Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich.Vor Aufruf der Tagesordnung habe ich einige Mittei-lungen zu machen. Zunächst gibt es einige Geburtstagezu würdigen: Der Kollege Ortwin Runde feiert heuteseinen 65. Geburtstag. Dazu möchte ich ihm die Glück-wünsche des ganzen Hauses übermitteln.
Bereits am vergangenen Freitag haben die Kollegin Ka-rin Roth und der Kollege Dr. Michael Fuchs ihre60. Geburtstage begangen. Auch dazu die Glückwün-sche des ganzen Hauses!
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der KollegeDr. Rainer Wend aus dem Beirat der Bundesnetzagen-tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Postund Eisenbahnen austritt. Als Nachfolgerin wird dieKollegin Ute Berg vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-Redeverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Kollegin Berg in den Beirat der Bundesnetzagenturgewählt.Der Kollege Arnold Vaatz hat sein Amt als stellver-tretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zurAufarbeitung der SED-Diktatur niedergelegt. AlsNachfolgerin schlägt die Fraktion der CDU/CSU dieKollegin Maria Michalk vor. Darf ich auch dazu Ein-vernehmen feststellen? – Das ist offenkundig der Fall.Dann ist die Kollegin Maria Michalk hiermit zum stell-vertretenden Mitglied des Stiftungsrates gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpugeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen dBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:tzungen 12. Februar 2009.01 UhrFührungsverantwortung der Bundeskanzle-rin in Zeiten der Wirtschaftskrise
ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Wirt-schaft und TechnologieZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEDatenschutz für Beschäftigte stärken– Drucksache 16/11376 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariontextSeib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUsowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase,Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDFörderung des wissenschaftlichen Nachwuch-ses ausbauen– Drucksache 16/11883 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Innenausschussusschussss für Wirtschaft und Technologiess für Arbeit und Sozialesss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionnktliste auf-er FraktionFinanzaAusschuAusschuAusschuAusschuHaushaltsausschuss
Metadaten/Kopzeile:
22088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammertc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBarth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPEntwicklungschancen für den wissenschaftli-chen Nachwuchs schaffen– Drucksache 16/11880 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Acker-mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPFaires Nachversicherungsangebot zur Verein-heitlichung des Rentenrechts in Ost und West– Drucksache 16/11236 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialesZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Ausspra-che
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steen-block, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Arbeitszeitrichtlinie – HohenArbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen– Drucksachen 16/11758, 16/11894 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael HennrichZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Trittin, Kerstin Müller , Winfried Nacht-wei, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKontraproduktive US-Operationen in Pakis-tan sofort einstellen – Umfassende Strategiezur Stabilisierung Pakistans entwickeln– Drucksachen 16/10333, 16/11251 –Berichterstattung:Abgeordnete Holger HaibachGert Weisskirchen
Dr. Werner HoyerWolfgang GehrckeMarieluise Beck
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten WernerDreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEDividenden streichen – Gewinne in Arbeits-plätze investieren– Drucksache 16/11877 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Der bisher mit Aussprache vorgesehene Tagesord-nungspunkt 24 – dabei geht es um die WesteuropäischeUnion – soll bei den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufenwerden.Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 200. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-fachung und Modernisierung des Patentrechts– Drucksache 16/11339 –überwiesen:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungSind Sie auch damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist das so beschlossen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:Eidesleistung des Bundesministers für Wirt-schaft und TechnologieEs handelt sich dabei um Herrn Dr. Karl-TheodorFreiherr zu Guttenberg. Dass er wesentlich mehr Vorna-men hat, als ich vorgetragen habe, ist inzwischen allge-mein bekannt,
wenn auch nicht ganz so viele, wie gelegentlich in Le-xika zu lesen war. Wir setzen das für die Eidesleistungals bekannt voraus.
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom10. Februar 2009 Folgendes mitgeteilt:Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für dieBundesrepublik Deutschland habe ich heute aufVorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundes-minister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Mi-chael Glos, auf seinen Antrag aus seinem Amt alsBundesminister entlassen und Herrn Dr. Karl-Theo-dor Freiherr zu Guttenberg, MdB, zum Bundesmi-nister für Wirtschaft und Technologie ernannt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22089
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert LammertNach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet einBundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56vorgesehenen Eid.Herr Kollege Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg, ichdarf Sie nun zur Eidesleistung zu mir bitten.Ich darf Sie bitten, den im Grundgesetz vorgesehenenEid zu sprechen.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-desminister für Wirtschaft und Technologie:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetzedes Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermannüben werde. So wahr mir Gott helfe.
Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie den vomGrundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet haben, darfich Ihnen auch im Namen all derjenigen Mitglieder desDeutschen Bundestages, die Ihnen noch nicht persönlichdie Hand schütteln konnten, ganz herzlich zur Über-nahme dieses Amtes gratulieren,
Freude an der Aufgabe wünschen und Gottes Segen fürdie Wahrnehmung dieses Amtes.Zugleich möchte ich dem ausgeschiedenen Bundes-minister Michael Glos für seine Tätigkeit als Mitgliedder Bundesregierung danken.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 bauf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Aufstiegsfortbil-dungsförderungsgesetzes– Drucksache 16/10996 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
– Drucksache 16/11904 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerDr. Ernst Dieter RossmannPatrick MeinhardtVolker Schneider
Priska Hinz
– Drucksache 16/11905 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus-Peter WillschKlaus HagemannUlrike FlachMichael LeutertAnna Lührmannb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten VolkerSchneider , Dr. Lothar Bisky,Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEVerlässliche Bildungsförderung für Erwach-sene noch in dieser Legislatur auf den Wegbringen– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Kai Gehring, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFörderung des lebenslangen Lernens unver-züglich entscheidend voranbringen– Drucksachen 16/11374, 16/11202, 16/11904 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerDr. Ernst Dieter RossmannPatrick MeinhardtVolker Schneider
Priska Hinz
Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfs liegt einEntschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Herr Wirtschaftsminister, darf ich einen Verfahrens-vorschlag machen? Wenn Sie sich am Ende des Gangesaufbauen würden, könnten Sie die Gratulationscour derausziehenden Kollegen ohne Störung der weiteren Bera-tungen abnehmen. Diejenigen, die an der Beratung die-ses Tagesordnungspunktes beteiligt sind, könnten sichdann den damit verbundenen Themen widmen.Das Wort erhält zunächst die Frau BundesministerinAnnette Schavan.
Metadaten/Kopzeile:
22090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Zur Qualifizierungsinitiativeder Bundesregierung gehören Impulse für eine konzep-tionelle Weiterentwicklung von Bildung und Qualifizie-rung und Anreize für Weiterqualifizierung, also Anreizedafür, Bildungschancen und Qualifizierungschancenwahrzunehmen.Wir haben dies im Hohen Hause auch deshalb beratenund beschlossen, weil wir davon überzeugt sind, dassdas Thema Fachkräftebedarf in den nächsten Jahrennoch stärker als in den vergangenen Jahren auf der Ta-gesordnung stehen wird. Wir beschäftigen uns also nichtallein mit der Sicherung von Beschäftigung, sondern im-mer stärker auch mit der Frage, wie es uns gelingt, amHochtechnologiestandort Deutschland genügend hoch-qualifizierte Fachkräfte zu haben.Erste wichtige Schritte sind erfolgt. Dazu gehört zumBeispiel, dass wir im Jahre 2008 mit rund 616 000 Aus-bildungsverträgen ein Niveau des Ausbildungsumfangswie seit langem nicht mehr erreicht haben. Diesen jun-gen Menschen wird mit ihrer qualifizierten Ausbildungeine Chance auf weitere Berufs- und Lebensperspekti-ven gegeben. Eine qualifizierte Ausbildung ist die Vo-raussetzung für den Aufstieg durch Bildung.Bund und Länder haben in Dresden ihren Willen zumAusdruck gebracht, jeden zu unterstützen, der lernenwill. Diese Vereinbarung von Dresden setzen Bund undLänder im AFBG, also mit dem sogenannten Meister-BAföG, jetzt konkret um. Die Förderung wird vom Bundund den Ländern gemeinsam verantwortet und finan-ziert.An zahlreichen Stellen sind in den letzten Wochenund Monaten sowohl die Erfahrungen der Länder alsauch die Anregungen der Wirtschaftsverbände undSozialpartner in die Beratungen über die Novelle einge-flossen. Auch die Experten haben sich in der Anhörungam 26. Januar 2009 positiv zu dem Gesetzentwurf undden Veränderungen geäußert.Die Koalitionsfraktionen – dafür möchte ich aus-drücklich danken – haben in einer sehr vertrauensvollenund konstruktiven Weise und vor allen Dingen sehrschnell zu einer Verständigung gefunden. Ich freue michauch, dass es in der Opposition in den letzten Tagenpositive Stellungnahmen hierzu gegeben hat.
– Jawohl, Frau Pieper, ich weiß, woher sie kommen. Ichhabe in der Opposition aber auch noch um weitere Zu-stimmung geworben.Mit dem Meister-BAföG stärken wir das lebensbe-gleitende Lernen, das – davon sind wir alle überzeugt –immer bedeutsamer werden wird, und zwar nicht nur,wie es durch den Namen suggeriert wird, im Handwerk,sondern in allen Berufsbereichen. Das ist ein entschei-dender Punkt der Weiterentwicklung des Gesetzent-wurfs.
Wir motivieren Berufstätige, sich beruflich weiterzu-entwickeln und fortzubilden. Dabei stehen die Ab-schlüsse nach dem Berufsbildungsgesetz und der Hand-werksordnung im Vordergrund des Gesetzentwurfs. Wirübernehmen mit der Förderung von Abschlüssen im so-zialen Bereich auch eine sozialpolitische Verantwor-tung. Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsensdarüber, dass zum Beispiel die frühkindliche Bildungund Erziehung verbessert werden muss.Deshalb ist es wichtig gewesen – dies ist ein ganzdeutliches Signal an diese Berufsgruppe –, jetzt auch dieAufstiegsfortbildungen der Erzieherinnen und Erzieherebenso wie die Aufstiegsfortbildungen in den Pflegebe-rufen zu fördern. Wir wissen, dass die Attraktivität die-ser beiden Berufe darunter leidet, dass es weder Auf-stiegschancen noch lebenslange Berufsbiografien gibt.Eine Erzieherin scheidet in der Regel nach acht Berufs-jahren aus dem Beruf aus. Das ist ein wichtiger Schrittzur Modernisierung der Aufstiegsqualifikation für Er-zieherinnen und Erzieher und für die Pflegeberufe.
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt ganz deutlichauf, dass es nach der Ausbildung weitergeht. Wir unter-stützen die berufliche Weiterbildung. Mit dem neuenDarlehensteilerlass bei Bestehen der Prüfung geben wirdas Signal, dass sich Leistung lohnt. Wir fördern dieMotivation, eine Fortbildung zu beginnen und erfolg-reich zum Abschluss zu bringen. Damit wird eine Vo-raussetzung für die weitere Entwicklung der Berufsbio-grafie geschaffen.Mit dem Meister-BAföG wird die zukünftige mittlereFührungsebene in den Betrieben gefördert. Meister,Techniker und Fachwirte leisten einen wesentlichen Bei-trag zur Entwicklung von Innovationen in den Unterneh-men. Sie erarbeiten Produkte und Dienstleistungen undgestalten diese kundengerecht. In der Regel nehmen sieSchlüsselfunktionen bei der Sicherung der Wettbewerbs-fähigkeit der Betriebe wahr.Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Weiterentwick-lung dieses Gesetzes sind die besseren Perspektiven fürFachkräfte mit Migrationshintergrund. Dies ist einbesonderer Beitrag zur Förderung der Integration vonAusländern. Wir wissen, dass sich nach wie vor geradediese Gruppe nur in sehr geringem Umfang an Weiterbil-dungsmaßnahmen beteiligt. Erst kürzlich hat eine Studiedes Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklunggezeigt, dass gerade in dieser Bevölkerungsgruppe nochein großes Potenzial steckt.Zugleich sollen diejenigen, die nach der Fortbildungeine Existenz gründen, Auszubildende einstellen, Ar-beitsplätze schaffen und in diesem Kontext weitere fi-nanzielle Vergünstigungen erhalten.Meine Damen und Herren, wir haben das AFBG breitaufgestellt. Die Förderung beruflich Qualifizierter – da-von bin ich überzeugt – darf nicht hinter der von Schü-lern und Studenten zurückstehen. Dies ist ein Prüfstein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22091
(C)
(D)
Bundesministerin Dr. Annette Schavanfür die Frage, ob wir es mit der Gleichwertigkeit vonberuflicher und allgemeiner Bildung ernst nehmen.
Deshalb folgt nach der Modernisierung und Weiter-entwicklung des BAföG nun die Modernisierung undWeiterentwicklung des Meister-BAföG. Damit sollen fürneue Berufsgruppen neue Anreize, mehr finanzielleLeistungen und eine höhere Akzeptanz im öffentlichenBildungssystem geschaffen werden. Außerdem solldeutlich gemacht werden, dass wir längst an lebenslan-gen Bildungsbiografien arbeiten. Das sind die Vorausset-zungen dafür, den künftigen Fachkräftebedarf inDeutschland zu decken.Mit den vorgesehenen Leistungsverbesserungen vonzusätzlich 272 Millionen Euro in den nächsten vier Jah-ren werden Bund und Länder spürbare Anreize für dieTeilnehmerinnen und Teilnehmer an beruflichen Auf-stiegsfortbildungen schaffen. Ich appelliere an dieserStelle ausdrücklich an die Länder, im Interesse der Fort-bildungswilligen im Bundesrat den Weg freizumachenfür diese Verbesserungen. Wir brauchen bis zum Endeden Schulterschluss.
Meine Damen und Herren, ich muss es nicht wirklichbetonen: In den nächsten Jahren werden uns in vielenBereichen von der frühkindlichen Bildung bis zum le-bensbegleitenden Lernen die Fragen beschäftigen: Wiekommen wir zu besserer Bildung? Wie kommen wir zumehr Qualifikation? Wie kommen wir zu einer höherenBeteiligung an Weiterbildung?Was wir heute beraten und beschließen, ist ein guternächster Schritt, es ist ein Meilenstein in der Akzeptanzund der hohen Bewertung der beruflichen Bildung inDeutschland. Damit wird Aufstieg durch Bildung nochbesser möglich.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Verehrte Frau Ministerin, Politik – geradeBildungspolitik – darf nicht nach der Abgrenzungsscha-blone „Hier Opposition, dort Regierung“ erfolgen.
Wenn wir ins Detail gehen und das Aufstiegsfortbil-dungsförderungsgesetz Punkt für Punkt genauer durch-gehen, dann werden wir darin sicherlich eine ganzeReihe von Einzelmaßnahmen finden, die uns Liberalennicht weit genug gehen. Wir würden auch sehr schnellfeststellen, wo jeweils der CDU/CSU und der SPD ihreHandschrift zu undeutlich erscheint.Wir als Liberale haben deswegen einen eigenen Ent-schließungsantrag vorgelegt. Das ändert aber nichts da-ran, dass dieser Gesetzentwurf genau in die richtigeRichtung geht. Das Meister-BAföG wird auf wichtigeZielgruppen ausgedehnt. Dabei geht es nicht um Opposi-tion oder Regierung, sondern es ist eine Frage der richti-gen Zukunftspolitik dieses Parlamentes. Deswegenstimmt die FDP-Bundestagsfraktion zu.
Wir stimmen auch deswegen zu, weil die Berufsgrup-pen der Altenpflegerinnen und Altenpfleger und Erzie-herinnen und Erzieher diese Chance auf Fortbildungbrauchen. Die höchste Verantwortung in dieser Gesell-schaft tragen zum einen die Menschen, die sich um dieEntwicklung der Kinder von Anfang an kümmern, ihreTalente unterstützen und fördern sollen und mit Sprach-standserhebungen und der persönlichen Förderung jedeseinzelnen Kindes eine herausragende Aufgabe wahrneh-men, und zum anderen selbstverständlich auch diejeni-gen, die den letzten Abschnitt des Lebens fürsorglichund mit viel Liebe begleiten.Beide Berufe sind aus unserer Gesellschaft nicht weg-zudenken. Beide Berufe verdienen nicht das, was sie ge-sellschaftlich verdienen sollten.
Auch deswegen ist heute für diese so wichtigen, zentra-len Berufe ein guter Tag, wenn auch für sie das Meister-BAföG geöffnet wird. Denn damit wird ihre Arbeit stär-ker gewürdigt und ihnen die Möglichkeit zur aktivenWeiterbildung gegeben. Das ist ein wichtiger Schritt zumehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland.Aus unserem Entschließungsantrag darf ich zweiPunkte herausgreifen, die uns wichtig sind. Erstens. Wirsollten uns in der Frage des Meister-BAföG nicht so sehrauf die Frage der starren Förderung für Kurse ab400 Stunden Unterricht orientieren. Solche starren Rege-lungen bringen in der Bildungsdebatte nichts. Viel wich-tiger ist es, Qualitätskriterien zu schaffen. Auch für ei-nen freien Träger, der einen Kurs mit 380 Stunden in dergleichen Qualität anbietet, sollte die Förderung gelten.Wir brauchen mehr Flexibilität. Qualität muss beimMeister-BAföG vor Quantität stehen.
Wir brauchen Systeme des intelligenten Bildungsspa-rens. Notwendig ist auch die Stärkung der bestehendenMaßnahmen wie die nach dem AFBG. Aber wir sagenals Liberale ganz klar: Wir brauchen kein neues Mam-mutgesetz für die Erwachsenenbildung in der Bundesre-publik Deutschland. Wir brauchen kein Gesetz, das vonder Wiege bis zur Bahre alles allumfassend in seinen en-gen Rahmen hineinpressen will. Wir brauchen keinneues Bürokratiemonster, das in den Anhörungen nurvon Gewerkschaftsvertretern gewünscht wurde, sonderneine gute und offensive Weiterbildungspolitik. Deswe-gen positionieren wir uns an dieser Stelle klar: Wir wol-
Metadaten/Kopzeile:
22092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(D)
Patrick Meinhardtlen kein neues Gesetzeswerk. Wir wollen kein neues Bü-rokratiemonster.
Ich glaube, wir werden heute insoweit ein gutes Zei-chen setzen. Wir brauchen ein großes Paket für den Auf-bruch in der Weiterbildung. Davon sind wir noch vieleSchritte entfernt. Notwendig ist auch eine Stärkung derWeiterbildungsfinanzierung, aber nicht in Form einerWeiterbildungsprämie von 154 Euro als Kernstück ei-ner Offensive in der Weiterbildung, wie Sie es sich sei-tens der Regierungsfraktionen vorstellen. Eine Weiter-bildungsprämie in Höhe von 154 Euro pro Person undJahr wird nie den qualitativen Aufbruch in der Weiterbil-dung bringen, den wir in der Bundesrepublik Deutsch-land brauchen. Wir Liberale wollen nicht, dass die Sta-tistik verbessert wird, sondern wir wollen, dass dieWeiterbildungsqualität in der Bundesrepublik Deutsch-land verbessert wird.
Umso wichtiger ist es, dass die Gesamtkonzeption derWeiterbildung vorangebracht wird. Hier brauchen wirmehr Anstrengungen und mehr Initiativen. Zum Schlussmeiner Rede darf ich Bundespräsident Horst Köhler zumThema Weiterbildung zitieren:Wie also schaffen wir es, in einer alternden Gesell-schaft die richtigen Anreize für Weiterbildung undlebenslanges Lernen zu setzen? Das ist nicht nureine Frage von Strukturen. Dass Weiterbildung beiuns so selten stattfindet, dürfte auch damit zusam-menhängen, dass wir uns angewöhnt haben und im-mer noch glauben, es sei der normale Rhythmus,das Leben in drei Abschnitte einzuteilen … DiesesPhasenmodell … entspricht jedoch nicht mehr un-serer Lebenswirklichkeit, denn immer mehr Älteresind länger aktiv, und Lernen ist längst von der Ju-gend- zur Lebensaufgabe geworden.Heute schaffen wir mit der vorliegenden Novelle für Er-zieherinnen und Erzieher sowie für Altenpflegerinnenund Altenpfleger mehr Bildungsgerechtigkeit und mehrAufstiegschancen; das ist überfällig. Die FDP-Fraktionunterstützt diesen Gesetzentwurf.Herzlichen Dank.
Der Kollege Ernst Dieter Rossmann hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute haben wir eine breite Übereinstimmung, was dieFörderung von Erwachsenenweiter- und Erwachsenen-fortbildung angeht. Daher ist es gut, den Dreischritt,den wir im deutschen Parlament vollzogen haben, inErinnerung zu rufen. Der erste Schritt ist 1996 durchden damaligen Bildungsminister Rüttgers vollzogenworden. Er hat damals – nicht unumstritten – mit demMeister-BAföG eine steuerfinanzierte Erwachsenen-bildungsförderungsleistung in das Gesetzeswerkhineingebracht. Das war wichtig, obwohl es sicherlichkritisch zu sehen ist, dass es aus dem damaligen Arbeits-förderungsgesetz ausgekoppelt wurde. Das Ergebniswar: 60 000 bis 70 000 Menschen in der anspruchsvollenAufstiegsfortbildung bekamen Förderung. Das war einerster guter Schritt.Der zweite gute Schritt erfolgte dann im Jahr 2001,als wir unter der rot-grünen Regierung mit Herrn Schrö-der und Frau Bulmahn das Aufstiegsfortbildungsförde-rungsgesetz tatkräftig und energisch erweitert haben. DieZahl der Geförderten stieg so auf 140 000; denn es wur-den nicht nur Vollzeitmaßnahmen, sondern auch Teil-zeitmaßnahmen durch den Maßnahmebeitrag gefördert.Ich darf an dieser Stelle Kollegin Aigner, die nun Minis-terin ist, sozusagen eine Blume überreichen. Damals hatsie für die konservative Seite eingefordert: Fördert dieMaßnahme, damit jeder, der in der Aufstiegsfortbildungist und nicht viel Geld hat, Unterstützung bekommt!Edelgard Bulmahn hat es dann umgesetzt. Das ist einganz wichtiger Schritt gewesen.
Der dritte Schritt wird heute vollzogen. Dass wir ihntun können, ist in erster Linie eine Leistung des Parla-ments. Wenn Sie sich die Koalitionsvereinbarung an-schauen, dann stellen Sie fest, dass dort weder eine Ver-besserung des BAföG noch eine Verbesserung desMeister-BAföG vorgesehen ist. Es sind bestimmte Abge-ordnete, auf die diese Novelle zurückgeht. Die Fraktionenhaben aufbegehrt und sind initiativ geworden. Wenn ichnun einzelne Abgeordnete aufzählte, wären andere si-cherlich enttäuscht. Jedenfalls handelt es sich um eineParlamentsinitiative.
Es ist sicherlich nicht falsch, wenn das Parlament Pro-bleme aufgreift, Perspektiven aufzeigt und dann entspre-chende Initiativen in enger Zusammenarbeit mit der Re-gierung umsetzt. Ich sage an dieser Stelle StaatssekretärStorm ein Dankeschön für die gute Zusammenarbeit auffachlicher Ebene.
Wir haben damals analysiert und uns die Entwicklungder Gefördertenzahl genau angeschaut; denn diese Zahlist auch ein Abbild der Dynamik in der Aufstiegsfort-bildung. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paarZahlen nennen. Jährlich machen rund 400 000 Men-schen einen Berufsbildungsabschluss. 200 000 erlangeneinen akademischen Abschluss. Aber nur ein Fünftelderjenigen mit einem Berufsbildungsabschluss kommtaktuell in eine Aufstiegsfortbildung; das ist nicht gut.Wenn wir die Balance bzw. die Gleichwertigkeit von an-spruchsvoller beruflicher und akademischer Bildungwollen, dann müssen wir die Gefördertenzahl im berufli-chen Bereich steigern. Das Ziel könnten ja auch für die-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22093
(C)
(D)
Dr. Ernst Dieter Rossmannsen Bereich 200 000 Geförderte sein. Wenn wir es errei-chen, die Zahl von 80 000 Geförderten auf 100 000 oder120 000 zu steigern, dann hätten wir in allen wirtschaft-lichen Bereichen einen ganz wichtigen Beitrag zur Qua-lifizierung geleistet.
Als man angesichts dieser Perspektive allerdings fest-gestellt hat, dass die Zahl derjenigen, die eine Aufstiegs-fortbildung absolviert haben, und auch die Zahl der Ge-förderten erstmals wieder rückläufig war – das war imJahr 2006 –, war das ein Anlass, parlamentarisch initia-tiv zu werden und auf eine grundsätzliche Leistungsver-besserung zu dringen, damit die Zahl wieder steigenkann. Das ist der erste Punkt. Die Analyse der Situationführte zur politischen Schlussfolgerung, die heute indem Reformgesetz aufgenommen wird.Ein zweiter Punkt. Wenn wir feststellen, dass 68 Pro-zent derjenigen, die eine Aufstiegsfortbildung absolvie-ren bzw. sich überhaupt im Rahmen der beruflichen Bil-dung qualifizieren, Männer und 32 Prozent Frauen sindund die meisten in der Altersgruppe zwischen 20 und35 Jahren sind, dann müssen wir erkennen, dass die Ver-einbarkeit von Aufstiegsfortbildung und Familie einProblem darstellt. Schätzungsweise haben nur 10 Pro-zent derjenigen, die in einer Aufstiegsfortbildung sind,Kinder. Dass uns dies nicht ruhen lassen kann, dass manim Gegenteil schauen muss, wie man speziell die Fami-lien, in denen sich jemand intensiv anstrengt, eine Auf-stiegsfortbildung zu absolvieren, und gleichzeitig Kindererzieht, fördern kann, ist klar. Das ist ein wichtiges An-liegen.
Wir haben das analysiert und eine Verbesserung durch-gesetzt. Der Kinderzuschlag wird nämlich jetzt um fast40 Euro erhöht, und er wird nur zu 50 Prozent als Darle-hen gegeben. Das ist eine wichtige Konsequenz. Wirhoffen, dass sich die Aufstiegsfortbildung in Zukunft mitder Kindererziehung besser vereinbaren lässt.
Ein dritter Punkt der Analyse. 20 Prozent derjenigen,die eine Aufstiegsfortbildung machen, brechen sie ab,nur 80 Prozent bestehen beim ersten Versuch die Prü-fung. Auch daraus muss man Schlussfolgerungen ziehenund fragen, ob man helfen kann. Man kann natürlich in-sofern helfen, als man den Anreiz verstärkt, eine Auf-stiegsfortbildung wirklich bis zum erfolgreichen Endedurchzuführen. Das heißt, man kann einen Bonus ge-währen, wenn die Aufstiegsfortbildung erfolgreich abge-schlossen wird. Man kann auch helfen, indem man dieschwierige Prüfungsphase – Werkstücke entstehen ofthinterher, und die intensive Vorbereitung erfolgt eben-falls oft nach dem Zeitraum, für den man eine Dauerför-derung bekommt – durch eine Verbesserung der Förde-rung erleichtert. Auch dies tun wir. Wir hoffen, dassdadurch die Aufstiegsfortbildung für all diejenigen, diesich darauf einlassen, erfolgreich wird.Vierter Punkt der Analyse. Es gibt zu wenige Men-schen aus Einwandererfamilien, die unser Bildungssys-tem erfolgreich für sich nutzen können. Wenn wir auchbei der Aufstiegsfortbildung Migranten erleichtern, miteinem festen Aufenthaltstitel ohne lange Vorlaufzeitendieses Bildungsrecht in Anspruch nehmen zu können,dann ist das ein Zeichen für die Zukunft.Fünfter und letzter Punkt. Die Ministerin hat schonangesprochen, dass wir den Förderkreis deutlich erwei-tern. Es wird in Zukunft nicht mehr nur und ausschließ-lich die erste Fortbildung gefördert werden, sondern eskann auch eine weitere Fortbildung gefördert werden.Damit wird die Bildungsförderung zu einem kontinuier-lichen Prozess. Wir nennen das, über das wir reden,Meister-BAföG, aber in Wirklichkeit ist es ein Fach-kräfte-BAföG. Nur 36 Prozent der Abschlüsse kommenaus dem Handwerk, 46 Prozent kommen aus der Indus-trie und dem Dienstleistungsbereich, der Rest aus demGesundheitssektor und anderen Bereichen. Wenn wirdies aufgreifen und die Aufstiegsfortbildung auf die Be-reiche der Altenpflege und Kindererziehung ausdehnen,dann eröffnen wir den Menschen in diesen Zukunfts-branchen die Chance zur Qualifizierung.Das ist ein Gesetz, das aus der Analyse der bestehen-den Verhältnisse notwendige Konsequenzen zieht. Fest-zustellen ist, dass die bereitgestellten Mittel einen Zu-wachs von 60 Prozent darstellen. In welchem Bereichhaben wir das schon, wenn es nicht gerade um denSchutzschirm für Banken oder konjunkturpolitischeMaßnahmen geht?
Hier geht es um einen Schirm für die Bildung, den wiraufspannen müssen, damit in Zukunft möglichst vieledavon profitieren können.Es bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund undLändern. Wir stehen nachdrücklich dazu, dass sich die-ses gemeinsame Anliegen auch materiell niederschlagenmuss. Es bleibt auch entwicklungsfähig – um auf dieAnträge der Linken und der Grünen einzugehen. Sie for-dern natürlich von diesem Parlament ein, es dabei nichtbewenden zu lassen und eine längere Perspektive insAuge zu fassen. Ich will angesichts der Tatsache, dasswir in der Koalition uns darüber noch nicht so einigenkonnten, wie es für die Zukunft wünschenswert gewesenwäre, wenigstens den sozialdemokratischen Standpunkterläutern.Wir sind für ein Erwachsenenbildungsförderungs-gesetz.
Wir sind dafür, dass wir die Bildungskette vom Schüler-BAföG über das Studenten-BAföG bis zum Meister-BAföG erweitern. Wenn es ein Meister-BAföG für dieberuflich Hochqualifizierten gibt, dann brauchen wir inder Struktur von Bachelor und Master – das haben wirgelernt – ein Master-BAföG und auch eine Differenzie-rung der einzelnen Bildungswege.
Metadaten/Kopzeile:
22094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Ernst Dieter RossmannHerr Meinhardt, das, was Sie in Bezug auf die Stun-denzahl gesagt haben, soll man so verstehen, dass wirdifferenzierter hinschauen sollen. Angesichts der Bil-dungsförderungsgesetzeskette – vom Schüler-BAföG überdas BAföG und das Meister-BAföG bis hin zu einem Er-wachsenenbildungs-BAföG – verstehe ich Ihre Voltenicht, das als bürokratisch zu denunzieren.
Schließlich machen Sie an anderer Stelle mit: Sie be-schließen heute hier ein Leistungsgesetz hinsichtlichganz wichtiger Anliegen für ganz viele Menschen mit.Es geht darum, Vorschläge zu machen, wie dieses Gesetzverbessert werden kann. Lassen Sie uns dieses Bildungs-förderungsgesetz zu dem gemeinsamen Anliegen diesesParlamentes machen! Das wird eine Aufgabe der nächs-ten Legislaturperiode werden.Auch in dieser Regierung dürfen wir selbstbewusstsagen, dass wir mit dem heutigen Parlamentsbeschlussnicht nur bei den steuerfinanzierten Leistungen für dieWeiterbildung Gutes bewirken; auch dort, wo es um So-zialversicherungsbeiträge geht, haben wir über den Ar-beitsminister und Bildungsminister Scholz mit demRechtsanspruch auf die Förderung für den Hauptschul-abschluss Positives bewirkt. Auch beim Kurzarbeiter-geld gibt es notwendigerweise eine Verbindung zur Qua-lifizierung. In dieser Zeit ist es nämlich sehr wichtig, imKampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht nur an Absiche-rung, sondern auch an Qualifizierung zu denken.
Die Große Koalition hat die Perspektive, gemeinsamden Dualismus – das steuerfinanzierte Erwachsenenbil-dungsförderungsgesetz und das über die Sozialversiche-rung finanzierte Arbeitssicherungsgesetz und damit dieArbeitsversicherung bzw. die Arbeitsversicherung –weiterzuentwickeln. Das ist die sozialdemokratischePerspektive. Heute machen wir einen großen Schritt indiese Richtung.Wir bedanken uns und freuen uns.
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Schneider,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So ganz kann ichin die vielen Lobeshymnen, die hier gesungen werden,nicht einstimmen.
Wenn Sie einem Kind die Hoffnung gemacht haben,dass es zu Weihnachten endlich das lange versprocheneFahrrad erhält, und es unter dem Weihnachtsbaum einTaschenbuch findet, dann wird die Enttäuschung großsein, egal wie schön Sie den Raum geschmückt haben,egal wie groß der Weihnachtsbaum ist und egal wie tolldas Taschenbuch ist.
Das Fahrrad, das Sie versprochen haben, heißt: Inte-gration der Weiterbildung als vierte Säule unseres Bil-dungssystems. Das, was Sie heute hier weitergeben – dieÄnderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes,AFBG –, hat, befürchte ich, noch nicht einmal das Zeugzu einem Taschenbuch. Sie haben in Ihrem Koalitions-vertrag versprochen – Zitat –:Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur4. Säule des Bildungssystems machen und mit bun-deseinheitlichen Rahmenbedingungen eine Weiter-bildung mit System etablieren.Nun neigt sich diese Legislaturperiode ihrem Endezu. Es ist daher nicht falsch, anzunehmen, dass Sie mitdem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung desAufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes Ihre Initiati-ven zur Stärkung der Weiterbildung abschließen undkrönen wollen. Für Sie ist dieser Gesetzentwurf ein ganzgroßer Wurf. Sie wollen – man kann das in Ihrem Ge-setzentwurf nachlesen – nicht weniger, als dem Fach-kräftemangel durch individuelle und kontinuierliche Hö-herqualifizierung begegnen, die Wettbewerbsfähigkeitder Wirtschaft sichern und die Qualifikation der Bevöl-kerung auf Dauer erhalten. Damit dies gebührend gefei-ert werden kann, haben wir heute die Ehre, das zur aller-besten Debattenzeit diskutieren zu dürfen.Es ist schon bezeichnend, dass Sie aus so wenig einenso großen Anlass machen. Sicher, das ist kein schlechterGesetzentwurf.
Das will auch ich zugestehen. Was positiv zu bewertenist, ist hier ausführlich dargestellt worden. Ich will dasnicht alles wiederholen. Ich will nur einen Punkt heraus-greifen: Auch wir Linke sind der Meinung, dass die För-derung von Migrantinnen und Migranten ein wichtigerFortschritt ist, insbesondere weil Menschen mit Migra-tionshintergrund in unserem Beschäftigungssystem er-heblich benachteiligt sind. Das ist nicht zuletzt daraufzurückzuführen, dass unser Bildungssystem und unsereBildungsförderung diese Menschen vielfach eher aussor-tiert als gezielt fördert. Ich betone noch einmal: Das istein wichtiger Schritt.
Es gibt auch kritische Anmerkungen zu Ihrem Geset-zesentwurf; das betrifft Punkte, auf die bis jetzt nochnicht eingegangen worden ist. So sind die Förderbedin-gungen im AFBG weiter schlechter als im BAföG – unddas, obwohl Sie selbst angeben, dass mit Strukturverbes-serungen in der beruflichen Bildung der angestrebtenGleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner BildungRechnung getragen werden soll. Man muss schon sagen:ein merkwürdiges Verständnis von Gleichwertigkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22095
(C)
(D)
Volker Schneider
Den Veränderungen durch den Bologna-Prozess wirdin dem Entwurf in keiner Weise Rechnung getragen. Wersein Studium mit einem Bachelor beendet und sich ent-schließt, sofort in die berufliche Praxis zu gehen, umspäter eine theoretische Vertiefung in Form eines Mas-ter-Abschlusses draufzusetzen – ein Szenario, das imRahmen der Hochschulreform übrigens ausdrücklich ge-wünscht war –, der schaut bei der Förderung schlicht indie Röhre. Ab 30 gibt es kein BAföG mehr, und dasAFBG ist für diesen Personenkreis auch weiter nicht zu-ständig.Bei aller Freude über die Einbeziehung der Pflegebe-rufe sowie der Erzieher und Erzieherinnen: Seit Jahrendiskutieren wir über veränderte Qualifikationsbedarfe.Seit Jahren stellt sich dabei die Frage, welche Bildungs-wege – auch und gerade in Erziehung und Pflege – andie Hochschulen gehören. Längst ist klar, wo die bishe-rige berufliche Qualifizierung an Grenzen stößt und Be-rührungspunkte mit der akademischen Bildung entstan-den sind. Mit der beruflichen Qualifizierung alleinwerden Sie diese Probleme nicht lösen können. Bisheute ist kaum zu erkennen, dass Sie auf diese Entwick-lungen politisch reagieren. Schon gar nicht haben Sieüber die Instrumente der Bildungsförderung hierfür ge-zielte Anreize geschaffen.Frau Ministerin, wenn Erzieher und Erzieherinnen be-reits nach acht Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden,dann sollte man sich vielleicht einmal überlegen, ob dasnicht auch etwas mit der beschämend niedrigen Bezah-lung für eine so anspruchsvolle Tätigkeit zu tun hat.
Ein letzter Punkt: Qualitätssicherung findet allen-falls auf dem Papier statt. Nach dem Entwurf müssen dieTräger ein – das heißt wohl: irgendein – Qualitätssiche-rungssystem vorweisen. Ich habe mich beim Lesen ge-fragt, ob auch jene Tante Käthe die Qualität überwachenkann, die durch die Reden einer Kollegin aus dem Haus-haltsausschuss geistert. Das alles ließe sich noch fortset-zen, aber ich will hier nicht Erbsen zählen.Es bleibt dabei: Dieser Gesetzesentwurf ist nicht derschlechteste.
Aber ist es auch der große Wurf? Können Sie so – das istIhr Anspruch – wirklich dem Fachkräftemangel begeg-nen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichernund die Qualifikation der Bevölkerung auf Dauer erhal-ten?Sie selbst rechnen mit einem Anstieg – das muss ichschon fast in Anführungszeichen setzen – der Zahl derGeförderten von 134 000 im Jahr 2007 auf 160 000 imJahr 2012.
Selbst wenn ich nicht 50 Millionen Menschen zwischen20 und 65 Jahren als potenzielle Adressaten lebenslan-gen Lernens sehe, sondern nur 27 Millionen sozialversi-cherungspflichtig Beschäftigte,
geht es hier nicht einmal um einen Anstieg von 0,5 auf0,6 Prozent oder – exakter – um einen Anstieg von et-was mehr als 0,9 Promille. Damit verliert man sicher denFührerschein, aber damit werden Sie mit Sicherheit nichtdem Fachkräftemangel begegnen, die Wettbewerbsfä-higkeit der Wirtschaft sichern und die Qualifikation derBevölkerung auf Dauer erhalten.
Viel Lärm um verdammt wenig! Da graut mir nur nochdavor, dass die Finanzkrise massiv auf den Arbeitsmarktdurchschlägt.Schließlich zu Ihrem eigenen Anspruch, die Weiter-bildung zur vierten Säule des Bildungssystems auszu-bauen und mit bundeseinheitlichen Rahmenbedingungeneine Weiterbildung mit System zu etablieren: Außer star-ken Worten in der ganzen Legislaturperiode wenig ge-wesen, allenfalls Trostpflästerchen – und die oft noch anden falschen Stellen!Seit den 70er-Jahren, verstärkt seit Beginn der 80er-Jahre, wird über die Notwendigkeit lebenslangen Ler-nens diskutiert. Seit Anfang der 80er-Jahre ist es einepolitische Forderung, Weiterbildung zu einem Bestand-teil des Bildungssystems zu machen. Nichts Wirksamesin dieser Richtung ist in dieser Legislaturperiode gesche-hen. Die Weiterbildungsförderung bildet auch nach dervorliegenden Gesetzesänderung einen Flickenteppichunübersichtlicher Einzelmaßnahmen: von WeGebAU biszum Meister-BAföG – und das mit riesigen Lücken. Einkonsistentes System der Förderung ist nicht erkennbar.So können Bildungsbarrieren nicht überwunden werden.So wird lebenslanges Lernen für die Mehrheit der Bevöl-kerung keine tatsächlich erfahrbare Realität.Dabei liegen die Reformvorschläge seit Jahren aufdem Tisch. Die Bundesregierung selbst hat eine Exper-tenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ins Leben gerufen, die umfassende Konzepte für eineStärkung der Weiterbildung vorgelegt hat. So fordertedie Kommission nicht nur eine Ausweitung bestehenderLeistungen, sondern ausdrücklich auch die Schaffung ei-nes gemeinsamen Rahmens, unter dem diese Leistungenvereint werden. Das waren wichtige Vorschläge für ei-nen ganzheitlichen Ansatz in der Bildungsförderung.Nur dafür, dass diese Vorschläge jetzt im Papierkorb ver-schwinden, haben Sie doch wohl nicht so viel Geld be-zahlt?Die Linke hält die Umsetzung dieser Vorschläge nachwie vor für elementar. Auch hier und heute wiederholeich unsere Forderung, nicht länger bei Flick- und Stück-werk zu verharren, sondern mit einem Erwachsenenbil-dungsförderungsgesetz verlässliche Rahmenbedingun-gen für Nachfrager und Anbieter der Weiterbildung zuschaffen.
So viel Mut werden Sie schon brauchen, damit Sie diebislang doch recht hohle Formel vom lebenslangen Ler-nen mit Leben erfüllen können.
Metadaten/Kopzeile:
22096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Volker Schneider
Ein letztes Wort zur FDP: Ihre Angst vor Bürokra-tiemonstern macht Sie blind für die Erkenntnis, dasskaum ein Markt so sehr versagt hat wie der Weiterbil-dungsmarkt.
Dort herrscht in hohem Maße Intransparenz, da findenAngebot und Nachfrage nur in seltenen Fällen zueinan-der. Viel schlimmer als jedes noch so schlimme Bürokra-tiemonster ist ein krebsartig wuchernder Wildwuchs indiesem Bereich.
Um dem abzuhelfen, braucht es Strukturen und einErwachsenenbildungsförderungsgesetz.Danke schön.
Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ichmuss Wasser in den Wein gießen.
Denn was heute als großer Schritt der Koalition gefeiertwird, ist in Wahrheit nur ein Trippelschritt im Bereichdes lebenslangen Lernens. Herr Schneider hat ja schonangeführt, was im Koalitionsvertrag steht. Da heißt es,dass die Weiterbildung „mit bundeseinheitlichen Rah-menbedingungen“ zu einer „Weiterbildung mit System“zu etablieren ist. Davon ist gegen Ende der Wahlperiodewirklich nichts übrig geblieben.
Dass das Meister-BAföG fortentwickelt wird, ist
ein sinnvoller Trippelschritt. Natürlich ist es auch sinn-voll, im entsprechenden Gesetzentwurf dieses auch aufzukunftsträchtige Berufsfelder wie Altenpfleger und Al-tenpflegerinnen sowie Erzieherinnen und Erzieher aus-zudehnen. Der Effekt, den Sie damit erzielen, nämlichWeiterbildung für 26 000 Menschen mehr zu ermögli-chen, ist zwar im Hinblick auf diesen Personenkreis gutund sinnvoll,
aber in Bezug auf Ihr Vorhaben, die Weiterbildungsquotevon jetzt 43 Prozent auf 50 Prozent im Jahre 2015 zusteigern,
ist das einfach nichts. Das müssen Sie doch heute auchzur Kenntnis nehmen.
Ihre Sonntagsreden und Ihr Alltagshandeln klaffen hierweit auseinander.Meine Damen und Herren, auch die Weiterbildungs-prämie, über die ja immer wieder diskutiert wird unddie gerade von der Ministerin gerne ins Feld geführtwird, bewahrt Sie nicht davor, dass Sie sich eingestehenmüssen, dass Sie Ihre eigenen Ansprüche nicht einlösenkönnen.
Eine Weiterbildungsprämie von 154 Euro kann nämlichIndividuen nicht dazu verführen, zusätzlich viel Auf-wand und Zeit in Weiterbildung zu investieren und tat-sächlich an formalisierten Weiterbildungsangeboten teil-zunehmen. Mit den beiden jetzt von mir angesprochenenInstrumentarien erreichen Sie die Weiterbildungsquotevon 50 Prozent nicht. Das muss heute klar und deutlichgesagt werden.
Auch innerhalb des Systems entstehen durch die Re-form des Meister-BAföG Probleme. Warum wird derKinderzuschlag teilweise nur als Darlehen gezahlt undnicht generell als Vollzuschuss? Warum werden die Un-terhaltszuschüsse im AFBG nicht in gleicher Weise ge-regelt wie im BAföG? Warum sehen Sie einen Darle-hensteilerlass für bestandene Prüfungen vor, obwohl Siedie dafür nötigen Mittel zur Gewährung des Kinderzu-schlages als Vollzuschuss einsetzen könnten?Gerade wenn man Frauen für die Weiterbildung zurAltenpflegerin oder zur Erzieherin interessieren will,dann muss man wissen, dass diese Frauen in aller Regelganz wenig Geld haben, dass sie aber Kinder haben. Siebrauchen einen Vollzuschuss. Die Menschen, die eineWeiterbildung machen, brauchen keinen Darlehensteil-erlass für das Bestehen einer Prüfung. Wer sich nach dreiJahren Weiterbildung auf eine Prüfung vorbereitet, willdiese auch bestehen. Von daher setzen Sie innerhalb die-ser Reform eine falsche Gewichtung. Wir sagen: DerTrippelschritt ist in Ordnung. Aber wir enthalten uns,weil noch nicht einmal dieser Schritt richtig ausgefeiltist.
Wissen Sie, was das Hauptproblem ist? Das Haupt-problem ist, dass Sie mit dem AFBG immer noch vonder klassischen Bildungsbiografie ausgehen: Man erlernteinen Beruf, arbeitet ein paar Jahre und macht dann denMeister, den Techniker oder eine Ausbildung zur Erzie-herin oder Altenpflegerin. Das läuft aber der heutigenAlltagsrealität und den heutigen Lebens- und Lernbio-grafien völlig hinterher. Viele Menschen haben weder ei-nen Schulabschluss noch einen Berufsabschluss. Sie ar-beiten seit Jahren und wollen eine Weiterbildungmachen. Dafür brauchen sie aber einen Unterhaltszu-schuss, weil sie oft schon eine Familie haben und aus ih-rem Beruf nicht völlig aussteigen können. Diese Men-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22097
(C)
(D)
Priska Hinz
schen stehen aber heute vor dem Nichts, wenn sie eineWeiterbildung machen wollen, um den Berufsabschlussnachzuholen.Viele Menschen gehen nach dem Bachelor in den Be-ruf und wollen später den Master nachholen. Darauf sinddiese Studiengänge im Sinne eines lebenslangen Lernensschließlich ausgerichtet worden. Diese Menschen erhal-ten aber wegen ihres Alters kein BAföG. Auch das Meis-ter-BAföG bekommen sie nicht, weil sie eine akademi-sche Laufbahn eingeschlagen haben.Viele Menschen wollen im Sinne des lebenslangenLernens – man soll es kaum glauben – mehrere Weiter-bildungen machen. Auch diese Menschen haben keineChance auf Förderung. Insofern ist das AFBG tatsäch-lich nicht der große Wurf, als den Sie es heute feiern.Wir legen Ihnen einen echten Alternativvorschlagvor, der auf Rot-Grün und die Ergebnisse der Experten-kommission „Finanzierung Lebenslanges Lernen“ zu-rückgeht. Wir wollen ein Erwachsenenbildungsförde-rungsgesetz.
Wir wollen ein Erwachsenen-BAföG. Die verschiedenenInstrumente sollen transparent, verständlich und klar ge-ordnet sein. Dann wird das kein Bürokratiemonster,Herr Meinhardt. Die Instrumentarien müssen so auf-einander abgestimmt werden, dass lebenslanges Lernenauch für die Menschen möglich wird, die gebrocheneBiografien haben, die schon eine Familie haben und teil-weise aus dem Beruf aussteigen wollen, um eine Weiter-bildung zu machen.Unser Erwachsenen-BAföG kennt keine Altersgren-zen und auch keine Beschränkung auf Berufsgruppenwie Meister, Techniker, Altenpfleger oder Erzieher. Un-ser Erwachsenen-BAföG ist so ausgestaltet, dass alleMenschen, die eine formale Weiterqualifikation anstre-ben, die Möglichkeit erhalten, dies durch Zuschüsse,Darlehen oder Bildungskredite zu erreichen, im wahrs-ten Sinne des Wortes: je nach eigenem Vermögen. Dasist ein modernes Instrument der Weiterbildung.
Wir wollen, dass es einen Rechtsanspruch auf Förde-rung von zertifizierter Weiterbildung gibt. Wir brauchenflankierende Maßnahmen, und zwar in Form von Bera-tung, Beratung, Beratung. Wir brauchen individuelle Be-ratung für die verschiedenen Formen der Weiterbildung,die heutzutage möglich sind. Wir brauchen Beratung fürdie Finanzierungsmöglichkeiten, die es gibt. Diese Bera-tung muss niedrigschwellig sein. Das ist ein ganz we-sentliches Moment. Auch da haben Sie bis heute versagt.Auf diesem Gebiet hat es schon viele Versprechungengegeben: beim Bildungsgipfel und entsprechende Forde-rungen in der Koalitionsvereinbarung. Im Rahmen derWeiterbildungsprämie wurde ebenfalls beschlossen: Wirschaffen Beratungsstrukturen. – Geschehen ist bislangnichts.Nötig sind aber Beratungsstrukturen, die so niedrig-schwellig sind, dass die Menschen zu diesen Beratungs-stellen tatsächlich hingehen und die notwendige indivi-duelle Förderung und Unterstützung erhalten. Wirplädieren nach wie vor dafür, Kooperationsstrukturen zunutzen, um die Beratung in den Verbraucherberatungs-stellen anzusiedeln.Notwendig ist Beratung für die KMU; denn geradeFachkräfte in den kleinen und mittleren Betrieben sindheute zu wenig in der Weiterbildung präsent. Es reichtnicht, ein Programm wie WeGebAU aufzulegen undBA-Mitarbeiter in die Betriebe zu schicken. Das ist ver-fehlt.
Wir brauchen Beratungsstrukturen für die KMU, diees ermöglichen, dass die einzelnen Betriebe dahin ge-hend beraten werden, wie sie sich selber weiterentwi-ckeln können und welche angepassten Weiterbildungs-strukturen sie etablieren können. Da liegen Sie weithinter dem zurück, was selbst in Großbritannien möglichist.
Außerdem brauchen wir ein Bildungssparprojekt,das nicht nur auf eine Weiterbildungsprämie in Höhevon 154 Euro setzt, sondern Bildungssparkonten für alleerwachsenen Menschen möglich macht. Wir braucheneine Förderung für das Bildungssparen, das besondersdie Geringqualifizierten begünstigt, die eben auch Ge-ringverdiener sind. Dieses Instrument des Bildungsspa-rens soll wie die steuerlichen Anreize wirken, die denHochqualifizierten und Gutverdienenden zugutekom-men. Wer mit einer guten Qualifikation und einem hohenEinkommen eine Weiterbildung macht, erhält steuerlicheAnreize durch Anrechnung auf das zu versteuernde Ein-kommen. Wer hingegen nur ein geringes Einkommenhat, hat diese steuerlichen Anreize nicht. Insofern ist einBildungssparkonto mit einer besonders hohen Prämiewichtig für diejenigen, die geringqualifiziert und gering-verdienend sind. Darauf haben Sie mit Ihrem Weiterbil-dungssparmodell überhaupt nicht geachtet.
Frau Kollegin.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich komme zum Schluss. – Deswegen wird es in die
Leere laufen.
Meine Damen und Herren – –
Nein, Sie können jetzt wirklich nicht zu einem weite-ren Abschnitt kommen.
Metadaten/Kopzeile:
22098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Nein, das ist kein weiterer Abschnitt, sondern derletzte Satz.
Sie wollten also nur noch ein Schlusswort sprechen;
das ist schön.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. – Weil die
Große Koalition sich mit Kleinigkeiten zufrieden gibt,
ist es eben kein großer Tag für die Weiterbildung. Es
wird erst ein großer Tag, wenn wir das Erwachsenenbil-
dungsgesetz im Bundestag beschlossen haben.
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kretschmer
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In dieser Legislaturperiode wird ein deutlicherSchwerpunkt auf Innovation und Fortschritt gesetzt.Keine Bundesregierung in der Geschichte der Bundesre-publik Deutschland hat so viel wie diese für Forschungund Entwicklung getan. Denn wir alle wissen, dass wirnur mit den besten Produkten und mit Innovation unse-ren Lebensstandard in Deutschland halten können.Wir haben uns in einer ganz umfassenden Weise fürBildung und Forschung eingesetzt: Wir haben die Exzel-lenzinitiative auf den Weg gebracht, um Spitzenwissen-schaftler und den Nachwuchs in den Naturwissenschaf-ten zu fördern. Wir haben das BAföG erhöht, um denakademischen Nachwuchs zu fördern.
Wir haben den Bildungsgipfel auf den Weg gebracht,Frau Kollegin, um in einem nationalen Kraftakt zwi-schen Ländern und Bund etwas für die Bildung zu tun,und zwar von den Gymnasiasten bis hin zu den Kindernin der vorschulischen Bildung. 10 Prozent des Bruttoin-landsprodukts für Bildung und Forschung ausgeben zuwollen, das ist eine gewaltige Aufgabe, die wir gemein-sam angehen. Damit setzen wir ein deutliches Zeichen.Was wir heute tun, ist nicht minder wichtig. Es ist dieFortführung dieser Politik für Bildung, die das Verspre-chen beinhaltet, dass Aufstieg und Wohlstand durch Bil-dung erreicht werden können. Die ganze Welt ist vollerAnerkennung für die deutschen Meister, Techniker undFachwirte. Sie sind unsere Praxiselite. Ihr Fachwissen,ihre Führungskompetenz sind der Schlüssel zum Erfolg.Sie sind die Basis für die Qualität „Made in Germany“,den größten Wettbewerbsvorteil, den Deutschland hat.Aus diesem Grund setzen wir in diesem Bereich ganzkonsequent eine Politik fort, die wir 1996 mit dem da-maligen Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers begon-nen haben, der das Meister-BAföG eingeführt hat. ImJahr 2007 wurden damit insgesamt 134 000 Personengefördert. Allein diese Zahl zeigt, zu welch großem Er-folg die Politik von Jürgen Rüttgers geführt hat.
Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deswegenwerden wir gemeinsam in der Koalition die Ausgabenfür das Meister-BAföG deutlich erhöhen und die Förder-konditionen verbessern. Wir werden den Kreis der För-derberechtigten deutlich ausweiten und mehr Geld indiesem Bereich ausgeben.Wir wollen, dass auch die in Deutschland lebendenAusländer, die hier ausgebildet wurden, in Zukunft vondiesen Möglichkeiten profitieren können; denn wir brau-chen auch diese Fachkräfte und wollen sie mobilisieren.Wir wollen dieser Gruppe in unserer Bevölkerung eineChance geben und sie mitnehmen.Meine Damen und Herren, die Fortbildung soll auchin einem anderen Bereich, nämlich in der Altenpflege,in Zukunft gefördert werden. Dies ist ein wichtiger Be-reich. Gerade hier ist Qualität notwendig. Wir wollendenjenigen, die in Pflegeheimen arbeiten, die Chance ge-ben, sich weiterzuqualifizieren und ein höheres Einkom-men zu erzielen. Auch hier gilt: Aufstieg durch Bildung.Wir wollen den beruflichen Aufstieg bzw. die Höher-qualifizierung des Einzelnen erreichen. Dafür setzen wirklare Leistungsanreize. Beim Bestehen der Fortbil-dungsprüfung gibt es einen Erlass von 25 Prozent auf dieRestdarlehensschuld. Wir wollen damit die Abbrecher-quote von 20 Prozent, die im Vergleich zu der im Stu-dium eher gering ist, weiter senken.Wir wollen und werden für Unternehmensgründun-gen etwas tun: Diejenigen, die nach der Qualifizierungein Unternehmen gründen und ausbilden, sollen stärkerdavon profitieren. Wir werden einen Anreiz für Ausbil-dung in diesem Bereich schaffen. Diejenigen, die ausbil-den, werden noch stärker gefördert.Dieser Gesetzentwurf zum Meister-BAföG, der Ent-wurf eines Aufstiegsqualifizierungsgesetzes, ist einwichtiger Schritt. Wir lassen ihn uns nicht kleinreden.Im Gegenteil: Wir sind stolz darauf. Wir glauben, dasswir damit Aufstieg durch Bildung und Wohlstand durchQualifikation erreichen. Das gilt für jeden Einzelnen;das gilt aber vor allen Dingen für unseren Wirtschafts-standort Deutschland. Das Meister-BAföG leistet dazueinen wichtigen Beitrag. Deswegen werben wir für einebreite Zustimmung.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22099
(C)
(D)
Cornelia Pieper ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion der FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Kretschmer,
bei aller berechtigten Zustimmung, die Sie von der FDP
zur Änderung des AFBG erhalten, sollte man doch bei
der Wahrheit bleiben. Wir alle wissen, dass Deutschland
mehr Bildungsinvestitionen braucht, dass wir im interna-
tionalen Vergleich hinterherhinken und dass wir bei den
Bildungsinvestitionen immer noch unter dem OECD-
Durchschnitt liegen. Dass Deutschland inzwischen
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und
Forschung ausgibt, ist immer noch eine Mär. Sie haben
dies auf dem Bildungsgipfel nicht beschlossen, sondern
angekündigt. Sie haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt.
Wir wissen natürlich, dass wir mehr in Bildung investie-
ren müssen. Wir wollen auch mehr in Bildung investie-
ren. Wir können Ihnen aber nur sagen: Machen Sie es
und reden Sie nicht nur darüber! Das wäre eine Politik,
die glaubwürdig ist und nicht auf Märchen beruht.
Ich will meinem Kollegen Schneider von den Linken
sagen: Ich halte das, was Sie zu den Weiterbildungs-
unternehmen gesagt haben, für einen Skandal. 84 Pro-
zent der Weiterbildungsunternehmen leisten eine gute
Bildungsarbeit und behaupten sich auf dem Bildungs-
markt mit qualitativ hohen Standards. Ich finde, das
sollte man einmal anerkennen. Sie haben die freien Wei-
terbildungsträger hier diffamiert. Dies unterstützen wir
auf keinen Fall. Wir sind für eine verantwortungsvolle
Politik und sind dagegen, dass man Bildungsunterneh-
men in ein Licht stellt, das ihnen nicht gerecht wird,
bzw. ihr Licht unter den Scheffel stellt. Ihre Behauptung
möchte ich, auch im Namen der Bildungsunternehmen,
zurückweisen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider?
Nein. Das, was er hier gesagt hat, kann durch eineZwischenfrage nicht besser werden.
Die größte soziale Herausforderung, vor der wir indiesem Land stehen, ist, bessere Bildungschancen fürjunge Menschen zu schaffen. Aufstieg durch Bildung,hat der Bundespräsident dazu zu Recht gesagt. Heutekönnen wir sagen: Aufstieg durch Aufstiegsfortbildung.Das ist das beste Konjunkturprogramm. Das ist die besteVersicherung gegen Arbeitslosigkeit und natürlich auchgegen Perspektivlosigkeit im Leben.Uns allen ist bewusst, dass die Arbeitslosenquote beiAkademikern sehr niedrig ist. Sie liegt bei 3 Prozent. Ichglaube nicht nur, dass wir mit dem Gesetz, das wir heuteverabschieden, dem Ziel, eine Gleichwertigkeit von aka-demischer und beruflicher Bildung herzustellen, näher-kommen, sondern auch, dass wir mit diesem Gesetzgewährleisten können, dass bei Personen, die durch Qua-lifikation aufsteigen, die Arbeitslosenquote sinkt. Das istuns wichtig.
Je höher die Qualifizierung, desto niedriger die Arbeits-losenquote; das wissen wir. Deswegen unterstützen wirdie Novelle des AFBG nachdrücklich.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wis-sen, dass wir bereits im Winter 2007 die BAföG-Reform mitgetragen und damit die Situation der Studie-renden mit BAföG-Anspruch verbessert haben. Auch daswar uns wichtig. Es ging uns darum, einen größeren Teildes Nachwuchses auf ein möglichst hohes Qualifika-tions- und Kompetenzniveau zu bringen. Das ist das Ziel,das wir in diesem Land verfolgen sollten. Deswegen be-grüßen wir, dass mit diesem Gesetzentwurf Änderungenvorgenommen werden, die zu einer Verbreiterung derZielgruppe und zur Senkung der Zugangshürden führen.Natürlich muss – auch das sagen wir ganz deutlich –noch mehr getan werden. Deswegen hat die FDP einenEntschließungsantrag vorgelegt. Wir sehen die Notwen-digkeit, die Förderfähigkeit mittelfristig auf mehr alseine Maßnahme der Aufstiegsfortbildung auszuweiten.
Gerade in der Wissensgesellschaft brauchen wir einestärkere Orientierung auf lebenslanges Lernen. Nach un-serer Auffassung ist die Förderung mehrerer Aufstiegs-fortbildungen genauso wichtig wie die Anerkennung vonFortbildungsmodulen.Ferner meinen wir, dass wir unseren Blick – das hatHerr Rossmann zu Recht angesprochen – insbesondereauf die Frauen richten müssen, die Maßnahmen nachdem AFBG nutzen können. 34 Prozent nutzten dieseMaßnahmen im Berichtsjahr 2007. Während die Frauendie akademische Bildung förmlich erobert haben – dieMehrheit der Hochschulabgänger ist weiblich, wie wirwissen –, ist es im Bereich der beruflichen Bildung, beider Aufstiegsfortbildung nicht so. Durch die Aufnahmedes Altenpflege- und des Erzieherberufs in den Katalogwird sich eine Verbesserung ergeben; das ist klar. Wirmeinen, dass man auch bei den Gesundheitsberufen ei-nen Schritt voran hätte gehen können, indem man auchdie Gesundheitsberufe – also Ergotherapeuten, Physio-therapeuten und Logopäden – in den Katalog aufgenom-men hätte. Das wäre gut gewesen, gerade für die Frauenin diesem Land.
Frau Ministerin, schließlich will ich Ihnen mit auf denWeg geben: Sie haben zu Recht gesagt, dass wir mit derNovelle des AFBG einen wichtigen Schritt seitens desBundes tun, aber viele Länder noch nachziehen müssen.Das wissen wir. Wir müssen darauf drängen, dass die
Metadaten/Kopzeile:
22100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Cornelia Piepernotwendigen landesrechtlichen Regelungen geschaffenwerden, damit das AFBG gerade im Bereich der Alten-pflege- und der Erzieherberufe bundesweit Wirksamkeitentfalten kann. Bis heute ist das AFBG in zehn Bundes-ländern noch nicht anerkannt. Das ist die Mehrheit derBundesländer in Deutschland. Ich denke, angesichts des-sen muss man als Bundesministerin Druck auf die Bun-desländer ausüben, damit es umgesetzt wird.
– Es sind viele, Herr Tauss.
Ich weiß, dass Ihnen das Sorge bereitet, aber das ist jetztnicht das Thema.
Frau Kollegin.
Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Rede. –
Sorgen Sie dafür, dass insbesondere bei der Erzieherin-
nen- und Erzieherausbildung die Qualität zunimmt. Das,
was die Ministerin geleistet hat, das Internetportal, trägt
sicher nicht zu einer Steigerung der Qualität der Erzie-
herausbildung bei. Wir erwarten eine Weiterbildungs-
offensive, die diesen Namen wirklich verdient, insbeson-
dere für den Erzieherberuf in Deutschland.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker
Schneider das Wort.
Frau Kollegin Pieper, als jemand, der 16 Jahre lang
als Dozent in der beruflichen Weiterbildung gearbeitet
hat,
bin ich sicherlich der Allerletzte, der in irgendeiner
Form Weiterbildungsunternehmen und die Kolleginnen
und Kollegen in diesen Weiterbildungsunternehmen be-
leidigt.
Im Gegenteil, ich halte es, nachdem wir im Weiterbil-
dungsbereich jetzt Mindestlöhne haben, nach wie vor für
einen Skandal, dass man Akademikern zumutet, für
1 800 Euro in solchen Unternehmen zu arbeiten. Es ist
fantastisch, dass sie dennoch eine so hervorragende Ar-
beit leisten.
Ich empfehle Ihnen, nachzulesen, was ich in meiner
Rede gesagt habe. Ich habe gesagt, dass dieser Markt
versagt – das sind nicht die Unternehmen –; denn auf
diesem Markt herrscht ein erschreckendes Maß an In-
transparenz. Jeder dort oben auf den Tribünen, der schon
einmal versucht hat, irgendwo an einer Weiterbildungs-
maßnahme teilzunehmen
– ja, auch hier unten –, wird die Erfahrung gemacht ha-
ben, wie schwierig es ist, das passende Angebot zu fin-
den. Das ist das Problem: Dieser Markt ist intransparent,
und Angebot und Nachfrage finden nicht zueinander.
Dies allerdings erkennen Sie in Ihrer bornierten Sicht auf
den Markt überhaupt nicht an.
Vor lauter Schrecken über angebliche Bürokratiemonster
begreifen Sie noch immer nicht, dass die wahre Gefahr
auf diesem Markt das wie ein Krebsgeschwür wu-
chernde Angebot ist.
Frau Pieper zur Erwiderung.
Herr Schneider, ich glaube nicht, dass wir durch sol-che polemischen Diskussionen dazu beitragen werden,dass wir in Deutschland eine bessere Qualität im Bereichder beruflichen Weiterbildung und Fortbildung erreichenwerden. Deswegen will ich diese polemische Form derAuseinandersetzung auch nicht fortführen.
