nebeneffekt ist verstärkter Wettbewerb unter
den Zahlungsdienstleistern zu erwarten.

Soweit das BMJ die Auffassung vertritt, dass die neuen
Regelungen zu einer Vereinheitlichung und Verkürzung
der Ausführungs- und Wertstellungsfristen führen wird,
wird diese Hoffnung von mir geteilt, zumal nicht mehr
zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen
innerhalb der EU unterschieden werden wird.

Uns liegt hier ein durchdachter Gesetzentwurf vor. Na-
türlich ist die eine oder andere Vorschrift noch einmal



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dirk Manzewski
kritisch zu betrachten. Das werden wir auch im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens tun. Insgesamt gesehen han-
delt es sich meiner Auffassung nach jedoch um einen aus-
gewogenen Entwurf. Ich freue mich jedenfalls schon auf
die anstehenden Beratungen mit Ihnen.


Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1620526000

Da liegt sie nun, die Drucksache 16/11643 vom

21. Januar 2009. 313 Seiten gilt es zu durchdringen, und
das in gerade einmal 15 Werktagen. Dass die heutige
erste Lesung da nicht mehr sein kann als eine erste Ein-
schätzung, liegt auf der Hand.

Lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, dem die
besondere Aufmerksamkeit der FDP-Bundestagsfraktion
galt und gilt: der Rechtssicherheit beim Widerrufs- und
Rückgaberecht. Es war die FDP-Bundestagsfraktion, die
dieses Thema in parlamentarischen Initiativen auf die po-
litische Agenda gesetzt und die Kritik aus Reihen der
Rechtsprechung und Literatur aufgegriffen hat. Auf diese
Weise haben wir erreicht, dass nach jahrelanger Kritik
zum 1. April 2008 eine korrigierte Musterbelehrung in
Kraft treten konnte, die zu einem Zuwachs an Rechtssi-
cherheit geführt hat. Da jedoch auch dieses Muster nur
Verordnungsrang hatte, hätte es theoretisch weiterhin von
einzelnen Gerichten für unwirksam erklärt werden und
findige Anwälte hätten ihren „Abmahnterror“ weiter ver-
anstalten können. Damit ist nun Schluss. Nach dem Ge-
setzentwurf soll das Muster in einem formellen Gesetz ge-
regelt werden. Dies führt zu mehr Rechtssicherheit und zu
einem besseren Schutz vor Abmahnungen, auch wenn es
in Sachen Rechtssicherheit durchaus noch Gestaltungs-
spielräume für Verbesserungen gibt.

Noch immer vorgesehen ist eine Vielzahl von Gestal-
tungshinweisen, die in der Praxis zu Interpretations- und
Auslegungsfragen und zu Diskussionen darüber führen
werden, ob die im konkreten Fall verwendete Formulie-
rung den gesetzlichen Anforderungen genügt. Wün-
schenswert wäre darüber hinaus ein einheitliches Muster
für alle Vertragsarten und Vertriebsformen unter Ein-
schluss auch von Verbraucherdarlehensverträgen. Min-
destens erforderlich ist eine Maximalgrenze für die Aus-
übung des Widerrufsrechts. Dies gilt jedenfalls so lange,
wie Verbraucherkreditverträge aus dem Anwendungsbe-
reich der Musterbelehrungen ausgeklammert sind.

Ausdrücklich zu begrüßen ist die Absicht, die bislang
bestehende Ungleichbehandlung von Onlineshops und
Internetauktionen bei Widerrufsfrist und Wertersatz auf-
zuheben. Diese Unterscheidung war künstlich. Sie be-
ruhte auf einer rechtlichen Konstruktion, ohne dass in der
Sache eine unterschiedliche Behandlung geboten gewe-
sen wäre.

Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine
grundsätzliche Bemerkung. Ich begrüße das Muster aus
praktischen Erwägungen. Rechts- und ordnungspolitisch
könnte man auch zu anderen Ergebnissen kommen. Un-
verändert stellt sich die Frage, ob es Aufgabe des Gesetz-
gebers ist, Muster für die Rechtspraxis vorzuhalten. Nach
meiner Auffassung ist dies eigentlich Aufgabe der rechts-
beratenden Berufe. Nachdem nun aber einmal der Weg
über Muster des Verordnungs- bzw. jetzt Gesetzgebers be-
Zu Protokoll
schritten worden ist, wird man nüchtern feststellen müs-
sen, dass ein abermaliger Systemwechsel zu einer neuer-
lichen Belastung des Rechts- und Geschäftsverkehrs
führen würde, woran niemand ein Interesse haben kann.
Für mich ist mit der Festlegung auf eine Musterwider-
rufsbelehrung aber keine Vorentscheidung für andere
Rechtsbereiche, beispielsweise das Gesellschaftsrecht,
verbunden. Hier sollte die Rechtsgestaltung weiterhin
den rechtsberatenden Berufen vorbehalten bleiben. Dies
ermöglicht auch eine schnellere Anpassung an die sich
ändernden Verhältnisse.

Lassen Sie mich nun zu den umzusetzenden Richtlinien
kommen und mit der über Verbraucherkredite beginnen.
Ziel ist es, Verbraucher künftig besser zu schützen, wenn
sie Kredite aufnehmen oder abbezahlen. Zu diesem
Zweck sollen die Kreditgeber die Verbraucher bereits in
der Anbahnungsphase eines Vertrages umfassend infor-
mieren. Auch soll – so Bundesjustizministerin Brigitte Zy-
pries in einer Pressemitteilung – „Lockvogelangeboten
ein Riegel vorgeschoben werden“. Um dies zu erreichen,
müssen in Zukunft alle Kosten des Vertrages aufgelistet
werden. Außerdem sollen die Verbraucherrechte bei einer
Darlehenskündigung gestärkt werden. Bei befristeten
Verträgen sollen Verbraucher das Darlehen künftig je-
derzeit ganz oder teilweise zurückzahlen dürfen. Verlangt
der Kreditgeber in einem solchen Fall eine Vorfällig-
keitsentschädigung, soll diese auf maximal 1 Prozent des
vorzeitig zurückgezahlten Betrages beschränkt werden.

Das alles klingt sehr technisch. Tatsächlich verbindet
sich hiermit jedoch die Hoffnung, einen echten Binnen-
markt für Verbraucherkredite schaffen zu können. Für
Anbieter von Krediten soll es zukünftig nicht mehr not-
wendig sein, sich an die unterschiedlichen Rechtsvor-
schriften der einzelnen Mitgliedstaaten anpassen zu müs-
sen. Effizienzgewinne der Banken und größenbedingte
Einsparungen sollen die Folge sein.

Positive Effekte sollen sich auch für die Verbraucher
einstellen. Der verstärkte Wettbewerb soll zu einem brei-
teren Angebot und zu einem Sinken der Kreditzinsen füh-
ren. Verbraucher sollen zudem vor unverhältnismäßigen
Krediten geschützt werden. Mitunter sollen sie gar vor
sich selbst geschützt werden. Ökonomisch könnte es näm-
lich durchaus sinnvoll sein – so die Richtlinie – wenn Kre-
ditgeber in einzelnen Fällen einen Kredit auch einmal
verweigern. Dies diene überdies der Stabilisierung der
internationalen Finanzwelt, die nicht zuletzt durch die
unverantwortliche Kreditvergabepraxis US-amerikani-
scher Banken in Turbulenzen geraten sei.

Das alles klingt gut und nachvollziehbar. Es darf aber
nicht den Blick dafür versperren, dass mit der Richtlinie
auch Gefahren, in jedem Falle aber Kosten verbunden
sein werden. Den Kreditgebern werden Kosten entstehen,
beispielsweise um den Beratungs- und Dokumentations-
pflichten zu genügen. Das Risiko, in gerichtliche Verfah-
ren verwickelt zu werden, wird steigen. Und die steigen-
den Kosten und Risiken werden es für Kreditgeber häufig
finanziell unattraktiv machen, überhaupt bestimmte klei-
nere Darlehen zu gewähren. Es ist also nicht gänzlich
auszuschließen, dass am Ende eine Verknappung des Kre-
ditangebotes stehen wird. Den Preis hierfür werden aber



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans
auch die Verbraucher zahlen, die entweder höhere Kre-
ditkosten tragen müssen oder überhaupt keinen Kredit
mehr erhalten können. Gemessen an der wechselvollen
und langen Entstehungsgeschichte der neuen Richtlinie
hätte es schlimmer kommen können.

Gleichwohl bleiben Zweifel am Harmonisierungskon-
zept der neuen Richtlinie. Was wir beobachten, ist ein
Flickenteppich, eine bunte Mischung aus Vollharmonisie-
rung, Mindestharmonisierung, partieller Harmonisie-
rung und zulässigen Alternativregelungen in Form von
Optionsklauseln. Das macht die Richtlinie zu einem Re-
gelwerk, das im Gemeinschaftsprivatrecht seinesgleichen
sucht. Das bleibt nicht ohne Folgen auch für die Ziele, die
mit der Richtlinie verfolgt werden. Ich habe Zweifel, dass
die Rechtslage in den Mitgliedstaaten durch die Umset-
zung tatsächlich soweit vereinheitlicht wird, dass die
Marktbedingungen in allen Mitgliedstaaten gleich sind
und Banken ihre Verbraucherkredite wirklich in identi-
scher Form EU-weit anbieten können.

Mit Blick auf das gemeinschaftsrechtliche Subsidiari-
tätsprinzip stellt sich deshalb mit besonderem Nachdruck
die Frage, ob eine Vollharmonisierung im Verbraucher-
recht mit allen Schwierigkeiten, die sie für die Mitglied-
staaten birgt, überhaupt gerechtfertigt ist. In diesem
Sinne ist die Verbraucherkreditrichtlinie ein echter Test-
ballon für alle weiteren Harmonisierungsbestrebungen
im Verbraucherrecht. Dies gilt insbesondere auch im Hin-
blick auf die anstehende Überarbeitung des Verbraucher-
acquis.

Neben diesen eher grundsätzlichen Überlegungen
werden wir uns im Gesetzgebungsverfahren auch mit Ver-
besserungen im Detail auseinanderzusetzen haben. Eine
wichtige Forderung in diesem Zusammenhang ist die Ver-
meidung von unverhältnismäßigen Rechtsfolgen bei In-
formationsdefiziten. Wenn man bedenkt, dass der Gesetz-
entwurf an verschiedenen Stellen Rechtsfolgen bis hin
zum Verlust jeglicher Zinsansprüche vorsieht, bedarf dies
einer sehr kritischen Überprüfung.

Ich bitte mir nachzusehen, dass ich die Zahlungs-
diensterichtlinie an dieser Stelle aus Zeitgründen nur
streifen kann. Grenzüberschreitende Zahlungen sollen
genauso einfach, effizient und sicher werden wie Zahlun-
gen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus soll
der Wettbewerb erhöht werden. Durch die Schaffung ei-
nes einheitlichen Binnenmarktes sollen neue Anbieter in
den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten können, was zu ei-
ner höheren Effizienz und zu geringeren Kosten führen
soll. All dies findet seinen Niederschlag in einer Vielzahl
von sehr detaillierten Regelungen, die zu entsprechend
engen Vorgaben für den nationalen Gesetzgeber führen.
War im deutschen Recht bislang nur der Überweisungs-
vertrag detailliert geregelt, enthalten die neuen Vor-
schriften nunmehr darüber hinausgehende Anforderun-
gen, die auch für die sonstigen Zahlungsinstrumente, wie
zum Beispiel Lastschriften, Karten, das Onlinebanking,
die Geldkarte usw., gelten sollen.

All dies hat erhebliche Auswirkungen auf unser gutes
altes BGB. Mir wird schwummrig bei der Vorstellung,
dass § 675 BGB künftig eine Buchstabenkette aufweisen
Zu Protokoll
wird, die bis hin zu § 675 „z“ BGB gehen soll. Wer soll
das eigentlich noch verstehen?

Ich bin mir des begrenzten Spielraums, der für den na-
tionalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie
verbleibt, durchaus bewusst. Wir dürfen jedoch den Kopf
nicht in den Sand stecken, sondern müssen den verblei-
benden Spielraum im Gesetzgebungsverfahren effektiv
nutzen. Das gilt einerseits im Interesse der Verbraucher.
Hier werden wir uns mit dem Zusammenspiel der neuen
Regelungen noch intensiver beschäftigen müssen. So
kann es doch beispielsweise nicht sein, dass der Widerruf
von Zahlungsaufträgen bei sofort erkannten Fehlern of-
fensichtlich fast unmöglich wird und sich Fehler nicht
mehr unbürokratisch beseitigen lassen. Dies gilt aber
auch im Interesse der Banken. Die Umsetzung der Ver-
braucherkredit- und Zahlungsdiensterichtlinie bedeutet
für die Kreditwirtschaft einen weiteren großen Kraftakt in
einer Zeit, in der durch die Finanz- und Wirtschaftskrise
ohnehin schon genug Belastungen zu bewältigen sind.
Hier liegen große Anstrengungen vor den Banken.

Deshalb sollte das einheitliche Inkrafttreten der Um-
setzung von Verbraucherkreditrichtlinie und Zahlungs-
diensterichtlinie noch einmal überdacht werden. Für die
Zahlungsdiensterichtlinie gilt ein Umsetzungszeitraum
bis zum 1. November 2009. Das ist schon knapp genug,
aber nicht zu ändern. Bei der Verbraucherkreditrichtlinie
haben wir etwas mehr Luft. Hier ist Stichtag für die Um-
setzung der 12. Mai 2010. Es ist kein Sachgrund ersicht-
lich, das Inkrafttreten des Gesetzes auch insoweit auf den
31. Oktober 2009 vorzuziehen. Das sollten wir im Gesetz-
gebungsverfahren korrigieren.

In diesem Sinne freue ich mich auf gute Beratungen
und auf entsprechende Erkenntnisgewinne bei allen Be-
teiligten.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620526100

Angesichts der weltweiten Wirtschafts- und Finanz-

krise ist der vorliegende Gesetzentwurf fast schon eine
Provokation. Während die Bürgerinnen und Bürger mit
ihren Steuern und häufig genug auch mit dem Verlust ih-
res Arbeitsplatzes die Folgen der Krise zu bezahlen
haben, und während Milliarden an Steuergeldern an
Wirtschaft und Banken verschenkt werden, wird der fi-
nanzielle Verbraucherschutz von Bundesregierung und
EU nicht etwa gestärkt, sondern geschwächt. Fehlender
unmittelbarer oder mittelbarer Verbraucherschutz spielt
eine bedeutende Rolle in der Finanzkrise. Doch nicht ein-
mal jetzt macht sich die Bundesregierung auf, ein zu-
kunftsfähiges und Verbraucherinnen und Verbraucher
schützendes Kreditwesen zu schaffen.

Dieser Gesetzentwurf bringt alles andere als die Ver-
besserung des finanziellen Verbraucherschutzes in
Deutschland. Er basiert auf einer EU-Richtlinie, an der
die Bundesregierung in Brüssel maßgeblich beteiligt war.
Der Entwurf belegt, dass trotz aller Beteuerungen aus
dem Regierungslager über dringend notwendige, schär-
fere Regulierungen der Finanzmärkte gerade das genaue
Gegenteil stattfindet. Inmitten der katastrophalen Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise lässt die Regierung den Neo-
liberalismus hochleben. Das ist die Wirklichkeit.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Karin Binder
Ich werde Ihnen das erläutern. Die Verbraucherkredit-
richtlinie enthält heute alles, was die Bankenlobby sich
wünscht: die Anerkennung von Kreditverkäufen, ein nicht
aussagefähiger Effektivzins, Ausnahmen für Kleinkredite,
Anerkennung der wucherischen Überziehungsprovisio-
nen und Verschuldung auf Mausklick im Internet ohne ei-
genhändige Unterschrift. Den nationalen Parlamenten
wurde nur wenig Spielraum gelassen, um die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher besser zu schützen.

Aber auch diesen Spielraum nutzt die Bundesregie-
rung in ihrem Gesetzentwurf nicht. Der Kreditmarkt ist
intransparent und soll offenbar auch weiter intransparent
bleiben. Banken können weiterhin mit Kreditzinsen wer-
ben, die die Verbraucherinnen und Verbraucher in der
Realität nie bekommen werden. So gehört mittlerweile
zur gängigen Praxis, dass 50 Prozent der Kreditkosten
verschleiert werden, indem die Vergabe von Krediten mit
einer Restschuldversicherung gekoppelt wird, die den
Kredit erheblich verteuert. Ignoriert wird auch, dass eine
Kreditvergabe häufig an den Abschluss einer Kapitalle-
bensversicherung gebunden wird. Danach müssen zuerst
die Kosten der Versicherungen und das Anlageprodukt
bezahlt werden, bevor der Kredit abgetragen werden
kann. So kassieren die Banken doppelt: erst die Provisio-
nen der Versicherungen, die teilweise 60 Prozent betra-
gen, und obendrein die hohen Zinsen der Kreditnehme-
rinnen und Kreditnehmer.

Ein weiteres großes Problem sind Kleinkredite, die
ebenso wenig unter die verbraucherschützenden Normen
des Gesetzes fallen. Dazu gehört zum Beispiel die Praxis
der Banken, Verbraucherinnen und Verbraucher zu einer
Kette von Kreditkarten zu verleiten, in der die Überschul-
dung einer Kreditkarte durch die nächste verlängert und
verschärft wird und die Menschen in eine Überschul-
dungsspirale treibt. Das Gleiche gilt für Kapitallebens-
versicherungskredite oder für sogenannte finanzierte Ka-
pitalanlagen. Diese Praxis, die in angelsächsischen
Ländern verbreitet ist, treibt nun auch bei uns ihre fal-
schen Blüten. Damit wird das Kreditmonopol untergra-
ben.

Es wird zusätzlich dadurch aufgeweicht, dass es in ei-
nigen neuen EU-Ländern, wie zum Beispiel in Tsche-
chien, es dieses Kreditmonopol gar nicht gibt. Interessiert
es die Bundesregierung gar nicht, welche Probleme für
die Bürgerinnen und Bürger dadurch entstehen können?
Auch Kettenumschuldungen interessieren die Koalition
offenbar nicht, die die Kreditnehmerinnen und Kreditneh-
mer in eine Überschuldung treiben. So müssten die Ket-
tenkredite untersagt werden, wo wegen eines geringen
Zusatzbedarfs des Kreditnehmers gleich der gesamte
Kredit mehrfach umgeschuldet wird. Dadurch verdop-
peln sich die Kreditkosten innerhalb kürzester Zeit, ohne
dass die Kreditnehmerin bzw. der Kreditnehmer eine
Chance gehabt hätte, den Kredit zu mindern. Dadurch
werden Schuldenberge aufgetürmt, die nicht mehr abzu-
tragen sind. Das ist Ausbeutung durch Umschuldung.

Das Gesetz ändert nichts an der Praxis, von den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern Wucherzinsen zu neh-
men. Bei Überschreitung des Dispolimits verlangen viele
Institute schon 20 Prozent und mehr Überziehungszins.
Zu Protokoll
Der Zinssatz ist nach der bisherigen Rechtsprechung auf
maximal 16 bis 18 Prozent beschränkt. Diese Wucherkre-
dite werden nicht von den Gutsituierten in Anspruch ge-
nommen, sondern von den Leuten, denen bereits jetzt das
Wasser bis zum Hals steht. Dazu gehören auch Kleinstun-
ternehmer und Selbstständige. Diese Wucherzinsen müs-
sen verboten werden.

Während in Frankreich, Italien, den Benelux-Ländern
oder auch in Polen Antiwuchergesetze bestehen, gibt es in
Deutschland bislang nur eine Rechtsprechung, die jedoch
nicht mehr greift. Sie besagt nämlich, das Doppelte vom
Üblichen sei nichtig. Was jedoch „üblich“ ist, wurde per-
vertiert. In Deutschland wird Wucher so zum Alltagspro-
blem.

Die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD lässt das
kalt. Wo sind die Antiwucherregelungen in Ihrem Gesetz-
entwurf? Ist für Sie der § 138 Abs. 2 BGB etwa der Weis-
heit letzter Schluss?

Ich fasse zusammen: Wir haben in Deutschland – im
Unterschied zu zahlreichen anderen vergleichbaren Län-
dern – ein großes Problem mit dem Effektivzins, mit dem
Kreditmonopol, mit Wucher, mit Kreditkartenketten und
mit Überschuldung. Das alles scheint Ihnen gleichgültig
zu sein. Im Gesetzentwurf ist es kein Thema.

Ich möchte daran erinnern, dass die internationale
Gemeinschaft sieben Prinzipien für eine verantwortliche
Kreditvergabe aufgestellt hat. Sie könnten dies als Anre-
gung nutzen, um den Gesetzentwurf zu überarbeiten.
Auch besteht dringender Handlungsbedarf bei der finan-
ziellen und personellen Ausstattung der Schuldnerbera-
tungsstellen. Bereits heute wird von der Wirtschaftsaus-
kunftei Creditreform für dieses Jahr eine Zunahme der
Verbraucherinsolvenzen um 50 Prozent angekündigt.

Dieser Gesetzentwurf birgt gerade für Menschen mit
kleineren Einkommen massive Verschlechterungen. Er
darf so nicht angenommen werden.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620526200

Die Finanzkrise hat es deutlich gezeigt: Ob bei Geld-

anlagen oder Kreditvermittlung, die Verbraucherinnen
und Verbraucher brauchen mehr Schutz auf den Finanz-
märkten. Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Umset-
zung der Verbraucherkreditrichtlinie setzt eine EU-Richt-
linie um, die im Frühjahr 2008 verabschiedet wurde.
Bereits in der EU-Richtlinie wurde der Verbraucher-
schutz aufgrund von massiven Protesten der Banken im
Vergleich zum ursprünglichen Entwurf erheblich aufge-
weicht.

Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Umsetzung der Richtlinie ebenfalls kein großer Wurf in
Sachen Verbraucherschutz. Viele Probleme bleiben im
Gesetz ungeregelt. Ein Beispiel ist das Thema unseriöse
Kreditvermittler. Nach wie vor werden die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher nicht effektiv vor Kredithaien ge-
schützt, obwohl die EU-Richtlinie durchaus Raum für
strengere Auflagen und Pflichten für Kreditvermittler ge-
lassen hätte. Das ist fahrlässig, denn mit unseriösen Kre-
diten werden im Jahr mindestens 150 Millionen Euro zum
Schaden der Verbraucherinnen und Verbraucher umge-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Nicole Maisch
setzt. Die Zahl der Verbraucherinnen und Verbraucher,
denen diese unseriösen Kredite angeboten werden, liegt
jährlich bei 400 000, wie eine Schufa-Studie belegt. Hier
hätte die Bundesregierung handeln müssen, damit den
schwarzen Schafen am Markt endlich das Handwerk ge-
legt wird und die Menschen nicht mit faulen Kreditange-
boten geködert werden. Diejenigen Verbraucherinnen
und Verbraucher, die sich bewusst zur Aufnahme eines
Kredits entscheiden, müssen sich darauf verlassen kön-
nen, dass sie nicht übervorteilt oder in unüberschaubare
Schulden getrieben werden. Zu einem seriösen Umgang
mit Krediten gehören auch verbraucherfreundliche Stan-
dardinformationen in der Werbung.

Bei den Regelungen zum Widerrufsrecht wurde eben-
falls geschlampt. Verbraucherinnen und Verbraucher
müssen davor geschützt werden, dass sie nicht auf Pro-
dukten sitzen bleiben, die sie weder haben wollten noch
wissentlich bestellt haben. Ein effektives und klar ver-
ständliches Widerrufsrecht im Sinne der Verbraucher
wäre hier wünschenswert gewesen.

Schutzdefizite gibt es auch bei den Neuregelungen für
die Restschuldversicherungen. Unter anderem fehlt die
Festlegung einer angemessenen Obergrenze für Rest-
schuldversicherungen.

Auch die Regelungen beim Zahlungsverkehr bringen
keine Vorteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Kommt es zu Missbrauch bei Kartenzahlung oder PIN,
trägt noch immer der Verbraucher ein sehr hohes Haf-
tungsrisiko. Hier hätte der Gesetzgeber endlich dafür
sorgen müssen, dass nicht die Verbraucherinnen und Ver-
braucher den Schaden alleine tragen, wenn sie bei Kar-
tenzahlungen von Betrügern abgezockt werden. Noch un-
verständlicher ist, dass der jetzige Entwurf vorsieht, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher bei Kartenmiss-
brauch in jedem Fall mit 150 Euro selbst haften, auch
dann, wenn sie nachweislich nicht fahrlässig gehandelt
haben. Das ist nicht akzeptabel. Vielmehr sollten die Ban-
ken endlich in die Verantwortung genommen werden und
sichere Zahlungssysteme für ihre Kunden und Kundinnen
bereitstellen.

Für die Verbraucherinnen und Verbraucher bergen die
Regelungen zur Zahlungsdiensterichtlinie auch Über-
schuldungsrisiken. Wenn Kreditkartenanbieter zukünftig
keine Banklizenz mehr benötigen, werden noch mehr Kre-
ditkarten im Umlauf sein. Für die Verbraucherinnen und
Verbraucher ist die Gefahr der Überschuldung umso hö-
her, wenn sie unzählige Kreditkarten nutzen können.

Insgesamt bleibt festzustellen: Der Verbraucher-
schutz kommt im Gesetzentwurf wieder einmal zu kurz.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat den Antrag
„Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten“, Drucksa-
che 16/11205, in das parlamentarische Verfahren einge-
bracht. Unter anderem fordern wir dort auch, dass ein so-
genannter Finanzmarktwächter die Interessen der
Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärk-
ten vertritt. An diesem und den zahlreichen anderen Vor-
schlägen sollte sich die Bundesregierung orientieren und
sie in ihre Gesetzgebung einfließen lassen, damit die Ver-
braucherinnen und Verbraucher nicht weiterhin die Ver-
lierer auf dem Finanzmarkt sind.
Zu Protokoll
A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1620526300


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung sollen zwei europäische Richtlinien in deutsches
Recht umgesetzt und die Vorschriften zum Widerrufsrecht
neu geordnet werden. Zur Umsetzung der Richtlinien ist
besonders darauf hinzuweisen, dass beide Richtlinien
dem Prinzip der Vollharmonisierung folgen. Der natio-
nale Gesetzgeber darf also grundsätzlich nicht inhaltlich
von den Vorgaben aus den Richtlinien abweichen. Folg-
lich beschränkt sich der Entwurf in weiten Teilen auf eine
Eins-zu-eins-Umsetzung.

Der Gesetzentwurf beinhaltet, die Vorgaben der Ver-
braucherkreditrichtlinie sowie des zivilrechtlichen Teils
der Zahlungsdiensterichtlinie in das Bürgerliche Gesetz-
buch zu integrieren. Dies ist konsequent. Auch bisher sind
die entsprechenden Regelungsmaterien, die durch die
beiden Richtlinien betroffen werden, dort angesiedelt.
Um das Bürgerliche Gesetzbuch nicht mit Details zu
überfrachten, sollen die langen Informationspflichten-
kataloge sowie die erforderlichen Muster in das Einfüh-
rungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch überführt
werden. Damit stehen diese Vorschriften und Muster auch
auf einer formell-gesetzlichen Grundlage, was die
Rechtssicherheit der Betroffenen erhöht. An diesen
grundlegenden Entscheidungen ist im bisherigen Verlauf
des Gesetzgebungsverfahrens keine Kritik geübt worden.

Inhaltlich ist Folgendes hervorzuheben: Die Neuord-
nung der Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum
Widerrufs- und Rückgaberecht dient der Vereinfachung
und soll die Verständlichkeit dieser schwierigen Materie
verbessern. Sie ist zur Richtlinienumsetzung nicht erfor-
derlich, bietet sich aber in diesem Sachzusammenhang an.

Im Verbraucherdarlehensrecht wird die Pflicht des
Darlehensgebers zur vorvertraglichen Information dazu
führen, dass Verbraucher die Vor- und Nachteile eines
Vertragsabschlusses besser abwägen können. Dies stärkt
die Position des mündigen Verbrauchers, der eigenverant-
wortlich auf fundierter Grundlage seine Entscheidungen
trifft. Einheitliche Informationsmuster werden es dem
Verbraucher ermöglichen, auf einen Blick mehrere Ange-
bote miteinander zu vergleichen.

Hinzu kommen Regelungen zur jederzeitigen vorzeitigen
Rückzahlung des Darlehens. Verbraucher können zukünf-
tig Darlehen, die nicht grundpfandrechtlich gesichert
sind, jederzeit, das heißt ohne die bisherige Warte- und
Kündigungsfrist, zurückzahlen. Als Ausgleich steht dem
Darlehensgeber eine Vorfälligkeitsentschädigung zu. De-
ren Berechnung war auf europäischer Ebene bis zuletzt
umstritten. Nach dem Gesetzentwurf ist dieser Anspruch
als ein in der Höhe begrenzter Schadensersatzanspruch
ausgestaltet. Dies ist eine systemkonforme Umsetzung,
die insgesamt sachgerecht und ausgewogen erscheint.

Neu geregelt wird ferner die Werbung für Verbraucher-
kredite. Wirbt ein Unternehmer mit Zahlenangaben für
Kredite, kann er zukünftig nicht mehr eine besonders
günstige Zahl, wie etwa den Jahreszins, herausstellen,
sondern muss weitere Pflichtangaben machen. Damit soll
Lockvogelangeboten in der Werbung entgegengewirkt
werden. Nach dem Vorschlag im Umsetzungsgesetz müssen



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
die Pflichtangaben so gewählt werden, dass mindestens
zwei von drei Verträgen, die aufgrund der Werbung abge-
schlossen werden, den in der Werbung versprochenen
Konditionen entsprechen.

Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs betrifft die
Umsetzung der zivilrechtlichen Vorschriften der Zahlungs-
diensterichtlinie. Die Richtlinie schafft einen harmonisier-
ten Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischen
Binnenmarkt. Die Umsetzung erfordert erhebliche Än-
derungen und Ergänzungen sowohl der einschlägigen
Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs – §§ 675a ff.
BGB – als auch der Regelungen zu den Informations-
pflichten. Erstmals gibt es sowohl für rein inländische als
auch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zum
Beispiel Überweisung, Zahlungskarte oder Lastschrift,
einheitliche Regelungen. Dies erleichtert bargeldlose
Zahlungen und erhöht die Rechtssicherheit für alle Betei-
ligten. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum – Single
Euro Payments Area, SEPA – wird es den Anbietern von
Zahlungsdiensten darüber hinaus erlauben, neue, euro-
paweit funktionierende Verfahren für Zahlungen in Euro
zu entwickeln, sogenannte SEPA-Produkte.

Beispiele: Ein europäisches Lastschriftverfahren wird
es ermöglichen, dass Strom- und Telefonkosten für eine Fe-
rienwohnung auf Teneriffa oder die Miete für das Zimmer
im Studentenwohnheim bei einem Auslandsaufenthalt mo-
natlich von einem deutschen Konto bequem abgebucht
werden können. Auch bei Internetbestellungen aus dem
europäischen Ausland muss eine Bezahlung nicht mehr
notwendigerweise per Kreditkarte erfolgen, sondern
kann per Lastschrift oder Überweisung durchgeführt
werden. Deshalb wird – jedenfalls soweit es um die Be-
zahlung geht – der Standort eines Anbieters künftig kein
Hindernis mehr dafür sein, sich als Kunde für das güns-
tigste Angebot zu entscheiden. Zugleich fördern gleiche
Rahmenbedingungen auch den grenzüberschreitenden
Wettbewerb unter den Zahlungsdienstleistern. Durch ein-
heitliche Vorgaben über die Information der Kunden wird
es leichter, auch das Angebot ausländischer Zahlungs-
dienstleister zu bewerten.

Schließlich führen die neuen Regelungen zu einer Ver-
einheitlichung und Verkürzung der Ausführungs- und
Wertstellungsfristen. Künftig wird nicht mehr zwischen na-
tionalen und grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalb
der EU unterschieden. Bisher sind grenzüberschreitende
Überweisungen in der EU binnen fünf Werktagen zu er-
bringen. Ab 1. Januar 2012 müssen alle Zahlungsaufträge
in Euro innerhalb eines Geschäftstages ausgeführt werden.
Bis dahin kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart
werden. Damit können Zahlungsdienstnutzer zielgenauer
ihre Zahlungspflichten gegenüber ihren Gläubigern erfül-
len und so lange wie möglich mit ihrem Geld arbeiten.

Abschließend möchte ich betonen, dass der Gesetzent-
wurf inhaltlich ausgewogen ist. Er beschränkt sich grund-
sätzlich auf die zur Umsetzung notwendigen Eingriffe in
das bestehende Recht und geht nur insoweit über die Vor-
gaben hinaus, als dies mit den Grundgedanken des bishe-
rigen Rechts in Einklang steht. Gleichwohl ist er natürlich
sehr umfangreich und durchaus nicht unkompliziert. Und
er ist äußerst eilbedürftig. Die Umsetzungsfrist endet für
die Zahlungsdiensterichtlinie am 31. Oktober 2009 und
für die Verbraucherkreditrichtlinie am 12. Mai 2010. Ich
wäre Ihnen daher für eine zügige Beratung des Entwurfs
dankbar, damit wir diese Fristen einhalten können.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620526400

Auch hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs

auf Drucksache 16/11643 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi-
resistente Problemkeime wirksam bekämpfen
– Drucksache 16/11660 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Hans Georg Faust,
Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth,
Dr. Harald Terpe, Parlamentarischer Staatssekretär Rolf
Schwanitz.


Dr. Hans Georg Faust (CDU):
Rede ID: ID1620526500

In Deutschland werden jährlich circa 17 Millionen

Menschen an 142 Millionen Pflegetagen in etwa
2 100 Krankenhäusern behandelt. Hinzu kommen medi-
zinische Maßnahmen im Rahmen der ambulanten medizi-
nischen Versorgung und in anderen Einrichtungen des
Gesundheitswesens. Wie in anderen Industrienationen
gehören Infektionen, die in zeitlichem Zusammenhang
mit einer medizinischen Maßnahme stehen und als solche
nicht bereits vorher bestanden – nosokomiale Infektio-
nen; § 2 Infektionsschutzgesetz, IfSG –, zu den häufigsten
Infektionen in Deutschland und den häufigsten Kompli-
kationen medizinischer Behandlungen insgesamt. Natio-
nale und internationale Prävalenzstudien zeigen, dass
nosokomiale Infektionen bei circa 4 bis 9 Prozent der
vollstationär behandelten Patienten auftreten. Dabei gibt
es Unterschiede in Spektrum und Häufigkeit der Infektio-
nen je nach Land, Region, Krankenhaus, Abteilung und
Fachrichtung.

Von besonderer Bedeutung sind Infektionen mit Erre-
gern mit speziellen Resistenzen und Multiresistenzen, die
darüber hinaus mit erhöhter Letalität belastet sind. Ein
Teil dieser Infektionen ist durch geeignete Präventions-
maßnahmen vermeidbar. Solche werden von der Kommis-
sion für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention
beim Robert-Koch-Institut unter Einbeziehung weiterer
Experten erarbeitet und zusammen mit ergänzenden hilf-
reichen Informationen veröffentlicht: www.rki.de.

Zu den international bewährten und allgemein aner-
kannten Maßnahmen der Prävention und Kontrolle
nosokomialer Infektionen gehört wesentlich auch eine


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans Georg Faust
etablierte Surveillance, also die systematische und kon-
tinuierliche Überwachung von Erkrankungen bzw. To-
desfällen. Mit diesem Ziel wurde die Erfassung und Be-
wertung von nosokomialen Infektionen und von Erregern
mit speziellen Resistenzen einschließlich der Rückkopp-
lung an die betroffenen Organisationseinheiten in
Deutschland im Infektionsschutzgesetz gesetzlich veran-
kert – § 23 Abs. 1 IfSG – und ein Nationales Referenzzen-
trum, NRZ, für die Surveillance nosokomialer Infektionen
geschaffen. Von dort wird das auf freiwilliger Teilnahme
basierende Krankenhaus-Infektions-Surveillance-Sys-
tem, KISS, geleitet und koordiniert. Die freiwillige und
gegenüber Dritten anonymisierte Teilnahme dient dabei
der Datenqualität.

Von besonderer Bedeutung sind also die mehrfach ge-
gen Antibiotika resistenten Erreger, die sich im Kranken-
haus ausbreiten und die mit der Verlegung von Patienten
auch zwischen Krankenhäusern übertragen werden kön-
nen. Im Falle von Infektionen mit diesen Erregern sind
die antibiotischen Behandlungsalternativen deutlich ein-
geschränkt. Gegenwärtig besteht diese Problematik in
Deutschland insbesondere bei Methicillin(Oxacillin)-re-
sistenten Staphylococcus-aureus-Stämmen (MRSA) so-
wie – regional verschieden – bei vancomycinresistenten
Enterokokken, besonders VRE faecium, sowie multiresis-
tenten Stämmen von Pseudomonas und Acinetobacter.

Die systematische Erfassung und Bewertung von Iso-
laten mit bestimmten Resistenzen und Multiresistenzen ist
gemäß § 23 Abs. 1 IfSG bereits jetzt eine bewährte Me-
thode, entsprechende Risikobereiche, gesteigerte Antibio-
tikaverbrauche und Cluster bzw. Ausbrüche zu erkennen.
Somit ist mit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes im
Jahr 2000 für Krankenhäuser die Durchführung einer ge-
zielten Surveillance nosokomialer Infektionen, also die
Erfassung, Dokumentation und Feedback der Daten, ver-
pflichtend. Diese Verpflichtung ergibt sich aus § 23
Abs. 1 IfSG. Dem Gesundheitsamt ist auf Verlangen Ein-
sicht in die Aufzeichnungen zu gewähren. Hierdurch soll
das Gesundheitsamt in die Lage versetzt werden, sich von
der Durchführung der gesetzlich verlangten Surveillance
zu überzeugen.

In diesem Zusammenhang sollte mit großer Vorsicht
darüber diskutiert werden, ob es zielführend ist, die bei
der Surveillance ermittelten Infektionsraten der Öffent-
lichkeit zugänglich zu machen und gegebenenfalls als
Werbeträger von den Krankenhäusern einsetzen zu las-
sen. Der Wunsch, vorzeigbare Infektionsraten zu ermit-
teln, und die Verknüpfung von Surveillancedaten mit wirt-
schaftlichen Interessen könnten einer objektiven
Surveillance jedoch dann im Wege stehen. Denn zurzeit
kann noch keine Aussage darüber getroffen werden, ob
die Vorteile solcher öffentlichen Berichte zu nosokomia-
len Infektionen die Nachteile aufwiegen werden. Obwohl
in den USA seit 2002 in inzwischen fünf Bundesstaaten
bereits ein Public Reporting von nosokomialen Infektio-
nen gesetzlich gefordert wird, spricht das US-amerikani-
sche Healthcare Infection Control Practices Advisory
Committee, HICPAC, daher keine Empfehlung für die
Veröffentlichung von Infektionsdaten aus.
Zu Protokoll
Die Auseinandersetzung mit den Infektionsraten muss
vor allem in den Krankenhäusern bzw. in den medizini-
schen Abteilungen und auf den pflegerischen Stationen
erfolgen. Nur hier können die richtigen Schlüsse in Be-
zug auf mögliche Konsequenzen bei den Infektionsprä-
ventionsmaßnahmen gezogen werden. Dass dieser An-
satz, wonach die Auseinandersetzung mit den
Infektionsraten vor allem in den Krankenhäusern erfol-
gen muss, der zielführendere ist, wird deutlich, wenn man
die jüngsten Erkenntnisse des 33. Interdisziplinären Fort-
bildungsforums der Bundesärztekammer vom 8. Januar
2008 zur Kenntnis nimmt. Denn dort stellte Frau Dr.
Christine Geffers vom Hygieneinstitut der Charité Berlin
die aktuellen Daten zu methicillinresistenten Staphylo-
kokken, MRSA, in Deutschland vor. Nach den medizi-
nisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von Frau Dr.
Geffers lag in Deutschland der Anteil der MRSA an allen
Staphylokokken in Blutkulturen 2007 bei 16 Prozent nach
über 20 Prozent in den Jahren davor. Eine ähnlich gute,
rückläufige Tendenz ist bei postoperativen Wundabstri-
chen festzustellen: Hier lag die Quote 2007 bei 20,7 Pro-
zent, im Jahr zuvor noch bei 21,9 Prozent.

Wenn die tatsächlichen Infektionen in Kliniken analy-
siert werden, zeigt sich sogar ein noch deutlicherer Rück-
gang. So lag die Inzidenzdichte für MRSA-Infektionen auf
deutschen Intensivstationen in den Jahren 2006 und 2007
bei 0,3 Infektionen pro 1 000 Patiententage. 1997 waren
es noch 50 Prozent mehr Fälle. Dass die deutschen Kran-
kenhäuser darüber hinaus auch weiter aktiv sind, wird
dadurch deutlich, dass mittlerweile 1 116 Kranken-
schwestern bzw. Krankenpfleger mit der Zusatzqualifika-
tion „Hygienefachkraft“ in den Häusern beschäftigt wer-
den und dort eine vorbildliche Arbeit leisten.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, nicht wirklich überraschend ist, dass Sie hier wie-
der einmal nur einen Antrag eingebracht haben, der nicht
wirklich zur Lösung von Herausforderungen im Gesund-
heitssystem beitragen wird bzw. nur Ängste und Sorgen
bei den Menschen weckt. Denn wenn es Ihnen ernsthaft
um die Bekämpfung von Krankenhausinfektionen gegan-
gen wäre, hätten Sie, um Sachkenntnis erhalten zu kön-
nen, zumindest die öffentliche Anhörung des Gesund-
heitsausschusses vom 18. Juni 2008 zu Ihrem Antrag
„Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden“,
Drucksache 16/8375, nutzen können. Sie haben dies aber
– im Gegensatz zur CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die die
Sachverständige Frau Dr. Annette Busley vom Medizini-
schen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V.
und den Sachverständigen Herrn Georg Baum von der
Deutschen Krankenhausgesellschaft e. V. befragt hat – un-
terlassen. Zur Erinnerung: Frau Dr. Busley antwortete
damals folgendermaßen: „Es gibt sicher keine dramati-
sche Zunahme von Infektionen in den deutschen Kranken-
häusern.“ Und Herr Baum sagte: „Über eine dramati-
sche Zunahme von Krankenhausinfektionen kann ich
nicht berichten.“

Auf die verschiedenen unterstützenden Aktivitäten der
Bundesregierung, wie zum Beispiel die „Aktion saubere
Hände“ oder das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“,
möchte ich nicht weiter eingehen, denn Sie haben ja
durch die Antworten auf Ihre schriftlichen und Kleinen



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans Georg Faust
Anfragen dazu ausreichend Informationen erhalten. Und
falls Sie dies nicht so empfinden sollten, empfehle ich
herzlich einen Besuch der Homepage des Bundesministe-
riums für Gesundheit.

Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind die
Patientensicherheit und die Qualität der Versorgung von
Patientinnen und Patienten ein zu hohes Gut, um es durch
schnelllebige Anträge beschädigen zu lassen. Daher leh-
nen wir diesen Antrag ab.


Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1620526600

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke fordert

die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Bekämpfung
der Krankenhausinfektionen zu ergreifen. Die Bundesre-
gierung ist sich der Problematik der Krankenhausinfek-
tion sehr bewusst, und aus diesem Grund ist sie in diesem
Bereich schon seit geraumer Zeit aktiv. Wenn ich mir ihre
Forderungen so ansehe, dann kommt mir das Sprichwort
von den Eulen, die nach Athen getragen werden, in den
Sinn. Denn entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung
der Krankenhausinfektion hat die Bundesregierung
längst in Angriff genommen.

Bei anderen Forderungen richten sie den Appell an
den Bund, obwohl dafür die Länder zuständig sind, wie
beispielsweise der Forderung nach Aufstockung und bes-
serer Qualifizierung des Fachpersonals der Gesundheits-
ämter. Auch für den Erlass von Krankenhaushygienever-
ordnungen sind die Länder zuständig. Einige Länder, wie
zum Beispiel Bremen, Sachsen und Berlin, haben bereits
solche Verordnungen. Ich erwarte, dass andere Länder
dem Beispiel folgen und nicht versuchen, ihre Verantwor-
tung an andere abzuschieben, wie kürzlich die nieder-
sächsische Gesundheitsministerin Ross-Luttmann mit ih-
ren unpassenden Forderungen an den G-BA.

Ebenfalls kein Geheimnis ist, dass das Bundesministe-
rium für Gesundheit derzeit einen Entwurf zur Erweite-
rung der Meldepflicht von MRSA in enger Abstimmung
mit den Ländern, Verbänden und Experten erarbeitet. Es
ist davon auszugehen, dass bereits im Sommer eine ent-
sprechende Regelung in Kraft treten kann. Sie sehen,
auch hier hat man den Handlungsbedarf längst erkannt,
und entsprechende Maßnahmen sind ergriffen worden.

Der Kampf gegen Krankenhausinfektionen muss an
mehreren Stellen und mit verschiedenen Mitteln geführt
werden. Neben gesetzlichen Bestimmungen spielen Kam-
pagnen und Programme für eine Verbesserung der Kran-
kenhaushygiene eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür
ist die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte
„Aktion Saubere Hände“. Die sorgfältige Handdesinfek-
tion ist die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung der
Übertragung von Infektionserregern; darin sind sich alle
Experten einig. Bundesweit nehmen fast 500 Kranken-
häuser an dieser Aktion teil. Ich freue mich über die gute
Resonanz, insbesondere auch darüber, dass sich in mei-
ner Heimatstadt Braunschweig gleich zwei Häuser betei-
ligen: das Herzogin Elisabeth Hospital und das Klinikum
Braunschweig, wo die Aktion mit dem bundesweiten Ak-
tionstag am 22. Oktober 2008 gestartet wurde. Das Kli-
nikum hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe einge-
setzt, die eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet
Zu Protokoll
hat. Dazu zählen unter anderem Fortbildungsveranstal-
tungen, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und die Erfas-
sung und Meldung des Desinfektionsmittelverbrauchs auf
allen Stationen. Diese vergleichsweise einfachen, aber
höchst wirksamen Programme zur Handdesinfektion sind
ein wichtiger Baustein zur Eindämmung von Kranken-
hausinfektionen.

Krankenhausinfektionen stellen eine der größten He-
rausforderungen auf dem Gebiet der Patientensicherheit
dar. Die Bundesregierung hat in ihrem Verantwortungs-
bereich die notwendigen Maßnahmen auf den Weg ge-
bracht, sei es über gesetzliche Regelungen oder über die
Förderung entsprechender Programme. Dort, wo weite-
rer Handlungsbedarf besteht wie beispielsweise bei der
Meldepflicht, werden Änderungen vorgenommen. Zu-
gleich sind die Länder gefordert, in ihrem Zuständigkeits-
bereich ihren Beitrag zur Bekämpfung der Krankenhaus-
infektionen zu leisten. Ich bin mir sicher, dass wir dann
bei der Eindämmung der Infektionen einen guten Schritt
vorankommen. Einen weiteren Antrag, der nichts Neues
beinhaltet, brauchen wir hierfür allerdings nicht.


Dr. Konrad Schily (FDP):
Rede ID: ID1620526700

Resistenzen bei Bakterien, also das Unempfindlichwer-

den von Bakterien gegen Substanzen oder Medikamente,
die sie zurückdrängen oder vernichten sollen, sind ein Pro-
blem, das über die Hygienemaßnahmen der Krankenhäu-
ser hinausgeht. Resistenzen können viele Ursachen haben.
Sie entwickeln sich durch zu häufige und nicht indizierte
Verschreibung von Antibiotika, durch das Verfüttern von
Antibiotika an Tiere, deren Fleisch dann wieder von Men-
schen genossen wird, oder durch nicht ausreichende Des-
infektionen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Infektionen mit MRSA – Methicillin-resistenter Sta-
phylococcus aureus – sind ein Problem vorwiegend bei
Patienten und Patientinnen, die langdauernd antibiotisch
behandelt werden mussten. Die im Antrag der Linken for-
mulierte Unterstellung, Krankenhäuser würden aus wirt-
schaftlichen Gründen auf die Verdachtsdiagnose MRSA
verzichten und eine auf MRSA-Infektion gerichtete
Diagnostik unterlassen, ist durch nichts zu belegen.

Die Umsetzung der im Antrag der Linken formulierten
Forderungen würde mit Sicherheit höhere Kosten im System
verursachen. Ob damit jedoch das Problem der multi-
resistenten Problemkeime im Allgemeinen und von MRSA
im Besonderen einer Lösung näher gebracht werden
kann, darüber muss noch einmal grundlegend im Rahmen
der Beratung im Ausschuss diskutiert werden.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620526800

Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihre Mutter ins Kran-

kenhaus, der ein Herzschrittmacher implantiert werden
soll. Bei der erforderlichen Operation infiziert sie sich
mit Krankenhauskeimen. Die Folge: Es entstehen Ent-
zündungen an unterschiedlichen Körperstellen, die an
den Händen so schlimme Auswirkungen haben, dass ein-
zelne Fingern amputiert werden müssen. Sie mögen glau-
ben, dies sei ein Horrorszenario. Weit gefehlt. Diese Er-
fahrung habe ich selbst gemacht. Wenn ein Patient ein
geschwächtes Immunsystem hat, und der Keim besonders



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
aggressiv ist, breiten sich solche Entzündungen aus und
können im schlimmsten Fall zum Tode führen. Gemeinhin
nimmt man an, dass man Krankenhausentzündungen mit
Antibiotika behandeln kann. Wenn Sie Glück haben, ge-
lingt dies. Wenn Sie Pech haben, nicht. Nach Schätzungen
der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene
muss man davon ausgehen, dass in Deutschland jährlich
etwa 20 000 bis 50 000 Menschen an Krankenhauskei-
men sterben. Zum Vergleich: In Deutschland sterben an
Brustkrebs jährlich rund 17 000, im Straßenverkehr
5 000, an illegalen Drogen 1 400 und knapp 500 Men-
schen an Aids. Auch das ist unakzeptabel, der Vergleich
zeigt aber: Krankenhauskeime sind ein gewaltiges Ge-
sundheitsrisiko in Deutschland.

Jedes Jahr infizieren sich etwa 500 000 bis
800 000 Menschen in den deutschen Krankenhäusern,
also etwa jeder zwanzigste bis dreißigste Patient. Als be-
sonders gefährlicher Keim erweist sich der Methicillin-
resistente Staphylococcus aureus, MRSA. 1992 hat dieser
Keim nur 2 Prozent der Krankenhausinfektionen ausge-
macht. Bis 2007 hat sich diese Zahl jedoch verdreizehn-
facht. Auf Intensivstationen beträgt das Infektionsrisiko
mittlerweile durchschnittlich 15 Prozent. Die starke Aus-
breitung der Keime kommt unter anderem daher, dass das
Krankenhauspersonal unter einem enormen Zeitdruck
steht und die erlernten Hygienemaßnahmen unzurei-
chend einhält. Oft geht es um Basishygiene: Der eine
wäscht sich zu selten die Hände, der andere trägt wo-
chenlang denselben Kittel. Die Medizin am Fließband
fordert so ihren Tribut.

Besonders tückisch: Immer mehr Erreger sind resis-
tent gegen Antibiotika. Die Keime lernen, mit den Anti-
biotika umzugehen, und vererben diese Eigenschaft an
die nächsten Generationen weiter. Der falsche oder über-
triebene Einsatz von Antibiotika fördert die Verbreitung
resistenter Keime. Folgt dann noch ein zu lascher Um-
gang mit Desinfektionsmitteln und andere Hygienemaß-
nahmen im Krankenhaus, verschärft sich das Problem
immer weiter.

Die jetzige Bundesregierung und ihre Vorgängerregie-
rung packen die Lösung des Problems nicht konsequent
an. Es gibt lediglich Programme, an denen Krankenhäu-
ser auf freiwilliger Basis mitmachen können. Was wir
brauchen, sind verbindliche Vorschriften, damit dem
Schlendrian in der Hygiene in den Krankenhäusern ein
Ende gemacht wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesländer
über Landesrichtlinien größtenteils für die Hygiene in
den Krankenhäusern zuständig sind. Gute Beispiele ge-
ben Berlin, Sachsen und Bremen ab. Hier wurden ver-
pflichtend Hygieneärzte in Krankenhäusern eingeführt.
Durch die bundesweite Aufsplitterung von Kompetenzen
entsteht aber ein Flickenteppich von Regelungen. Kran-
kenhauskeime machen jedoch an den Grenzen der Bun-
desländer nicht halt, und so werden gute Ansätze einzel-
ner Länder wieder zunichtegemacht.

Andere europäische Staaten, zum Beispiel die Nieder-
lande, zeigen uns, wie es funktionieren kann. Dort hat
man bereits Anfang der 1980er-Jahre mit offensiven
Maßnahmen gegen MRSA begonnen. Ergebnis: Bei uns
Zu Protokoll
ist das MRSA-Risiko bis zu 20-mal höher als dort – mit
steigender Tendenz. Die positiven niederländischen Zah-
len sind kein Zufall, sondern Ergebnis eines ganzen Bün-
dels von Maßnahmen, die die Politik den dortigen Kran-
kenhäusern verordnet hat.

Wir fordern, dass auch in Deutschland die Lösung des
Problems der Krankenhauskeime wirkungsvoll ange-
packt wird. Präventionsmaßnahmen stehen dabei an ers-
ter Stelle. Die Ausbreitung von Keimen muss ständig be-
obachtet und in ihrer Entstehung verhindert werden.
Dazu wären Screenings sinnvoll. Bei den derzeitigen Ver-
gütungsmechanismen hätten Krankenhäuser, die konse-
quent Screenings durchführen und Maßnahmen gegen
Keime ergreifen, jedoch einen Wettbewerbsnachteil. Die
Fallpauschalen in den Krankenhäusern führen mehr und
mehr zur Fließbandmedizin. Hygiene und das Patienten-
wohl sind unter diesen Bedingungen leider nur zweitran-
gig, weil sie sich betriebswirtschaftlich für das Kranken-
haus nicht rechnen. Auch das muss sich schnell ändern.

Wir fordern, dass jedes Krankenhaus Hygieneärzte
einstellen muss. Nicht nur in den Krankenhäusern, son-
dern auch in den Gesundheitsämtern muss das Personal
geschult und aufgestockt werden, damit die Gesundheits-
ämter ihrer Kontrollfunktion auch ernsthaft nachkommen
können. Die Bundesregierung muss Einfluss auf die Bun-
desländer nehmen, da vieles nur über Landesrecht zu re-
geln ist.

Die Richtlinie des Robert-Koch-Instituts zum Umgang
mit MRSA muss konsequent und verbindlich umgesetzt
werden. Für MRSA muss eine Meldepflicht her, damit
endlich systematisch gegen diesen Keim vorgegangen
werden kann und damit nicht jedes Krankenhaus auf sich
allein gestellt ist. Diese Absicht hat die Bundesregierung
auch bereits im Januar 2008 bekundet, und immer noch
ist nichts passiert. Und schließlich muss man nicht alles
neu erfinden: Andere Länder, nicht nur die Niederlande,
machen uns erfolgreich vor, wie die gefährlichen Keime
zu stoppen sind. Daran sollten wir uns orientieren.

Das wird erst einmal Geld kosten; das ist klar. Aber es
geht um die Gesundheit und das Leben von Zehntausen-
den Menschen jedes Jahr. Das alleine sollte uns das Geld
wert sein. Es ist aber zudem zu erwarten, dass die Prä-
ventionsmaßnahmen rentierlich sein werden, da durch
die Vermeidung von Erkrankungen auch viel Geld einge-
spart werden kann.

Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen im
Sinne der Patienten.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620526900

Der Antrag, über den wir heute diskutieren, greift ein

wichtiges Thema auf: Krankenhausinfektionen, insbeson-
dere solche mit multiresistenten Keimen, können bei den
Betroffenen großes Leid verursachen, sie können ihre
Gesundheit auf Dauer schädigen, und sie können sie im
schlimmsten Fall das Leben kosten. Deshalb ist es zu-
nächst einmal zu begrüßen, dass sich auch die Politik
darüber Gedanken macht, welchen Beitrag sie dazu leis-
ten kann, dieses Leid zu verhindern.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Harald Terpe
Zunächst muss man aber eine Tatsache berücksichtigen:
Da wir es hier mit biologisch aktiven und auch wandlungs-
fähigen Keimen zu tun haben, werden wir solche Infektio-
nen nie umfassend und komplett verhindern können. Es gilt
aber, die Gefahr so weit zu reduzieren, wie es in unserer
Macht steht. Dänemark macht dies in beeindruckender
Weise vor. Hier in der Bundesrepublik besteht hingegen
noch Nachholbedarf. Seit 1990 ist beispielsweise die Zahl
der MRSA-Infektionen in Kliniken deutlich angestiegen,
von 1,7 auf 32 Prozent.

Unabhängig von der Frage, ob die von den Linken im
vorliegenden Antrag vorgeschlagenen Lösungen die In-
fektionsgefahr signifikant verringern können, muss man
sich eines Problems bewusst werden: Wir haben es hier
mit einer enormen Zersplitterung von Verantwortlichkei-
ten zu tun – nicht nur rechtlich, sondern auch in der prak-
tischen Umsetzung. Der vorliegende Antrag vermittelt
den Eindruck, dass es in der alleinigen Macht des Bundes
stehe, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen und
so die Infektionsgefahr zu verringern. So wünschenswert
dies in diesem Fall vielleicht wäre, weil es die Sache ein-
facher machen würde, so wenig stimmt es. Natürlich hat
der Bund im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes Mög-
lichkeiten, auf die Ausbreitung bestimmter Erreger Ein-
fluss zu nehmen. Es bleibt allerdings die Frage, ob Maß-
nahmen in diesem Kompetenzbereich – wie beispielsweise
die vorgeschlagene Einführung einer Meldepflicht – wirk-
lich ausreichen.

Die personelle und materielle Ausstattung der Kranken-
häuser, wie beispielsweise auch der Einsatz von Hygiene-
fachkräften und -fachärzten, liegt in der Zuständigkeit
der Länder und der Krankenhausträger. Die Umsetzung
der erforderlichen Schutzmaßnahmen liegt hingegen in
der Hand der Krankenhausleitung, die Kontrolle in der
Verantwortung des jeweils zuständigen Gesundheitsamtes.
Die Ausstattung der Gesundheitsämter, damit sie ihre
Aufgabe wahrnehmen können, liegt wiederum in der Ver-
antwortung der Länder.

Dazu kommt: Viele Übertragungswege können – auch
durch gesetzliche Regelungen oder Aktionen wie „Saubere
Hände“ oder „HAND-KISS“ – nicht beseitigt werden,
wenn die einzelnen Akteure nicht mitziehen. Die Einhaltung
von bereits existierenden Hygienevorschriften wie den
Richtlinien des Robert-Koch-Institutes zur Prävention von
MRSA oder das verantwortungsvolle Verschreiben von
Antibiotika liegt in der Hand der Ärzte und des Pflege-
personals. Eine entsprechende Weiterbildung der Ärzte,
dieser Verantwortung auch gerecht zu werden, ist Auf-
gabe der ärztlichen Selbstverwaltung.

Wir haben es also mit einem mehr oder weniger erfolg-
reichen Zusammenwirken vieler Faktoren zu tun. Dies er-
kennt man auch an folgender Tatsache: Die Verbreitung von
multiresistenten Keimen ist nicht nur von Bundesland zu
Bundesland, sondern teilweise auch von Region zu Region
und von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich.
Hier könnte zwar die Einführung einer Meldepflicht den
Vorteil bringen, das Bewusstsein in einigen Kliniken oder
Regionen zu schärfen, gezielter auf die Einhaltung der
Hygienevorschriften zu achten. Für eine wirkungsvolle
Prävention aber brauchen wir gezielte Maßnahmen wie
Zu Protokoll
beispielsweise Screeningprogramme, eine konsequente
Desinfektion oder den Einsatz von Hygienefachkräften
und -fachärzten. Berlin, Bremen und Sachsen ebenso wie
ein Modellprojekt im Raum Münster machen uns vor, wie
man dadurch gezielt Krankenhausinfektionen verhindern
kann.

Eine generelle Änderung der Situation können wir nur
herbeiführen, indem wir alle diese Verantwortungsträger
einbeziehen. Ein Alleingang des Bundes ist hier schwer
möglich. Der Bund könnte aber Initiator einer konzertierten
Aktion der Gesundheitsministerkonferenz werden, damit
entsprechende personelle, materielle und organisatorische
Ressourcen in Krankenhäusern und Gesundheitsämtern
realisiert werden. Langfristig werden dadurch Kosten ge-
senkt und vor allem das mögliche Leid vieler Betroffener
verhindert.

R
Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1620527000


Im Krankenhaus erworbene Infektionen sind eine
große Herausforderung für die Medizin. Jährlich betref-
fen diese Infektionen circa 500 000 Menschen, von denen
10 000 bis 40 000 daran sterben. Etwa 30 Prozent dieser
Infektionen sind vermeidbar. Um diese vermeidbaren In-
fektionen erfolgreich zu bekämpfen und Krankenhausin-
fektionen und resistente Keime einzudämmen, müssen
alle Beteiligten ihre Verantwortung wahrnehmen. Neben
der Bundesregierung und ihren Einrichtungen sind dies
die Länder und ihre Behörden, die medizinischen Fach-
gesellschaften und Ärztekammern, die Selbstverwaltung,
die Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen und
natürlich auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen.

Der Bund begegnet der Problematik der Krankenhaus-
infektionen und der Resistenzentwicklung konsequent.
Das Infektionsschutzgesetz enthält umfangreiche Rege-
lungen zur Prävention von Krankenhauskeimen. Notwen-
dige Anpassungen dieses Gesetzes werden zeitnah umge-
setzt. Derzeit ist der Entwurf einer Rechtsverordnung zur
MRSA-Meldepflicht in der Abstimmung mit den Ländern.
Darüber hinaus werden auf Bundesebene fachliche Emp-
fehlungen und Leitlinien erstellt und durch die Initiierung
und Förderung von Projekten wichtige Impulse und An-
stöße gegeben.

Lassen Sie mich beispielhaft nennen: Mit der Deut-
schen Antibiotika-Resistenzstrategie haben BMG und
BMELV ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnah-
men zur Eindämmung von Antibiotikaresistenzen und
Krankenhausinfektionen initiiert und auch die durchfüh-
renden Stellen benannt. Bei der Erstellung dieser Strate-
gie waren Fachgesellschaften, Verbände und Selbstver-
waltung eingebunden. Selbstverständlich wurden auch
die Erfahrungen der Nachbarländer berücksichtigt.