Für die Freien Demokraten mache ich noch einmaldeutlich, dass es uns darum geht, dass Angebot undNachfrage auf dem Bildungsmarkt funktionieren. Dasheißt aber auch, dass man Wettbewerb zwischen denBildungsträgern zulassen muss
und diesen Markt nicht überregulieren und durch neueGesetze blockieren darf. Ich erinnere Sie daran, dassviele freie Weiterbildungsunternehmer gerade auchdurch Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit darangehindert wurden, ihre Angebote zu machen, sodass sieletztendlich ihre Angebote nicht unterbreiten konnten.Dann ist es für solche Bildungsunternehmen auchschwer, sich auf dem Markt zu behaupten. Zu viel Staat,zu viele Gesetze sind für diesen Markt nicht gut. Wirmüssen den Rahmen setzen und dafür sorgen, dass die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22101
(C)
(D)
Cornelia PieperQualität der Bildungsunternehmen gut ist, dass bei ihnendie Qualität und die Zertifizierung stimmen.
Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, zu verhindern,dass Angebot und Nachfrage auf dem Bildungsmarktfunktionieren.
Nun hat der Kollege Dieter Grasedieck für die SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wer die Zukunft gewinnen will, darf an der Bil-dung nicht sparen. Genau dies ist das Ziel dieses Geset-zes. Auch deshalb begrüßen die Gewerkschaften, die In-dustrie und das Handwerk dieses Gesetz. Eine solcheKombination gibt es ja selten. Insgesamt geht es hier umeine Steigerung von 60 Prozent. Jeder Jugendliche hateine Chance und bekommt eine Möglichkeit der Weiter-bildung. Ältere Menschen können sich fit machen unddie Herausforderungen des Marktes annehmen. Die ei-gentliche Botschaft des Gesetzes lautet: Macht mit, eureQualifikation wird gefördert! Damit führt die Koalitionjetzt das fort, was Edelgard Bulmahn damals eingeführthat. Wir wollen durch solche Initiativen auch unserenStatus als Exportweltmeister erhalten.
Handwerk und Industrie suchen heute schon Fach-arbeiter, sie suchen händeringend Ingenieure und andereAkademiker. Eine weitere Herausforderung, die man na-türlich berücksichtigen muss, stellen die sinkenden Ge-burtenzahlen dar, was man in Deutschland besondersdeutlich sieht. Das bedeutet, dass es wesentlich mehr äl-tere und weniger jüngere Menschen gibt. Dies führtdazu, dass wir unbedingt qualifizieren müssen. Auf deranderen Seite gehen ältere Menschen natürlich auch inPension. Wir brauchen eine langfristige Planung. Für dieQualifizierung ermöglichen wir durch diesen Gesetzent-wurf eine langfristige Planung. Auch Betriebe und deröffentliche Dienst müssen dies bieten. Es fehlt an der ei-nen oder anderen Stelle, ist aber unbedingt erforderlich.Unsere Betriebe brauchen qualifizierte Facharbeiter,und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchenQualifizierungsmöglichkeiten. Denn der Wissensstandsteigt. Tagtäglich kommen neue Patente hinzu. Die Ar-beitsprozesse verändern sich dramatisch. Im Bereich derkaufmännischen Arbeit sieht man das besonders deut-lich. Der Informationsfluss ist heute wesentlich schnel-ler. Schauen Sie sich einmal die Technik an. VergleichenSie einmal den Beruf des Drehers von vor 15 Jahren mitdem des Zerspanungsmechanikers von heute. Hier siehtman besonders deutlich, dass man eine Qualifizierungbenötigt. Der Dreher hat eine handwerkliche Arbeit ver-richtet, während der Zerspaner mehr und mehr eine theo-retische Arbeit durchzuführen hat. Auch dieses Beispielzeigt: Wir brauchen eine kontinuierliche Weiterbil-dung.Der Gesetzentwurf der Koalition bietet viele Qualifi-zierungsmöglichkeiten. Da kann man nicht von Stück-werk oder von Trippelschritten sprechen.
Das ist ein Gesamtkonzept. Ist es kein Gesamtkonzept,wenn man die eigentlichen Probleme aufgreift, zum Bei-spiel den Mangel an Ausbildungsplätzen? Ausbildungs-plätze für Jugendliche und für Altbewerber werden auchdadurch gefördert, dass man die Existenzförderung mitberücksichtigt. Das ist ein wichtiger Punkt. Ist es keinGesamtkonzept, wenn man die frühkindliche Erziehungin den kommenden Jahren für entscheidend hält und des-halb eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen undder Erzieher erreichen möchte? Ist es kein Gesamtkon-zept, wenn man die Migranten berücksichtigt, wenn manzum Beispiel den ausländischen Jugendlichen, die längerin Deutschland leben, eine Weiterbildungschance, eineAusbildungschance bietet? Ist es kein Gesamtkonzept,wenn die Seniorenbetreuung in den Blick genommenwird?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Hospizpflege mussverbessert werden. Wir brauchen auch eine Verbesse-rung der Pflege der Senioren. Auch das ist in diesem Ge-setzentwurf berücksichtigt.Ein Punkt ist besonders entscheidend: Unsere Leis-tungsträger, unsere Stützen der Industrie und des Hand-werks werden weiterqualifiziert. Die Ausbildung derMeister, Techniker und Fachwirte wird ganz besondersgefördert. Wir benötigen mehr Meister.
Denn eines muss man sehen: Meistermangel ist gleich-zeitig Fachkräftemangel, und zwar aus dem einfachenGrund, weil eine Ausbildung im Handwerk nur durch ei-nen Meister durchgeführt werden kann. Deshalb brau-chen wir in der Zukunft mehr Meister. Unsere Ausbil-dung wird in der Welt anerkannt. Unsere Meister werdenzum Beispiel in England, in Frankreich und auch in Ös-terreich gesucht. Ist es kein Gesamtkonzept, wenn manbei allen Weiterbildungsmaßnahmen die Familienkom-ponente berücksichtigt? Kinder werden unterstützt.Ich meine, dass dies ein gelungener Gesetzentwurfist. Wir von der CDU/CSU und SPD haben ihn gemein-sam erarbeitet. Die Wissensexplosion, die eigentlicheHerausforderung des Jahrhunderts, erfordert lebenslan-ges Lernen. Dafür brauchen wir mehr Ausbildungs-plätze. Die schleichende Dequalifizierung muss verhin-dert werden. Wir können das nur durch solcheMaßnahmen verhindern, wie sie hier aufgeführt wurden.
Metadaten/Kopzeile:
22102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dieter GrasedieckNur so ist ein Wissensvorsprung erreichbar und erhaltbar.Um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu er-halten, müssen wir unsere Facharbeiter und Ingenieurequalifizieren. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz.Zusammenfassend kann man feststellen: Deutsch-land braucht auch in der Zukunft kreative, innovativeFachkräfte. In der Vergangenheit haben unsere Fachar-beiter, Ingenieure, Fachwirte, Techniker und Akademi-ker ihr Können längst bewiesen. Das Können und dieFähigkeiten müssen weiterentwickelt werden. Das kön-nen wir durch die Qualifizierungsmaßnahmen, die wireingeführt haben. Nur so gewinnen wir die Zukunft.Glück auf!
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer, CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Liebe Frau Hinz, ich mag Sie. Ich muss Ihnenaber sagen: Ihre Reden haben immer den Dreiklang:Man sollte, man könnte, man müsste.
Der Punkt ist, dass die Große Koalition konkret undSchritt für Schritt etwas im Sinne der beruflichen Bil-dung bewegt. Dafür steht auch die Reform der Auf-stiegsförderung bzw. des alten Meister-BAföG.Wenn man solche Reden hält wie Sie, Frau Hinz,dann sollte man auch einmal in den Rückspiegelschauen. Das erste Problem, das die Große Koalition zulösen hatte, war, dass Sie damals die agenturgeförderteWeiterbildung, die Berufsorientierung und die Berufsbe-ratung – teilweise durch die Hartz-Gesetze – in Grundund Boden geschossen haben.
Das haben wir korrigiert. Das wird auch am Instrumentder Kurzarbeit deutlich. Wir wollen sie nicht nutzen, umden Menschen eine Prämie dafür zu zahlen, dass sie zuHause bleiben; vielmehr wollen wir Kurzarbeit mit Qua-lifizierung und Förderung verbinden.Ein weiterer Punkt. Ein Kernelement des Meister-BAföG ist der Meisterbrief. Im Rahmen der Hand-werksnovelle 2004 konnte noch in letzter Minute, übri-gens auch vonseiten der Union und des Handwerks,durchgesetzt werden, dass neben der Gefahrengeneigt-heit auch die Ausbildungsleistung im Handwerk für denErhalt des Meisterbriefes gewertet wird.Herr Kollege Grasedieck hat zu Recht darauf hinge-wiesen, dass der Meisterbrief zur Lösung des Problemsdes Facharbeitermangels beitragen kann; denn ein Meis-ter bildet auch aus. Wir haben festgestellt: Dort, wo derMeisterbrief weggefallen ist, beispielsweise bei denFliesenlegern oder bei den Parkettbodenlegern, hat dieMeisterkultur von 2005 bis zum letzten Jahr dahin ge-hend Schaden gelitten, dass nicht mehr 560 Meister-briefe, sondern nur noch 90 Meisterbriefe pro Jahr aus-gehändigt werden.Das hat die Konsequenz, dass die Zahl der Betriebe indiesen Bereichen um 342 Prozent gestiegen ist, dass aberdie Zahl der Ausbildungsplätze um 20 Prozent gesunkenist. Fast alle diese Betriebe sind Ein-Mann-Unternehmenbzw. Ein-Frau-Unternehmen, die in Konkurrenz zu Hand-werksbetrieben mit sozialversicherungspflichtigen Ar-beitsplätzen stehen. Über diesen Irrweg sollten wir mit-einander und mit der Gruppe Wirtschaft im Sinne desMeister-BAföG noch einmal diskutieren. Wir solltendarüber nachdenken, ob wir an dieser Stelle eine Korrek-tur vornehmen können. Als es damals um diese Rege-lung ging, saßen die Grünen übrigens in der ersten Reiheund waren an der Regierung beteiligt.
Sie haben Beifall geklatscht, als dieser Irrweg beschrit-ten worden ist. Auch das gehört zur Wahrheit.
Im Handwerk gibt es mittlerweile 500 000 Auszubil-dende. Daran wird deutlich, dass es beim Handwerk nichtnur um Wirtschaft geht – die FDP nickt freundlich –, son-dern auch um eine Ausbildungskultur, die wir stärkenmüssen und nicht schwächen dürfen. Das Potenzial un-seres Landes ist nicht das Erdöl und sind nicht die Erze,sondern qualifizierte und motivierte Menschen. Bildungist auch der Schlüssel zur Lösung sozialer und wirt-schaftlicher Probleme. Weiterbildung bringt Beteili-gungschancen für die Menschen, aber auch Beteili-gungschancen für unsere Volkswirtschaft.Schon heute wird uns vom Institut der deutschenWirtschaft prognostiziert, dass der deutschen Wirtschaftaufgrund des Facharbeitermangels jährlich Aufträge ineiner Größenordnung von 18,5 Milliarden Euro verlo-ren gehen. Dies zeigt, dass mangelnde Qualifikation be-reits heute ein großes Wachstumshemmnis für die bun-desdeutsche Wirtschaft ist. Hinzu kommt, dass derAnteil der an unseren Hochschulen Studierenden, diekein Abitur haben, bisher nur 2 Prozent beträgt. In denskandinavischen Ländern liegt er bei über 20 Prozent.Ich glaube, dass mehr Praktiker an den Hochschulen so-wohl für die Universitäten als auch für unser Land gutwären.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22103
(C)
(D)
Uwe SchummerIm Übrigen ist die Aussage von Herrn Schneider, dassein 30-Jähriger, der aus der beruflichen Weiterbildungkommt und im Anschluss daran eine Hochschule besu-chen möchte, kein BAföG mehr bekommt – auch wenndas in der Anhörung so gesagt worden ist –, falsch. FürStudierende, die aus der beruflichen Weiterbildung kom-men, gibt es Ausnahmeregelungen, sodass auch sieBAföG beantragen können. Das ist ein wichtiger Punkt.Er ist allerdings bereits Realität.
Bei dieser Reform geht es darum, das Meister-BAföGweiter zu verbessern. Wir wollen konkrete Schritte nachvorne machen, statt Fata Morganas aufzuzeigen. Wenndurch die Verbesserung der Förderung die Zahl der Ge-förderten um 20 Prozent steigt, dann sind es mehrereZehntausend Menschen zusätzlich, die in den Genussvon Meister-BAföG kommen.
Wenn wir statt der Darlehensleistung den Zuschuss beierfolgreichem Abschluss von bisher 30,5 Prozent auffast 48 Prozent verbessern, dann ist auch dies eine wich-tige Hilfe für diejenigen, die diesen Weg beschreiten.
Ganz wichtig ist die Öffnung für Pflege- und Erzie-hungsberufe, ein Zukunftsfeld der Arbeit. Auch hierschaffen wir Optionen. Erstmals können wir mit denLändern bundeseinheitliche Standards für Erziehungs-und Pflegeberufe entwickeln.Mut zum Risiko wird belohnt: Wenn ein Absolventzum Unternehmensgründer wird und ausbildet, seinWissen weitergibt, erhöht sich der Zuschuss, reduziertsich der Darlehensanteil.Dass nicht nur die erste, sondern eine Weiterbildunggefördert wird, sorgt dafür, dass nicht derjenige bestraftwird, diejenige bestraft wird, die aus eigenen Mittelnoder mit einer anderen Finanzierung eine Weiterbildungbereits absolviert hat.Hinzu kommt die verbesserte Förderung von Fami-lien und die Einbeziehung der Prüfungsphase.Das Gesetz leitet also sehr konkrete, zielgerichteteSchritte zur Verbesserung der Weiterbildung ein. Es istein Beitrag der Großen Koalition zur Umsetzung der Be-schlüsse des Bildungsgipfels mit den Ländern. Die natio-nale Bildungskonferenz, die in Dresden stattgefundenhat und die sich die Aufgabe gestellt hat, darauf hinzu-wirken, dass für Bildung und Forschung in den nächstenJahren öffentliche Mittel im Umfang von bis zu10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eingesetzt wer-den, sollte eine ständige Einrichtung werden,
weil damit die Koordination, das Zusammenwirken vonBund und Ländern, sichergestellt werden kann.
– Ich sehe große Euphorie bei der SPD; das wird bei derCDU/CSU sicher auch noch zunehmen.
Aufstiegsfortbildung ist ein Teil der vorhandenenInstrumente, die wir, Christliche Demokraten undChristlich-Soziale Demokraten und Sozialdemokraten,miteinander geschaffen haben. Hinzu kommen die Sti-pendien für Berufsausbildungsabsolventen, die beson-ders exzellent sind; mehr als 15 000 Menschen werdengefördert. Die Bildungsprämie ist mehrfach – auch kri-tisch – angesprochen worden; aber sie ist ein neues In-strument, ein Instrument, an dem wir weiter arbeitenkönnen. Hinzu kommt die Öffnung der Vermögensbil-dung – neben Bausparen und Produktivsparen – für dasBildungssparen, hinzu kommen aber auch Weiterbil-dungsdarlehen und Langzeitkonten für Qualifizierungs-phasen. Es gibt einen roten Faden.Ich habe noch 0,3 Sekunden Zeit. Liebe Freunde, ichmöchte abschließen mit dem, was Ludwig Erhard in sei-nem Manifest ‘72 formulierte: Nicht Privilegien, son-dern persönliche Leistungen legitimieren den berufli-chen Aufstieg in der sozialen Marktwirtschaft. – Das istdie Politik der Union.
In der gefühlten Zeit des Präsidiums hat der Kollege
Schummer die verbliebenen 0,3 Sekunden optimal ge-
nutzt.
Nun erhält als letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt der Kollege Jörg Tauss das Wort.
Ihm stehen dafür sieben Minuten zur Verfügung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Recht herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine liebenKolleginnen! Liebe Kollegen! Der SPD-Fraktionsvorsit-zende hat diese Woche gefragt, ob uns nichts Schöneresals „Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ eingefallensei. Wir haben darüber nachgedacht. Ich werde im Wei-teren vom „Aufstiegs-BAföG“ reden. Ich glaube, dassdiese Formulierung, die analog zum Meister-BAföG ist,dem Sachverhalt gerecht wird.
Was wir hier heute beschließen, ist, glaube ich, dierichtige Antwort auf die Krise, über die ja im Momentviel diskutiert wird. Wir brauchen in Deutschland – dasist festzustellen, egal wie tief das Tal ist oder in dennächsten Jahren noch wird – Fachkräfte, mit denen wir
Metadaten/Kopzeile:
22104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Jörg Taussunseren wirtschaftlichen Erfolg – wir sind ExportnationNummer eins – fortsetzen können. Dieser wirtschaftli-che Erfolg sichert erst die sozialen Leistungen. Insofernist das, was wir heute beschließen, in der Tat ein wichti-ger Baustein.
Allen, die kritisieren, dass die Mittel nicht reichenwürden, will ich sagen: Auch die Maßnahmen, um die esheute geht, stehen nicht für sich allein. Ich war letzteWoche im Wahlkreis in Karlsruhe in einer Einrichtungdes Handwerks. 7 Millionen Euro wurden dort in denAusbau eines überbetrieblichen Ausbildungszentrumsinvestiert. Wir haben uns gestern in der Anhörung darü-ber unterhalten, wie wir im Rahmen des Konjunkturpa-kets etwas für Wohnungen für Studierende tun können,die landauf, landab, insbesondere dort, wo viele Men-schen studieren, gebraucht werden. Warum wird eigent-lich gemäkelt? Wir haben die Leistungen des BAföG um10 Prozent erhöht und die Freibeträge angehoben. Dasgibt vielen Menschen aus sozial schwächeren Familienzusätzliche Chancen.
Lasst uns das einmal würdigen!
Vielleicht hat die schlechte Stimmung im Land, die wirgelegentlich beklagen, auch damit zu tun, dass all das,was wir hier tun, zerredet und nicht so rübergebrachtwird, wie es notwendig wäre.154 Euro Prämie für die berufliche Weiterbildung!Mein Gott, natürlich sind 154 Euro nicht furchtbar viel;aber das ist ein bisschen mehr als 0 Euro, um das an die-ser Stelle einmal deutlich zu sagen. Vorher gab es0 Euro, jetzt gibt es 154 Euro.
Warum gibt es 154 Euro? Wir wollen damit ein Signalsetzen und den Menschen – beispielsweise den 20 Pro-zent der 6 Millionen Menschen, die zu den Volkshoch-schulen gehen, um sich dort beruflich fortzubilden – sa-gen: Leute, was ihr da tut, das ist nicht allein euer Privat-vergnügen. Es ist toll, dass ihr das tut, und wir wolleneuch auch Anreize dazu geben. Wir zeigen, dass dieserStaat, dieses Land, nicht nur darüber redet, dass wir qua-lifizierte Menschen brauchen, sondern wir wollen, dassdiejenigen, die etwas für ihre Fortbildung tun, auch et-was dafür bekommen, wenn es auch aus fiskalischenGründen noch nicht so viel ist, wie wir uns vorstellenkönnten.
Wir sollten hier etwas positiver über diese Dinge reden.Das ist auch meine Bitte an Teile der Opposition.Das gilt auch für den Rechtsanspruch auf einen be-rufsqualifizierenden Schulabschluss. Man kann fra-gen, warum jemand in hohem Alter eigentlich noch ei-nen Schulabschluss nachholen soll. Das ist dieVoraussetzung dafür, dass so mancher einen Job be-kommt. Das gilt gerade für die An- und Ungelernten, diezum Teil keinen Schulabschluss haben. Sie können ei-nem Arbeitgeber beweisen, dass sie noch in der Lagesind, qualifiziert zu werden, etwas aufzunehmen, zu ler-nen und die betrieblichen Aufgaben zu bewältigen. Dasist doch nicht nichts, sondern das ist im Grunde genom-men eine zentrale Entscheidung für ein ganzes Leben,die Chancen beinhaltet.
Heute haben wir in der Tat sehr viel über das Auf-stiegs-BAföG geredet. Die Erzieherinnen und Erzieherund die Pflege sind angesprochen worden. ChristelHumme, das ist eine gute Geschichte. Ich will noch ein-mal daran erinnern, dass ihr für diesen Bereich und des-sen Verbesserung kämpft.36 Prozent der Leistungen fließen weiterhin insHandwerk. Ich halte dies für richtig und wichtig. Kol-lege Schummer, was wir in diesem Bereich zusätzlichtun, ist auch angesprochen worden: Wer diese Leistungin Anspruch nimmt und einen zusätzlichen Ausbildungs-platz schafft – auch als Existenzgründer –, der bekommtdies angerechnet und muss keine Leistungen zurückge-währen. Das ist also auch ein Anreiz, Ausbildungsplätzezu schaffen. Sie geht also nicht nur darum, sich selberweiterzubilden, sondern auch darum, das in der eigenenWeiterbildung Gelernte an junge Menschen weiterzuge-ben. Auch das ist großartig.
Lieber Kollege Kretschmer, Sie haben hier schon einbisschen viel Wahlkampf betrieben. Das ist okay. Wirbeide sind ja Generalsekretäre unserer Parteien in unter-schiedlichen Bundesländern. Insofern kann ich das nach-vollziehen. Der Kollege Schummer hat mir aber bessergefallen.
Ich habe Ihnen hoffentlich nicht geschadet, lieber Kol-lege Schummer. Sie haben ja gemerkt, dass wir auch beiIhnen geklatscht haben. Auch dem Kollegen Storm ha-ben wir heute Beifall gezollt. Ich bedanke mich übrigensbeim gesamten Haus und bei allen, die dafür zuständigwaren, dieses Werk auf den Weg zu bringen.Frau Kollegin Pieper, Ihnen wollte ich mich nun zu-wenden. – Sie ist leider nicht mehr hier; das ist wirklichjammerschade. Frau Flach, dann muss ich Sie an-schauen.
Frau Kollegin Pieper hat heute kritisch gefragt, waswir eigentlich mit den 10 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts tun. 7 Prozent wollen wir für Bildung ausgebenund 3 Prozent für Forschung und Entwicklung. Das istdoch ein tolles Ziel. Eines ist aber doch klar – das solltenwir hier in aller Ehrlichkeit sagen, weil Sie gefragt ha-ben, wie weit wir mit unserer Vereinbarung sind –: Dasbedeutet 50 Milliarden Euro mehr für den Bund pro Jahr,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22105
(C)
(D)
Jörg Tausshat also den Umfang des Konjunkturprogramms, das wirgerade besprochen haben, und zwar jedes Jahr. Daskommt doch nicht von irgendwo. Liebe Liberale, die ihreuch so nennt, ihr müsst euch schon darüber im Klarensein, ob ihr diese 50 Milliarden Euro auf Pump finanzie-ren wollt – wenn dies gefordert wird, stimme ich zu –oder ob ihr Steuersenkungen wollt. Ihr müsst mal sagen,was ihr wollt.
Mit Steuersenkungen werden wir dieses 10-Prozent-Zielnie im Leben erreichen.Liebe Kollegin Hinz, jetzt nehme ich Sie mir auchnoch ein bisschen vor. 52 Sekunden habe ich noch; derHerr Präsident ist heute ganz großzügig. Bei Rot-Grünwar es nicht so, dass ihr Grünen bei der Weiterbildungdie Vorreiter wart. Ich sage das ganz zart und bedächtig.Das können wir an anderer Stelle aber noch einmal an-sprechen.
Wir wollen heute ja keine Schlechte-Laune-Beiträge ab-geben.Liebe FDP, Sie haben gesagt, wir würden mit derAufstiegsfortbildung etwas von der Wiege bis zur Bahrefordern. Nein, das tun wir weiß Gott nicht. Für die„Wiege“ brauchen wir keine Aufstiegsfortbildung undauch keine Weiterbildung. Hierfür haben wir Maßnah-men ergriffen. Wir tun etwas für die Kindergärten undfür die Schulen. Wir wollen mit der Aufstiegsfortbildungetwas für die Erwachsenen tun. Dies muss sinnvoll in einErwachsenenbildungs- bzw. Erwachsenenfortbildungs-förderungsgesetz eingebettet sein, egal wie es dannheißt; dafür finden wir noch einen schönen Namen.Heute wird mit unserem Aufstiegs-BAföG ein wichtigerSchritt in diese Richtung gegangen. Wir sind stolz da-rauf, dass wir das hinbekommen haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein wichti-ges Signal, dass wir in diesem Lande etwas für die Wei-terbildung tun, und zwar entgegen all denjenigen, die he-rummäkeln. Das dürfen sie zwar, aber ich mache dabeinicht mit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu-nächst zur Abstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes.
– Sie haben nach unserer Geschäftsordnung die Mög-lichkeit, noch Anträge zur Veränderung des Titels diesesGesetzentwurfs zu stellen.Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf der Drucksache 16/11904,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 16/10996 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Da-mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom-men.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der FDP bei Stimmenthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion DieLinke mit breiter Mehrheit angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache16/11914. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derEntschließungsantrag abgelehnt.Wir setzen die Abstimmungen mit der Beschlussemp-fehlung des Ausschusses auf Drucksache 16/11904 zuTagesordnungspunkt 3 b fort. Der Ausschuss empfiehltunter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 16/11374 mit dem Titel „Verlässliche Bildungsför-derung für Erwachsene noch in dieser Legislatur auf denWeg bringen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlungzu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit brei-ter Mehrheit angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/11202 mit dem Titel „Förderung des lebenslan-gen Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen“.Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Auchdiese Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit an-genommen.
– Nachdem wir nun die Stimmenthaltung der FraktionDie Linke ordnungsgemäß ins Protokoll aufgenommenhaben, stelle ich Einvernehmen über meine Mitteilungfest, dass auch diese Beschlussempfehlung mit breiterMehrheit angenommen worden ist.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielBahr , Heinz Lanfermann, Dr. KonradSchily, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPFür ein einfaches, transparentes und leistungs-gerechtes Gesundheitswesen– Drucksache 16/11879 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Metadaten/Kopzeile:
22106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert LammertNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 75 Mi-nuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.Dann kann das als vereinbart gelten.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Frak-tion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Fragt man die Bürger, wie sie unser Gesundheits-system beurteilen, gibt es durchaus viel Lob, nämlich fürdie vielen Menschen, die dort nicht nur ihre Pflicht tun,sondern oft viel mehr und den Patienten helfen.Die Gesundheitspolitik als solche wird jedoch kaumgelobt und die zuständige Ministerin am allerwenigsten.Das kann man auch gut verstehen: Für den höchstenZwangsbeitrag aller Zeiten gibt es immer schlechtereLeistungen und längere Wartezeiten. In der Apothekegibt es mal dieses, mal jenes Medikament, je nachdem,wer mit wem welchen Rabattvertrag geschlossen hat.Bei den Hilfsmitteln gibt es große Probleme, und diefreie Arztwahl ist sehr gefährdet.Vieles ist nur noch absurd.
Ein aktuelles Beispiel: SPD und Union haben gegen alleWarnungen einen hoch komplizierten, morbiditätsorien-tierten Risikostrukturausgleich geschaffen und damitbewusst die falschen Anreize gesetzt. Was ist das für einSystem, in dem Ärzte und Krankenkassen einen finan-ziellen Vorteil davon haben, dass die Menschen in denAkten kranker als bisher eingestuft werden?
Das ist erstens eine Einladung zur Manipulation.
Zweitens stellt sich die Frage, ob Folgen für die Thera-pie – zum Beispiel bei einem Arztwechsel – wirklichauszuschließen sind.Oder denken Sie an die Honorarreform. Die Ge-sundheitsministerin verspricht 3 Milliarden Euro mehrfür ärztliche Behandlung, aber Tausende von Praxen be-kommen erheblich weniger Geld. Frau Schmidt spieltdas Unschuldslamm und schiebt die Schuld auf Ärzteund Krankenkassen. Die Selbstverwaltung soll schuldsein. In Wahrheit macht sie ein schlechtes Gesetz undmischt sich massiv in die Verhandlungen ein – das be-richten alle, die dabei waren –, aber dann hat sie nichtsmehr damit zu tun. Nein, Verantwortung und Chaos ha-ben einen Namen, Frau Schmidt.
Unser Gesundheitswesen ist krank. Es erstickt an derRegulierungswut. Es gibt immer mehr Gesetze und Vor-schriften, die keiner mehr versteht. Es ist alles viel zukompliziert. Im Gesundheitswesen hat sich Planwirt-schaft breitgemacht: höhere Kosten, geringere Effizienz,Dirigismus, Zuteilung und am Ende Mangel und Pleite.Genau deswegen warten viele Menschen hoffnungsvollauf die nächste Bundestagswahl. Sie warten auf den Po-litikwechsel, auf die Umkehr weg von der Staatsmedi-zin.Wir wollen den einzelnen Bürger, der jetzt Objekt ei-nes aufgeblähten bürokratischen Systems ist, das seineBeiträge verschlingt und verstreut, wieder in den Mittel-punkt stellen. Seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seineWahlfreiheit als Kunde sind unser Maßstab für die Ge-sundheitspolitik.
Wir schützen seine Rechte, sehen aber auch seine Pflich-ten gegenüber den Mitbürgern. Er hat Rechte und Pflich-ten.Die FDP sieht daher für alle Bürger eine gesetzlichverankerte Pflicht zur Versicherung vor, die alles Not-wendige abdeckt und gleichzeitig für jeden BürgerWahl- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.
– Wenn Sie das lesen wollen, Frau Ferner, brauchen Sienur in den Antrag zu sehen, der hier diskutiert wird. – Ineinem gesetzlichen Rahmen, der für alle gleich und fairist, können alle Krankenversicherungen ihre Erfahrun-gen und Kompetenzen einbringen und den Bürgern ihreAngebote machen, unter denen dann jeder Bürger freiwählen kann. An dieser klaren Ansage kann auch jedererkennen, dass die Behauptung, wir wollten die Kran-kenkassen abschaffen, wie hier und da zu lesen war,schlichtweg falsch ist.
Sie erhalten vielmehr neue Möglichkeiten. Genauer ge-sagt: Wir befreien sie aus der Schmidt’schen Bevormun-dung.Wir wollen selbstverständlich eine soziale Kranken-versicherung, bei der denen geholfen wird, die ihrenBeitrag nicht oder nur teilweise aus eigener Kraft auf-bringen können. Das ist vernünftige Sozialpolitik; siesetzt dort an, wo Hilfe nötig ist, im Gegensatz zu derangeblich sozialen Politik, bei der der Staat den Bür-gern möglichst viel Geld abnimmt, um es dann wiederhöchst kompliziert zu verteilen. Wir wollen keineBürgerzwangsversicherung mit einer Einheitskasse à laSchmidt.
Wir wollen drei Ziele erreichen. Erstens wollen wireine gesundheitliche Versorgung für alle Bürger, garan-tiert durch die Pflicht zur Versicherung und getragendurch die Solidarität der Bürger.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22107
(C)
(D)
Heinz LanfermannZweitens wollen wir die größtmögliche Freiheit für alleBürger mit einem Wahlrecht, zum Beispiel durch Eigen-beteiligungen selber Einfluss auf die Gestaltung ihrerKrankenversicherung zu nehmen, und zwar stärker alsbisher. Damit erreichen wir drittens bessere Leistungenfür alle zu günstigeren Preisen;
denn es kann ein fairer Wettbewerb zwischen allen An-bietern stattfinden, die sich um den Gesundheitsbürgerals Kunden bemühen müssen.Ich lade Sie zu dieser Diskussion ein und danke Ihnenfür Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/
CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Kollege Lanfermann, man kann mit eini-gen Zielen, die Sie angesprochen haben, einiggehen.Aber die entscheidende Frage, wie Sie das alles finanzie-ren wollen, haben Sie nicht beantwortet.
Damit eines klar ist: Mit uns wird es eine Abschaffungder gesetzlichen Krankenversicherung nicht geben.
Die deutsche Krankenversicherung ist ein Modell, dasaufgrund der Qualität, des Versorgungsgrades, des Aus-maßes der Leistungen sowie des Nebeneinanders vongesetzlicher und privater Krankenversicherung weltweitgeachtet wird. Sie steht weltweit an erster Stelle. Nunmuss die Politik ihren Teil dazu beitragen, dass dies sobleibt. Wenn jemand das System ändern will oder einneues System einführen will, muss er zuerst die Fragebeantworten: Welche medizinische Versorgung wollenwir? Wollen wir rein wirtschaftlich vorgehen, oderwollen wir mehr Menschlichkeit? Wollen wir mehr Frei-beruflichkeit oder mehr Staatsmedizin? Wollen wir me-dizinischen Fortschritt für alle, oder wollen wir Aus-grenzung?
Um eine qualitativ hochwertige medizinische Versor-gung zu gewährleisten, sind für uns grundlegende Ele-mente unverzichtbar. Dazu gehören an erster Stelle dieSolidarität und an zweiter Stelle die Freiberuflichkeit.Letztere kann man durch Planungssicherheit, Beendigungder Budgetierung – das haben wir bereits gemacht –, leis-tungsgerechtere Bezahlung, feste Preise und wenigerBürokratie stärken. Aber alle müssen daran mitarbeiten.Die freie Arztwahl ist für uns ein hohes Gut, genausowie die Beitragsfinanzierung. Man kann natürlich eineFinanzierung allein über Beiträge als nicht zukunftsfähigdarstellen; das ist richtig. Aber eine Finanzierung ohneBeiträge ist nicht krisenfest. Deshalb müssen wir zu ei-ner vernünftigen Mischkalkulation kommen. Wir brau-chen zudem mehr Transparenz. Wie ist der Geldfluss?Wir treten dafür ein, dass die gesetzlich Krankenversi-cherten eine Rechnung bekommen, wenn sie zum Arztgehen. Auch das schafft mehr Transparenz. Schließlichtreten wir für die Selbstverwaltung ein. Allerdingsmuss auch die Selbstverwaltung in schwierigen Zeitenihre Hausaufgaben erledigen.
Ich bestreite nicht, dass es innerhalb der gesetzlichenKrankenversicherung eine Reihe von Problemen gibt.Deshalb werden strukturelle Verbesserungen der Kran-kenversicherung sowie die Optimierung von Qualitätund Effizienz eine Daueraufgabe bleiben.
Ich halte es im Übrigen für eine Illusion, dass es bei derReform des deutschen Gesundheitswesens eine Wunder-waffe gäbe, die man nur realisieren müsste, um ein fürallemal Ruhe im System zu schaffen. Gestatten Sie mirin diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Wir könnenuns in diesem System zu Tode reformieren. Wenn aberdie Moral der Beteiligten nicht stimmt, fahren wir alleSozialsysteme an die Wand.
Es ist ärgerlich, wenn zum Beispiel in einem Bundes-land behauptet wird, ein Arzt bekomme im Quartal nur30 Euro pro Patient. Die Ärzte sind dadurch verunsi-chert; das kann ich verstehen. Wenn man das aber aufdas Jahr hochrechnet und mit der Versichertenzahl multi-pliziert, dann kommt man auf einen Bedarf von600 Millionen bzw. maximal 1 Milliarde Euro. Tatsäch-lich stehen dieser KV aber 2,5 Milliarden Euro zur Ver-fügung. Angesichts dessen muss doch die Frage erlaubtsein: Wo ist das Geld?
Es wird höchste Zeit, dass solche Widersprücheschnellstens aufgeklärt werden, damit die Ärzte wiederPlanungssicherheit bekommen und damit die Verunsi-cherung der Patienten endlich aufhört.
Ich habe auch kein Verständnis dafür, wenn zum Bei-spiel Krankenkassen ihren Versicherten ein Wellness-wochenende anbieten und dafür mehr Geld erstatten, alsdie Vergütung eines Arztes für die Behandlung über dasganze Jahr beträgt. Das passt nicht zu einem solidarischfinanzierten Gesundheitssystem.
Metadaten/Kopzeile:
22108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Wolfgang ZöllerIch halte es ebenfalls für nicht richtig, wenn ÄrzteKrankenkassen drohen, ihre Versicherten niedriger ein-zustufen, wenn die Verträge nicht in ihrem Sinne abge-schlossen werden. Wir brauchen gerade in diesemGesundheitssystem mehr Ehrlichkeit und Ethik statt Mo-netik.
Ein weiterer Punkt. Pluralität ist für uns ein Garantfür Wettbewerb und Qualität; dies kommt bei den betrof-fenen Menschen an. Deshalb bekennen wir uns zu unse-rem System mit seiner Vielfalt und dem Nebeneinandervon gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Diezentrale Frage der Politik besteht doch darin, wie wirRahmenbedingungen so verändern können, dass die Ak-teure im Gesundheitswesen diesen Prozess möglichstohne ständige gesetzgeberische Begleitung gestaltenkönnen. Die Diskussionen über die Finanzierung derKrankenversicherung haben gezeigt, dass es ein Irrwegist, wenn man glaubt, ein System nur zentralistisch durchden Gesetzgeber steuern zu können. Dies führt automa-tisch zu mehr Kontrolle, Bürokratie und immer neuenParagrafen. Die Politik sollte die Menschen nicht bevor-munden und ihnen bis ins Detail vorschreiben, was siezu tun haben. Daraus ergibt sich nämlich eine falsche Si-cherheit.Die Menschen müssen allerdings auch mehr für ihreeigene Gesundheit tun. Es gibt eine Fülle von Möglich-keiten und Angeboten zur Prävention von Krankheiten,ob das die Krebsvorsorge ist, ob das die Zahnprophylaxeist oder ob das der Gesundheits-Check-up ist. Diese soll-ten und müssten mehr als bisher in Anspruch genommenwerden.
Wenn es stimmt, dass durch falsche Ernährung oderdurch mangelnde Bewegung ursächlich circa 30 Prozentder Gesundheitsausgaben entstehen, dann brauchen wirschnellstmöglich einen Bewusstseinswandel.
Jeder muss sich selbst fragen, wie gesundheitsschädi-gendes Verhalten eingeschränkt werden kann. FehlendeMundhygiene, Nikotinkonsum und mangelnde Bewe-gung sind nicht schicksalhaft. Hier kann jeder mehr fürsich tun. Dies kann aber kein Gesetzgeber vorschreiben;er kann allenfalls finanzielle Anreize setzen.Künftig wird es darauf ankommen, der Bevölkerungdie Alternativen aufzuzeigen: entweder die solidarischeAbsicherung einer hochwertigen medizinischen Versor-gung der großen Risiken und Übernahme von Eigenver-antwortung bei kleinen Risiken und Selbstbeteiligung imGesundheitswesen oder eine Vollversorgung auf niedri-gerem Niveau mit Leistungsausgrenzung und Reduzie-rung der medizinischen Versorgung; entweder ein frei-heitliches Gesundheitswesen, in dem die Versichertenihre Krankenkassen, das Krankenhaus und ihren Arztfrei wählen und sich für verschiedene Gestaltungsfor-men ihrer medizinischen Versorgung entscheiden kön-nen oder Bevormundung der Versicherten; entweder eineflächendeckende und wohnortnahe ärztliche und fach-ärztliche Versorgung oder große Kliniken und zentraleVersorgung.Wenn alle am System Beteiligten ihr Handeln danachausrichten, wie man dem Patienten optimal helfen kann,dann ist es mir um unser Gesundheitssystem nichtbange.
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Spieth für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Man kann der FDP-Bundes-tagsfraktion vorwerfen, was man will, aber eines mit Si-cherheit nicht,
nämlich dass sie unehrlich in den Bundestagswahlkampfgeht und nicht klar ihre gesundheitspolitischen Vorstel-lungen für die nächste Legislaturperiode hier im Hauseauf den Tisch legt. Man kann sich bei ihr regelrecht da-für bedanken, dass sie heute mit diesem Antrag der Be-völkerung klar sagt: Wir wollen den Ausstieg aus der so-lidarischen gesetzlichen Krankenversicherung
und hinein in die Abdeckung der Gesundheitsrisikendurch die Privatversicherung.
Allianz und Co. geben nicht nur Spenden, sondern lassenhier auch grüßen. Sie verlassen mit Ihren Vorschlägennach unserer festen Überzeugung das Solidarprinzip imGesundheitswesen, in der gesetzlichen Krankenversi-cherung. Das wird von fast allen Akteuren, die sich mitIhren Vorschlägen in den letzten Tagen auseinanderge-setzt haben, genauso gesehen.Was mich dabei erstaunt, ist, dass Sie selbst – an-scheinend aufgrund Ihrer guten Umfrageergebnisse –mittlerweile soweit im Orbit gelandet sind, dass Sie jedeBodenhaftung verloren haben, sogar zu Ihren eigenenWählerinnen und Wählern. 80 Prozent von diesen sagen– nachzulesen im letzten Gesundheitsmonitor derBertelsmann-Stiftung –, dass Gesunde Kranke unterstüt-zen müssen und dass Junge Alte in den Risiken unter-stützen sollen. Außerdem sagen sie: Besserverdienendesollen Schlechterverdienende unterstützen. Ich betone:Für all diese Aussagen gibt es eine 80-prozentige Zu-stimmung, sogar bei den FDP-Wählerinnen und -Wäh-lern.
Genau das missachten Sie mit Ihren Vorschlägen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22109
(C)
(D)
Frank SpiethDamit Sie das nachvollziehen können – vielleichtwissen Sie das selbst nicht –, möchte ich das einfach ein-mal an ausgewählten Punkten klarmachen.Mit der von Ihnen geforderten Abschaffung der Kran-kenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechtswürde der Ausstieg aus der gesetzlichen Krankenversi-cherung herbeigeführt; die Risiken wollen Sie privat ab-sichern lassen. Das ist Ihre eindeutige Botschaft. Das hatmit Solidarität nichts mehr zu tun.
Sie wollen die Absicherung im Krankheitsfall überleistungsgerechte Prämien. Sie sollten uns hier einmalerklären – wir haben im weiteren Verfahren Gelegenheitdazu –, was Sie mit „leistungsgerechten Prämien“ mei-nen. Meinen Sie das Kopfpauschalmodell der CDU mit170 Euro für jeden Erwachsenen?
Oder meinen Sie, dass zwar im Mittel 170 Euro gezahltwerden, dass die Versicherten aber pauschal einen risi-kobezogenen Vertrag abschließen? Das sollten Sie unsund der Öffentlichkeit erklären. Ich meine, die Öffent-lichkeit sollte wissen, was Sie vorhaben.Tatsache ist: Wenn wir von jedem Erwachsenen einePrämie verlangen – ich will es einmal an dem altenCDU-Modell klarmachen –, dann heißt das, dass in derKrankenversicherung zukünftig pauschal für jeden Er-wachsenen über 18 Jahre 170 Euro zu zahlen sind. Diebeitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigenohne eigenes Einkommen gibt es dann nicht mehr. Bei-spiel: Ein Kind in einem Dreipersonenhaushalt wirdnach Ihren Vorstellungen möglicherweise steuerfinan-ziert abgesichert, während ein bisher beitragsfrei mitver-sicherter Angehöriger, der kein eigenes Einkommen hat,dann Krankenversicherungsbeiträge – 340 Euro – zahlenmuss. Das ist fast doppelt so viel, wie ein Krankenversi-cherter jetzt in der gesetzlichen Krankenversicherung zuzahlen hat. Das ist die Realität hinter diesem Vorschlag.Ich finde, das ist nicht nur unsozial, sondern asozial. Dashat mit Solidarität nichts mehr zu tun.
Sie sagen, dass das Sachleistungsprinzip, das dem Pa-tienten nach Zahlung der Krankenversicherungsbeiträgeeinen freien Zugang zu den Gesundheitsleistungen bie-ten soll, durch das Kostenerstattungsprinzip ersetztwerden soll. Das hört sich fantastisch an. Allerdingsweiß kaum jemand das vernünftig zu bewerten. Washeißt das denn? Das heißt auf gut Deutsch: Wenn jemandein künstliches Hüftgelenk braucht, dann kostet das inder gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschlandim Durchschnitt 15 000 Euro. Sie erwarten, dass ein Ver-sicherter künftig diese 15 000 Euro vorlegt, also dieRechnung des Leistungserbringers begleicht, und an-schließend mit dieser Rechnung zur Krankenversiche-rung geht und sich dort diese Sachleistung erstatten lässt.
– So ist doch die Regel. Da können Sie reden, was Siewollen. Das steckt dahinter. Ihre Aufregung ist beredt,meine Damen und Herren von der FDP.
Der Versicherte legt also vor und holt sich dann beider Krankenkasse einen Zuschuss. Der Versicherte weißin der Regel nicht, wie hoch dieser Zuschuss sein wird.Das ist Abenteurertum. Das hat mit sozial verantwortli-cher Politik überhaupt nichts mehr zu tun.
Ich könnte Ihnen eine Reihe weiterer Beispiele nennen.Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ja eher IhrKampfblatt ist,
hat am 10. Februar sehr konkret und deutlich zu IhremAntrag geschrieben: Man kann sich nur verwundert dieAugen reiben. Offenkundig hat die FDP nicht begriffen,dass sie 2005 gemeinsam mit der CDU die Mehrheit ver-fehlt hat, weil sie schon damals mit derartig unsozialenKonzepten in der sozialen Absicherung gestartet ist.Ich glaube, das kapieren die Menschen in diesemLand auch diesmal. Ich hoffe, dass Sie von Ihrem Hö-henflug wieder auf den Boden kommen.Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, sehr geehrte Her-ren und Damen von der FDP, zeigt, wes Geistes Kind Siesind. Sie wollen zurück zu einer Ellenbogengesell-schaft, die wir eigentlich seit Bismarck überwunden ha-ben, statt die elementaren Risiken, die wir in solidari-schen Sozialversicherungssystemen abzusichern haben,auch tatsächlich solidarisch abzusichern.Was Sie hier vorlegen, ist eigentlich ein Zeugnis kol-lektiver Verantwortungslosigkeit.
Es ist im Übrigen – wenn man sich die Einzelpunkte an-schaut, stellt man das fest; ich werde nachher noch da-rauf zu sprechen kommen – die Lizenz zum Gelddru-cken für die Leistungserbringer.
Metadaten/Kopzeile:
22110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Elke FernerDie Patienten und Patientinnen werden zum Spielballder Leistungserbringer. Ihre Forderungen schaffen nichtmehr, sondern weniger Transparenz.
Die Ausgaben für die Versicherten, insbesondere für diePatienten und Patientinnen, werden mit Ihrem Konzeptin schwindelerregende Höhen steigen.
Sie wollen einen Sozialausgleich über das Steuer-und Transfersystem. Das ist viel bürokratischer als das,was wir schon heute zur Umverteilung im System dergesetzlichen Krankenversicherung haben. Gleichzeitigfordern Sie Steuersenkungen für die Spitzenverdiener.Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses will Einspa-rungen bei den Ausgaben. Ich frage Sie ernsthaft: Wiewollen Sie das finanzieren? Was Sie hier bieten, das sindalles Luftnummern.
Sie verabschieden sich vom bisherigen gesellschaftli-chen Konsens, nach dem im Krankheitsfall die Starkenfür die Schwachen, die Gesunden für die Kranken, dieJungen für die Alten und die Besserverdienenden für dieweniger gut Verdienenden einstehen. Ich glaube nicht,dass Sie dafür hier irgendeinen Koalitionspartner finden– zumindest war das aus den bisherigen Redebeiträgennicht zu ersehen – oder dass es dafür eine Mehrheit inder Bevölkerung gibt.
Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. In derNr. 1 des Antrags fordern Sie, dass die Krankenkassensich von Körperschaften öffentlichen Rechts zu Unter-nehmen mit sozialer Verantwortung wandeln.
Ich kenne keinen Rechtsbegriff, der da lautet „Unterneh-men mit sozialer Verantwortung“. Die Krankenkassenwürden sofort dem normalen Insolvenzrecht unterlie-gen.
Was heißt das eigentlich für die Versicherten und für dieLeistungserbringer, Herr Bahr?
– Moment! Sie wissen ganz genau, dass es nicht das nor-male Insolvenzrecht ist,
sondern dass es durchaus Einschränkungen gibt,
sodass dann, wenn es um die Verteilung der Masse geht,die Ansprüche der Versicherten und der Leistungserbrin-ger absolut gesichert sind.
Das ist im normalen Insolvenzrecht nicht der Fall.
– Es scheint Sie sehr aufzuregen, dass ich auf die rich-tige Spur gekommen bin.
Außerdem frage ich mich: Wem sollen diese Unter-nehmen mit sozialer Verantwortung gehören, was pas-siert mit möglichen Gewinnen usw. usf.?
Was ist mit den Versicherten? Wer soll deren Rechtewahrnehmen? Muss jeder Arzt dann mit jeder Kasse ei-nen Vertrag schließen? Wie soll das praktisch funktio-nieren?Sie fordern in der Nr. 1 auch, den RSA zu reduzieren.Das heißt, Sie wollen weniger Gerechtigkeit im Gesund-heitssystem, als wir mit dem Gesundheitsfonds geschaf-fen haben.
Das verzerrt die Wettbewerbsbedingungen und macht sienicht fairer.
Die Nr. 2 des Antrags betrifft das Thema „Verständ-lichkeit und Transparenz für alle Beteiligten“.
Sie wollen gesetzlich vorgegebene Budgets durch leis-tungsgerechte Preise ersetzen. Was heißt das? Das heißtklipp und klar, dass die Ausgaben für die ärztliche Be-handlung im ambulanten Bereich deutlich steigen wer-den. Wir reden dann locker von 4 bis 5 Milliarden Euro.Sie wollen die Reduzierung der Zahl der Instrumenteim Arzneimittelbereich. Das bedeutet höhere Arzneimit-telausgaben. Das bedeutet, dass wir noch einen Beitrags-satzpunkt oder 1,5 Beitragssatzpunkte draufpacken müs-sen, damit die Ausgaben finanziert werden können.Ich möchte an dieser Stelle auch noch etwas zu demsagen, was im Moment in den Praxen bezüglich der Be-zahlung von Leistungen abläuft. Das Honorarsystemund insbesondere die Verteilung des Honorars ist Sacheder Selbstverwaltung. Offensichtlich schafft es dieSelbstverwaltung in den einzelnen Kassenärztlichen Ver-einigungen nicht, den Ärzten in den Praxen klarzuma-chen, wie viel sie am Jahresende wirklich aus dem Ho-norartopf zu erwarten haben. Von den Ärztinnen undÄrzten, aber auch von den Krankenkassen erwarte ich,dass dieser ganze Zoff nicht auf dem Rücken der Patien-tinnen und Patienten ausgetragen wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22111
(C)
(D)
Elke FernerIch erwarte von den KVen, dass sie den Ärztinnen undÄrzten, die in ihren Praxen Vorkasse verlangen oder diebehaupten, dass die Kassen bestimmte Behandlungennicht bezahlen, obwohl die Kassen sie natürlich bezah-len, aufs Eisen steigen. Von den Kassen erwarte ich, dasssie für ihre Patienten eintreten und darauf achten, dassdie Verträge, die sie mit den KVen ausgehandelt haben,auch eingehalten werden.
Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Lotter von der FDP-Fraktion?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Frau Kollegin Ferner, ist Ihnen bekannt, dass die
Selbstverwaltung gesetzliche Vorgaben erfüllen und um-
setzen muss, also der Gesetzgeber den Rahmen schafft,
in dem die Selbstverwaltung tätig wird?
Sie sprachen auch von Gerechtigkeit. Finden Sie es
gerecht, dass zum Beispiel ein Augenarzt ein Regelleis-
tungsvolumen von 17 Euro pro Quartal und Patienten
hat? Finden Sie es gerecht, dass Hausbesuche von mir
als Hausarzt grundsätzlich schon mit dem Regelleis-
tungsvolumen abgegolten sind und nur Besuche außer-
halb der Routine, also nur zu bestimmten Zeiten, extra-
budgetär vergütet werden?
Zum einen ist in keinem Gesetz die Höhe dieser Ver-gütungen festgelegt. Zum anderen: Ja, wir haben denRahmen geschaffen, aber die Entscheidung darüber, wiedas ärztliche Honorar auf die einzelnen Arztgruppen ver-teilt wird – man kann ja durchaus auch fragen, ob es bis-her gerecht verteilt worden ist –, obliegt allein den Kas-senärztlichen Vereinigungen und der KBV.
Hierfür gibt es den Bewertungsausschuss; da wird überall das diskutiert.
– Herr Lanfermann, Sie können gerne auch noch einmaleine Zwischenfrage stellen, aber ich möchte Ihnen einessagen: Selbst Herr Köhler sagt durchaus – Sie kennen jawahrscheinlich den Brief von Herrn Köhler an die Ärzte-schaft in Deutschland –, dass mehr Geld im System ist,unabhängig davon, dass noch einige Probleme zu regelnsind. Ich begreife nicht, dass die 3 Milliarden Euro, diejetzt mehr im System sind, nirgendwo ankommen. Dasverstehe ich nicht, und das versteht auch niemand in derBevölkerung.
Weiterhin fordern Sie strikte Einhaltung der Subsidia-rität. Sie sagen, Eigenverantwortung gehe vor Kollek-tivverantwortung und Unterstützung solle es nur für den-jenigen geben, der nicht in der Lage ist, selbst für sich zusorgen. Das heißt übersetzt: Wenn jeder für sich selbersorgt, ist für alle gesorgt. Das ist also das Motto der FDP.
Nächster Punkt: Beitragsgerechtigkeit. Die Einfüh-rung einer Kopfprämie – das haben wir im letzten Bun-destagswahlkampf gesehen – wäre absolut ungerecht.Die Leute akzeptieren das nicht, und zu Recht akzeptie-ren sie es nicht.
Das Beispiel, das Sie in diesem Zusammenhang anbrin-gen, ist nun wirklich an Dümmlichkeit nicht mehr zuüberbieten.
Ich habe mir einfach einmal die Zahlen herausgesucht;das liegt ja heute alles offen. Eine Bäckereifachverkäufe-rin im Westen zahlt bei einem Bruttoeinkommen von1 399 Euro inklusive des Sonderbeitrags 114,72 Euro alsKrankenversicherungsbeitrag. Die Millionen von Gene-raldirektoren, die nach Ihrer Auffassung ja in der gesetz-lichen Krankenversicherung freiwillig versichert seinsollen, würden monatlich inklusive Sonderbeitrag je-weils 301,35 Euro zahlen.
Selbst wenn die Ehegattin des Generaldirektors bei ihmbeitragsfrei mitversichert ist, ist es nach meiner Berech-nung nicht so, dass die Bäckereifachverkäuferin dieKrankheitskosten des Generaldirektors mitfinanziert. Ichweiß nicht, was Sie sich bei Ihrem Beispiel gedacht ha-ben, aber auf jeden Fall ist es völlig daneben.Weiterhin fordern Sie eine Kapitaldeckung. Das isteine alte Forderung.
Das hieße – das muss man den Menschen aber auch sa-gen –, dass jeder zusätzlich zu den Ausgaben und Auf-wendungen für die Finanzierung der medizinischenLeistungen noch etwas drauflegen muss, damit ein Kapi-talstock gebildet werden kann.
Metadaten/Kopzeile:
22112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Elke FernerDass man sich traut, gerade in Zeiten einer Finanzkrise
den Aufbau von Kapitalstöcken zu fordern, ist irrwitzig.Man sollte sich nur einmal vor Augen führen, dass ver-schiedene Pensionsfonds in ausgewählten OECD-Staa-ten im letzten Jahr nahezu 20 Prozent ihres Wertes verlo-ren haben. Auch damit werden die Kosten nichtverringert, sondern das ist eine zusätzliche Belastung.Ich sage Ihnen: Die beste Absicherung ist, wenn Men-schen für Menschen einstehen,
anstatt auf windige Kapitalstöcke zu setzen, die nichtrichtig kontrolliert werden und für kommende Genera-tionen keine echte Vorsorge darstellen.
Dann kommt Ihr Lieblingsvorschlag: Planungssicher-heit für Arbeitsplätze. Der Arbeitgeberanteil soll alsLohnbestandteil ausgezahlt werden.
Das bedeutet, dass dieser Lohnbestandteil direkt derSteuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegt. Daswiederum bedeutet, dass schon nach dem heutigen Mo-dell für die Bezahlung des Krankenversicherungsbeitra-ges weniger Geld als bisher zur Verfügung steht
– natürlich stimmt das –,
es sei denn, Sie wollen – wie auch immer – die Steuernsenken.
Auf alle Fälle ist dieser Teil steuer- und sozialversiche-rungspflichtig.
Zur Sozialversicherung gehören nicht nur die Kranken-versicherung, sondern auch die Arbeitslosenversiche-rung, die Rentenversicherung und die Pflegeversiche-rung, falls Ihnen das noch nicht bekannt ist. Das heißtalso: Es gibt nicht mehr Netto für alle, sondern wenigerNetto für alle.
Dann fordern Sie eine Zweckbindung für die Steu-erzuschüsse. Man kann zwar Steuerzuschüsse politischbinden, aber man kann sie nicht zweckbinden.
Das ist eben das System mit Steuern. Beiträge und Ge-bühren können Sie zweckbinden, aber keine Steuern. Dagilt immer noch das Nonallokationsprinzip. Man kannSteuerzuschüsse politisch binden. Aber Sie sind dabeinicht davor gefeit, dass irgendwann andere Entscheidun-gen getroffen werden.Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag wird die Men-schen zum Nachdenken bringen. Sie fordern dieKonzentration der obligatorisch durch die Solidarge-meinschaft zu finanzierenden Leistungen auf das medi-zinisch wirklich Notwendige. Ich frage Sie: Was istdenn medizinisch wirklich notwendig? Welche Leistun-gen der GKV sind denn heute nicht medizinisch wirklichnotwendig? Was heißt denn: Menschen sollen zunächsteinmal für sich selbst einstehen?
– Ich frage Sie: Welche Leistungen sind das? Das stehtnicht in Ihrem Antrag. Sie machen eine Politik nach demMotto: Jeder für sich und keiner für den anderen! Das istalles andere als solidarisch und wird nicht dazu führen,den Zusammenhalt in der Gesellschaft wirklich zu stär-ken.Unter dem Stichwort „Stärkung der Patientenautono-mie“ wollen Sie eine gemeinsame Therapiefestlegungzwischen Arzt und Patienten. Das ist schon heute so. Ichkenne niemanden, der sich eine Therapie aufzwingenlässt.
– Von Ärzten oder Patienten? In dem Fall sind Sie offen-bar nicht da unterwegs, wo ich unterwegs bin. Aber wasSie eigentlich meinen, ist, dass auch Therapien finanziertwerden sollen, deren Erfolg zumindest zweifelhaft odernicht wissenschaftlich erwiesen ist. Sie wollen solcheTherapien aus Geldern der Versichertengemeinschaftteilfinanzieren und durch eine Eigenbeteiligung derPatienten ergänzen. Das trägt aber nicht dazu bei, Geldzu sparen, sondern das hat etwas mit zusätzlichen Kos-ten zu tun.Ich frage Sie: Welcher Patient kann seinem Arzt wirk-lich auf Augenhöhe begegnen? Das, was wir in unserenBürgersprechstunden über IGeL-Praktiken hören, sprichtdoch Bände.
Ich glaube, dass hinter dem Stichwort „Stärkung derPatientenautonomie“ auf Ihrer Ebene etwas ganz anderessteckt.Sie fordern eine Stärkung des Verantwortungsbe-wusstseins auf allen Ebenen. Sie wollen, dass die Versi-cherten über die unbedingt notwendige Grundversor-gung hinaus weitere Leistungen absichern. Sie könnenaber schon heute weitere Leistungen absichern. Diespannende Frage ist: Was ist die Grundversorgung? Dieheutige Grundversorgung umfasst das medizinisch Not-wendige. Wenn Sie als Grundversorgung weniger als dasmedizinisch Notwendige wollen, dann müssen Sie dassagen. Was soll denn dann nicht mehr bezahlt werden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22113
(C)
(D)
Elke FernerIst das die Hüftprothese für über 70-Jährige? Ist das diePsychotherapie für misshandelte Kinder? Ist das die Ent-ziehungskur für Drogenabhängige oder die Behandlungvon Freizeitunfällen? Was soll denn Ihrer Meinung nachnicht mehr bezahlt werden?Sie müssen auch erklären, wie die Menschen, die essich nicht leisten können, Zusatzversicherungen abzu-schließen, diese Leistungen in Zukunft bezahlen sollen.Sie wollen offenbar den Zugang zur Spitzenmedizin nurnoch denen ermöglichen, die dafür das Geld haben. Dieanderen können dann sehen, wie sie klarkommen. Dasist aus meiner Sicht menschenverachtend.
Zum Sachleistungsprinzip und zum Kostenerstat-tungsprinzip ist eben schon etwas gesagt worden. Ichsage dazu nur noch so viel: Man sollte sich einmal dieVerwaltungsausgaben bei der GKV und bei der PKVanschauen.
Ausweislich der Zahlen des PKV-Bundesverbandes be-trugen pro Versicherten die Verwaltungsausgaben imJahr 2007 370 Euro; in der GKV waren es 160 Euro. Dashat auch etwas mit dem Kostenerstattungsprinzip zu tun.Sie wollen intelligente Selbstbehalttarife. Das heißtim Klartext: Jung und Gesund wählt den Selbstbehaltta-rif, Alt und Krank muss dafür mehr bezahlen. Das istwirklich intelligent, Herr Kollege Bahr.Dann hatten Sie groß angekündigt: ohne Kontrahie-rungszwang,
ohne Altersprüfung, ohne Risikoprüfung und ohne Dif-ferenzierung nach dem Geschlecht.
Ausweislich Ihrer Homepage heißt es: „umlagefinan-zierte Krankenversicherung abschaffen“. In Ihrem An-trag ist davon nichts zu lesen. Ich kann Ihnen nur sagen:Mit diesem Vorschlag werden Sie mit Sicherheit keineUnterstützung im Parlament oder bei den Bürgerinnenund Bürgern finden.
Wir werden für die Bürgerversicherung kämpfen, da-mit wir ein solidarisch und zukunftsfähig finanziertesGesundheitswesen haben,
in dem Menschen für Menschen einstehen: die Jungenfür die Alten, die Gesunden für die Kranken und die, diemehr Einkommen haben, für die, die weniger Einkom-men haben. Ich wünsche Ihnen noch weitere vier JahreSpaß in der Opposition.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bli-cken in dieser Republik auf 1,6 Billionen Euro Staats-verschuldung und auf 50 Milliarden Euro Neuverschul-dung; weitere Kreditaufnahme ist nicht ausgeschlossen.Und was macht die FDP? Sie fordert Steuersenkungen.
Aber das ist noch nicht alles. Heute legen Sie uns, HerrLanfermann, einen Antrag vor, dessen Realisierung fürden Bundeshaushalt zu Mehrausgaben weit im zwei-stelligen Milliardenbereich führen würde. Da fragt mansich als Erstes: Haben Sie eigentlich den Verstand verlo-ren?
Als Nächstes sagt man sich: Na ja, vielleicht doch nicht.Die FDP wird sich schon etwas dabei denken. Sie denktan alle möglichen Gruppen im Gesundheitswesen. Siedenkt an Ärzte, an Pharmaunternehmen, an privateKrankenversicherer und sicher auch an Arbeitgeber.
Versicherte tauchen bei Ihnen nur auf, wenn sie gut ver-dienen und gesund sind.
Menschen mit geringen Einkommen, Sozialleistungs-empfänger und Kranke müssen Ihre Politik ausbaden,denn sie interessieren Sie nicht.
Doch der Reihe nach. Die FDP will den sozialenAusgleich aus der gesetzlichen Krankenversicherungherausschneiden. Statt einkommensabhängiger Beiträgezahlt man dann – wie heißt es so schön? – „leistungsge-rechte Prämien“. Die, die das nicht bezahlen können– denn dass viele das nicht bezahlen können, wissen Sie –,sollen „zielgerichtete Unterstützung“ erhalten. Was heißtdenn das? Das ist Prämiensubvention per Bundeshaus-halt. Dazu allerdings, was das kostet, schweigen Sie sichaus.
Aber es ist ja nicht so, als hätten wir nicht schon Er-fahrung mit solchen Modellen und der Diskussion da-
Metadaten/Kopzeile:
22114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Birgitt Benderrüber. Blicken wir doch einmal zurück auf den letztenBundestagswahlkampf. Da waren es CDU und CSU, diesich auf ein Kopfpauschalenmodell mit einem Steuer-mehraufwand von etwa 20 Milliarden Euro festgelegthatten. Das ist das Modell, das der Union jetzt wie Kau-gummi unter der Schuhsohle klebt
und das sie verzweifelt loszuwerden versucht.
Aber was die FDP heute vorlegt, dürfte noch ein gutesStück teurer sein. Denn offenbar denken Sie nicht an denEinheitsbeitrag, sondern an eine Prämie, wie sie derzeitin der privaten Krankenversicherung üblich ist, eine so-genannte risikoadjustierte Prämie. Das heißt aufDeutsch: Dort müssen Frauen, Alte und Kranke höhereBeiträge zahlen als junge und gesunde Männer.
Weitet man diese Art der Beitragsfestsetzung auf die ge-samte Bevölkerung aus, entsteht ein gigantischer Sub-ventionsbedarf, sofern man gewährleisten will, dass allesich weiterhin eine Krankenversicherung leisten können.Die genannten 20 Milliarden Euro für das Kopfpauscha-lenmodell der Union werden da bei weitem nicht ausrei-chen.Hinzu kommt der ganze schöne Verwaltungsapparat,der dadurch entsteht, dass alle, die diese Prämie nichtzahlen können, Anträge stellen müssen. Es würden An-träge über Anträge gestellt. Dies wäre eine monströseBürokratie.