Was die Einsetzung von Hygienefachkräften und Ärz-
ten für Hygiene in Krankenhäusern betrifft, hat die vom
Bundesministerium für Gesundheit berufene Kommission
für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention

(KRINKO) entsprechende fachliche Empfehlungen ent-

wickelt, wie es ihre im Infektionsschutzgesetz vorgese-
hene Aufgabe ist. Diese Empfehlungen mit Leitliniencha-
rakter geben den medizinischen Einrichtungen die



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz
erforderlichen Hinweise für das korrekte Vorgehen und
dienen den Gesundheitsbehörden als Grundlage für ihre
Überwachungs- und Beratungstätigkeiten. Die Länder
können hieraus auch verbindliche rechtliche Vorgaben in
Form von Krankenhaushygieneverordnungen ableiten,
wie es bereits einige getan haben – die Bundesregierung
würde es begrüßen, wenn alle Länder sich dazu entschlie-
ßen könnten.

Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen,
dass die Bundesregierung das Thema Krankenhausinfek-
tionen und Antibiotikaresistenzen sehr ernst nimmt. Die
Bundesregierung hat das Instrumentarium für eine um-
fassende Bekämpfung von Krankenhausinfektionen be-
reitgestellt. Alle am Gesundheitswesen Beteiligten sind
aufgerufen, dieses Instrumentarium verantwortlich zu
nutzen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620527100

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11660 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Besitz und Anbau von Cannabis zum Eigen-
gebrauch entkriminalisieren – Glaubwürdige
und am Menschen orientierte Cannabisprä-
vention umsetzen
– Drucksache 16/11762 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Die Kolleginnen und Kollegen Maria Eichhorn,
Dr. Margrit Spielmann, Detlef Parr, Monika Knoche und
Dr. Harald Terpe haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.


Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1620527200

Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- und

europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge.
Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahren
stark zugenommen. Während 1993 16 Prozent der 12- bis
25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis
hatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweile
sind in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend junge
Menschen Cannabiskonsumenten; 220 000 sind stark ab-
hängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von
2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr als
verfünffacht. Vor diesem Hintergrund lehnen wird den
vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ab.

In diesem wird gefordert, den Besitz von Cannabis zum
Eigengebrauch von Strafe freizustellen und Cannabis in
einem Modellversuch kontrolliert an Konsumenten abzu-
Zu Protokoll
geben. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verfolgt nach
eigenen Angaben mit dem Antrag das Ziel, den riskanten
Cannabiskonsum einzuschränken. Aufgabe sollte es jedoch
sein, den Cannabiskonsum generell zu verringern. Denn es
gibt keine ungefährliche Menge an Cannabis. Jeglicher
Konsum von Cannabis schädigt die Gesundheit. Dies bele-
gen Studien namhafter Wissenschaftler aus dem In- und
Ausland.

So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des Institut
Universitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus,
dass Cannabis schädlicher ist, als bisher vermutet. Den
Probanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Be-
standteils von Cannabis – delta-9-THC – verabreicht. Bei
einem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringe
Dosis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer
Folge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindel
und paranoide Angststörungen aus. Dies zeigt also: Nicht
nur der Dauerkonsum, sondern bereits der Konsum ge-
ringer Mengen von Cannabis ist gesundheitsschädigend
und sollte daher vermieden werden. Bei langfristigem
Konsum weisen Studien auf eine Reihe akuter Beein-
trächtigungen hin. Diese sind vor allem bei chronischem
Dauerkonsum mit großen gesundheitlichen Risiken bis
hin zur psychischen Abhängigkeit verbunden.

Besorgniserregend ist auch der mittlerweile wissen-
schaftlich erbrachte Nachweis, dass Cannabis Einstiegs-
droge für den späteren Konsum härterer Drogen ist. Wis-
senschaftler der Universität Amsterdam konnten dies
durch eine Studie bestätigen: Jugendliche, die Cannabis
rauchen, haben ein sechsfach höheres Risiko, später här-
tere Drogen zu konsumieren, als Jugendliche, die kein
Cannabis nehmen. Daher ist es unverantwortlich, eine
Straffreistellung für den Besitz von Cannabis zum Eigen-
gebrauch zu fordern, wie Bündnis 90/Die Grünen dies
tun. Jegliche Bemühungen im Bereich der Prävention
werden ad absurdum geführt, wenn der Besitz erlaubt und
durch das mit dem Antrag geforderte Modellprojekt sogar
noch durch den Staat gefördert wird.

Durch das von Bündnis 90/Die Grünen geforderte na-
tionale Aktionsprogramm zur Cannabisprävention soll
riskantem Cannabisgebrauch entgegengewirkt und sol-
len die Therapiemöglichkeiten verstärkt werden. Dieses
Programm ist unglaubwürdig, wenn der Staat selbst die
Droge ausgibt. Dabei hat die Präventionsarbeit der letz-
ten Jahre bereits Früchte getragen. Ganz offensichtlich
konnte mehr Jugendlichen vermittelt werden, dass Can-
nabis keine Spaßdroge ist, sondern wesentliche gesund-
heitliche Risiken nach sich zieht.

Die Zahl jugendlicher Cannabiskonsumenten ist nach
einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung endlich wieder rückläufig. So sank der Prozentsatz
derjenigen 14- bis 17-Jährigen, die in ihrem Leben schon
einmal Cannabis konsumiert haben, von 22 Prozent im
Jahr 2004 auf heute 13 Prozent. Von einer Trendwende
beim Cannabiskonsum zu sprechen ist dennoch zu früh.
Der Anteil der jungen Erwachsenen, die regelmäßig Can-
nabis konsumieren, ist nach wie vor hoch. Um den Einstieg
Jugendlicher in den Drogenkonsum zu verhindern, ist es
daher notwendig, die Präventions- und Beratungsarbeit



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn
vor allem an Schulen und in Vereinen weiterhin auszu-
bauen.

Das Hilfesystem ist bisher nicht ausreichend auf die
Konsummuster jugendlicher Cannabiskonsumenten aus-
gerichtet. Junge Abhängige können nicht mit den gleichen
Methoden behandelt werden wie Alkoholkranke oder Opiat-
abhängige, die meist älter sind. Das Beratungs- und The-
rapieangebot muss stärker auf die Zielgruppe der jugend-
lichen Konsumenten ausgerichtet und die Aufklärung
verstärkt werden. Dass der Cannabiskonsum irreparable
gesundheitliche Schäden hervorrufen kann, muss in das
Bewusstsein der Jugendlichen dringen. Drogenberatungs-
stellen und Jugendhilfe müssen hierbei noch intensiver
zusammenarbeiten.

Ein Modellprojekt, wie von Bündnis 90/Die Grünen
gefordert, würde mehrere Millionen Euro kosten, und dies
für ein Projekt, dessen Nutzen höchst zweifelhaft und nicht
erwiesen ist. Stattdessen wird sogar die Schädlichkeit der
Droge verharmlost. Das Geld wäre weitaus besser angelegt,
wenn es in den Ausbau bestehender, erfolgreich funktio-
nierender Präventionsprojekte fließen würde. Hiermit
könnte auch einer weitaus größeren Anzahl von Menschen
geholfen werden.

Mit uns wird es keine Legalisierung des Cannabiskon-
sums geben. Cannabis dient als Einstiegsdroge und führt
zu starken gesundheitlichen Schäden. Das wollen wir
verhindern.


Dr. Margrit Spielmann (SPD):
Rede ID: ID1620527300

Herr Jürgen Trittin, Bundesminister a. D., hat über

eine Jamaika-Koalition einmal gesagt: „Jamaika soll
eine schöne Insel sein, aber grüne Inhalte können Sie da
in der Tüte rauchen.“ Liest man Ihren Antrag, scheinen
die grünen Inhalte tatsächlich nicht mehr wert zu sein als
der Rauch eines Glimmstengels.

In Ihrem Antrag stellen Sie Behauptungen auf, die
schlicht und ergreifend falsch sind. Sie sagen, der Ansatz,
mithilfe des Strafrechts den Konsum von Cannabis zu ver-
hindern, habe nachweislich keinen Erfolg. Wie kommt es
dann, dass laut der Jahresberichte der deutschen und eu-
ropäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Dro-
gensucht sowie der Sonderauswertungen der BZgA von
2007 der Cannabiskonsum sinkt? Nur noch 13 Prozent
der 14- bis 17-Jährigen haben 2007 zumindest einmal
Haschisch oder Marihuana probiert. 2004 waren es noch
22 Prozent in dieser Altersgruppe.

Ihrer Auffassung nach verhindern die Illegalisierung
von Cannabis und Kriminalisierung der Konsumenten
und Konsumentinnen eine glaubwürdige Prävention.
Fakt ist, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Projek-
ten erfolgreich auf den Weg gebracht worden ist. Neben
dem Projekt „FreD – Frühintervention bei erstauffälli-
gen Drogenkonsumenten“ sind das „Realize it“, eine
Kurzintervention bei Cannabismissbrauch, oder auch
„Can Stop“ zur Rückfallprävention, um nur einige zu
nennen. Besonders erfolgreich verlief dabei das Pro-
gramm „Quit the shit“ der BZgA. Nach drei Monaten
wiesen 30 Prozent der Teilnehmer dieses Programms kei-
nen Konsum mehr auf. Und die Personen, die weiter kon-
Zu Protokoll
sumieren, haben ihren Konsum weiter reduziert. Diese
Tatsachen sprechen für sich. Von einer unzureichenden
und unglaubwürdigen Prävention kann hier also nicht die
Rede sein.

Natürlich darf man sich hier nicht zufrieden zurück-
lehnen und es bei dem bereits Getanen belassen. Beson-
ders Jugendliche, bei denen ein früher Kontakt mit Can-
nabis nachweislich ein erhöhtes Risiko für eine
Suchterkrankung im Erwachsenenalter zur Folge hat,
müssen vor den Gefahren geschützt und ausreichend auf-
geklärt werden. Das Verbot von Spice, einer viel genutz-
ten Ausweichdroge für Cannabiskonsumenten, zielt dabei
in die richtige Richtung. Dagegen hätte Ihr Ansatz zur
Folge, dass die Hemmschwelle zum Konsum der zuvor il-
legalen Droge weiter sinkt. Können Sie es verantworten,
vor allem Jugendliche diesem erhöhten Suchtrisiko aus-
zusetzen? Ich in meinem Verständnis als Gesundheits-
politikerin kann es jedenfalls nicht. Dies entspricht nicht
meinem Verständnis von Prävention.

Zudem assoziiert eine Freigabe von Cannabis für den
Eigengebrauch, dass es sich hierbei um eine harmlose,
ungefährliche Droge handelt. Dagegen sollte es aber Ziel
der Politik sein, endlich mit dem Spaßdrogenklischee von
Cannabis aufzuräumen. Keine der neueren Studien hat
Cannabis eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausge-
stellt. Hinzu kommen die hinlänglich bekannten und be-
wiesenen Gesundheitsrisiken, die eindeutig gegen eine
Aufhebung der Strafbarkeit von Cannabis sprechen.

Zum letzten Punkt ist außerdem noch zu sagen, dass
seit dem sogenannten Cannabisbeschluss des Bundesver-
fassungsgerichts vom 9. März 1994 bis zum Besitz einer
bestimmten Menge ohnehin von einer Strafverfolgung ab-
gesehen wird. Die von Ihnen beschriebene soziale Aus-
grenzung durch die angeblich unverhältnismäßige Krimi-
nalisierung der Cannabiskonsumenten ist damit hinfällig.

Auch Ihre Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht
kann ich nicht nachvollziehen. Natürlich hat jeder
Mensch ein Recht, dieses wahrzunehmen. Andererseits
besitzt der Einzelne aber auch ein Recht auf Schutz vor
gesundheitsschädigendem Verhalten. Deshalb haben wir
in der nahen Vergangenheit ja auch so viel für den Nicht-
raucherschutz getan. Die Fürsorgepflicht des Staates und
auch Art. 2 des Grundgesetzes, also das Recht jedes Men-
schen auf Leben und körperliche Unversehrtheit, stehen
hier dem Selbstbestimmungsrecht entgegen. Zudem ist für
mich ohnehin fraglich, ob ein Drogenabhängiger über-
haupt noch mündig und selbstbestimmt handeln kann.

Besonders interessant finde ich auch Ihren Hinweis,
dass die Kosten der Repression höher seien als die Aus-
gaben für Präventionsmaßnahmen. Dass Sie sich dabei
auf Schätzungen des Deutschen Hanfverbandes berufen,
der zwangsläufig ein hohes Interesse an einer Freigabe
von Cannabis hat, ist schlicht und ergreifend absurd. Tat-
sache ist, dass über diese komplexen Repressionskosten
selbst der Bundesregierung keine genauen Zahlen vorlie-
gen.

Außerdem stellt sich für mich die Frage, wie Sie sich
die Aufgabe der Prohibition von Cannabis in den völker-
rechtlichen Verträgen vorstellen. Nur zur Erinnerung:



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Margrit Spielmann
Das Verbot von Cannabis zum Eigengebrauch 1961 und
1988 war ja gerade die Folge des zunehmenden Miss-
brauchs von Cannabis als Rauschdroge. Mir ist unver-
ständlich, warum man hier durch eine Freigabe wieder
einen Schritt zurückgehen soll.

Wie so häufig wird auch in Ihrem Antrag Cannabis mit
Alkohol und Nikotin verglichen, was wohl eine relative
Harmlosigkeit suggerieren soll. Dazu kann ich abschlie-
ßend nur eines sagen: Solange Cannabis nicht als ge-
sundheitlich unbedenklich angesehen werden kann, gibt
es keine Veranlassung, den bestehenden Gesundheitsrisi-
ken durch Tabak und Alkohol durch die Freigabe von
Cannabis ein weiteres hinzuzufügen.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1620527400

Die Diskussion in Deutschland über die Legalisierung

von Cannabis reißt nicht ab. Immer wieder wird die ge-
nerelle Legalisierung von Cannabis gefordert. Auch nicht
neu ist die Forderung der Entkriminalisierung von Can-
nabis bei Eigengebrauch – sprich: insofern der Hanf le-
diglich zum eigenen Gebrauch gezüchtet und hergestellt
wird und auch die im Besitz befindliche Menge für den Ei-
genkonsum bestimmt ist. Diese Forderungen untermau-
ern die in der breiten Öffentlichkeit oft geäußerte Mei-
nung, der Konsum von Cannabis sei doch unbedenklich,
sofern er mit Augenmaß erfolgt.

Diese Auffassung ist schlichtweg falsch. Experten
warnen eindringlich vor dem Cannabiskonsum, da die
Droge immer giftiger wird und der THC-Gehalt im Laufe
der Jahre durch verschiedene Züchtungen der Droge im-
mer höher geworden ist. Dieser hohe THC-Gehalt kann
beispielsweise schnell zu schizophrenen Psychosen füh-
ren.

Studien belegen, dass der Konsum von Cannabispro-
dukten eng mit dem Jugend- bzw. jungen Erwachsenenal-
ter verknüpft ist. Fast jeder Zweite in der Altersgruppe
der 18- bis 20-Jährigen hat Erfahrungen mit Cannabis
gesammelt. Die Zahl derjenigen, die exzessiv Cannabis
konsumieren, steigt stetig. Nach internationalen Diagno-
sestandards weisen 10 bis 15 Prozent aller Konsumenten
einen abhängigen Cannabiskonsum auf. Wir wissen, dass
gerade für Heranwachsende der intensive Konsum von
Cannabis lebenslange Gesundheitsschäden zur Folge ha-
ben kann.

Vor diesem besorgniserregenden Hintergrund lehnen
wir als FDP eine Legalisierung von Cannabis ab. Bei ei-
ner prinzipiellen Aufhebung des Verbotes ergeben sich
praktische und auch juristische Fragen, die schwierig zu
klären sind. Wie soll zum Beispiel in der Praxis der Anbau
für den Eigengebrauch abgegrenzt werden gegenüber
dem kommerziellen und somit illegalen Handel?

Auch das gerne angeführte Argument, Cannabis zu le-
galisieren sei eine logische Konsequenz, weil ja auch der
Konsum von Tabak und Alkohol gesundheitsgefährdend
ist und diese Produkte legal sind, ist nicht stichhaltig. Wir
wissen, dass bei Dauergebrauch die möglichen Gesund-
heitsschäden erheblich sind. Die gesellschaftlichen Fol-
gen sind nicht kalkulierbar. Kinder und Jugendliche sind
in der heutigen Gesellschaft ohnehin zunehmend Gesund-
Zu Protokoll
heitsrisiken ausgesetzt. Diese sollten also möglichst ge-
ring gehalten werden.

Allerdings hält auch die FDP den Weg, den Gelegen-
heitskonsumenten zu entkriminalisieren, für richtig. Für
die Tatsache, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints
ein gesellschaftliches Phänomen ist – was auch, wie ein-
gangs erwähnt, die Zahlen der Studien beweisen –, gilt es,
eine angemessene und verhältnismäßige Lösung zu fin-
den. Dies sollte nicht repressiv mit „aller Staatsmacht“
erfolgen, sondern praktikabel. Dazu gehört unbedingt
eine bundesweit einheitliche Festlegung auf eine gering-
fügige Menge, die straffrei bleibt.

Vor allem in Zeiten, in denen der Cannabiskonsum ge-
rade bei Kindern und Jugendlichen besorgniserregend
ansteigt, ist eine Intensivierung der Aufklärungs- und
Präventionsarbeit dringend nötig. Über die gesundheitli-
chen Gefahren, die entstehen, sobald aus dem gelegent-
lichen Konsum ein Dauerkonsum wird, und darüber,
welche Auswirkungen der Konsum bei Kindern und Ju-
gendlichen hat, muss verstärkt informiert und aufgeklärt
werden. Eine liberale Sucht- und Drogenpolitik setzt aus
diesem Grund stärker auf Prävention als auf Repression.
Das gilt auch für die weiche Droge Cannabis.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620527500

Wenn neue Drogen in größerem Maßstab Verbreitung

finden, kommt es immer wieder zu Aufwallungen in der
Öffentlichkeit. Rufe nach einem Verbot werden laut. Das
Beispiel „Spice“ hat es gerade erst wieder gezeigt. Aber
auch für die Konsumenten von Cannabis ist die Zeit der
Diskriminierung nicht vorbei. Die Kriminalisierung des
Anbaus von Cannabis und die Praxis des Führerschein-
entzugs beim Nachweis des Wirkstoffs THC sind nur zwei
Beispiele.

Natürlich trägt eine realistische und rationale Be-
trachtung viel dazu bei, dass ein aufgeklärterer Blick ent-
steht. Wenn circa vier Millionen Bundesbürger schon ein-
mal Cannabis gebraucht haben, dann weist das auf die
prinzipielle Unmöglichkeit hin, ein drogenfreies Leben zu
postulieren und abweichendes Verhalten zu kriminalisie-
ren. Zumindest kann das so für das allgemeine Bewusst-
sein gesagt werden. Abgesehen von den ernstzunehmen-
den Gefährdungen, die individuell im Konsum von
Cannabis liegen können, zum Beispiel als Auslöser psy-
chischer Krankheitsbilder, sind gerade auch höchstrich-
terliche Urteile in Deutschland ergangen, nach denen
Cannabisgebrauch für medizinische Zwecke nicht mehr
als Straftat betrachtet werden kann. Sogar der Deutsche
Bundestag muss mittlerweile zugestehen – wie sich auf ei-
ner Fachanhörung im Gesundheitsausschuss gerade erst
zeigte –, dass Cannabis als verschreibungsfähige Arznei
zugelassen werden sollte.

Längst ist Cannabis keine kulturfremde Droge mehr.
Ähnlich wie bei Alkohol und Nikotin ist sein Gebrauch re-
lativ üblich. Dennoch existieren hohe Strafrechtsnormen,
die in keinem Verhältnis stehen zu Allgemeingefährdung
oder Fremdgefährdung respektive Eingriffen in Rechts-
güter anderer, die durch den Gebrauch entständen. Es
sind nichts weiter als Schikanen, die der Gesetzgeber den



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Monika Knoche
Cannabiskonsumenten auferlegt, und dazu ist der Bun-
destag meiner festen Auffassung nach nicht berechtigt.

Darüber hinaus wird das postulierte Präventionsziel
durch eine Fokussierung auf das Strafrecht erkennbar
nicht erreicht. Höchst zweifelhaft ist darüber hinaus, ob
es dem Gesetzgeber überhaupt zusteht, ein gegebenen-
falls selbstschädigendes Verhalten unter Strafandrohung
zügeln zu wollen.