Gratuliere, FDP! Das ist wohl der Weg, den Sie wollen.
Tatsächlich ist es doch so: Angesichts der Rekordver-schuldung wird jede Bundesregierung in den nächstenJahren die Aufgabe haben, die Konsolidierung des Bun-deshaushalts ganz oben auf der Tagesordnung anzusie-deln. Wer aber in dieser Situation den Zugang weiter Be-völkerungsteile von ebendiesem Bundeshaushalt mitRekordverschuldung abhängig macht, stellt letztlich dieGesundheitsversorgung von Millionen Menschen zurDisposition. Wir hätten Jahr für Jahr im Bundestag da-rüber zu entscheiden, wie die Gesamtsumme der Sub-ventionen ausfallen soll. Jedes Jahr würden wir wiederüberlegen, wie die steigenden Ausgaben für diese Zu-schüsse im Bundeshaushalt unterzubringen sind. Daswürde natürlich ständig zu weiteren Leistungskürzungenführen.
Es ist ja nicht so, dass die FDP gar nicht daran ge-dacht hätte; denn Sie wollen den Leistungskatalog inder gesetzlichen Krankenversicherung auf das, wie es soschön heißt, „medizinisch wirklich Notwendige“ be-grenzen.
Was heißt das? Das medizinisch Notwendige entsprichtder Rechtslage in der gesetzlichen Krankenversicherung.Etwas anderes wird nicht bezahlt. Wenn Sie also vommedizinisch „wirklich“ Notwendigen sprechen, dannkann das nur als Drohung gemeint sein,
als Drohung nämlich, dass ganze Leistungsbereiche hi-nausfliegen werden.Die FDP verschweigt lieber, welche das sein werden.Man kann leicht ausrechnen, dass das mit dem Kranken-geld anfängt. Dann geht es mit der gesamten Zahnmedi-zin weiter. Was als Nächstes kommt, darüber darf speku-liert werden. Das ist doch nichts anderes als ein riesigesAbbruchunternehmen in der gesetzlichen Krankenversi-cherung.
Wer könnte so etwas nun attraktiv finden? Da gibt esbestimmt welche. Zum einen die privaten Krankenver-sicherungsunternehmen. Ihnen erschließt sich auf ein-mal ganz umsonst ein großer Markt. Sie dürfen dieganze Bevölkerung versichern, ohne irgendetwas an ih-rem Geschäftsmodell ändern zu müssen. Für das, wasdie Leute nicht bezahlen können, also die durch alte undkranke Versicherte entstehenden Kosten, geht die Rech-nung an den Bundeshaushalt.Zudem freuen sich sicher die Arbeitgeber, wenn siean weiteren Steigerungen der Kosten im Gesundheitswe-sen nicht beteiligt werden, sondern dies nur zulasten derVersicherten geht. Natürlich freuen sich auch solcheÄrztinnen und Ärzte, die in wohlhabenden Regionenund Stadtteilen tätig sind; denn durch die Reduzierungdes Leistungskataloges auf das vermeintlich wirklichNotwendige würde ja der Anteil der Leistungen wach-sen, die man dann zu den höheren privatärztlichenGebührensätzen extra abrechnen kann.Diesem Zweck dient ja auch Ihre Absicht, anstelle derSachleistung das Kostenerstattungsprinzip einzufüh-ren und mit, wie Sie so schön sagen, „intelligent ausge-stalteten Selbstbeteiligungslösungen“ zu verbinden. Daslohnt sich für Ärztinnen und Ärzte mit zahlungskräftigerKundschaft. Nur die anderen schauen dann wiederum indie Röhre.
Das heißt also: Die FDP umreißt in ihrem Antrag einKrankenversicherungssystem, in dem sich private Kran-kenversicherer, eine Ärztearistokratie und auch gutver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22115
(C)
(D)
Birgitt Benderdienende und gesunde Versicherte so richtig wohlfühlenkönnen.
Das geschieht aber, Herr Lanfermann, zulasten derjeni-gen, für die die Krankenversicherung vor allem da seinsollte:
für die Kranken, für die Geringverdienenden, für Men-schen, die Sozialleistungen beziehen. Diese müssen beiIhnen nämlich damit rechnen, dass die Zuschüsse zu denKrankenversicherungsbeiträgen gekürzt und ihre Leis-tungsansprüche ausgedünnt werden. In Zukunft müsstensie sich vor jedem Arztbesuch überlegen, ob sie so vielGeld haben, die Rechnungen vorab zu begleichen; denndas Kostenerstattungsprinzip bedeutet ja nichts anderes.Dazu kann ich nur sagen: Der derzeitige Zustand in US-Amerika lässt grüßen. Das kann unser Weg nicht sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hierein sehr ernsthaftes Wort: Sie fordern in Ihrem Antragdie Abschaffung des Gesundheitsfonds.
Durch ihn werde die Krankenversicherung zu einemSpielball wechselnder bundespolitischer Interessen.Wohl wahr, Herr Kollege Bahr.
Was wird aber Ihr Antrag bewirken? Besteht IhrerAnsicht nach die einzige Alternative zum Gesundheits-fonds darin, das Solidarsystem vollständig abzuschaffenund durch eine Privatversicherung zu ersetzen, die nurfür Teile der Ärzteschaft, für Versicherungskonzerne undGesunde attraktiv ist?
Das wäre eine Ewigkeitsgarantie für den Gesundheits-fonds; denn dann würde man sich für das kleinere Übelentscheiden.
Machen wir uns doch nichts vor: Bei der Bevölkerungin Deutschland genießt das Prinzip, dass man Beiträgenach der eigenen Leistungsfähigkeit zahlt und manLeistungen nach Bedarf bekommt – je nachdem, wiestark krank man ist –, eine große Akzeptanz. Was wir tunmüssen, ist Folgendes: Wir müssen das Solidarprinzipdurch eine Ausweitung auf die jetzige Privatversiche-rung stärken und nicht schwächen. Die Bürgerversiche-rung ist die Alternative, nicht Ihr Modell.
Es wäre doch aberwitzig, wenn wir unser Krankenversi-cherungssystem ausgerechnet jetzt schleifen würden, woin den USA Barack Obama nicht zuletzt deswegen ge-wählt wurde, weil er eine Krankenversicherung für alleversprochen hat.
Lassen Sie uns die Stärken des jetzigen Systems aus-bauen und seine Schwächen abschaffen, indem wir unsvon der Zweiklassenmedizin, von der Trennung in ge-setzliche und private Krankenversicherung, abwenden,indem wir die Bürgerversicherung und damit gleicheSpielregeln für alle einführen und das Ganze nachhaltigfinanzieren. Was wir nicht brauchen, ist Luxusmedizinfür wenige und Schrumpfmedizin für viele. Das ist nichtunser Weg.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann-
Mauz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbeschäftigen uns heute mit einem Antrag der FDP, mitdem sie die Bundesregierung auffordert, das FünfteBuch Sozialgesetzbuch komplett neu zu fassen.
Im Grunde will die FDP also die gesetzliche Kranken-versicherung in ihrem Kern abschaffen. Dazu sage ichIhnen: Das brauchen wir ganz bestimmt nicht.
Die Menschen in unserem Land haben die jüngste Re-form in weiten Teilen noch nicht einmal richtig ange-nommen. Sie ist bei vielen auch noch nicht wirklich an-gekommen.
Die ersten Kinderkrankheiten sind noch nicht einmalüberstanden, da wollen Sie schon wieder alles umkrem-peln, alles durchschütteln und erneut auf Weltreise ge-hen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Menschensind keine Objekte, die sich von Jahr zu Jahr, beliebigoft, von der einen in die andere Ecke stellen lassen. Dasgeht nicht. Die im Gesundheitswesen beschäftigtenMenschen und die Versicherten, die Patientinnen undPatienten, haben eine Phase der Konsolidierung und der
Metadaten/Kopzeile:
22116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Annette Widmann-MauzVerlässlichkeit verdient. Auf dieser Grundlage muss dasSystem weiterentwickelt werden. Darum muss es gehen.Wir dürfen nicht für Verunsicherung in unserem Systemsorgen.
Sie reden zwar viel über Transparenz – darüber stehtauch viel in Ihrem Antrag –, aber Sie werden diesem An-spruch noch nicht einmal in Ihrem eigenen Antrag ge-recht. Sie wollen die GKV abschaffen, das Gesundheits-wesen komplett privatisieren und vereinheitlichen, Siewollen eine Bürgerversicherung mit einer Bürgerprä-mie, aber Sie trauen sich noch nicht einmal, das auszu-sprechen. Das kann ich mir erklären: Sie wollen allengefallen. Darum wählen Sie schöne Worte und reichendas Kleingedruckte später nach. Vielleicht wollen Sieauch nur kräftig wedeln, weil Sie wissen, dass die ver-antwortungsbewussten Menschen in diesem Land dasam Ende wieder austarieren und korrigieren werden.Sie wollen die Privatisierung der Krankenkassen, ei-nen einheitlichen Versicherungsmarkt, einkommensun-abhängige Beiträge, und Sie sprechen von Kontrahie-rungszwang. Sie haben aber überhaupt nichts zurRisikoeinstufung bei der Prämienkalkulation gesagt.Für die Bürgerinnen und Bürger ist das aber eine ent-scheidende Frage; denn hier geht es darum, ob man trotzVorerkrankungen einen bezahlbaren Versicherungs-schutz erhalten kann oder nicht. Oder habe ich Sie miss-verstanden?
Vielleicht wollen Sie ja gar keine Risikoeinstufung.Dann wollen Sie also den PKV-Basistarif für alle? Denhaben Sie in letzter Zeit aber immer kritisiert. Was wol-len Sie jetzt eigentlich?
Ich kann auch über andere Themen sprechen. Sie wol-len einen Risikostrukturausgleich mit einfacheren Kri-terien.
Die Morbiditätsorientierung kritisieren Sie. Jetzt sagenSie mir aber einmal, lieber Herr Bahr, welche Aus-gleichskriterien Sie wollen. Wollen Sie nur Alter undGeschlecht? Wollen Sie auf die Aufnahme von Krank-heitskosten verzichten? Was schlagen Sie denn vor? Dasalte System hat doch gerade dazu geführt, dass der Runauf die Jungen, gut Verdienenden und Gesunden ausge-brochen ist. Das führte am Ende dazu, dass mehr fürWellnesswochenenden als für medizinische Behandlun-gen ausgegeben wird. Genau diese Themen waren alsofalsch angesprochen. Morbiditätsorientierung ist richtig;ein paar Krankheiten weniger tun es auch. Aber Sie blei-ben jede Antwort schuldig, wie Sie es besser machenwollen.
Sie reden zu Recht von mehr Kapitaldeckung;
aber Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie und in wel-chem Umfang sie aufgebaut werden soll: kollektiv, indi-viduell, im Bestand oder nur für die Neuzugänge, mitwelcher zusätzlichen Beitragsbelastung? Wir würdengern von Ihnen einfach einmal hören, was bei IhremKonzept auf die Menschen zukommen soll.Sie sagen an einer anderen Stelle, Sie wollten dasSachleistungsprinzip aufheben und über das Rechnungs-legungsprinzip zum Kostenerstattungsprinzip kom-men. Das hört sich wunderbar an. Sie sagen aber nicht,dass damit jede Rechnung für alle Versicherten in unse-rem Land nach der privatärztlichen Gebührenordnunggestellt wird. Sie sagen nichts darüber aus, was dies fürdie Beiträge bedeutete, und Sie sagen schon gar nicht,wie Sie die Kostenentwicklung im Griff halten wollen.
Sie wissen es eigentlich besser. Die Prämiensteigerun-gen im privatärztlichen System betrugen in den letztenJahren im Durchschnitt 10 Prozent pro Jahr. Wie wollenSie das finanzieren, wo sind Ihre Antworten an dieserStelle?Es kann natürlich auch sein, dass Sie dies nicht wol-len, weil Sie sagen, die Kostensteigerungen seien sonstviel zu hoch. Aber dann müssen Sie hier schon eine ehr-liche Antwort auf die Frage geben, ob Sie für die Öff-nungsklausel in den Gebührenordnungen für Ärzteund Zahnärzte sind. Dazu schweigen Sie sich aus. Schaf-fen Sie Klarheit; dann wissen auch Ihre Wählerinnenund Wähler, was auf sie zukommt. Das aber tun Sie wie-der einmal nicht.
Sie haben eine Hilfe für die sozial Schwachen vor-gesehen, die die Prämien nicht mehr zahlen können.Aber Sie sagen natürlich nichts darüber aus, bei wel-chem Eurobetrag die Zumutbarkeit endet und die Unzu-mutbarkeit beginnt. An welchem Prozentsatz des Ein-kommens wollen Sie das festmachen? Sie sagen hierschon zum zweiten Mal nicht, woher Sie das Geld neh-men wollen und welche Milliardensummen Sie brau-chen, und das in der größten Wirtschaftskrise, die unserLand seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erlebt.Sie haben sich natürlich viele Gedanken darüber ge-macht, woher das Geld kommen kann, und sprechen vonder Auszahlung und Festschreibung des Arbeitgeber-beitrags. Sie bleiben uns aber auch hier eine Antwortauf die entscheidende Frage schuldig. Die Frage der Ver-steuerung ist aus meiner Sicht nicht entscheidend. Vielentscheidender ist doch, wie Sie diese Beträge auch beineuen Verträgen und beim Arbeitgeberwechsel sichernwollen. Wollen Sie, die Sie doch sonst die Vertragsfrei-heit so hoch einschätzen, in die Tarifautonomie eingrei-fen? Wie wollen Sie denn dieses Niveau dauerhaft si-chern? – Keine Antworten auf entscheidende Fragen, diebei einem solchen Konzept gestellt werden müssen.
Ein weiteres Lieblingsthema der FDP ist der Leis-tungskatalog. Ich kann es wirklich langsam nicht mehr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22117
(C)
(D)
Annette Widmann-Mauzhören. Sie reden – Frau Kollegin Bender hat schon da-rauf hingewiesen – wieder einmal von der Reduzierungauf das „medizinisch wirklich Notwendige“. Was verste-hen Sie denn darunter? Ist die palliativmedizinische Ver-sorgung in den letzten Lebenstagen medizinisch wirklichnotwendig oder nicht? Ist die geriatrische Rehabilitationmedizinisch wirklich notwendig oder nicht? Ist die Be-handlung von psychiatrischen Erkrankungen medizi-nisch wirklich notwendig oder nicht? Sagen Sie es uns!Sie schlagen die Reduzierung des Leistungskatalogs vor.Wir wollen wissen, wo und für welche Betroffenen.
Sie reden unter der Überschrift „Subsidiarität“, einwichtiges Prinzip, vor allen Dingen von der Eigenver-antwortung der Patientinnen und Patienten, der Versi-cherten. Das Wort Selbstverwaltung im Gesundheits-wesen habe ich in Ihrem gesamten Antrag nicht eineinziges Mal gelesen. Haben Sie sie mittlerweile abge-schrieben?
Oder passt sie mittlerweile schon gar nicht mehr in IhrSystem, in dem nach Ihrer Vorstellung der freie Marktund das freie Spiel der Kräfte alles regeln werden? Wirwollen nicht, dass Krankenkassen in Zukunft den medi-zinischen Bedarf bestimmen. Wir wollen kein Heraus-kaufen, keine Rosinenpickerei, sondern wir wollen eineflächendeckende Versorgung durch freiberuflich tätigeFachärzte und durch Krankenhäuser. Ihre Vorstellungen,Ihre Rosinenpickerei lehnen wir schlichtweg ab.
Ich will zum Schluss ein letztes Prinzip, das Ihnenund uns wichtig ist – in vielen Zielen sind wir uns einig –,herausgreifen.
Sie wollen mehr Vertrauen in das System bringen. Dahaben Sie recht. Das Misstrauen unter den Beteiligten istder Humus, auf dem die Bürokratie gedeiht. Das ist dieschwierigste Aufgabe. Denn Vertrauen in das Systemkönnen Sie weder durch Anträge noch per Gesetz ver-ordnen, sondern es muss gegenseitig erarbeitet werden.Darin besteht die große Bewährungsprobe für alle Ver-antwortlichen im Gesundheitswesen: für uns Politiker,für Ärzte, für alle Leistungserbringer, für die Kranken-kassen, für die Patientinnen und Patienten und Versi-cherten. Daran zu arbeiten, lohnt sich im Interesse derMenschen in unserem Land.
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! Die Bürger verstehen nicht mehr, was im Ge-sundheitswesen vor sich geht.
Sie merken, dass die gewohnt gute Qualität der medizi-nischen Versorgung nachlässt.
In ihrer Apotheke erhalten sie einmal dieses, einmal je-nes Arzneimittel, je nachdem mit welchen Firmen Ra-battverträge abgeschlossen worden sind.
In den Krankenhäusern müssen sie zum Teil lange war-ten, bis jemand kommt, um ihnen zu helfen. Bei Hilfs-mitteln dürfen sie nicht mehr zum Belieferer ihrer Wahlgehen, sondern die Krankenkassen bestimmen, auf wensie zurückgreifen dürfen.
Die Patienten werden durch die Politik der schwarz-ro-ten Bundesregierung gegängelt. Sie werden zunehmendin eine standardisierte Schablone gepresst.
Die aktuelle Gesundheitspolitik raubt ihnen mehr undmehr ihre Selbstbestimmung, gemeinsam mit ihremTherapeuten eine Behandlung zu vereinbaren, die bei ih-nen den besten Erfolg verspricht. Das deutsche Kranken-versicherungssystem ist durch die letzten Reformen derschwarz-roten Bundesregierung, aber auch der rot-grü-nen Bundesregierung deutlich in Richtung eines zentra-listischen staatsgesteuerten Einheitskassensystems ver-schoben worden.
Das letzte Reformgesetz hieß Wettbewerbsstärkungs-gesetz. Da dachte man, dass mehr Wettbewerb das Zielwar. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb jetztaussieht. Sie haben einen Einheitsbeitragssatz für alleKrankenkassen beschlossen. Den Wettbewerb um die Bei-tragsautonomie, um den Zusammenhang zwischen Bei-trag und Leistung einer Versicherung, haben Sie kaputtgemacht. Wir haben jetzt auf der Beitragsseite eine Ein-heitskasse, und auf der Leistungsseite ist es ähnlich.
Metadaten/Kopzeile:
22118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Daniel Bahr
Denn was ist denn durch den Fonds passiert? DieKrankenkassen haben Zusatzleistungen gestrichen:Auslandsschutzimpfungen wurden gestrichen, Sozial-psychiatrievereinbarungen, Hausarztverträge und Onko-logievereinbarungen wurden gekündigt. Das heißt, inWahrheit bringen Sie hier die Umsetzung der sogenann-ten Bürgerversicherung auf den Weg, also nichts anderesals eine staatlich gelenkte Einheitskasse. Das ist die Poli-tik, die Sie als Ministerin machen.
Hier wird gesagt, die FDP wolle unfairen Wettbe-werb. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerbaussieht, den Sie gestalten. Sie bewirken einen Wettbe-werb, bei dem Krankenhäuser, Krankenkassen und Ärzteein Interesse daran haben, dass Deutschland – zumindeststatistisch gesehen – kränker wird. Denn dann bekom-men sie mehr Geld. Das ist das perverse System, das Siegeschaffen haben.
Es kommt nicht mehr Geld in der Versorgung an.Heute lesen wir in der Zeitung – Sie sagen ja, dass Siemit dem Fonds einen Wettbewerb der Krankenkassengeschaffen haben –, dass die Berliner jetzt ein Schreibender AOK Berlin bekommen, das ein schönes Angebotenthält. Sie wollten ja einen Wettbewerb der Kranken-kassen, eine bessere Versorgung erreichen.
In dem Schreiben heißt es, dass AOK-Versicherte inBerlin vier Erholungstage im Viersternehotel RamadaWismar für nur 199 Euro buchen können; dabei würdensie 100 Euro sparen. Die Barmer Ersatzkasse hatte fürihre Versicherten – Sie wollten ja Wettbewerb der Kran-kenkassen untereinander – eine Angebotsaktion im Pro-gramm, in dessen Rahmen sie bei Karstadt satte Rabatteauf Einkäufe bekamen.
Das hat nichts mit einem Wettbewerb um bessere Ver-sorgung, günstigere Tarife und um innovative Lösungenzu tun; in Wahrheit bereiten Sie hier die Einheitskassevor.
Das ist doch kein Wettbewerb um bessere Versorgung.
Dass Sie alle hier über die Auswirkungen derReform gar nicht sprechen wollen, dass Sie sich nur mitunseren Ideen auseinandersetzen, zeigt, dass Sie einschlechtes Gewissen haben. Sechs Wochen nach derUmsetzung des Gesundheitsfonds wollen Sie gar nichtüber die Fehler der Reform sprechen. Das spüren dieLeute. Warum gibt es denn Massendemonstrationen inBayern, Herr Zöller? Warum gibt es Unruhe in den Pra-xen, weil bestimmte Patienten nicht mehr das bekom-men, was sie bisher bekommen haben, oder Zuzahlun-gen verlangt werden?
Das sind die Folgen der Politik, die Sie gemacht haben.Davon wollen Sie ablenken.
Wir, die FDP, wollen ein Gesundheitssystem, bei demdie Versicherten im Mittelpunkt stehen. Die Bürger müs-sen weitgehende Wahlfreiheit haben, wie sie ihrenVersicherungsschutz gestalten. Vertragsfreiheit, Thera-piefreiheit und freie Arztwahl sollten selbstverständlichsein.
Wir wollen ein leistungsfähiges Gesundheitswesen mitmehr Wahlfreiheit, Wettbewerb und Eigenverantwor-tung.
Wir wollen nicht, dass die Verantwortung dafür an zen-tralistische staatliche Organisationen abgegeben wird.Wir appellieren an die Eigenverantwortung der Versi-cherten. Dafür wollen wir die richtigen Anreize geben.
Frau Ferner, Sie haben viel über Solidarität gespro-chen.
Auch für uns Liberale ist Solidarität eine wichtige Kate-gorie und eine Voraussetzung für ein leistungsfähigesGesundheitswesen.
Frau Ferner, wissen Sie eigentlich, dass Sie ein verkürz-tes Verständnis von Solidarität haben?
Eine Versicherung ist eine Solidargemeinschaft. Es istdie Aufgabe einer Versicherung, zwischen den Krankenund den Gesunden, die für die Kranken einstehen, einenAusgleich zu schaffen. Das tut jede Versicherung. DasSolidarprinzip, das dem zugrunde liegt, und den solidari-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22119
(C)
(D)
Daniel Bahr
schen Ausgleich zwischen Jung und Alt wollen wir na-türlich beibehalten. Genau diese Solidarität machen Siekaputt.
Die Politik, die Sie betreiben, ist eine Politik zulastender kommenden Generationen. Sie schieben die Lastenauf die kommenden Generationen und versprechenmehr, als Sie halten können. Ich frage Sie: Wer soll dasin Zukunft bezahlen? Wenn Sie so vorgehen, wird es zuKonflikten kommen.
Wenn die Beitragszahler in Zukunft vor der Entschei-dung stehen, entweder Beiträge in Höhe von 25 Prozentzu zahlen oder ihren Leistungsanspruch rationieren zulassen, werden sie die Solidarität aufkündigen. Frau Fer-ner, wer wird unter einer Politik, die diesem Verständnisvon Solidarität folgt, leiden? Wer wird unter einem Um-lagesystem, das zur Folge hat, dass die Menschen vonder Hand in den Mund leben müssen, und mit dem dieLasten auf die kommenden Generationen geschobenwerden, leiden?
Herr Kollege Bahr.
Lassen Sie mich diesen Gedanken bitte noch kurz zu
Ende führen. – Unter einem solchen staatlichen Einheits-
kassensystem werden nicht die Reichen leiden.
Sehen Sie sich einmal die Situation in Großbritannien
oder Spanien an.
Dort kann man beobachten, dass sich die Reichen eine
bessere Versorgung leisten können. Unter einer solchen
staatlichen Einheitskasse leiden die sozial Schwachen
und die Mittelschicht. Diese Menschen haben nämlich
keinen hinreichenden finanziellen Spielraum, um sich
eine Zusatzversorgung zu leisten.
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bender?
Wenn Sie die Uhr anhalten, gerne.
Bitte, Frau Bender.
Herr Kollege Bahr, Sie sagten, die FDP wolle am
Solidaritätsprinzip festhalten.
Diese Aussage verträgt sich nicht mit dem Inhalt Ihres
Antrags.
Klären Sie mich bitte auf, wo die Solidarität bleibt,
wenn Sie den Ausgleich zwischen Gesunden und Kran-
ken im Rahmen des Krankenversicherungssystems ab-
schaffen! Das fordern Sie ja ausdrücklich. Sie wollen,
dass die Höhe der Prämien je nach Krankheit variiert.
Klären Sie mich bitte auch auf, wo die Solidarität
bleibt, wenn der Ausgleich zwischen Gering- und Bes-
serverdienenden aus dem Krankenversicherungssystem
herausgenommen und auf die Ebene der steuerlichen
Subventionen verlagert wird!
Klären Sie mich bitte auch auf, was Sie im Generatio-
nenmaßstab unter Solidarität verstehen, wenn Sie ange-
sichts der Rekordverschuldung des Bundes ein solch gi-
gantisches Subventionsprogramm fordern!
Frau Kollegin Bender, vielen Dank für Ihre Fragen.Sie geben mir nämlich die Möglichkeit, meine kurze Re-dezeit etwas zu verlängern, indem ich auf Ihre Frageneingehe.Wir von der FDP wollen die Solidarität zwischenKranken und Gesunden, zwischen Jungen und Alten undzwischen Einkommensstarken und Einkommensschwa-chen.
Aber die Frage ist: Muss diese Solidarität durch prozen-tuale Krankenversicherungsbeiträge gewährleistet wer-den? Ich frage Sie: Ist die Finanzierung der gesetzlichen
Metadaten/Kopzeile:
22120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Daniel Bahr
Krankenversicherung bzw. ist der Einkommensaus-gleich gerecht?Die Bäckereifachverkäuferin, von der Frau Ferner ge-sprochen hat,
zahlt mit ihrem prozentualen Beitrag zur gesetzlichenKrankenversicherung – sie hat keine Wahlmöglichkeit,sondern ist in der GKV zwangsversichert – für die Fami-lie des Generaldirektors mit, der davon profitiert, dassseine Familie mit mehreren Kindern kostenlos in der ge-setzlichen Krankenversicherung mitversichert ist.
Der Einkommensausgleich, den Sie vorschlagen, istauf ein Lohneinkommen in Höhe von etwa 3 500 Eurobegrenzt.
Wir haben allerdings schon ein System, das für den Aus-gleich zwischen Einkommensstarken und Einkommens-schwachen da ist: das Steuer- und Transfersystem.
Wir brauchen keine neuen Systeme. Frau Bender, derGesundheitsfonds darf nicht zu einem neuen Finanzamtwerden, das die Mittel noch mehr als bisher umverteilt.Dafür gibt es bereits Systeme. Beim Wohngeld zum Bei-spiel wurde bewusst ein System geschaffen, das dafürsorgt, dass diejenigen, die die Unterstützung der Gesell-schaft brauchen, diese Unterstützung auch erhalten. Je-der Einzelne trägt dazu in Abhängigkeit von der eigenenLeistungsfähigkeit bei.
Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie wollen,und dem, was wir wollen. Sie verfolgen mit Blick aufdie gesetzliche Krankenversicherung nicht das Ziel einergerechteren Einkommensumverteilung.
Gerechter ist unser Modell: Trennung von Beiträgen undVersicherungsleistungen, Einrichtung eines Prämiensys-tems und Umverteilung von Einkommensstarken zu Ein-kommensschwachen dort, wo es treffsicher ist, nämlichüber das Steuer- und Transfersystem.
Sie haben im Zusammenhang mit der Solidarität zwi-schen Jungen und Älteren auch nach der Kapitalde-ckung gefragt. Was die Kapitaldeckung angeht, FrauKollegin Bender, muss ich Ihnen ein Lob aussprechen.Mit der Riester-Rente haben Sie in der Altersvorsorgeden Einstieg in die Kapitaldeckung gemacht. Die Frage,die Sie mir stellen, ist nun: Wie kann diese Solidaritätzwischen den Generationen auf die Gesundheitsversor-gung übertragen werden?
Was für die Altersvorsorge nicht falsch war – auf Ka-pitaldeckung zu setzen, weil wir eine alternde Bevölke-rung haben –, kann doch auch für die Gesundheitsver-sorgung nicht falsch sein. Warum schaffen Sie nicht denErkenntnisgewinn, das auch auf die Gesundheitsversor-gung zu übertragen?
Auch im Gesundheitssystem brauchen wir eine Kapital-deckung.Hier wurde pauschal und diffamierend von Amerikagesprochen. Als ob wir amerikanische Verhältnisse woll-ten! Wir schlagen eine Pflicht zur Versicherung vor.Jeder muss Anspruch auf eine Krankenversicherung ha-ben. Es darf eben nicht so sein wie in Amerika, dassviele gar nicht versichert sind.
Schauen Sie in die Niederlande – die Niederlandesind nicht dafür bekannt, unsozial zu sein –: In den Nie-derlanden gibt es eine Pflicht zur Versicherung; übrigensnur bei privaten Versicherungen.
Ich lebe im Münsterland; eine Fluchtbewegung von denNiederlanden nach Nordrhein-Westfalen, weil das Sys-tem in den Niederlanden als unsozial wahrgenommenwürde, kann ich jedoch nicht feststellen. Diffamieren Siedieses System also nicht!
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage?
Ich habe nur noch eine Minute und würde gernemeine Punkte zu Ende ausführen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22121
(C)
(D)
Daniel Bahr
Ich glaube, ich bin bei der Beantwortung der letztenFrage auf viele Punkte eingegangen.Sie haben das Thema Kostenerstattung angespro-chen. An diesem Thema sieht man, dass wir hier aucheine gesellschaftspolitische Debatte führen. Es gehtnämlich um die Frage, wie viel Mündigkeit wir den Bür-gerinnen und Bürgern zutrauen.
70 Millionen gesetzlich Krankenversicherte in Deutsch-land erhalten keine Arztrechnung, für sie ist nicht trans-parent, was für Leistungen sie nachfragen und wie dieseLeistungen abgerechnet werden.
Diese 70 Millionen Menschen dürfen aber Kreditver-träge abschließen, dürfen Lebensversicherungen ab-schließen, ja sie dürfen sogar Kinder auf die Welt brin-gen und die Verantwortung für sie übernehmen.
Eine Arztrechnung zu prüfen und sie bei der Kranken-versicherung einzureichen, trauen Sie ihnen jedoch nichtzu. Daran sieht man, dass Sie von einem anderen Gesell-schaftsbild ausgehen als wir.
Zu einem Krankenversicherungssystem gehören na-türlich intelligente Selbstbeteiligungen. Sie haben diePraxisgebühr eingeführt. Ist die Praxisgebühr eine intel-ligente Selbstbeteiligung? Es weiß doch keiner, wofür erdiese 10 Euro zahlt. Das ist eine Abkassiergebühr. Dasagen die Versicherten zu Recht: Ich habe eben 10 Eurogezahlt. Was machen Sie damit? Dafür will ich wenigs-tens geröntgt werden. – Wir brauchen eine Selbstbeteili-gung, die in einem Zusammenhang steht. Nur wenn dieVersicherten Transparenz haben im Hinblick auf dieLeistungen, die sie nachfragen, werden sie bereit sein,die Beiträge zu zahlen.
Insofern glaube ich, dass Ihre Modelle – Praxisge-bühr, Einheitskasse, Gängelung; vor allem, Lasten im-mer weiter auf die kommenden Jahre zu schieben; aus-ufernde Bürokratie, die den Versicherten die Wahl- undTherapiefreiheit nimmt –
angesichts der Herausforderungen einer alternden Be-völkerung nicht die Lösung sind. Die Lösung ist die Um-stellung auf Kapitaldeckung, ist das Setzen auf Eigen-verantwortung mit einem sozialen Ausgleich für die, diedie Unterstützung der Gesellschaft brauchen. Genau dasschlagen wir Liberale vor.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Faust das Wort zu einer
Kurzintervention.
Lieber Herr Kollege Bahr, eine Frage bleibt auch
nach dem ausführlichen Studium Ihres Antrages offen.
– Es bleiben viele Fragen offen; aber ich habe nur Zeit
für eine entscheidende Frage.
Wie halten Sie es mit dem Krankheitsrisiko des Versi-
cherten? Möchten Sie in die Versicherung einen Risiko-
bezug aufnehmen oder nicht? Ohne einen Risikostruk-
turausgleich kommen Sie bei der gesamten Problematik
nicht weiter. Entscheidende Punkte fehlen also in Ihrem
Antrag. Ich bitte Sie um Aufklärung, ob ein mit Krank-
heit belasteter Versicherter einen höheren Beitrag zahlen
soll als ein gesunder und, wenn nein, wie Sie es dann mit
dem Risikostrukturausgleich halten wollen und ob nicht
am Ende bezüglich dieser wichtigen Frage der normale
Basistarif, den wir in der privaten Krankenversicherung
schon eingeführt haben, Modell gestanden hat.
Herr Kollege Bahr, zur Erwiderung. Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Faust, wenn Sie den Antrag le-sen, dann werden Sie dort die Antwort auf Ihre Fragefinden.
Wir haben den Risikostrukturausgleich nicht abge-schafft, sondern wir haben gesagt, dass er auf das not-wendige Maß reduziert werden muss.
Das genau ist die Kritik, die wir an dem morbiditäts-orientierten Risikostrukturausgleich üben, den Sie einge-führt haben. Sie haben ja die Idee: Je mehr Krankheitenwir dabei berücksichtigen, desto gerechter wird das Sys-tem.An der jetzigen Umsetzung dieser Reform sehen Sie,wie neue Ungerechtigkeiten entstehen, weil nur eine be-stimmte Anzahl von Krankheiten in diesem Risikostruk-turausgleich berücksichtigt wird.
Damit gibt es Krankheiten erster und zweiter Klasse,weil die Krankenkassen plötzlich ein Interesse daran ha-ben, nur diese Krankheiten, für die sie mehr Geld be-kommen, zu berücksichtigen.
Metadaten/Kopzeile:
22122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Daniel Bahr
Daneben haben sie plötzlich ein Interesse daran, mög-lichst viele Versicherte diesen Krankheitsbildern zuzu-ordnen, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu er-halten. Das ist ja mein Vorwurf: Statistisch gesehenmachen Sie Deutschland durch diese Reform in Wahr-heit kränker.
Hinsichtlich der Prämien haben wir klar gesagt, dassunser Modell der dritte Weg zwischen der heutigen ge-setzlichen Krankenversicherung und der heutigen privatenKrankenversicherung ist. Unser Modell ist der dritte Wegzwischen der sogenannten Bürgerversicherung – letztlichder Einheitskasse – und einer einheitlichen Kopfpau-schale. Mit unserem Modell sehen wir eine Pflicht zurVersicherung vor, und jeder, auch derjenige mit einerVorerkrankung, hat einen Anspruch auf einen Versiche-rungsschutz zumindest im Umfang der Regelleistungen.
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla
Schmidt.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Bahr, ich hätte Ihnen gerne noch län-
ger zugehört; denn je länger Sie reden, desto deutlicher
wird, was tatsächlich in dem Antrag steht. Zu Beginn
hatte ich schon befürchtet, Sie würden nicht über den
Antrag reden, weil Sie lieber darüber schweigen, was da-
mit im Einzelnen verursacht wird.
Auch Ihre letzte Antwort ist sehr bezeichnend. Sie sa-
gen, jeder werde versichert, aber auf die Frage des Kol-
legen Faust, ob es risikoadjustierte Prämien gibt, ha-
ben Sie geschwiegen.
Wohin risikoadjustierte Prämien führen, die für Men-
schen, die eine Vorerkrankung haben, nicht mehr bezahl-
bar sind, kann ich Ihnen überall auf der ganzen Welt zei-
gen.
Herr Kollege, dadurch wird deutlich, was die FDP will
– das hat sie klar gesagt –,
nämlich eine Spitzenmedizin für Wohlhabende und eine
Armenversorgung für das Volk. Das ist und bleibt Ihre
Devise in der Gesundheitspolitik.
Gelernt haben Sie auch nichts. In der Vorbereitung zu
dieser Debatte fiel mir ein Interview Ihres Vorsitzenden
vom 11. Dezember 2008 im Stern ein. Dort wurde Herr
Kollege Westerwelle gefragt:
Ist Ihr Weltbild durch die Finanzkrise auf den Kopf
gestellt worden?
Antwort: „Nein“. – Es wurde weiter gefragt:
Die freien Finanzmärkte kollabieren – und für den
Marktanhänger Westerwelle ändert sich nichts?
Antwort: „Nein“.
Mit Ihrem Antrag, einen Angriff auf die gesetzliche
Krankenversicherung zu starten und die gesamte Ge-
sundheitsversorgung in ein kapitalgedecktes System zu
überführen, zeigen Sie, dass Sie nichts gelernt haben,
nicht einmal in Zeiten, in denen alle Menschen merken,
dass man dem Kapitalmarkt nicht alles anvertrauen
kann.
Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Angriff auf das Herz-
stück unseres Sozialstaates;
denn die medizinische Versorgung für alle, also unab-
hängig vom Einkommen, zeichnet unseren Sozialstaat
und auch das europäische Modell aus. Sie wollen hier
das bisherige amerikanische Modell einführen. Ich
bleibe dabei.
Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bahr?
Nein.
Wenn man Sie fragt, was Sie eigentlich dazu treibt,dann müssten Sie sagen, dass das die Interessen IhrerKlientel und derjenigen sind, die Sie wählen. Die Sorgeum die Patientinnen und Patienten kann das aber nichtsein. Dabei geht es auch nicht um Kostenerstattung oderum Rechnungslegung. Wir alle haben nichts gegenRechnungslegung. Wir haben ein neues, transparentesSystem eingeführt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22123
(C)
(D)
Bundesministerin Ulla Schmidtund wollen auch, dass die Versicherten wissen, was eineLeistung kostet. Das bewirken wir im Moment durch dieUmstellung des Honorarsystems. Wir wollen aber nichtdas Kostenerstattungsprinzip, Herr Kollege.
Liebe Kollegen von der FDP, eines ist auch klar:Heute hat jeder Bürger und hat jede Bürgerin inDeutschland Zugang zu einer medizinischen Versorgungauf der Höhe des medizinischen Fortschritts, und zwardurch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche-rung.Wenn Sie das Kostenerstattungsprinzip wollen, dannsagen Sie den Menschen doch auch, was das bedeutet.Das heißt, die Kreditkarte zu zücken, wenn man zumArzt geht. Etwas anderes ist das nicht.
Man muss die Rechnung bezahlen und sich dann mit derVersicherung darüber streiten, was erstattet wird undwas nicht erstattet wird. Deshalb wird zu Recht von de-nen, die gegen Ihre Vorschläge sind, die Frage aufgewor-fen, wie denn ein Durchschnittsverdiener in Deutsch-land, dessen Verdienst bei rund 1 700 Euro netto liegt,eine Transplantation bezahlen soll. Soll er mit bis zu30 000 Euro für einen Herzschrittmacher in Vorleistungtreten? Muss man erst bezahlen, bevor man ins Kranken-haus gehen darf? Was alles muss sonst noch vorgelegtwerden?Nein, die Spitzenmedizin und die medizinische Ver-sorgung für alle in Deutschland funktioniert nur deshalb,weil Menschen diese Leistungen erhalten, ohne dass siein Vorleistung treten müssen.
Sie von der FDP wollen ein bewährtes System zer-schlagen. Gleichzeitig gehen Sie in der derzeitigenSituation einen weiteren Schritt, indem Sie den Bereichder Gesundheitsversorgung den Risiken der Finanzkriseaussetzen wollen. Wir sind sehr froh darum, dass unserGesundheitssystem sehr unanfällig für diese Krise ist.Sie hingegen holen die Krise rein. Wir könnten dann ineine Situation wie in den USA kommen, wo heute Rent-nerinnen und Rentner um ihre Rentenansprüche aus derKapitaldeckung bangen müssen.Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wirwerden mit dem ganzen Herzblut kämpfen, das wir ha-ben: Menschen für Menschen. Das hat nichts damit zutun, dass man von der Hand in den Mund lebt.
Sondern das hat etwas damit zu tun, dass nur die Solida-rität aller, die Solidarität der Jungen mit den Alten, dieSolidarität der Gesunden mit den Kranken, die Solidari-tät derer, die mehr haben, mit denen, die weniger haben,dafür sorgt, dass die Frage, wo man eine gute Versor-gung bekommt, wenn man krank ist, nicht davon ab-hängt, ob man viel Geld oder wenig Geld hat. Das wer-den wir nicht zulassen. Wir werden dafür streiten, dassdieses System in unserem Land erhalten bleibt, weil esdas Kernstück ist.
Frau Ministerin, erlauben Sie jetzt eine Zwischen-
frage?
Lassen Sie mich jetzt weiter zur Sache sprechen.
Wenn Sie die Kollegen persönlich ansprechen, dann
sollten Sie ihnen auch eine Zwischenfrage erlauben.
Gut. Das ist Ihr Kollege. Ich verstehe das, Herr Präsi-
dent.
Vielleicht darf man aber auch eine Rede zu Ende hal-
ten. – Bitte schön.
Das hat damit nichts zu tun, Frau Kollegin.
Sie wissen das. Wenn Sie persönlich ansprechen, sollten
Sie auch eine Zwischenfrage erlauben.
Ich hatte die FDP angesprochen. Aber bitte.
Herr Kollege Lanfermann.
Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, dass es inDeutschland circa 8 Millionen Menschen, darunter circa4 Millionen Beamte, gibt, die privat versichert sind, vondenen die meisten keineswegs Großverdiener sind, son-dern Menschen mit ganz normalem oder oft sogar gerin-gem Einkommen, die alle nicht nach dem Sachleistungs-prinzip, sondern nach dem Kostenerstattungsprinzipbehandelt werden? Das heißt, diese Menschen bekom-men Rechnungen, die sie prüfen und einreichen können.Ist Ihnen bekannt, dass diese Menschen vor teurenBehandlungen, deren Kosten sie schlecht verauslagenkönnen, eine entsprechende Anfrage bei ihrer Versiche-
Metadaten/Kopzeile:
22124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Heinz Lanfermannrung einreichen können und die Versicherung dann Kos-tendeckung zusagt und die Kosten übernimmt, sodasskeineswegs – wie es vorhin schon falsch behauptet wor-den ist – Menschen über ihre Leistungsfähigkeit hinausin Vorleistung treten müssen?
Sind Sie deswegen etwa der Meinung, dass diese Mil-lionen von Bürgern in Deutschland jetzt in Armut verfal-len oder geknebelt sind durch ein System, das Sie denanderen 70 Millionen Menschen vorenthalten wollen?
Herr Kollege Lanfermann, bevor ich Ihnen antworte,möchte ich mich zunächst bei dem Herrn Präsidentenentschuldigen. Das war vorhin nicht in Ordnung.Herr Kollege Lanfermann, sicher werden auch Sie inIhrer Eigenschaft als Abgeordneter deswegen ange-schrieben. Ist Ihnen bekannt, dass es viele Menschengibt, die privat versichert sind, ihre Rechnungen einrei-chen und dann feststellen, dass das eine oder anderenicht von der Versicherung bezahlt wird? Das nimmt im-mer mehr zu.
Wie wäre denn die Situation, wenn wir das flächende-ckend einführen würden? Wie viele Menschen würdenerst gar nicht zum Arzt gehen, weil sie die Rechnung be-zahlen und anschließend einreichen müssen, aber nichtwissen, was sie zurückbekommen?Ein System, wie wir es haben, ist wirklich ideal. Da-bei geht es nicht darum, dass wir nicht die Transparenzhaben, dass der Versicherte weiß, welche Kosten entste-hen. Mit der Transparenz habe ich kein Problem. Ich willsie, und auch die Menschen wollen sie. Es geht darum,dass man nicht in Vorleistung treten muss, sondern si-cher sein kann, nach einer Krankenhausbehandlungnicht anschließend eine Rechnung seiner Krankenkasseoder des Krankenhauses zu bekommen, weil die Kran-kenkasse sie nicht bezahlt hat. Das ist ein Herzstück dergesetzlichen Krankenversicherung. Daran wollen wirnichts ändern; denn es ist die Voraussetzung dafür, dasswir die nötige Infrastruktur und eine medizinische Ver-sorgung haben, an der jeder unabhängig vom Alter teil-haben kann.
– Denn sonst muss man die Kreditkarte zücken.
Wie sähe es denn bei den Ärzten aus, wenn nicht nur10 Prozent der Patientinnen und Patienten, sondern100 Prozent privat versichert wären? Wie sähe es dannmit der Vorkasse aus, wenn man schon jetzt glaubt, Vor-kasse einführen zu können? Ich kann mir lebhaft vorstel-len, wie das aussähe. Dafür brauche ich nicht viel Fanta-sie. Dann würde von Kunden, von denen ein Arztbefürchtet, sie könnten das Geld für die Behandlungnicht aufbringen oder das Geld von der Versicherungwürde nicht beim Arzt ankommen, Vorkasse verlangt,ehe die Behandlung stattfinden kann. Das wollen wirnicht.
Wir werden mit unserer ganzen Kraft dagegen kämpfen,dass so etwas in diesem Land eine Mehrheit findet. Denndas wäre das Ende unseres Sozialstaats.
– Das ist die Antwort auf Ihre Frage.
– Für die Beamten gilt das auch. Bekommen Sie solcheBriefe nicht? Die Beamten haben aber zumindest die Si-cherheit, dass sie die Beihilfe bekommen.Sie wollen ein ganzes Land privat mit risikoadjustier-ten Prämien versichern. Sie wollen Kapitaldeckungeinführen. Rechnen Sie das einmal hoch! Heute hat diePKV für 10 Prozent der Versicherten Altersrückstellun-gen in Höhe von 130 Milliarden Euro. Das muss manauf 82 Millionen Menschen hochrechnen. Dann kommtman bis auf zu 2 Billionen Euro. Wo sollen die 2 Billio-nen Euro denn angelegt werden? In Deutschland, beiLehman Brothers, oder was schlagen Sie vor?
Wo soll das Geld denn hin? Nach Island? Ich kann dasnoch weiter ausführen. Wenn Sie mit diesem Geld diedeutsche Industrie aufkaufen wollen, so könnten Sie da-mit alle Dax-Unternehmen fünfmal bezahlen. KommenSie auf den Boden der Tatsache zurück! Die Kapitalde-ckung können wir in der Gesundheitsversorgung nichtgebrauchen. Klar ist auch: Selbst in den USA kommtkeiner – nicht einmal die Republikaner – auf die Idee,die Kapitaldeckung in der Gesundheitsversorgung einzu-führen. Das sollte Ihnen zu denken geben.
Ein anderer Punkt: Unsere gesetzliche Krankenversi-cherung, die bald 126 Jahre alt wird, ist gegründet wor-den, um Menschen gegen Lohnausfall bei Krankheitabzusichern und eine gute Versorgung der Versicher-ten einschließlich der Familien für den Fall, dass ihr Er-nährer krank wird, im Krankheitsfall sicherzustellen. Diegesetzliche Krankenversicherung hat sich bewährt. Siehat zwei Kriege überstanden.Die gesetzliche Krankenversicherung hat auch bei derdeutschen Wiedervereinigung dafür gesorgt, dass die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22125
(C)
(D)
Bundesministerin Ulla SchmidtMenschen über Nacht versichert waren. Was glaubenSie, wie die privaten Krankenversicherungen dies ge-schafft hätten, wenn sie für 15 Millionen Menschen pri-vate Versicherungsverträge hätten abschließen müssen?Was wäre dann mit der Kapitaldeckung gewesen? Washätten Sie gemacht, um dies zu finanzieren? In Ihrer Re-gierungsverantwortung sind auch die Gelder der Sozial-kassen dazu herangezogen worden, die deutsche Einheitzu finanzieren. Man kann vieles glauben. Aber dass Siedamals die Rücklagen der privaten Krankenversicherungfür die Finanzierung eingesetzt hätten, wie man es beiden sozialen Sicherungssystemen gemacht hat, glaubeich Ihnen nicht.
Ich bin sehr froh über Ihren Antrag, weil damit nocheinmal deutlich wird, worin wir uns unterscheiden.
Unsere Politik setzt auf Solidarität statt auf Ausgren-zung. Wir wollen, dass Menschen füreinander einstehen,statt dass jeder für seine individuellen Lebensrisiken pri-vat einstehen soll. Wir wollen nicht, dass das Guthabenauf der Bank entscheidend dafür ist, ob man eine gutemedizinische Versorgung erhält. Was Sie in Ihrem An-trag fordern, führt – es wurde bereits angesprochen –weg von dem, was unseren Sozialstaat auszeichnet, undwas ihn für die Menschen in der ganzen Welt – auch fürGesundheitsökonomen und Mediziner – so attraktivmacht, die sich anschauen, wie es die Deutschen schaf-fen, dass wir eine gute medizinische Versorgung haben.Es handelt sich um eine einzigartige Infrastruktur, die esnur deshalb gibt, weil die gesetzliche Krankenversiche-rung mit ihren Verträgen dafür sorgt.
Unser Weg ist anders als Ihrer. Wir wollen keine Um-stellung auf sogenannte leistungsgerechte Prämien. Da-rüber haben wir bereits 2005 debattiert. Drei Viertel derVersicherten würden dann zu Antragstellern auf Sozial-leistungen.
Es hat für mich etwas mit der Würde des Menschen zutun, wenn künftig drei Viertel unserer Bürgerinnen undBürger Zuschüsse beantragen müssten. Ich habe dazunoch andere Fragen an Sie, meine Damen und Herrenvon der FDP. Wie passt das alles denn zu Ihrer Steuer-senkungsideologie?
Sie geben vor, die Partei der Steuersenkungen zu sein,und brauchen dann 35 Milliarden Euro oder noch mehrfür das Gesundheitswesen.
Nein, wir beschreiten einen anderen Weg. Wir behaltendas bei, was die Bundesrepublik Deutschland 60 Jahreals demokratischen und sozialen Bundesstaat ausge-zeichnet hat und was in Art. 20 des Grundgesetzes steht.Das ist für uns eine Verpflichtung. Daran werden wirnicht rütteln.Die gesetzliche Krankenversicherung muss sicher-lich ständig weiterentwickelt werden. Wir brauchen Re-formen und eine Antwort auf die Herausforderungen.Unser Gesundheitswesen ist in all den Jahren unsererRepublik von sozialdemokratischen, konservativen undmanchmal auch von liberalen Politikern mitgetragenworden. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie hat-ten Parlamentarier wie Dieter-Julius Cronenberg in IhrenReihen, die auch als Liberale wussten, dass der Sozial-staat einen Wert an sich hat. Ich bin davon überzeugt:Jeder, der glaubt, dass man an dieses bewährte Systemdie Axt anlegen kann, wird sich in diesem Land warmanziehen müssen.
Die Menschen mögen über das eine oder das andereschimpfen, protestieren oder verärgert sein. Aber einesmöchten sie nicht – darin bin ich mir ganz sicher –:
das bewährte Umlageprinzip aufgeben; denn sie habenerfahren, dass das Prinzip „Menschen für Menschen“ so-zialer, besser und gerechter ist, als sich den Risiken desKapitalmarktes auszusetzen.
Die Absicherung des sozialen Risikos Krankheit istfür uns Sozialdemokraten eine wesentliche Vorausset-zung für Freiheit, und zwar nicht irgendwann, sondernjetzt. Dabei ist Freiheit zugleich Weg und Ziel. Wir wol-len Freiheit, die durch soziale Gerechtigkeit ermöglichtwird und in Solidarität mündet. Deshalb werden wir dasbestehende Gesundheitswesen verteidigen. Wir werdenes zu einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, in deralle Menschen zu gleichen Bedingungen einzahlen undihre Krankenkasse frei wählen können, jede Kranken-kasse jeden ohne Berücksichtigung des jeweiligen Risi-kos versichern muss und es keine risikoadjustierten Prä-mien gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheitsver-sorgung ist gegen die Krise gut geschützt. Für Experi-mente à la FDP sollte uns die gesetzliche Kranken-versicherung zu schade sein. Ich bin mir jedenfalls mitdem Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse, Jo-hannes Vöcking – und mit ihm bin ich durchaus nichtimmer einer Meinung –, in einem Punkt einig. Er hat ge-sagt – andere Vorstandsvorsitzende von Krankenkassenhaben das ähnlich ausgedrückt –, die FDP-Pläne seien„ein Programm gegen den sozialen Frieden in unseremLand“.
Metadaten/Kopzeile:
22126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Bundesministerin Ulla Schmidt
Herr Vöcking, der in Ihrer Regierungszeit eine hoheFunktion im Kanzleramt innehatte, hofft, dass „die Wäh-lerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl solche Vor-stellungen gründlich abstrafen“. Dem ist nichts hinzuzu-fügen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Dr. Martina Bunge von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerAntrag zeigt sehr deutlich, wes Geistes Kind die FDP ist.Der Antrag trägt meines Erachtens nicht unbedingt zu ei-ner ernsthaften Debatte über ein zukunftsfähiges, ge-rechtes und bezahlbares Gesundheitssystem bei. Die De-batte zeigt: Wir alle fechten hier Abwehrkämpfe aus, esist aber dringend notwendig, sich über die Zukunft desGesundheitssystems den Kopf zu zerbrechen.
Im Grunde zeigt Ihr Antrag vor allem, worum es Ih-nen nicht geht: Ihnen geht es nicht um die Gesundheitder Bürgerinnen und Bürger. Ihnen geht es darum, dieviel beschworene Eigenverantwortung hervorzuheben.Sie soll auch bei Krankheit greifen. Besonders hier zeigtsich, wie absurd diese Vorstellung – an falscher Stellegedacht – ist. Diese Vorstellung blendet völlig aus, dassMenschen bereits unterschiedlich gesund und mit unter-schiedlichen Möglichkeiten auf die Welt kommen. DieseVorstellung blendet aus, dass Menschen in diesem Landnicht im luftleeren Raum leben; sie leben in ganz realengesellschaftlichen Verhältnissen. Wir wissen: Menschenmit geringerer Bildung leben kürzer als Menschen mithöherer Bildung, Ärmere leben kürzer als Reichere, Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer leben kürzer als Ar-beitgeber. Krankheit hat in den seltensten Fällen etwasmit Schuld zu tun, für die man Verantwortung überneh-men könnte. Sie hat aber viel mit der sozialen Lage derMenschen zu tun, und die haben sich die Menschen zu-meist nicht ausgesucht.
Nach Ihrer Ansicht sollen die Menschen die Verant-wortung dafür übernehmen, dass sie arm, krank oder bei-des sind. Menschen für etwas zur Verantwortung heran-zuziehen, worauf sie keinen oder kaum Einfluss haben,ist einfach zynisch.
Es ist ein Glück, gesund zu sein. Es sollte dazuverpflichten, mit denen, die weniger Glück haben,solidarisch zu sein. Wir brauchen eine gemeinsame Ver-antwortung für soziale Risiken. Wir brauchen kein unso-lidarisches Privatversicherungssystem, sondern eine so-lidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.
Wir brauchen ein präventives Gesundheitssystem– das ist die Herausforderung der Zukunft, von der ichanfangs sprach –, und wir brauchen unbedingt eine ge-sundheitsfördernde Gesamtpolitik. Den Blick dafür hatmeines Erachtens das ganze Haus noch nicht.
Ein Gesundheitssystem darf die sozial Benachteiligtennicht von einer umfassenden Gesundheitsversorgungausschließen. Dabei knüpfe ich an die Debatte über das,was wirklich medizinisch notwendig ist, an. Ich denke,hier haben wir den Ausschluss von umfassender Ge-sundheitsversorgung.
Im Gegenteil: Wir müssen gerade den Menschen, die so-zial benachteiligt sind, die gesellschaftliche Teilhabe er-möglichen und einen Ausgleich für die Benachteiligungschaffen.Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,erwähnen in Ihrem Antrag mit keiner Silbe Präventionoder Gesundheitsförderung. Sie haben offensichtlich de-ren Bedeutung noch nicht wirklich – jetzt benutze auchich dieses Wort – erkannt.
Dabei besteht nach Ansicht aller Fachleute akuter Hand-lungsbedarf. Schlimm ist, dass auch die Koalition in die-ser Frage versagt. Uns in der Bundesrepublik fehlt drin-gender denn je ein Präventionsgesetz. Wir alle wissenauch – deshalb mein Blick zur SPD –, woran das in die-sem Haus liegt.Ebenso scheinen die wissenschaftlichen Erkenntnissezur sozialen Ungleichheit und zu ungleich verteilter Ge-sundheit vollends an der FDP vorübergegangen zu sein.Ansonsten hätten Sie bemerkt, dass Sie mit Ihrer un-sozialen Politik sogar gegen die Interessen Ihrer eigenenWählerschaft verstoßen;
denn in Ländern mit besonders großen sozialen Un-gleichheiten ist die Gesundheit aller schlechter, alsoauch derer, denen es finanziell besser geht. Sie verwen-den andauernd die sinnentleerte Phrase, Solidarität seikeine Einbahnstraße, und verweisen auf die Eigenver-antwortung. Übersetzt heißt das für mich nichts anderes,als die Solidarität aufzulösen.Aber: Solidarität hält die Gesellschaft zusammen.Deshalb gelten für die Linke in der Gesundheitspolitikweiterhin die Grundsätze: Gesundheit ist ein Menschen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22127
(C)
(D)
Dr. Martina Bungerecht. Jeder gibt nach seinen Möglichkeiten, und jedererhält nach seinem Bedarf. Das wäre gelebte Solidarität.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Koschorrek
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! In der vergangenen Woche wurde uns inder Presse ein großes gesundheitspolitisches Konzeptder FDP in Aussicht gestellt. Dieses Konzept sollen wirnun heute hier im Bundestag empfangen.
Um es kurzzufassen: Ich bin sehr erstaunt – um nichtzu sagen: enttäuscht – darüber, dass der FDP nichts Bes-seres, vor allen Dingen nichts Konkreteres zur Gesund-heitspolitik einfällt.
– Das steht hier heute nicht zur Debatte.
Was die FDP uns hier vorlegt, ist kein gesundheits-politisches Programm und schon gar kein Konzept; es istvielmehr eine Zusammenstellung von Allgemeinplätzenund banalen Feststellungen. Es ist ein Wunschkonzert,das Forderungen nahezu aller am System Beteiligten zuerfüllen versucht. Es gibt vor, dass bei seiner Umsetzungalle Wünsche und Erwartungen von allen am System Be-teiligten – von Patienten, Ärzten, Heilberuflern – erfülltwerden können.
Dieses vermeintliche Konzept ist allseits gefällig. Eshat nur einen entscheidenden Fehler: Sie stellen es nichtauf den Boden der Realität.
Wer gute Ideen verkündet, sollte sich auch Gedankendarüber machen, wie sie zu verwirklichen sind, sollte ei-nen Plan haben, welche Maßnahmen in welcher Reihen-folge zur Realisierung zu ergreifen sind. Vor allem schei-nen Sie überhaupt keinen Ansatz zu haben, wie dasrundherum perfekte System, das Sie sich hier vorstellen,finanziert werden soll. Sie scheinen auch keinen Ansatz-punkt dafür zu haben, welche Kosten aufgeworfen wer-den, welche Finanzierungsverschiebungen entstehen. Ichfinde kein Wort zur Überwindung der erheblichen recht-lichen Hürden, die Ihren Weg sicherlich noch behindernwerden.Dabei kann ich der Kritik, die Sie Ihren Ausführun-gen voranstellen, zumindest teilweise durchaus zustim-men. Sie beschreiben die Schwächen und Probleme un-seres jetzigen Systems weitgehend richtig und gebeneine nicht ganz unzutreffende Analyse. Die Konsequen-zen, die Sie daraus ziehen, sind aber leider nur plakativund populistisch.Tatsächlich bestreitet doch kaum jemand, dass unserGesundheitswesen weiterer Reformen bedarf. Unter-schiedliche und teilweise konträre Auffassungen beste-hen sicherlich nur darüber, in welche Richtung dieseStrukturen geändert werden sollen. Weil die Notwendig-keit struktureller Veränderungen allgemein bekannt undakzeptiert ist, beinhaltet die von uns in der GroßenKoalition in dieser Legislaturperiode beschlossene Ge-sundheitsreform auch Strukturveränderungen, währendes in den vorausgegangenen Reformjahren eigentlichimmer nur um verschiedene Varianten der Kostenbe-grenzung ging.Das GKV-WSG führte den Wettbewerb unter denKrankenkassen ein und stellte die gesamte Finanzierung– die Einnahme- wie die Ausgabenseite unseres Gesund-heitssystems – auf eine solidere, zukunftsfestere Basis.
Die Union will diese Strukturen durch konkrete, sauberkalkulierte und rechtlich einwandfreie Maßnahmen nachder Bundestagswahl mit einer neuen Mehrheit der bür-gerlichen Mitte sicherlich weiterentwickeln. Neben allerKritik an Ihren grundsätzlichen Ausführungen, die sichbisher allem Konkreten verweigern, finden sich doch ei-nige Punkte, die wir seitens der Union durchaus teilen.Zwei Beispiele möchte ich dafür nennen:Da ist zum einen das Prinzip der Subsidiarität. Esstellt eine der fundamentalen Grundüberzeugungen auchder Union dar und lautet: Die individuelle Verantwor-tung hat Vorrang vor staatlichem Handeln. Für das Ge-sundheitswesen heißt dies, dass der Einzelne wiedermehr Eigenverantwortung übernehmen muss,
sowohl hinsichtlich der Prävention als auch der finan-ziellen Beteiligung und der Wahlmöglichkeiten hinsicht-lich der medizinischen Leistungen. Allerdings finde ichin Ihrem Antrag kein Wort zu den Bedingungen, die da-für erforderlich sind: die nötige Förderung von Transpa-renz, von Übersichtlichkeit in diesem System. Wenn ichEigenverantwortung in einem System einfordere, dannmuss ich dafür sorgen, dass diejenigen, die ich in dieseEigenverantwortung stellen will, auch in der Lage sind,das System zu verstehen. Dazu schweigen Sie sich völligaus.
Eine weitere Gemeinsamkeit – zumindest nach derÜberschrift – betrifft die Wertschätzung für den freibe-ruflichen Heilberufler. Auch nach unserer Überzeugung– so steht es auch im Grundsatzprogramm der Union –gehören die freie Arztwahl und die freien Gesundheits-
Metadaten/Kopzeile:
22128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Rolf Koschorrekberufe zum Kern eines freiheitlichen Gesundheitswe-sens, wie wir es in Deutschland haben wollen. Da be-steht zwischen uns sicherlich Einigkeit.Was Sie allerdings zur Finanzierung des ganzen Sys-tems vorschlagen, ist Ausdruck von Realitätsverlust. Siehaben kein Wort dazu gesagt, wie Sie die Prämien kal-kulieren wollen. Mehrere Nachfragen zur Risikoadjus-tierung haben Sie unbeantwortet gelassen. Für mich isteindeutig: Bei Ihrem System – das als Zusammenfas-sung – steht der Basistarif für die gesamte Bevölkerungim Raum. Das ist ein Weg, den wir als Union mitzuge-hen nicht bereit sind.
Zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreservenbrauchen wir mehr Wettbewerb der Anbieter im Ge-sundheitswesen. Mit unserer Gesetzgebung der letztenJahre haben wir eindeutig diesen Weg eingeschlagen.Gleichzeitig kann es nicht darum gehen, den Kräftendes Marktes durch Angebot und Nachfrage freies Spielzu gewähren. Es ist klar, dass wir seitens der Gesund-heitspolitik lenkend und regulierend eingreifen müssen,um die Qualität der Gesundheitsversorgung in unseremLand zu gewährleisten. Für den Patienten, den Versi-cherten und den Kunden muss die Wahlmöglichkeit zwi-schen Ärzten und Anbietern auf dem Gesundheitsmarktgewährleistet bleiben. Wir verhindern, dass unser Ge-sundheitssystem in die Hand von Konzernen fällt, wo,losgelöst von den Verpflichtungen und vom Ethos derHeilberufler, rein kommerzielle Interessen zählen.Wenn Sie nach der Wahl tatsächlich Regierungsver-antwortung übernehmen wollen
und auch in der Gesundheitspolitik ein Wörtchen mitre-den möchten, müssen Sie mehr bieten und können nichtnach Art reiner Opportunisten nur Fundamentalkritikvorbringen. Es reicht nicht, dass die Abschaffung desGesundheitsfonds die zentrale Forderung der FDP in denKoalitionsverhandlungen sein soll, so wie Sie als ge-sundheitspolitischer Sprecher es in der letzten Woche imHandelsblatt verkünden ließen.
Da gehören schon konkretere Pläne und Vorstellungenauf den Tisch. Es reicht nicht, eine Reihe guter Ideen zuhaben; Sie müssen auch sagen, wie diese Ideen in dieRealität umgesetzt werden können.
Wir und die Wähler haben ein begründetes Interessedaran, etwas genauer zu erfahren, was die FDP will, wassie für realistisch hält und vor allem was es kostet.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Jens Spahn von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-nes finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege Bahr:Sie beantragen eineinhalb Stunden Debatte zu Ihrem An-trag und wundern sich fortwährend darüber, dass wir Ih-ren Antrag und alles, was an Unschärfe darin enthaltenist, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen.
Dann hätten Sie nicht beantragen dürfen, ihn heute zubehandeln, schon gar nicht in dieser Länge.