All diese hier von mir umrissenen Überlegungen sind
alles andere als neu. Seit etwa zehn bis 15 Jahren sind im
Deutschen Bundestag die drogenpolitischen Argumente
ausgetauscht worden und dennoch ist bislang keine Re-
gierung dem Beispiel anderer Staaten gefolgt. Nicht ein-
mal der Eigenanbau und der Besitz zum Eigenverbrauch
sind aus dem Kriminalitätskatalog gestrichen worden.
Das sage ich ausdrücklich zu den Antragstellern. Die
Grünen haben während ihrer relativ langen Regierungs-
zeit von sieben Jahren nichts, aber auch gar nichts getan,
um eine Entkriminalisierung voranzutreiben. Ich war da-
mals drogenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundes-
tag und kann bezeugen: In der Regierungsverantwortung
sind die Grünen kleinbürgerlich, kleinlaut und hasenfü-
ßig gewesen. Jetzt in der Opposition ist es für sie wieder
attraktiv, sich als dynamische, unangepasste Szene- und
Klientelpartei darzustellen. Ich unterstelle ihnen Lauter-
keit in ihrem Antragsbegehren und halte nahezu alle For-
derungen für richtig. Dennoch möchte ich sagen: Keine
ihrer früheren Ministerinnen, auch nicht Frau Künast als
Verbraucherministerin, hat eine Initiative ergriffen, um
die Voraussetzungen im Betäubungsmittelgesetz zu schaf-
fen und eine Entkriminalisierung durchzusetzen. Wie viel
Glaubwürdigkeit soll ich also dieser Initiative heute bei-
messen?

Ich sehe die Notwendigkeit, dass das völkerrechtliche
Verträgekorsett gelockert wird. In Ihrem Antrag wird die-
ser ganz wesentliche Rechtsrahmen benannt. Ohne eine
Aufhebung des Konzeptes des internationalen „war on
drugs“ kann es keine echten Legalisierungen geben. Das
ist in der Sache vollkommen richtig. Zumindest aber sind
Regelungen wie in den Niederlanden realisierbar.

Für die Linke stelle ich fest: Die Kriminalisierung des
Drogenkonsums ist nicht zu rechtfertigen. Präventions-
politisch ist die Kriminalisierung ein gescheiterter Weg.
Wissenschaftlich belegt ist die medizinische Nutzung und
therapeutische Wirkung von Cannabisprodukten. Das
Gesundheitsministerium verhindert einen rationalen,
aufgeklärten und gesundheitspolitisch sinnvollen Um-
gang mit Cannabis. Konsumenten illegaler Drogen wer-
den gegenüber Konsumenten legaler Drogen diskrimi-
niert. Die Prohibition widerspricht dem Konzept
mündiger Bürger und ihrer Selbstbestimmungsrechte und
zeichnet darüber hinaus ein Kriminalitätsbild in der Be-
völkerung, das der Realität nicht entspricht. Die völker-
rechtliche Ächtung von Cannabis ist ein weltweit geschei-
terter Weg und hält die Drogenmafia am Leben.

Meiner Auffassung nach ist es allein der politische
Wille, der fehlt, um endlich Vernunft in die Drogenfragen
einkehren zu lassen. Deshalb halte ich den vorliegenden
Antrag für einen wichtigen Beitrag, parlamentarisch end-
lich Mehrheiten zu finden. Für nicht erforderlich aller-
Zu Protokoll
dings halte ich den Vorschlag, ein Modellprojekt aufzule-
gen, wie es im Antrag dargestellt wird. Bei der
Heroinsubstitution war das der richtige Weg. Beim Kon-
sum aus Genussgründen – und dieses Recht hat eine jede
und ein jeder – sehe ich für eine wissenschaftliche Studie
keinen rechten Anlass. Präventionspolitischen Wissens-
gewinn kann ich im Moment nicht erkennen. Aber viel-
leicht werden wir in den weiteren Beratungen des Antrags
mehr dazu hören können.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620527600

Es geht hier und heute nicht nur ganz allgemein um die

Entkriminalisierung von Cannabis. Es geht auch darum,
ob vor allem Union und SPD endlich bereit sind, die
Realitäten wahrzunehmen. Cannabis ist keine Mode-
droge. Cannabis ist längst eine Alltagsdroge wie Alkohol
oder Tabak. Es eignet sich nicht, um daran einen ewig
währenden Kulturkampf zu zelebrieren.

Cannabis ist Ausdruck für eine verfehlte Drogenpoli-
tik, die noch immer vorrangig auf Repression setzt und
bei der die Prävention nicht Hauptsache, sondern nur
Beiwerk ist. Cannabis ist zu einem Symbol geworden für
eine Drogenpolitik, die an einer Ideologie, aber nicht an
der Lebensrealität der Menschen orientiert ist. Es ist an
der Zeit, die Glaubwürdigkeit und vor allem die Wirksam-
keit dieser Drogenpolitik und ihrer Instrumente kritisch
zu hinterfragen.

Die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens gilt in
der Rechtsordnung immer als Ultima Ratio: Ein bestimm-
tes Verhalten wird von der Gesellschaft als so sozial-
schädlich angesehen, dass es nicht nur verboten ist, son-
dern dass auch jeder Verstoß durch eine individuelle
Bestrafung des Handelnden geahndet werden muss. In
vielen Fällen macht dies Sinn. Aber auch beim Eigenge-
brauch von Cannabis? Der Schutz der Gesellschaft, ins-
besondere der Rechtsgüter Dritter, kann ein solches Ver-
bot nicht rechtfertigen. Der Eigengebrauch an sich
schädigt keine Dritten. Auch die allgemeine Sicherheit
wird dadurch nicht gefährdet. Im Gegenteil könnte insbe-
sondere die Legalisierung des Eigenanbaus dazu beitra-
gen, den Schwarzmarkt auszutrocknen. Man kann das
sehr anschaulich an den Erfahrungen der USA nach Auf-
hebung der Prohibition beobachten. Zudem wissen wir
aus der Suchtforschung, dass der Umstieg von Cannabis
auf härtere Drogen nicht durch den Stoff selbst bedingt
ist, sondern durch den Kontakt mit der Drogenszene auf
dem Schwarzmarkt. Auch Gesundheitsgefahren durch mit
Blei oder Glas verunreinigten Cannabis – wie er ver-
mehrt auch in Deutschland auftaucht – könnte so wirk-
sam begegnet werden. Gesamtgesellschaftlich betrachtet
wäre eine Legalisierung des Eigenanbaus also eher dazu
geeignet, Rechtsgüter zu schützen als diese zu gefährden.

Keine Droge ist harmlos. Auch Cannabis kann bei in-
tensivem Gebrauch zu einer psychischen Abhängigkeit
führen. Bei bestimmten Konsumentinnen und Konsumen-
ten besteht auch die Gefahr der Auslösung von Psycho-
sen. Zudem führt das Cannabisrauchen zu ähnlichen ge-
sundheitlichen Schädigungen wie der Tabakkonsum.

Cannabis sollte allerdings auch nicht einfach mit an-
deren illegalen Drogen auf eine Stufe gestellt werden.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Harald Terpe
Das Suchtpotenzial von Cannabis ist bedeutend geringer,
als früher angenommen, und beispielsweise nur halb so
hoch wie das von Alkohol. Menschen mit Alkoholproble-
men landen 13-mal so häufig in stationärer Therapie wie
Cannabiskonsumenten. Weltweit starben 2007 rund
2,5 Millionen Menschen am Konsum von Alkohol. Und
der in den letzten zehn Jahren angeblich dramatisch an-
gestiegene THC-Gehalt von Cannabis ist ein Märchen.
Er lässt sich weder mit den Zahlen des Bundeskriminal-
amtes noch der Europäischen Union belegen. Es gehört
für mich auch zur Glaubwürdigkeit einer Drogen- und
Suchtpolitik, dass man gesetzliche Regelungen an realen
Gesundheitsgefahren orientiert.

Kann aber vielleicht die Strafbarkeit dazu beitragen,
dem Täter sein gesundheitsschädliches Verhalten vor Au-
gen zu halten und so eine Verhaltensänderung herbeizu-
führen? Eine Befragung des Münchner Instituts für The-
rapieforschung hat ergeben, dass nur rund 0,4 Prozent
der ehemaligen Cannabiskonsumenten ihren Konsum we-
gen eines Strafverfahrens aufgegeben haben. Das ist für
die Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, ehrlich ge-
sagt, ein vernichtendes Urteil. Der Staat könnte das Geld,
das Polizei und Justiz in die Strafverfolgung investieren,
woanders besser einsetzen, zum Beispiel in wirksame
Prävention durch Aufklärung über Konsumrisiken oder
Frühintervention bei Konsumenten mit riskantem Ge-
brauch.

Eine solche Prävention ist aber nur bei einer Entkri-
minalisierung des Eigengebrauchs möglich – übrigens
auch nach Einschätzung der Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen und der Drogen- und Suchtkommission des
Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2002. Der
bloße Hinweis auf die Strafbarkeit mit der Forderung
nach Abstinenz hat, wie die letzten Jahrzehnte zeigen, bis-
lang kaum Wirkung gehabt. Im Gegenteil: Länder mit
einem strengen Cannabisverbot haben viel größere Pro-
bleme mit anderen, halblegalen Drogen, auf die Jugend-
liche gegebenenfalls ausweichen, die aber mitunter viel
größere Risiken für die Gesundheit bergen. Ich erinnere
nur an die jüngsten Erfahrungen mit Spice.

Die letzte verbleibende Rechtfertigung, die es also
noch für ein Verbot geben könnte, wäre, dass dies andere
Menschen davor abschreckt, selbst Cannabis zu konsu-
mieren. Aber auch dies trifft nicht zu. Die Zahl der Kon-
sumenten liegt hierzulande seit Jahren konstant bei 2 bis
4 Millionen Menschen. Umgerechnet auf die Gesamtbe-
völkerung ist das prozentual mindestens genauso viel wie
in den Niederlanden. Und nur 2,8 Prozent der ehemali-
gen Cannabiskonsumenten geben an, dass sie aus Angst
vor Bestrafung ihren Konsum aufgegeben hätten.

Sie sehen also: alle Gründe, die eine Kriminalisierung
des Eigengebrauchs von Cannabis rechtfertigen könnten,
laufen ins Leere. Mitunter wirkt das Strafrecht sogar kon-
traproduktiv. Wir fordern die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen deshalb auf: Stellen Sie endlich eine
glaubwürdige und wirksame Prävention in den Mittel-
punkt ihrer Drogenpolitik! Lösen Sie sich von Ihren alten
Klischeevorstellungen! Heben Sie die Strafbarkeit des Ei-
gengebrauchs von Cannabis auf! Entwickeln Sie ein um-
fassendes nationales Aktionsprogramm zur Cannabis-
prävention, zur Verbesserung der Therapie und zur
Schadensminderung, und setzen Sie sich auch auf inter-
nationaler Ebene dafür ein, in diesem Bereich das Prohi-
bitionsdogma durch eine rationale Gesundheitspräven-
tion zu ersetzen. Ziel einer glaubwürdigen und wirksamen
Prävention muss die Verhinderung des frühen Einstiegs
in den Cannabiskonsum und die bessere und frühere Er-
reichbarkeit von Menschen mit riskanten Konsummus-
tern sein, nicht ihre Kriminalisierung.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620527700

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11762 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kürzungen bei künstlicher Befruchtung
zurücknehmen

– Drucksache 16/11663 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Maria Eichhorn, Hubert
Hüppe, Mechthild Rawert, Dr. Konrad Schily, Frank
Spieth, Birgitt Bender, Parlamentarische Staatssekretärin
Marion Caspers-Merk.


Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1620527800

Kinderlosigkeit ist nicht nur ein gewolltes Phänomen,

sondern kann für viele Paare bei ungewollter Kinderlo-
sigkeit zu einer wirklichen Belastungsprobe werden. Von
den deutschen Erwachsenen zwischen 25 und 59 Jahren
wollen nur rund 8 Prozent ausdrücklich keine Kinder.
Aber 30 Prozent von ihnen haben keine Kinder. Wunsch
und Realität klaffen also deutlich auseinander.

Wenn der ersehnte Kinderwunsch jahrelang ausbleibt,
ist die künstliche Befruchtung für viele Paare der letzte
Ausweg. Doch die Behandlungen sind nicht nur aufwen-
dig und belastend, sondern sind seit der Einschränkung
der Kostenübernahmeregelung, die mit dem GKV-Mo-
dernisierungsgesetz vorgenommen wurde, eine finan-
zielle Hürde. Die gesetzliche Krankenkasse beteiligt sich
mit 50 Prozent an den Kosten für die ersten drei Versuche
der künstlichen Befruchtung. Die Folge ist, dass viele
Paare auf eine reproduktionsmedizinische Behandlung
verzichten oder diese nach wenigen Versuchen abbre-
chen.

In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke, die
Einschränkung der Kostenübernahmeregelung zurückzu-
nehmen. Grundsätzlich ist auch aus Sicht der CDU/CSU
eine Vollfinanzierung reproduktiver Maßnahmen durch
die gesetzlichen Krankenkassen positiv.


(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn
Die Einschränkung der Kostenübernahme von 2004
war eine bewusste Entscheidung aufgrund der finanziel-
len Situation. Wegen der aktuellen Lage hat diese Be-
gründung weiterhin Bestand.

Es ist auch zu bedenken, ob es sinnvoll ist, dass eine fa-
milienpolitisch als richtig erscheinende Maßnahme aus-
schließlich aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversi-
cherung bezahlt werden soll. Vielmehr ist zu überlegen,
ob sie nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer zu-
sätzlichen Finanzierung durch Steuermittel bedarf.

Diesen Weg geht der Freistaat Sachsen. Ab März die-
ses Jahres bekommen Ehepaare für die zweite und dritte
Behandlung staatliche Zuschüsse von jeweils bis zu 900
Euro. Für die vierte wird eine Pauschale von 1 600 bis
1 800 Euro gezahlt. Das Bundesland stellt dafür jährlich
1,1 Millionen Euro bereit.

Die Bedingungen sind die gleichen wie auf Bundes-
ebene: Die Frau muss zwischen 25 und 40 Jahre alt sein
und der Mann das Alter von 50 Jahren nicht überschritten
haben. Weiterhin müssen sie verheiratet sein.

Die Altersgrenzen halte ich für sinnvoll und richtig;
denn sie orientieren sich an der von der Natur vorgege-
benen Zeitspanne, in der Frauen in der Regel Kinder be-
kommen. Deshalb sollte die Altersbeschränkung nicht,
wie im Antrag der Linken gefordert, zurückgenommen
werden.

Ebenso muss die Vorraussetzung bestehen bleiben,
dass nur Paare, die verheiratet sind, Maßnahmen der
künstlichen Befruchtung in Anspruch nehmen dürfen. Die
verantwortungsvolle Entscheidung, eine Familie zu grün-
den, sollte auf einer stabilen Partnerschaft beruhen. Das
ist eine Voraussetzung für den Aufbau guter Eltern-Kind-
Beziehungen. Die Ehe als ein Versprechen lebenslanger
gegenseitiger Verantwortung kann dem am besten Rech-
nung tragen. Dies bestätigen die Statistiken.

Die Beschränkung auf drei Versuche ist sinnvoll. Denn
viele erfolglose Versuche bedeuten eine körperliche und
seelische Belastung für die Frau. Viele Argumente, die
durchaus bedenkenswert sind, sprechen für eine volle
Kostenübernahme reproduktiver Behandlungen. So kann
vielen Paaren, die ungewollt kinderlos bleiben, mithilfe
von Methoden künstlicher Befruchtung der Kinder-
wunsch doch noch erfüllt werden. Auch wird von Exper-
ten darauf hingewiesen, dass die künstliche Befruchtung
nicht nur die Geburtenstatistik erhöht, sondern auch die
demografische Krise in Deutschland abmildern kann.

Dennoch ist aufgrund der Situation in der gesetzlichen
Krankenversicherung der Vorschlag der vollständigen
Kostenübernahme derzeit nicht umsetzbar. Die Beiträge
sind gerade erst erhöht worden, eine weitere Erhöhung
wäre nicht zumutbar. Deshalb sollten andere Wege der
Finanzierung gesucht werden.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1620527900

Das GKV-Modernisierungsgesetz hat ab 2004 eine Be-

grenzung der Ausgaben für künstliche Befruchtung einge-
führt, die von den Grundsätzen der medizinischen Not-
wendigkeit und der Erfolgsaussicht geleitet ist. Wie auch
Zu Protokoll
in anderen Bereichen wurde eine Beteiligung der Versi-
cherten eingeführt.

Ein solidarisches Gesundheitssystem – und auch die
öffentliche Hand – kann nicht alles Wünschenswerte oder
medizinisch Mögliche unbeschränkt finanzieren. Es muss
Grenzen geben, die sich am medizinisch Notwendigen
orientieren. Natürlich kann man eine Auseinanderset-
zung darüber führen, ob die Grenze bei drei oder vier Be-
handlungszyklen festzulegen ist, ob und wie hoch eine
Selbstbeteiligung zu sein hat, ob man eine ausreichende
Erfolgswahrscheinlichkeit bei einem maximalen Lebens-
alter von 40 oder 45 Jahren ansiedelt.

Das Deutsche IVF-Register veröffentlicht Daten ab
1982, es deckt also mittlerweile einen Zeitraum von
25 Jahren ab. Betrachtet man die Daten des Deutschen
IVF-Registers, so stellt man fest: Im Jahre 2007, dem
jüngsten erfassten Jahr, wurde mit 64 578 Zyklen die
dritthöchste Zahl an IVF-Behandlungen seit Anbeginn
des IVF-Registers registiert. Das Jahr 2007 wird hin-
sichtlich der Zahl durchgeführter künstlicher Befruchtun-
gen nur von den beiden Rekordjahren 2002 und 2003
übertroffen. Zehn Jahre zuvor, 1997, zähte das Deutsche
IVF-Register noch 30 676 Zyklen; das ist weniger als die
Hälfte der für 2007 erfassten Zyklen. Der geburten-
stärkste Jahrgang mit fast 1,4 Millionen Geburten war
1964. Wer 1964 geboren ist, war 1997 33 Jahre alt, ge-
hörte also zu der Altersgruppe, die potenziell Kinder be-
kommt. Der Jahrgang 1974 verzeichnete nur noch etwas
über 800 000 Geburten. Wer 1974 geboren ist, war dann
im Jahre 2007 33 Jahre alt und gehörte zu der Alters-
gruppe, die potenziell Kinder bekommt. Natürlich be-
rücksichtigt dieses Beispiel keine Faktoren wie Ab- und
Zuwanderungen, doch es zeigt die Tendenz.

Obwohl also die Zahl potenzieller junger Eltern in den
zehn Jahren zwischen 1997 und 2007 stark zurückgegan-
gen ist, hat sich die Zahl der IVF-Behandlungszyklen im
gleichen Zeitraum von 30 676 auf 64 578 mehr als ver-
doppelt, so jedenfalls die Zahlen des Deutschen IVF-Re-
gisters.

Und obwohl die seit 2004 geltenden Regelungen der
Finanzierung künstlicher Befruchtungen innerhalb der
gesetzlichen Krankenversicherung seither nicht geändert
wurden, verzeichnet das Deutsche IVF-Register seit 2005
wieder eine Zunahme: Gegenüber 56 232 Behandlungs-
zyklen 2005 verzeichnet das Deutsche IVF-Register für
2006 bereits 59 295 und für 2007 64 578. Gleichzeitig
entnehmen wir dem Deutschen IVF-Register, dass das
mittlere Alter der Frauen zwischen 1997 und 2007 von
32,6 Jahren auf 34,6 Jahre angestiegen ist.

Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen
hat gemäß § 27 a SGB V Richtlinien über die künstliche
Befruchtung beschlossen. Danach dürfen Maßnahmen
zur künstlichen Befruchtung nur durchgeführt werden,
wenn hinreichende Erfolgsaussicht besteht, dass durch
die Behandlungsmethode eine Schwangerschaft herbei-
geführt wird. Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht
nach diesen Richtlinien in der Regel dann nicht, wenn die
IVF-Behandlung bis zu viermal vollständig durchgeführt
wurde, ohne dass eine Schwangerschaft eingetreten ist.
Wenn der Bundesausschuss jedenfalls nach dem vierten



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hubert Hüppe
Versuch keine hinreichende Erfolgsaussicht mehr sieht,
war die Begrenzung des Leistungsanspruchs auf drei Ver-
suche vertretbar.

Ähnlich hat der Bundesausschuss der Ärzte und Kran-
kenkassen zur Altersgrenze niedergelegt:

Da das Alter der Frau im Rahmen der Sterilitätsbe-
handlung einen limitierenden Faktor darstellt, sol-
len Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung bei
Frauen, die das 40. Lebensjahr vollendet haben,
nicht durchgeführt werden. Ausnahmen sind nur bei
Frauen zulässig, die das 45. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben und sofern die Krankenkasse nach
gutachterlicher Beurteilung der Erfolgsaussichten
eine Genehmigung erteilt hat.

Da bereits nach dem 30. Lebensjahr das Optimum der
natürlichen Empfängnisfähigkeit überschritten ist, und
weil die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft nach
dem 40. Lebensjahr sehr gering ist, war es vertretbar,
dass zulasten der Solidargemeinschaft IVF-Behandlun-
gen nur bis zu einem Maximalalter der Frau von 40 Jah-
ren finanziert werden.

Das Mindestalter von 25 Jahren betrifft allenfalls sehr
wenige unfruchtbare Ehepaare. Das Mindestalter trägt
dazu bei, dass die Chancen einer natürlichen Schwanger-
schaft ausgeschöpft werden und es nicht vorschnell zu ei-
ner Medikalisierung des Kinderwunsches kommt.