Die Debatte über einen solchen Antrag beinhaltet na-türlich die Chance, Schnittmengen – der Kollege Ko-schorrek hatte schon auf einige hingewiesen –, aber auchTrennendes aufzuzeigen, wenn es etwa darum geht, dasWettbewerbs- und Kartellrecht auch im Gesundheitsbe-reich konsequent anzuwenden oder eine Kapitalrücklageeinzuführen.
Frau Ferner, „Kapitalrücklage“ heißt per definitionem:sparen, um für die Kosten in der Zukunft vorzusorgen.
Herr Kollege Koschorrek hat gerade gesagt, dass es auchdarum geht, die Freiberuflichkeit in den Mittelpunkt zustellen.
Denn das wollen wir: freiberuflich tätige Ärzte – nichtÄrzte, die als Angestellte Dienst nach Vorschrift ma-chen, von 8 bis 16 Uhr –, wie sie heute mit großemEngagement im Land unterwegs sind. Es gibt also vieleChancen, Gemeinsamkeiten zu finden.
Wenn ich gerade beim Thema Ärzte bin – Sie habendas auch im Zusammenhang mit den Vergütungen ange-sprochen –: Es gibt in diesem Jahr mit 30 MilliardenEuro einen enormen Zuwachs bei der ärztlichen Ver-sorgung. Gleichzeitig ist überall das Gefühl vorhanden,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22129
(C)
(D)
Jens Spahndass für die Versorgung weniger zur Verfügung steht.Wir müssen in diesem Hause deutlich machen, dass wirdie Selbstverwaltung in der Verantwortung sehen,
wenn es darum geht, Verteilungsprobleme in den Griffzu bekommen, aber auch die Bundesregierung in derVerantwortung sehen, Frau Ministerin, wenn es darumgeht, das, was wir als Gesetzgeber zur Honorarordnunggewollt haben, gemeinsam mit den Selbstverwaltungs-gremien jetzt auch auf den Weg zu bringen.
Es geht aber auch darum, Herr Kollege Bahr, zuschauen, wo es nicht ganz so passt im Antrag. Darinheißt es sinngemäß, man solle mit mehr Kreativität Effi-zienzreserven heben. Das klingt gut. Gleichzeitig sagenSie: Rabattverträge sind furchtbar. Ausschreibungen undWettbewerb zwischen den Ärzten, das geht gar nicht. Damuss man sich schon entscheiden. Wenn man ein biss-chen mehr Kreativität fordert, muss man das auch ir-gendwie ausfüllen. Gleichzeitig lehnen Sie aber alles ab,was wir in den letzten Jahren an neuen Strukturelemen-ten in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführthaben. Diese hatten gerade das Ziel, Effizienzreservenzu heben, und zu erreichen, dass man im Arzneimittelbe-reich, etwa im Generikamarkt, im Sinne der Patientenund für die Versorgung der Patienten noch Geld heraus-holt.Beim Wettbewerb muss man immer einen Spagatmachen. Wettbewerb ist immer unübersichtlich, ebenweil es verschiedene Angebote gibt, zwischen denenman wählen muss. Die Krankenkassen haben nämlichnun die Möglichkeit, Verträge mit unterschiedlichen Ra-batten abzuschließen und unterschiedliche Ausschrei-bungen zu machen. Ein Gesundheitssystem mit Wettbe-werb ist natürlich unübersichtlicher als eines mit einerEinheitskasse. Trotzdem wollen wir Wettbewerb. Es istaber völlig diffus, wenn Sie einerseits Uneinheitlichkeitablehnen, aber andererseits fordern, Effizienzreserven zuheben. Beides zusammen geht in diesem Bereich nicht.
Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum Sie sichweigern, im Rahmen dieser Diskussion klar zu sagen, inwelcher Form und Höhe Prämien erhoben werden sol-len. Ich unterstelle Ihnen gar nicht, dass Sie eine risiko-äquivalente Prämie wie in der privaten Krankenversiche-rung fordern, dass also der Kranke mehr als der Gesundezahlen muss. Aber wenn Sie das nicht wollen, bleibt alsIhr Konzept nur noch die Bürgerprämie à la Rürup undanderer übrig.
Das kann man wollen. Das ist okay. Ich sehe darin sogareine gute Basis für eine Diskussion.
Aber das Problem ist, dass Sie das nicht klar sagen. Da-durch, dass Sie so diffus und unpräzise in Ihren Aussa-gen bleiben, liefern Sie denjenigen im Hause, die etwasganz anderes wollen, eine ideale Vorlage. Das haben Sieja an den heutigen Reden gesehen. Das hat den Tenor derDebatte heute bestimmt. Dass das in Ihrem Antrag nichtklarer dargestellt wird, finde ich schade.
Herr Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bahr?
Ja, klar. Immer.
Bitte schön.
Herr Kollege Spahn, Sie haben der FDP vorgeworfen,
im Diffusen zu bleiben. In der Ärzte Zeitung werden al-
lerdings Sie, Herr Kollege Spahn, mit der Aussage zi-
tiert,
dass der Union momentan eine „Leitidee“ in der
Gesundheitspolitik fehle.
Sie haben in schönen Worten gesagt, was Sie sich
vorstellen. Gleichzeitig lesen wir an vielen Stellen, dass
Sie sich von der Prämienfinanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung verabschieden wollen. Können Sie
mir einmal erklären, wie jetzt der Stand der Dinge bei
der Union ist?
Ich kann Ihnen erstens erklären – das wissen Sie auseigener Erfahrung –, dass das mit Zitaten in Zeitungenimmer so eine Sache ist.
Zum Zweiten möchte ich festhalten: Sie stellen sich hierhin und behaupten, Sie hätten das Konzept für die Zu-kunft. Sie beantragen dazu eine Debatte über anderthalbStunden im Deutschen Bundestag und füllen seit Tagendie Zeitungen mit dem „Gegenmodell der FDP“. Fragtman dann aber, nachdem man sich das genauer ange-schaut hat, hier konkret nach, wie das genau aussehensoll, kommt nichts. Hier liegen Anspruch und Wirklich-keit einfach nicht nahe genug beieinander.
Außerdem habe ich bei der Veranstaltung zumGesundheitsfonds im Übrigen auch gesagt, dass es
Metadaten/Kopzeile:
22130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Jens Spahndarum gehen muss, den Gesundheitsfonds weiterzuent-wickeln. Allerdings zu behaupten, der Gesundheitsfondsan sich würde in den nächsten zwei bis drei Jahren wie-der abgeschafft, ist unrealistisch; das wissen Sie selber,auch wenn Sie in Ihren Reden etwas anderes fordern.
Sicher ist nicht alles perfekt. Bei einer Weiter- undFortentwicklung geht es deshalb zum Beispiel um dieFragen, ob die Begrenzung des Zusatzbeitrages auf1 Prozent sinnvoll ist, wie der Risikostrukturausgleichweiterentwickelt werden kann und wie das Verhältniszwischen Steuergeldern und Gesundheitssystem grund-sätzlich aussehen soll. Insofern bin ich für eine Weiter-entwicklung des Fonds. Diese ist auf jeden Fall nötig.Ich halte es auch für eine gute Diskussionsgrundlage,das alles unter dem Ziel der Einführung einer Bürgerprä-mie zu diskutieren. Das eigentliche Problem ist aber,dass Sie jetzt sofort den Totalumbau fordern, ohne genauzu benennen, wie das vonstatten gehen soll. Mit solchenForderungen verunsichern Sie – das tun Sie ja mittler-weile fast schon im Jahresrhythmus – 70 Millionen Ver-sicherte und die Menschen, die im Gesundheitswesen tä-tig sind. Es ist also unrealistisch, in den nächsten zweibis drei Jahren eine Totalreform zu machen. Man mussnämlich erst einmal die Dinge, die man beschlossen hat,entsprechend wirken lassen.Schließlich auch noch etwas zu Ihrer Aussage, HerrLanfermann, dass Patienten Kunden seien. Man kann si-cherlich Teilaspekte des Patientendaseins auch unterdem Kundenaspekt betrachten, aber zu sagen, Patientenseien Kunden
– haben Sie mehrfach gesagt, auch auf entsprechendeNachfragen –,
im Sinne eines Marktteilnehmers, der nachfragt, ist einezu radikale Formulierung,
die auch leider nicht konsequent zu Ende gedacht ist.Das taugt vielleicht für einen momentanen Höhenflug,aber das taugt mit Sicherheit nicht dazu, zu einer Volks-partei zu werden.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11879 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d, 24sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Christian Ahrendt, GiselaPiltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPNationale Küstenwache schaffen– Drucksache 16/8543 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDPVerbraucherfreundliche und praxistauglicheLebensmittelkennzeichnung durchsetzen –Verbots- und Bevormundungspolitik verhin-dern– Drucksache 16/11671 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAnreizregulierung im Strom- und Gassektornachbessern – Benachteiligung von städti-schen Versorgern verhindern– Drucksache 16/11878 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitd) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
TA-Projekt: Gendoping– Drucksache 16/9552 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22131
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms24 Beratung des Antrags der Abgeordneten RainderSteenblock, Omid Nouripour, Winfried Nacht-wei, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Westeuropäische Union als überholtesKonstrukt auflösen– Drucksache 16/11765 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
VerteidigungsausschussFederführung strittigZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEDatenschutz für Beschäftigte stärken– Drucksache 16/11376 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarionSeib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUsowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase,Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDFörderung des wissenschaftlichen Nachwuch-ses ausbauen– Drucksache 16/11883 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBarth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPEntwicklungschancen für den wissenschaft-lichen Nachwuchs schaffen– Drucksache 16/11880 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Acker-mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPFaires Nachversicherungsangebot zur Verein-heitlichung des Rentenrechts in Ost und West– Drucksache 16/11236 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialesEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisun-gen: Das sind die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d sowieZusatzpunkte 3 a bis 3 d. Interfraktionell wird vorgeschla-gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse zu überweisen, wobei die Vorlage auf Druck-sache 16/11376 – das ist der Zusatzpunkt 3 a – federführendbei dem Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werdensoll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der dieFederführung strittig ist: Tagesordnungspunkt 24. Inter-fraktionell wird Überweisung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen betreffend die WesteuropäischeUnion auf Drucksache 16/11765 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Frak-tionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführungbeim Auswärtigen Ausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss fürdie Angelegenheiten der Europäischen Union.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union. Wer ist für diesen Vorschlag vonBündnis 90/Die Grünen? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmungvon Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller ande-ren Fraktionen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen von CDU/CSU und SPD, Federführung beimAuswärtigen Ausschuss, abstimmen. Wer stimmt fürdiesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Ge-genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stim-men aller übrigen Fraktionen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowieZusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.Zunächst einmal Tagesordnungspunkt 34 a:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes über den Bau und den Be-trieb von Versuchsanlagen zur Erprobung vonTechniken für den spurgeführten Verkehr– Drucksache 16/9899 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 16/11304 –Berichterstattung:Abgeordneter Horst Friedrich
Metadaten/Kopzeile:
22132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/11304, den Gesetzentwurf des Bundesra-tes auf Drucksache 16/9899 abzulehnen. Ich bitte dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grü-nen gegen die Stimmen von FDP und den Linken abge-lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Tagesordnungspunkt 34 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Götz,Dirk Fischer , Dr. Klaus W. Lippold,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUsowie der Abgeordneten Petra Weis, KlaasHübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDDie integrierte Stadtentwicklung weiter aus-bauen– zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Dö-ring, Gisela Piltz, Horst Friedrich ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPInnenstädte stärken – Kooperationen för-dern – Städtebauförderung weiterentwi-ckeln– Drucksachen 16/11414, 16/8076, 16/11875 –Berichterstattung:Abgeordnete Petra WeisPeter HettlichDer Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/11875, den An-trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck-sache 16/11414 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke beiEnthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung hat in seine Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/11875 den Antrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 16/8076 zur Städtebauförderung miteinbe-zogen. Über die hierzu ergangene Beschlussempfehlungsoll jetzt ebenfalls abgestimmt werden. Sind Sie mit die-sem Verfahren einverstanden? – Das ist der Fall. Dannmachen wir das so.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/11875 die Ableh-nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache16/8076 mit dem Titel „Innenstädte stärken – Koopera-tionen fördern – Städtebauförderung weiterentwickeln“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derFraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktionund Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenom-men.Tagesordnungspunkt 34 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungEinhundertsiebenundfünfzigste Verordnungzur Änderung der Einfuhrliste– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –– Drucksachen 16/11614, 16/11718 Nr. 2.1,16/11779 –Berichterstattung:Abgeordneter Ernst BurgbacherDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/11779, die Aufhebung der Ver-ordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-tionen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung zur Änderung der Verordnungzur Begrenzung der Emissionen flüchtiger or-ganischer Verbindungen beim Umfüllen undLagern von Ottokraftstoffen – 20. BImSchV– Drucksachen 16/11719, 16/11818 Nr. 2,16/11897 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung
Detlef Müller
Michael KauchLutz HeilmannSylvia Kotting-UhlDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/11897, der Verordnung zuzu-stimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen ange-nommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22133
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsTagesordnungspunkt 34 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 523 zu Petitionen– Drucksache 16/11766 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 523 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 34 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 524 zu Petitionen– Drucksache 16/11767 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 524 ist ebenfalls einstim-mig angenommen.Tagesordnungspunkt 34 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 525 zu Petitionen– Drucksache 16/11768 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 525 ist bei Enthaltung derFraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-tionen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 526 zu Petitionen– Drucksache 16/11769 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 526 ist bei Gegenstimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmenaller übrigen Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 527 zu Petitionen– Drucksache 16/11770 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 527 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 528 zu Petitionen– Drucksache 16/11771 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 528 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grü-nen bei Gegenstimmen von FDP und der Linken ange-nommen.Tagesordnungspunkt 34 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 529 zu Petitionen– Drucksache 16/11772 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 529 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Nun kommen wir zum Zusatzpunkt 4:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steen-block, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Arbeitszeitrichtlinie – HohenArbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen– Drucksachen 16/11758, 16/11894 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael HennrichDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/11894, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11758 abzu-lehnen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nach-haltigkeitsstrategie– Drucksache 16/10700 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
SportausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Metadaten/Kopzeile:
22134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibtes Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Ernst Kranz von der SPD-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Vor vier Jahren haben wir uns genau an dieserStelle mit dem ersten Fortschrittsbericht beschäftigt. DieBundesregierung hat in diesem Fortschrittsbericht ihreStrategie der Nachhaltigkeit dargestellt. Wir haben da-mals nach kurzer Zeit – es war nach nur zwei Jahren;denn erst im Jahre 2002 ist diese Strategie in die Politikder Bundesregierung implementiert worden – über die-sen Bericht beraten.Wenn wir heute das Wort „Nachhaltigkeit“ hören, hates einen ganz anderen Klang. Es wird meiner Meinungnach sogar inflationär gebraucht. Viele Begriffe wie zumBeispiel „Ökologie“, „dauerhaft“ und „transparent“ wer-den unter dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verstanden. Ichbin der Meinung, es geht hier um viel mehr, und das istimmer zu beachten. Es geht uns vor allem um eine vo-rausschauende und über den Tellerrand der Ressortshinausreichende Entscheidungspolitik.Nachhaltigkeit umfasst drei Dimensionen: die ökolo-gische, die soziale und die ökonomische Dimension. Aufdie soziale Dimension will ich etwas ausführlicher ein-gehen. Wir müssen uns bei jedem Gesetzentwurf, denwir verabschieden, und bei jeder Maßnahme, die wir da-durch auslösen, fragen, ob wir damit sicherstellen, dassdie Teilhabe aller Teile der Gesellschaft gewährleistetund verbessert wird oder ob wir dadurch nicht sogar ein-zelne Bürger und Gruppen ausgrenzen. Es ist wichtig,dass wir mit all unseren Entscheidungen gleiche Chan-cen im persönlichen, sozialen und beruflichen Bereicheinräumen und dass die Kompetenzen all unserer Bürgerin allen Bereichen zur Verfügung stehen und eingesetztwerden können.Die soziale Dimension wird auch sichtbar, wenn wiran die Auswirkungen der aktuellen Finanz- und Kon-junkturkrise denken. Hier müssen wir jetzt alle Kräftebündeln, um einen Arbeitsplatzabbau in größerem Um-fang zu verhindern. Schon die Konjunkturprogrammezeigen die Notwendigkeit einer ressortübergreifendenZusammenarbeit. Meiner Meinung nach sollte genaudiese Zusammenarbeit, also das Denken über Ressort-grenzen hinaus und vorausschauendes Denken, viel stär-keres Gewicht in unserer Politik erhalten.
Nachhaltige Politik bedeutet, finanzielle Mittel mög-lichst effizient einzusetzen. Mit ökonomischen Stüt-zungsmaßnahmen versuchen wir, die negativen Folgender Krise für die Bürger und damit für die Gesellschaftmöglichst gering zu halten. Wir müssen die anstehendenProbleme heute und möglichst schnell lösen. Nur nach-haltiges Handeln im nationalen und internationalen Rah-men, wozu wir beitragen möchten, kann künftige Krisenverhindern oder zumindest ihre Auswirkungen von An-fang an abschwächen. Zu Recht fordert der Vorsitzendedes Rates für Nachhaltige Entwicklung, Volker Hauff,eine klare Weichenstellung für eine nachhaltige Wirt-schaftsordnung, um deutliche Fortschritte bei der zu-kunftsfähigen Umgestaltung unserer Wirtschaft zu errei-chen.Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, hinterdem Begriff „Nachhaltigkeit“ verbirgt sich ein großesAufgabenspektrum.Im Jahr 2002 hat sich die rot-grüne Bundesregierungauf bestimmte Kriterien und innerhalb dieser Kriterienauf Ziele festgelegt, um eine nachhaltige Entwicklung inDeutschland messen zu können. Diese insgesamt 21 In-dikatoren sind sozusagen eine Messlatte für uns, an derwir ablesen können, ob und inwieweit wir uns auf denjeweiligen Politikfeldern auf den Weg der Nachhaltig-keit begeben haben.
Es ist wichtig, dass die heutige Generation gut lebenkann – das ist klar –, es muss aber auch ganz deutlich ge-sagt werden, dass wir dadurch nicht die Möglichkeitennachfolgender Generationen schon heute einschränkendürfen.
Das ist der Kern nachhaltiger Politik.In dem nun vorliegenden „Fortschrittsbericht 2008zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“ zieht die Bun-desregierung Bilanz. In einigen Bereichen gibt es posi-tive Entwicklungen; das ist sehr zu begrüßen. Wir habenuns ehrgeizige Ziele gesetzt. Ich glaube, ohne diese ehr-geizigen Ziele wären wir in vielen Bereichen nicht soerfolgreich. Positives gibt es zum Beispiel aus den Be-reichen Klimaschutz, regenerative Energien, Beschäfti-gung, Ganztagsbetreuung von Kindern und aus dem Be-reich Staatsverschuldung – zumindest bis zum Zeitpunktder Finanzkrise – zu berichten. Es gibt jedoch leiderauch zahlreiche Indikatoren, die darauf hinweisen, dasswir uns auf vielen Gebieten zu langsam in die richtigeRichtung bewegen. Das ist zum Beispiel im Bereich Mo-bilität der Fall. Genauso gilt das für den täglichen Flä-chenverbrauch. Auf diesen Gebieten müssen wir nocheiniges erreichen.
Wir haben es aber auch mit Entwicklungen zu tun, diedas angestrebte Nachhaltigkeitsziel in weite Ferne rü-cken lassen. Das gilt vor allem für die Bereiche Bildung,Mobilität und Artenvielfalt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22135
(C)
(D)
Ernst KranzLiebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-rung hat zum Thema nachhaltige Entwicklung Stellungbezogen. An dieser Stelle möchte ich meine Meinung zueinem wesentlichen Thema äußern. Mir geht es um dasPolitikfeld „Erhaltung und Bewirtschaftung der natürli-chen Ressourcen“ und dabei insbesondere um die Ele-mentarressource Wasser. Ich finde, es ist bedauernswertund nicht zu verstehen, dass Wasser als essenzielle Res-source nicht als Indikator im System verankert ist, wiedas zum Beispiel bei der Luftqualität der Fall ist. Wasserspielt zwar für die Politik in Deutschland eine großeRolle, auf internationaler Ebene können wir aber vieleMissstände feststellen.Wasser ist mehr als nur Trinkwasser. Die RessourceWasser ist Grundlage für das Leben. Wasser dient als Le-bensraum, Lebensmittel und Rohstoff. Die DeutscheForschungsgemeinschaft bezeichnet Wasser als diewichtigste natürliche Ressource des 21. Jahrhunderts.Zwar sind 71 Prozent der Erdoberfläche von Wasser be-deckt, aber nur 2,5 bis 3 Prozent des Gesamtwasservolu-mens sind Süßwasser. Die meisten Süßwasservorkom-men wiederum sind in den Polkappen gebunden. Wennwir uns das verdeutlichen, ist uns klar, wie effektiv bzw.schonend wir mit dieser Ressource umgehen müssen.Wasser bestimmt viele Bereiche unseres Lebens.Klima: Für das Klima ist Wasser ein bestimmender Fak-tor. Ökosysteme: Wasser kennzeichnet sowohl die ter-restrischen als auch die aquatischen Ökosysteme. Land-wirtschaft: Wasser ist Rohstoff, letztendlich sogarLebensspender für alle Produkte der Landwirtschaft.Anzumerken ist, dass 70 Prozent des Süßwasserver-brauchs durch die Landwirtschaft erfolgen. Für die In-dustrie ist Wasser ein wichtiger Rohstoff. Gesundheit:Da können wir bei uns selbst anfangen; denn der Menschbesteht zu circa 70 Prozent aus Wasser. Ohne genügendWasser und Nahrung kann die Körpertemperatur nichtgehalten werden, und wir bekommen Probleme. Deshalban dieser Stelle noch einmal der Hinweis – letztendlichist das meine Forderung –: Wasser sollte als Indikator indas System aufgenommen werden.Ich möchte zum Abschluss erklären, wie unsere Ar-beit im Beirat strukturiert ist. Es kommt uns darauf an,unsere Themen im Beirat konsensorientiert zu behan-deln. Sie sind uns zu wichtig, als dass wir bereit wären,am Ende Papiere herauszugeben, die nur Anmerkungeneinzelner Fraktionen enthalten und ansonsten strittig ge-stellt sind.Der Beirat muss im Hinblick auf das Thema Nachhal-tigkeit als Vorbild wirken.
Herr Kollege Kranz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz: Damit versuchen wir, auch für
künftige Koalitionen und künftige Legislaturperioden
grundlegende Voraussetzungen zu schaffen, auf denen
einheitlich aufgebaut werden kann.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachhal-tigkeit ist kein Luxusthema für Schönwetterzeiten. Ge-rade in der Krise brauchen wir eine klare Orientierung,an welchem Leitbild sich Politik ausrichten soll. Wirbrauchen eine soziale Marktwirtschaft, die langfristigtragfähig ist. Dazu gehören ökologische Verantwortung,wirtschaftliche Freiheit, Innovationskraft und sozialeStabilität. Es geht um politische Rahmenbedingungen,aber auch um die Haltung von Akteuren in der Wirt-schaft und in der Gesellschaft.Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie soll einen Leit-faden für eine möglichst parteiübergreifende Perspektivefür die Zukunft unseres Landes bieten. Die Nachhaltig-keitsstrategie soll dem Denken in Wahlperioden eineAbsage erteilen und über den Wechsel der Regierungenhinaus Orientierung geben. Deshalb ist es erfreulich,dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltigeEntwicklung den Parteienstreit auf ein Mindestmaß be-grenzen und versuchen, wo immer möglich einen Kon-sens zu finden.
Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie hat durch dieVerknüpfung strategischer Ziele mit nachprüfbaren Indi-katoren eine wichtige Wirkung für die Tagespolitik. Da-durch wird deutlich, ob man sich auf Schönwetterreden,auf Sonntagsreden beschränkt, sich aber ansonsten leidernichts ändert. Wir Liberale unterstützen eine solche Stra-tegie. Wir sagen aber zugleich: Der Kern der Debatte umNachhaltigkeit müssen die Chancen kommender Gene-rationen sein. Nachhaltigkeit darf nicht für alles und je-des missbraucht werden, was man tagesaktuell als gut,effizient oder gerecht empfindet. Die Themen müsseneinen Zukunftsbezug haben; denn es geht hier vor allemum eines: um Generationengerechtigkeit.
Meine Damen und Herren, Folgendes ist schon be-merkenswert – ich habe gerade das Thema Sonntagsre-den angesprochen –: Es geht hier um einen Bericht, dendie Bundesregierung einmal in dieser Wahlperiode vor-legt. Es ist die Strategie der Bundesregierung; federfüh-rend ist das Kanzleramt. Ich hätte erwartet, dass eine Re-gierung dann, wenn sie eine solche Strategie ernstnimmt, in der ersten Lesung eines Berichtes in die De-batte einführt, dass also der Kanzleramtsminister von
Metadaten/Kopzeile:
22136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Michael Kauchdieser Stelle aus erklärt, was die Politik der Bundes-regierung ist.
Gerade war noch ein Staatsminister des Kanzleramteskurz anwesend. Ich dachte: Wenigstens ein Staatsminis-ter. Aber pünktlich zu Beginn dieser Debatte nahm erseine Akten und verschwand. So kann man mit dernationalen Nachhaltigkeitsstrategie wirklich nicht umge-hen.
Im Bereich der finanziellen Nachhaltigkeit gibt esderzeit viel Bewegung. Einerseits werden angesichts derWirtschaftskrise die größten Verschuldungsprogrammebeschlossen, die die Republik je gesehen hat, und ande-rerseits hat die Föderalismuskommission II zumindesteine Skizze für die Aufnahme einer Schuldenbremse insGrundgesetz aufgelegt. Letzteres ist aus Nachhaltig-keitssicht zu begrüßen. Ob diese Schuldenbremse dazuausreichen wird, Generationengerechtigkeit zu schaffen,wird sich erst entscheiden, wenn der Text vorliegt undwir sehen, welche Hintertüren es möglicherweise wiederfür die Verschuldung gibt.Sinnvoll wäre es aus unserer Sicht, darüber hinausNachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit in dieStaatszielbestimmungen des Grundgesetzes aufzuneh-men; denn anders als geborene Kinder werden kom-mende Generationen bisher vom Grundgesetz nicht ge-schützt. Es freut mich, dass der Parlamentarische Beiratfür nachhaltige Entwicklung auf seiner gestrigen Sitzung– mit Ausnahme der Vertreter der Linken – dieses Zielunterstützt hat. Es freut mich auch, dass der Bundesprä-sident nach der heutigen Debatte die Initiatoren des Be-richts empfängt und sich mit dieser wichtigen Frage aus-einandersetzt.
Wir brauchen endlich mehr Transparenz in der Poli-tik. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Gesetzesfol-genabschätzung alles Mögliche abprüfen: die Auswir-kungen eines geplanten Gesetzes auf das Preisniveau,auf den Mittelstand und die Geschlechtergerechtigkeit.Aber die möglichen Auswirkungen unserer geplantenGesetze auf künftige Generationen überprüfen wir nicht.Das sollte sich in der nächsten Wahlperiode ändern.Um eine solche Nachhaltigkeitsprüfung durchzufüh-ren, brauchen wir allerdings klare und transparenteInstrumente. Dazu gehören Generationenbilanzen, diedie finanziellen Ströme zwischen den Generationen ab-bilden, die zeigen, welche Leistungen wir für künftigeGenerationen erbringen, zum Beispiel bei Infrastrukturund Bildung. Sie müssen aber auch die Lasten auswei-sen, die es neben der Staatsverschuldung gibt, zum Bei-spiel durch die Rentenversicherung, die Krankenversi-cherung und die Beamtenbesoldung. All diese Lastenwerden auf künftige Generationen verschoben. Das wirdheute in den Büchern nicht ausgewiesen. Aus meinerSicht ist das ein reformbedürftiges Feld.
Meine Damen und Herren, schließlich braucht einebessere Nachhaltigkeitsprüfung eine bessere Veranke-rung des Parlamentarischen Beirats in der Geschäftsord-nung des Bundestages; denn es muss eine parlamentari-sche Begleitung der Gesetzesfolgenabschätzung geben.Generationengerechtigkeit ist mehr als die Frage, wieviel Schulden wir kommenden Generationen hinterlas-sen. Es geht auch um die Fragen, was wir investierenstatt konsumieren, ob wir langfristig tragfähige Sozial-versicherungssysteme bauen, und nicht zuletzt darum,ob wir kommenden Generationen eine lebenswerte Um-welt hinterlassen. Biologische Vielfalt und Klimaschutzmüssen zentrale Bestandteile einer Strategie für Genera-tionengerechtigkeit sein.Abschließend möchte ich meiner Hoffnung Ausdruckverleihen, dass wir nicht wieder vier Jahre warten müs-sen, bis wir über den nächsten Fortschrittsbericht disku-tieren. Die frühere Bundesregierung hatte sich zum Zielgesetzt, alle zwei Jahre einen solchen Bericht vorzule-gen. Schwarz-Rot hat sich – wie bei vielen anderen The-men auch – viel zu viel Zeit gelassen. Das muss sich inder nächsten Wahlperiode ändern. Wir Liberale werdendas ändern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Scheuer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Kauch, ich werde mich bemühen, keineSchönwetterrede zu halten, sondern auf die Inhalte desFortschrittsberichtes einzugehen. Ich möchte mich vor-neweg bei allen Kolleginnen und Kollegen des Parla-mentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung be-danken. Ich glaube, wir haben eine Arbeitsweisegefunden, die sehr kollegial ist. Über viele Themen be-steht Konsens, obgleich es, Herr Kollege Heilmann, beiverschiedenen Themen manchmal Ausreißer und Aus-nahmen gibt.
Ich glaube, das Klima in diesem Parlamentarischen Bei-rat ist sehr gut. Die deutsche Öffentlichkeit soll wissen,dass Politik nicht nur aus Streit und beinhartem Ringenbesteht, sondern vor allem auch an Kollegialität ge-knüpft ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22137
(C)
(D)
Dr. Andreas Scheuer
Der Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltig-keitsstrategie bietet eine breit gefächerte Grundlage, einezukunftsfähige Politik für Deutschland über verschie-dene Themenfelder zu machen. Dies wurde in einer an-deren Regierungskonstellation begonnen und wird jetztweitergeführt. Ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wirpolitisches Handeln viel transparenter und vor allem fürdie Bürgerinnen und Bürger nachprüfbar machen.Es gibt 21 Schlüsselindikatoren, die in verschiedeneUnterkategorien unterteilt sind. Dies ist ein Beitrag füreine bessere politische Kultur in Deutschland, vor allemum die Politik langfristig fit für die Zukunft zu machen.Ich glaube, mit einem Image von Politik muss man gene-rell aufräumen – das richte ich auch an die Medienver-treter –: Politik denkt nicht nur bis zum nächsten Wahl-termin. Wir befassen uns im Parlamentarischen Beiratmit Themen, die weit über die nächsten Jahre hinausge-hen. Die Ziele, die im Fortschrittsbericht formuliert sind,reichen bis ins Jahr 2015 oder sogar bis ins Jahr 2020.Nachhaltigkeitspolitik ist eine Querschnittsaufgabe.Später werden noch Mitglieder des Umweltausschusseszu diesem Thema sprechen. Als Verkehrspolitikermöchte ich an dieser Stelle nur sagen: Über Nachhaltig-keitspolitik sollte in jedem einzelnen Fachbereich um-fassend diskutiert werden. Sie sollte zum Leitprinzip derPolitik insgesamt gemacht werden.Der Kollege Kranz hat bereits darauf hingewiesen,dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ sehr oft strapaziertwird, von der Finanzpolitik über die Umweltpolitik bishin zur Verkehrspolitik. Es ist richtig, dass wir diesenBegriff nicht inflationär verwenden sollten. Allerdingsmüssen wir es in die Köpfe der Bürgerinnen und Bürgerbekommen, dass die deutsche Politik ein Interesse daranhat, über den nächsten Wahltag hinauszudenken.Meine Damen und Herren, natürlich gibt es auchRückschläge. Wenn man die drei großen Bereiche Wirt-schaft, Umwelt und Soziales – sie bilden die Grundlageder Nachhaltigkeitsstrategie – betrachtet, so lässt sich imHinblick auf die Schlüsselindikatoren bzw. die Messgrö-ßen für politisches Handeln feststellen, dass im vorlie-genden Fortschrittsbericht natürlich auch Indikatoren zufinden sind, die uns nicht zufrieden stimmen.Der Fortschrittsbericht ist noch vor Beginn derFinanzkrise fertiggestellt worden. Ich möchte dieseKrise nicht noch krisenhafter beschreiben, als sie inWirklichkeit ist. Aber sie hat uns vor Augen geführt,dass wir uns im Parlamentarischen Beirat bei der Erar-beitung des nächsten Fortschrittsberichts bzw. eines In-dikatorenberichts mehr Gedanken als bisher über diePrinzipien der Finanzpolitik, der Haushaltsführung undder Staatsverschuldung machen müssen.Ich bin der gleichen Meinung wie meine Vorredner,dass wir ein krisenfestes Nachhaltigkeitsmanagemententwickeln müssen, das bei globalen Krisen weniger an-fällig ist. Außerdem müssen wir Indikatoren kreieren,die es ermöglichen, Krisensituationen im Rahmen derAnalyse zu berücksichtigen. Unser Managementkon-zept besteht aus Managementregeln, Indikatoren, Zielenund Monitoring. Die Bundesregierung sollte sich sehrintensiv mit dem Fortschrittsbericht 2008 befassen undihn bei der Erarbeitung eines krisenfesten Nachhaltig-keitsmanagements als Orientierungsrahmen verwenden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Bei-spiel auf den Indikator der Gütertransportintensität zusprechen kommen. Das im Fortschrittsbericht formu-lierte Ziel zur Gütertransportintensität wurde verfehlt.Das liegt allerdings auch daran, dass wir in den letztenJahren einen Aufschwung und demzufolge eine großeIntensität in Bezug auf Mobilität und Güter erlebt haben.Die Bundesregierung hat die Nachhaltigkeitsstrategiezum Anlass genommen, bestimmte Leitplanken in politi-sches Handeln umzusetzen. Was die Gütertransport-intensität angeht, hat die Bundesregierung die Mittel fürden Lärmschutz erhöht und verschiedene Masterpläneim Hinblick auf Logistik und Güterverkehr erstellen las-sen. Außerdem ging es um die Entwicklung alternativerMöglichkeiten, Güter zu transportieren, und um einenMix verschiedener Verkehrsträger, um auf diesem Wegedie Klimabilanz Deutschlands zu verbessern.Die Forschungsintensität im Bereich alternativer An-triebstechniken macht deutlich, dass die Bundesregie-rung auf diese Indikatoren reagiert hat. Das möchte ichals Beispiel dafür anführen, dass all diese Indikatoren ineinem globalen Kontext zu sehen sind. Insbesondere inAnbetracht der Finanzmarktkrise brauchen wir solcheglobalen Indikatoren, um nachzusteuern.Der Parlamentarische Beirat hat sich Gedanken ge-macht, wie die soziale Teilhabe zu verbessern ist. Eswurden Anhörungen durchgeführt und Konzepte entwi-ckelt. Dabei ging es unter anderem um die Themen De-mografie und Infrastruktur. Unser Hauptaugenmerk lagauf der sozialen Komponente, gerade im ländlichenRaum. Trotz des Bevölkerungsrückgangs und des zumTeil stattfindenden Aussterbens der ländlichen Räumemüssen wir die Probleme unserer Bürgerinnen und Bür-ger im Hinblick auf die sozialen Infrastrukturen, dieTeilhabe und die Mobilität lösen. Unser Ziel darf nichtsein, nur die Situation in den Ballungszentren zu verbes-sern, sondern wir müssen auch die Lage in den ländli-chen Räumen im Blick haben, sowohl im Interesse derdort lebenden älteren Menschen als auch im Interesseder jungen Generation.Meine Damen und Herren, der Parlamentarische Bei-rat ist auch ein Kontrollorgan. Wir haben aktiv daranmitgearbeitet, diesen Fortschrittsbericht zu verbessern.Wir haben der Bundesregierung geholfen, die Indikato-ren anzupassen, sie modern auszugestalten. Denn natür-lich ist dieser Fortschrittsbericht ein dynamischer Pro-zess. Die Indikatoren sollen nicht in Stein gemeißeltsein. Beispielsweise wollen wir bei der Gesundheitspoli-tik einen zusätzlichen Schwerpunkt auf Prävention set-zen. Da müssen wir auch einmal den Mut haben, denFortschrittsbericht zu überarbeiten und die Indikatorenanzupassen.
Metadaten/Kopzeile:
22138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Andreas Scheuer
Ich denke, dass der Parlamentarische Beirat für nach-haltige Entwicklung immer imstande ist, der Bundes-regierung unterstützend zur Seite zu stehen. Ich bedankemich beim Bundeskanzleramt und beim Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung explizit für diegute Kommunikation zwischen den verschiedenen Gre-mien. Ich möchte gern, dass es dabei bleibt, dass an denSitzungen im Parlamentarischen Beirat Beamte aus demBundeskanzleramt zugegen sind; diese Verzahnungsollte weitergeführt werden. In diesem Sinne arbeitenwir konstruktiv weiter. Die Bürgerinnen und Bürger kön-nen sich sicher sein, dass sich alle Politiker, die ganzeMannschaft in diesem Hohen Haus – die Frauschaft na-türlich auch – Gedanken macht, wie es in Zukunft mitDeutschland weitergeht. Dieser Fortschrittsbericht isteine gute Grundlage dafür.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt Lutz Heilmann für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Gäste! „Für ein nachhaltiges Deutschland“, heißtes im Titel des Fortschrittsberichts 2008 zur nationalenNachhaltigkeitsstrategie. Was heißt „ein nachhaltigesDeutschland“? Für die Linke bedeutet ein nachhaltigesDeutschland, dass erstens soziale Gerechtigkeit, zwei-tens der Erhalt der Umwelt und drittens eine wirtschaftli-che Entwicklung verwirklicht wird. Wenn diese dreiPunkte erfüllt sind, bei allen Entscheidungen der Politikbeachtet werden, dann werden die Interessen heutigerund künftiger Generationen gewahrt.Gerade soziale Gerechtigkeit ist ein wichtiger Punkt,für heutige und künftige Generationen. Meine Frage andie Bundesregierung lautet deshalb: Ist Ihre Politik indiesem Sinne nachhaltig? – Ich würde mich freuen,wenn die anwesenden Staatssekretäre das den Ministernund der Kanzlerin mit auf den Weg geben.
Schon der Titel „Für ein nachhaltiges Deutschland“zeigt, dass es um einen Wunsch geht, dass Nachhaltig-keit noch nicht Realität ist. Schon mit der Überschriftdieses Berichts stellt sich die Bundesregierung ein Ar-mutszeugnis aus. Aber schauen wir uns die Politik derBundesregierung einmal konkret an!Hat die Politik der Bundesregierung irgendetwas mitNachhaltigkeit zu tun? Wie steht es mit sozialer Gerech-tigkeit für alle? In Deutschland leben ungefähr 2,5 Mil-lionen Kinder in Armut. 7,5 Millionen Menschen inDeutschland leben von Hartz IV. Millionen müssen, ob-wohl sie vierzig Stunden in der Woche arbeiten, am Mo-natsende zum Amt gehen, damit das Geld zum Lebenreicht. Altersarmut von Rentnerinnen und Rentnern istan der Tagesordnung. Ein besonderer Skandal: Frauenbekommen für die gleiche Arbeit sage und schreibe23 Prozent weniger Lohn, und das 60 Jahre nach Einfüh-rung des Grundgesetzes. Sinkenden Realeinkommen fürArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht ein Ret-tungsschirm für sogenannte notleidende Banken gegen-über, mit dem Sie den Zockern von der Hypo Real Estateund anderen Banken das Leben versüßen.
Soziale Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,werte Bundesregierung, sieht anders aus. Was Sie tun,hat damit nichts, aber auch gar nichts zu tun.Ich komme zum zweiten Punkt, dem Erhalt der Um-welt für alle. Tun Sie genug, um für uns und für unsereKinder eine lebenswerte Umwelt zu erhalten? Die Ant-wort ist klipp und klar Nein.Die Bundesregierung ist 2005 mit dem Ziel gestartet,ein Umweltgesetzbuch zu schaffen. Vor knapp zwei Wo-chen teilte uns Umweltminister Gabriel mit: Puste-kuchen. – Der bayerische Löwe hat hier der Bundes-regierung einen kräftigen Strich durch die Rechnunggemacht. Damit haben Sie die Chance verspielt, ein gu-tes, ambitioniertes Umweltrecht zu schaffen.Die Kfz-Steuerreform. Es ist richtig: So schlimm, wiesie am Anfang angedacht war, wird sie doch nicht, aberwirksame Anreize für den Ausstoß von weniger Schad-stoffen setzen Sie wirklich nicht. Spritfresser werdenweitestgehend verschont. Da wir von Generationenge-rechtigkeit und Schulden sprechen: Durch diese Kfz-Steuerreform lassen Sie sich glattweg 1,8 MilliardenEuro entgehen. Sonst schauen Sie auf jeden Euro, wennes aber um die Schonung der Eigentümer großer Autosgeht, dann sind Sie relativ großzügig.
Ein weiterer Punkt ist die Abwrackprämie. Diese alsUmweltprämie zu bezeichnen, ist schon fast dreist. ZumTeil werden völlig funktionsfähige Pkw in der Presseverschrottet. Dazu besteht noch die Möglichkeit zumstaatlich subventionierten Betrug. Ja, Sie haben richtiggehört: Da alles so schnell wie möglich und unbürokra-tisch ablaufen soll, kann Mann oder Frau mit etwas gu-tem Willen nicht nur 2 500 Euro vom Staat abkassieren,sondern das alte Auto auch noch gut nach Polen oderÜbersee verkaufen.
Ich sage: Gut so. Dann stinkt der deutsche Schrott we-nigstens in der übrigen Welt weiter!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22139
(C)
(D)
Lutz HeilmannZum Thema unbürokratische Handhabung habe icheinmal eine Frage an die Bundesregierung: Wissen Sie,wie viele Formulare jemand ausfüllen muss, umHartz IV zu beantragen und zu bekommen?
Ich empfehle Ihnen, sich einmal zu einer Arbeitsgemein-schaft zu bewegen. Dort können Sie etwas zum Themaunbürokratische Verwaltung lernen.Als Letztes hierzu möchte ich auf das Engagementder Bundesregierung hinsichtlich der CO2-Werte beiPkw verweisen.
Von Klimaschutz ist dort weit und breit nichts zu sehen.Ich komme zum dritten Punkt, nämlich zur wirt-schaftlichen Entwicklung für alle.
Auch hier: Fehlanzeige! Sie legen Konjunkturpro-gramme auf, die den Namen nicht verdienen. Nehmenwir ganz einfach einmal das Konjunkturpaket II: 50 Mil-liarden Euro für zwei Jahre. Demgegenüber stehen480 Milliarden Euro für einen Bankenrettungsschirm.
Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich.Mit der beabsichtigten Schuldenbremse wird noch ei-nes draufgesetzt und der öffentlichen Hand der Gestal-tungsspielraum für soziale und ökologische Aufgabengenommen. Dabei von Generationengerechtigkeit zusprechen, ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Es hilftunseren Kindern und Enkeln nichts, wenn sie sich viel-leicht schuldenfrei wähnen können, aber vor Schulen,Krankenhäusern und Straßen stehen, die sprichwörtlicheinem Trümmerhaufen gleichen.Was ist nach Auffassung der Linken erforderlich? Wirbrauchen erstens eine konsequente Abkehr vom Neo-liberalismus, zweitens eine Abkehr vom Sozialraub,drittens eine Abkehr von der Umweltzerstörung undviertens eine Abkehr von der wirtschaftlichen Deregulie-rung.Zur sozialen Gerechtigkeit. Wir, die Linken, forderneinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,71 Euro.
Wir brauchen die sofortige Anhebung der Regelsätze beiHartz IV auf 435 Euro. Das Bundessozialgericht hat Ih-nen das vor zwei Wochen um die Ohren gehauen: FürKinder brauchen wir bei Hartz IV eigene Regelsätzenach Altersstufen. Wir brauchen die sofortige Anhebungder Renten um 4 Prozent, und es muss endlich Schlussmit der Diskriminierung von Frauen sein. Gleicher Lohnfür gleiche Arbeit! Demgemäß muss sich die Bundes-regierung ihrer Verantwortung stellen und endlich han-deln.Zum Erhalt der Umwelt. Wir brauchen ein Umwelt-recht, mit dem wir den Anforderungen der Zukunft ge-recht werden. Es reicht nicht aus, da stehen zu bleiben,wo wir jetzt sind. Wir brauchen eine Kfz-Steuerreform,die diesen Titel verdient. Die Abwrackprämie gehörtabgeschafft. Wir brauchen mehr Verkehr auf der Schieneund andere umweltverträgliche Verkehrsträger. Wirbrauchen eine Energiewende. Wir brauchen ein Schutz-gebietsnetz anstelle von Schutzgebietsinseln für denStopp des Artensterbens. Wir brauchen hohe Umwelt-standards für alle und nicht nur für eine Handvoll.Wirtschaftliches Wachstum für alle. Ja, das ist richtig,bedeutet aber, dass wir eine Demokratisierung der Wirt-schaft durch mehr Mitbestimmung der Belegschaftenbrauchen.Was wir zuallerletzt brauchen, ist eine Schulden-bremse.
Eine Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. EineSchuldenbremse verschärft die Auswirkungen der jetzi-gen Wirtschaftskrise. Eine Schuldenbremse wird zurweiteren Privatisierung der Daseinsvorsorge führen.Stattdessen fordern wir die Einführung einer Bundes-schuldenverwaltung, die einen Teil der Altschulden vonBund, Ländern und Gemeinden übernimmt, sowie dieUmsetzung der vorhandenen Pläne zur Einführung einerzentralen Bundessteuerverwaltung. Wir brauchen zudemeine zentrale Börsenaufsicht. Wir brauchen vor allenDingen die Reform der Bildungsfinanzierung durch dieEinführung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe und dieAufhebung des Kooperationsverbotes.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusam-men: Die Bundesregierung muss in ihrer Politik radikalumlenken, um ihrer Politik das Attribut „nachhaltig“verleihen zu können. Davon sind Sie leider meilenweitentfernt. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, endlichumzudenken und Ihren Worten Taten folgen zu lassen.Danke schön.
Nun hat der Kollege Winfried Hermann von der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Als wir vor rund zehn Jahren aus dem Parlamentheraus die Nachhaltigkeitsstrategie angestoßen haben,war uns wichtig, dass die drei Dimensionen der Nach-haltigkeit – soziale Gerechtigkeit, ökologische Verträg-lichkeit und Wirtschaftlichkeit – dynamisch und engmiteinander verbunden, aber nicht als drei Säulen neben-einander gestellt werden. Ein dynamisches Denk- und
Metadaten/Kopzeile:
22140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Winfried HermannEntwicklungskonzept war eine wesentliche Vorausset-zung für diesen Ansatz.Herr Kollege Heilmann hat uns gerade deutlich ge-macht, was die Linke unter Nachhaltigkeit versteht,nämlich erstens soziale Gerechtigkeit, zweitens Aufsto-ckung von Hartz IV und drittens Mindestlohn für alle.Das ist eine unverhältnismäßige und einseitige Interpre-tation dieses Begriffs und führt meines Erachtens völligin die Irre.
Damals hatten wir den Anspruch, mit diesem neuenpolitischen Ansatz zu versuchen, eine neue Diskurskul-tur im Parlament zu entwickeln. Das heißt unter ande-rem, dass man die anderen differenziert kritisiert – auchscharf –, aber nicht pauschal alle anderen nur schlechtmacht und platt kritisiert. Das habe ich vorhin jedochverärgert zur Kenntnis genommen. Die Linke hat an die-sem Diskurs nicht differenziert teilgenommen.
Wir haben damals zu Recht versucht, aus einem wol-kigen Begriff einen strategischen politischen Ansatz zumachen, und zwar mit Zielen, mit Konzepten für be-stimmte Bereiche, mit Zeitangaben, Maßnahmen, Me-thoden und Gesetzen, mit denen wir vorankommen kön-nen.Diesen Anspruch haben wir damals erhoben. Nachrund zehn Jahren und mehreren Fortschrittsberichtenkann man sagen, dass es sich gelohnt hat, in diesem Be-reich Politik strategisch zu formulieren und wegzukom-men von der allgemeinen Wolkigkeit, hinter der sichjeder verstecken kann, wobei aber nichts herauskommt.
Daraus ist eine Strategie der Bundesregierung entwi-ckelt worden. Ich finde es wirklich positiv, dass dieseStrategie den Regierungswechsel überlebt hat und dassdie Strategie, mit der man das Land langfristig im Sinneder Nachhaltigkeit voranbringen will, im Kern gleichge-blieben ist. Das ist ein Erfolg all derer, die im Parlamentfür nachhaltige Entwicklung gestritten haben.
Der Fortschrittsbericht ist an den sogenannten Am-pelbericht des Rats für nachhaltige Entwicklung gekop-pelt. Wir messen also, ob wir in Richtung Zielerreichunggekommen sind oder uns gar davon entfernen. DieserBericht zeigt klar auf, in welchen Bereichen wir auf demfalschen Dampfer sind, in welchen Bereichen wir viel zulangsam in Richtung Nachhaltigkeit unterwegs sind undin welchen Bereichen wir wirklich gut sind.Wenn Sie diesen Ampelbericht durchblättern und einbisschen aktualisieren, dann stellen Sie fest, dass es ei-nige Felder gibt, bei denen wir tatsächlich auf dem rich-tigen Weg sind und sagen können, dass wir etwaserreicht haben. Die Förderung erneuerbarer Energienbeispielsweise ist wirklich gelungen. Dabei haben wirdas Ziel sogar übererfüllt.
In anderen Bereichen haben wir die Ziele nur teil-weise erreicht, oder die Kluft ist ziemlich groß.Ein wirkliches Grundproblem nicht nur dieser Regie-rung, sondern auch der Vorgängerregierung ist, dass dieRegierung von der eigenen Administration im Austauschmit dem Parlament zwar eine ambitionierte nationaleNachhaltigkeitsstrategie erarbeiten lässt, dass aber diepraktische Politik manchmal meilenweit davon entferntist. Das ist der einzige Punkt, in dem ich der Kritik derLinken recht gebe.Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die kurzfris-tig verfolgte Politik ins langfristige Konzept passt. Wirsehen an dieser Stelle eine große Lücke. Es ist aber dieAufgabe des Parlaments und des Parlamentarischen Bei-rats, darauf hinzuweisen und immer wieder darauf zupochen. Ich meine, es hat sich gelohnt, dass wir den Par-lamentarischen Beirat eingerichtet haben. Wir Grünensind sehr dafür, dass dieses Gremium verstetigt und auchin der Geschäftsordnung gut verankert wird, damit auchdas nächste Parlament als Anwalt nachhaltiger Entwick-lung dieses Projekt aus der Gesellschaft heraus weiterverfolgt.
Es hat sich übrigens bewährt, dass innerhalb der Re-gierung das Green Cabinet gestärkt wurde, dass es Mit-arbeiternetzwerke zwischen den verschiedenen Ressortsgibt und dass es gelingt, die Ressorts zu vernetzen undeinen ganzheitlichen Politikansatz zustande zu bringen.Aber wir haben, wie gesagt, auch einen großen Nachhol-bedarf. Ich will einige Beispiele aufzählen, von denenich glaube, dass man sie endlich angehen muss.Beim Flächenverbrauch haben wir ein ambitioniertesZiel, mit dem wir seit Jahren nicht vorankommen. DerFlächenverbrauch ist unerhört hoch, obwohl die Bevöl-kerungszahl nicht mehr steigt.
Wir haben kein Konzept gefunden, um den Flächenver-brauch von 120 Hektar pro Tag auf die angestrebten30 Hektar pro Tag zu senken.Der ökologische Landbau war uns immer ein wichti-ges Anliegen. Dabei sind wir weit von dem Ziel entfernt,das wir erreichen wollten. Wir bedauern, dass dabei derEindruck entsteht, dass wir, wenn wir das Ziel nicht er-reichen können, es lieber ganz sein lassen. Wir hieltendas für einen kapitalen Fehler. Wir müssen in der Ziel-setzung nachsteuern, aber auch in der Politik, um Ver-besserungen zu erreichen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22141
(C)
(D)
Winfried HermannDie Verkehrspolitik ist insofern interessant, als alleDimensionen der Nachhaltigkeit – sozial, wirtschaftlichund ökologisch – in diesem Bereich gebündelt auftreten.Man kann feststellen, dass wir in Teilbereichen etwas er-reicht haben. So hat sich zum Beispiel die Energiepro-duktivität – also das Ausnutzen der Energie – im Trans-portsektor deutlich verbessert.In der Summe stellt sich der Energieverbrauch abernicht so gut dar. Wenn man das mit dem wirtschaftlichenWohlstand nach dem Bruttoinlandsprodukt ins Verhält-nis setzt, dann müssen wir feststellen, dass das ange-strebte Ziel mitnichten erreicht wurde – weder im Perso-nenverkehr noch im Güterverkehr –, obwohl wir dasklare Ziel haben, mehr Wohlstand ohne eine ständigeZunahme des Verkehrs zu erreichen.
Warum wurde das Ziel nicht erreicht? Die größtenProbleme bestehen im Güterverkehr. Ich glaube, dasssich die Politik zu sehr darauf verlässt, dass man gegenmanche Trends nichts machen kann, statt ambitioniertgenug das Konzept des Umsteuerns und Verlagerns zuverfolgen. Das angestrebte Ziel, 25 Prozent des Güter-verkehrs auf die Schiene zu verlagern, ist über die Jahrebeibehalten worden. Der Anteil schwankt zwischen16 und 18 Prozent; wir kommen nicht weiter voran. Wirkönnen Fortschritte erzielen, wenn wir konsequent inden kombinierten Schienengüterverkehr investieren.Wenn wir dabei am Ball bleiben und uns stärker anstren-gen als bisher, dann können wir dieses Ziel erreichen.Aber es muss auch der Wille vorhanden sein, zu han-deln.Beim Personenverkehr haben wir zwar die richtigeRichtung eingeschlagen, sind aber weit von dem eigenenAnspruch entfernt. Das hat meines Erachtens damit zutun – damit komme ich noch einmal zu dem Grundge-danken meiner Rede –, dass Politik in Krisensituationendazu neigt, kurzfristige Lösungen anzubieten. Die Auto-mobilindustrie kommt in die Krise, und kurzfristig wirdeine Abwrackprämie für nötig gehalten, und wir müssenschnell etwas tun, um den Verlust von Arbeitsplätzen zuverhindern. Ich glaube, an dieser Stelle wird derzeit eingroßer Fehler gemacht. Wir sollten dafür sorgen, dass erkorrigiert wird. Denn die Krise der Automobilindustrieist nicht durch die Finanzkrise zustande gekommen, son-dern sie hat sich schon lange angebahnt. Gerade das Bei-spiel der amerikanischen Automobilindustrie macht dasdeutlich. Die Politik hat über Jahre hinweg die Automo-bilindustrie nicht gefordert. Sie hat sie ineffiziente Fahr-zeuge produzieren und in die Krise rutschen lassen.
Aus unserer Sicht ist es absolut zwingend, dass manaus der Krise heraus eine Chance entwickelt, indem in-novative Ansätze gefördert und andere Antriebstechno-logien, Kraftstoffe und andere Formen von Energienut-zung und Verkehrssystemen entwickelt werden. Daswäre der richtige, der nachhaltige Ausweg aus der Krise.Darin liegt eine gute Chance. Das ist zwar Bestandteilder Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung undanderer Konzepte, aber die Praxis ist durch kurzfristigesHandeln geprägt. Wir meinen, dass die beschlossenenVorschläge den langfristigen Perspektiven nachhaltigerEntwicklung glatt widersprechen.
Eine gute nachhaltige Politik würde die Krise alsChance begreifen. Eine gute nachhaltige Politik würdein einer Krise die Nachhaltigkeitsstrategie nicht beiseite-legen, gewissermaßen als Buch für schöne Zeiten, in dasman später wieder hineinschaut. Vielmehr müsste manjetzt schauen, welche Ansätze wir in den letzten Jahrenzusammen mit unseren Experten in den Bereichen Ver-kehr, Landwirtschaft, Soziales und Bildung entwickelthaben und welche geeignet sind, uns aus der Krise he-rauszuführen. Eine Krise bietet eine Chance für einenachhaltige Entwicklung. Wir, die wir hier im Parlamentfür eine nachhaltige Entwicklung kämpfen und streiten,sollten nicht aufgeben, sondern unsere Stimme erhebenund für nachhaltige strategische Konzepte plädieren.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Matthias Miersch spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist genau richtig, sich an diesem Tag und zu dieserStunde, an so exponierter Stelle, mit dem Thema nach-haltige Entwicklung zu befassen; denn die Zeit, in derwir leben, schreit förmlich nach einem neuen Denken,nach einem neuen Bewusstsein. Herr Kauch, Sie habendie mangelnde Präsenz der Regierung moniert. Ich binfroh und stolz, dass auf der Regierungsbank mit demParlamentarischen Staatssekretär Michael Müller je-mand sitzt, der schon vor 30 Jahren den Begriff dernachhaltigen Entwicklung als möglichen Schlüssel zurBewältigung vieler Krisen etabliert hat. Man sieht heute,dass er recht hatte, das zu problematisieren.
Die Debatte zeigt sehr deutlich, dass es genau richtigwar, dass die rot-grüne Regierung 2002 dem Begriff dernachhaltigen Entwicklung Substanz verliehen hat, undzwar dadurch, dass man Indikatoren aufgestellt hat, dieüberprüfbar sind, an denen man eine Regierung messenkann, Indikatoren, die es ermöglichen, Fehler einzuge-stehen, und anhand derer man erklären kann, warum et-was nicht funktioniert. Das Problem, dass der Begriff dernachhaltigen Entwicklung häufig missbraucht wird, ha-ben wir auch in dieser Debatte feststellen können. Wasder Kollege Heilmann – leider ist er nicht mehr da – zudiesem Begriff gesagt hat, ist aus meiner Sicht genausofehlerhaft gewesen wie der Gebrauch des Begriffs dernachhaltigen Entwicklung von einigen Managern in denletzten Wochen. Sie machen keinen Unterschied und
Metadaten/Kopzeile:
22142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
Dr. Matthias Mierschmissbrauchen den Begriff der nachhaltigen Entwicklung.Die Menschen sind es leid, wenn Politik etwas sugge-riert, das sie letztlich nicht halten kann. Auch hier Gren-zen aufzuzeigen, heißt für mich, nachhaltig zu handeln.
Die Zeit macht deutlich, dass wir einen neuen Wachs-tumsbegriff brauchen. Bislang haben wir ihn nur imKontext von „immer höher, immer weiter, immer schnel-ler“ verwendet. Wir brauchen aber einen Begriff, derWachstum als „immer besser“ definiert. Wir konnten er-leben, dass die Kurssprünge bestimmter Unternehmennicht dazu führten, dass es den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern der betreffenden Unternehmen besser ging.Wir konnten sehen, dass kurzfristige Kurssprünge nichtdazu führten, dass die Substanz der Unternehmen ver-bessert wurde. Wir konnten erleben, dass es höchst fatalist, wenn sich die Gehälter der Manager an Kurssprün-gen orientieren.
Wir sind aufgerufen, die Konsequenzen aus diesenBeobachtungen zu ziehen und zu fragen, wie wir diesesDenken verändern können. Auch dazu sind wir in einersolchen Stunde aufgerufen, und zwar in allen Ressortsund interdisziplinär, wie es der Begriff der nachhaltigenEntwicklung nahelegt.Wir müssen überlegen, was es heißt, wenn die natürli-chen Ressourcen immer geringer werden und parallel zudieser Entwicklung immer mehr Menschen auf dieseRessourcen zugreifen wollen. Nachhaltige Entwicklungheißt, dort anzusetzen.Ich bin dem Kollegen Hermann dankbar, dass er dasThema der erneuerbaren Energien hier angesprochenhat. Gerade an diesem Thema zeigt sich doch, dass Ener-gie nicht nur ökologische Aspekte beinhaltet, sonderndass Energie in Zukunft ein ursoziales und ein ökonomi-sches Thema sein wird. Es stellt sich die Frage, werkünftig noch mobil sein wird, wer künftig noch ein Autofahren kann, sich einen Kühlschrank leisten bzw. am so-zialen Leben teilhaben kann. Es stellt sich außerdem dieFrage, wie Deutschland in der globalen Welt seinenStammplatz als Exportweltmeister verteidigen kann. DieEntwicklung der erneuerbaren Energien zeigt doch, dasswir mit diesem Thema genau auf das richtige Pferd ge-setzt haben, als wir das Erneuerbare-Energien-Gesetzunter Rot-Grün auf den Weg gebracht haben.
Wir sind dabei, auf Energien zu setzen, die endloseRessourcen haben. Wir sind dabei, auf eine Technologiezu setzen – gemäß dem Motto: Die Sonne schickt keineRechnung –, die es erlaubt, eine immer größer werdendeAnzahl von Menschen mit dem Luxusgut Energie ver-sorgen zu können. Das ist ein Beispiel gelebter nachhal-tiger Politik.Allerdings müssen wir uns die Frage stellen, wie wirmit dem Begriff der Nachhaltigkeit auch im parlamenta-rischen Verfahren und im Kontext mit der Regierungumgehen wollen. Ich bin dankbar, dass wir Vertreter desRats für Nachhaltige Entwicklung unter uns haben, diein den vergangenen drei Jahren bei diesem Thema sehreng mit uns zusammengearbeitet haben. Ich finde esrichtig, dass wir an allen Stellen die Frage aufgeworfenhaben, wie wir es schaffen, bereits während der Geset-zesberatung den Begriff der nachhaltigen Entwicklungzu etablieren. Wenn wir Technikfolgenabschätzung be-treiben, dann muss es auch möglich sein, Ministerien zuzwingen, Farbe in Bezug auf die Frage zu bekennen, wienachhaltig Gesetze sind.
Dass alles unterschiedlich interpretierbar ist, ist unsallen klar. Das hat auch die Diskussion heute gezeigt.Aber wenn wir im Gesetzesberatungsverfahren zu klarenNachhaltigkeitschecks kommen, dann sorgen wir für dienotwendige Transparenz. Dann sieht man, warum einGesetz auf den Weg gebracht wird und welche Schwä-chen und welche Stärken es hat.Damit bin ich bei den großen Themen, die uns sicher-lich auch in diesem Parlament noch in sehr unterschied-licher Weise beschäftigen werden. Es geht um die gro-ßen Zukunftsfragen, die wir hier, aber auch an andererStelle diskutieren. Wie halten wir es mit der Energiever-sorgung? Wir werden die Debatte „Atomkraft – ja odernein?“ erleben. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel, andem man zeigen kann, dass es falsch wäre, in dieseTechnologie zu investieren. Sie ist eben nicht nachhaltig,jedenfalls nicht aus der Sicht der SPD-Fraktion, weil dennachfolgenden Generationen Müll unerträglichen Aus-maßes hinterlassen wird, von dem wir nicht wissen, wel-che Gefahren für nachfolgende Generationen von ihmausgehen.
Das zweite große Thema betrifft die Frage, wie je-mand gestellt werden soll, der Vollzeit in Deutschlandarbeitet. In der Diskussion über den Mindestlohn geht esnicht nur um die Würde von Arbeit. Man muss vielmehrgleichzeitig bedenken, dass ausreichender Lohn auch zu-künftig dazu führen wird, dass Menschen ausreichend indie Sozialversicherungssysteme einzahlen werden. Ge-lebte nachhaltige Politik ist auch, dass man an die Zu-kunft und an spätere Rentenansprüche etc. denkt. Daskönnen aber diejenigen nicht, die nicht einzahlen kön-nen, weil sie zu wenig verdienen.
Der dritte Punkt, der augenblicklich intensiv disku-tiert wird, betrifft die Schuldenbremse. Kollegen von derLinken, ich glaube, es ist wichtig, dass man im Interesseder nachfolgenden Generationen die Schuldenaufnahmeeindämmt. Denn was könnte man alles mit dem Geld,das man für die Zinszahlungen aufwendet, tun, waskönnten wir beispielsweise für die Bildung tun, wennwir diese Lasten nicht tragen müssten?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22143
(C)
(D)
Dr. Matthias MierschInsofern ist es aus meiner Sicht richtig, dies zumin-dest im Blick zu haben. Man sollte aber auch im Blickhaben – das ist an die Adresse der FDP gerichtet –, wiedie Einnahmen des Staates garantiert werden können.Beides ist wichtig, und für beides werden wir uns einset-zen.Ich habe drei Beispiele für nachhaltige Politik ge-nannt. Wir freuen uns auf die Beratung des Fortschritts-berichts in den Ausschüssen. Wir freuen uns, an demThema „nachhaltige Politik“ zusammen mit allen in die-sem Hause arbeiten zu können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege Pa-
trick Döring.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte über die Nachhaltigkeitsstrategie zeigt sehrdeutlich, dass sich jeder gern diejenigen Indikatoren he-raussucht, die ihm gefallen. Besonders bei der Rede desKollegen Heilmann ist aufgefallen, wie weit man sichvom eigentlichen Thema entfernen kann, nur um in sei-ner Redezeit die üblichen Stichworte des Wahlpro-gramms unterzubringen.