Die gegenwärtige Regelung verkennt nicht die Hoff-
nungen und Wünsche vieler Paare mit unerfülltem Kin-
derwunsch. Die Solidargemeinschaft unterstützt drei Ver-
suche, mithilfe von IVF-Maßnahmen Eltern eines Kindes
zu werden. Für die Leistungsansprüche gelten Vorausset-
zungen und Grenzen, die angesichts des Kostendrucks im
Gesundheitswesen und der Belastbarkeit der Beitrags-
zahler vertretbar sind.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1620528000

Was will die Linke? In ihrem letzten Antrag vom ver-

gangenen Jahr hat sie sich gegen die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes von 2007 und die gesetzlichen
Änderungen im Rahmen des GKV-Modernisierungs-
gesetzes von 2004 ausgesprochen und eine Ausweitung
der Eigenmittel bei künstlichen Befruchtungen auf nicht
verheiratete Paare gefordert. Unter Bezugnahme auf ei-
nen von den CDU-geführten Ländern Saarland, Sachsen
und Thüringen in den Bundesrat eingebrachten und von
der Länderkammer dann beschlossenen Antrag revidiert
die Linke ihren Antrag von 2008 und will die Hilfen bei
künstlichen Befruchtungen nun doch auch weiterhin auf
verheiratete Paare beschränkt lassen. Eine Gleichbehand-
lung sieht anders aus. Aber das verstehe, wer will.

Obgleich bereits im Kontext des Antrags von 2008 aus-
giebig diskutiert, bleibt die Linke dabei, dass es sich bei
einer künstlichen Befruchtung ausschließlich um eine
gesundheitspolitische und nicht auch um eine familien-
politische Leistung handelt. Unbestritten ist, dass die
Gebär- und Zeugungsfähigkeit mit zunehmendem Alter
abnimmt. Als Sozialdemokratin möchte ich Frauen und
Männer ermutigen, bereits in jungen Jahren ihren Kinder-
wunsch zu erfüllen. Ja, ich gehe sogar noch weiter: Wir
Zu Protokoll
müssen sie nicht nur ermutigen, wir müssen auch die
Rahmenbedingungen schaffen, damit vor allem junge
Frauen während ihrer Ausbildung, ihres Studiums und
auch später im Berufsleben nicht in ein Entweder-Kind-
oder-Karriere-Dilemma kommen.

„Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ – so die doch
richtige Aussage aus dem Bundesfamilienministerium.
Ich teile diese Einschätzung und frage mich, weshalb die
Linke diesen Zusammenhang noch nicht verstanden hat.
Warum fordert sie keine Ausweitung der künstlichen Be-
fruchtung auf alle hetero- und homosexuellen Lebensfor-
men und damit die familienpolitische Gleichstellung von
Regenbogenfamilien und anderen Familien? Warum for-
dert die Linke nicht, dass Frau von der Leyen getreu ih-
rem Leitspruch „Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ un-
verzüglich Mittel aus dem Etat ihres Ministeriums für
ungewollt kinderlose Paare zur Verfügung stellen muss?
Für mich als Sozialdemokratin ist nicht nachvollziehbar,
weshalb Frau Bundesministerin von der Leyen nicht auch
die entsprechenden Konsequenzen für eine solche Zu-
kunftspolitik zieht und ihrer gesamtgesellschaftlichen
Verantwortung für die kommenden Generationen nach-
kommt.

Ich wiederhole es gerne – vergleiche meine Plenarrede
zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes zur
Änderung des Fünften Sozialgesetzbuches am 7. März
2008; ich habe damals gesagt –: „Wer Vorschläge zur
Ausweitung der künstlichen Befruchtung macht, muss
auch sagen, wie diese aus familienpolitischer Sicht sicher-
lich wünschenswerte Forderung im SBG V, dem Rege-
lungsbereich der gesetzlichen Krankenkassen – GKV –,
finanziert wird.“ Eine Antwort gibt die Linke nun in ihrem
Antrag: „Um die vollständige Kostenübernahme für Maß-
nahmen der künstlichen Befruchtung zu gewährleisten,
wird der Bundeszuschuss an die gesetzliche Kranken-
kasse, GKV, entsprechend erhöht“. Was aber bedeutet
diese Forderung angesichts der auch den Linken bekannten
Tatsache, dass die vorgesehene Erhöhung des steuer-
finanzierten Bundeszuschusses in der gesetzlichen Kran-
kenkasse zur Stabilisierung des Leistungskatalogs der
GKV gedacht ist? Ich sage Ihnen, was aus der Forderung
der Linken unweigerlich folgt: Die Linke will Steuererhö-
hungen.

Doch zurück zur künstlichen Befruchtung selbst. Seit
dem 1. Januar 2004 haben Versicherte bei ungewollter
Kinderlosigkeit folgende Leistungsansprüche bis hin zur
künstlichen Befruchtung an ihre gesetzlichen Kranken-
kassen. Alle Mitglieder der GKV haben – unter anderem
aufgrund des § 27 SGB V – bei ungewollter Kinderlosig-
keit einen Leistungsanspruch auf Krankenbehandlung.
Die Kosten für die Diagnostik der ungewollten Kinder-
losigkeit werden grundsätzlich übernommen. Gleiches gilt
auch für medizinische Maßnahmen zur Herstellung der
Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit beispielsweise durch
chirurgische Eingriffe, die Verordnung von Medikamenten
oder auch durch eine psychotherapeutische Behandlung.
Diese Maßnahmen haben grundsätzlich Vorrang vor der
künstlichen Befruchtung durch zum Beispiel intrauterine
Insemination, IUI, durch die In-vitro-Fertilisation, IVF,
und/oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Rawert
Wenn diese Maßnahmen nicht greifen, übernimmt die
zuständige Krankenkasse auf der Grundlage des von ihr
im Vorfeld zu bewilligenden Behandlungsplanes 50 Pro-
zent der Behandlungskosten und Medikamente für bis zu
drei Versuche. Die übrigen 50 Prozent sind als Eigen-
anteil zu erbringen. Die Leistungen gelten für Ehepaare;
Frauen dürfen zwischen 25 und 40 Jahre alt, Männer
müssen unter 50 Jahre alt sein.

Zur vollen Wahrheit gehört, dass die Einfügung des
§ 27 a SGB V im Jahr 1990 als Nachtrag zur Gesund-
heitsreform von 1988 erfolgte. Schon damals war grund-
sätzlich strittig, ob die künstliche Befruchtung überhaupt
in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden
soll. Denn die Verfolgung familienpolitischer Zielsetzung
ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen. Kinder-
losigkeit gilt nicht als Krankheit. Die künstliche Befruch-
tung selbst gilt folglich nicht als Behandlung einer
Krankheit. Damit sie dennoch in den Leistungskatalog
der GKV aufgenommen werden konnte, wurde sie den für
Krankheiten geltenden Regelungen des SGB V quasi unter-
stellt. Die Leistungen bezüglich künstlicher Befruchtun-
gen sind weiterhin versicherungsfremde Leistungen des
solidarischen Gesundheitssystems. Ja, ich verhehle auch
nicht, dass die 2004 erfolgte Einschränkung der Anzahl
von Versuchen sowie die Beschränkung auf Ehepaare
eine Kostenbegrenzung zur Folge hatte. Gesprochen wird
von einer Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen um
rund 100 Millionen Euro im Jahr.

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
hat eine volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht. Wenn
der Staat die Kosten für eine künstliche Befruchtung zu
100 Prozent übernähme – etwa 18 000 Euro pro Wunsch-
kind –, würde er nach einer Studie des Instituts sogar das
Vierfache – etwa 79 000 Euro pro Wunschkind – wieder
zurückbekommen. Die Rechnung beruht darauf, dass aus
Kindern später einmal auch Steuer- und Beitragszahler
werden.

Aus familien- bzw. bevölkerungspolitischer Sicht be-
grüße ich das Vorhaben des Landes Sachsen, Frauen und
Männern bei künstlichen Befruchtungen über die Möglich-
keiten der gesetzlichen Krankenkassen hinaus finanziell
zu helfen. Es stimmt: Die demografische Entwicklung un-
serer Gesellschaft und die geringe Geburtenrate lassen
eine volle Kostenübernahme bei Hilfen zur künstlichen
Befruchtung durchaus erstrebenswert erscheinen.

Doch auch in anderen europäischen Ländern gibt es bei
den gesetzlichen Vorgaben zu künstlichen Befruchtungen
eingeschränkte Leistungsansprüche, beispielsweise in
Großbritannien. In den meisten Ländern werden Behand-
lungen und Arzneimittel nur teilweise und nur für eine
beschränkte Anzahl von Zyklen erstattet.

Was aber macht Sachsen genau? Sachsen wird für die
zweite und dritte Behandlung einer künstlichen Befruchtung
staatliche Zuschüsse an die hoffungsfrohen Eltern in Höhe
von jeweils 900 Euro auszahlen, für die vierte Behandlung
wird eine Pauschale von 1 600 bis 1 800 Euro gewährt. Die
Eltern mit Kinderwunsch müssen die notwendigen Eigen-
mittel der ersten Behandlung auch in Sachsen selber
finanzieren, und von einer fünften oder auch sechsten
Behandlung ist auch hier nicht die Rede. Ab März 2009
Zu Protokoll
und in 2010 sollen hierfür im Ministerium für Familie,
Soziales und Gesundheit von CDU-Ministerin Christine
Clauß Haushaltsmittel – je nach Pressemeldung – in
Höhe von jährlich 500 000 oder sogar von 1,1 Millionen
Euro eingestellt sein. Partizipieren können von diesem
Programm auch hier nur verheiratete Paare; die Frau
darf nicht älter als 40 Jahre und der Mann nicht älter als
50 Jahre alt sein. Und noch eines ist von besonderer Be-
deutung: Die Paare müssen seit mindestens einem Jahr
ihren Wohnsitz in Sachsen haben und sich auch hier be-
handeln lassen. Wie lange die Paare auch noch im An-
schluss in Sachsen wohnen müssen, ist mir nicht bekannt.

Wer die Regelungen zu den Leistungen bei der künstli-
chen Befruchtung heute als „Soziale Selektion“ – Christine
Clauß – bezeichnet, vergreift sich nicht nur in der Wort-
wahl. Er verkennt auch, dass für eine Beschränkung der
Versuchszahl und die Einführung einer Altersgrenze eine
Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse sprechen. So werden
die Erfolgsaussichten der künstlichen Befruchtung nach
dem dritten Versuch und mit zunehmendem Lebensalter
der Frau immer geringer. Tatsächlich kommt es auch nur
bei 18 von 100 behandelten Frauen zur Geburt des er-
hofften Wunschkindes.

Auch aus der FDP in NRW wird die Forderung laut nach
voller Kostenübernahme für die künstliche Befruchtung
durch die Krankenkassen. Es sei – ich zitiere –: „inhuman
und in Zeiten des demografischen Wandels auch töricht,
dass hier finanzielle Hürden aufgebaut worden sind“.
Kritisiert wird die Begrenzung auf drei Befruchtungs-
versuche. Allerdings sei die Voraussetzung, dass es sich
um verheiratete Paare handeln müsse, zu überdenken.
Willkürlich sei die Altersbegrenzung bei den Müttern auf
40 Jahre und 50 Jahre bei den Vätern. Kann man hier
wirklich von Willkür sprechen? Ich finde, ethische Zweifel
sind durchaus berechtigt, wenn ich an den aktuellen Fall
der 60-jährigen Kanadierin denke, die Zwillinge bekom-
men hat.

Aus der in politischer Verantwortung der Linkspartei
geführten Senatsverwaltung Gesundheit, Umwelt und
Verbraucherschutz ist zu vernehmen, dass es in Berlin
auch weiterhin keine finanzielle Unterstützung für Ehe-
paare geben wird, die sich einer künstlichen Befruchtung
unterziehen. Angesichts der Haushaltslage seien Finanz-
hilfen aus Ländermitteln nicht möglich. Zu Recht weisen
Experten auf einen möglichen Flickenteppich von bundes-
länderbezogenen Regelungen oder auch Nichtregelungen
hin.

Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
bewusst, dass es für Menschen eine schwere Belastung ist,
wenn sie eigene Kinder haben wollen und keine Kinder be-
kommen können. Ich nehme die Trauer und die Verzweif-
lung ungewollt kinderloser Menschen sehr ernst. Gerade
deshalb dürfen wir aber neben den tatsächlichen Erfolgen
der künstlichen Befruchtung – wie schon erwähnt, bekom-
men nur 18 Frauen von 100 tatsächlich ihr „Wunsch-
kind“ – nicht verschweigen, dass die körperlichen und
seelischen Belastungen bei den verschiedenen Formen
der künstlichen Befruchtung hoch und dass auch gesund-
heitliche Risiken damit verbunden sind. Für viele Paare ist
die künstliche Befruchtung der letzte Ausweg. Sie wollen



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Rawert
und können in der Situation wohl auch gar nicht anders,
als eher die Fortschritte der Reproduktionsmedizin zu sehen
und weniger die belastende und aufwendige Behandlung.

Ich wiederhole: Es ist mir unverständlich, warum die
Linke ihre Forderungen für „Maßnahmen der assistierten
Reproduktion“ ausschließlich an die Gesundheits- und
eben nicht an die Familienpolitik richtet. Und ich bekräf-
tige auch noch einmal: Familienpolitische Ziele, wie es ja
die Erhöhung der Geburtenrate in Deutschland ist, sind
nicht ausschließliche Aufgaben der gesetzlichen Kran-
kenversicherungen. Familienpolitik ist Zukunftspolitik.

Selbstverständlich will auch ich keinen bundesländer-
spezifischen Flickenteppich. Wir wissen aus anderen
Politikfeldern, wie schädlich das sein kann. Aber die
bloße Aussage der Linken, „um die vollständige Kosten-
übernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung
zu gewährleisten, wird der Bundeszuschuss an die gesetz-
liche Krankenkasse (GKV) entsprechend erhöht“, reicht
für eine verantwortungsvolle Politik nicht aus.

Mein Fazit: Die Linke versucht, ein Thema zu besetzen.
Auch ich bin der Meinung, dass im Sinne der ungewollt
kinderlosen Menschen die Diskussion fortgeführt werden
muss. Wer aber die ungewollte Kinderlosigkeit für die
Betroffenen wirklich beheben und nicht nur ein Thema
besetzen will, muss ein komplettes familienpolitisches
Maßnahmenbündel schnüren und es entsprechend formu-
lieren. Das aber erfüllt der Antrag der Linken zu „Kür-
zungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ mit-
nichten. Stattdessen birgt dieser Antrag der Linken die
Gefahr in sich, dass mit den Gefühlen vieler ungewollt
kinderloser verheirateter Menschen – ich möchte auch
die ungewollt kinderlosen, unverheirateten Menschen,
und zwar die hetero- und homosexuellen, zusätzlich er-
wähnen – gespielt wird und dass Hoffnungen geweckt
werden, die über die Solidargemeinschaft der gesetzlich
Krankenversicherten nicht abgesichert werden können.

Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag daher ab.


Dr. Konrad Schily (FDP):
Rede ID: ID1620528100

In einer über Zwangsabgaben finanzierten Kranken-

versicherung muss an jedem einzelnen Punkt genau über-
legt werden, welche Leistungen hierüber finanziert wer-
den sollen und welche nicht. Das gilt auch für die
künstliche Befruchtung. Vom Grundsatz her handelt es
sich um eine versicherungsfremde Leistung. Insofern ist
der Antrag der Linken konsequent, die Aufstockung der
Kostenübernahme auf 100 Prozent durch einen höheren
Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung
finanzieren zu wollen. Im Hinblick auf die 28,8 Milliarden
Euro, die die GKV zusätzlich über das Konjunkturpaket II
erhält, glaubt man wohl, dass es auf weitere Mehrbelas-
tungen nicht mehr ankommt. Diese Kredite müssen je-
doch irgendwann zurückgezahlt werden. Im weiteren Ge-
setzgebungsprozess muss deshalb über den Vorschlag
noch einmal gründlich diskutiert werden.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620528200

2004 strichen SPD, CDU/CSU und Grüne in einer

wahren Kürzungsorgie den Leistungskatalog der gesetz-
Zu Protokoll
lichen Krankenversicherung zusammen. Neben Zuzah-
lungserhöhungen für Medikamente, Heil- und Hilfsmittel
sowie Krankenhausaufenthalte wurde die Praxisgebühr
eingeführt, Brillen müssen seitdem selbst bezahlt werden,
das Sterbegeld wurde abgeschafft und vieles anderes
mehr. Diese Koalition des Sozialabbaus beschloss gleich-
zeitig, die Krankenkassenbeiträge der Arbeitgeber zu
senken – auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer sowie der Rentnerinnen und Rentner, die deshalb
heute mehr zahlen.

Menschen, die Kinder bekommen wollen, aber auf na-
türlichem Wege nicht zeugen können, haben heute immer
noch mit den folgeschweren Kürzungen zu tun. Bis 2003
wurden die ersten vier Versuche einer künstlichen Be-
fruchtung von der Krankenkasse bezahlt. Ab 2004 werden
nur noch die ersten drei Versuche gezahlt – und die nur zu
50 Prozent übernommen. Das hat die Auswirkung, dass
die Betroffenen pro Versuch etwa 1 750 Euro drauflegen
müssen. Wenn drei Versuche notwendig sind, kostet das
5 250 Euro. Jeder weitere Versuch muss selbst gezahlt
werden. Bei vier Versuchen kostet die Zeugung des
Wunschkindes die Betroffenen dann etwa 8 750 Euro.

Einige können das zahlen, viele aber nicht. Deshalb ist
alleine 2004 die Zahl der künstlichen Befruchtungen fast
halbiert worden. Dies sind 45 000 Einzelschicksale, in
denen keine künstliche Befruchtung durchgeführt wurde.

In meinen Augen ist dies nicht nur skandalös, sondern
auch familienfeindlich. Die Entscheidung zu einer künst-
lichen Befruchtung darf nicht an einem zu kleinen Geld-
beutel scheitern. Denn niemand entscheidet sich mir
nichts, dir nichts für eine solche Behandlung. Denn bei ei-
ner Befruchtung im Reagenzglas muss zuerst die Frau mit
nebenwirkungsreichen Hormonen behandelt werden, da-
mit Eizellen heranreifen. Dann müssen der Frau die Ei-
zellen entnommen werden, bevor die eigentliche Befruch-
tung im Reagenzglas stattfinden kann.

Danach hat das Paar eine weitreichende Entschei-
dung zu treffen: Wie viele Embryonen sollen in die Gebär-
mutter implantiert werden? Es kommt oft vor, dass ein
Embryo sich nicht in der Gebärmutter einnistet. Deshalb
ist es gesetzlich erlaubt, pro Befruchtungsversuch bis zu
drei Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen und zu im-
plantieren. Je mehr implantiert werden, umso besser ste-
hen die Chancen auf eine Schwangerschaft, umso höher
ist aber auch das Risiko einer Mehrlingsschwanger-
schaft.

Wenn das Paar über wenig Geld verfügt und lange auf
den Versuch hat sparen müssen, dann wird mit höherer
Wahrscheinlichkeit die Einsetzung von drei Embryonen
gewählt. Die sich daraus entwickelnde Schwangerschaft
ist dann mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Drillings-
schwangerschaft. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko für
die Frauen und die sich entwickelnden Kinder. Oft raten
die Ärzte dann zu einer Reduktion, also der Abtötung ei-
nes oder zweier Embryonen bzw. Föten. Mir liegt es fern,
solche Entscheidungen moralisch zu bewerten. Es ist
aber absurd, wenn solche existenziellen Entscheidungen
abhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellen
Mitteln getroffen werden müssen.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
Unsinnig war auch die neue Festlegung der Alters-
grenzen. Frauen unter 25 Jahren haben seither gar kei-
nen Anspruch auf Kostenbeteiligung der Kassen und
müssen bei Unfruchtbarkeit erst dieses Alter abwarten.
Frauen ab 40 haben auch keinen Anspruch mehr, auch
dann nicht, wenn ein Gutachten Erfolgschancen ver-
spricht. Die Altersgrenze 50 Jahre für Männer ist ge-
nauso unsinnig. Diese starren und willkürlichen Grenzen
gab es zuvor nicht, und sie sollten nach unserer Auffas-
sung auch wieder abgeschafft werden.

Das alles wollen wir mit unserem Antrag ändern. Wir
wollen, dass die Betroffenen selbstbestimmt den aktuellen
Stand der medizinischen Möglichkeiten nutzen können.
Eine Rückkehr zu der alten Regelung hat auch bereits der
Bundesrat gefordert. Im Juli 2008 hat der Bundesrat auf
Antrag des Saarlandes, von Thüringen und Sachsen be-
schlossen, dass die Bundesregierung die Kürzungen zu-
rücknehmen und zum alten Rechtszustand zurückkehren
soll.

Die Gesundheitsministerin Frau Schmidt hat diese
Entschließung kurz und knapp beiseite gewischt. Von der
Presse zu der Bundesratsentscheidung befragt, sagte sie
nur, die Vollfinanzierung sei eine familienpolitische Auf-
gabe und keine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversi-
cherung.

Wir nehmen sowohl den Bundesrat als auch die Minis-
terin beim Wort: Wir fordern, dass die künstliche Befruch-
tung wieder voll finanziert werden soll. Die Mehrkosten
sollen aus Steuermitteln kommen. Dazu soll der Bundes-
zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung ent-
sprechend erhöht werden. Das ist ein Vorschlag, mit dem
Bundesrat und Ministerin, aber vor allem die Betroffenen
leben können. Daher bitte ich auch um die Unterstützung
der anderen Fraktionen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620528300

Nachdem wir im März 2008 bereits einen – wenn auch

in eine andere Richtung gehenden – Antrag der Linken
beraten haben, liegt uns nun ein neuer, anders gelagerter
Vorstoß vor. Beim aktuellen Antrag muss ich mich nicht,
wie vor etwa zwei Jahren, wundern, warum die sonst üb-
liche linke Rhetorik der Abschaffung von Zuzahlungen
fehlt. Dafür verwundert es mich heute, dass die Linke nun
die von ihr vorgeschlagenen finanziellen Verbesserungen
aus dem Beutel der Versichertengelder ausschließlich
Ehepaaren zugutekommen lassen will. Sind ihr heute die
unverheirateten kinderlosen Paare nicht mehr genauso
viel wert? Auf die Einbeziehung von kinderlosen Allein-
stehenden sowie Lesben hatte die Linke ja von Anfang an
verzichtet. Nun sind Sie aber voll auf der konservativen
Schiene gelandet: nur in der Ehe soll es den Anspruch auf
eine Finanzierung der künstlichen Befruchtung geben.
Die sächsische Linke müsste gegen dieses „antiquierte
Familienbild“ ihrer Bundestagsfraktion konsequenter-
weise genauso Sturm laufen, wie sie es gegenüber der
sächsischen Landesregierung getan hat, die verheirate-
ten Paaren ab März 2009 Zuschüsse für die künstliche
Befruchtung zahlt.

Ich kann mich nur wiederholen: Im Rahmen der Ge-
sundheitsreform 2003 wurde der heute gültige Kompro-
Zu Protokoll
miss gefunden, zu dem wir trotz einer eher kritischen
Sicht auf IVF und ICSI weiterhin stehen. Er war Teil eines
Gesamtpakets von höheren Eigenbeteiligungen durch Pa-
tientinnen und Patienten oder Streichungen; Stichworte
Praxisgebühr oder Wegfall der Erstattung frei verkäufli-
cher Arzneimittel. Diese Regelung zur künstlichen Be-
fruchtung wurde im September 2007 vom Bundessozial-
gericht bestätigt.

Es wurde damals nicht nur eine Eigenbeteiligung von
50 Prozent eingeführt, sondern es wurden auch erstmals
Altersgrenzen festgelegt. Mich würden die Gründe inte-
ressieren, warum die Linke diese Altersgrenzen wieder
abschaffen will. Denn schließlich schützen diese Alters-
grenzen zum einen davor, dass junge Frauen zu schnell in
unnötige bzw. zum anderen ältere Frauen in erfolglose
Behandlungen mit möglicherweise massiven Nebenwir-
kungen getrieben werden.

Äußerst kritisch sehe ich, dass die Diskussion über un-
gewollte Kinderlosigkeit eine extreme Konzentration auf
die Methoden der künstlichen Befruchtung und hier von
IVF und ICSI erfahren. Es gibt unbestritten Fälle, in de-
nen medizinische Befunde vorliegen, die ein solches Vor-
gehen notwendig machen. Aber ist dies immer auch der
richtige oder erfolgversprechende Weg? So weist das
Deutsche IVF-Register auch eine nicht unbeträchtliche
Zahl von Fällen ohne Befund aus, und laut der aktuellen
deutschen ICSI-Follow-up-Studie II werden 20 Prozent
derjenigen, die durch ICSI schwanger wurden und eine
erneute Schwangerschaft planten, später spontan, das
heißt auf natürlichem Weg schwanger.

In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes
– Robert-Koch-Institut, Heft 20 – wird auf eine Studie
verwiesen, die darstellt, dass ungewollt Kinderlose oft
wenig über die Altersabhängigkeit der Fruchtbarkeit wis-
sen. Noch erschreckender ist, dass 50 Prozent der an der
Studie beteiligten ungewollt Kinderlosen keinen Ge-
schlechtsverkehr in den fruchtbaren Tagen hatten. Die
Schlussfolgerung lautet, dass vor reproduktionsmedizini-
schen Eingriffen eine Sexualanamnese und Sexualaufklä-
rung notwendig seien.

Gestern konnte man in der Presse – zitiert wurden Re-
produktionsmediziner – Schätzungen über den Anteil un-
gewollt kinderloser Paare lesen. Die dort verkündeten
15 Prozent stehen in krassem Widerspruch zu den Aussa-
gen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Dort
heißt es, der Anteil ungewollt Kinderloser werde häufig
überschätzt; nach neueren Untersuchungen blieben etwa
3 Prozent der Paare dauerhaft kinderlos. Damit das De-
mografieproblem zu begründen dürfte sehr schwer fallen.
Wir haben es hierbei mit vielfältigen Ursachen zu tun.

Statt immer wieder Anträge zur Finanzierung der Re-
produktionsmedizin einzubringen, wäre es aus grüner
Sicht sehr viel sinnvoller, sich im Bundestag in Bezug auf
die technisch assistierte Fortpflanzungsmedizin mit dem
wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Bezug auf die Ge-
sundheit von Frauen und Kindern sowie einem Überblick
über Erfolge, Probleme, aber auch alternativen Lösungs-
ansätzen auseinanderzusetzen.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender
Im Gegensatz zur Linken betreiben wir Bündnisgrünen
keine Symbolpolitik, sondern machen Nägel mit Köpfen.
Wir Grünen haben vorgeschlagen, dass das Büro für
Technikfolgenabschätzung einen Bericht zur Fortpflan-
zungsmedizin erstellt. Der Forschungsausschuss hat eine
TAB-Studie „Fortpflanzungsmedizin – Wissenschaftlich-
technische Entwicklungen, Folgen und Rahmenbedin-
gungen“, in die auch Vorschläge der SPD eingeflossen
sind, verabschiedet. Der Bericht wird einen Überblick
über den aktuellen Stand und die Perspektiven der tech-
nisch assistierten Reproduktionsmedizin ebenso wie über
die nichttechnischen, alternativen Interventionen, zum
Beispiel psychosoziale und psychotherapeutische Bera-
tungskonzepte, bei ungewollter Kinderlosigkeit geben
und diese vergleichen. Ein grünes Anliegen dabei ist,
dass die gesundheitlichen und psychischen Folgen für
Frauen und Kinder, zum Beispiel Recht des Kindes auf
Wissen der Abstammung, Mehrlingsschwangerschaften,
ebenso wie die sozialwissenschaftliche Forschung über
die Auswirkungen der künstlichen Befruchtung Berück-
sichtigung finden.

Ich rate der Linken, ständige, sich auch noch wider-
sprechende Vorstöße zur Finanzierung der künstlichen
Befruchtung zu unterlassen und eine ernsthafte Diskus-
sion zu beginnen, wenn der TAB-Bericht vorliegt.

M
Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1620528400


Der Anspruch von Versicherten der gesetzlichen Kran-
kenversicherung auf Maßnahmen zur künstlichen Be-
fruchtung ist durch das GKV-Modernisierungsgesetz mit
Wirkung vom 1. Januar 2004 zumutbar eingeschränkt
worden. Seitdem werden nur noch drei Versuche zur Her-
beiführung einer Schwangerschaft von den Krankenkas-
sen anteilig statt zuvor vier Versuche vollständig über-
nommen. Zugleich gelten Altersgrenzen zwischen 25 und
40 Lebensjahren für Frauen bzw. 50 Lebensjahren bei
Männern. Grund für die Beschränkung der Versuchszahl
und die Einführung einer oberen Altersgrenze war nicht
zuletzt, dass die Erfolgsaussichten der künstlichen Be-
fruchtung nach dem dritten Versuch und mit zunehmen-
dem Alter immer geringer werden.

Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen be-
trägt nunmehr 50 Prozent, sodass die Versicherten mit ei-
ner Eigenbeteiligung von ebenfalls 50 Prozent an den
Kosten der künstlichen Befruchtung beteiligt werden.

Wie nach früher geltendem Recht übernehmen die
Krankenkassen die anteiligen Kosten einer künstlichen
Befruchtung nur, wenn gewährleistet ist, dass bestimmte
Voraussetzungen erfüllt sind:

Die Maßnahmen müssen nach ärztlicher Feststellung
erforderlich sein. Es muss nach ärztlicher Feststellung
hinreichende Aussicht bestehen, dass durch die Maßnah-
men eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Es werden
grundsätzlich nur bis zu drei Maßnahmen durchgeführt.
Die Kostenübernahme gilt nur für Ehepaare und nur für
Maßnahmen mit Ei- und Samenzellen der Eheleute, also
im sogenannten homologen System.

In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung
rufen, dass die Vorschrift – § 27a SGB V – erst 1990 in
das SGB V eingefügt worden ist. Bei den umfangreichen
Vorarbeiten zu diesem Gesetz ist auch die Frage erörtert
worden, welche Formen der künstlichen Befruchtung in
die Leistungspflicht der Krankenkassen einbezogen wer-
den sollen. Die Beschränkung des Leistungsanspruchs
auf Ehepaare gründet auf der im Grundgesetz veranker-
ten Pflicht zur Förderung der Ehe und Familie. Erst im
Jahr 2007 hat das Bundesverfassungsgericht die Be-
schränkung der Leistung auf Ehegatten für verfassungs-
mäßig erklärt.

Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist im breiten
Konsens vom Deutschen Bundestag verabschiedet wor-
den. Die Notwendigkeit einer umfassenden Gesundheits-
reform hat es erforderlich und möglich gemacht, auch
über eigene persönliche und parteipolitische Ansichten
hinweg Themenkomplexe anzugehen, die anderenfalls
möglicherweise nicht zur Disposition gestanden hätten.
Die Anspruchseinschränkung wurde seinerzeit für erfor-
derlich gehalten, um die Ausgaben der GKV im Bereich
der versicherungsfremden Leistungen nicht ausufern zu
lassen.

Die Gründe, die im Jahr 2003 zu Einschränkungen des
Anspruchs führten, sind im Jahre 2009 nicht weniger ge-
wichtig. Auch wenn eine Ausweitung des Anspruchs auf
künstliche Befruchtung manchem als familienpolitisch
sinnvoll erscheinen mag, ist doch eines klar: Die Verfol-
gung familienpolitischer Zielsetzungen ist nicht Aufgabe
der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer also eine
volle Kostenübernahme für diese Leistung fordert, muss
auch einen Finanzierungsvorschlag machen. Und der
kann sich nicht darauf beschränken, mit dem Finger auf
die Krankenkassen zu weisen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620528500

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11663 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nacht-
wei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kontraproduktive US-Operationen in Pakis-
tan sofort einstellen – Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln

– Drucksachen 16/10333, 16/11251 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)


Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Reden
zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger Hai-
bach, Johannes Pflug, Elke Hoff, Wolfgang Gehrcke und
Kerstin Müller.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11251, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10333 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Biopatentrecht verbessern – Patentierung von
Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungs-
verfahren verhindern

– Drucksache 16/11604 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Günter Krings,
Dr. Matthias Miersch, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken.


Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1620528600

„Biopatentrecht verbessern – Patentierung von Pflanzen,

Tieren und biologischen Züchtungsverfahren verhindern“
lautet der Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen. So sehr erstrebenswert das Ansinnen ist, die
Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen
Züchtungsverfahren zu verhindern, so sehr muss man sich
aber auch die Frage stellen, ob dafür wirklich das Bio-
patentrecht verändert werden muss oder ob die heutigen
Bestimmungen nicht doch ausreichend sind.

Vor gut vier Jahren standen wir schon einmal an dieser
Stelle und haben über das gleiche Thema diskutiert. Damals
ging es um die Umsetzung der Biopatentrichtlinie in natio-
nales Recht. Die Unionsfraktion, obwohl damals in der Op-
position, hat sich konstruktiv an den Gesetzesberatungen
beteiligt und letztlich auch dem ausgehandelten Kompro-
miss zugestimmt. Die Reichweite des Patentschutzes wurde
seinerzeit nicht etwa wegen des Engagements des grünen
Koalitionspartners eingegrenzt, sondern auf Initiative von
CDU und CSU. Dies geschah durch die Einschränkung des
Stoffschutzes, sodass der Schutzumfang des Patents nach

1) Anlage 7
der nun geltenden Bestimmung nur die konkrete Verwen-
dung umfasst, aber nicht absolut gilt.

Die damals von der rot-grünen Bundesregierung vorge-
schlagene Regelung hätte die Bestimmung der Reichweite
des Patentschutzes in die Hände der Gerichte gelegt. In
diesem sensiblen Bereich ist allerdings der Gesetzgeber
gefordert. Er kann derart fundamentale Entscheidungen
nicht an die Gerichte delegieren, sondern muss selbst
Position beziehen. Wenn wir der rot-grünen Bundesregie-
rung gefolgt wären, hätte dies zu Rechtsunsicherheit ge-
führt. Das konnte durch die Unionsfraktion verhindert
werden.

Was allerdings schon etwas merkwürdig anmutet, ist,
warum es nun der Oppositionsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen nicht schnell genug gehen kann mit einer
Überprüfung der rechtlichen Situation bei biotechnologi-
schen Erfindungen. Als sie noch in Regierungsverantwor-
tung standen, haben sie da etwas mehr Muße an den Tag
gelegt. Mitte 1998 ist die Richtlinie in Kraft getreten und
hätte bis Mitte 2000 von Deutschland umgesetzt werden
müssen. Erst Anfang 2005 haben sie es geschafft, die
Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht im Bundes-
gesetzblatt zu veröffentlichen. Eben noch auf dem Stand-
streifen und jetzt schon auf der Überholspur, das ist wenig
glaubwürdig.

Ich kann auch nicht erkennen, welcher besondere Anlass
nun in der konkreten Patenterteilungspraxis eingetreten
sein soll, der es rechtfertigen könnte, auf Ebene der Bundes-
regierung im europäischen Rechtsrahmen aktiv werden zu
müssen. Sie liefern nämlich selbst ein sehr gutes Beispiel
dafür, dass die Selbstreinigungskräfte des Europäischen
Patentübereinkommens sehr gut funktionieren.

Der US-Forscher James Thomson brachte in Zusam-
menarbeit mit der amerikanischen Universitätsstiftung
Wisconsin Alumni Research Foundation eine Patent-
anmeldung beim Europäischen Patentamt in München
ein. Gegenstand des Patentantrags war die künstliche
Herstellung von menschlichen embryonalen Stammzellen,
wodurch automatisch Embryonen vernichtet werden. Das
Europäische Patentamt nahm den Patentantrag schon im
Jahr 2004 nicht an, was den Antragsteller allerdings
nicht davon abhielt, in die nächste Instanz zu gehen, um
doch noch an das Patent zu gelangen. Die Sache wurde
an die Große Beschwerdekammer verwiesen, die Ende
letzten Jahres klarstellte: Ein derartiges Patent würde gegen
die öffentliche Ordnung und die guten Sitten verstoßen.
An Deutlichkeit lässt diese Entscheidung nichts zu wün-
schen übrig.

Es ist nicht ersichtlich, warum das Europäische Patent-
amt bei Tieren, Pflanzen und biologischen Züchtungsver-
fahren nicht die gleiche Sorgfalt an den Tag legen sollte
wie bei menschlichen Embryonen. Was im Moment der
Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patent-
amtes zur Entscheidung vorliegt, sind Patente zum Züch-
tungsverfahren von Brokkoli und Tomaten. Hier geht es um
die patentrechtlich entscheidende Abgrenzung: Haben wir
es hier mit einem im Wesentlichen biologischen Verfahren
zu tun – das wäre dann nicht mehr patentfähig –, oder
zeichnen sich die Verfahren durch technische Besonder-
heiten aus, die dann patentierbar wären?


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Günter Krings
Man sollte sich die Entscheidung der Großen Be-
schwerdekammer sehr genau anschauen, aber man sollte
sie nicht jetzt vorwegnehmen. Änderungen, die jetzt im
Vorfeld auf europäischer Ebene eingespeist werden, kön-
nen die Entscheidung ohnehin nicht mehr beeinflussen,
zumal auch gar nicht klar ist, wo der Hebel für eine Än-
derung im Patentrecht angesetzt werden müsste. Wenn
Lehren aus der Entscheidung der Großen Beschwerde-
kammer des Europäischen Patentamts zu ziehen sind,
dann ergibt es mehr Sinn, zunächst die Entscheidung ab-
zuwarten und sich anschließend, in Kenntnis der Ent-
scheidung, für eine Änderung der Biopatentrichtlinie ein-
zusetzen.

Wenn Sie in Ihrem Antrag als Kronzeugen für den Hand-
lungsbedarf den wissenschaftlichen Beirat beim Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Technologie zitieren, dann
ist das selbstverständlich nur die halbe Wahrheit. Denn in
dem Gutachten „Patentschutz und Innovation“ heißt es
auch:

Die Kriterien für die Erteilung von Patenten sollten
konsequent angewendet und bei Bedarf verschärft
werden. Patente sollten Innovationen unterstützen,
aber nicht Investitionen absichern. Die operative
Umsetzung dieser Aufgabe fällt den Patentämtern
zu, beispielsweise durch Erhöhung der Anforderun-
gen an den erfinderischen Schritt einer Erfindung.
Es ist hier nicht notwendig, den Gesetzgeber zu be-
mühen.

Der Patentierung menschlichen Lebens hat das Euro-
päische Patentamt klar widersprochen. Ich erwarte eine
ebenso klare Entscheidung bei den anhängigen Züch-
tungsverfahren. Zurzeit gibt es daher keinen Handlungs-
bedarf seitens des Gesetzgebers. Dem Bericht ist insofern
nichts hinzuzufügen, zumal er auch gar nicht konkret auf
biotechnologische Erfindungen eingeht und in diesem
Bereich spezielle Probleme erkennen lässt.

Ich plädiere dafür, die Entscheidung der Großen Be-
schwerdekammer des Europäischen Patentamts bezüglich
der biologischen Züchtungsverfahren abzuwarten. Geht
sie nicht nach unseren Vorstellungen aus, dann – in dem
Punkt haben die Grünen recht – gehört diese Debatte in
den Deutschen Bundestag. Wir sprechen heute also über
das richtige Thema zum falschen Zeitpunkt.


Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1620528700

Auf drei Bereiche wird es in der Zukunft ganz beson-

ders ankommen: auf die Wasserversorgung, auf die Ener-
gieversorgung und auf die Versorgung mit Nahrungsmit-
teln. Alle drei Bereiche sind für die Menschheit
existenziell. Insoweit ist es verständlich, dass diese Fel-
der seit längerer Zeit auch in den Fokus wirtschaftlicher
Interessen gerückt sind. Das gewerbliche Schutzrecht ist
dabei ein Hebel, diesen wirtschaftlichen Interessen ge-
recht zu werden.

Im Ernährungsbereich hat das Saatgut zentrale Be-
deutung. Hier bilden Sortenschutzrecht und Patentrecht
die Rechtsgrundlagen, die – das möchte ich an dieser
Stelle gleich betonen – nach meiner Auffassung in den
vergangenen 20 Jahren stets zugunsten der Wirtschaft er-
Zu Protokoll
weitert wurden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So
wurden die Forschungs- und Züchtungsmethoden kosten-
intensiver. Mit der Erweiterung der Schutzrechte sollte
der Wettbewerb und vor allem auch die mittelständische
Züchtungsindustrie gestärkt werden.

Ich will an dieser Stelle nicht die Frage vertiefen, ob
die Rechtsänderungen tatsächlich geeignet gewesen sind,
die Ziele zu erreichen. Ich möchte auch nicht der Frage
nachgehen, ob die Forschung gerade im Bereich der
Pflanzenwissenschaft in die richtige Richtung geht. Ich
möchte an dieser Stelle vor allem auf das Spannungsfeld
zwischen wirtschaftlichen Interessen und Interessen der
Allgemeinheit hinweisen. Gerade in den eingangs be-
schriebenen Bereichen ist es entscheidend, dass die Inte-
ressen der Allgemeinheit gewahrt werden.

Mit großer Sorge muss man deshalb die unterschiedli-
chen Verfahren vor dem Europäischen Patentamt be-
trachten, die sich zum Beispiel mit der Patentierung von
Zuchtverfahren normaler, konventioneller Schweineras-
sen beschäftigen oder mit der Patentierung von konven-
tionellen Pflanzenarten. Bislang konnte davon ausgegan-
gen werden, dass bei konventionellen Pflanzenarten
lediglich das Sortenschutzrecht und nicht das Patentrecht
Gültigkeit hat. Dabei muss berücksichtigt werden, dass
im Bereich des Sortenschutzes nur eine Pflanzensorte ge-
schützt werden kann. Dagegen eröffnet das Patentrecht
viel weitergehende Möglichkeiten. Insoweit wird auch die
grüne Gentechnik von Landwirten und Verbrauchern kri-
tisch beurteilt, da die gentechnische Veränderung – wenn
sie eine biotechnologische Erfindung darstellt – paten-
tierbar ist und das damit zusammenhängende Patent eine
Vielzahl von Pflanzensorten und Pflanzenarten betreffen
kann.