Ich will versuchen, mich auf drei Teile dieses Berichtszu konzentrieren.Erstens. Wir stellen fest – auch der Kollege Hermannhat es angedeutet –, dass wir beim Thema „Güterver-kehrsintensität und Verkehrsentwicklung insgesamt“nicht in allen Punkten diejenigen Ziele erreicht haben,die wir angestrebt haben. Wir sollten auch darüber dis-kutieren, dass man das relative Wachstum der Gesamt-menge und die Intensität weiterhin auseinanderhaltenmuss. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, Kol-lege Hermann: Wenn wir unsere Position als Export-nation – unser Außenhandel hat ein Volumen von1 250 Milliarden Euro – nicht verschlechtern wollen, soll-ten wir nachhaltige Politik nicht über eine Beschränkungder Gesamtmenge von Verkehrsbewegungen betreiben.
Das ist einfach die lautere Wahrheit. Wir werden unsereÖkonomie nicht innerhalb von wenigen Jahren zu einerbinnenmarktorientierten Ökonomie umbauen können.Ich glaube auch nicht, dass das vernünftig wäre.Vernünftig ist es, eine Politik zu machen, die dazuführt, dass wir die vorhandenen Verkehrswege und dievorhandenen Kapazitäten besser nutzen. Wir sollten mitden Schienenverkehrsunternehmen am Potsdamer Platzund der DB Netz diskutieren, wie wir das vorhandeneSchienennetz so nutzen können, dass mehr Züge auf die-sen Gleisen fahren können. Anders als beim Lkw-Ver-kehr brauchen Züge relativ große Mindestabstände. Da-her stellt sich die Frage: Wie kann man dieSicherheitsabstände durch intelligente technische Inves-titionen verkürzen, damit es zu mehr Intensität auf demvorhandenen Netz kommt. Dadurch würde auch die Pro-blematik des Bodenverbrauchs weiter in den Blickpunktrücken.
Zweitens. Ich warne davor, die Bundesregierung jetztzu sehr aufzufordern, kleine und kleinste Programmeaufzulegen. Ein Beispiel sind die Aktivitäten im Bereichdes nachhaltigen Bauens. Ich bin sehr dafür, dass wir mitder deutschen Bauwirtschaft, mit dem deutschen Hand-werk auf dem Gebiet „Energieverbrauch, Ökobilanz undLebenszeit eines Gebäudes“ allergrößte Anstrengungenunternehmen. Die Bauforschung in unserem Land ist dawirklich schon weit fortgeschritten. Allerdings sind mitt-lerweile 60 Kategorien mit zahlreichen Unterkategorienfür nachhaltiges Bauen gefunden worden. Das Ganzeging bis hin zu den Fragen, welche Wandfarbe verwen-det wurde, welche Art von Kacheln in den Bädern ver-legt wurde und ob ein oder zwei Waschbecken in demHauptbad untergebracht sind. Das alles wird unter demBegriff „nachhaltiges Bauen“ subsumiert. Dazu kann ichnur sagen: Damit werden wir die Menschen in unseremLand für dieses Thema nicht begeistern können.
Deshalb sollten wir im Parlament diese Verästelungen inEinzelprogramme und die damit verbundenen Verwir-rungen am besten stoppen.Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der mir in ei-nigen Reden aufgefallen ist, zu meiner Überraschungauch in der, die eben mein geschätzter Kollege Mierschgehalten hat. Es geht um das Thema Wirtschaftsordnungund Wirtschaftskrise. Die Mehrheit der Menschen inDeutschland ist nicht in börsennotierten Unternehmenbeschäftigt. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer ist nicht in Unternehmen mit wie auch im-mer bezahlten Vorständen beschäftigt. Die Mittelständ-ler, die Handwerker, die Gewerbetreibenden und dieFreiberufler in unserem Land sind erfreulicherweise vielweniger kurzfristig orientiert, als Sie es gelegentlich inden ökonomistischen Zerrbildern, die Sie in manchen Ih-rer Reden zeichnen, darstellen.
In der deutschen Wirtschaft wird überwiegend nachhal-tig gehandelt. Das sollten wir an dieser Stelle anerken-nen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
22144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Andreas Jung hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst möchte ich mich jenen Vorrednern anschlie-ßen, die in den Mittelpunkt gestellt haben, dass es gut ist,ein Gremium wie den Parlamentarischen Beirat fürnachhaltige Entwicklung zu haben, und die hervorgeho-ben haben, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen,eine Freude ist, in diesem Gremium zu arbeiten, weildort in der Regel das gemeinsame Ringen um die Sacheund nicht die parteipolitische Polemik oder der parteipo-litische Streit im Mittelpunkt steht.
Durch die konstruktive Arbeit haben wir gemeinsamErfolge erzielt, auf die wir ein Stück weit stolz sein kön-nen. Das betrifft inhaltliche Fragen, aber auch eine for-male Frage. Wir haben erreicht, dass die Bundesregie-rung unsere Anregung aufgenommen hat, dieNachhaltigkeitsprüfung in die Gesetzesfolgenabschät-zung einzubeziehen. Das ist ein wichtiger Punkt. So wirdin den ganz normalen Lauf eines jeden Gesetzes der Ta-gespolitik der Gedanke der Nachhaltigkeit hineinge-bracht. Das ist sicher ein Erfolg unserer Arbeit.
Es ist unser gemeinsames Bemühen – das wurde zuRecht schon gesagt –, den Beirat weiter zu stärken, auchformal weiter zu stärken. Wir treten dafür ein, dass in dernächsten Legislaturperiode dieser Beirat – parallel zu an-deren Ausschüssen – mit stärkeren Rechten und stärke-ren Befugnissen ausgestattet wird, weil das die formaleFundierung unseres inhaltlichen Bemühens um mehrNachhaltigkeit wäre.Nun zu den Inhalten, zu dem materiellen Gehalt derNachhaltigkeit. Letztlich geht es uns darum, Nachhaltig-keit in allen Bereichen zu verankern, Deutschland insge-samt nachhaltiger zu machen und dafür zu sorgen, dasswir in Zukunft weniger auf Kosten kommender Genera-tionen leben, dass wir heute nicht auf Kosten von mor-gen leben, so wie das in der Vergangenheit in unter-schiedlichsten Bereichen leider zu oft der Fall war.Die wichtigen Bereiche, um die es hier geht, sind an-gesprochen worden: erstens wirtschaftliche und sozialeNachhaltigkeit – dies ist durch die Wirtschafts- und Fi-nanzkrise noch mehr in den Mittelpunkt gerückt – undzweitens – das zu betonen ist mir wichtig – finanzielleNachhaltigkeit. Dabei geht es um das Bemühen, denkünftigen Generationen nicht immer mehr Schulden zuhinterlassen, von denen sie irgendwann erdrückt werdenwürden. Deshalb ist es jetzt umso richtiger und wichti-ger, gemeinsam für eine wirksame, für eine harte Schul-denbremse einzutreten.
Wir sind in einer Krise. Da ist es richtig, zu investie-ren und mehr Geld auszugeben, als ursprünglich vorge-sehen war. Die andere Seite der Medaille ist: Wenn eswieder besser geht, dann müssen die Schulden, die jetztaufgenommen werden, wieder abgezahlt werden. Dafürbrauchen wir die Schuldenbremse im Grundgesetz.Ich komme zum dritten Bereich, zur ökologischenNachhaltigkeit und zum Umweltschutz, sozusagen zurGeburtsstätte des nachhaltigen Denkens überhaupt. ImHinblick auf das, was kritisch diskutiert wurde und wasanhand der einen oder anderen Entscheidung auch pro-blematisiert wurde, ist mir schon wichtig, zu fragen: Wiesteht es um unseren Fortschritt? Da will ich den BereichKlimaschutz herausgreifen. Ich gebe zu, dass es richtigist, zu fordern, dass die Berichte zur Strategie in kürze-ren Zeitabständen vorgelegt werden. Andererseits findeich es aber auch spannend, über einen Zeitraum von eini-gen Jahren zu betrachten: Wie haben wir uns entwickelt?Wie werden wir unserem Anspruch, Vorreiter im Klima-schutz zu sein, gerecht?Die Zahlen, die im Bericht zur Nachhaltigkeitsstrate-gie enthalten sind, zeigen uns, dass wir in der langfristi-gen Perspektive unserem Anspruch gerecht werden. Dasgilt für die Formulierung der zukünftigen Ziele. Wir ver-treten jetzt nämlich ehrgeizigere Ziele als noch vor weni-gen Jahren. So bekennt sich die Bundesregierung zu demZiel, dass bis zum Jahre 2020 40 Prozent der Treibhaus-gase eingespart werden sollen.Das gilt aber auch für das Erreichen der Ziele, die wiruns in der Vergangenheit gesetzt haben. Wir können demBericht entnehmen – es handelt sich um den Stand von2007; wir sind jetzt sogar einen Schritt weiter und habendie Zahlen von 2008 –, dass wir die Ziele, die wir lautunserer Selbstverpflichtung im Kioto-Abkommen erstim Jahre 2012 hätten erreichen sollen, bereits jetzt er-reicht haben. Wenn wir uns weiter anstrengen – das soll-ten wir machen –, dürften wir diese Ziele sogar überer-füllen.
Was für die Ziele im Allgemeinen gilt, gilt auch füreinzelne Bereiche. Diese sind schon von den KollegenHermann und Miersch angesprochen worden.Im Bereich der erneuerbaren Energien haben wirschon jetzt die Ziele, die wir für uns 2012 gesetzt haben,nicht nur erreicht, sondern übererfüllt. Ich denke, dassollte uns ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Daszeigt uns auch, dass man, wenn man gemeinsam fürNachhaltigkeit streitet, Ziele nicht nur erreichen, son-dern manchmal sogar mehr erreichen kann, als man vor-her glaubte.Auch im Bereich der Energieproduktivität und im Be-reich der Energieeffizienz gilt das Gleiche. Wir alle wis-sen, dass wir hier noch Spielräume haben. Es ist aberdoch eine wichtige Wegmarke, dass, wie wir dem Be-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22145
(C)
(D)
Andreas Jung
richt entnehmen können, die Energieproduktivität inDeutschland seit 1990 um 40 Prozent gestiegen ist. Wirwollen daran weiterarbeiten und wollen gerade auch dieKrise nutzen, auf diesem Weg fortzuschreiten.Ich möchte betonen – das halte ich für ganz wichtig –,dass die Krise in der Wirtschaft nicht dazu führen darf,dass die ökologischen Ziele hintangestellt werden. EineLehre aus dieser Krise ist ja gerade, dass es richtig ist,für nachhaltige Investitionen in allen Bereichen zu sor-gen. Das tun wir etwa mit den zusätzlich bereitgestelltenMilliarden für das Gebäudesanierungsprogramm. Mitdiesem Geld leisten wir einen Beitrag zur nachhaltigenEntwicklung im Umweltschutz sowie zur Nachhaltigkeitbei den Finanzen der öffentlichen und privaten Haus-halte; denn beide werden zukünftig von Verbrauchskos-ten entlastet. Auch im Bereich Arbeit und Soziales trägtdas zur Nachhaltigkeit bei; denn durch diese Maßnah-men werden Aufträge ausgelöst, die ganz konkret Ar-beitsplätze im Handwerk erhalten bzw. schaffen.Damit können wir feststellen, dass wir in diesem Be-reich auf einem guten Weg sind. Sicherlich bleibt auchhier noch einiges zu tun. Es wurde kritisch angemerkt,dass noch nicht ganz konkret und verbindlich festgezurrtwurde, wie es langfristig weitergehen soll. Ich denke, esist unsere gemeinsame Aufgabe, im Parlament und imParlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit daran zu ar-beiten. Dieser Bereich ist aber ein gutes Beispiel dafür– deshalb habe ich ihn herausgegriffen –, um zu zeigen,dass wir auf einem guten Weg sind. All das stellt aucheine Ermunterung für unser Eintreten für mehr Nachhal-tigkeit in Deutschland dar.Herzlichen Dank.
Ulrich Kelber hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Etwas Negatives zu Beginn: Wir müssen, wieich denke, bilanzieren, dass unsere Debatten darüber,wie Nachhaltigkeit und nachhaltige Politik zu bewerk-stelligen sind, noch nicht an die breite Öffentlichkeitdurchgedrungen sind. Würde man fragen, welche The-men die deutsche Innen- und Außenpolitik sowie anderePolitikfelder beherrschen, würde der Begriff der Nach-haltigkeit in einer Aufzählung nicht an vorderer Stellestehen. Würde man in der Öffentlichkeit, in den Medienoder auch in einer Runde von Abgeordneten fragen:„Wie definieren Sie für sich Nachhaltigkeit?“, würdeman vielfach auf Ratlosigkeit treffen.
Parallel zu dieser Debatte erleben wir fast schon eineTrivialisierung des Begriffs Nachhaltigkeit. Er ver-kommt zu einem überhäufig verwendeten Füllwort. Esgibt zwei Ursachen für diesen Zustand, der auch schonvon einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochenwurde.Erstens. Es gibt einen Missbrauch des Begriffs. Denfindet man natürlich vor allem im Bereich von Lobby-verbänden, von Unternehmen und Interessengruppen,die bestimmte Dinge durchsetzen bzw. für ihr Handelnwerben wollen. Diesen Missbrauch, auch „greenwashing“ genannt, kann man relativ leicht auf einenPunkt bringen: Man macht so weiter, wie man bisher ge-arbeitet hat; man bezeichnet das aber ab sofort als nach-haltig. Man verändert also die Begründung für das, wasman tut. Früher, als es noch keinen interessierte, ob et-was nachhaltig ist oder nicht, hat man die Leute, die fürnachhaltige Politik eingetreten sind, veräppelt. Heute, dasich die Mehrheit der Leute dafür interessiert, behauptetman einfach, dass das, was getan wird, nachhaltig ist. –Diesem Missbrauch muss man natürlich entgegentreten.Es wäre gut, wenn wir das als Politiker relativ geschlos-sen täten.
Zweitens. Darüber hinaus beinhaltet dieser Begriffeine gewisse Sperrigkeit. Wir müssen einen neuen Be-griff mit Leben füllen und klarstellen, wie wir ihn ver-wenden wollen. Ein wichtiger Schritt, um das zu errei-chen, wäre, die Vorteile nachhaltiger Politik deutlicherzu machen: der Erhalt von Chancen; der Wunsch, in ei-nigen Jahren den kommenden Generationen die gleichenChancen, die gleichen Handlungsspielräume und diegleiche Qualität von öffentlichen Gütern einzuräumen.Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit zur Koopera-tion. Wir merken das zum Beispiel in Klimaschutzver-handlungen. Wir können andere Länder nur dann über-zeugen, mitzuziehen, wenn diese das Gefühl haben: Diewestliche Welt und die industrialisierten Staaten sind be-reit, eine nachhaltige Politik zu machen, mit der uns diegleichen Chancen, die gleichen Partizipationsmöglich-keiten und die gleichen Anteile am weltweiten Wohl-stand eingeräumt werden.Nachhaltigkeit gibt die Chance für dauerhafte Lösun-gen. Es geht nicht nur um Lösungen, mit denen ich fürdrei, vier oder fünf Jahre ein Problem behoben habe.Vielmehr muss der Ansatz sein, dass das Problem dauer-haft gelöst wird. Das muss man den Menschen deutlichmachen. Dafür gibt es eine gute Methode: Wir solltennicht nur darüber sprechen, was wir an Instrumenten ein-setzen wollen, sondern wir müssen die Menschen über-zeugen, welchen Vorteil eine Welt beispielsweise imJahr 2020 hätte, wenn wir die Ziele mit Blick auf die In-dikatoren erreicht hätten. Das muss einmal dargestelltwerden, auch in der Öffentlichkeitsarbeit.Stellen Sie sich einmal vor, wie die Tagesthemen imJahr 2020 in einer Gesellschaft aussehen, die die Zieleerreicht hat, die wir im Fortschrittsbericht für eine nach-haltige Politik beschreiben. Das wäre eine andere, einebessere Gesellschaft mit mehr Lebensqualität als dieheutige. Für solche Ziele kann man vor allem bei jungen
Metadaten/Kopzeile:
22146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Ulrich KelberMenschen werben. Wir müssen die Zielvorstellungenund nicht die Instrumentendebatte nach vorne stellen.Dabei bietet die Breite der Nachhaltigkeitspolitik einegroße Chance. Als jemand, der in der Umweltpolitik zuHause ist, nenne ich diesen Punkt bewusst an ersterStelle. Ich mache das auch deswegen, weil man dann,wenn man von den drei Säulen der Nachhaltigkeitspricht, eines nicht vergessen darf: Die verletzlichstedieser Säulen ist die uns umgebende Umwelt, die Ökolo-gie. Sie kann am leichtesten unwiederbringlich verlorengehen. Daher darf sie bei der Verfolgung unserer Zielenicht relativiert werden, sondern sie muss immer mitge-dacht werden. Sie bildet klare Grenzen für all das, wasman in der Politik machen kann.Wir debattieren natürlich auch über die Bildungsziele.Ein Land wie Deutschland muss sich fragen: Sind wirrichtig aufgestellt, um die Empfehlungen der internatio-nalen Organisationen wie der OECD umzusetzen, näm-lich die Anzahl der Menschen mit einem Hochschulab-schluss, den sie zum Beispiel für die Jobs der Zukunftbenötigen, zu erhöhen? Ist unser System, mit dem wirBildung vermitteln, und sind die Investitionen in die ver-schiedenen Stufen der Bildung richtig ausgerichtet, umdieses Ziel zu erreichen?Wir sehen, dass führende Länder wie Finnland beiBildungsvergleichen besser abschneiden, weil dort90 Prozent eines Jahrgangs einen Schulabschluss ma-chen, der den Zugang zur Hochschule erlaubt. Um es aufunsere Verhältnisse zu übertragen: 90 Prozent einesJahrgangs machen dort Abitur. Wenn in Debatten Bil-dungspolitiker erklären, es könne nicht das Ziel sein,dass die Mehrheit eines Jahrgangs Abitur macht, dannmuss man sagen: Diese Politiker sind in ihrem Lösungs-ansatz nicht nachhaltig. Sie müssen entweder dazulernenoder abgelöst werden.
Angesichts der Tatsache, dass in der BundesrepublikDeutschland die Hälfte aller Kinder in den Ballungsge-bieten aus Familien mit Migrationshintergrund kommt,muss die sprachliche Integration weit über das Maß derVerbesserung in den letzten Jahren – die Situation hatsich hinsichtlich der Bemühungen um Integration schonverbessert – fortgesetzt werden. Das sind so einfach ab-lesbare Größenordnungen, dass die Debatten der Vergan-genheit über die Instrumente leicht überwunden werdenkönnen.Wie auch andere Staaten in Europa – wir haben dieseDebatte etwas früher begonnen – stellt uns natürlich diedemografische Veränderung, also die Tatsache, dass dasDurchschnittsalter der Menschen steigt und es immermehr ältere Menschen gibt, vor entsprechende Heraus-forderungen. Wir müssen uns fragen: Wie muss eine In-frastruktur ausgerichtet werden, die eventuell später vonweniger Menschen genutzt wird? Wie werden dieSozialsysteme gestützt?Wenn wir wissen, dass in Zukunft mehr Menschendurch ihr Alter auf Solidarität in den Sozialsystem ange-wiesen sind, dann stellt sich die Frage, ob wir es uns er-lauben können, die Sozialsysteme aufzuteilen in einenTeil von Niedrig- und Mittelverdienern, die in das Soli-darsystem einzahlen müssen, und in einen Teil von Bes-serverdienenden, denen es freigestellt wird, ob sie in dasSolidarsystem einsteigen oder nur unter sich für Solida-rität sorgen. Diese Frage muss man erneut stellen, weilman ansonsten viele Menschen ihrer Zukunftschancenberaubt.Deswegen müssen wir uns wirklich überlegen: Wel-che Methoden haben wir eigentlich, nachhaltig zu arbei-ten? Im Rahmen einer Nachhaltigkeitsprüfung jedes Ge-setzes wäre es nötig, eine Debatte über die Frage zuführen: Machen wir ein Gesetz, mit dem wir notdürftigetwas flicken? Machen wir ein Gesetz, mit dem wir ei-nen ersten Baustein für eine Lösung schaffen, was jaauch in Ordnung ist? Oder machen wir ein Gesetz, mitdem wir nachhaltig etwas verändern? Letzteres führtmöglicherweise dazu, dass die heutige Generation mehrtragen muss, zumindest so viel, wie sie selber davon pro-fitiert; aber das wäre im Sinne der nächsten Generation,und die Probleme wären in zehn Jahren umso geringer.Diese Debatte sollten wir jedes Mal auf der Grundlagevon Expertisen ausführlich führen; das ist die Anstren-gung wert.Wenn wir diese Debatte im Zusammenhang mit einerNachhaltigkeitsprüfung für jedes neue Gesetz führen, soll-ten wir eines noch ergänzen – das wäre meine Bitte –: Wirsollten auch darüber nachdenken, ob wir nicht für dieGesetze, die keine nachhaltigen Subventionen betreffen,die Selbstverpflichtung einführen, sämtliche Subventio-nen – wir haben ja den Subventionsbericht – noch ein-mal auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen, und wirsollten überlegen, ob wir nicht zumindest die Subven-tionen, die nicht nachhaltig wirken, in der Gesamt-summe – nicht jede einzelne; sonst kommt immer eineneue dazu – um 10 Prozent jedes Jahr reduzieren. Auchdas wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigenPolitik.Vielen Dank.
Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Ich möchte, auch meiner Rolle alsVorsitzender des Parlamentarischen Beirats gemäß, dieletzte Rede in dieser Debatte zunächst dazu nutzen, michzu bedanken: bei allen Kolleginnen und Kollegen imBeirat für die Arbeit, die wir im Zusammenhang mit derErarbeitung unserer Stellungnahme zu diesem Fort-schrittsbericht, die kurz vor der Vollendung steht, bereitsgeleistet haben, sowie bei der Bundesregierung für dieErstellung des Berichts. Ich darf auch meiner FreudeAusdruck verleihen, dass nicht nur der Staatsminister
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22147
(C)
(D)
Dr. Günter Kringsaus dem Kanzleramt, Bernd Neumann, in dieser Debatteanwesend ist, sondern – jedenfalls auf dem Höhepunktder Debatte und ich nehme es nicht persönlich, dass derHöhepunkt in der Wahrnehmung einiger schon vorbei zusein scheint – auch über ein halbes Dutzend Ministerienvertreten waren. Daran zeigt sich, dass die Bundesregie-rung begriffen hat, dass es sich um eine Querschnittsauf-gabe handelt. Allerdings muss die Ausdauer mancherRessorts noch gesteigert werden.
Aber der Grad der Anwesenheit war auf jeden Fall eingutes Zeichen.Der Bericht selber weist Licht und Schatten auf. Daswird mit den schönen Symbolen für Sonne über Wolkenbis hin zu Gewitter dargestellt. Zwölfmal scheint dieSonne über Indikatoren; deutlich weniger – nur sieben-mal – sind Gewitterwolken zu sehen. Das zeigt, dass wirin vielen Punkten – wenn auch nicht in allen – auf einemguten Wege sind. Stichworte wurden genannt: Reduzie-rung der Treibhausgase, die Übererfüllung der Ziele beiden erneuerbaren Energien, eine stärkere Berücksichti-gung älterer Erwerbstätiger im Erwerbsleben, Ausbauder Ganztagsbetreuung – insbesondere aufgrund der letz-ten Initiativen aus dem von-der-Leyen-Ministerium – fürdie Drei- bis Fünfjährigen. Insofern sind zu Recht einigeSonnen zu sehen.Aber das Wetter kann sich manchmal schnell ändern.Das sehen wir etwa beim Indikator Staatsverschuldung.Vor der Finanzmarktkrise sah das noch alles sehr gutaus. Es war wichtig, dass wir die Anstrengungen zurKonsolidierung unternommen haben; denn sonst hättenwir es noch schwerer, in dieser Krise zu reagieren.Dass Nachhaltigkeit ein Thema ist, das – Herr Kol-lege Kelber, da stimme ich Ihnen zu – von den Medienund in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend wahr-genommen worden ist, ist sicherlich richtig. Aber dasliegt auch daran, dass unsere mediale Öffentlichkeit inerster Linie Probleme wahrnimmt und beschreibt. Sosind die Nachrichten im Fernsehen und in den Zeitungenaufgebaut. Nachhaltigkeit ist aber keine Problembe-schreibung, sondern ein Lösungsansatz. Deshalb ist esgerade jetzt, in der Zeit der Finanzmarktkrise, wichtig,dass wir dieses Thema gemeinsam nach vorne bringen.In Teilen der Wirtschaft – nicht in allen Bereichen derWirtschaft –, die übrigens auch von Ihrer Partei, HerrKollege Döring, als besonders modern, wegweisend unddynamisch dargestellt worden sind, war und ist vielleichtnoch heute oft zu kurzfristiges, zu kurzatmiges Denkenund Handeln an der Tagesordnung. Es wurde mehr aufQuartalsberichte und weniger auf langfristige Erfolge,mehr auf Tageskurse als auf bleibende Werte geachtet.
– Da gab es zugegebenermaßen falsche Wegweisungen,teilweise auch durch den Gesetzgeber.Es gibt einen zweiten aktuellen Anlass, warum diesheute eine besonders wichtige Debatte ist. Ich habe in ei-ner guten Stunde das Vergnügen, den Beratungen in derEndphase der Föderalismuskommission II beizuwohnen.Hier versuchen wir, mit den Folgen eines nicht nachhal-tigen politischen Denkens, mit dem Marsch in denSchuldenstaat seit über vier Jahrzehnten aufzuräumen.Die Instrumente wurden genannt: Schuldenbremse, Sta-bilitätsrat. Es soll ferner ein Frühwarnsystem gegen neueSchulden eingeführt werden. Es ist allerdings ein biss-chen gewöhnungsbedürftig, wenn man nach vier Jahr-zehnten des Schuldenmachens jetzt von einem Früh-warnsystem spricht. In der Sache kommen wir dadurchaber weiter. Die Nachhaltigkeitsstrategie und der Grund-satz der Nachhaltigkeit müssen stärker in der Tagespoli-tik ankommen. Daran werden wir gemeinsam arbeiten.
Um das zu erreichen, ist das Management von Nach-haltigkeit ein ganz entscheidender Punkt. Wir begrüßenes daher sehr, dass die Bundesregierung sich bereit er-klärt hat, diesen Punkt in die Gemeinsame Geschäftsord-nung der Bundesministerien – das klingt sehr langweilig,ist aber ganz wichtig – aufzunehmen und zu sagen: Teilder Gesetzesfolgenabschätzung, die sich in der Praxisleider seit Jahren in einem Dornröschenschlaf befindet,soll jetzt die Nachhaltigkeitsprüfung werden. – Dies istdie große Chance, die Gesetzesfolgenabschätzung end-lich zu reaktivieren. Ich war vor einigen Monaten sehrerfreut, als wir sehr kurzfristig und sehr rasch von Bun-desinnenminister Schäuble in dieser Frage grünes Lichtbekommen haben und er sich sehr klar hinter diese For-derungen des Nachhaltigkeitsbeirates gestellt hat.Wir brauchen also ein stärkeres Langfristdenken – dasbedeutet auch mehr Generationengerechtigkeit – in derPolitik. Es ist gut, dass die Regierung jetzt ihren Teildazu beitragen will. Es ist genauso wichtig, dass das Par-lament in dieser Frage aktiv und führend bleibt. Dies isteine Querschnittsaufgabe. Deswegen ist es unverzicht-bar, dass wir vom Nachhaltigkeitsbeirat diese Frage wei-ter behandeln und daran mitwirken, bei der Fortschrei-bung der Nachhaltigkeitsstrategie die richtigen Weichenzu stellen, aber auch die Regierung da kontrollieren, wosie ihre Ziele nicht erreicht hat, oder ihr Hilfestellung ge-ben, sie besser zu erreichen. Aus diesem Grunde wird si-cherlich, ohne große hellseherische Fähigkeiten zu ha-ben, am Ende der Wahlperiode ein Vorschlag unseresGremiums sein, diesen Beirat dauerhaft zu verankernund für uns eine aktive Rolle vor allem bei der Durch-führung von Nachhaltigkeitsprüfungen vorzusehen. Wirwollen einfordern, dass Gesetze im Hinblick auf ihreNachhaltigkeit geprüft werden.In der Regierung macht das federführend das Kanz-leramt. Das ist eine gute Sache. Wir würden uns wün-schen – mehr können wir nicht tun –, dass dies im Kanz-leramt weiter aufgewertet wird, zum Beispiel in Formeines eigenen Referates. Es sollte darüber hinaus in je-dem Ministerium ein eigenes Referat für diese Aufgabegeben. Das wäre sicher ein richtiges Signal.
Metadaten/Kopzeile:
22148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
– Es kann auch über ein Referat hinausgehen. Wir fan-gen mal klein an, Herr Kollege Kelber.Das Herzstück der Nachhaltigkeitsstrategie sind dieIndikatoren. Das ist ein fast revolutionärer Politikansatz,der in anderen Bereichen Schule machen sollte. Wir ge-hen nicht von Instrumenten aus und sagen nicht, wie vielGeld wir für ein bestimmtes Thema ausgeben wollen,sondern sagen, was wir erreichen wollen. Wir haben inder Nachhaltigkeitsstrategie definierte, klare Ziele ver-bunden mit messbaren Zahlen. Jeder, der sich in Wirt-schaftsfragen etwas auskennt, weiß: Nur das, was ichmessen kann, kann ich letztlich auch managen. Es ist ei-gentlich ein bisschen traurig, dass man in der Politik die-sem Grundsatz außerhalb des Bereichs der Nachhaltig-keitsstrategie noch zu wenig Beachtung schenkt.Wenn Indikatoren aber so wichtig sind, dann ist es na-türlich logisch, dass Kontinuität gewahrt bleiben muss.Wir können nicht in dem einen Jahr Äpfel und im ande-ren Jahr Birnen zählen; es muss bei den IndikatorenKontinuität geben. Trotz allem sind behutsame Anpas-sungen und Lehren aus der Entwicklung richtig und not-wendig. Als Mitglied des Rechtsausschusses in diesemHause möchte ich einen Punkt herausgreifen: Der Indi-kator „Zahl der Wohnungseinbrüche“ hat eine gegen nulltendierende Aussagekraft für das Thema Nachhaltigkeit.
Wir sollten den Mut haben, solche Indikatoren auch zustreichen. Wenn alles nachhaltig ist, ist eben leider baldnichts mehr nachhaltig. Der Begriff benötigt Konturen.Dabei sollte man sich auf die wesentlichen Punkte kon-zentrieren.Ein wesentlicher Punkt etwa ist all das, was mit demdemografischen Wandel zu tun hat. Ich finde es gut, dassein Indikator der Ausbau der Ganztagsbetreuung ist. Wa-rum gibt es keinen Indikator zur Entwicklung der Gebur-tenrate insgesamt? Das wäre sicherlich ein sinnvollerPunkt für künftige Fortschreibungen.Mein letzter Punkt – ich komme zum Schluss –: Ichglaube, dass wir in diesem Land gemeinsam dafür sor-gen müssen – dieses Ziel ist noch nicht erreicht –, dassNachhaltigkeit zu einem echten Leitprinzip der Politikwird, dass sich auch die Tagespolitik aus der Nachhaltig-keitsstrategie heraus entwickelt. Die Beiratsmitgliedersind der Überzeugung – ich hoffe, das gilt auch über un-seren Beirat hinaus –, dass der Nachhaltigkeitsgrundsatzinsbesondere in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeitensowohl eine Stabilitätsgarantie als auch ein Innovations-motor für unser Land sein kann. In diesem Sinne erhoffeich mir für den nächsten Fortschrittsbericht: noch mehrSonne und noch weniger Wolken.Herzlichen Dank.
Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10700 an die Ausschüsse vorgeschla-
gen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Fortentwicklung des Pfandbriefrechts
– Drucksachen 16/11130, 16/11195 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksachen 16/11886, 16/11929 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Ingrid Arndt-Brauer
Carl-Ludwig Thiele
Es ist vorgesehen, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Als Erster hat das Wort der Kollege Bernd Scheelen
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Sind Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbankeneigentlich langweilige Institute?
Sind Bausparverträge langweilige Verträge?
Sind Pfandbriefe eigentlich langweilige Wertpapiere?
Es mag sein, dass manch einer in dieser Republik dasglaubt oder in der Vergangenheit geglaubt hat und dieseFragen alle mit Ja beantwortet hätte;
möglicherweise, weil wir Menschen dazu neigen, alldas, was wir lange kennen, was sich bewährt hat und unsvertraut ist, als nicht besonders aufregend zu empfinden,sondern als langweilig, jedenfalls nicht als in irgendeinerWeise sexy. Die Menschen wissen aber auch, dass einvielleicht nicht besonders aufregendes Image für Zuver-lässigkeit, für Vertrauen und für Sicherheit steht.Hätten wir in der derzeitigen Krise die Stabilitäts-anker Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken nicht,hätten wir diese Institutionen nicht jahrelang gegen An-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22149
(C)
(D)
Bernd Scheelengriffe von allen möglichen Seiten verteidigt, hätten wirsie nicht gestärkt, dann sähe es, so glaube ich, auf demFinanzsektor in Deutschland schlimmer aus, als es jetztder Fall ist.
Es zeigt sich, dass es richtig war, das Dreisäulenmodellzu verteidigen und zu erhalten.Die Älteren unter Ihnen, zu denen auch ich michzähle, werden sich vielleicht noch daran erinnern, dassdie Pfandbriefbanken in den 70er-Jahren im Fernsehen– Sie erinnern sich: mit der Schwurhand – für Pfand-briefe und Kommunalobligationen mit dem Spruch „si-cher ist sicher“ geworben haben. Die Bausparkassenhaben in jüngster Zeit mit ihrem vermeintlichen Spießer-image geworben. Sie erinnern sich an den Spot – IngoNaujoks gab den Hippie –, in dem der Vater gegenüberseiner Tochter diejenigen, die in eigenen Immobilienwohnen, als Spießer bezeichnet. Die Tochter hat danngesagt: Du Papa, wenn ich groß bin, möchte ich auchmal Spießer werden!
– Ich sage ja: Die Bausparkassen und die Pfandbriefban-ken haben so geworben.Als meine drei Kinder 18 Jahre alt wurden, bekamensie die Gelegenheit, über sieben Jahre einen festen, klei-nen Betrag monatlich anzulegen. Zwei von den dreienhaben sich für einen Bausparvertrag entschieden.
Ein Kind hat sich damals für den sogenannten NeuenMarkt entschieden. Nach den sieben Jahren waren alledrei reicher: zwei an Geld, einer an Erfahrung.Anleger müssen Entscheidungen treffen. Sie müssensich fragen: Was will ich? Will ich Sicherheit oder einehohe Rendite? Da stellt man fest, dass es sich dabei wiebei kommunizierenden Röhren verhält: Wenn ich ein hö-heres Risiko habe, dann habe ich auch die Chance, mehrRendite zu erwirtschaften. Aber es kann eben auch sein,dass die Rendite am Ende, weil das Risiko zu groß ist,negativ ist.Viele Anleger haben sich in der Vergangenheit für Si-cherheit und Qualität entschieden. Sie haben sich für dendeutschen Pfandbrief entschieden. Hauptsächlich han-delt es sich dabei um institutionelle Anleger wie Banken,Fonds und Versicherungen. Das wissen die meistennicht. Allen, denen ich gesagt habe, dass ich zum ThemaPfandbrief rede, meinten: spannendes Thema. – Auch siehielten das für langweilig. Aber wenn ich dann erkläre,dass sich das Umlaufvolumen deutscher Pfandbriefe auf900 Milliarden Euro beläuft und wir sie zur Staatsfinan-zierung aller Ebenen brauchen, dann schlucken sie, weilsie das nicht wussten. Wenn man dann noch nachschiebt,dass sich das Gesamtvolumen solcher gedeckter Schuld-verschreibungen auf der Welt auf rund 2,1 BillionenEuro beläuft, dann stellt man fest, dass der deutschePfandbrief eine starke Stellung hat.
– Er ist der sicherste von allen. – Deswegen hat er soeine starke Stellung. Er deckt 42 Prozent des Weltmark-tes ab. Das unterstreicht auf der einen Seite seine Bedeu-tung und seine Qualität. Auf der anderen Seite unter-streicht es aber auch die Notwendigkeit – deswegensitzen wir heute zusammen –, das Pfandbriefrecht wei-terzuentwickeln.
Diejenigen, die zu diesem Gesetzentwurf die Bericht-erstatter für ihre Fraktionen sind, sind zum großen Teilauch im Februar 2005 dabei gewesen, als wir das Gesetzzur Neuordnung des Pfandbriefrechts aus Anlass desWegfalls der Gewährträgerhaftung verabschiedet haben.Wir haben damals einstimmig ein gutes Gesetz gemacht.Aber Märkte und Notwendigkeiten entwickeln sich wei-ter.
Man muss auch als Gesetzgeber darauf achten, dass manbei solchen Gesetzesvorhaben auf der Höhe der Zeitbleibt. Wir müssen also den Pfandbrief weiterentwi-ckeln.Die ersten Überlegungen zur Weiterentwicklung desPfandbriefes sind schon etwas älter als die akute Krise.Ein Teilnehmer der Anhörung hat das so formuliert: Dieersten Überlegungen fanden zu Schönwetterzeiten statt. –Jetzt haben wir Hagel und Sturm. Es war klar, dass sichder Regierungsentwurf dieser Situation anpassen mussteund wir darauf reagieren mussten. Deshalb hat sich dasGesetz, das jetzt verabschiedet wird, gegenüber dem Ka-binettsentwurf deutlich verändert.Der Schwerpunkt des Kabinettsentwurfs lag auf derAusdehnung des Geschäftsfeldes für Pfandbriefe, zumBeispiel durch die Einführung des Flugzeugpfandbrie-fes, die wir 2005 bewusst noch nicht in die Wege geleitethaben. Sie ist aber jetzt vorgesehen. Wir bilden ihn demseit über 75 Jahren bewährten Schiffspfandbrief nach. Erstellt eine Bezugsgröße dar, von der wir wissen, dass siesehr verlässlich ist.Nun haben wir den Fokus auf weitere Qualitätsverbes-serungen des Pfandbriefes gelenkt. Qualitätsverbesse-rung heißt im Wesentlichen Verbesserung von Transpa-renz für den Anleger. Insofern war die Anhörung sehrwichtig. Wir haben Anregungen des Zentralen Kreditaus-schusses und auch der Bundesanstalt für Finanzdienst-leistungsaufsicht aufgegriffen, zum Beispiel indem wirerstens den Zeithorizont für die Darstellung des kurzzei-tigen Liquiditätsbedarfs im Falle einer möglichen Insol-venz von 90 auf 180 Tage verdoppelt haben. Das heißt,ein im Falle einer solchen Insolvenz einzusetzenderSachwalter – einen solchen Fall hat es noch nie gegeben,
Metadaten/Kopzeile:
22150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Bernd Scheelenund es wird ihn sehr wahrscheinlich auch nicht geben –hat ein halbes Jahr Zeit, seine Tätigkeit vorzubereiten.Zweitens haben wir Veränderungen bei den soge-nannten Laufzeitenbändern vorgenommen. Sie werdenenger gefasst. Bei der Darstellung der Laufzeitenstrukturund der Zinsbindungsfristen für die Deckungswerte, dieveröffentlicht werden, gibt es in Zukunft nicht mehr vierStufen wie bisher. Das schien einigen Anlegern zu wenigzu sein. Wir haben das nachvollziehen können. Es wirddemnächst sieben Stufen geben. Das wird zu deutlichmehr Transparenz, insbesondere bei den kurz- und mit-telfristigen Fälligkeiten, führen. Das ist im Interesse derAnleger, schafft mehr Durchsichtigkeit und damit auchmehr Vertrauen. Wir brauchen Vertrauen auf den Finanz-märkten. Der Markt der Pfandbriefe ist ein besonderswichtiger Bereich des Finanzmarktes.
Drittens erleichtern wir mit dem vorgelegten Gesetz-entwurf die Konsortialfinanzierung. Das heißt, wir er-möglichen es auch kleineren Banken, sich durch Zusam-menschlüsse auf dem Pfandbriefmarkt zu betätigen. Daswiederum stärkt die Sicherheit; denn eine Konsortialfi-nanzierung ist ein Beitrag zur Risikostreuung. Das bringtauch dem Anleger Vorteile, weil die Risiken breiter ge-streut werden.Der Pfandbrief – das wissen alle, die hier sind undsich mit dem Thema beschäftigen – hat in den letztenvier Monaten nach dem Zusammenbruch von LehmanBrothers gelitten – wie wir wissen, zu Unrecht, weil ermit den inkriminierten Papieren, den Subprime-Papierenoder vergifteten Papieren – oder welchen Namen mansich mittlerweile noch hat einfallen lassen –, überhauptnichts zu tun hat. Pfandbriefe sind absolut sichere Pro-dukte, weil hinter ihnen reale Werte stecken, die sehr,sehr konservativ geschätzt sind. Der Pfandbrief ist sozu-sagen in Sippenhaft genommen worden, obwohl er jakein Subprime-Papier, sondern ein Premiumpapier ist.Für Pfandbriefe brauchen wir keine Bad Bank; Pfand-briefe sind sozusagen eine Best Bank.
– Ich finde, das kann man beklatschen.In ihrer über 200-jährigen Geschichte hat es keineneinzigen Ausfall bei Pfandbriefen gegeben. Es wird auchin dieser Finanzkrise zu keinem Ausfall kommen, weilreale Werte dahinterstecken.Allerdings müssen wir feststellen, dass die Sensibili-tät der Anleger gestiegen ist. Dem haben wir mit demvorliegenden Gesetzentwurf Rechnung getragen. Eshandelt sich dabei um ein Artikelgesetz, durch das wireben nicht nur das Pfandbriefrecht weiterentwickeln,sondern auch Änderungen im Kreditwesengesetz verein-baren. Zum Beispiel war ursprünglich vorgesehen, esden Finanzholding-Gesellschaften zu ermöglichen, aufeigenen Wunsch unter die Aufsicht der Bundesanstaltfür Finanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, zu kom-men. In der Anhörung wurde deutlich, dass es Sinn hat,der BaFin die Möglichkeit zu geben, selber den Antragzu stellen, einen Finanzdienstleister unter Aufsicht zustellen. Das war ein Punkt, den der Kollege Carl-LudwigThiele besonders unterstrichen hat.
– Ja, ich bestreite das ja gar nicht. Zum Lob komme ichgleich noch; das mache ich am Schluss. Dann werdet ihralle pauschal gelobt; das ist keine Frage.Wir sind diesem Wunsch gefolgt. Es ist jetzt Bestand-teil des vorgelegten Gesetzentwurfes.Bezüglich der Erlaubnispflicht im Bereich der Anla-gen gab es den Wunsch des Kollegen Dr. Schick, sich indiesem Zusammenhang mit dem grauen Kapitalmarkt zubeschäftigen. Dieses Anliegen hat er schon länger vorge-tragen. Dem sind wir gefolgt. Wir werden – so ist es,glaube ich, gestern vereinbart worden – eine Anhörungdazu durchführen. Das BMF wird für einen Bericht sor-gen.Weil der Kollege Dr. Axel Troost – er ist gerade nichtanwesend – sich sehr konstruktiv an den Beratungen be-teiligt hat, möchte ich auch ihn hier namentlich erwäh-nen, genauso wie den Kollegen Leo Dautzenberg.
– Ja, aber an den Beratungen, die wir als Berichterstatterdurchgeführt haben, war im Wesentlichen Kollege Tro-ost beteiligt.Ich nenne alle fünf namentlich, weil wir heute einenseltenen Fall erleben werden: Wir werden diesen Ent-wurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Pfandbrief-rechts einstimmig in diesem Hohen Haus beschließen.Das kommt nicht allzu oft vor.
Das ist allerdings eine Tradition. Auch 2005 haben wirdas Gesetz einstimmig beschlossen. Es ist ja so: Wennman zweimal dasselbe macht, ist es Tradition; wenn wires das nächste Mal machen, ist es schon Brauchtum. Ichglaube, es ist wichtig, dass wir dieses Gesetz einstimmigbeschließen, weil das ein Signal nach draußen ist,
dass der Deutsche Bundestag die Qualität des Pfandbrie-fes unterstreicht und dass er sagt: Habt Vertrauen in die-ses Instrument. Es ist ein Instrument, das das absoluteVertrauen der Anleger verdient.Herzlichen Dank an alle Beteiligten in den Fraktio-nen!Mein Dank gilt auch dem Ministerium, das unsereBeratungen sehr konstruktiv begleitet hat. Ich glaube,das heutige einstimmige Votum zeigt einmal mehr, dassdie Demokratie auch in Zeiten der Krise handlungsfähig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22151
(C)
(D)
Bernd Scheelenist. Heute machen wir, wenn auch im Kleinen, ein Stückweit die gleiche Erfahrung, die wir im Zusammenhangmit dem Rettungsschirm für die Banken gemacht haben:In diesem Fall hat die Demokratie ebenfalls gezeigt, dasssie auch in schwierigen Zeiten in der Lage ist, zusam-menzustehen. Das stärkt nicht nur das Vertrauen in dendeutschen Pfandbrief, sondern auch das Vertrauen in diedeutsche Politik. – Wie ich sehe, habe ich es tatsächlichin exakt 14 Minuten geschafft.Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schee-len, ich kann Ihrem Lob für den deutschen Pfandbriefzustimmen. Die FDP beurteilt das genauso. Es ist gut,dass wir heute eine Fortentwicklung des im Jahre 2005in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuordnung des Pfand-briefrechts beschließen. Damals ging es darum, öffentli-che und private Pfandbriefe zusammenzuführen. Mitdem heutigen Gesetz erweitern wir den Pfandbrief umeine wesentliche Komponente.Bislang gab es Schiffspfandbriefe zur Schiffsfinanzie-rung. Dieses bewährte Institut übernehmen wir jetztauch für den Bereich der Flugzeuge, weil dort ähnlicheRegeln gelten. Dieses Vorhaben haben wir schon imJahre 2005 erörtert. Ich bin froh darüber, dass das Ergeb-nis unserer Beratungen jetzt spruchreif ist und wir end-lich beginnen können.
Herr Kollege Scheelen, auch Ihren Ausführungenzum Dreisäulensystem stimme ich ausdrücklich zu.Trotz aller Probleme, die es auf dem Finanzmarkt derzeitgibt, muss man festhalten, dass es nicht in allen Berei-chen solche Probleme gibt. Man sollte einmal deutlichmachen, dass es gerade bei den Pfandbriefen keine der-artigen Probleme gibt.Sie haben erwähnt, dass wir mit diesem Gesetzge-bungsvorhaben, was die Situation im Finanzsektor an-geht, angefangen haben, als schönes Wetter herrschte.Inzwischen stehen die Zeichen aber auf Sturm. Insofernmuss man sich fragen: Was ist verbessert worden? Wosind Fehlentwicklungen festzustellen? Wo ist in der Ver-gangenheit etwas falsch gelaufen? Bei den Pfandbriefensind wir Weltmarktführer, und das wollen wir bleiben.Insofern begrüßt die FDP die Änderungen, die mit die-sem Gesetzentwurf verbunden sind.Sie haben auch angesprochen, dass es sich bei diesemGesetz um ein Artikelgesetz handelt. In diesem Artikel-gesetz ist das KWG, das Gesetz für die Kreditwirtschaft,enthalten. Im KWG sind die Sicherungsmaßnahmen fürFinanzinstitute geregelt. Nun wurde im Hinblick auf dieAufsicht von Finanzholding-Gesellschaften eine neueRegelung getroffen. Der konkrete Anlass für diese Rege-lung besteht darin, dass wir, was die Aufsicht betrifft,vor kurzem ein komplettes Versagen erleben mussten,nämlich bei der Hypo Real Estate.
Die Hypo Real Estate hat eine irische Bank übernom-men. Die Mitglieder des Finanzausschusses haben zu ih-rer Überraschung erst im Herbst letzten Jahres erfahren,dass die Hypo Real Estate, eine Finanzholding, die im-merhin ein DAX-Wert war, nicht der Bankenaufsicht un-terliegt. Das kann nicht richtig sein, und das konnte nichtrichtig sein. Hier ist die Frage zu stellen: Wann war dasden Verantwortlichen bekannt?
In einem aktuellen Bericht des Spiegel heißt es, dassdie Finanzaufsicht das Bundesfinanzministerium schonAnfang 2007 auf diese Regelungslücke bezüglich derAufsicht hingewiesen hat. Diesem Vorgang muss weiter-hin nachgegangen werden.
Der Gesetzentwurf sieht für die Zukunft die Prü-fungsmöglichkeit vor. Diese Regelung wurde im Finanz-ausschuss auf Initiative der FDP im Vergleich zum Re-gierungsentwurf verschärft. Dort hieß es nur, dass „aufAntrag“ des jeweiligen Instituts geprüft werden darf.Was ist bei der Hypo Real Estate eigentlich gesche-hen? Ein deutsches Finanzinstitut, ein DAX-Wert, hateine ausländische Beteiligung erworben. Die Banken-aufsicht hatte überhaupt keine rechtliche Möglichkeit,dieses Institut zu überprüfen. Die Probleme dieses Insti-tuts gingen auf die Mutter und von der Mutter auch aufdie Töchter über. Im Ergebnis hat das dazu geführt, dassder deutsche Steuerzahler bis heute mit 102 Milliar-den Euro dafür haftet, dass unsauber operiert und derAufsichtspflicht nicht nachgekommen wurde. Wenn ichmir das vor Augen halte, muss ich feststellen: Das sindVorkommnisse, mit denen sich das Parlament, auch überdiesen konkreten Gesetzentwurf hinaus, noch sehr inten-siv beschäftigen muss.
An dieser Stelle ist zu sagen: Das KWG ist nicht ir-gendein Gesetz. Wir haben keinen Bereich unserer Wirt-schaft so stark reglementiert und mit Aufsichtsvorschrif-ten versehen wie den Finanzsektor. Wir haben in § 11KWG sichergestellt, dass ein Finanzinstitut über Liqui-dität verfügen muss. Das wird bei jedem deutschen Fi-nanzinstitut von der Aufsicht, der BaFin, überprüft, undauch von der Deutschen Bundesbank.Insofern ist es erstaunlich, dass der Chef der Aufsicht,Herr Sanio, erklärt hat, das System sei zwar geprüft wor-den, aber die Liquidität habe man nicht prüfen können.Wenn man sich klarmacht, welche Probleme in Finanz-instituten entstehen können, weiß man diese Stellen im
Metadaten/Kopzeile:
22152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
Carl-Ludwig ThieleKWG zu schätzen. Auch das KWG als Rechtsrahmenfür die Finanzaufsicht ist nämlich im Grundsatz einver-nehmlich beschlossen worden. Keiner von uns wussteallerdings, dass, wenn die Konstruktion einer Finanzhol-ding, die selbst keine Bankgeschäfte betreibt, gewähltwird, die Holding von der Aufsicht nicht überprüft wird.
– Das ist nicht ausgeschlossen. Denn bei der HRE han-delt es sich um eine Neugründung; diese Bank ist nochnicht allzu alt. Ich vermute, dass bei der Neugründungbestimmte Kriterien gewählt wurden, um eine solcheKonstruktion zu ermöglichen.Als die HRE die Bank im Ausland erworben hat, hatdie Aufsicht von vornherein gesehen, dass Problemekommen können. Sie hat an das BMF geschrieben; dochdas BMF ist untätig geblieben. Dass das BMF an dieserStelle untätig geblieben ist, ist aus meiner Sicht unent-schuldbar.
In wie vielen Bereichen, bei wie vielen Gesetzen wendetsich die Regierung in den Ausschüssen an uns und weistauf Regelungslücken hin! Wenn es vernünftig war, ha-ben wir als FDP immer zugestimmt, andere auch. Dochdieser Punkt ist nicht auf den Tisch gelegt worden. Dakann ich nur sagen: Eine Regierung haftet auch dafür,wenn sie etwas unterlässt. Auch für Unterlassen beiKenntnis muss sie die Verantwortung übernehmen. DasUnterlassen bestand darin, dass sie die Aufsicht nichtdurchgesetzt hat. Denn dass die Probleme der einen aus-ländischen Tochter über die Mutter auch bei den anderenTöchtern und damit im Gesamtinstitut landen, ist inzwi-schen offensichtlich.Das ist nicht mehr nur ein Problem der Hypo Real Es-tate. Das ist zwischenzeitlich ein Problem des deutschenSteuerzahlers geworden. Von den 480 Milliarden Euro,die das Paket umfasst, ist ein Großteil, nämlich102 Milliarden Euro, für die der Steuerzahler haftet, nurzur Sicherung dieses einen Institutes aufgewandt wor-den. Eine der Ursachen dafür liegt in Irland.Insofern sage ich: Die Gesetzesänderung begrüßenwir; aber den Finanzminister entlassen wir noch langenicht aus seiner Verantwortung für das Fehlverhaltendurch Unterlassen an dieser Stelle.Herzlichen Dank.
Als Nächster spricht der Kollege Leo Dautzenberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Geschichte des deut-schen Pfandbriefs ist – darauf ist schon hingewiesenworden – eine Erfolgsgeschichte. Der Pfandbrief hatmehrere Finanzkrisen überstanden. Er ist zum Vorbildfür zahlreiche Schuldverschreibungen im Ausland ge-worden und hat sich damit zum größten Segment desglobalen Marktes gedeckter Schuldverschreibungen ent-wickelt.Es gibt dabei Qualitätsunterschiede. Wenn man sichdie Covered Bonds im Ausland anschaut, muss man fest-stellen, dass es sich zwar auch um gedeckte Schuldver-schreibungen handelt; aber vom Deckungsstock hersteckt nicht die Qualität dahinter, die wir beim deutschenPfandbrief kennen. Der deutsche Pfandbrief ist nach wievor ein Unikat. Wir sollten dafür werben, dass sich dieseStandards international durchsetzen.Bisher hatten wir diese Qualitätsmerkmale vor allemin zwei Segmenten, nämlich mit Hypotheken oder mitGrundschulden als Deckungsmasse, wobei die Pfand-briefe, anders als es bei den Subprimes in den Vereinig-ten Staaten der Fall war, nur nach bestimmten Belei-hungswerten vergeben werden konnten. Darüber hinausgab es schon einen Schiffspfandbrief. Deutsche Bank-institute haben bereits eine hohe Expertise in der Finan-zierung der Pfandbriefe, die auf Hypotheken, Grund-schulden oder Schiffen basieren. Jetzt wird es auch einenFlugzeugpfandbrief geben. Damit wird eine Lücke ge-schlossen. Über den Pfandbrief und die Verbriefung sol-len sich diese Institute am Markt refinanzieren können.Von daher ist das an hohe Standards gebunden.Kollege Scheelen hat schon darauf hingewiesen, dasses 2005 eine grundsätzliche Novelle gab, die wir einver-nehmlich auf den Weg gebracht haben. Jetzt ging es da-rum, noch Verfeinerungen vorzunehmen. Dies wurde be-reits vor Beginn der Finanzkrise angedacht und wirdjetzt hier im Deutschen Bundestag zum Abschluss ge-bracht, sodass die Fortentwicklung der PfandbriefrechtsPlatz greift. Es ist gut, dass wir diesen Gesetzentwurf imKonsens, also über alle Fraktionsgrenzen hinweg, verab-schieden werden. Es ist darauf hingewiesen worden,dass dies für den Finanzmarkt ein wichtiges Zeichen ist.Es zeigt, dass wir uns als Gesetzgeber bemühen, hiereinvernehmliche Regelungen zu finden.Ein zentrales Element ist die Einführung des Flug-zeugpfandbriefs. Daneben wird die Konsortialfinanzie-rung erleichtert. Zudem werden Qualitätsstandardshinsichtlich der Deckungsfähigkeit von Forderungen ge-genüber Drittstaaten aufgestellt, was ein zusätzlichesQualitätsmerkmal darstellt. Das sind die Punkte, die imGesetzentwurf schon vorhanden waren.Was wir nach der guten Anhörung auf dem Weg derparlamentarischen Beratung eingefügt haben, ist die An-lageverwaltung, Herr Kollege Schick, und zwar mit derMaßgabe, dass wir dies auch in Bezug auf den grauenKapitalmarkt weiter im Fokus behalten und dazu ge-meinsam eine Anhörung durchführen wollen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22153
(C)
(D)
Leo DautzenbergKollege Thiele und Kollege Scheelen haben daraufhingewiesen, dass wir auch hinsichtlich der Finanzhol-ding-Gesellschaften eine Ergänzung im Vergleich zumRegierungsentwurf vorgenommen haben. Ursprünglichhieß es, dass sich diese Finanzholdings auf Antrag derAufsicht unterstellen können. Es war schwer nachvoll-ziehbar, warum dies auf Antrag geschehen sollte. Werbeantragt denn so etwas? Das Gegenteil wäre gewesen,wir hätten es zur Pflicht gemacht. Das ging auch nicht,weil dann zu viele Finanzdienstleister in die Aufsichteinbezogen worden wären, für die sie im Grunde nichtgedacht ist.
Deshalb war es unser gemeinsames Ziel, dass die Auf-sicht das Recht erhält, von sich aus Finanzholdings unterAufsicht zu stellen und von daher eine hoheitliche Funk-tion ausüben zu können. – Darüber hinaus haben wirnoch Änderungen im Finanzdienstleistungsaufsichtsge-setz vorgenommen.Daran sehen Sie, welche Verbesserungen im parla-mentarischen Bereich erreicht wurden. Es sind weitereStichworte zu nennen: Der Zeithorizont für die Abde-ckung des Liquiditätsbedarfs ist von 90 auf 180 Tageausgedehnt worden. Zur Transparenz der Laufzeitstruk-tur ist schon einiges gesagt worden ist. Daneben gibt esweiterhin geografische Beschränkungen für die Staats-finanzierung. Man kann nicht alle Staaten in die Staatsfi-nanzierung einbeziehen, wenn die Finanzierung in Formvon Anleihen und Kredite an diese Staaten pfandbrieffä-hig werden soll. Diese Beschränkung ist nochmals eineVerstärkung des Qualitätsmerkmals. Es ist auch klarge-stellt worden, dass beispielsweise Hybridkapitalforde-rungen und Forderungen mit Nachrangvereinbarungennicht zur Deckung geeignet sind und damit auch nicht indie Pfandbriefregelung einbezogen werden.Der gemeinsame Dank geht an alle Berichterstatterund Berichterstatterinnen und auch an das Finanzminis-terium, die uns hier gut zugearbeitet haben. Erlauben Siemir, abschließend noch einen Punkt zu nennen, den wirauch beachten sollten, wenn wir heute eine weitere No-vellierung des Pfandbriefrechts verabschieden, was wireinvernehmlich tun werden und womit wir ein gutes Zei-chen setzen: Es gibt Bestrebungen, die Garantiezeiten imFinanzmarktstabilisierungsgesetz zu ändern. Bisher gilteine Garantiezeit von drei Jahren. Forderungen, dieseGarantiezeit von drei auf fünf, sechs oder mehr Jahreauszudehnen, sollten wir nicht vorschnell nachkommen,weil wir dem Pfandbrief damit einen Bärendienst erwie-sen und Verwerfungen am Finanzmarkt für gut einge-führte Produkte herbeiführten. Wir dürfen diese kontra-produktiven Ansätze nicht übernehmen.Ich danke für die Beratungen. Wir können hier ge-meinsam etwas zum Wohle des Finanzmarktes Deutsch-land auf den Weg bringen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Finanzprodukte aller Art überschwemmen seit einigenJahren den Markt. Traumhafte Gewinne werden verspro-chen; in Banken, Sparkassen und Kreditinstituten wer-den und wurden den Kunden suspekte Produkte ange-dreht, die selbst die meisten Beraterinnen und Beraterkaum verstehen. Unkalkulierbare Risiken, wohin dasAuge reicht – genau das ist eine der Hauptursachen dergegenwärtigen Finanzkrise.Den größten Teil dieser hoch gelobten Finanzinnova-tionen stellen die Kreditverbriefungen dar, also die Um-wandlung von Krediten in handelbare Wertpapiere. Zu-gegeben, auch der Pfandbrief ist eine Kreditverbriefung,aber – wie bereits betont – eine bereits lange erprobteund bewährte Form. So zeigt sich auch in der aktuellenFinanzkrise, dass die mit Pfandbriefen verbundenen Ri-siken nicht nur gering, sondern auch für alle Beteiligtengut überschaubar sind; denn im Unterschied zu denneuen Kreditverbriefungen bieten Pfandbriefe hohe Si-cherheiten für die Anlegerinnen und Anleger.Klar ist: Pfandbriefe dürfen nur von extra zugelasse-nen und beaufsichtigten Banken ausgegeben werden.Hinzu kommt, dass Pfandbriefe erstens zusätzlich abge-sichert sind, entweder durch einen realen Vermögensge-genstand – wie Immobilien bei Hypothekenpfandbriefenund Schiffen bei Schiffspfandbriefen – oder aber durchdie öffentliche Hand bei öffentlichen Pfandbriefen.Zweitens ist festgelegt, dass die Wertermittlung vonSchiffen und Immobilien strengen Vorschriften unter-liegt. Zudem dürfen sie nur bis zu 60 Prozent beliehenwerden. Drittens ist im Fall der Insolvenz der Pfand-briefbank gesichert, dass die Ansprüche der Pfandbrief-inhaber bevorzugt behandelt werden.Veränderungen des Pfandbriefrechts müssen diesenhohen Sicherheitsstandard bewahren, auch und geradewegen der massiven Verunsicherung der Anlegerinnenund Anleger durch die Finanzkrise. Diesem Anspruchwird der vorliegende Gesetzentwurf gerecht. Deshalbwerden wir ihm zustimmen.
So wird die Sicherheit der Pfandbriefe erhöht, indemdie Banken jetzt für die in den nächsten 180 Tagen fälligwerdenden Pfandbriefe ausreichend Geldmittel vorhal-ten müssen. Außerdem können Pfandbriefe jetzt gemein-sam durch mehrere Banken herausgegeben werden. Da-mit bekommen auch kleinere Banken die Möglichkeit,am Pfandbriefgeschäft teilzunehmen. Darüber hinauswerden dadurch Kreditrisiken verringert. Dies alles istdurchaus im Interesse der Anlegerinnen und Anleger.Wir unterstützen ausdrücklich die Verbesserung derFinanzaufsicht über Finanzholding-Gesellschaften à laHypo Real Estate; darauf ist Herr Thiele ausführlich ein-gegangen. Nunmehr können auf Verlangen der Bundes-
Metadaten/Kopzeile:
22154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Barbara Höllanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Risiken dereinzelnen Institute auf der Ebene der Holding zusam-mengefasst und dadurch verringert werden.Ich kann Ihnen jedoch ein großes Aber nicht ersparen;denn sowohl die rot-grüne Regierung als auch die GroßeKoalition haben in den vergangenen Jahren massiv dazubeigetragen, dass der deutsche Pfandbrief erheblicheKonkurrenz bekommen hat.
Seine Bedeutung schwand nach und nach unter anderemdeshalb, weil die neuen spekulativen Formen der Kredit-verbriefung durch Sie massiv gefördert wurden, zumBeispiel durch steuerliche Begünstigungen: Anpassun-gen im Gewerbesteuerrecht, aber auch durch die letzteUnternehmensteuerreform, nach der Verbriefungszweck-gesellschaften unter bestimmten Bedingungen nicht derZinsschrankenregelung unterstellt sind. In der Folgewurde den Anlegern und Anlegerinnen vorgegaukelt,dass im Prinzip alle Arten der Verbriefungen sicher sind,aber die neuen Kreditverbriefungen gegenüber denPfandbriefen angeblich einen großen Vorteil haben: Siewürden riesige Renditen zwischen 10 und 20 Prozentbringen. – Dadurch haben Sie den Pfandbrief entwertet.
Derzeit ist die Aufregung allerorts sehr hoch. Die an-geschlagene Bundesregierung schwadroniert viel, han-delt aber leider kaum. Wir meinen, wir brauchen unbe-dingt eine wirkliche Reform der Finanzmärkte bzw. desFinanzsektors hin zu mehr Sicherheit und Stabilität, we-niger Spekulation und zum Abbau von überzogenenRenditeansprüchen. Hierbei vermissen wir Maßnahmen.Zu Recht wurde festgestellt, dass wir die Novellierungdes Pfandbriefrechts schon vor der Finanzkrise in An-griff genommen haben. Aber Antworten auf die Finanz-krise haben Sie nicht. Der Gesetzentwurf, den wir heuteverabschieden, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Erstellt aber noch keine Trendwende dar. Dafür müssen Sienoch viel tun.Wir erwarten von Ihnen, dass Sie die Vorschläge zurAbkehr von der Liberalisierung der Finanzmärkte auf-greifen; denn das ist die Ursache für die Krise, in der wiruns derzeit befinden. Wir als Linke lassen Ihnen nichtdurchgehen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Zechefür eine verfehlte Politik zahlen müssen, für die Sie dieVerantwortung tragen.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Übereinstimmung bei einem wichtigen Finanz-marktgesetz mag angesichts der Rhetorik, die wir sonstbei Finanzmarktthemen in den letzten Wochen häufigbetrieben haben, überraschen. Ich glaube, das hat eineneinfachen Grund. Es geht heute um einen Gesetzentwurf,mit dem wir die Stabilität eines Finanzprodukts sicher-stellen und auf eine hohe Qualität dieses Produkts setzenstatt auf eine schnelle Finanzmarktentwicklung, diekurzfristig Vorteile verschafft, mit der man aber langfris-tig auf die Nase fällt. Diese Form der Finanzmarktpolitikfordern wir als Grüne auch an anderer Stelle ein. Mitdem Gesetzentwurf haben wir gemeinsam die richtigeRichtung eingeschlagen. Deswegen unterstützt Bünd-nis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf zur Fortentwick-lung des Pfandbriefrechts.
Der Markt hat eine große Bedeutung; die Zahlen wur-den bereits genannt. Das Volumen, das am deutschenPfandbriefmarkt in Umlauf ist, beträgt 900 MilliardenEuro. In der derzeitigen Finanzmarktkrise ist aufgrundder Konkurrenz mit staatlich garantierten Anleihen aller-dings eine gewisse Reduzierung der Neuemissionen zuverzeichnen.Auch die wichtigen Schritte, die wir jetzt vornehmen,sind schon genannt worden: zum einen die Einführungdes Flugzeugpfandbriefs, zum anderen die Möglichkeitder Konsortialfinanzierung. Des Weiteren ist die Aus-weitung des Liquiditätspuffers für den Sachverwaltervon 90 Tagen auf 180 Tage vorgesehen. Das alles sindVerbesserungen, die wir unterstützen und die wir mit Ih-nen gemeinsam vornehmen wollen, damit der Pfandbriefauch in Zukunft ein stabiles Produkt bleibt.Richtig ist auch, bei der Finanzholding auf dieSchwächen der bisherigen Regulierung zu reagieren undder BaFin die Möglichkeit zu geben, die Prüfung auchauf der Ebene der Holding vorzunehmen. Für die Unter-nehmen kommt es zu Vereinfachungen, weil verschie-dene Rechtsmaterien jetzt besser ineinandergreifen.Ich will in dieser Debatte noch zwei Punkte anspre-chen. Erstens steuern wir mit dem Pfandbriefgesetz, daswir schon vor der Krise angegangen sind, jetzt in derKrise nach. Ich glaube, wir müssen auch bei anderenProdukten am Finanzmarkt prüfen, ob ein Nachsteuernnötig ist. Ich denke, damit werden wir nicht bis zurnächsten Legislaturperiode warten können. Zum Bei-spiel sollten wir uns noch einmal mit den offenen Immo-bilienfonds befassen. Wir haben bereits eine Novelledurchgeführt, die aber nicht ausreicht. Ich glaube, wirsollten die Stabilität auch in anderen Produktwelten ernstnehmen.Zweitens war es uns ein besonderes Anliegen – da-rauf ist bereits hingewiesen worden –, uns mit demgrauen Kapitalmarkt, also dem Bereich, in dem Men-schen direkte Anlagen in Unternehmensbeteiligungenund häufig in geschlossene Fonds vornehmen, zu befas-sen. Mit dem Erlaubnistatbestand bei der Anlageverwal-tung nach dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nur einkleiner Bereich korrigiert, bei dem es durch die Recht-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22155
(C)
(D)
Dr. Gerhard Schicksprechung für die BaFin unmöglich geworden ist, tätigzu werden. Wenn man aber eine Gleichbehandlung überverschiedene Produktwelten hinweg haben will, dannkann es nicht sein, dass wir dieses Ansinnen nur für dieFinanzprodukte verfolgen, die auf dem grauen Kapital-markt angeboten werden. Vielmehr müssen wir das aufden ganzen Bereich ausweiten.Ich will Zahlen nennen. Schätzungen besagen, dassjährlich 20 Milliarden bis 30 Milliarden Euro in schlech-ten Anlagemodellen versickern. Unsere Aufgabe ist es,für einen seriösen Finanzmarkt zu sorgen, nicht nur imBereich des Pfandbriefs, sondern auch in allen anderenBereichen. Nur so können wir eine stabile Finanzmarkt-entwicklung über die verschiedenen Produktwelten hin-weg hinbekommen. Wir müssen eine Struktur auf demFinanzmarkt herstellen, die Seriosität garantiert und esden Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, dieverschiedenen Finanzprodukte einzuschätzen.Ich bin dankbar, dass unser Ansinnen, das Ganzenoch einmal in Gründlichkeit anzugehen, aufgegriffenwurde. Ich hoffe, dass es gute Vorschläge geben wirdund dass wir dieses große Problem zügig angehen wer-den.Danke schön.
Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Finanzprodukte der Zukunft brauchen Transparenz, Soli-dität und Vertrauen. Der deutsche Pfandbrief hat dieseEigenschaften. Deswegen ist er ein Finanzprodukt mitZukunft.Mit der Weiterentwicklung des Pfandbriefrechts stel-len wir heute die richtigen Weichen. Dabei war von An-fang an klar, dass der Maßstab für die Novelle Qualitätsein muss. Qualität heißt hier Transparenz, Sicherheit,Solidität und dennoch eine angemessene Weiterentwick-lung. Ich glaube, diese hohe Qualität ist gelungen. Quali-tät ist uns beim Flugzeugpfandbrief gelungen. Qualitätist uns bei der Erleichterung der Konsortialfinanzierunggelungen. Wir erreichen damit, dass kleinen Kreditinsti-tuten entgegengekommen wird, die wesentlich zur Fi-nanzierung unserer Wirtschaft beitragen. Wir steigernzwar die Effizienz, lockern aber die Vorgaben beim Be-leihungswert nicht und schützen auf diese Art und Weisedie Anleger.
Diese und weitere Maßnahmen sichern Qualität undWettbewerbsfähigkeit des deutschen Pfandbriefes, unddas sichert zwingend notwendiges Vertrauen. OhneZweifel gab es – insbesondere in der zweiten Hälfte2008 – Nachfrageeinbußen. Das hat aber nicht das Pro-dukt Pfandbrief zu verantworten. Der Pfandbrief warvielmehr Opfer der Krise auf dem Gesamtmarkt.Auf zweierlei haben wir in den nächsten Wochen be-sonders zu achten. Erstens. Mit jeder staatlichen Maß-nahme zur Stützung von Banken greifen wir in denMarkt ein. Das führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen.SoFFin-garantierte Anleihen verdrängen andere Pro-dukte vom Markt, auch den Pfandbrief. Deswegen müs-sen wir höllisch aufpassen, dass der SoFFin nur dort ein-greift, wo es zur Stabilisierung des Finanzmarktesunerlässlich ist. Anderenfalls schaden wir gesunden Pro-dukten, gesunden Instituten und gesunden Märkten. Dassage ich in aller Ernsthaftigkeit allen, die von „mehrStaat“ – wie die Linken – oder von „intelligenter Ver-staatlichung“ – wie die Grünen – reden. Ich sage aberauch selbstkritisch der eigenen Regierung und demSoFFin: Mich konnte bis heute noch niemand davonüberzeugen, dass die Unterstützung von Autobankennotwendig ist, um den Finanzmarkt zu stabilisieren.
Eine SoFFin-Unterstützung von Autobanken führt aberzu Wettbewerbsverzerrungen und Ausfällen bei Tausen-den Sparkassen und Genossenschaftsbanken.
Deswegen bin ich nach den Diskussionen in den letztenWochen und den Informationen, die uns vorliegen, derMeinung, dass der SoFFin die Anträge der Autobankenablehnen sollte.Zweitens. Man kann am 12. Februar 2009 nicht überPfandbriefe reden, ohne auch über die Hypo Real Estatezu reden, immerhin der zweitgrößte deutsche Pfandbrief-emittent. Es handelt sich um ein tolles Produkt in einervormals miserabel geführten Bank. Ohne Zweifel habenwir es hier mit einer durch und durch systemrelevantenBank zu tun. Die achtgrößte deutsche Bank würde, wennsie stürzte, nicht nur Genossenschaften und Sparkassenmit sich reißen, sondern auch Kommunen, Versorgungs-werke und sogar europäische Staaten in Schwierigkeitenbringen. Deswegen besteht überhaupt kein Zweifel da-ran, dass die Hypo Real Estate gestützt werden muss.Eine Enteignung kann nur die Ultima Ratio sein.Von daher verwundert es mich schon ein Stück, dassim Finanzministerium ein Enteignungsgesetz formuliertwird, aber bis gestern noch kein Gespräch mit dem be-troffenen Großinvestor Flowers stattgefunden hat.
Ich bin der Meinung, das ist die falsche Reihenfolge.
Nochmals: Wir wissen, dass wir die Hypo Real Estatenicht fallen lassen können, aber wir als Unionsfraktionerwarten, dass das zuständige Finanzministerium alle
Metadaten/Kopzeile:
22156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Albert Rupprecht
Varianten sachlich prüft und vor allem auch ernsthaftverhandelt.
Das ist eine sachliche und grundgesetzliche Notwendig-keit. Vom Übernahmeangebot über die Kapitalerhöhungund den Kapitalschnitt bis hin zum von Michael Glosvorgeschlagenen Modell einer eingeschränkten Insol-venz – alles muss geprüft werden.Ich kann in diesem Zusammenhang die immer stärkerwerdende Sehnsucht nach Verstaatlichung von Bankenüberhaupt nicht teilen.
Hinter dieser Sehnsucht steckt der Gedanke, dass dann,wenn der Staat schon mit Steuergeldern stabilisiert, derSteuerzahler doch möglichst viel Eigentum an den Ban-ken bekommen soll. Ich glaube, dass dies aus drei Grün-den ein Irrweg ist.Erstens. Je mehr Anteile der Staat an Banken hält,desto größer wird das Risiko für den Steuerzahler. Auf-gabe des SoFFin ist es, zu stabilisieren, aber mit mög-lichst wenig Risiko. Aktionär zu werden, ist aber einhohes Risiko. Das Risiko sollte jedoch bei den Alteigen-tümern bleiben.Zweitens. Trotz aller Fehler von Bankenchefs in denvergangenen Jahren: Politiker sind nicht die besserenBanker. Ich zumindest kenne keinen Politiker, der dieFachexpertise eines Bankkaufmanns, der über Jahr-zehnte hinweg sein Handwerk gelernt hat, ersetzen kann.Drittens. Je größer der Staatseinfluss ist, desto größerist die Gefahr, dass politische Interessen Fachentschei-dungen ersetzen und der Wettbewerb um die beste Qua-lität ausgehebelt wird. Die bittere Folge wäre ein Verlustvon Wohlstand, Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen.Der Fehler der vergangenen Jahre war nicht eine zugeringe Staatsbeteiligung; der Fehler war, dass der Staatseine originäre Aufgabe unzureichend wahrgenommenhat. Diese ist: Ordnung schaffen, Regeln setzen, die Ein-haltung der Regeln kontrollieren und Verstöße sanktio-nieren. Das ist die staatliche Aufgabe, und darauf solltenwir uns konzentrieren.
Wir brauchen nicht Karl Marx, sondern vielmehr Lud-wig Erhard. Das ist die richtige Antwort auf dieFinanzkrise.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Fortentwicklung des Pfandbriefrechts. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den
Drucksachen 16/11886 und 16/11929, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11130 und
16/11195 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kers-
ten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 16/10397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kers-
ten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Behandlung von Petitionen und über
die Aufgaben und Befugnisse des Peti-
tionsausschusses des Deutschen Bundestages
– Drucksache 16/10385 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei die Linke fünf Minuten sprechen will und
auch soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Kersten
Naumann für die Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Dieses Recht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22157
(C)
(D)
Kersten Naumannmuss so gestaltet werden, dass es von den Bürgerinnenund Bürgern gut handhabbar ist. Das bestehende Peti-tionsrecht ist aber in fünf verschiedene, für die Bürgerin-nen und Bürger nicht nachvollziehbare Vorschriften zer-splittert: Das ist das Grundgesetz, das ist das Gesetz überdie Befugnisse des Petitionsausschusses, das ist die Ge-schäftsordnung des Bundestages, das sind die Grund-sätze des Petitionsausschusses über die Behandlung vonBitten und Beschwerden, und das sind die Richtlinienfür die Behandlung von öffentlichen Petitionen. Mit demvorliegenden Petitionsgesetzentwurf will die FraktionDie Linke diese Vorschriften zusammenführen, aberauch das Petitionsrecht bürgernäher, transparenter, nach-vollziehbarer und einklagbar machen.
Fest steht: Die Einführung elektronischer und öffent-licher Petitionen im Jahre 2005 war ein großer Schritt inRichtung mehr Demokratie. Bürgerinnen und Bürgerkönnen sich jetzt noch einfacher an den Petitionsaus-schuss wenden; die Nutzerzahlen steigen stetig. Dafürwurde der Petitionsausschuss mit dem Politik-Awardausgezeichnet.Trotzdem bleibt noch viel zu tun; denn die Erfahrun-gen im Petitionsausschuss zeigen, dass das bisherige Pe-titionsrecht an seine Grenzen stößt: Beschwerden überVerfahrensweisen, mangelnde Transparenz, mangeln-den öffentlichen Zugang, nicht nachvollziehbare Aus-wahlkriterien und lange Bearbeitungszeiten häufen sich.Auf diesen Erfahrungen basieren auch die Forderungennach mehr Transparenz und Verbindlichkeit, die seit den70er-Jahren von Rechtsexperten und der Vereinigung zurFörderung des Petitionsrechts in der Demokratie erho-ben wurden.Unser Petitionsgesetzentwurf fußt auf mehreren Aus-arbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bun-destages zu teilweise strittigen rechtlichen Themen.Intensive und ausführliche Diskussionen mit Rechtsex-perten und Wissenschaftlern sowie eine Expertenanhö-rung der Fraktion Die Linke bestätigten unsere im Ge-setzentwurf verankerten Auffassungen in weiten Teilen,gaben uns aber auch Anregungen zur weiteren Verbesse-rung unseres Entwurfes.So ist ein Schwerpunkt unseres Entwurfes die Stär-kung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, das heißtdie Stärkung ihrer Informationsrechte und der demokra-tischen Teilhabe. Wichtig ist dabei:Erstens. Sitzungen des Petitionsausschusses sindgrundsätzlich öffentlich,
sofern es sich – das betone ich hier – nicht um private,individuelle Anliegen handelt.Zweitens. Es muss möglich sein, Petitionen öffentlichan den Petitionsausschuss zu übergeben.Drittens. Es ist wichtig, dass es keine petitionsfreienZonen gibt. Auch Betriebsräte und Beamte müssen ihrAnliegen als Petition einreichen können.
Viertens. Massen- und Sammelpetitionen sind zu stär-ken. Natürlich nehmen wir jede einzelne Petition ernst;doch die Bürgerinnen und Bürger können gerade mitMassen- und Sammelpetitionen verstärkt gegenüber demGesetzgeber anregen, gesetzliche Veränderungen vorzu-nehmen.Fünftens. Wir schlagen vor, das für eine öffentlicheAnhörung erforderliche Quorum von 50 000 Unter-schriften auf 20 000 Unterschriften herabzusetzen, umauch kleineren Interessengruppen der Bevölkerung eineverbindliche Chance auf öffentliche Anhörung ihres An-liegens zu geben.
Ein zweiter Schwerpunkt unserer Vorlage ist die Stär-kung der parlamentarischen Einwirkung und der Kon-trolle; denn Petitionen müssen noch mehr Wirkung ha-ben. Unter Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilungist es dennoch rechtlich möglich, in begründeten Fällenbehördliche Maßnahmen außer Vollzug zu setzen, so-lange das Petitionsverfahren läuft. Es ist rechtlich mög-lich, ein eingeschränktes Selbstbefassungsrecht festzu-schreiben. Außerdem ist es rechtlich möglich, dieBundesregierung zur besseren Umsetzung der Aus-schussbeschlüsse anzuhalten. In fast jedem zweiten Fallder Petitionen mit hohen Voten erklärt die Bundesregie-rung nach sechs Wochen oder nach einem Jahr, dem An-liegen nicht positiv zu entsprechen.Zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle gehörtfür die Fraktion Die Linke die Stärkung der Minderhei-tenrechte der Opposition. Das wurde bereits 1975 vonder damaligen Oppositionsfraktion, von der CDU/CSU,gefordert; deshalb denke ich, dass Sie uns da vielleichtunterstützen.
Uns ist bewusst, dass dieser Gesetzentwurf auchPunkte enthält, die zwischen den Fraktionen strittig sind.Trotzdem bitte ich Sie, die von meiner Fraktion unter-breiteten Vorschläge nicht einfach zu verwerfen. LassenSie uns in der weiteren parlamentarischen Debatte ge-meinsam um Verbesserungen im Interesse der Bürgerin-nen und Bürger ringen und streiten. Für die Fraktion DieLinke ist ein starkes Petitionsrecht wichtig; denn Bür-geranliegen sind auch ein Spiegel der Politik der Bun-desregierung und der Arbeit der Volksvertreter.Wir wollen mit unserem Petitionsgesetzentwurf dasSignal geben: Wir nehmen Demokratie ernst. Die Bürge-rinnen und Bürger sehen ihr in Art. 17 des Grundgeset-zes verankertes Grundrecht nicht nur als ein Recht, sichmit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zuwenden; sie verstehen es auch als Chance und Möglich-keit, Hilfe zur Lösung ihrer Probleme zu erhalten.Halten wir uns also gemeinsam an Christoph Lichten-berg, der sagte: Wenn etwas besser werden soll, muss esanders werden. – In diesem Sinne freue ich mich auf dieDiskussion mit Ihnen.Danke schön.
Metadaten/Kopzeile:
22158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Der Kollege Günter Baumann hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zum wiederholten Male beschäftigen wir unsheute mit einem Anliegen der Fraktion Die Linke – frü-her: Fraktion der PDS –, mit einem Petitionsgesetz. Sieerwecken hier im Plenum und vor der Öffentlichkeit denEindruck, dass unser Petitionswesen mit seinen Regula-rien nicht ausreichend ist,
dass es einige Fehler hat und dass da nachgebessert wer-den muss. Dem möchte ich ganz klar widersprechen.Unsere Tätigkeit im Petitionsausschuss beruht aufeiner ganzen Reihe von Regelungen. Es gibt denArt. 17 Grundgesetz sowie eine Reihe von Paragrafen inunserer Geschäftsordnung. Wir haben Verfahrensgrund-sätze, die flexibel sind, die wir relativ einfach undschnell verändern können. Das haben wir in der letztenZeit mehrmals getan. Das sind also Regularien, die ausmeiner Sicht sehr gut funktionieren.Ich vertrete die Meinung – und die Statistik gibt mirrecht –, dass die Bürger im Land das Petitionswesen an-nehmen und damit zufrieden sind; da sind wir auf einemguten Weg. Ich nenne ganz wenige Zahlen: Wir haben inden letzten Jahren im Schnitt etwa 17 000 Petitionen imJahr zu bearbeiten gehabt. Wenn wir Massenpetitionen,Sammelpetitionen und alle anderen Petitionen zusam-men betrachten, haben sich in den letzten zwei Jahrenetwa 400 000 bis 500 000 Bürger mit Problemen an unsgewandt. Das ist ein Zeichen dafür: Unser System wirdangenommen; es funktioniert.Durch die flexiblen Verfahrensgrundsätze haben wirin der letzten Zeit relativ einfach eine Reihe von Neue-rungen einführen können. Sie alle kennen das: E-Mail-Petitionen, öffentliche Petitionen und dergleichen mehr.Wir haben als Ausschuss eine Reihe ganz besondererRechte, die andere Ausschüsse so nicht haben. Wir kön-nen zum Beispiel Ortstermine durchführen, Aktenein-sicht nehmen und Regierungsvertreter laden.Also: Die Regularien funktionieren insgesamt. DieBürger nehmen das System an.Wir sind als Petitionsausschuss ein wichtiges Binde-glied zwischen den Bürgern im Land, dem Parlamentund der Regierung. Wir helfen mit, Politikverdrossen-heit, von der oft gesprochen wird, ein Stück weit abzu-bauen. Wir helfen auch mit, Vertrauen in unsere Verwal-tung, das manchmal verloren gegangen ist,wiederherzustellen.
Unsere Hauptaufgabe sollte sein, unser funktionieren-des Petitionswesen den Bürgern noch näher zu bringen.Ein Mittel dazu ist, dass wir auf Messen auftreten undfür die Bürger direkt ansprechbar sind. Das funktioniertsehr gut.Eine grundgesetzliche Aufgabe wird also, denke ich,gut wahrgenommen. Die Frage ist: Warum soll ein be-währtes Instrument verändert werden? Bei dem Entwurfder Linksfraktion kommen wir schnell dahinter: Das Pe-titionssystem soll komplett umgestaltet werden. Es sollinstrumentalisiert werden. Sie wollen ein ganzes StückParteipolemik hineinbringen. Das werden wir nicht mit-machen.
Sie haben Ihren Vorschlag in ähnlicher Form bereitsin der 14. Wahlperiode eingebracht, haben aber eigent-lich wenig dazugelernt. Einige Beispiele dazu, wie SieParteipolemik in unsere Arbeit hineinbringen wollen:Sie wollen, dass der Petitionsausschuss Sachverhalteselbst aufgreifen kann. In Ihrem Entwurf eines Petitions-gesetzes steht sogar: Der Petitionsausschuss muss vondiesem Recht Gebrauch machen, wenn 5 Prozent derstimmberechtigten Mitglieder dies wollen. – Bei 25 Aus-schussmitgliedern sind es 1,25 Abgeordnete, die errei-chen können, dass wir uns mit bestimmten Themen derPolitik beschäftigen müssen. Das wollen wir nicht.
Wir alle können uns lebhaft vorstellen, was im Petitions-ausschuss los wäre, wenn wir die politischen Diskussio-nen, die im Plenum nicht zu einem Erfolg geführt haben,im Petitionsausschuss fortsetzen. Das kann nicht sein.Das ist nicht Sinn unserer Demokratie.In § 13 Ihres Entwurfs fordern Sie die grundsätzlicheÖffentlichkeit der Sitzungen. Das wollen wir nicht. Da-gegen sprechen nicht nur datenschutzrechtliche Gründe.Wo nach einer entsprechenden Prüfung Öffentlichkeitmöglich ist, gibt es bereits öffentliche Sitzungen, unddas wissen Sie auch ganz genau. Generelle Öffentlich-keit lehnen wir ab.Ein besonderes Verfahren für Petitionen ab 20 000Unterschriften lehnen wir ganz entschieden ab. Sie versu-chen hier eine extensive Interpretation des Art. 17 Grund-gesetz. Das geht in Richtung plebiszitärer Elemente wieVolksbegehren, was wir in der Form nicht wollen. Meine Damen und Herren, die Formulierung „Jeder-mann hat das Recht“ in Art. 17 des Grundgesetzes weisteindeutig auf ein bürgerliches Grundrecht und nicht aufein staatsbürgerliches Grundrecht hin. Das ist ein ent-scheidender Unterschied, auf den wir Wert legen.Ich möchte auch betonen, dass die Vorstellungen in§ 10 „Beweiserhebung“ Ihres Gesetzentwurfes abenteuer-lich sind. Sie wollen, dass wir im Ausschuss Zeugen ver-nehmen, Zeugen und Sachverständige vereidigen lassenund Ordnungsstrafen verhängen können. Meine Damenund Herren, wir sind kein Untersuchungsausschuss. Der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22159
(C)
(D)
Günter BaumannPetitionsausschuss behandelt Probleme der Bürger. Etwasanderes wollen wir nicht, erst recht nicht in dieser Form.
Ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer Beispieleanführen. Meine Redezeit ist aber bereits zu Ende. Ichkomme deshalb zum Schluss: Uns liegen zum wieder-holten Mal untaugliche Gesetzentwürfe der Linksfrak-tion vor, durch die das Petitionswesen verändert werdensoll. Sie wollen es instrumentalisieren. Das wollen wirnicht. Unser Petitionswesen funktioniert. Die Bürgerin-nen und Bürger im Land nehmen es an. Dafür sind wirdankbar. Es besteht natürlich die Möglichkeit, über dieVerfahrensgrundsätze Änderungen einzubringen, wennes von einer Mehrheit gewollt ist.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens
Ackermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion Die Linke hat den Vorschlag unter-
breitet, unser Petitionswesen zu reformieren. Sie hat
einen umfassenden Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt.
Sehr detailliert wird in Paragrafen darauf eingegangen,
wie sich die einzelnen Akteure, die an der Bearbeitung
eines Bürgeranliegens beteiligt sind, zu verhalten haben:
die Berichterstatter, die Fraktionen, die Bundesregierung
mit ihren Ministern, Staatssekretären usw. Nur an den
Menschen, der sich mit einer Bitte oder einer Be-
schwerde an uns wendet, haben Sie nicht gedacht.
Es ist doch so, dass die Bürgerinnen und Bürger,
wenn sie einen Brief an den Petitionsausschuss schrei-
ben, schon eine Ochsentour durch viele Institutionen und
viele Behörden hinter sich haben. Sie sehen vor lauter
Bürokratie einfach nicht mehr durch. Unser Ausschuss
ist oft der letzte Hoffnungsschimmer, den die Menschen
haben. Nun kommen Sie mit weiteren Paragrafen. Ihr
Vorschlag bringt für die Menschen keine Verbesserung.
Im Gegenteil! Durch Ihren Vorschlag wird das Petitions-
recht in ein enges Korsett gezwängt, und uns als Bericht-
erstattern wird die Möglichkeit genommen, flexible Lö-
sungen für die Bürger zu finden, die sich an uns wenden.
Ein Beispiel möchte ich Ihnen nennen: Es wäre
unmöglich gewesen, einen runden Tisch für die Heim-
kinder der 50er- und 60er-Jahre einzurichten, wenn wir
uns nach Ihrem Vorschlag hätten richten müssen. Es
hätte unter der Präsidentin Antje Vollmer dann nicht
mehr die Möglichkeit gegeben, für diese Heimkinder
– die Verfahren waren ja abgeschlossen; die Dinge wa-
ren verjährt – einen runden Tisch einzurichten und nach
Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Ich komme auf die einzelnen Paragrafen zu sprechen.
In § 3 „Petitionsgegenstände“ schreiben Sie:
Rechtsprechung kann nicht Gegenstand von Petitio-
nen sein.
Sehr richtig. Dann folgt aber ein weiterer Satz mit einem
Aber, obwohl es hier kein Aber geben darf. Gerichte
sind nämlich unabhängig, und niemand hat in die Recht-
sprechung hineinzureden, auch nicht der Petitionsaus-
schuss.
In § 6 Ihres Vorschlages schreiben Sie:
Der Petitionsausschuss kann Sachverhalte selbst
aufgreifen und sich mit ihnen befassen, … wenn
das 5 vom Hundert der stimmberechtigten Mitglie-
der des Petitionsausschusses verlangen.
Ich bin strikt dagegen. Wir sollten uns mit dem befassen,
was die Bürgerinnen und Bürger uns in ihren Briefen
schreiben. Wir sollten uns nicht mit Dingen befassen,
mit denen wir uns nach dem Willen eines einzelnen Ab-
geordneten befassen sollten. Das geht in die falsche
Richtung.
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch davon, dass
Ermittlungen durchgeführt werden sollen. Hier sollen
Beweise gesichert, Zeugen vorgeladen und Vernehmun-
gen durchgeführt werden. Dieser Duktus, der hier vor-
herrscht, erinnert mich sehr an ein Tribunal und nicht an
einen bürgerfreundlichen Ausschuss. Ich möchte das nicht.
§ 14 Ihres Gesetzentwurfs, „Einstweilige Regelun-
gen“, finde ich sehr bedenklich. Dort schreiben Sie: Die
Bundesregierung oder andere staatliche Behörden sollen
maximal drei Monate lang Maßnahmen aussetzen, bis
der Petitionsausschuss entschieden hat. – Damit nehmen
Sie in das Petitionsrecht die Möglichkeit auf, bestimmte
Vorhaben der Bundesregierung oder einer Landesregie-
rung bis zu drei Monate zu blockieren. Das ist ein massi-
ver Eingriff in die Gewaltenteilung und überhaupt nicht
sachdienlich. Die FDP lehnt diesen Vorschlag ab.
Ich habe den Eindruck, Sie wollen den Ausschuss für
politische Spielchen missbrauchen.
Ich finde das schade; denn so bleibt der Hilfesuchende,
der einzelne Mensch auf der Strecke. Die FDP wird da-
bei nicht mitmachen. Wir stellen uns an die Seite der
Bürgerinnen und Bürger.
Das Wort hat der Kollege Klaus Hagemann für dieSPD-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
22160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Alle Jahre wieder bringt die ARD zu Silvester„Dinner for one“. Und alle Jahr wieder bringt die PDS,Entschuldigung, die Linke einen Antrag ein, ein Petitions-gesetz einzuführen. Zumindest für „Dinner for one“ ist zusagen: Irgendwann ist das Bonbon abgelutscht. Auchbeim Gesetzentwurf wird das irgendwann so werden.
Ich erinnere mich, Frau Naumann, sehr geehrte FrauVorsitzende, dass Frau Lüth schon in der 14. Legislatur-periode ähnliche Reden wie Sie gehalten hat.
– Es kann natürlich auch sein, dass die Linke nichts da-zugelernt hat.Die Fragen sind jetzt – das wurde schon so dargelegtund ich kann wenig Neues hinzufügen –: Brauchen wirein neues und erweitertes Petitionsgesetz, um unsererArbeit als Petitionsausschussmitglieder nachzukommen?Reichen die bestehenden Regelungen aus oder nicht?Brauchen wir ein Gesetz um des Gesetzes willen, oderreichen, wie gesagt, die Verfahrensregeln und die ande-ren Bestimmungen aus?Die Väter und Mütter des Grundgesetzes – wir feierndieses Jahr 60 Jahre Grundgesetz in der BundesrepublikDeutschland – haben dem Petitionswesen gerade nachden Erfahrungen des Dritten Reiches eine starke Stel-lung gegeben. Es ist schon auf einiges hingewiesen wor-den: Art. 17 des Grundgesetzes sei erwähnt. Noch nichtgenannt wurden die Art. 45 ff. des Grundgesetzes, indenen ausdrücklich hervorgehoben wird, dass der Peti-tionsausschuss neben den Ausschüssen für Außen-, Ver-teidigungs- und Europapolitik einer von vieren ist, diegebildet werden müssen. Dies ist eine sehr starke Stel-lung. Entsprechend ist auch schon gesetzlich über dieBefugnisse entschieden worden.Unsere Verfahrensgrundsätze – darauf haben meineVorredner hingewiesen – erlauben uns eine gewisse Fle-xibilität in der Behandlung von Petitionen. Frau Nau-mann, Sie haben auf Lichtenberg verwiesen. Ich möchtehier nun herausstellen: Wir haben doch gerade in derletzten Zeit sehr viel verändert. Ich komme darauf nocheinmal zu sprechen.20 000 bis 25 000 Anliegen im Durchschnitt im Jahr– mal mehr, mal weniger – und 1,3 oder 1,4 MillionenUnterschriften für Petitionen zeigen: Das Petitionsrechtwird wahrgenommen und genutzt. Da wir die Petitionenzu bearbeiten haben, wissen wir, dass wir nicht unterArbeitsmangel leiden. Das wollen wir hier hervorheben.Ich betone darüber hinaus, dass wir mit dem Ausschuss-dienst sehr gut zusammenarbeiten und dass wir auch dieHinweise und Fingerzeige, die uns hier gegeben werden,aufnehmen.Wir müssen natürlich darüber nachdenken, ob nichtdas eine oder andere, was uns mitgeteilt wird, noch bes-ser in die politische Arbeit der Fraktionen und der Fach-ausschüsse eingeführt werden muss. Wir haben zusam-men darüber nachzudenken, wie wir das machen. Durchdas Petitionswesen ist uns ein Seismograf in die Handgegeben. Da ist noch Handlungsbedarf vorhanden. Aberdafür brauchen wir kein Gesetz, sehr verehrte Frau Nau-mann.Ich nehme immer wieder einmal Praktikanten mit inden Petitionsausschuss. Diese stellen fest: In diesemAusschuss herrscht eine besondere Atmosphäre. – Wennich meine Kolleginnen und Kollegen so anschaue, dannstelle ich fest: Das ist so. Man geht aufeinander zu undman nimmt Rücksicht. Das Ziel ist, das Anliegen desBürgers möglichst durchzusetzen. Das ist gut so. Dass eshier weniger um parteipolitische Spielchen geht, sei hiernoch einmal erwähnt. Wir loten bei fast jeder Petitionaus, ob eine einstimmige Beschlussfassung möglich ist.Dabei gibt jede Seite einmal nach; das sei gerade denvielen Zuhörerinnen und Zuhörern hier gesagt. Geradedeswegen sind wir im Petitionsausschuss so erfolgreich:Weil wir nicht so starke gesetzliche Einschränkungenhaben und deshalb unsere Arbeit freier gestalten können.Nicht jede Petition – auch das möchte ich sagen, dennwir stehen kurz vor Wahlkampfzeiten – eignet sich fürparteipolitische Kampagnen in den Wahlkreisen. DieseBemerkung richtet sich sicherlich ein bisschen mehr andie eine oder andere Seite, aber sie gilt für uns alle.Meine Damen und Herren, auf die flexiblen Hand-lungsmöglichkeiten habe ich bereits hingewiesen. Diebestehenden rechtlichen Bestimmungen reichen unsererAnsicht nach aus. Das Gute ist, dass der Bundestag siealleine ausgestalten kann. Wenn wir eine spezielle ge-setzliche Regelung einführen würden, müssten unterUmständen andere Verfassungsorgane, beispielsweiseder Bundesrat oder der Bundespräsident, diese mit be-schließen oder unterzeichnen. Damit würde Einfluss aufunser Petitionsrecht genommen. Ob das sinnvoll undhilfreich ist, möchte ich mit einem ganz dicken Fragezei-chen versehen. Der Wissenschaftliche Dienst hat – einerder Vorredner hat schon darauf hingewiesen – im Jahre2007 ein Gutachten dazu vorgelegt, aus dem ich einenSatz zitieren möchte:Ein Gesetz eröffnet Mitwirkungsmöglichkeiten an-derer Verfassungsorgane und beeinträchtigt die Ge-schäftsordnungsautonomie des Bundestages.Meine Damen und Herren, ich plädiere nicht für Still-stand. Vielmehr müssen wir unser Petitionswesen stän-dig weiterentwickeln. Wir bekommen genügend Hin-weise. Kollege Winkler, Kollegin Pfeiffer und ich habenbeispielsweise vor vier Jahren bei einem Besuch desschottischen Parlaments tiefschürfende Erkenntnisse ge-wonnen, auf deren Grundlage wir unser Petitionswesenweiterentwickeln konnten. Wir haben unter anderem dieMöglichkeit elektronischer Petitionen eingeführt. Auf-grund von Art. 17 des Grundgesetzes war es in verfas-sungsrechtlicher Hinsicht gar nicht so leicht, das umzu-setzen. Wir haben es aber getan, und die Bürgerinnenund Bürger nehmen dieses Instrument sehr stark an. Ichbin froh und dankbar, lieber Kollege Winkler, dass wirdas damals in der SPD-Grünen-Koalition massiv voran-getrieben haben. Der eine oder andere musste zum Jagen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22161
(C)
(D)
Klaus Hagemanngetragen werden; aber heute sind alle froh, dass wir ent-sprechende Regelungen getroffen haben. Die Evalua-tionsberichte, die inzwischen vorliegen, machen deut-lich, dass wir richtig gehandelt haben und den richtigenWeg gegangen sind.Die Verfahrensregeln, liebe Kollegin Naumann, ma-chen auch deutlich, welche Werkzeuge uns an die Handgegeben worden sind. Auf die Vor-Ort-Termine hat derKollege Baumann bereits hingewiesen. Ich erinnere bei-spielsweise an die beeindruckenden Vor-Ort-Termine inRamstein, wo es um den Fluglärm ging, wo wir uns mitBürgerinitiativen unterhalten haben, und in Völklingen,wo es um Senkungen von Häusern durch den Bergbauging. Bei diesen Terminen kümmern wir uns um die In-teressen der Bürger und können dann auch etwas bewe-gen.Ein anderes Werkzeug ist, Regierungsvertreter einzu-laden. Hier verweise ich beispielsweise auf die großeAnhörung zum Thema „Generation Praktikum“, die wirdurchgeführt haben. Bei der letzten Beratung des The-mas hat die Bundesregierung kein sehr gutes Bild abge-geben; ein Ministerium hat gute Vorschläge gemacht, einanderes blockiert diese. Auch das muss aufgegriffenwerden. Da streuen wir ab und zu Salz in die Wunden.Dazu gehören auch die Berichterstattergespräche. Aufder Tagesordnung des Obleutegesprächs standen diesmalfünf, sechs Termine für Berichterstattergespräche mitRegierungsvertretern. Aus den Ministerien wissen wir,dass bei den Regierungsvertretern keine Freude auf-kommt, wenn sie zu Berichterstattergesprächen kommenmüssen, weil wir immer wieder den Finger in die Wundelegen.Was die Akteneinsicht angeht, gibt es tolle Beispieledafür, wodurch wir Menschen helfen konnten. Auch dakommt in den Ministerien keine Freude auf. Aber derPetitionsausschuss ist ja nicht dazu da, für Freude zu sor-gen, sondern er soll die Interessen der Bürgerinnen undBürger wahrnehmen. Denn das Petitionsrecht, liebe Kol-legin Naumann, ist ja auch ein Individualrecht. Deswe-gen ist es auch gar nicht möglich, grundsätzlich öffentli-che Petitionsausschusssitzungen durchzuführen. Diessoll etwas Besonderes sein. Im Jahre 2005 haben wireingeführt, dass öffentliche Petitionsausschusssitzungenstattfinden können. Dies wird auch angenommen; siefinden Interesse.Im Hinblick auf das Beispiel der Heimkinder der40er-, 50er- und 60er-Jahre ist zu sagen – da schließe ichmich Ihnen, Herr Ackermann, voll und ganz an –: Wirhaben durch ein kluges und rücksichtsvolles Vorgehenviel erreicht. Es wäre schön, wenn Frau von der Leyen esso umsetzen würde, wie es der Petitionsausschuss vorge-schlagen hat. Ich hoffe, dass wir zu entsprechenden Re-gelungen und Ausführungen kommen.Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:Wir haben genügend Handwerkszeug, um unsere Arbeitals Petitionsausschuss im Interesse des einzelnen Bür-gers und der einzelnen Bürgerin zu machen. Wir werdendeshalb Ihrem Gesetzentwurf, Frau Naumann, nicht zu-stimmen, obwohl das eine oder andere, was Sie vorge-schlagen haben, recht vernünftig ist, beispielsweise dieAspekte unter dem Stichwort „Sprache“. Da muss nochgehandelt werden. Wir müssen unsere Beschlussempfeh-lungen in einer verständlicheren Sprache abfassen. Dassind aber Detailarbeiten; dafür brauchen wir keine ge-setzliche Regelung.Vielen Dank, dass ich meine Rede zu Ende führendurfte.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun derKollege Josef Winkler das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!„Das Petitionsrecht ist bürgerfern und zersplittert …“, sosteht es im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke.
Die Fraktion Die Linke hält unser Petitionsrecht also fürbürgerfern. Aber es kommt noch besser – ich zitiere auseinem anderen Teil des Gesetzentwurfs –:Zuständig für die vom Petitionsausschuss zu bean-tragenden gerichtlichen Maßnahmen ist das Amts-gericht Berlin-Tiergarten.Die Linke hält unser Petitionsrecht also für bürgerfernund zersplittert und will daher die Gerichte bemühen,damit diese die Aufgaben des Parlaments erfüllen. Ei-gentlich könnte man den Gesetzentwurf schon an dieserStelle wieder zuklappen und die Rede beenden.
Aber um 15.22 Uhr darf man noch ein bisschen weiter-sprechen. Mit der Realität unserer Arbeit im Petitions-ausschuss hat das, was wir von Ihnen, Frau Naumann,vorgetragen bekommen haben, meiner Meinung nach re-lativ wenig zu tun. Sie müssten es als Vorsitzende desAusschusses eigentlich besser wissen.Der Petitionsausschuss ist eine der bürgerfreundlichs-ten staatlichen Institutionen in diesem Land, und das Pe-titionsrecht aus Art. 17 des Grundgesetzes ist eines unse-rer stärksten Bürgerrechte. Die Bürgerinnen und Bürgerwenden sich auch an das Parlament. Frau Naumann, Sieargumentieren anlässlich der Jahresberichtsdebatte im-mer wieder: Wenn es mehr Petitionen gibt, dann hat dieRegierung schlechter gearbeitet. – So kann man nicht ar-gumentieren. Ich freue mich, wenn es mehr Petitionengibt, auf die Mehrarbeit im Ausschuss; denn dann kön-nen wir uns um die Anliegen der Bürgerinnen und Bür-ger auch mehr kümmern.Während Sie drei Jahre lang an Ihrem Gesetzentwurfgearbeitet haben, haben wir – zwar mit Ihrer Mithilfe;
Metadaten/Kopzeile:
22162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Josef Philip Winklerheute habe ich aber den Eindruck, dass das eher unter Ih-rer Duldung geschehen ist – die Möglichkeit öffentlicherPetitionen und öffentlicher Ausschusssitzungen einge-führt. Wir haben im Ausschuss sogar einmal in öffentli-cher Sitzung eine Petition beschlossen. Wir haben Mas-senpetitionen beraten, die von Zehntausenden Menschenunterschrieben wurden. Das Einreichen von Petitionenist jetzt auch elektronisch möglich. Wir sind also schonviele Schritte gegangen.Im Hinblick auf das Selbstaufgriffsrecht bin ich nichtgar so kritisch. Unsere Fraktion kann sich vorstellen – wirhatten das schon einmal in der 11. und in der 13. Wahl-periode vorgeschlagen –: Wenn es ein Petitionsaus-schussmitglied im Zusammenhang mit der Sachaufklä-rung im Rahmen einer Petition für richtig hält, einenRandaspekt oder einen anderen Aspekt, der mit dem Ge-genstand der Petition zu tun hat, näher zu beleuchten,dann wäre es sinnvoll, dies zu ermöglichen. Das aber,was Sie dazu vorschlagen, geht weit darüber hinaus. Wirkönnen uns das nur in begrenzten Ausnahmefällen vor-stellen. Man sollte das Petitionsrecht nicht überfrachten.Sie haben gefordert – Kollege Baumann hat daraufhingewiesen –, dass 1,25 Mitglieder des AusschussesMinderheitenrechte in Anspruch nehmen können sollten.Dazu würde ich jedoch sagen: Das übliche Verfahren ge-mäß der Geschäftsordnung des Bundestages ist, dass jenach parlamentarischem Vorgang eine Fraktion, fünfvom Hundert oder ein Drittel bzw. ein Viertel der Mit-glieder des ganzen Hauses mit über 600 Abgeordnetenbestimmte Rechte beanspruchen können.Es wäre interessant, herauszufinden, wie Sie auf 5 Pro-zent des Ausschusses gekommen sind. Doch das würdeheute zu weit führen.In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass öffentliche Über-gaben von Petitionen durchgeführt werden können. Siewollen das normieren.
Ich nutze diese Gelegenheit, um die Öffentlichkeit da-rauf hinzuweisen – ich habe das an anderer Stelle schoneinmal getan –, dass die Linksfraktion schuld daran ist,dass der Ausschuss zurzeit keine öffentlichen Petitionenentgegennimmt.
Sie hat dieses Instrument nämlich mehrfach
für Kinkerlitzchen und kleinliche parteipolitische Spiel-chen genutzt.
Sie sind bis heute nicht bereit, uns zuzusichern, damitaufzuhören. Wenn Sie uns das zusicherten, könnten dieObleute aller Fraktionen schon morgen wieder gemein-sam öffentliche Petitionen entgegennehmen.
Sie haben diese Zusage bis heute nicht gegeben. Damithaben Sie dem Petitionsrecht einen Schaden zugefügt.Deswegen habe ich leider keine andere Möglichkeit, alsmeiner Fraktion für die weitere Beratung die AblehnungIhres Gesetzentwurfs zu empfehlen.Herzlichen Dank.
Der Kollege Siegfried Kauder hat nun für die Unions-fraktion das Wort.
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Es bringt mehrTransparenz und mehr Rechte für die Bürgerinnen undBürger. Das hören die Damen und Herren auf der Besu-chertribüne, denen wir dafür danken, dass sie uns zuhö-ren, gern. Das hören auch die Zuschauerinnen und Zu-schauer an den Fernsehschirmen gern.Doch das Ganze hat etwas Rattenfängerisches. Dassdas, was die Linken vorschlagen, nicht im Interesse desBürgers ist, sieht man sehr schnell daran, dass sie eineöffentliche Beratung im Petitionsausschuss vorsehen.Werden persönliche Belange eines Petenten berührt, solldie Öffentlichkeit ausgeschlossen werden – nicht: muss.Wenn es um die Interessen des Bürgers geht, muss derbetroffene Bürger einen Anspruch darauf haben, dass dieÖffentlichkeit ausgeschlossen wird, und er muss ange-hört werden. Das sind elementare Rechte, die zu berück-sichtigen sind. Sie haben diese Rechte nicht vergessen,auf diese Rechte kommt es Ihnen nicht an, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von den Linken.Sie wollen nicht nur eine öffentliche Erörterung vonThemen, die die Privatsphäre berühren. Sie wollen auch,dass 5 Prozent der Mitglieder des Petitionsausschussesden Ausschuss dominieren können. Zwei Mitglieder desPetitionsausschusses können beantragen, dass eine Be-weisaufnahme durchgeführt wird, so, als wären wir vorGericht. Derjenige, der als Zeuge gehört wird, soll auchnoch vereidigt werden können. Das gibt es nicht einmalmehr im Strafprozess. Wer sich § 59 der Strafprozess-ordnung anschaut, der weiß, dass die Vereidigung die ab-solute Ausnahme ist.Man könnte das alles ein bisschen abkürzen. Wennman die Rechte der Linken stärken wollte – das bezwe-cken Sie –, dann würde es genügen, wenn man inArt. 45 c des Grundgesetzes aufnehmen würde: Der Pe-titionsausschuss hat die Rechte eines Untersuchungsaus-schusses. Genau diese Rechte wollen Sie haben.Wenn Sie in das Gesetz zur Regelung des Rechts derUntersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestagesschauen, stellen Sie sehr schnell fest, dass dort zwar
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22163
(C)
(D)
Siegfried Kauder
Minderheitenrechte vorgesehen sind, entsprechende An-träge aber nicht von lediglich 5 Prozent der Mitgliederdes Ausschusses, sondern von 25 Prozent, also von ei-nem Viertel der Mitglieder des Ausschusses gestellt wer-den müssen, damit sie umgesetzt werden können. Ichfinde es nicht fair, was Sie hier der Öffentlichkeit darzu-stellen versuchen.
Sie wollen mehr Rechte für die Linke und haben eiskaltkalkulierend einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nur IhreRechte stärken soll.Sie fordern ein Selbstbefassungsrecht. Zwei Mitglie-der des Petitionsausschusses sollen entscheiden können,womit sich der Petitionsausschuss befasst. Es sollennicht nur Beschwerden der Bürger, sondern ganz be-wusst auch Bitten berücksichtigt werden. Beschwerdenreichen in die Vergangenheit hinein, Bitten zielen auf dieZukunft ab. Sie wollen damit gesetzgeberische Initiati-ven über den Petitionsausschuss in das Parlament brin-gen und so deren Behandlung erzwingen.Meine Damen und Herren, es ist schade, dass wir aufdiesem Niveau über Rechte der Bürgerinnen und Bürgersprechen müssen. Auf einen groben Klotz gehört eingrober Keil. Deswegen bin ich deutlich geworden. DieMenschen, die uns zuhören und zuschauen, müssen wis-sen, dass man Rattenfängern nicht folgen soll. Diese bei-den Gesetzentwürfe kann man nur ablehnen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 16/10397 und 16/10385 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten BerndSiebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU,der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-PeterBartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD,der Abgeordneten Elke Hoff, Birgit Homburger,Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP sowie der AbgeordnetenWinfried Nachtwei, Omid Nouripour, RenateKünast, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBetreuung bei posttraumatischen Belastungs-störungen stärken und weiterentwickeln– Drucksache 16/11882 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Rainer Arnold,Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDBetreuung bei posttraumatischen Belastungs-störungen stärken und weiterentwickeln– Drucksachen 16/11410, 16/11842-Berichterstattung:Abgeordnete Monika BrüningJörn ThießenElke HoffDr. Hakki KeskinWinfried Nachtweic) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Hoff,Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPMedizinische Versorgung der Bundeswehran die Einsatzrealitäten anpassen – Kompe-tenzzentrum für posttraumatische Belas-tungsstörungen einrichten– zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer
, Inge Höger, Monika Knoche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAdäquate Behandlungs- und Betreuungs-kapazitäten für an posttraumatischen Belas-tungsstörungen erkrankte Angehörige derBundeswehr– Drucksachen 16/7176, 16/8383, 16/10024 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernd SiebertJörn ThießenElke HoffPaul Schäfer
Winfried NachtweiNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-minister Dr. Franz Josef Jung.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-gung:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Bundeswehr ist zwischenzeitlich eine Ar-mee im Einsatz für den Frieden. Sie ist gut ausgebildet,ordentlich ausgerüstet und gut motiviert. Aber in diesen
Metadaten/Kopzeile:
22164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Franz Josef JungEinsätzen sind die Soldatinnen und Soldaten besonderenGefahren für Leib und Leben ausgesetzt.Deshalb denke ich, dass es richtig ist, dass sich derDeutsche Bundestag mit dieser Gefahrensituation, wasdie psychische Belastung anbetrifft, konkret beschäftigt.Denn ich finde, dass unsere Soldatinnen und Soldatengerade im Hinblick auf diese Herausforderung, die Ge-fahr für Leib und Leben, unsere allgemeine Unterstüt-zung verdient haben.
Die seelischen Verwundungen sind aus meiner Sichtgenauso ernst zu nehmen wie körperliche Verwundun-gen. Deshalb ist es, wie ich finde, gut gewesen, dass bei-spielsweise die ARD mit dem Film Willkommen zuHause dieses Thema ins Bewusstsein der breiten Öffent-lichkeit gerückt hat.
Ich bin dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen dankbar,dass dadurch die Problematik, die sich für unsere Solda-tinnen und Soldaten ergibt, verstärkt ins Bewusstsein derÖffentlichkeit gelangt.
Die Bundeswehr hat die Bedeutung der posttraumati-schen Belastungsstörung – allgemein wird auch vomRückkehrertrauma gesprochen – erkannt und handelt imInteresse unserer Soldatinnen und Soldaten. Seit Beginnder Auslandseinsätze hat die Bundeswehr die Behand-lungs- und Betreuungsmaßnahmen ständig ausgebaut.Unser derzeitiges Konzept lautet: Vorbereitung, Durch-führung und Nachbereitung von Einsätzen. Das Ziel istdie frühzeitige Diagnostik und schnelle und gezielteHilfe – je früher, desto besser. Das gilt besonders mitBlick auf unsere Soldatinnen und Soldaten, weil teil-weise in der Öffentlichkeit, aber auch von den Betroffe-nen selbst eine solche Verwundung – wie ich sie be-zeichne – immer noch als Schwäche empfunden wird.Deshalb glaube ich, dass wir dagegen angehen und deut-lich machen müssen: Je schneller sich unsere Soldatin-nen und Soldaten in ärztliche Behandlung begeben,umso größer ist die Chance auf Gesundung. Deshalb istdas ein richtiger und wichtiger Schritt, um die Behand-lung effektiver zu gestalten.
Wir haben unsere Vorsorge in drei Abschnitte geglie-dert:Erstens. Das Thema Psychotraumatologie ist festerBestandteil der vorbereitenden Ausbildung.Zweitens. Im Einsatz bemühen wir uns ebenfalls umdie psychische Stabilisierung der Soldatinnen und Solda-ten.Drittens. Für die heimkehrenden Soldaten haben wirein psychosoziales Netzwerk aufgebaut: über den Sani-tätsdienst, den psychologischen Dienst, den Sozial-dienst, die Militärseelsorge und die Truppe. Dieses Netz-werk bietet standortnah allen Soldatinnen und Soldatenrund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr kompetente Hilfeund Unterstützung an. Wir haben eine anonyme Online-beratung unter www.angriff-auf-die-seele.de eingerich-tet. Wir werden ebenfalls eine anonyme Telefonhotlineeinrichten. Ich will auch darauf hinweisen, dass die Un-terstützung der Familien besonders wichtig ist. In demZusammenhang spielen die Familienbetreuungszentreneine wichtige Rolle.Im Krankheitsfall erfolgt eine effektive Behandlungin unseren fünf Bundeswehrkrankenhäusern und den14 fachärztlichen Untersuchungsstellen für Psychiatrie.Wir kooperieren auch mit zivilen Kliniken; denn – da-rauf will ich hinweisen – dies ist kein Problem, das nurSoldatinnen und Soldaten betrifft. Unter solchen psychi-schen Belastungen leiden auch Mitarbeiter der Polizeiund der Feuerwehr sowie Menschen, die aus Bürger-kriegsgebieten zu uns kommen.Wir richten einen Arbeitsbereich „Psychische Ge-sundheit“ beim Institut für Medizinischen Arbeits- undUmweltschutz der Bundeswehr hier in Berlin ein. Er sollab Mitte des Jahres die Forschung auf diesem Gebietstärken. Hierbei werden die Fachabteilungen für Psychi-atrie an den Bundeswehrkrankenhäusern, der Psycholo-gische Dienst der Bundeswehr und die zivilen Einrich-tungen eingebunden. So entsteht ein Forschungs- undKompetenzzentrum der Bundeswehr.Es trifft zu: Die Anzahl der Soldatinnen und Soldatenmit einer posttraumatischen Belastungsstörung ist ange-stiegen. Im Jahre 2005 gab es 121 Fälle, im Jahre 2008gab es 245 Fälle; diese sind im Wesentlichen auf Ein-sätze in Afghanistan zurückzuführen. Der Durchschnittliegt in etwa bei 1 Prozent. Damit liegen wir im interna-tionalen Vergleich recht gut. Den Anstieg, den wir ver-zeichnen, nehmen wir sehr ernst. Natürlich liegt die stei-gende Zahl der Fälle an der Einsatzintensität, aber auch– das ist unsere Erkenntnis – an der Zunahme der Bereit-schaft unserer Soldatinnen und Soldaten, sich in ärztli-che Behandlung zu begeben.Ich kann unterstreichen, dass aus meiner Sicht – dazuträgt auch diese Debatte bei – die Sensibilität für dieseErkrankung spürbar zugenommen hat. Deshalb, denkeich, ist es richtig und gut, unseren Soldatinnen und Sol-daten diese Behandlungsmethoden anzubieten und zurVerfügung zu stellen, aber auch alles zu tun, damit schonerste erkannte Symptome sofort behandelt werden, weildies zur schnellstmöglichen Heilung beiträgt.
Unser Ziel ist es, ein Auftreten dieser seelischen Krank-heit möglichst zu verhindern, aber im Krankheitsfall diebestmögliche Behandlung und Versorgung unserer Sol-datinnen und Soldaten sicherzustellen.Insofern bin ich dem Deutschen Bundestag sehr dank-bar, dass er sich mit diesem Thema beschäftigt. Es ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22165
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Franz Josef Jungwichtig, deutlich zu machen, dass wir alle Anstrengun-gen unternehmen, um unseren Soldatinnen und SoldatenHilfe zuteil werden zu lassen. Es ist ebenso wichtig,diese Problematik in die Öffentlichkeit zu tragen. Denndas, was unsere Soldatinnen und Soldaten leisten, istletztlich im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnenund Bürger. Sie setzen sich Gefahren aus und riskierenLeib und Leben. Deshalb haben sie unser aller Unterstüt-zung verdient.Haben Sie recht schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich sehrdarüber freue, dass es uns im Deutschen Bundestag ge-lungen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu die-sem wichtigen Thema auf den Weg zu bringen und heutezu verabschieden. Ich glaube, damit senden wir ein star-kes Signal an die Bundeswehr, dass wir am Schicksal,das unsere Soldatinnen und Soldaten zu tragen haben,Anteil nehmen. An dieser Stelle sollten wir auch einDankeschön an die Soldaten richten, die den Mut hatten,an die Öffentlichkeit zu gehen und sich dazu zu beken-nen, dass es hier ein Problem gibt, mit dem sie sichselbst, mit dem sich aber auch ihre Familien auseinan-dersetzen müssen, und das im Grunde auch ein Ergebnisdessen ist, was wir hier beschließen.
Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, dasswir uns an dieser Stelle auch mit der Kehrseite der Me-daille befassen. Wir müssen unseren Soldaten das Ge-fühl geben, dass wir sie ernst nehmen. Wir wissen, dasssie in ihren Einsätzen die extremsten Erlebnisse machen,die ein Mensch machen kann: dass ein Kamerad stirbt,dass Kameraden verwundet werden, dass man selbst zuSchaden kommt und dass daher auch die eigene Familieunter Druck steht. Damit müssen wir uns im DeutschenBundestag gemeinsam befassen.Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie heutesehr deutliche Worte gefunden und die Bereitschaft IhresHauses dokumentiert haben, sich dieses Themas anzu-nehmen. Sie können davon ausgehen, dass das Parla-ment diese Schritte begleiten wird. Die Einmütigkeit, dieim Deutschen Bundestag in dieser Angelegenheitherrscht, finde ich beispielhaft. Wenn Sie sich intensivermit diesem Thema beschäftigen, sollten Sie auch dieProbleme berücksichtigen, die viele verbündete Natio-nen mit Rückkehrern, die unter Traumata leiden, haben,und aus den teilweise gravierenden Fehlern, die in die-sem Zusammenhang gemacht werden können und ge-macht wurden, lernen.Ich bin der Meinung, wir sollten uns besser schonjetzt mit diesen Themen befassen, präventiv tätig seinund die Erfahrungen, die bereits gemacht wurden, sam-meln, als uns irgendwann den Vorwurf machen lassen zumüssen, wir hätten zu spät gehandelt und das, was un-sere Soldatinnen und Soldaten für uns leisten, nicht ge-würdigt.
Ich finde es auch richtig, dass Sie, Herr Minister, be-sonders auf die Betroffenheiten der Familien hingewie-sen haben. In den Zuschriften von Familienangehörigen,die mich erreichen – viele meiner Kollegen sicherlichauch –, lese ich sinngemäß immer wieder: Unsere Söhneund Töchter gehen mit sehr viel Engagement und Moti-vation in den Einsatz. Wir allerdings sind zu Hause. Wirwerden tagtäglich mit den Bildern in der Presse konfron-tiert, sind bedrückt und belastet. Wie es uns geht undwelche Ängste wir haben, das können nur die wenigstenverstehen.Insofern ist es wichtig, einen umfassenden Ansatz zuverfolgen. Familienbetreuungszentren können dabei eineherausgehobene Rolle spielen, das ist gut und richtig.Wenn die Entscheidungen anstehen, Kompetenzzentrenaufzubauen und geeignete Angebote zu entwickeln, soll-ten wir die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zurVerfügung stellen.
Jetzt erwarten die Soldaten von uns, dass unserenWorten und Beschlüssen auch Taten folgen. Herr Minis-ter, Sie können sich der breiten Unterstützung des Deut-schen Bundestages sicher sein. Alle Maßnahmen, die Sieauf diesem Gebiet ergreifen, werden von uns unterstützt,auch im Hinblick auf die Bereitstellung der finanziellenMittel.An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich beiden Kolleginnen und Kollegen des Fachausschusses da-für bedanken, dass es uns gelungen ist, bei diesemThema Einigkeit zu erzielen, sodass wir heute gemein-sam ein starkes Signal an unsere Soldatinnen und Solda-ten senden können. Ich hoffe sehr, dass das Angebot deranonymen Hotline in Anspruch genommen wird. So-wohl die Kameraden, die sich bisher in der Öffentlich-keit geäußert haben, als auch die Entschlossenheit desDeutschen Bundestages sollen die Soldatinnen und Sol-daten motivieren, über Probleme, die sie haben, zu re-den. Sie sollen wissen, dass sie professionell aufgefan-gen und aufgenommen werden. Mein herzlicher Dankgilt allen, die daran mitgewirkt haben. Herr Minister,viel Glück, alles Gute und „Toi, toi, toi!“ für die Umset-zung!Danke schön.
Metadaten/Kopzeile:
22166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Jörn
Thießen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als ich mich zum ersten Mal mit dem Thema „Posttrau-matische Belastungsstörungen“ beschäftigt habe, habeich mich an ein Erlebnis erinnert, das ich als Kind hatte.Damals hatte ich einen Onkel Hans. Auf dem Fernseherin seinem Wohnzimmer stand das Foto eines jungenMannes mit Trauerflor. Ich habe Onkel Hans gefragt:„Wer ist das?“ Er hat einsilbig geantwortet, das sei seinSohn gewesen; er wolle darüber nicht sprechen. Alsmeine Mutter und ich das Haus verlassen hatten, hat siemich gebeten, Onkel Hans nicht noch einmal darauf an-zusprechen. Er selbst sei im Krieg gewesen, sein Sohnsei im Krieg gefallen, und er könne über keines dieserErlebnisse sprechen; ich möge ihn nicht mehr fragen.Wir wissen, dass die Grauen, die Menschen aushaltenmussten, eine lange Geschichte haben. Die Menschen,die darüber krank geworden sind, sind immer anders be-nannt worden. Das waren „Kriegszitterer“, die hatten„Granatenfieber“, die sind mit einer „Schützengraben-neurose“ aus dem Krieg wiedergekommen. Diese Men-schen sind zeitlebens verstummt, haben zeitlebens unterdiesem Schicksal gelitten. Aus „Kriegsneurose“ wurde„Kriegsmüdigkeit“, dann „operative Erschöpfung“.Heute sprechen wir von einer „posttraumatischen Belas-tungsstörung“. Das ist ein Weg der Erkenntnis, aber auchein Weg der Aufmerksamkeit.Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen Bundes-tag in seltener Einigkeit das wichtige Signal eines ge-meinsamen Antrages aussenden. Das sendet ein Signalan die Betroffenen, an die bisher Schweigenden, an die,die sich noch nicht gezeigt haben, es sendet aber auchein Signal an ihre Familien, an die Soldatinnen und Sol-daten im Einsatz, an die Öffentlichkeit – dass es uns umdiese Menschen geht – und nicht zuletzt an die Verant-wortlichen in der Bundeswehr selbst. Dem gesamtenDeutschen Bundestag liegt viel an einer intensiven Aus-einandersetzung mit diesem Thema.Herr Minister, wir begrüßen, dass sich das Bundesmi-nisterium der Verteidigung sichtbar bewegt hat. Wasman in den letzten Tagen auf der Internetseite der Bun-deswehr erfreulicherweise hat lesen können, wäre nochvor wenigen Monaten nicht recht denkbar gewesen. Da-für bedanke ich mich, und ich wünsche Ihnen auf demweiteren Wege viel Glück!
Wir danken auch denjenigen, die sich dieser Proble-matik intensiv angenommen haben, zum BeispielOberstarzt Dr. Biesold aus Hamburg, der viel geforschthat und viele Anregungen gegeben hat.Wir danken aber auch dem Bundeswehrverband, derdie Betroffenen aus der Anonymität herausgeholt hat,uns Abgeordneten die Chance gegeben hat, mit ihnen zureden, sie kennenzulernen. Das hat uns allen, über dieFraktionsgrenzen hinweg, viele Erkenntnisse ermög-licht.Ich bedanke mich bei denjenigen in den Fraktionen,die diesen Antrag mit vorbereitet haben, namentlich beimeiner Kollegin Monika Brüning, aber auch bei allenanderen, deren Forderungen wir in diesen Antrag habenaufnehmen können.Wir wissen, dass auch der Wehrbeauftragte eine wich-tige Rolle gespielt hat, nämlich indem er immer wiederauf dieses Thema hingewiesen hat. Ich ermutige Sie,Herr Wehrbeauftragter, auch in Zukunft ihre Aufmerk-samkeit genau darauf zu richten und zu verfolgen, wel-che Fortschritte wir gemeinsam machen.Wir bekommen E-Mails, und wir bekommen Briefe;Frau Kollegin Hoff, da geht es mir wie Ihnen und ande-ren. Schauen Sie sich auch den Chat an, den das Bundes-ministerium für Verteidigung im Internet veröffentlichthat! Was die Betroffenen schildern, das sind Schicksale,da sind Menschen in großer Not.Es ist für Soldatinnen und Soldaten angesichts desSelbstbildes eines „starken Menschen“, das sie haben,nicht leicht, sich im Vertrauen an Familienangehörige,an Seelsorger, an Vorgesetzte zu wenden. Doch das istwichtig. Die Dunkelziffer, von der wir ausgehen müssen,ist nämlich hoch. Deswegen ist die Studie, die wir anre-gen, richtig, und sie wird uns wichtige Erkenntnisse ge-ben.Der Einsatz der Streitkräfte ist in keiner Weise einSpiel, übrigens weder im Inland noch im Ausland. Keinenoch so gute Übung kann vorbereiten auf Gewaltsitua-tionen, wie Menschen sie erleben und bei denen sieSchaden nehmen müssen. PTBS ist an sich, im Beginn,eine gesunde Reaktion auf einen Schock, auf ein Erleb-nis, das jemand noch nie gehabt hat. Doch dieser Schockkann sich in einer Krankheit manifestieren, die soschnell wie möglich bekämpft werden muss. Manchmaltritt PTBS erst Jahre nach dem entsprechenden Erlebnisauf.Sogenannten harten Männern und Frauen fällt esnicht leicht, zuzugeben, wenn sie Probleme haben. Des-wegen ist es richtig, dass Auslandseinsätze sorgfältigvorbereitet werden. Wir brauchen genügend Psycholo-gen und Seelsorger. Aber auch auf die Nachbereitungmüssen wir großen Wert legen. Die Familienbetreuungs-einrichtungen müssen für dieses wichtige Thema sensi-bilisiert werden. Das gilt auch für die Vorgesetzten aufallen Ebenen. Die Soldaten, die am Ende dauerhaft da-runter leiden, müssen sich sicher sein, dass ihre Versor-gung auf dem richtigen Niveau erfolgt.In der Bundeswehr gibt es heute nach der Aktenlage,die ich kenne, 42 Dienstposten für Psychiater. Davonsind nur 21 besetzt. 5 von diesen 21 sind speziell inTraumatherapie ausgebildet. Es gibt 14 Dienstposten fürPsychologen, wovon 12 besetzt sind. Von diesen ist dieHälfte speziell ausgebildet. Herr Minister – ich sprechegleichzeitig auch diejenigen an, die dafür eine Mitver-antwortung tragen –, hier liegt noch ein Weg vor uns.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22167
(C)
(D)
Jörn ThießenWir wollen ein ernsthaftes und echtes Kompetenz-und Forschungszentrum für die Behandlung von PTBSin der Bundeswehr. Ich habe nichts dagegen, dass wirdies zunächst beim Institut für den Medizinischen Ar-beits- und Umweltschutz der Bundeswehr ansiedeln,aber es darf dort nicht zum inhaltlichen Nebengelasswerden, sondern es muss dort im Zentrum der Arbeitund der Aufmerksamkeit stehen. Ich hoffe sehr, dass dasunser gemeinsames Ziel ist.