Ich kann Ihnen im Namen der SPD-Fraktion versi-
chern, dass auch wir die von Ihnen angesprochenen
Punkte sehr kritisch beobachten und die weiteren Bera-
tungen nutzen werden, um möglichst eine einheitliche Li-
nie mit den anderen Fraktionen des Bundestages zu ent-
wickeln. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass
die Biopatentrichtlinie bei uns nach langen Beratungsab-
läufen im Jahr 2005 umgesetzt worden ist und – wie die
Grünen in ihrem Antrag richtig hervorheben – im Rah-
men der rechtlichen Möglichkeiten Einschränkungen
vorgenommen worden sind. Zu betonen ist auch, dass die
Entscheidung des Europäischen Patentamts zu den em-
bryonalen Stammzellen aus dem Jahre 1998 zu begrüßen
ist und gleichzeitig offenbart, dass jede Novellierungsde-
batte auch all die Kräfte wieder auf den Plan rufen
könnte, die für eine Erweiterung der Biopatentierung ein-
treten. Auf der anderen Seite kann und darf der Gesetzge-
ber nicht schweigen, wenn sich Entwicklungen andeuten,
die dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht entspre-
chen.

Ich meine, dass der Gesetzgeber nicht immer auf
höchstrichterliche Entscheidungen warten sollte, wenn
sich im Laufe von rechtlichen Auseinandersetzungen an-
deutet, dass zumindest Zweifel an der Auslegung zentra-
ler Fragen bestehen. Vielmehr ist der Gesetzgeber dann
aufgerufen, seiner Aufgabe und Verantwortung gerecht
zu werden und für Klarstellungen zu sorgen. Das gilt



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Matthias Miersch
umso mehr, wenn zumindest zweifelhaft ist, ob die Kon-
trollmechanismen wirkungsvoll sind und denen einer un-
abhängigen richterlichen Kontrolle entsprechen.

Mir ist bewusst, dass die Bundesrepublik Deutschland
nur ein Staat des Europäischen Patentübereinkommens
ist, die Biopatentrichtlinie europäisches Recht darstellt
und es deshalb nicht allein auf die Bundesrepublik an-
kommt. Das darf jedoch nicht ein Argument dafür sein,
eine Entwicklung kommentarlos hinzunehmen, die derzeit
beim Europäischen Patentamt, das seinen Sitz in Mün-
chen hat, klar zu beobachten ist. Am 16. Juli 2008 wurde
am Europäischen Patentamt das Patent EP 1651777 auf
die Zucht normaler, konventioneller Schweine erteilt. Das
Patent beruht auf der Nutzung von natürlichen Gen-
varianten, die in allen Schweinerassen vorkommen. Ent-
sprechende Patente können sich auch auf Nachkommen
erstrecken und haben somit eine enorme Reichweite. Das
Patent reiht sich ein in die Kette weiterer Patentanmel-
dungen im Bereich der Tier- und Pflanzenzucht. Es droht
somit die Gefahr, dass das Patentrecht dazu verwendet
wird, globale Abhängigkeiten zu schaffen.

Das von mir beschriebene Spannungsfeld zwischen
wirtschaftlichen Interessen und den Interessen der Allge-
meinheit würde empfindlich gestört werden. Bereits die
anhängigen Verfahren beim Europäischen Patentamt do-
kumentieren die offenkundigen Auslegungsspielräume.
Sie zeigen, dass zumindest der Wille des nationalen Ge-
setzgebers, biologische Verfahren vom Patentrecht aus-
zuschließen und Pflanzensorten sowie Tierrassen nicht
patentieren zu können, infrage gestellt wird und es insbe-
sondere bei der Abgrenzung zwischen nicht patentierba-
ren biologischen Verfahren wie Züchtungen einerseits
und patentierbaren biotechnologischen Erfindungen an-
dererseits erhebliche Rechtsunsicherheit gibt. Wir sollten
nicht warten, bis die letztinstanzlichen Entscheidungen
des Europäischen Patentamtes vorliegen, sondern bereits
jetzt klar zum Ausdruck bringen, wo wir eine deutliche
Fehlentwicklung sehen. Es geht hier um elementare ethi-
sche und rechtliche Grundfragen.

Schließlich sollten wir die Beratungen auch nutzen,
um institutionelle Fragen der Patentämter zu klären. So
besteht nach meiner Einschätzung Bedarf, den Aspekt der
Finanzierung der Patentämter – gerade auch des Euro-
päischen Patentamtes – und die Möglichkeit der richter-
lichen Überprüfung letztinstanzlicher Entscheidungen
näher anzuschauen.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1620528800

Die Biopatentrichtlinie hat sich laut Urteil derer, die

sie anwenden, weitgehend bewährt. Vor diesem Hinter-
grund und auch im Rückblick auf die fast zehnjährige
konstruktive Diskussion über die Biopatentrichtlinie und
deren Bestätigung durch den EUGH ist ihre Änderung
zurzeit sachlich nicht geboten. Es gibt keinen unmittelba-
ren Handlungsbedarf.

2002 stellte die Kommission fest: ,,… es ist dem euro-
päischen Gesetzgeber gelungen, eine praktikable Rege-
lung zu schaffen, welche die in der Europäischen Ge-
meinschaft anerkannten ethischen Grundprinzipien
berücksichtigt.“ Die Grünen wollen mit ihrem Antrag die
Zu Protokoll
Wiederaufnahme der polarisierten Diskussion über Bio-
patente erreichen und daraus für sich einen Nutzen zie-
hen. Ihr Handeln richtet sich gegen die Interessen des
Wissenschaftsstandortes Deutschland. Der Bericht der
EU-Kommission 2002 weist aus, dass über 25 Prozent
der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt
aus Deutschland kommen.

Es gibt kein Patent auf Leben, auch wenn mit dieser
griffigen Formel häufig gegen Biopatente emotionalisiert
wird. Es gibt die Möglichkeit, Pflanzen und Tiere unter
bestimmten in der Richtlinie festgelegten Voraussetzun-
gen patentieren zu lassen. Die Krebsmaus ist dafür ein
ganz bekanntes Beispiel, eine Maus, die in der Erfor-
schung neuer Möglichkeiten zur Heilung von Krebs eine
große Bedeutung hat.

Biopatente sind eine besondere Form des Schutzes
geistigen Eigentums für Erfindungen. Es ist völlig unbe-
stritten, dass Autoren das Recht der wirtschaftlichen Ver-
wertung ihrer schriftstellerischen Arbeit haben. Genauso
unbestritten sollte sein, dass Erfinder das Recht haben,
wirtschaftlichen Nutzen aus ihrem Patent zu ziehen. Pa-
tente haben zwei Funktionen: Sie schützen das Recht des
Erfinders auf wirtschaftliche Verwertung. Gleichzeitig
sind sie auch eine Veröffentlichung der Erfindung. Der
Erfinder bezahlt durch die Veröffentlichung seiner Erfin-
dung für deren Schutz. Dieser Schutz ist zeitlich begrenzt.

Jeder weiß, dass das Rezept für Coca-Cola nicht pa-
tentiert und auch nicht öffentlich zugänglich, also geheim
ist. Eine Patentierung hätte zur Veröffentlichung geführt,
und jeder hätte das Rezept nach Ablauf von 20 Jahren
nutzen können. Aber Coca-Cola gibt es seit 1886.

Die Pflicht zur Veröffentlichung zusammen mit dem
Forschungsprivileg ermöglichen den Informationsaus-
tausch über Erfindungen, ohne deren kommerzielle An-
wendung zu gefährden. Das ist eine wesentliche Funktion
von Patenten. Voraussetzung für die Erteilung eines Pa-
tents sind die Kriterien der Neuheit der Erfindung; nur
Erfindungen, nicht aber Entdeckungen werden patentiert.
Die Biopatentrichtlinie bestimmt eindeutig, dass Pflan-
zensorten und Tierrassen nicht patentierbar sind. Verfah-
ren zum Klonen von Menschen sind ebenfalls nicht paten-
tierbar, ebenso wenig totipotente Stammzellen. Gegen die
Erteilung eines Patents kann Einspruch erhoben werden.
Dies ist vielfach erfolgreich geschehen.

Es ist zu beobachten, dass Unternehmen versuchen,
sehr weitreichende Patentansprüche mit dem Patentrecht
durchzusetzen. Es ist verständlich, dass dies zu Unmut
führt. Dennoch ist eine stärkere gesetzliche Vorgabe ab-
zulehnen. Die Vorstellung, dass im Gesetz jede Einzelheit,
die jetzt von Bedeutung ist und die zukünftig von Bedeu-
tung sein wird, festgelegt werden kann, ist absurd. Ge-
richte brauchen Ermessensspielräume für ihre Entschei-
dungen, um mit ihren Urteilen jedem Einzelfall gerecht
werden zu können. Die Alternative wäre ein unüber-
schaubares Gesetz, das niemandem helfen würde.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1620528900

Was haben Brokkoli, Schweine und Sonnenblumen ge-

meinsam? Man kann sie, wenn Mensch will, essen. Und



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Kirsten Tackmann
weil Essen existenziell ist, wäre die Kontrolle über das,
was wir essen, eine Schlüsselposition. Wer Essen oder
den Zugang zu Essen kontrolliert, hat so unglaubliche
Macht – bis zur Erpressbarkeit derer, die essen.

Was hat das mit dem vorliegenden Antrag der Grünen
zu tun? Die wahrscheinlich beste Möglichkeit, mit Nah-
rungsmitteln für die Menschheit Geld zu verdienen, ist die
Patentierung von Genen. Wer so ein Patent besitzt, kann
theoretisch jedes Mal mitverdienen, wenn Sie in Ihr Bröt-
chen beißen. Eigentlich ist das in Europa verboten, aber
eben nur eigentlich. Das Europäische Patentamt, EPA,
umgeht das Verbot regelmäßig, in letzter Zeit immer
häufiger – leider. Wenn ein Erzeugnis, eine Pflanzensorte
oder Tierart, nicht patentierbar ist, dann wird das Her-
stellungsverfahren oder eine Verwendung des Erzeugnis-
ses zum Patent angemeldet. Die negative Wirkung bleibt
die gleiche: Das Schwein in meinem Stall gehört nicht
mehr mir.

Das EPA nutzt dabei Spielräume in der zu löchrig for-
mulierten EU-Biopatentrichtlinie. Herstellungsverfahren
wie zum Beispiel Selektionsverfahren sind so ein Schlupf-
loch. Diese Schlupflöcher sind aber kein Zufall, sondern
absichtlich eingebaut. So dürfen beispielsweise keine Pa-
tente auf „im Wesentlichen“ biologische Verfahren zur
Züchtung von Pflanzen und Tieren erteilt werden. Die bei-
den Worte „im Wesentlichen“ sind doch genau deshalb in
diesem Satz, damit Ausnahmen möglich sind.

Die aktuelle Situation, in welcher multinationale Ag-
rar- und Saatgutkonzerne auf die Grundlagen unserer Er-
nährung zugreifen können, ist und bleibt schlicht nicht
hinnehmbar. Bis vor kurzem galt der freie Zugang zu ge-
netischen Ressourcen als Grundrecht und Grundvoraus-
setzung für die Züchtung. Ja, wir brauchen auch eine
freie, uneingeschränkte Arbeit von Forschung und Ent-
wicklung. Auch dafür muss das Biopatentrecht wieder
vom Kopf auf die Füße gestellt werden, statt die allein
profitorientierte Ausbeutung und Blockade menschlichen
Wissens auch noch zu protegieren. Zumindest in Berei-
chen des öffentlichen Interesses muss der alleinige oder
zu bezahlende Wissenszugriff auf Ausnahmen beschränkt
oder noch besser unterbunden werden.

Für die Linke gilt dabei weiterhin der Grundsatz: Kein
Patent auf Leben. Wir wollen weder ein Recht, Gene zu
patentieren, noch ein Patentrecht auf eine besondere
Eigenschaft eines Gens. Gene sind keine Erfindungen,
sondern Ergebnis der Evolution. Sie können gesucht, un-
tersucht, bewundert und verwendet, aber sie dürfen nicht
in privaten Besitz genommen werden. Allenfalls sind sie
der Besitz der Völker, mit dem sie im Interesse nachfol-
gender Generationen umgehen müssen. Eine Privatisie-
rung oder Ausbeutung von gesamtgesellschaftlichen, na-
türlichen Ressourcen im alleinigen privaten Interesse ist
nicht zu akzeptieren.

Die Patentierung von Pflanzen, Tieren und deren Ge-
nen hat das Potenzial, im Bereich der allgemeinen Le-
bensgrundlagen weitreichende Monopole zu schaffen.
Profitabel ist der technologische Eingriff, während es im
kapitalistischen Wirtschaftssystem für den Erhalt der Ar-
tenvielfalt und das kollektive Wissen von Landwirtschaft
und Pflanzenzüchtung keine vergleichbaren ökonomi-
Zu Protokoll
schen Anreize gibt, weshalb ihr Schutz oft hinter andere
Verwertungsinteressen gestellt wird. Das ist letztlich in-
novations- und forschungsfeindlich und muss durch poli-
tische Entscheidungen verhindert werden.

Die Landwirtschaft muss sich weiterhin auf frei zu-
gängliche genetische Ressourcen stützen können. Dafür
brauchen wir gesamtgesellschaftliches Wissen über die
Genome unserer Kulturpflanzen und Nutztierrassen. Pa-
tente auf das Wissen über dieses Leben schränken dage-
gen den Zugang ein. Das ist mit der Linken nicht zu ma-
chen.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1620529000

Die zahlreichen Streitfälle um Biopatente, die vom

Europäischen Patentamt in den letzten Jahren erteilt
wurden, zeigen die eklatanten Mängel der EU-Biopatent-
Richtlinie immer deutlicher. Es geht dabei nicht nur um
gentechnisch veränderte Pflanzen oder Tiere, sondern
aktuell besonders um biologische Züchtungsverfahren.
Art. 4 der Biopatent-Richtlinie 98/44/EG besagt in
Abs. 1: Nicht patentierbar sind a) Pflanzensorten und
Tierrassen, b) im Wesentlichen biologische Verfahren zur
Züchtung von Pflanzen oder Tieren.

Im Widerspruch dazu besagt Art. 4 Abs. 2s: Erfindun-
gen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, können
patentiert werden, wenn die Ausführungen der Erfindung
technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder
Tierrasse beschränkt ist. Und Art. 2 Abs. 2: Ein Verfahren
zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren ist im Wesentli-
chen biologisch, wenn es vollständig auf natürlichen
Phänomenen wie Kreuzung oder Selektion beruht.

Das Europäische Patentamt hat in industriefreundli-
cher Auslegung dieser widersprüchlichen EU-Richtlinie
in den letzten Jahren daher Patente auf Tiere und Pflan-
zen erteilt. Dies entspricht einer Interpretation der Richt-
linie, wonach Orangen nicht patentiert werden können,
Südfrüchte aber schon. Bis 2005 wurden in Europa
850 Patente auf Pflanzen und Tiere erteilt. Aktuelle Fälle
betreffen Brokkoli (Firma Bioscience), Schweine – ur-
sprünglich von Monsanto angemeldet, derweil im Besitz
des US-Unternehmens Newsham Choice Genetics – und
Kühe (neuseeländische und belgische Forscher). Dage-
gen laufen zahlreiche Organisationen, Umweltverbände
Saatzuchtunternehmen und Bauernverbände – auch der
deutsche Bauernverband – Sturm. Lediglich das ehren-
amtliche Engagement einer kritischen Öffentlichkeit
führt so derzeit dazu, dass die Vergabe von Biopatenten
gelegentlich vom EPA nachträglich eingeschränkt wird,
wie kürzlich im Fall der Embryonen. Doch trotz aller
Proteste zeigt die EU-Kommission keinerlei Bereitschaft,
die EU-Biopatent-Richtlinie zu korrigieren. Die Bundes-
regierung sieht der katastrophalen Entwicklung tatenlos
zu. Mit der heutigen Praxis der Patentierung werden
Züchtung und Innovation eingeschränkt und die Land-
wirtschaft somit ihrer Produktionsgrundlagen beraubt.

Die Abhängigkeit der Landwirtschaft wie auch der
kleinen und mittelständischen Züchtungsunternehmen
steigt angesichts der hohen Lizenzgebühren und Eigen-
tumsrechte der Agro-Konzerne dramatisch. Wenn Pa-
tente, wie das auf den Brokkoli, die gesamte Produktions-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Höfken

kette von der normalen Zucht bis hin zum Lebensmittel
umfassen, führt das zu einer regelrechten Übernahme der
Kette der Lebensmittelproduktion durch die Patentinha-
ber. Diese versuchen so, den industriellen Mehrwert für
sich zu reklamieren.

„Das Patentrecht wird zu einer Krake, die Pflanzen
und Tiere als Grundlagen der Welternährung umschlingt
und der Kontrolle von Konzernen unterwirft“, sagt der

als privatwirtschaftliches Kontrollinstrument stellt eine
entscheidende Bedrohung der biologischen Vielfalt dar;
deren Schutz und Förderung die Bundesregierung sich
noch im letzten Jahr als Gastgeberland der Vertragsstaa-
tenkonferenz des Übereinkommens über die biologische
Vielfalt (CBD) vollmundig auf die Fahnen schrieb.

Das Europäische Patentamt erteilt seine Patente weit-
gehend auf Basis der widersprüchlichen EU-Biopatent-
Gentechnikspezialist Christoph Then. Die Bekämpfung
des Welthungerproblems wird vollständig ad absurdum
geführt, wenn Saatgut, das heute noch zu 80 Prozent frei
getauscht wird, mit teuren Besitzansprüchen von Privat-
konzernen belegt ist. Dies bedeutet eine akute Bedrohung
der Ernährungssicherheit und ein Scheitern der
Milleniumsziele. Angesichts der wachsenden Bedeutung
des Weltmarktes bei Nahrungsmitteln versuchen die
Agro-Konzerne, die Ur- und Lebensmittelproduktion zu
monopolisieren.

Auch die Terminator-Technologie, bei der das Erbgut
von Pflanzen so verändert wird, dass sie unfruchtbar wer-
den, zielt in diese Richtung. Dadurch wird verhindert,
dass ein Teil der Ernte für die Aussaat im nächsten Jahr
wieder verwendet werden kann. Die Technologie ist we-
gen der Auskreuzungsgefahr von der Konvention über
biologische Vielfalt (CBD) geächtet worden. Sogar der
Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie warnt in einer Stellungnahme
vom März 2007, dass die heutige Patentierungspraxis ne-
gative Auswirkungen auf Wirtschaft und Entwicklung ha-
ben kann. Er schreibt – ich zitiere –: „Eine Rückbesin-
nung auf hohe Qualitätsstandards bei Recherche und
Prüfung in den Patentämtern ist daher dringend zu for-
dern – höhere Anforderungen an die Patentierbarkeit
würden die Zahl marginaler Patente […], die auf einem
geringen erfinderischen Schritt beruhen – verringern, die
Komplexität des Patentdickichts reduzieren und die Nut-
zung solcher Patente für strategische Zwecke einschrän-
ken.“

Auch die englische „Commission on Intellectual Pro-
perty Rights“ – Komission für geistige Eigentumsrechte –
empfiehlt ausdrücklich, dass zumindest Entwicklungslän-
der Patente auf Saatgut und Pflanzen komplett verbieten
sollten.

Nicht Entdeckungen sollen im Patentrecht belohnt
werden, sondern ausschließlich Erfindungen mit konkre-
ter Anwendung und darauf beschränktem Geltungsbe-
reich.

Nutztiere und Nutzpflanzen sind ein gemeinsames kul-
turelles Erbe der Menschheit, das in jahrhundertealter
Arbeit entstand. Sie sind kein Privatbesitz weniger Unter-
nehmen und sollen es auch nicht werden. Unfruchtbarkeit
Richtlinie, die in der Praxis zu inakzeptablen Patentie-
rungen führt.

Wir fordern:

Das Biopatentrecht muss verbessert werden. Die Bun-
desregierung muss umgehend die Initiative auf EU-Ebene
ergreifen, um die EU-Biopatent-Richtlinie zu reformie-
ren. Patente auf Pflanzen und Tiere sowie biologische
Züchtungsverfahren dürfen nicht erteilt werden.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1620529100

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11604 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist allerdings
die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz.

Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das heißt Feder-
führung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Der
Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, das heißt Feder-
führung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? –
Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen;
das heißt, die Federführung liegt beim Rechtsausschuss.

Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ih-
nen, dass Sie der Debatte so lange beigewohnt und sie
aktiv gestaltet haben.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2009,
9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.