Herr Minister, wir werden diese Entwicklung, für dieviele hier im Hause – ich denke, ich kann für alle oderzumindest für fast alle sprechen – dankbar sind und fürdie wir eine Menge gearbeitet haben, und die Umsetzungder Forderungen sehr genau betrachten. Wir erwartenvon der Bundesregierung noch in dieser Legislatur-periode einen konkreten Zeit- und Handlungsplan, ausdem hervorgeht, wie und wann sie diese Forderungen inunserem Antrag umzusetzen gedenkt.Wir wissen, dass es Schwierigkeiten damit gebenkann. Wir wissen auch, dass es Bedenken gibt, wir sinduns aber gewiss, Herr Minister, dass Sie für einen Fort-schritt offen sind, und wir werden Sie bei dieser Gele-genheit freundlich, hilfreich und sehr aufmerksam be-gleiten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass der Bundes-tag in Sachen posttraumatisches Belastungssyndrom ei-nen Handlungsbedarf erkennt. Wir werden sehr daraufachten müssen, dass das, was heute hier beschlossenwird, auch tatsächlich umgesetzt wird.Es ist leider immer wieder dieselbe Geschichte: DieBetroffenen müssen sich zu Wort melden, sie müssensich zusammentun – wie im Verein Skarabäus in derBundeswehr –, sie müssen Interessensverbände gewin-nen, Journalisten überzeugen, die Öffentlichkeit sensibi-lisieren, und aus dem Parlament heraus müssen Initiati-ven entwickelt werden. Erst dann wacht die Regierungauf. Selbst dann noch haben wir es leider – auch in ande-ren Fällen – erlebt, dass der Regierungsapparat versucht,zu mauern. Ein abschreckendes Beispiel sind nach wievor die durch Radarstrahlen Geschädigten aus der Bun-deswehr und der NVA, die immer noch Klage über einehartherzige Bürokratie führen. Wir hoffen, dass das indiesem Falle anders läuft.Mit den Erkrankungen, um die es hier geht – das istauch schon gesagt worden –, wird in verschiedener Hin-sicht an Tabus gerührt:Am Selbstverständnis der Soldaten. Den harten Jungsdarf es doch nicht passieren, dass sie aus dem seelischenGleichgewicht geraten. Das hat leider dazu geführt, dassman gesagt hat, die psychischen Probleme seien Privat-sache, dass das Phänomen verdrängt und nicht rechtzei-tig erkannt wurde, dass die Dunkelziffer hoch ist unddass Betroffene isoliert sind oder sich selber isolieren.Die Führung sieht durch dieses Phänomen die Moralder Truppe allzu schnell gefährdet. Auch deshalb gibt esden Hang, lieber den Mantel des Schweigens darüberauszubreiten.Schließlich fürchtet die staatliche Bürokratie nichtsmehr als Präzedenzfälle und Ansprüche auf Entschädi-gungszahlungen, die von denjenigen geltend gemachtwerden könnten, deren Wehrdienstfähigkeit nicht mehrgegeben ist. Daher mussten sich die Betroffenen über ei-nen längeren Zeitraum leider nicht nur um ihre medizini-sche Behandlung kümmern, sondern auch um ihre Aner-kennung als Kranke ringen. Ich finde, das ist gänzlichinakzeptabel. Ich hoffe, dass das jetzt wirklich Ge-schichte ist.
Es geht darum, die Sensibilität in diesem Bereich um-fassend zu stärken und den Tabus entgegenzuarbeiten.Die Betroffenen müssen schnell und jederzeit Ansprech-stellen finden. Der Vorschlag der Einrichtung eineranonymen Hotline wird hoffentlich aufgegriffen. Vor al-lem die Forschung muss vorangebracht werden, um da-mit die Möglichkeiten der Heilung zu verbessern. DasKompetenz- und Forschungszentrum der Bundeswehr isterwähnt worden. Wir brauchen einen großherzigen undverständnisvollen Umgang mit den erkrankten Men-schen. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger alsum ein umfassendes Betreuungs- und Rehabilitations-konzept.Meine Kolleginnen Pau und Lötzsch haben diese Pro-blematik schon in der vergangenen Legislaturperiodeaufgegriffen. Meine Kollegin Katrin Kunert hat dies zuBeginn dieser Legislaturperiode getan. Im März 2008haben die Linken einen Antrag eingebracht, in dem we-sentliche Forderungen des Bundeswehr-Verbandes auf-gegriffen worden sind. Die Regierungsfraktionen habenEnde vergangenen Jahres nachgezogen.Ich sage das nicht, um historische Meriten für die Lin-ken einzuheimsen. Das ist zu billig. FDP und Grüne wa-ren präsent. Der Wehrbeauftragte hat sich dauernd enga-giert. Dies gilt genauso für den Bundeswehr-Verbandund Abgeordnete der Koalitionsfraktionen.An dieser Stelle möchte ich aber deutlich sagen, wa-rum ich das erwähne. Mir geht es darum, der Verleum-dung entgegenzutreten, die der Vorsitzende einer kon-kurrierenden Partei kürzlich in die Welt gesetzt hat,
Metadaten/Kopzeile:
22168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Paul Schäfer
indem er gesagt hat, die Linke würde die Soldaten derBundeswehr als aggressive Krieger beschimpfen.Wir haben politische Gründe für die Ablehnung derOut-of-Area-Einsätze. Wir wollen generell vermeiden,dass junge Menschen in eine Situation kommen, auf-grund derer sie an posttraumatischen Belastungsstörun-gen erkranken. Das ist richtig.
Das hat aber mit einer Beschimpfung von Soldatinnenund Soldaten, die im Auftrag dieses Hauses ihren Diensttun, nichts zu tun. Im Gegenteil, wir haben den An-spruch, dass wir uns um diejenigen kümmern müssen,die Opfer von Krieg und Gewalt werden können.Wir fordern daher, dass das Parlament, das diese jun-gen Leute in Einsätze entsendet, dafür Sorge trägt, dassihnen eine angemessene medizinische Betreuung undVersorgung zuteil wird. Wir unterstützen deshalb denvorliegenden Antrag.Wir haben auch im Ausschuss deutlich gemacht, dasses möglich gewesen wäre, einen gemeinsamen Antrageinzubringen. Die Union konnte aber leider nicht überdie Schatten des Kalten Krieges springen. Wir hoffen,dass man in der nächsten Legislaturperiode diese ideolo-gische Engführung und diesen Kleingeist überwindet.
Es würde dem Parlamentarismus gut tun und das Ver-trauen der Bürgerinnen und Bürger in das Parlamentstärken, wenn sie erkennen, dass es nicht nur um Partei-taktik, sondern auch um Sachfragen geht.Danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Winfried Nachtwei das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Vorbereitung von Bundeswehrsoldaten auf Auslands-einsätze ist nach meiner Erfahrung sehr fundiert undhilfreich. Was es an Konzepten, an Begleitung und anStrukturen gibt, das ist auch im Verhältnis zu manchenanderen Armeen recht gut.Noch im vorigen Jahr – so erinnere ich mich – hörteich von der Bundeswehrspitze die Beschreibung, derAnteil der eingesetzten Soldaten mit posttraumatischenBelastungsstörungen liege unter 1 Prozent, er steigenicht, und man habe die Lage im Griff.Einige von uns Verteidigungspolitikerinnen und -poli-tikern haben inzwischen Begegnungen mit Betroffenengehabt. Dabei hat man fürchterliche Schicksale mitbe-kommen. Ich erinnere mich an das Beispiel eines Stabs-unteroffizieres, der im Jahr 2003 im Rahmen des ABC-Bataillons in Kuwait eingesetzt worden ist. Dieser Ein-satz ist inzwischen so ziemlich in Vergessenheit geraten.Zu Beginn des Irakkrieges gab es ständig irakischen Ra-ketenbeschuss. Dieser Stabsunteroffizier schied kurz da-nach aus der Bundeswehr aus.Mehr als ein Jahr später zeigten sich dann diese Stö-rungen. Es begann ein Kampf, ein Kampf nicht nur umdie Gesundung – das ist schon schwer genug –, sondernauch ein Kampf mit dem Dienstherrn um die Anerken-nung als Wehrdienstbeschädigung. Heute vor genau ei-nem Jahr hat dieser Mann einen Bescheid von der Wehr-bereichsverwaltung West bekommen. Darin heißt es:Allgemeine Belastungen, unter Beschuss zu stehen
, kann für einen Soldaten im Aus-
landseinsatz nicht als außergewöhnlich belastendangesehen werden.Ich glaube, das ist der Gipfel der Ignoranz.
Posttraumatische Belastungsstörungen können – dasist die Erfahrung – jeden erwischen. Dies ist unbere-chenbar. Verschiedenste Stressfaktoren können dazu füh-ren. Solche psychischen Verwundungen sind ausdrück-lich kein Ausdruck menschlicher oder gar soldatischerSchwäche, sondern das ist eher fast sogar eine mensch-lich normale Reaktion auf Situationen, die verrückt ma-chen.
Wir müssen feststellen, dass die Dunkelziffer wahr-scheinlich um einiges größer ist als die offizielle Zahl.Wir müssen auch klarstellen, dass im Hinblick auf dieDimension psychische Erkrankungen heutzutage derhäufigste gesundheitliche Folgeschaden von Einsätzensind.Mit diesem Antrag, den wir glücklicherweise inter-fraktionell gemeinsam hinbekommen haben, formulie-ren wir die zentralen Notwendigkeiten. Ich will sie nichtim Einzelnen wiederholen. Es geht um ein niedrig-schwelliges Beratungsangebot und die Einrichtung einerzentralen Ansprechstelle und eines Kompetenz- und For-schungszentrums, und zwar eines echten. Herr Minister,passen Sie auf, was in dem Konzept zur psychischen Ge-sundheit vom Juni letzten Jahres vorgesehen ist! Das istallenfalls eine Arbeitsgruppe in diesem Institut, aus-drücklich ohne Mehrausstattung usw. Wir wollen imBundestag insgesamt ein echtes Kompetenz- und For-schungszentrum.
Des Weiteren sind in diesem Bereich die persönlicheBegleitung der Betroffenen und – das wurde bisher zuwenig angesprochen – eine völlig andere Berücksichti-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22169
(C)
(D)
Winfried Nachtweigung der Veteranen von sehr großer Bedeutung. Ichkenne Leute, die 1999 etwa im Kosovo oder in BosnienFürchterliches erlebt haben. Diese Gruppe meldet sichjetzt auch etwas stärker zu Wort.Ich komme zum Schluss. Dieses Thema ist nicht nureine Herausforderung für die Bundeswehr und die Bun-desverwaltung. Inzwischen gibt es eine enorme Kluftzwischen der Einsatzerfahrung und dem zivilen Alltags-leben hierzulande. Sprachlosigkeit auf der einen Seiteund Gleichgültigkeit auf der anderen Seite wirken regel-recht als Stress- und Verwundungsverstärker.Der Afghanistaneinsatz wird heute von großen Teilender Bevölkerung sehr kritisch gesehen. Unabhängig da-von verdienen die vom Bundestag nach Afghanistan ent-sandten Frauen und Männer Interesse, Anteilnahme undpersönliche Unterstützung. Ich meine, auch das ist eineForm von bürgerschaftlichem Engagement.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren.
Der vorliegende Antrag zur Verbesserung der Situation
der von posttraumatischen Belastungsstörungen betrof-
fenen aktiven und ausgeschiedenen Soldaten ist im Ver-
teidigungsausschuss einstimmig angenommen worden.
Das begrüße ich ausdrücklich.
Gleichwohl komme ich nicht umhin, einige kritische
Anmerkungen grundsätzlicher Art zu machen. Denn die-
ses Thema beschäftigt den Bundestag, den Wehrbeauf-
tragten und den Ausschuss bereits seit Jahren. Ich erin-
nere an die Kleinen Anfragen der Linksfraktion und der
FDP aus den Jahren 2006 und 2007. Gleichwohl war bis-
her nicht erkennbar, dass dem Verteidigungsministerium
die Gesundheit seiner Soldaten ebenso am Herzen liegt
wie die Ausrüstung der Bundeswehr mit immer moder-
neren Waffensystemen. Ich hoffe, dass sich dies nun-
mehr ändern wird und dass das Ministerium die Maß-
nahmen ergreift, die der ansteigenden Zahl von
Betroffenen gerecht wird.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind nach bis-
heriger Lesart der Bundesregierung bis heute reine Sa-
mariterdienste. Ich würde sie hingegen als das konven-
tionelle Gegenstück zur nuklearen Teilhabe bezeichnen,
als Mittel zur Machtteilhabe. Dafür gibt es auch einen
Kronzeugen: den früheren Bundeskanzler Schröder mit
seinem inzwischen geflügelten Wort der „Enttabuisie-
rung des Militärischen“ als normalem Mittel der deut-
schen Politik. Diesen Ausspruch zitiere ich allein deswe-
gen immer wieder gerne, weil er nicht die Position der
Linken ist.
Nun könnte ich es mir leicht machen und sagen, ohne
kriegerische Einsätze gäbe es keine nennenswerten post-
traumatischen Belastungsstörungen und auch keine De-
batte über das Thema in diesem Hause. Dies ginge aller-
dings am Kern vorbei, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens besteht eine Verpflichtung des Parlaments insge-
samt, die erkannten negativen Auswirkungen seiner Ent-
scheidungen zu begrenzen, besonders wenn Menschen
davon betroffen sind. Dies gilt unabhängig vom Abstim-
mungsverhalten. Insofern haben wir alle eine gemein-
same Fürsorgepflicht für Soldaten in der Parlamentsar-
mee.
Zweitens muss an dieser Stelle auch gesagt werden,
warum die Bundesregierung das Thema immer wieder
heruntergespielt hat, warum sie auch der Frage nach der
Dunkelziffer nicht offensiv nachgegangen ist. Sie wird
bekanntlich von Fachleuten als weit höher geschätzt als
die Zahl der als erkrankt Erfassten; denn diese individu-
elle Verdrängung hängt ja unmittelbar mit den Bedin-
gungen und Gruppenzwängen zusammen, denen junge
Soldaten in einer militärisch, überwiegend von Männern
geprägten Gemeinschaft ausgesetzt sind, nämlich: Keine
Schwächen zeigen! Sonst gilt man als Weichei und wird
verachtet. Unter kriegerischen Bedingungen wie in Af-
ghanistan gilt dies ganz besonders. Aber die Bundesre-
gierung hat den dortigen Einsatz aus durchsichtigen
Gründen jahrelang nicht als das bezeichnet, was er ist,
nämlich als einen Krieg. Ergo konnte sie das Problem
der Traumatisierten auch nicht angemessen behandeln,
ohne die eigene Argumentation infrage zu stellen, und
dies zulasten der Betroffenen. Studien aus anderen Ar-
meen, in den USA und in Skandinavien, zeigen deutlich:
Mit Zahl, Dauer und Intensität der Kriegseinsätze steigt
der Prozentsatz der Traumatisierten in den zweistelligen
Bereich an. Auch dies ist für uns ein Grund, Nein zu
weiteren Kriegseinsätzen zu sagen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11882 mit dem Titel„Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungenstärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltun-gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desVerteidigungsausschusses auf den Drucksachen 16/11842und 16/10024 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/11410 und dem An-trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7176. Esist interfraktionell vereinbart, beide Anträge wegen dessoeben unter Tagesordnungspunkt 8 a angenommenengemeinsamen Antrags der Fraktionen von CDU/CSU,SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen für erledigt zuerklären. Wer stimmt für diese Verfahrensweise? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Anträge sindeinstimmig für erledigt erklärt. Damit entfällt insoweitdie Behandlung der Beschlussempfehlungen.Wir kommen nun zur Abstimmung über Nr. 2 der Be-schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf
Metadaten/Kopzeile:
22170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauDrucksache 16/10024. Der Ausschuss empfiehlt die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 16/8383 mit dem Titel „Adäquate Behandlungs-und Betreuungskapazitäten für an posttraumatischen Be-lastungsstörungen erkrankte Angehörige der Bundes-wehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak-tionen, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten JerzyMontag, Volker Beck , Monika Lazar, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Gesetzesüber die Entschädigung für Strafverfolgungs-maßnahmen– Drucksache 16/11434 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg vanEssen, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPAngemessene Haftentschädigung für Justiz-opfer sicherstellen– Drucksache 16/10614 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussFinanzausschussHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre zu dieser Vereinbarung keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In Deutschland gibt es Menschen, die in Untersuchungs-haft, manchmal sogar in Strafhaft kommen, obwohl sieunschuldig sind, und die deswegen – man kann es so sa-gen – durch staatliche Maßnahmen und gerichtliche Ur-teile ihrer Freiheit beraubt worden sind.Ich will an drei Fälle erinnern: Ein Säugling stirbt,und der Vater kommt für neun Monate in Untersu-chungshaft. Es stellt sich heraus, dass er völlig unschul-dig ist. Ein Mann wird wegen einer Falschbelastung,einer angeblichen Vergewaltigung, zu fünf Jahren Ge-fängnis verurteilt. Er sitzt 1 523 Tage in Haft. Danachstellt sich seine Unschuld heraus. Hier in Berlin ist eineArzthelferin wegen angeblicher Brandstiftung in Haftgenommen worden. Sie saß 888 Tage. Danach stelltesich heraus, dass sie nicht schuldig war.Unsere Rechtsordnung sieht eine Entschuldigungstaatlicherseits für diese Freiheitsberaubung nicht vor.Dafür ist aber eine Entschädigung für diese Freiheitsent-ziehung vorgesehen. Die grundlegende Frage ist: Was isteigentlich die Freiheit einer Bürgerin oder eines Bürgerswert? Wie viel sollen denn diejenigen erhalten, die un-schuldig ihrer Freiheit beraubt worden sind? Dafür gibtes keine festen Sätze, aber es gibt die Rechtslage inDeutschland. Seit 1987 zahlen wir pro Tag unschuldigerlittener Haft 20 DM bzw. jetzt 11 Euro. Dieser Betragist seit über 20 Jahren nicht erhöht worden. Wir meinen,dass dieser Betrag absolut unangemessen ist. Um eineRelation zu erhalten, halte ich es für vernünftig, einmaleinen Blick ins europäische Ausland zu wagen. Ich willIhnen einige Zahlen nennen.In Luxemburg werden für diese Fälle bis zu 200 Europro Tag gezahlt, in Holland bei Polizeihaft 95 Euro, beiGerichtshaft 70 Euro pro Tag. In Österreich gibt es eineRegelung ähnlich unserem Vorschlag, eine angemesseneEntschädigung zu zahlen. Die Gerichte gehen im Regel-fall von 100 Euro pro Tag aus. Finnland zahlt 100 Europro Tag. Die Gerichte legen dort aber auch wesentlichhöhere Beträge fest. Spanien zahlt 50 Euro pro Tag, Dä-nemark pro fünf Stunden 255 Euro, 615 Euro für zweiTage, danach pro Tag bis zu 108 Euro mit Aufschlägenfür besonders schwere Vorwürfe. Schweden zahlt für dieersten zwei Tage unrechtmäßiger Haft 315 Euro, dasheißt 162 Euro pro Tag, danach 70 Euro pro Tag. Dies istverglichen mit den 11 Euro, die wir seit 20 Jahren zah-len, eine völlig andere Dimension.Schauen wir nach Deutschland. Es gibt Fallgestaltun-gen, in denen die Gerichte nicht gezwungen sind, alsEntschädigung den festen Betrag von 11 Euro festzule-gen, sondern nach eigenem Ermessen entscheiden dür-fen: Bei einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung durcheinen Kaufhausdetektiv bekam der Unschuldige 127 Eurofür einige Stunden. Ein Mensch ist durch Anwaltsver-schulden in Untersuchungshaft gekommen. Das Landge-richt Berlin hat entschieden, dass das 92 Euro pro Tagwert ist. Eine unrechtmäßige Freiheitsentziehung durcheinen Polizisten war dem Landgericht Karlsruhe pro Tag255 Euro wert. Für eine unrechtmäßige Freiheitsentzie-hung in psychiatrischen Kliniken hat das OLG Olden-burg pro Tag 320 Euro festgelegt, das Landgericht Ber-lin 512 Euro pro Tag und das OberlandesgerichtStuttgart 219 Euro. Es gibt sogar Entscheidungen füreine Entschädigung bei rechtmäßiger Haft. So hat dasOberlandesgericht München bei einer rechtmäßigen Haftin einer überbelegten Zelle 50 Euro pro Tag festgelegt.Wenn wir uns diese Zahlen anschauen, dann merken wir,wie jämmerlich die 11 Euro sind, die wir seit 20 Jahrenauszahlen.
Deswegen haben wir jetzt nicht mehr auf die Ländergewartet, die sich angeblich geeinigt haben, die aber kei-nen Gesetzentwurf vorlegen. Wir warten auch nicht aufdie Koalition, die davon redet, dass man was machensollte. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wirfordern, dass endlich eine angemessene Entschädigung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22171
(C)
(D)
Jerzy Montaggezahlt wird, mindestens 50 Euro am Tag. Wir bittenganz herzlich darum, dass man über diesen Gesetzent-wurf schnell diskutiert, schnell entscheidet, damit dieserSkandal – 11 Euro pro Tag – ein Ende hat.
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für dieUnionsfraktion.
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wir sind uns ja einig: 11 Euro pro Tag sind als Ent-schädigung für eine unrechtmäßige Haft zu wenig. Wennman über das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädi-gungsgesetz spricht, sollte man sich nicht nur auf diepauschalierte Haftentschädigung für immateriellenSchaden beschränken. Wenn man zu Unrecht in Haft ge-nommen ist, gibt es den Ersatz des materiellen Scha-dens: Verdienstausfall, Umzugskosten, Sachschäden undÄhnliches. Erst seit dem Jahr 1970 gibt es für den imma-teriellen Schaden eine finanzielle Entschädigung: 1970waren es 10 DM, später waren es 20 DM, und jetzt sindes 11 Euro. Wir sollten insgesamt überlegen, ob und in-wieweit wir das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschä-digungsgesetz reformieren müssen.Es gibt möglicherweise einen kleinen Webfehler.Wird ein Beschuldigter nach verbüßter Untersuchungs-haft freigesprochen, spricht das erkennende Gericht demGrunde nach einen Schadensersatz zu. Über die Höhedes Schadens befinden genau die Behörden, die dafürgesorgt haben, dass der Beschuldigte in Untersuchungs-haft gekommen ist, nämlich die Landesjustizbehördeund die Staatsanwaltschaft. Das ist vielleicht nicht diegünstigste Konstellation für einen Schadensersatzan-spruch. Also sollten wir uns auch darüber Gedanken ma-chen.Es ist richtig, dass es im europäischen Ausland teil-weise andere Regelungen gibt. Eine hat der KollegeMontag zu Recht angesprochen, nämlich die österreichi-sche. Man muss vor seinem geistigen Auge noch einmaldas vorbeiziehen lassen, was Sie, Kollege Montag, ge-sagt haben: Die Gerichte in Österreich sprechen in allerRegel einen immateriellen Schaden von 100 Euro proHafttag zu. Eigentlich wollen wir nicht, dass ein zu Un-recht in Haft Befindlicher vor ein Gericht ziehen muss,um seinen Schadensersatzanspruch geltend machen zukönnen. Deswegen bin ich ein vehementer Verfechtervon Pauschalen.Mir ist es lieber, ein zu Unrecht Inhaftierter weiß, erbekommt in der Zukunft 25 Euro je Hafttag, und kannsich damit ausrechnen, was er insgesamt und relativschnell bekommt. Überlegen Sie sich einmal, wie nachdem Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsge-setz der Rechtsweg ist: Das Gericht erkennt den Grundzu. Dann macht der Verurteilte oder Freigesprochene beiden Justizbehörden seinen Schaden geltend. Kommt erdort nicht zum Erfolg, was die Höhe des materiellenSchadens anbelangt, muss er vor das Landgericht ziehen.In einem langwierigen Verfahren muss er dort seinenAnspruch geltend machen. Da gibt es auch noch Aus-schlussgründe, über die wir auch einmal reden müssten.Also ist die Pauschale doch wohl der bessere Weg.Doch welche Höhe ist da gerecht? Versuchen Sie ein-mal, in einem österreichischen Urteil etwas dazu zu fin-den, warum man dort in aller Regel 100 Euro zuspricht!Die Höhe dieses Betrages ist willkürlich. Liebe Kolle-ginnen, liebe Kollegen, für den, der zu Unrecht verfolgtworden und in Haft gekommen ist, ist es mit dem Aus-gleich des materiellen Schadens und mit dem Ausgleichdes immateriellen Schadens doch gar nicht getan. Werzahlt beispielsweise die Kosten für den Anwalt, wennein Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einge-stellt wird, weil sich ein Tatverdacht nicht erhärtet hat?Der Bürger bleibt auf seinen Kosten für den Rechtsan-walt sitzen.
Ist das gerecht? Auch darüber könnte man durchaus ein-mal diskutieren.Auch andere Aspekte im Haftrecht könnten sehr wohleinmal durchleuchtet werden.
Ich habe Folgendes immer wieder angesprochen: EinStrafhäftling ist verpflichtet, zu arbeiten. Er ist aber nichtsozialversichert. Er sitzt 17 Jahre in Haft, arbeitet jedenTag, kommt aus der Haft heraus und hat keinen Renten-anspruch. Die Allgemeinheit muss es ohnehin bezahlen.Da wäre es doch viel besser, man würde für die Häft-lingsarbeit Sozialversicherungsbeiträge leisten, sodasser, wenn er aus der Haft herauskommt, ab einem be-stimmten Alter einen Rentenanspruch hat.
Sie sehen also: In der Strafprozessordnung und imHaftrecht gibt es die eine oder andere Ungerechtigkeit,über die zu diskutieren sich lohnen würde.
Machen wir uns nichts vor! Herr Kollege Montag, wirkönnen über die Höhe des immateriellen Schadens beiHaft und damit der Entschädigung befinden, können einGesetz verabschieden, können dabei Ihre Lösung auf-nehmen: mindestens 50 Euro, in aller Regel 100 Europro Tag. Aber wer zahlt das? Die Länder. Die Länderwerden, weil eine solche Änderung ihrer Zustimmungbedarf, gerade nicht zustimmen. Deswegen ist der an-dere Weg doch der viel geschicktere.Ich habe damals die Bundesjustizministerin ange-schrieben und gebeten, genau dieses Thema „Entschädi-gung des immateriellen Schadens“ zu regeln. Sie hat mirzu Recht geantwortet, es sei vielleicht besser, wenn manerst einmal die Länder anschreibe, sich mit denen
Metadaten/Kopzeile:
22172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Siegfried Kauder
zusammensetze und versuche, gemeinsam eine Lösungzu finden.
nichts!)Eine solche Lösung zeichnet sich auch ab. In derHerbstkonferenz haben sich die Landesjustizministerdarauf geeinigt, 25 Euro pro Hafttag für immateriellenSchaden zuzusprechen. Jetzt kann man natürlich langedarüber diskutieren, ob das gerecht ist oder ob das nichtgerecht ist. Lassen Sie uns doch darangehen, für dieHaftentschädigung insgesamt eine gute Lösung zu fin-den und das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädi-gungsgesetz auch auf andere Probleme hin durchzuar-beiten! Nehmen wir in Angriff, dass wir auch fürHäftlingsvergütungen Sozialversicherungsbeiträge leis-ten, und machen uns Gedanken darüber, ob derjenige,der zu Unrecht mit einem Strafverfahren überzogen wor-den ist, einen Anspruch darauf haben soll, dass er fürseine Verteidigerkosten von der Staatskasse entschädigtwird!Auf diesem Wege mache ich gern mit. Darüber kön-nen wir im Rechtsausschuss in allen Verästelungen dis-kutieren. Aber auf die Schnelle, Kollege Montag, geht eshalt nicht.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg
van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe Ihnen, Herr Kollege Kauder, gerade aufmerk-
sam zugehört. Sie haben zu Recht auf viele Baustellen
hingewiesen. Ich habe nach Ihren Schlussworten das Ge-
fühl, dass Sie das deshalb getan haben, um deutlich zu
machen, dass Sie eine schnelle Änderung nicht wollen.
Wir als Liberale, als FDP-Bundestagsfraktion, wollen
genau diese Frage, nämlich: Wie entschädigen wir die
Menschen, die unberechtigt in Haft genommen worden
sind?, zu einer schnellen Lösung führen.
Deshalb machen wir Druck. Deshalb bin ich dankbar da-
für, dass Druck nicht nur von meiner Fraktion, sondern
auch – der Beitrag des Kollegen Montag hat es gezeigt –
von den Grünen gemacht wird.
– Herr Kollege Kauder.
Sie gestatten die Zwischenfrage. Damit hat der Kol-
lege Kauder das Wort.
Frau Präsidentin, Sie haben es formgerecht gemacht.
Vielen Dank.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf ver-
ständigen, dass ich schon vor vielen Monaten die Bun-
desjustizministerin angeschrieben und gebeten habe,
sich dieses Problems anzunehmen? Das war die erste
Stufe des Drucks. Die zweite Stufe des Drucks ist ent-
standen, indem wir mit den Ländern verhandeln. Wenn
wir uns noch darauf einigen können, dass nicht der Bund
zahlt, sondern die Länder, und dass deswegen eine kon-
sensuale Lösung mit den Ländern die bessere ist, dann
sind wir uns schon ein Stückchen näher.
Ja, wir sind da nicht auseinander. Sie haben vollkom-men recht: Die Länder müssen zahlen. Es gibt auch Jus-tizminister aus meiner Partei, die das Problem haben.Das darf uns aber nicht daran hindern, hier im Bundestagdie richtige Politik voranzutreiben.
Dass Sie dazu beigetragen haben – Sie haben es ange-sprochen –, will ich gar nicht verschweigen. Ich bin ganzfroh darüber, dass wir in dieser Frage hier eine relativbreite Mehrheit haben. Es ist auch gut, dass es so ist.Ich will sagen, warum ich das gut finde. Mich be-schäftigt aus meiner früheren Tätigkeit als Oberstaatsan-walt immer noch ein Vorgang, mit dem ich nur amRande befasst war. Es handelt sich um einen britischenSoldaten, der wegen Mordes nach der Vergewaltigungeiner jungen Frau verurteilt worden ist, mit seinenRechtsmitteln bis hin zum Bundesgerichtshof keinen Er-folg hatte und lange gesessen hat, bis durch die Fort-schritte bei den DNA-Untersuchungen festgestellt wer-den konnte, dass er mit Sicherheit nicht der Täter war.Ich habe sehr persönlich Verantwortung dafür gespürt,dass wir einem jungen Menschen über zehn Jahre seinesLebens von Staats wegen geraubt haben. Natürlich wares für ihn als Engländer, der in Deutschland eine Haftverbüßt hat, unglaublich schwierig, wieder sozial Fuß zufassen. Wenn man ein solches Einzelschicksal miterlebthat, wenn auch nur am Rande, fühlt man sich ganz be-sonders unwohl angesichts der Höhe der Entschädigung,die zurzeit gezahlt wird.In einem Punkt bin ich allerdings anderer Meinungals Sie, Herr Kauder. Sie haben sich hier sehr intensivfür eine Entschädigung in Form einer Pauschale einge-setzt und auch Argumente vorgetragen, die man ernstnehmen muss. Sie sagten zum Beispiel, dass das zu Be-rechenbarkeit führt, dass keine lange Verfahren nötig
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22173
(C)
(D)
Jörg van Essensind, dass möglicherweise schneller entschieden werdenkann. All das sind Argumente, die aus meiner Sicht fürIhre Position sprechen.Trotzdem will ich hier nicht verhehlen, dass ich per-sönlich wie offensichtlich auch der Kollege Montag demösterreichischen Modell sehr viel abgewinnen kann.Hier entscheidet nämlich ein Gericht, also nicht eineStrafverfolgungsbehörde wie die Staatsanwaltschaft– für die ich früher tätig war –, in einem objektiven Ver-fahren. Ich glaube, dass man damit auch den Besonder-heiten der Einzelfälle besser gerecht werden kann. Wennman sich einmal die Fälle anschaut, stellt man fest, dasssie sehr unterschiedlich sind und auch der Grad der Be-troffenheit sehr unterschiedlich sein kann. Von daherdenke ich, dass es gerechter wäre, wenn jeder Einzelfallbetrachtet würde und erst dann entschieden würde, wieviel Geld pro unberechtigt verbüßtem Hafttag bezahltwird. Ich glaube, dass wir uns auch mit diesem Modellnäher beschäftigen sollten. Wir sollten uns erkundigen,welche Erfahrungen man in Österreich gesammelt hat.Ich bekomme aus Österreich nur positive Rückmeldun-gen.Auch die Höhe der durchschnittlich gezahlten Sum-men ist interessant. Die Justizminister wollen die Ent-schädigungssumme auf 25 Euro anheben; das gilt abernoch nicht einmal. Dagegen liegt diese in Österreich beidurchschnittlich 100 Euro. Es ist also ganz offensicht-lich, dass dort die Menschen besser wegkommen, als esim Augenblick bei uns in der Bundesrepublik Deutsch-land der Fall ist, und selbst dann noch besser wegkom-men würden, wenn sich die Justizminister mit ihremVorschlag von 25 Euro durchsetzen würden.Lieber Herr Kauder, Sie haben gesagt, es sind nochviele Fragen zu klären. Ich würde mir wünschen, dasswir dieses Thema noch vor der Bundestagswahl voran-bringen und vielleicht sogar eine Lösung präsentierenkönnten. Sie haben schon darauf hingewiesen, dass esnicht leicht sein wird, mit den Ländern eine Lösung zufinden. Ich würde mir aber wünschen, dass wir wenigs-tens den Versuch unternehmen. Deshalb sollten wirschnell mit den Beratungen beginnen. Wir als FDP sindjedenfalls dazu bereit. Ich persönlich mache auch Druck,wie viele andere hier auch, weil Verbesserungen drin-gend nötig sind.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Matthias Miersch das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, es bringt wenig, darüber zu philosophieren,wem nun das Erstgeborenenrecht zukommt. Es bringtaber viel, sich vor Augen zu führen, dass der 67. Deut-sche Juristentag dieses Thema auf die Tagesordnung ge-setzt hat, im weiteren Verlauf die Fraktionen der FDPund der Grünen entsprechende Anträge eingebracht ha-ben und die Bundesjustizministerin – auf Initiative desKollegen Kauder, wie er heute gesagt hat – die Länderangeschrieben hat. Insofern befinden wir uns alle in ei-nem Boot. Wir sollten jetzt den Schwerpunkt darauf le-gen, hier sehr schnell tatsächlich zu einer Lösung zukommen.Bei der Beratung dieses Themas lohnt es sich, wie ichglaube, auf drei weitere Gesichtspunkte hinzuweisen:Als Erstes muss es darum gehen, unberechtigte Haftzu vermeiden. Vor diesem Hintergrund sind die Perso-naleinsparungen in den Ländern, die wir in den Justizap-paraten, aber auch im Polizeidienst an vielen Stellenfeststellen können – darauf muss man an dieser Stelleimmer wieder aufmerksam machen –, ein Schritt in diefalsche Richtung. Dies im Blick müssen wir an die Län-der appellieren, deutliche Personalaufstockungen vorzu-nehmen.
Zweitens geht es um die Frage – wir werden uns in die-sem Haus heute noch mit diesem Thema beschäftigen –,wie es mit den Rechten von Menschen bestellt ist, die inUntersuchungshaft kommen. Ich bin froh, dass der vonden Koalitionsfraktionen vorgelegte Entwurf vieles Gutebeinhaltet und sicherlich dazu führen wird, dass dieRechte von Beschuldigten besser wahrgenommen wer-den können. Ich will an dieser Stelle nur sagen, dass eswichtig ist, zum Beispiel frühzeitig einen Verteidiger zurVerfügung zu stellen und Akteneinsichtsrechte zu ge-währen, um eine effektive und schnelle Verteidigung zugewährleisten.
Auch das gehört dazu, Herr Montag, wenn es darum ge-hen soll, ungerechtfertigte Haft möglichst zu vermeiden,Mein dritter Punkt bezieht sich auf die Themen, dieder Kollege Kauder angesprochen hat. Ich meine, dasswir sie nicht einfach zur Seite schieben sollten, auchnicht vor dem Hintergrund, dass wir eine schnelle Rege-lung brauchen. Im Strafentschädigungsgesetz sinddurchaus Regeln enthalten, die wir uns einmal genaueranschauen sollten: Warum beispielsweise kann eine Ent-schädigung versagt werden, wenn es sich um ein Verfah-renshindernis handelt? Dies ist eine Sache, die ein Be-schuldigter nicht zu vertreten hat. Warum kann eineEntschädigung in diesem Fall versagt werden? Auchdiese Punkte sollten wir in den Berichterstattergesprä-chen aufgreifen. Ich jedenfalls hielte das für sinnvoll.Schließlich sollten wir uns daran orientieren – derKollege Montag hat bereits darauf hingewiesen –, wie esandere Länder handhaben. Ich finde es interessant, dassdie skandinavischen Staaten teilweise sogar von Stun-densätzen ausgehen. Dies zeigt nämlich, dass die Haftdas einschneidendste Erlebnis im Leben sein kann. Ichfinde es auch interessant, dass in Dänemark sogar der
Metadaten/Kopzeile:
22174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Matthias MierschTatvorwurf eine Rolle bei der Entschädigung spielt.Auch dieser Punkt gehört in unsere Beratungen.Es ist natürlich schwierig, eine Angemessenheitsklau-sel zu finden. Allerdings könnte man bestimmte Dingean Vorwürfen festmachen. Es liegt ein Unterschied da-rin, ob ich einer schweren Sexualstraftat oder eines rela-tiv einfachen Delikts beschuldigt werde. Ich halte es fürrichtig, an dieser Stelle den Blick aufs Ausland zu rich-ten. Auf diese Weise finden wir vielleicht – ich sage:vielleicht – noch vor der Bundestagswahl eine Regelungmit den Justizministern der Ländern.Ich bin der Überzeugung – ich erkläre dies hier imNamen der SPD-Fraktion –, dass wir uns an vielen Stel-len durchaus an Vorbildern, auch im europäischen Aus-land, orientieren könnten, sodass bei gutem Willen auchin relativ kurzer Zeit etwas erreicht werden kann. Des-wegen möchte ich meine Redezeit heute nicht ausschöp-fen. Ich appelliere an Sie, schnell an die Arbeit zu gehen.Vielleicht wird dann in dieser Wahlperiode noch etwasdaraus.Ich freue mich auf die Beratungen und danke Ihnenfür die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Wolfgang Nešković.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zyp-
ries! Haftentschädigung sollte keine Frage des politi-
schen Standpunktes sein. Es geht hierbei nicht um
Grundsatzfragen zu Wirtschaft, Ökologie oder Sicher-
heit. Es geht auch nicht um Sozialpolitik. Es sind auch
keine spezifischen Wählergruppen betroffen. Es geht
noch nicht einmal um bedeutende finanzielle Belastun-
gen in den Haushalten. Man könnte daher meinen, dass
wir relativ schnell zu einem Konsens gelangen könnten.
Ich darf einmal daran erinnern, worum es eigentlich
geht: Es soll eine angemessene Entschädigung für zu
Unrecht erlittene Haft festgesetzt werden. Schäden füh-
ren zu Schulden, und Schulden müssen ausgeglichen
werden. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von
Staat und Bürger. Es gibt strafrechtliche Fehlentschei-
dungen, und es wird sie so lange geben, wie Menschen
über Menschen richten. Wir benötigen zweifellos ein
Strafrecht, und wir benötigen ebenfalls einen Strafvoll-
zug. Wir sind auf beide angewiesen, obwohl wir Fehler
nicht sicher vermeiden können. Weil die Gesellschaft
das Strafrecht braucht, ist es unvermeidbar, dass einzelne
Menschen zu Unrecht eingesperrt werden. Das ist ein
gesellschaftliches und auch ein moralisches Dilemma.
Unschuldig Inhaftierte zahlen dafür ganz persönlich
den Preis. Sie schultern eine schwere Last für die Gesell-
schaft. Wenn wir aber über Haftentschädigung reden,
dann sprechen wir meist nicht über das Dilemma, das ich
eben beschrieben habe, sondern über ein anderes. Es
geht darum, den immateriellen Wert der verlorenen Frei-
heit materiell – also in Form von Geld – zu bestimmen.
Das ist ein Griff ins Dunkle. Weil die Menschen emotio-
nal verschieden sind, fällt auch der in der Haft erlittene
immaterielle Schaden ganz verschieden aus.
Dazu kommt die Verschiedenheit der einzelnen Haft-
situationen. Der Wert der Freiheit lässt sich in Geld nicht
nachvollziehbar ermitteln. Das ist unser Problem, und
das ist auch unsere gesetzgeberische Hilflosigkeit. Wer
soll die Folgen dieser Hilflosigkeit tragen? Derzeit tra-
gen diese Folgen ausgerechnet diejenigen, die bereits die
Bürde des nicht zu vermeidenden Justizirrtums tragen:
die unschuldig Inhaftierten. Nun sagt man ihnen: Weil
wir den Wert der Freiheit nicht gut ermitteln können, ge-
ben wir euch pro Hafttag einen pauschalierten, noch
dazu einen beschämend geringen Betrag in Höhe von
11 Euro. – Das ist ungerecht und kleinlich,
und zwar nicht nur wegen der geringen Höhe des Pau-
schalbetrages, sondern auch weil schon die Pauschalie-
rung als solche ungerecht ist. Wenn der Wert der Freiheit
nur individuell zu bestimmen ist, dann muss auch seine
Bestimmung in Geld individuell erfolgen.
– Herr Kollege Wieland, ich verrate Ihnen gerne, wo-
nach. Wir haben eine Rechtsprechung zu § 847 BGB.
Hierzu gibt es sogar Tabellen. All das lässt sich hier in
gleicher Weise etablieren.
Pauschal darf danach nur die Untergrenze der Bemes-
sung sein. Genau so sieht es der Antrag vor. Der Antrag
der Grünen sieht eine Untergrenze von 50 Euro vor. Das
erscheint mir – das hat die Diskussion deutlich gemacht –
im europäischen Ländervergleich auch akzeptabel. Wer
meint, das sei zu viel, sollte sich probeweise einmal
selbst in den Strafvollzug begeben. Im Rahmen des Ab-
geordnetenmandats sollte ein solches Praktikum zur Er-
fahrungserweiterung durchaus möglich sein.
Der Antrag der Grünen hat demnach grundsätzlich die
Zustimmung aller Fraktionen verdient. Wir, die Linke,
jedenfalls stimmen diesem Antrag zu.
Ich schließe die Aussprache.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22175
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauInterfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/11434 und 16/10614 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Strukturreform des Versorgungsaus-gleichs
– Drucksache 16/10144 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/11903 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldChristine LambrechtJoachim StünkerSabine Leutheusser-SchnarrenbergerJörn WunderlichIrmingard Schewe-GerigkNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Die heute zu beschließendeStrukturreform des Versorgungsausgleichs ist ein weite-rer Baustein für ein modernes Familienrecht. Das Unter-haltsrecht und das Verfahren bei den Familiengerichtenhaben wir schon reformiert; das eheliche Güterrechtwird noch folgen. Heute schaffen wir eine neue Grund-lage für das wirtschaftlich bedeutendste Ausgleichssys-tem nach einer Scheidung, nämlich die Verteilung derRentenansprüche, die in der Ehezeit von den Partnerngemeinsam erworben wurden.Eines war für mich in der Debatte wichtig, und es warauch die Voraussetzung für den Gesetzentwurf, den wirvorgelegt haben: Grundsätzlich hat sich der Versor-gungsausgleich bewährt. Es ist völlig richtig, dass dieFamiliengerichte von Amts wegen bei einer Eheschei-dung die Versorgungsansprüche der Ehegatten ausglei-chen. Das ist noch immer vor allem für Frauen wichtig.Denn sie verzichten nach wie vor häufiger als Männerauf eine berufliche Karriere während der Ehezeit undkümmern sich um die Kinder. Dementsprechend bauensie keine eigenen Rentenansprüche auf. Es ist daher einGebot der Gerechtigkeit, dass die Versorgungsansprü-che, die während der Ehezeit entstanden sind, gleichmä-ßig zwischen Mann und Frau geteilt werden.Der Grundsatz stimmt also, und daran ändern wir des-halb auch nichts. Was wir mit diesem Gesetzentwurf än-dern, ist das Verfahren. Eine Reform war insbesondereaus drei Gründen notwendig:Der am stärksten auf der Hand liegende Grund war,dass die sogenannte Barwert-Verordnung in einer Weiseundurchsichtig war, dass nur noch wenige Experten inDeutschland überhaupt gewusst haben, wie die entspre-chenden Berechnungen vorzunehmen sind.Der zweite Grund war, dass die komplizierte Umrech-nungssystematik, die in dieser Barwert-Verordnung zu-grunde lag, die gerechte Aufteilung der Rentenanwart-schaften oft sehr schwer machte und dadurch zu falschenErgebnissen führte.Der dritte Punkt ist, dass die Versorgungen zum Zeit-punkt der Scheidung nicht immer vollständig aufgeteiltwerden können. Weil die nachträglichen Korrekturmög-lichkeiten selten genutzt werden, ist es so, dass vor allemFrauen durch das geltende Recht benachteiligt werden.Sie bekommen weniger, als ihnen eigentlich zusteht.Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das ganzeSystem reformieren und uns etwas vollständig anderesausdenken. Wir haben deshalb die Realteilung innerhalbder Versorgungssysteme vorgesehen. Das heißt bei-spielsweise, die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentewerden innerhalb dieses Systems und die Ansprüche ausBetriebsrenten werden innerhalb des Betriebsrentensys-tems geteilt. Dies gilt auch für Versicherungen usw. In-nerhalb des jeweiligen Systems werden also neue Kon-ten eingerichtet. Das bedeutet, dass direkt mit derScheidung eine vollständige Trennung erfolgt. Mannund Frau können dann jeweils überblicken, wie hochihre Rentenkonten bei den jeweiligen Versorgungsträ-gern sind. Der einzige Nachteil, wenn Sie so wollen– wenn man das überhaupt als Nachteil begreifen will –,ist die Tatsache, dass sie dann von mehreren Versor-gungsträgern Gelder erhalten. Aber das summiert sichauf ihrem Girokonto wieder zur vollen Summe. Dieseinterne Teilung jeweils zur Hälfte führt – davon bin ichüberzeugt – zu gerechteren Ergebnissen und verhindertdie sogenannte schuldrechtliche Ausgleichsrente.Wir haben nicht nur das Verfahren sehr vereinfacht,sondern auch den Gesetzestext selber. Wir haben hierbeivon vornherein mit der Gesellschaft für deutsche Spra-che zusammengearbeitet. Der Gesetzentwurf, der heutebeschlossen wird, ist deshalb ein Musterprojekt derReihe „Verständliche Gesetze“. Das neue Recht fasstden Text für die Praktiker gut zusammen. Wir hoffen,dass künftig auch Bürgerinnen und Bürger, die sich da-rüber informieren wollen, wie das Versorgungsaus-gleichsverfahren abläuft, beim Lesen des Gesetzestextesverstehen, was passiert. Das ist ja nun keineswegs immerso.Ich bin davon überzeugt, dass diese Reform nicht nursprachlich, sondern auch inhaltlich geglückt ist. Schonfür den Entwurf haben wir breite Zustimmung erfahren.Alle Sachverständigen haben das Konzept einhellig be-grüßt. Aber selbstverständlich gilt auch hier: Kein Ge-setzentwurf der Bundesregierung ist so gut, dass er nichtdurch das segensreiche Zutun des Parlaments noch bes-ser werden könnte.
So ist es auch hier.
Metadaten/Kopzeile:
22176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Bundesministerin Brigitte ZypriesAuf Empfehlung des Rechtsausschusses haben wirÄnderungen vorgenommen: Erstens. Auch bei einer kur-zen Ehezeit kann jetzt auf Antrag ein Versorgungsaus-gleich durchgeführt werden. Zweitens. Die Übergangs-zeit für Altfälle haben wir auf ein Jahr verkürzt. Dasheißt, die Praxis muss nicht lange mit zwei unterschied-lichen Systemen arbeiten. Drittens haben wir den elek-tronischen Datenaustausch zwischen den Versorgungs-trägern und den Familiengerichten ermöglicht. Wirhaben auch – das hat mich gefreut; dafür danke ich demParlament besonders – die vollständige Gleichstellungvon Lebenspartnerschaften und Ehegatten im Versor-gungsausgleich erlangt.
Meine Damen und Herren, ich möchte all denen sehrherzlich danken, die mit ihrem Engagement und ihrerArbeit dazu beigetragen haben, dass dieser Entwurfheute verabschiedet werden kann. Ich möchte den Kolle-ginnen und Kollegen im Parlament für ihre engagierteMitarbeit danken. Ich möchte den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern im Ministerium danken, die einen wirklichharten Job gemacht haben.
Ich danke all jenen, die uns mit ihrem Sachverstand beidiesem Projekt begleitet haben.Wir haben immerhin mehr als zwei Jahrzehnte übereine Reform des Versorgungsausgleichs diskutiert. Ichpersönlich betreibe dieses Projekt schon seit fünf Jahrenmit großem Nachdruck. Ich bin deshalb sehr froh, dasses heute gelingt, diesen Gesetzentwurf in zweiter unddritter Lesung zu verabschieden. Ich glaube, dies ist einErgebnis, auf das dieses Haus, wir alle zu Recht stolzsein können.
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Der Versorgungsausgleich hat im Rahmen derScheidung eine extrem wichtige Aufgabe: Er trägt ent-scheidend zur eigenständigen Alterssicherung der ge-schiedenen Ehepartner bei. Er soll natürlich auch helfen,Altersarmut zu verhindern, und eine gerechte Teilhabean den während der Ehe erworbenen Rentenrechten er-möglichen.Ich möchte einige Zahlen nennen, um die Bedeutungdes Versorgungsausgleichs hervorzuheben. Die Zahl derScheidungen lag in Deutschland im Jahr 2007 bei180 000. Bei den Folgesachen, die mit den Scheidungs-urteilen entschieden wurden, liegt der Versorgungs-ausgleich mit circa 125 000 Verfahren klar an der Spitze.Auch bei den Verfahren, die vor der Scheidung durch ei-nen gerichtlichen Vergleich geregelt wurden, nimmt derVersorgungsausgleich mit circa 27 000 Fällen den erstenRang ein. Alles in allem sehen sich jährlich rund300 000 Bürgerinnen und Bürger mit Fragen des Versor-gungsausgleichs konfrontiert; sie sind unmittelbar be-troffen. Deshalb halten wir das Instrument des Versor-gungsausgleichs – Frau Ministerin, auch Sie haben dasgesagt – für gut, richtig und unverzichtbar.Wir haben im Gesetzgebungsverfahren die Bemühun-gen unterstützt, beim Versorgungsausgleich zu den not-wendigen Strukturreformen zu kommen, über die dieFachwelt schon seit vielen Jahren nachdenkt und wozusie auch Vorschläge unterbreitet hat. Wir stimmen die-sem Gesetzentwurf zu, weil wir seine Zielrichtung fürrichtig halten.
Die wichtigste Änderung ist die Einführung desGrundsatzes der sogenannten internen Teilung. DieserGrundsatz führt dazu, dass es nun möglich ist, beim Ver-sorgungsträger zu bleiben. Viele Unübersichtlichkeitenwerden mit diesem Gesetzentwurf beseitigt. Ich glaube,soweit wir anwaltlich tätig sind, möchten wir alle dieBarwert-Verordnung nicht unbedingt weiterhin anwen-den. Dieser Aufgabe werden wir mit diesem Gesetzent-wurf enthoben.Ganz wichtig ist die Vereinbarung, die auf der Zielge-raden ermöglicht wurde: Mit der Einrichtung einer pri-vaten Versorgungsausgleichskasse, die mit Inkrafttretendes Gesetzes erfolgen soll, muss sich nicht zwingend diegesetzliche Rentenversicherung befassen; kein Versor-gungsträger übernimmt die damit verbundene zusätzli-che Arbeit gerne. Wir haben in der Beschlussempfeh-lung hervorgehoben, dass die Einrichtung einer privatenVersorgungsausgleichskasse mit der Änderung desSozialgesetzbuches zum 1. September dieses Jahresmöglich wird. Mit der Schaffung eines eigenen Institutshaben wir eine sachlich und fachlich gute Lösung gefun-den, die allen am Versorgungsausgleich Beteiligtennützt.Neben denen, die Ansprüche geltend machen unddiese durchsetzen wollen – sie erfahren jetzt schon beider Scheidung, was sie zu erwarten haben –, dürfen wirnicht die Situation der Versorgungsträger vergessen. Da-rum haben wir uns schon während der Beratungen da-rüber verständigt, wie wir mit Ehen von kurzer Dauerumgehen. Wir haben ausdrücklich nicht die kurze Dauergenannt, sondern drei Jahre Ehezeit. Wir haben nach derAnhörung der Sachverständigen im Konsens eine guteLösung gefunden: Der Versorgungsausgleich findet aufAntrag statt – dadurch werden wir der Situation der ein-zelnen Betroffenen am ehesten gerecht –; ansonsten fin-det kein Versorgungsausgleich statt. Dadurch verhindernwir eine unnötige Arbeitsbelastung der Versorgungsträ-ger, wenn am Ende nur ein geringfügiger Ertrag für denVersorgungsausgleichsberechtigten steht.In der Tat ist es gut – Frau Ministerin, Sie haben esbegrüßt –, dass das Parlament Änderungen vornimmtund dass es uns kurz vor Abschluss der Beratungen undGespräche im Kreis der Berichterstatter gelungen ist, im
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22177
(C)
(D)
Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerVersorgungsausgleichsgesetz eine Gleichstellung mitden Lebenspartnern – nicht durch eine generelle Rege-lung für Lebenspartnerschaften über dieses Gesetz hi-naus – zu erreichen.Ich danke allen, die sich noch in letzter Sekunde dafüreingesetzt haben, dass die Koalition zugestimmt hat. Wirhatten Änderungsanträge vorgelegt, die Bestimmungentsprechend anzupassen. Wir waren uns im Kreis derBerichterstatter alle sehr schnell einig, dass es keine gu-ten Gründe gibt, diese Anpassung nicht vorzunehmen.Deshalb glaube ich, dass nach den Beratungen alles inallem ein guter Gesetzentwurf gelungen ist. Deshalbstimmen wir als FDP-Fraktion aus Überzeugung dieserStrukturreform zu.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Ute
Granold.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Die Große Koalition hat im Bereich des Familienrechtsin dieser Legislaturperiode vieles erreicht, auf das wirstolz sein können: die Unterhaltsreform, die FGG-Re-form mit dem Familienverfahrensgesetz. Die Reformdes Güterrechts steht an. Wir hatten hierzu heute Morgenein erweitertes Berichterstattergespräch, sodass wir aufeinem guten Weg sind. Heute beraten wir die Struktur-reform im Versorgungsausgleich. Das ist in der Tat einenicht einfache Materie, und die Praxis wird sich freuen,wenn sie ab September mit einem neuen Recht – sowohlim prozessualen als auch im materiellen Recht – arbeitenkann.Bei einer Scheidung – die Zahl der Scheidungen unddie Fälle, die zu regeln sind, hat die Kollegin Leutheus-ser-Schnarrenberger gerade eben angeführt – werden diewirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien durch das Un-terhaltsrecht, das Güterrecht, aber auch durch den Ver-sorgungsausgleich – und das möglichst in einem Ver-bundsystem – geregelt. Das ist gut so.Wir haben 1977 eine große Familienrechtsreformdurchgeführt und das Institut des Versorgungsausgleichseingeführt und damit – das ist insbesondere für dieFrauen sehr gut – eine eigenständige Alterssicherung imFalle einer Scheidung auf den Weg gebracht. Nach demjetzigen Gesetz ist es noch so, dass alle Anwartschaftenwährend der Ehezeit bilanziert werden, dynamische undstatische Anwartschaften vergleichbar gemacht und um-gerechnet werden – die Barwert-Verordnung wurde an-gesprochen – und dann ein Ausgleich herbeigeführtwird.In der Vergangenheit und auch heute noch gibt esviele Ungerechtigkeiten oder angestaute Verfahren, weileine Möglichkeit der Berechnung nicht gegeben war.Eine Reihe von Verfahren wurde in den schuldrechtli-chen Versorgungsausgleich verwiesen. Das ist in der Tatein schwieriges Kapitel. Viele Verfahren stauen sich, undviele Jahre nach der Scheidung wird dann erst derschuldrechtliche Versorgungsausgleich wiederum aufAntrag einer Partei durchgeführt. Dann kann es, wenneine Scheidung nicht einvernehmlich erfolgt ist, erneutzu Spannungen kommen, weil nicht geklärt ist, ob da-mals im Zuge der güterrechtlichen Auseinandersetzungrichtig gearbeitet wurde und man nicht doch noch einenAnspruch hat. Es ist also ganz schwierig. Deshalb sollteman dafür sorgen, dass mit der Scheidung alles geregeltwird, was zu regeln ist.Wir haben in den letzten Jahren einen Ausbau der Al-tersversorgung herbeigeführt. Das ist der Wille der Poli-tik gewesen. Wir haben die betriebliche Altersversor-gung, aber auch die private Altersversorgung ausgebaut.Bei uns besteht Einigkeit, dass der Grundsatz der Halb-teilung beim Ausgleich der Anwartschaften während derEhezeit nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir ei-nen Wechsel in der Berechnung und im System vorneh-men. Das ist uns, denke ich, mit dem jetzigen Gesetzent-wurf gelungen.Der BGH hat – die Frau Ministerin hat darauf hinge-wiesen – bereits 2001 angemahnt, dass das Gesetz fürdie Praxis nicht mehr verständlich ist, sondern nur nochInsider mit der Materie umgehen können. Anwälte undRichter haben ihre Probleme, und die Menschen, für diees eigentlich gemacht wurde, haben mehr denn je einProblem, das, was für ihr weiteres Leben entscheidendist, zu verstehen.Es gab eine Expertenkommission, der dann ein Refe-rentenentwurf folgte. Es hat lange Zeit gedauert, bis die-ser Gesetzentwurf endlich beraten und verabschiedetwerden konnte. Der Grundsatz dieses Gesetzentwurfesist, eine gerechte Teilung und vor allen Dingen Anwen-derfreundlichkeit zu gewährleisten.In der Sachverständigenanhörung – es war eine sehrgute Sachverständigenanhörung, auf hohem Niveau –wurde ein breites Spektrum von Sachverständigen ausden verschiedensten Sparten gehört. Wir haben gute An-regungen vom Bundesrat und eine Vielzahl von Anre-gungen aus der Fachwelt erhalten, sodass wir heute fest-stellen können, dass wir ein fachlich fundiertes Gesetzauf den Weg bringen.Es wurde eine Reihe von Neuerungen angesprochen.Wesentlich ist die interne Teilung, das heißt, jede An-wartschaft, die in der Ehezeit erwirtschaftet wurde, wirdim jeweiligen Versorgungssystem geteilt. Jeder be-kommt einen direkten Anspruch gegenüber dem jeweili-gen Versorgungsträger. Das gilt übrigens auch für dieVersorgung der Bundesbeamten; für Landesbeamte liegtdie Gesetzgebungskompetenz aufgrund der Föderalis-musreform bei den Ländern.Die Vorteile: Eine gerechte Teilhabe wird garantiert,es muss keine Verrechnung mehr stattfinden, Prognose-rechnungen, die nicht ganz zuverlässig sind, werden ent-behrlich. Zum Zeitpunkt der Scheidung erfolgt einfacheine Teilung. Dann weiß jeder zum Zeitpunkt der Schei-
Metadaten/Kopzeile:
22178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Ute Granolddung, woran er ist und welche Anwartschaften für ihnbegründet werden. Es gibt auch die Möglichkeit derexternen Teilung, und zwar dann, wenn der ausgleichs-berechtigte Ehegatte dies wünscht oder wenn kleinereAnwartschaften auszugleichen sind und der Versor-gungsträger dies beantragt. Das ist in Ordnung. Zur Aus-gleichskasse komme ich gleich.Es gibt einen Ausschluss des Versorgungsausgleichsbei einer Ehe von kurzer Dauer. Wir haben in den Bera-tungen einen Zeitraum von drei Jahren festgelegt; das istangemessen. Nach einer Ehe, die nicht länger als dreiJahre bestanden hat, kann auf Antrag der Versorgungs-ausgleich durchgeführt werden. Es ist mir ganz wichtig,an dieser Stelle zu sagen, dass dafür kein Anwaltszwangbesteht, sodass für den Antragsteller keine Kosten ent-stehen; er ist nicht verpflichtet, hierfür einen Anwalt zubeauftragen.Das Instrumentarium Ausschluss bei Geringfügigkeitbzw. bei grober Unbilligkeit ist nach wie vor im Gesetzverankert. Das ist auch gut so.Über den Wegfall des Rentnerprivilegs haben wirlange diskutiert. Es gibt derzeit die Möglichkeit, wennjemand schon in Rente ist und dann das Scheidungsver-fahren durchgeführt wird, dass die Kürzung erst erfolgt,wenn auch der Ausgleichsberechtigte in Rente geht. Dassoll abgeschafft werden, weil es eine Regelung zulastender Versichertengemeinschaft und zulasten derer, bei de-nen kurz vor dem Renteneintritt über den Versorgungs-ausgleich entschieden wird, ist. In der Anhörung wareinhellige Meinung, dies abzuschaffen.Nun ist es so, dass es Berufsgruppen mit besonderenDienstzeiten und Altersgrenzen gibt, zum Beispiel – ichmöchte es an dieser Stelle ansprechen – die Soldaten, diefür uns eine ganz wichtige Personengruppe sind. Hie-rüber gab es viele Gespräche mit den Verteidigungs-politikern, mit dem Bundeswehr-Verband und mit demReservistenverband. Es wurden sogar Anregungen vor-getragen, wie der Gesetzentwurf formuliert werdenkönnte. Wir haben es uns nicht einfach gemacht; wir ha-ben lange darüber diskutiert. Aber es gibt keine Mög-lichkeit, die Berufsgruppe der Soldaten herauszustellenund ihnen ein Privileg einzuräumen. Das wäre eine Un-gleichbehandlung gegenüber all denen, die einer Berufs-gruppe mit einer besonderen Altersgrenze angehören.Wir haben letztendlich im Hinblick auf den Gleichbe-handlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz, Gleichbe-handlung, gesagt: Wir müssen dabei bleiben. Allerdingsgibt es eine Abmilderung durch § 35 Versorgungs-ausgleichgesetz. Dort steht, dass eine Kürzung bis zurHöhe des mit der besonderen Altersgrenze verbundenenNachteils ausgesetzt wird. Das ist eine sehr komplizierteMaterie. Dies ist eine Möglichkeit der Abmilderung.Die Kollegin von der FDP hat die Ausgleichskasseangesprochen. Es war uns ein sehr großes Anliegen, dassman, wenn es eine externe Teilung gibt und die DeutscheRentenversicherung nicht eingeschaltet werden soll, ei-nen Auffangversorgungsträger als Zielversorgung findet.Hier haben wir durch den Druck aus dem Parlament er-reicht, dass es eine Ausgleichskasse gibt, die zum1. September 2009 installiert wird. Dies geschiehtgleichzeitig mit der Änderung des SGB IV, wobei nocheinige technische Fragen zu klären sind. Es wird einePensionskasse in der Rechtsform eines Versicherungs-vereins auf Gegenseitigkeit sein. Das war im Übrigenauch ein Anliegen der Sozialpartner, das heißt der Ar-beitgeber und der Gewerkschaften.Die Übergangsvorschriften wurden angesprochen.Wie auch beim FamFG haben wir darüber in der Anhö-rung sehr intensiv diskutiert. Uns war wichtig, dass eineHarmonisierung zwischen FamFG und Versorgungsaus-gleich stattfindet. Ich denke, das haben wir mit denSachverständigen gut auf den Weg gebracht.Es laufen viele Scheidungsverfahren, bei denen derVersorgungsausgleich bereits abgetrennt oder ausgesetztwurde oder ruht. Es gibt aber auch Verfahren, bei denenjetzt die Scheidung durchgeführt wird und aufgrund desRuhens etc. erst nach dem 1. September 2009 über denVersorgungsausgleich entschieden wird. Wir haben ge-sagt: Alle diese Verfahren sollen eingebunden werden.Wir wollen damit erreichen, dass es keine Verfahrengibt, bei denen altes und neues Recht jahrelang parallelangewandt werden.Wichtig ist auch, dass mehr denn je für die Ehepartnerdie Möglichkeit besteht, Vereinbarungen im Rahmen derScheidung zu treffen. Das heißt, es gibt die Möglichkeit,Regelungen zum Unterhalt, zum Güterrecht, aber auchzum Versorgungsausgleich über notarielle Vereinbarun-gen zu finden und damit viele individuelle Freiheiten zulassen. Allerdings muss geprüft werden, ob diese Verein-barungen interessengerecht sind. Im Verfahren muss alsoeine Prüfung erfolgen. Allerdings bedarf dies nicht wiebislang einer Genehmigung des Familiengerichts, wenninnerhalb eines Jahres nach Beurkundung die Scheidungeingereicht wird.Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsprivilegsagen. Auf Antrag unterbleibt eine Rentenkürzung,wenn der ausgleichspflichtige Rentenbezieher Unter-haltsleistungen erbringt.Im geltenden Recht ist es so, dass die Versorgung derausgleichspflichtigen Person in voller Höhe gekürztwird, nach neuem Recht nur noch in Höhe des Unter-haltsanspruchs, der bei ungekürzter Versorgung bestehenwürde. Wir haben entschieden – das wurde bereits ange-sprochen –, das Unterhaltsprivileg auch auf die Lebens-partner auszudehnen. Diese Regelung war in der bisheri-gen Fassung des Gesetzentwurfes nicht enthalten. Auchim derzeitigen Lebenspartnerschaftsgesetz galt das Un-terhaltsprivileg nicht. Für die Union kann ich Ihnen andieser Stelle sagen: Jetzt ändern wir das.Mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes, derauch Versichertenrenten und Rentenanwartschaften, dieein Eigentumsrecht darstellen, umfasst, gibt es nach un-serem Dafürhalten keinen Grund, diese Personengruppeweiterhin vom Unterhaltsprivileg auszuschließen.Lassen Sie mich zum Schluss dem Justizministeriumfür die sehr konstruktiven Beratungen und die ZuarbeitDank sagen. An dieser Stelle möchte ich ausnahmsweiseeine Person herausgreifen, und zwar den ReferatsleiterHerrn Schmid, der, wie ich sehe, auch hier ist. Er ist der-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22179
(C)
(D)
Ute Granoldjenige, der dafür federführend verantwortlich war. Ohned
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Schmid ist der leibhaftige Versor-
gungsausgleich, und er hat seine Arbeit hervorragend
gemacht.
– Genau, der fleischgewordene Versorgungsausgleich.
Ich freue mich sehr, dass alle Fraktionen nach den ab-
schließenden Beratungen im Rechtsausschuss signali-
siert haben, dem Gesetzentwurf heute zustimmen zu
wollen, sodass zum 1. September 2009 ein neuer Versor-
gungsausgleich in Kraft treten kann. Wir haben im Inte-
resse der Menschen ein gutes Gesetz auf den Weg ge-
bracht.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Szenen aus dem Gerichtssaal, die das Fernsehen nichtzeigt – ich habe das auch schon im Ausschuss vorgetra-gen –: Beim Scheidungstermin übergibt der Richter dennoch verheirateten Ehepartnern ein dreiseitiges Rechen-werk, an dessen Ende steht, wie viele Rentenanwart-schaften von dem einen Ehegatten auf den anderen über-tragen werden. Dann sagt der Richter: Fragen Sie michnicht, wie sich diese Berechnung zusammensetzt. Daswerden Ihnen Ihre Anwälte erklären. Daraufhin werdendie Anwälte bleich. – Das ist der Normalfall. SolcheSzenen dürften bald der Geschichte angehören.
– Ja, hoffentlich.Die bislang geltenden Regelungen zum Versorgungs-ausgleich – das ist schon angesprochen worden – wurdenvon Wissenschaft und Praxis einheitlich als kaum be-herrschbar, undurchschaubar und im Ergebnis ungerechtempfunden. Leidtragende waren in der Regel Frauen.Eine Rechtsmaterie, die selbst von Experten als kaumbeherrschbar bezeichnet wird, führt letztlich an dieGrenzen der Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips, näm-lich des Bestimmtheitsgebots. Somit war eine grundle-gende Änderung dieser Vorschrift überfällig und gebo-ten.In der endgültigen Fassung des Gesetzentwurfeswurde eines der möglichen Reformkonzepte aufgegrif-fen, und dieses wurde – so weit ist sich die überwie-gende Mehrheit der Fachwelt einig – schlüssig und klarformuliert und gut strukturiert umgesetzt. Es handeltsich also um einen guten Gesetzentwurf.
Dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten wir nichtzustimmen können. Es gab zu viele kritikwürdigePunkte, die unter anderem auch von den Sachverständi-gen in der öffentlichen Anhörung aufgegriffen wurden.Im Laufe der sich daran anschließenden Debatten – andieser Stelle möchte auch ich mich bei den Berichterstat-tern für die sachliche Arbeit in den Gesprächsrunden be-danken – wurden nahezu alle diese Kritikpunkte ausge-räumt, sodass der Gesetzentwurf nun stimmig ist undauch besonderen Fallkonstellationen angemessen Rech-nung trägt.Der Gesetzentwurf stellt eine erhebliche Verbesse-rung und Vereinfachung der Rechtslage dar, nicht nur fürAnwälte und Gerichte, sondern auch für den Rechtsun-kundigen; er ist nämlich besser zu durchschauen. Einwesentlicher Vorteil ist, dass keine Vergleichbarma-chung an sich nicht vergleichbarer Ansprüche stattfindet.Die Barwertverordnung – auch dieses Stichwort istschon gefallen – gehört der Geschichte an. BestehendeAnsprüche werden dort ausgeglichen, wo sie tatsächlichbestehen, also innerhalb der gesetzlichen Rentenversi-cherung, innerhalb der betrieblichen Altersversorgung.Auch wenn dies insbesondere den privaten Versorgungs-trägern ein gewisses Mehr an bürokratischem Aufwandabverlangt – später wird er ein wenig ausgeglichen –, istdies im Ergebnis für alle Beteiligten, insbesondere fürdie rechtsunkundigen scheidungswilligen Bürgerinnenund Bürger, nachvollziehbar und verständlich.Soweit eine externe Teilung mit Zustimmung des Be-rechtigten erfolgt – auch das ist bereits angesprochenworden –, haben wir uns selbst die Aufgabe gestellt – sosteht es auch in der Beschlussempfehlung –, bis zum In-krafttreten am 1. September 2009 eine entsprechendeAusgleichskasse gesetzlich zu verankern, damit auch in-soweit Rechtssicherheit herrscht.Geblieben ist die Ungleichbehandlung im Rahmender nachträglichen Anpassung von Anwartschaftsüber-tragungen. Dort werden nur die Regelsicherungssystemeerfasst. Warum nicht auch betriebliche und private Al-tersversorgungen? Oder sollte die nachträgliche Anpas-sung vielleicht nicht in Gänze entfallen?Unter dem Strich sind die Gründe, welche bei der Ab-stimmung zu einer Enthaltung geführt hätten, letztlichdoch noch, vorgestern Abend, entfallen, nachdem dieOpposition – das ist im Zusammenhang mit den entspre-chenden Anträgen angesprochen worden – noch einmaldarauf gedrängt hatte, dass die eingetragenen Lebens-partnerschaften genauso behandelt werden wie Ehe-schließungen. Vorgestern hat sich die Große Koalitionauf Art. 14 Grundgesetz besonnen und dem Ansinnender Opposition Folge geleistet. So kann das Gesetz dochnoch mit den Stimmen des ganzen Hauses verabschiedetwerden.
Metadaten/Kopzeile:
22180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Jörn WunderlichEs bleibt die Frage der Renten der geschiedenenFrauen aus der DDR; aber das ist an anderer Stelle zuklären.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nun hat das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-Ge-rigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Das Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsaus-gleichs ist ein wichtiges familienrechtliches Reformpro-jekt. Wir haben damit schon unter Rot-Grün begonnen,und wäre uns nicht der Kanzler abhandengekommen,
hätten wir es unter Rot-Grün wahrscheinlich auch been-det. Nun kommt dieses Projekt zum Abschluss, und dasist gut so.Der Versorgungsausgleich bei einer Scheidung ist vorallem für die Alterssicherung von Frauen von erhebli-cher Bedeutung. So profitierten 2005 mehr als 2 Millio-nen Versicherte davon. Ich begrüße sehr, dass wir beimFamilienrecht erneut einen fraktionsübergreifendenKonsens gefunden haben. Die Reform des viel zu kom-plizierten Versorgungsausgleichsrechts war ein Mam-mutprojekt. Ein neues System war aber auch deswegenerforderlich, weil die Bedeutung betrieblicher und priva-ter Altersvorsorge zugenommen hat.Beim Versorgungsausgleich nach Scheidung der Ehebzw. Aufhebung der Lebenspartnerschaft werden die Al-tersversorgung bzw. die entsprechenden Anwartschaftenaufgeteilt. Im bisherigen System ist nur bei der gesetzli-chen Rentenversicherung ein Ausgleich vorgesehen. Dasist kompliziert und führte zu Ungerechtigkeiten, geradeim Hinblick auf die Frauen; denn meist sind ja dieFrauen ausgleichsberechtigt. Die hohe Zahl der einge-reichten Petitionen hat deutlich gemacht, dass die Ideeder gleichen Teilhabe an der Versorgung nicht durchge-hend umgesetzt wurde und viele Menschen unter denUnzulänglichkeiten des bisherigen Rechts zu leiden hat-ten. Das werden wir jetzt ändern.
– Danke schön, Herr Kollege.
– Der könnte auch klatschen. – So ließ sich das Problemder Vergleichbarmachung der verschiedenen Ansprüchenicht befriedigend lösen. Frauen hatten häufig keinengerechten Anteil, insbesondere nicht an den Betriebsren-ten des geschiedenen Ehegatten.Das Thema hat darüber hinaus eine Ost-West-Rele-vanz. Der Versorgungsausgleich ist gerade für die Al-terssicherung geschiedener Frauen in Westdeutschlandbedeutsam. Aufgrund des Fortbestehens des Allein-ernährermodells stammten 2005 mehr als ein Drittel ih-rer Rentenansprüche, immerhin 260 Euro im Monat, ausdem Versorgungsausgleich. Bei den Frauen in Ost-deutschland – die überwiegend durchgängig erwerbstä-tig waren – ist es nur etwas mehr als halb so viel.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alte System warselbst für Spezialistinnen und Spezialisten nicht mehrdurchschaubar. Herr Gehb hat es, wie er mir vorhin ge-sagt hat, auch nicht verstanden.
Das neue System ist gerechter, und der Gesetzentwurfist verständlicher und transparenter. Statt eines Einmal-ausgleichs über die gesetzliche Rentenversicherung wirddie Teilung eines jeden einzelnen Anrechts, innerhalbdes jeweiligen Systems, eingeführt. So werden auchLeistungen bzw. Ansprüche aus Betriebsrenten hälftiggeteilt, wofür die ausgleichsberechtigte Person ein eige-nes Konto beim jeweiligen Träger erhält. Jede Einzelver-sorgung wird also zwischen den Ehegatten entsprechendder Ehezeit geteilt und innerhalb des gleichen Systemssaldiert. Dadurch entfallen Transferverluste und Progno-sefehler. Durch diese Regelung schaffen wir echte Teil-habegerechtigkeit.Nach der Sachverständigenanhörung im Rechtsaus-schuss wurden weitere Verbesserungen in den Gesetz-entwurf übernommen, die auch unsere Anliegen waren.Ich nenne nur die Antragslösung bei kurzer Ehedauer,also bei weniger als drei Jahren, und die Erweiterung desAusgleichs in Bagatellfällen und bei nicht abgeschlosse-nen Altfällen.Im Bericht des Rechtsausschusses ist im Übrigen aufWunsch der Grünen eine Klarstellung vorgenommenworden. Darin kommt die Absicht des Gesetzgebers zumAusdruck, die Kosten für die Betroffenen in bestimmtenFällen zu begrenzen.Abschließend möchte ich eine Änderung besondershervorheben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir unsdoch noch darauf verständigen konnten, die Lebenspart-nerschaften nahezu vollständig gleichzustellen und dieAusnahmen von den Härtefallregelungen zu streichen.Die CDU/CSU war ja bis kurz vor Schluss der Meinung,ein bisschen Diskriminierung dürfe bei eingetragenenPartnerschaften schon sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22181
(C)
(D)
Irmingard Schewe-Gerigk
Ich freue mich, dass sich hier die Kraft unserer Argu-mente durchgesetzt hat. Ich danke auch Ihnen, Frau Gra-nold, für Ihre Intervention. Es ist Ihnen vielleicht dochein bisschen peinlich; denn in Ihrer Pressemitteilungstand davon gar nichts. Ich glaube, die Kraft der Argu-mente hat sich durchgesetzt, und ich denke auch, dassdie von Ihnen ursprünglich bevorzugte Regelung vordem Bundesverfassungsgericht möglicherweise keinenBestand gehabt hätte.
Es gibt wirklich keine rechtlichen und sachlichenGründe für einen solchen Anachronismus. Darum dankeich Ihnen für die Beratungen. Wir sind froh, dass wirdieses Gesetz jetzt so einvernehmlich beschließen kön-nen.Recht herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Schewe-Gerigk, unserKanzler ist uns nicht aus Furcht vor dem Versorgungs-ausgleich abhandengekommen. Dafür hätten wir ihn un-ter Umständen sogar als Sachverständigen benennenkönnen.
Meine Damen und Herren, das gesamte Haus wirdheute der Strukturreform des Versorgungsausgleichs zu-stimmen: die Koalitionsfraktionen, die FDP, die Grünenund die Linke. Bei so viel Harmonie könnte man fast fra-gen, ob denn schon wieder Weihnachten ist. Ich glaubeaber, das hat damit etwas zu tun, dass wir in diesemFachbereich – wir haben in den letzten Wochen und Mo-naten ja nicht nur dieses komplexe Thema bearbeitet,sondern auch die FGG-Reform und das Unterhaltsrecht,und wir widmen uns jetzt noch dem Zugewinnausgleich –sehr sachorientiert und ohne Scheuklappen arbeiten unduns – die Ministerin hat das ja schon aufgeführt – ebenauch von Sachargumenten von außen leiten lassen. Dasmerkt man ganz deutlich an diesem Gesetzentwurf.
Wir haben uns Zeit gelassen und uns die Ausführun-gen in den Anhörungen nicht nur angehört, sondern dieeinzelnen Punkte auch angenommen und umgesetzt.Deswegen ist dieser runde Gesetzentwurf zustande ge-kommen.Warum mussten wir das aber überhaupt tun? Der Ver-sorgungsausgleich ist immerhin ein bisschen älter als30 Jahre. Er hat sich bewährt und ist auch keineswegsobsolet geworden. Das ist vereinzelt schon ausgeführtworden, weswegen ich das alles jetzt auch nicht wieder-holen will.Es hat sich in dieser Zeit sehr viel verändert. Mittler-weile haben wir eben nicht mehr nur die gesetzlicheRentenversicherung, wie das vor 30 Jahren vielleichtnoch die Regel war, sondern es haben sich viele Alters-versorgungssysteme daneben entwickelt. Die betriebli-che Altersversorgung und die private Altersversorgungwurden gestärkt. In all diesen Systemen musste es ebenauch einen Ausgleich geben.Dieser erfolgte bisher im Rahmen der gesetzlichenRentenversicherung durch sehr komplizierte Umrech-nungsmethoden. Deswegen haben die Rechtsprechungund diejenigen, die dieses Recht anwenden müssen, ge-sagt, dass sich dort etwas verändern muss und dass wirauf die Veränderungen, die sich in der Altersversorgungergeben haben, Antworten geben müssen.Mit dieser Strukturreform geben wir die Antwort.Rein materiell wird sich nichts ändern. Man muss auchganz klar sagen, dass wir dort auch gar nichts ändernwollen. Es muss diesen Ausgleich, wie er im Momentbesteht, geben. Es ist richtig, dass es diesen Ausgleichgibt. Wie gesagt: Ich bin froh, dass wir uns in einigenPunkten dann doch bewegt haben.Das gilt insbesondere dafür – darin waren wir alle unsschon bei der ersten Lesung einig –, dass wir die starreRegelung, nach der bei Ehen von kurzer Dauer ein Ver-sorgungsausgleich ausgeschlossen ist, nicht wollen, so-dass wir dort mehr auf den Einzelfall eingehen können.Wir haben uns dabei jetzt auch an dem orientiert, was dieRechtsprechung als Ehe von kurzer Dauer ansieht, näm-lich eine Ehe von maximal drei Jahren. Von daher ist dasalles auch in der Systematik geblieben. Das ist richtigund gut.Besonders richtig und gut ist, dass es ein Antragsrechtgibt, weil es natürlich auch bei Ehen von kurzer Dauerteilweise die Situation gibt, dass dennoch entsprechendeVersorgungsansprüche erworben wurden und es sichrentiert, diese aufzuteilen. Deswegen gibt es nicht diesestarre Regelung bzw. diesen starren Ausschluss, sondernein Antragsrecht.Meine Damen und Herren, es ist alles gesagt worden,nur nicht von mir. Deshalb möchte ich das jetzt nichtüberstrapazieren. Vielmehr möchte ich mich bei allen fürdas angenehme Klima bedanken, bei allen Berichterstat-tern, bei den Damen und Herren des BMJ und bei derJustizministerin. Ich wünsche mir, dass wir beim nächs-ten großen Thema, beim Zugewinnausgleich, auch ent-sprechend zusammenarbeiten werden.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
22182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Struktur-
reform des Versorgungsausgleichs. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/11903, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/10144 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen
aller Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist
jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen angenom-
men.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Gold-
mann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Agrardieselbesteuerung senken – Wettbe-
werbsnachteile der deutschen Landwirtschaft
abbauen
– Drucksache 16/11670 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP eine Redezeit von sechs Minuten er-
halten soll. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Edmund Geisen für die FDP-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Landwirt-schaft dient allen. – Dieser Slogan gilt auch heute noch.Bei der jetzigen Regierungskoalition – auch in dieserZeit der Krise – ist die Landwirtschaft jedoch das letzteStiefkind der Nation.
Wir von der FDP-Fraktion fordern seit Jahren eineKostenentlastung für die Landwirtschaft in den Berei-chen, in denen die Politik verantwortlich ist. Die mitre-gierende CDU/CSU redet nur, zeigt sich aber handlungs-unfähig.
Sie kann mit der SPD keine vernünftige Agrarpolitikmachen.
Die FDP-Fraktion war die einzige Fraktion, die die Ent-lastung bei Agrardiesel und Ökosteuer seit Anfang derLegislaturperiode nicht nur gefordert, sondern auch im-mer wieder in die parlamentarische Debatte eingebrachthat. Wir haben Wort gehalten.Den Ankündigungen der Union hingegen ist nochnicht ein Antrag gefolgt. Im Gegenteil, die von uns ein-gebrachten Anträge sind bislang alle nicht nur von derSPD, sondern von der gesamten Koalition abgelehntworden.Ich rufe kurz in Erinnerung: Anfang 2007 übernahmDeutschland die EU-Ratspräsidentschaft und hätte miteinem Vorstoß zur Harmonisierung bei der Agrardiesel-besteuerung punkten können. Deshalb hat die FDP-Bun-destagsfraktion ihren ersten Antrag zu diesem Themagestellt. Dieser wurde von der CDU/CSU-Fraktion undvon allen anderen Fraktionen in Bausch und Bogen ab-gelehnt.Trotzdem folgten von der Union in kurzen Zeitab-ständen immer wieder Forderungen nach einer Harmo-nisierung, zunächst vom damaligen bayerischen Land-wirtschaftsminister Josef Miller, dann vom Europa-abgeordneten Albert Deß. Es ist natürlich nichts pas-siert. Ein Jahr später, kurz vor der bayerischen Landtags-wahl, forderte Herr Deß erneut eine steuerliche Entlas-tung. Viele Agrarpolitiker von CDU und CSU wie PeterBleser und Herr Miller
forderten die Absenkung der Agrardieselbesteuerungund eine Harmonisierung innerhalb Europas.Herr Brunner, der bayerische Agrarminister, wollteüber den Bundesrat den Selbstbehalt bei der Agrardiesel-besteuerung kippen. Passiert ist allerdings nichts. Statt-dessen wurde fünf Tage später ein Antrag der FDP zurStreichung des Selbstbehalts im Agrarausschuss mit denStimmen der CDU/CSU und der SPD abgelehnt.Nichtsdestotrotz hat CSU-Landesgruppenchef PeterRamsauer das Thema vor zwei Wochen noch einmal me-dienwirksam in der Berliner Zeitung aufgegriffen, nach-dem klar war, dass die FDP erneut einen Antrag in denBundestag einbringen wird. Passiert ist allerdings nichts.Nun schwenkt sogar unsere Landwirtschaftsministe-rin Ilse Aigner auf die Unionsforderung nach einer Sen-kung der Agrardieselsteuer ein, und heute hat MinisterBrunner von der CSU in München ebenfalls die Senkungim Rahmen des Konjunkturpakets II gefordert.Passiert jetzt endlich etwas? Ich frage Sie: Was solldas? Seit zwei Jahren erleben wir immer nur leere Wort-hülsen. Wenn sich die Union und Ministerin Aigner ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22183
(C)
(D)
Dr. Edmund Peter Geisengenüber ihren SPD-Kollegen nicht durchsetzen können,dann sollten sie bitte schön auch nicht so tun als ob. Wobleibt da die Glaubwürdigkeit?
Übrigens wird, Frau Wolff und meine Damen undHerren von der SPD, bei dem gesamten Thema wiedereinmal der Stellenwert deutlich, den die Land- undForstwirtschaft in der Großen Koalition genießt.
Während die SPD bei der letzten Novelle des Mineralöl-steuergesetzes durchsetzen konnte, dass der Dieselein-satz in Hafenbetrieben aus Wettbewerbsgründen von derSteuer befreit wird, verweigert sie den Landwirten beimAgrardiesel jede noch so kleine Kostenerleichterung,und sei es nur die Aufhebung des Selbstbehalts von350 Euro. Was ist das für eine Politik?Die Landwirte sind von der Großen Koalition im Re-gen stehen gelassen worden.
Das Konjunkturpaket II enthält so gut wie nichts für dieAgrarbereiche. Die FDP will statt staatlicher Stützungs-programme die Rahmenbedingungen für die heimischeLandwirtschaft verbessern und so ihre Wettbewerbsfä-higkeit erhalten und stärken. Dazu ist eine Kostenentlas-tung notwendig.
Die deutschen landwirtschaftlichen Betriebe zahlennach wie vor die mit Abstand höchsten Agrardiesel-steuern in der EU. Während sie durchschnittlich 40 CentSteuern pro Liter zahlen müssen, liegt der Steueranteilbei unseren Nachbarn in Dänemark bei 3,2 Cent und inFrankreich bei 6,6 Cent pro Liter. Hinzu kommt inDeutschland noch die Ökosteuer, die den Treibstoff umweitere 200 Millionen Euro pro Jahr verteuert. Dieserextreme Steuernachteil der deutschen Landwirte beimAgrardiesel und bei der Ökosteuer ist Gift für die Wett-bewerbsfähigkeit dieser Branche.Ist Ihnen, meine Damen und Herren von der GroßenKoalition, eigentlich klar, dass einem durchschnittlichenbäuerlichen Familienbetrieb in Deutschland durch diedreijährige Verzögerungstaktik beim Agrardiesel einSchaden von circa 20 000 Euro entstanden ist? Sie habeneindeutig eine im wahrsten Sinne lebensnotwendigeWirtschaftsbranche vernachlässigt.
Wir von der FDP fordern dagegen: runter mit der Be-lastung durch die Ökosteuer, weg mit dem unsozialenSelbstbehalt und hin zur EU-weiten Harmonisierung derSteuern auf Agrardiesel!Ich hoffe, wir finden im Interesse der LandwirtschaftIhre Unterstützung.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Schindler für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ver-ehrte Damen und Herren im Plenum! Eigentlich ist IhrAntrag nur die halbe Miete, lieber Herr Dr. Geisen.Wenn ihr von der FDP einen Antrag stellt, dann solltetihr das richtig und gescheit machen.
Was soll eine Teillösung wie die in Ihrem Antrag vor-geschlagenen Maßnahmen der Dieselölverbilligung zurWettbewerbsangleichung auf europäischer Ebene? Ichkönnte zynisch feststellen, dass ihr aus der Sicht derdeutschen Landwirtschaft in eurem Antrag bescheidenseid. Wenn man den Selbstbehalt von 350 Euro streicht,wie es in eurem Antrag gefordert wird, stellt sich dieFrage, was den Betrieben bleibt, die bei einer Größe von150 bis 160 Hektar im Durchschnitt 16 000 Liter Gasölverbrauchen. Bleiben diese Betriebe außen vor?Wir haben in diesen Tagen keine Regelung hinbe-kommen. Ich rede jetzt für die Union. Zwei Kollegenvon der SPD werden sich noch zu diesem Thema äußern.Otto Bernhardt, Peter Bleser und andere haben versucht,im Rahmen des Konjunkturpakets II seitens der Unionnoch eine entsprechende Regelung aufzunehmen. Das isteine klare Feststellung.
Mir tut es leid, dass wir dies innerhalb der Koalitionnicht zusammen mit der SPD geschafft haben. DieGründe dafür werden mit Sicherheit nachher dargelegt.Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Wahlaus-sage der Union zum Agrarbereich – diese wurde von Pe-ter Bleser entscheidend mitformuliert –, wonach dieStreichung dieser Steuer im Hinblick auf den europäi-schen Wettbewerb in der kommenden Legislaturperiodevorgesehen ist. Wenn es der liebe Herrgott so will undwir dann mit der FDP koalieren – das wünschen sichmanche – oder wenn es wieder zu einer Großen Koali-tion kommt – in diesem Staat ist alles möglich –
– ich vergesse nicht die Partner in der jetzigen Verant-wortung –, dann muss es ein erklärtes Ziel sein, dieseWettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischenWirtschaftsraums zu beseitigen, selbst wenn sich dieBalken biegen sollten.
Herr Dr. Geisen, damals ist unter Frau Künast undHerrn Eichel mit der Ökosteuer eine weitere Belastunghinzugekommen. Das haben wir massiv bekämpft. AberSie sagen, diese Koalition habe für die Landwirtschaftnichts getan.
Metadaten/Kopzeile:
22184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollege Dr. Geisen?
Ja, gern.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Selbst wenn Sie mit uns nicht koalieren sollten, inte-
ressiert mich, ob Sie dann einen ähnlichen Antrag ein-
bringen und im Rahmen einer anderen Koalition die
Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung vornehmen
werden.
Ich biete Ihnen eine Wette an. Sie spenden mir einenMosel-Riesling, wenn wir es hinbekommen. Ich besorgeIhnen einen Pfälzer Riesling, wenn wir es nicht hinbe-kommen, Herr Dr. Geisen. Einverstanden? – Ich habeübrigens vor vier Jahren schon eine Wette mit Frau Kün-ast abgeschlossen. Ich sagte damals, dass sie in drei Jah-ren keine Ministerin mehr sei. Ich habe meine Wette ge-wonnen. Sie hat sie aber noch nicht eingelöst. Ichverspreche aber, dass ich meine Wette einlösen werde.Ich weiß, dass Sie das auch tun werden. – Sie dürfen sichwieder setzen, Herr Kollege.Zurück zu dem Vorwurf, wir hätten in der Großen Ko-alition nichts getan. Wenn man sich die Stabilisierungder Berufsgenossenschaftsbeiträge anschaut und sich vorAugen führt, dass wir im Konjunkturpaket II die Verbil-ligung der Krankenversicherungsbeiträge berücksichti-gen, muss man diesen Vorwurf mit allem Ernst zurück-weisen, Herr Dr. Geisen. Ich verweise zudem darauf,dass es ein großer Kampf war – und das war kein großerStreitpunkt mit der SPD in der Koalition –, die pauschaleUmsatzsteuer in Höhe von 10,7 Prozent beizubehaltenund wirksam werden zu lassen.Zur Erbschaftsteuerreform. Natürlich kann man fra-gen, warum es überhaupt eine gibt. Schließlich wolltenwir, jedenfalls viele in der Union, diese Steuer am liebs-ten abschaffen. Aber Sie kennen die Zwänge einerKoalition. Ich kann mir lebhaft die Neiddebatten vorstel-len, die vor allem von der Linken, die für diesen Staatnoch nichts gemacht haben, außer intelligente oder we-niger intelligente Zwischenrufe hier im Parlament zumachen, geführt worden wären. Als es aber darum ging,Verantwortung zu tragen, ist der Oskar fortgerannt, ge-nauso wie der Gregor in Berlin. Das zeigt die staatpoliti-sche Verantwortung der Fraktion Die Linke im Deut-schen Bundestag. Wenn es an das Arbeiten und um daskonkrete Umsetzen geht, ist mit denen absolut nicht zurechnen.Herr Dr. Geisen, die Leistungen, die diese Große Ko-alition im Hinblick auf das Image und das erfolgreicheWirken unserer Betriebe vollbracht hat – der Getreide-preis spiegelt das nicht richtig wider; die Grundstim-mung ist sicherlich von Zweifeln geprägt –, sind unstrit-tig. – Herr Goldmann, ich komme noch auf Sie zusprechen. Sie können ruhig eine Zwischenfrage stellen.
Herr Dr. Geisen, wenn wir Ihrem Antrag folgten,dann würden wir nicht nur die 125 Millionen Euro untenim Sockel streichen, sondern auch die 170 MillionenEuro für die Betriebe, die in Zukunft im Rahmen desKonjunkturprogramms investieren. Deswegen ist IhrAntrag im Hinblick auf das Konjunkturprogramm abso-lut fehlgeleitet. Natürlich sollen die unteren Sockel besei-tigt werden. Aber die Betriebe, die investieren – das sindsowohl Familienbetriebe als auch größere Betriebe –, sol-len ein deutliches Entlastungssignal bekommen; denndas Geld, das hier investiert wird, kommt direkt derWirtschaft zugute. Ich persönlich würde Ihrem Antraggern zustimmen. Aber es geht hier noch nicht einmal umdie Hälfte, sondern nur um ein Viertel des Vermögens.Abschließend sage ich zu den Kollegen der SPD-Fraktion: Mit uns könnte man reden. Es gibt viel Streitüber das Umweltgesetzbuch, aber eigentlich sind wirnahe beieinander. Trotzdem hatten wir starke Bedenken,gerade was Vorkaufsrechte und Grenzabstände betrifft.
– Frau Wolff, regen Sie sich doch nicht so auf; auch ichrege mich nicht so gerne auf, wenn Sie reden.
– Dann müssen Sie eine Zwischenfrage stellen. Wennich rede, kann ich Ihnen schlecht zuhören. – Die Um-weltgesetzgebung auf Bundesebene hat den Charme,dass wir in Zukunft nicht unterschiedliche Länderrege-lungen haben. Wenn sich die SPD etwas bewegen würdeund wir uns etwas beim Dieselöl bewegen würden, dannkönnten wir eine Kompromisslösung erreichen.
– Lieber Herr Goldmann, Sie lachen so schön. Wie kom-men Sie dazu, das Karlsruher Urteil so zu loben? Ichkann Sie zitieren. Sie wollen jetzt die freie Marktwirt-schaft. –
– Ich will jetzt nicht eine halbe Seite vorlesen. – Sie ha-ben das Karlsruher Urteil begrüßt, obwohl die Aktivitä-ten der CMA, sowohl was den Export als auch was dieWerbung für die deutsche Landwirtschaft in der Bundes-republik betroffen hat, gut waren.
Ich kann den Karlsruher Urteilsspruch nicht verstehen.Die Karlsruher Richter entlassen uns mit diesem Urteilin den freien Markt. Das Urteil bedeutet nichts anderes,als dass denjenigen die Unterstützung genommen wird,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22185
(C)
(D)
Norbert Schindlerdie erfolgreich waren. Das wird Auswirkungen auf denFremdenverkehr, auf den Rundfunk und auf die Wein-werbung haben. Deshalb halte ich es für zu kurz gegrif-fen, wenn die FDP jubelt und glaubt, dass jetzt derMarkt alles regelt.
– Ich will diese halbe Seite jetzt wirklich nicht vorlesen.Du weißt doch, was du geredet hast. Hier steht, dass vonHerrn Goldmann begrüßt worden ist, dass der KarlsruherUrteilsspruch in die richtige Richtung geht.Jetzt müssen wir die Gesamtverantwortung denEgoisten überlassen. Das kann doch nicht der richtigeAnsatz sein. Jetzt stellt sich die Frage, wie wir eine guteIdee, von der sowohl der in- als auch der ausländischeMarkt profitiert hat, auf Dauer aufrechterhalten. Deswe-gen sollten wir in den nächsten Tagen und Wochen unsereKraft darauf verwenden – das sage ich zum Schluss –,dieses neue Problem zum Nutzen aller in der Agrarwirt-schaft Tätigen zu lösen.
Herr Kollege, Sie haben noch eine Minute Redezeit.
Ich habe eigentlich alles dazu gesagt.
Sie müssen die Redezeit nicht ausschöpfen. – Herr
Goldmann hat eine Zwischenfrage, die der Redner, wie
ich sehe, zulässt. Herr Kollege Goldmann, bitte sehr.
Herr Kollege Schindler, machen wir es einmal ganz
einfach. Gestern war Ausschusssitzung. Sie werden sich
erinnern, dass es einen Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz gibt. Sie gehen
manchmal dorthin. In diesem Ausschuss ist gestern ein
relativ umfangreicher Bericht vom Staatssekretär, der
jetzt hier anwesend ist und der gestern von Fachleuten
begleitet war, über die Auswirkung des Urteils von
Karlsruhe auf den Absatzfonds und die angegliederten
Gesellschaften gegeben worden. Sagen Sie mir doch ein-
mal den Grund, warum Sie gestern nicht da waren.
Herr Goldmann, ich war bei der Debatte dabei, aber
Sie wissen, dass ich auch Mitglied des Finanzausschus-
ses bin. So weit ist die Gentechnik noch nicht, auch
wenn die FDP das gerne hätte, dass ich mich zweiteilen
und in beide Ausschüsse gleichzeitig gehen könnte. Das
geht beim besten Willen nicht.
Ich habe aber Ihre Äußerung gefunden, die in AGRA-
EUROPE zitiert wird: Für die FDP-Bundestagsfraktion
erklärten deren agrarpolitische Sprecher Goldmann und
Dr. Edmund Geisen, die Bundesverfassungsrichter hät-
ten die ungenügende demokratische Legitimation und
die Zwangsabgabe jetzt völlig zu Recht zum Anlass ge-
nommen, das Absatzfondsgesetz in weiten Teilen als
verfassungswidrig und nichtig zu erklären. – Sie begrü-
ßen das, ich bedaure es.
– Haben Sie nicht zugehört? Muss ich das jetzt noch
kommentieren? – Wir sollten uns die Frage stellen, ob
wir den Mut haben, eine gute Idee beizubehalten, die er-
folgreich war. Bisher wurden die Egoisten nicht berück-
sichtigt.
– Wenn Sie das nicht wollen, dann bringen Sie einen An-
trag in den Bundestag ein und sagen Sie uns, wie wir den
Mangel schnell beheben. Uns brechen jetzt nämlich
Strukturen weg, die absolut gut gearbeitet haben.
Danke schön.
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Kommen wir doch zurück zum eigentli-chen Thema dieser Debatte, zum Agrardiesel. CMA istein anderes Thema. Ich sollte auch darauf verweisen,dass es da durchaus berechtigte Kritik gab und noch gibt.Richtig ist, dass es bei der Agrardieselbesteuerungzwischen den EU-Mitgliedstaaten trotz gemeinschaftli-cher Agrarpolitik wirklich große Unterschiede gibt; dasist klar. Richtig ist auch, dass es dabei um viel Geld geht.Der Raiffeisenverband hat ausgerechnet, dass einedurchschnittliche deutsche Agrargenossenschaft mit1 400 Hektar bewirtschafteter Fläche einen Kostennach-teil von 55 600 Euro pro Jahr gegenüber einem französi-schen Betrieb von derselben Größe hätte, der quasi keineDieselsteuer zahlt.Aber Diesel ist eben nicht alles, was ein Bauerbraucht. Pflanzenschutzmittelsteuer, Düngemittelsteuerund Mehrwertsteuer belasten Landwirtschaftsbetriebe inanderen Mitgliedstaaten zusätzlich. Nur wenn alle ande-ren Wettbewerbsbedingungen in der EU gleich wären,wäre die Agrardieselbesteuerung ein klarer Wettbe-werbsnachteil für die einheimischen Betriebe. Wenn wirehrlich sind, müssen wir feststellen: So simpel ist eseben nicht, zumal wir uns in einer Übergangsphase be-finden, in der die Harmonisierung im Agrarsektor Schrittfür Schritt vollzogen wird. Deshalb ist aus Sicht der Lin-ken die Debatte über die Ungerechtigkeit innerhalb desdeutschen Agrardieselbesteuerungssystems viel wichti-ger.
Metadaten/Kopzeile:
22186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Kirsten TackmannUnser System diskriminiert zwei verschiedene Kate-gorien von Betrieben – es ist schon angeklungen –: Ers-tens: Betriebe, die größere Flächen bewirtschaften; dennsie bekommen ab der Kappungsgrenze 10 000 Liter Die-sel keine Steuerrückerstattung mehr. Zweitens. Bis zu ei-nem Selbstbehalt von 350 Euro muss ebenfalls die volleDieselsteuer bezahlt werden. Das diskriminiert wie-derum Klein- und Nebenerwerbsbetriebe, die oft gleichmehrfach durch das Netz der Agrarförderung fallen. Wereine flächendeckende Landbewirtschaftung möchte,muss auch diese Betriebe fördern.Daher ist unsere Forderung: erstens mehr Gerechtig-keit im System und zweitens eine Entlastung der Be-triebe von Energiekosten durch eine bessere Förderungdes Umstiegs auf alternative Energieversorgungsquellen.
Eine einfache Steuerrückzahlung in voller Höhe er-scheint auf den ersten Blick attraktiv. Es ist aber einerückwärtsgewandte Lösung für das real existierende Pro-blem. Aus unserer Sicht ist ein konsequentes Umsteuernnotwendig. Für eine nachhaltige Landwirtschaft inDeutschland und Europa ist es sinnvoll, Agrarbetriebedabei zu unterstützen, die Landmaschinenflotte umzu-stellen: auf dezentral erzeugte Agrotreibstoffe wie Bio-diesel, reines Pflanzenöl oder demnächst sogar Biogas.Das ist kein ganz einfacher und auch kein kurzer Weg;aber er führt in die Zukunft. Dazu müssen die Rahmen-bedingungen natürlich so gestaltet sein, dass die Kraft-stoffkosten der Betriebe real sinken und ihre technischenUmstellungsrisiken minimiert werden.Das Kuratorium für Technik und Bauwesen in derLandwirtschaft hat bereits vor Jahren ausgerechnet, dassdas erstens technisch geht und dass zweitens circa2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche ausrei-chen, um eine vollständige Eigenenergieversorgung derLandwirtschaft zu sichern. Es ist also machbar. Es fehlenoffensichtlich nur die Anreize. Pflanzenöl und Biodieselkönnen bereits jetzt in Landmaschinen verwendet wer-den, und sie sind für die Landwirtschaft bereits steuerbe-freit.Trotzdem ist für die Agrarbetriebe unter dem berühm-ten Strich die Nutzung des fossilen Diesels unter den jet-zigen Besteuerungsbedingungen immer noch günstiger.Die von der FDP vorgeschlagene umfassende Steuersen-kung würde die strukturelle Abhängigkeit der landwirt-schaftlichen Betriebe von fossilem Diesel noch zemen-tieren. Und das schlägt ausgerechnet die FDP vor, diesich doch sonst immer für Biokraftstoffe einsetzt! Damitwürde man aus unserer Sicht sogar eine wichtige Chancefür eine sinnvolle Nutzung von Agrotreibstoffen verpas-sen. Die Linke streitet deswegen weiter für politischeRahmenbedingungen, die die Agrarbetriebe bei der Be-wältigung der Herausforderungen der Zukunft unterstüt-zen und sie nicht davon abhalten.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Arndt-
Brauer für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Schon der Titel des FDP-Antrags „Agrardiesel-besteuerung senken – Wettbewerbsnachteile der deut-schen Landwirtschaft abbauen“ enthält die Unterstel-lung, dass es Wettbewerbsnachteile gibt. Der Redner derFDP, Herr Dr. Geisen, hat die zweite Unterstellunggleich hinterhergeschoben: Die SPD-Fraktion behan-dele die Landwirtschaft wie ein Stiefkind der Nation.
Ich möchte beide Unterstellungen aufs Schärfste zurück-weisen.
Ich persönlich komme aus einem dörflichen Bereichdes Münsterlandes. Wir haben dort keine kolchosenarti-gen Betriebe wie im Osten,
sondern eher mittelgroße Betriebe, die weder vomSelbstbehalt noch von der Kappungsgrenze betroffensind. Meine Großeltern kommen aus dem landwirt-schaftlichen Bereich; insofern habe ich keine Vorbehaltegegenüber der Landwirtschaft.
– Nein, ich habe keine Pferdekoppel.
Wir führen allerdings in der Landwirtschaft bei mir zuHause große Diskussionen über die Haushaltsberatungenund die Wirtschaftswege. Einerseits sagen mir die Land-wirte immer, die Agrardieselbesteuerung sei ein Pro-blem; man benutze die Landmaschinen eigentlich nurauf dem Acker, deshalb brauche man eine Sonderrege-lung. Bei den Diskussionen über die Haushaltsberatun-gen erlebe ich aber immer wieder, dass die Landwirtevor Ort sagen, der Zustand der Wirtschaftswege sei eingroßes Problem für die Landwirtschaft; man brauchediese Wirtschaftswege. Dazu sage ich immer, dass sichdie Landwirte schon festlegen müssen: Entweder sie fah-ren auf den Äckern oder sie benutzen die Wirtschafts-wege.
Solange die Landwirte auf den Wirtschaftswegen fahren,brauchen sie keine Sonderregelung, und wenn sie nurauf den Äckern fahren, brauchen sie keine Wirtschafts-wege.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22187
(C)
(D)
Ingrid Arndt-BrauerGrundsätzlich möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben,dass die Landwirtschaft in meinem Wahlkreis robust ist;ihr geht es gut. Die Landwirte meinen, sie seien von derWirtschaftskrise nicht betroffen. Das macht Sinn; denndie Lebensmittelproduzenten erzielen weiterhin guteAbsätze. Deshalb finden die Landwirte keine ausdrückli-che Erwähnung im Konjunkturpaket II. Die Landwirtewerden wie alle anderen Bürger entlastet; aber derAgrarbereich bedarf keiner besonderen Entlastung imKonjunkturpaket. Deswegen war es auch überhauptnicht einsichtig, Regelungen zum Agrardiesel in ir-gendeiner Form in das Konjunkturpaket aufzunehmen.Ich weise das Ansinnen des Kollegen Schindler aufsSchärfste zurück, im Zusammenhang mit dem Umwelt-gesetzbuch über den Agrardiesel zu verhandeln.
Wenn wir uns auf eine solche Basartaktik einlassen,dann verfehlen wir unser Ziel, eine vernünftige und zu-kunftsweisende Politik zu machen.
Ich möchte auf den Antrag der FDP zurückkommen.Er gliedert sich in drei Bereiche: Der erste Bereich be-handelt den Selbstbehalt, der zweite die Ökosteuer undder dritte die EU-Initiative.Der Selbstbehalt von 350 Euro macht Sinn, weil wirdurch eine Abschaffung den Verwaltungsaufwand im-mens aufblähen würden. Ich denke, eine gewisse Eigen-beteiligung in diesem Bereich ist, weil es – auch für dieKleinbetriebe – immer die Alternative Biodiesel gibt,durchaus zu verantworten.Die Ökosteuer greift im landwirtschaftlichen Bereichnicht stärker als in anderen Bereichen. Ich musste erstvorgestern erfahren, dass zum Beispiel die Bahn imFernverkehr riesige Wettbewerbsnachteile hat, weil dieÖkosteuer im Bahnbereich komplett draufgesattelt wird.
Hingegen werden andere Bereiche völlig ausgenommen.
Wenn wir sagen, dass es keine Wettbewerbsverzerrunggibt – das haben wir hier einvernehmlich festgestellt –,dann gilt dies auch für die Bauern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Geisen?
Ja.
Herr Kollege, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Frau Kolle-
gin, ich möchte gerne von Ihnen konkret wissen: Sind
Sie für eine Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung
in Europa – ja oder nein?
Ich darf Ihnen sagen, dass ich von der belgischen
Grenze komme; wir haben dort einen landwirtschaftli-
chen Betrieb. Ein Betrieb der gleichen Größe und der
gleichen Produktionsrichtung zahlt in Belgien im Ver-
gleich zu Deutschland jährlich 7 000 Euro weniger
Agrardieselsteuer. Halten Sie das für richtig?
Ein anderes Beispiel: In Ihrer Heimat, an der hollän-
dischen Grenze, zahlen die Münsterländer Bauern
10 000 Euro Agrardieselsteuer mehr als der niederländi-
sche Bauer. Halten Sie das für korrekt?
Das halte ich nicht für korrekt. Das hätte ich Ihnenauch noch unter Punkt drei gesagt. Ich war ja erst bei denPunkten eins und zwei. Sie können sich also ruhig wie-der hinsetzen.Ich komme jetzt zu Punkt drei. Ich möchte gerne, dasses zu einer europaweiten Regelung kommt. Es wäre mirwirklich ein großes Anliegen, wenn eine Harmonisie-rung erreicht werden könnte. Sie wissen, dass es schonhäufig Vorstöße gab. Wir können aber für eine Harmoni-sierung auf europäischer Ebene nicht alleine sorgen. Esgibt aber immer wieder entsprechende Ansätze. Es gibtauch eine Initiative unserer Bundesregierung; das hättenSie auch nachlesen können. Sie steht auf der Tagesord-nung für die Kommissionssitzung am 1. April 2009. Esist nicht klar, wie die Verhandlungen ausgehen werden.Ich hoffe aber, dass man bei den Vorverhandlungen, diees jetzt schon gibt, bis zum 1. April 2009 ein Stück wei-terkommt.Auch ich finde, dass es nicht in Ordnung ist, dass inEuropa unterschiedliche Regelungen bestehen.
Das habe ich nie in Abrede gestellt. Ich möchte hier aberganz eindeutig Folgendes festhalten: Wir wollen dieLandwirtschaft nicht als Stiefkind behandeln und sie erstrecht nicht benachteiligen; wir wollen aber auch nicht,dass das Thema Agrardiesel immer wieder mit anderenwichtigen Themen sozusagen gedealt wird. Das Problemder Besteuerung des Agrardiesels können wir nämlichhier prinzipiell nicht vor Ort lösen.
– Nein. – Mit einer einheitlichen Agrardieselbesteuerungauf europäischer Ebene habe ich überhaupt keine Pro-bleme, aber eine Subventionierung aus Mitteln des Bun-deshaushaltes lehne ich ausdrücklich ab.
– Die Bauern gehen nicht kaputt. Das ist Quatsch.
Metadaten/Kopzeile:
22188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich kann Ihre Frage nicht mehr zulassen; ich bin am
Ende meiner Redezeit. Vielleicht können wir es noch bi-
lateral regeln.
Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP fordert in ihrem Antrag zwei wesentliche
Dinge, nämlich die Senkung der Agrardieselsteuer und
die Streichung des Selbstbehaltes. Damit zeigt die FDP
ganz deutlich, dass sie verschiedene Punkte nicht begrif-
fen hat,
nämlich zum Beispiel den Zusammenhang zwischen
Energieverbrauch und Klimawandel, dass sie das Pro-
blem der Ressourcenverknappung ignoriert und dass sie
offensichtlich ihren stetigen Ruf nach Entbürokratisie-
rung, den sie wie eine Monstranz vor sich her trägt, sel-
ber nicht wirklich ernst nimmt. Denn der Selbstbehalt
senkt die Zahl der Begünstigten. Auf diese Weise entste-
hen eindeutig weniger Bürokratiekosten aufseiten der
Landwirte wie der Verwaltung. Hier geht es also um die
Frage, ob es mehr Gerechtigkeit oder mehr Bürokratie
geben soll. Ich denke, wie es derzeit läuft, ist es schon
ganz sinnvoll.
Sie ziehen lediglich ein einziges Argument für Ihren
Antrag heran, nämlich die niedrigeren Steuersätze in an-
deren europäischen Ländern, und versuchen, daran ver-
meintliche Wettbewerbsnachteile festzumachen. Das ist
– das werden Ihnen andere Kollegen auch noch sagen –
ziemlicher Unsinn.
Sie fordern eine Harmonisierung der Steuern – eine Har-
monisierung wäre okay; da bin ich ganz dicht bei Ihnen –,
aber keine Beseitigung der Ausnahmetatbestände für
große Energieverbraucher.
Dabei sollte man sich doch um eine Harmonisierung der
Preise für Energie, die ja der Motor unserer Wirtschaft
ist, auf einem vernünftigen Niveau und um einen effi-
zienten Umgang mit Energie auf europäischer Ebene
kümmern.
Die Diskussion um die Agrardieselbesteuerung zeigt
auch die Scheinheiligkeit der Union. Staatssekretär Mül-
ler hat noch beim II. Klimaforum des Deutschen Bauern-
verbandes gesagt, eine Verringerung der Energieeinsätze
in der Landwirtschaft um 20 Prozent in den nächsten
10 Jahren sei unbedingt nötig; daran müsse sich die
Landwirtschaft auch beteiligen. Das ist ein wunderbares
Ziel. Das tragen wir mit. Da sind wir dabei.
Doch nur wenige Tage später forderte Ministerin Aigner
in Passau – es war am 2. Februar, wenn ich richtig infor-
miert bin – eine niedrigere Agrardieselsteuer, um Wett-
bewerbsnachteile zu vermeiden.
Daran sieht man doch: Die Union hat noch weniger als
die FDP begriffen, dass das Öl knapper wird und die
Landwirtschaft beim Klimaschutz nicht außen vor blei-
ben darf.
Interessant ist auch – das kann ja nun alle Welt im
Spiegel nachlesen –, dass die CSU das ohnehin schon
von der Union ausgehöhlte UGB nur blockiert hat, um
für eine Zustimmung hierzu eine Senkung der Agrardie-
selsteuer einzutauschen. Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Das ist kein verantwortliches
Regierungshandeln, sondern das ist eindeutig Klientel-
politik.
Die Argumentation mit der mangelnden Wettbe-
werbsfähigkeit läuft dabei vollkommen ins Leere. Der
Umfang der Agrarexporte steigt seit Jahren. Der Herr
Staatssekretär Müller hat im Juni 2008 gesagt, dass bei
den Agrarexporten Rekordzuwächse von 17 Prozent ver-
zeichnet wurden. Noch im Januar haben Sie ganz stolz
und froh gesagt: Die Agrarexporte sind stabil. Wo ist
denn da bitte schön der Bedarf?
Ich komme noch einmal auf den Agrardiesel zu spre-
chen. Ich denke, es ist höchste Zeit, das Märchen vom
„Zurück zur billigen Energie“ zu beerdigen. Es wird nie
wieder billige fossile Energie geben.
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der HerrKollege Bleser würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22189
(C)
(D)
Wunderbar, denn damit verlängert er meine Redezeit.
Herr Kollege Bleser, bitte.
Danke, Frau Präsidentin! – Liebe Frau Kollegin
Behm, sind Sie wirklich der Meinung, dass die Land-
wirte mehr Diesel verbrauchen würden, wenn er etwas
billiger wäre? Er ist doch der große Kostenfaktor in der
Produktion. Meinen Sie nicht auch, dass es sich wegen
der landwirtschaftlichen Produktion auf den Ackerflä-
chen beim Agrardiesel um Prozessenergie handelt, die in
anderen Bereichen auch steuerbefreit ist? Hier wäre eine
Gleichbehandlung angebracht; das ist sicher auch Ihre
Meinung.
Lieber Kollege, ich bezweifle überhaupt nicht, dass
Diesel ein sehr wichtiges Betriebsmittel für die Land-
wirtschaft ist. Aber die Landwirte haben Alternativen.
Es ist bereits erwähnt worden, dass Biodiesel bzw. -öle
steuerbefreit sind. Ich muss Ihnen einmal Folgendes sa-
gen: Wenn die Bundesregierung die Landwirte unterstüt-
zen will, dann sollte sie nicht den fossilen Diesel billiger
machen. Sie sollte stattdessen die Umrüstung der alten
Traktoren und die Anschaffung neuer Traktoren fördern,
damit Pflanzenöl und Biodiesel eingesetzt werden kön-
nen. Damit kann man kleine Kreisläufe schließen. Damit
bleibt die Wertschöpfung erhalten.
– Ja, eben. – Warum kaufen die Landwirte es nicht? Da
muss man doch Anreize schaffen. An dieser Stelle ist das
Geld doch richtig angelegt.
Was macht aber die Bundesregierung stattdessen? Sie
legt ein Programm für Energieeffizienz in der Landwirt-
schaft in Höhe von 7 Millionen Euro jährlich auf. Diese
Größenordnung ist lächerlich; denn gleichzeitig gibt sie
1,5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie aus. Das ist
eine Investition in alte Technologie. Das ist die Politik
des „Weiter so“.
Hier zeigt sich ganz eindeutig, was Ihnen die Land-
wirtschaft wert ist. Anstatt nach der Senkung von Ener-
giesteuern zu rufen und alte Technologien zu unterstüt-
zen, sollten Sie in Innovation investieren, solange neue
Technologien nicht wettbewerbsfähig sind. Dort ist das
Geld richtig angelegt. Da müssen Sie finanziell unter-
stützen. Das hält die Wertschöpfung in der Region. Das
hilft der Landwirtschaft, und das hilft dem Mittelstand
dieses Sektors, den Sie mit Ihrer Biotreibstoffpolitik oh-
nehin kaputtgemacht haben.
Vielen Dank fürs Zuhören, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! 1973 gab esneun Staaten in der Europäischen Gemeinschaft. Seit2007 haben wir die EU-27. Und was passiert heute? ImJahre 2009 legt die FDP einen Antrag vor, in dem einEU-Vergleich von acht europäischen Ländern zu einerAussage für die gesamte EU führt. Meine Damen undHerren von der FDP, nehmen Sie es eigentlich immer sogenau?
Sie berichten in Ihrem Antrag von erheblichen Belas-tungen für die kleinen Betriebe. Ist Ihnen schon einmalaufgefallen, dass es nicht nur den Selbstbehalt, sondernauch eine Kappungsgrenze bei 10 000 Litern gibt?
– So weit sind sie nicht gekommen; das ist klar.In einem Punkt Ihres Antrages gebe ich Ihnen recht:Die Belastung für Dieselkraftstoff ist in Deutschland imVergleich zu anderen europäischen Ländern hoch. Aberdeshalb kann man doch nicht automatisch auf schlechteWettbewerbsbedingungen für deutsche Landwirteschließen. Das ist ein falscher Schluss, und das wird derSituation der Landwirtschaft überhaupt nicht gerecht.
Sie stützen sich in Ihrem Antrag auf ein Gutachtendes Ifo-Instituts. Das Ifo-Institut kommt in seiner Ge-samtbetrachtung der Steuern auf alle Produktionsmittelzu dem Ergebnis, dass Deutschland gemeinsam mit Ös-terreich und den Niederlanden im Mittelfeld liegt. Dasist richtig; Sie haben selber darauf hingewiesen. Däne-mark – das haben Sie zufällig vergessen; vorhin habenSie jedoch davon gesprochen, dass Dänemark eine ganzniedrige Agrardieselbesteuerung habe – ist ein wichtigerKonkurrent Deutschlands und weist nach dieser Gesamt-betrachtung die höchste Belastung auf. Da stimmt IhreArgumentation also nicht.In der Ifo-Studie, die Sie zugrunde legen, fehlen we-sentliche Faktoren, zum einen die soziale Absicherungder Bauern und zum anderen die Ertragsteuern. Ich gebezu, dass ein Vergleich gerade dieser Positionen sehrschwierig ist. Aber Sie können nicht außer Acht lassen,dass der Bund sehr tief in die Tasche greift, wenn es umdie soziale Absicherung der Bauern geht. Rund 3,7 Mil-liarden Euro geben wir dafür aus.
Metadaten/Kopzeile:
22190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, in diesemSegment nicht gut aufgestellt sind, dann weiß ich esauch nicht.
Frau Kollegin Wolff, darf ich Sie unterbrechen? Herr
Kollege Dr. Geisen hätte auch bei Ihnen eine Zwischen-
frage.
Gerne, Herr Dr. Geisen.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass diese Zu-
schüsse zu den Sozialversicherungen die Folge eines ge-
samtgesellschaftlichen Problems und damit ein Altlas-
tenproblem sind? Diese Altlasten betreffen, was den
Ursprung angeht, fast jede Familie. Das muss man deut-
lich machen. Dann kann man auch erkennen, weshalb
dieser Zuschuss begründet und notwendig ist.
Sind Sie angesichts der Begründung für diese sozia-
len Zuschüsse des Bundes sicher, dass es richtig ist, dass
die deutschen Landwirte pro Familienbetrieb 7 000 Euro
mehr Agrardieselsteuern zahlen als die Betriebe in den
Nachbarländern? Landwirte aus zwei benachbarten Län-
dern fahren mit ihren Maschinen nebeneinander; die Fel-
der sind zum Teil sogar grenzübergreifend. Können Sie
überhaupt begreifen, was es heißt, wenn die Bauern in
Belgien und Frankreich einen Riesenvorteil durch eine
niedrige Agrardieselbesteuerung haben? Sie plädieren,
wenn ich Sie richtig verstanden habe, für eine eher noch
höhere Agrardieselbesteuerung. Oder wie soll ich das se-
hen?
Herr Dr. Geisen, ich habe gerade versucht, Ihnen zu
erklären, dass man eine Gesamtbetrachtung der steuerli-
chen Belastung vornehmen muss – auf die Gesamtbe-
trachtung des Ifo-Instituts stützt sich ja auch Ihr Antrag –,
in die alles einbezogen werden muss. Ich sage voller
Stolz, dass wir als Bund diese Verantwortung wahrneh-
men und fast 4 Milliarden Euro in die Hand nehmen.
Das ist auch richtig. Aber das ist eine Entlastung, lieber
Herr Geisen, die die Bauern in anderen Staaten nicht ha-
ben. Auch das muss man in diesem Zusammenhang se-
hen.
Ich bin nicht für eine höhere Besteuerung, Herr Geisen,
sondern ich bin dafür, dass wir zukunftsorientiert arbei-
ten.
Wenn wir die Wettbewerbssituation betrachten, müs-
sen wir auch die Marktanteile sehen. Da will ich nur ein-
mal den Deutschen Bauernverband zitieren, der – Herr
Kollege Schindler kann das sicherlich bestätigen – in
seinem Situationsbericht 2009 schreibt:
Im Zehnjahresvergleich hat Deutschland seinen
Marktanteil bei den meisten Produkten halten oder
sogar ausbauen können.
Ehrlich gesagt, hört sich das für mich nicht nach einem
gravierenden Wettbewerbsnachteil an. Wettbewerbs-
situationen zu verbessern, ist gut. Dass die Landwirt-
schaft so gut dasteht, ist auch in Ordnung. Die gesetzli-
che Krankenversicherung der Landwirte wurde im
Konjunkturprogramm nicht außen vor gelassen. Sie pro-
fitieren zudem von den Steuersenkungen.
Uns geht es darum, in die Zukunft zu investieren. Uns
geht es darum, die Notwendigkeit der Steigerung der
Energieeffizienz in den Mittelpunkt zu stellen.
Da kann man Kosten sparen. Ich muss ganz ehrlich sa-
gen: Es tut mir zutiefst leid, dass unser Koalitionspartner
in der vergangenen Woche nicht zugestimmt hat, als es
um den Verzicht auf Besteuerung der Biokraftstoffe für
den öffentlichen Personennahverkehr ging.
Sie haben dem eine Absage erteilt. Das wäre eine Inves-
tition in die Zukunft gewesen. Damit hätten wir den
Landwirten geholfen und etwas Gutes für die Zukunft
getan.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11670 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung derHaftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor-ständen– Drucksache 16/10120 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussSportausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafüreine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damiteinverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22191
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtIch eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort für die Bundesregierung Herrn Parlamenta-rischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.A
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Müller!
Bürgerschaftliches Engagement ist wichtig für unsere
Gesellschaft. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt davon,
dass ihre Mitglieder sich aktiv einbringen und vor allem
dort für Ausgleich und Fürsorge sorgen, wo der Staat
dies nicht leisten kann.
Bürgerschaftliches Engagement muss weiter geför-
dert werden. Dazu gehört es, die rechtlichen Rahmenbe-
dingungen zu schaffen, damit Menschen sich gemeinsam
engagieren können. In Deutschland wird vor allem in
Vereinen, aber auch in Stiftungen beispielhafte gesell-
schaftliche Arbeit geleistet. Das Ehrenamt spielt dabei
eine besonders wichtige Rolle. Viele kleine Vereine kön-
nen nur deshalb effektiv wirken, weil die Vereinsämter
ehrenamtlich wahrgenommen werden. Es wird aller-
dings immer wieder berichtet, dass Vereinsmitglieder
zögern, Vereinsämter zu übernehmen – nicht etwa, weil
sie die damit verbundene Arbeit scheuen, sondern aus
Furcht vor eventuell unüberschaubaren Haftungsrisiken.
Zwar gibt es bereits nach geltendem Recht die Mög-
lichkeit, die Haftung der Vorstände gegenüber dem Ver-
ein und seinen Mitgliedern durch Satzungsregelungen zu
beschränken. Doch wissen viele dies nicht. Deshalb hat
der Bundesrat in seinem Entwurf eines Gesetzes zur Be-
grenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereins-
vorständen eine gesetzliche Haftungsbeschränkung ge-
genüber dem Verein und den Vereinsmitgliedern
vorgesehen. Ich begrüße dies ausdrücklich als wichtigen
Beitrag zur Förderung des bürgerschaftlichen ehrenamt-
lichen Engagements.
Dabei muss allerdings das Risiko des Vereinsvorstan-
des sorgfältig mit den eventuellen Risiken Dritter abge-
wogen werden. Deshalb ist es in diesem Spannungsfeld
gegenläufiger Interessen sinnvoll, zwischen den Ansprü-
chen Außenstehender und den Ansprüchen des Vereins
sowie einzelner Vereinsmitglieder zu unterscheiden. Es
ist durchaus angemessen, die Haftung des ehrenamtlich
tätigen Vereinsvorstandes gegenüber dem Verein sowie
gegenüber einzelnen Vereinsmitgliedern auf Vorsatz und
grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Nach außen hin,
also gegenüber Dritten, ist dagegen eine volle Haftung
nach wie vor unabdingbar. Der Verein kann hierfür
durch Abschluss einer Risikoversicherung allerdings
Vorsorge treffen.
Zur Unterscheidung, ob ein Vorstand tatsächlich ehren-
amtlich oder gegen Gehalt tätig wird, schlagen wir vor,
die Regelung des § 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz
einzuführen. Das Haftungsprivileg wollen wir auf die
Personen erstrecken, die für ihre Tätigkeit als Vereins-
vorstand eine Vergütung von nicht mehr als 500 Euro
pro Jahr erhalten.
Bei ehrenamtlich tätigen Vorständen von Stiftungen
– dieser Punkt ist im Bundesratsentwurf nicht enthalten –
besteht eine mit den ehrenamtlichen Vereinsvorständen
vergleichbare Haftungssituation. Auch sie sollten gegen-
über der Stiftung nicht für Schäden haften, die durch ein-
fache Fahrlässigkeit verursacht wurden. Die Stiftung
sollte ihre ehrenamtlichen Vorstände außerdem in glei-
cher Weise wie die Vereine von der Haftung für leichte
Fahrlässigkeit gegenüber Dritten freistellen. Wir können
eine Erstreckung des Haftungsprivilegs auf die Verlet-
zung steuerlicher oder sozialrechtlicher Pflichten nicht
gutheißen, und zwar auch deshalb nicht, weil die bisher
geltenden Risikobegrenzungen insoweit ausreichend
sind.
Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
war und ist auch für die Bundesregierung von herausra-
gender Bedeutung. Wir haben schon vieles zur Förde-
rung des Ehrenamtes getan, und wir sind auch weiterhin
aktiv. Zurzeit wird im Bundesministerium der Justiz ein
umfassender und gut verständlicher Leitfaden für Ver-
eine erstellt, den wir demnächst über das Internet allge-
mein zugänglich machen. Darin werden alle wesentli-
chen Fragen zum Vereinsrecht beantwortet.
Den vorliegenden Gesetzesvorschlag unterstützen wir
mit den eben von mir vorgetragenen Ergänzungen. Die
ehrenamtlich Tätigen leisten einen unschätzbaren, wert-
vollen Beitrag für unser gesellschaftliches Zusammenle-
ben. Wir sollten diesen Beitrag auch für die Zukunft er-
halten.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kolle-
gin Mechthild Dyckmans.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Wir haben es gehört: Der Gesetzentwurf soll dasbürgerschaftliche Engagement in Vereinen fördern. Dasbegrüßen wir von der FDP ausdrücklich.Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf, der aufeine Initiative des Saarlandes und Baden-Württembergszurückgeht, nunmehr auch im Bundestag beraten wird.Der Gesetzentwurf sieht – der Herr Staatssekretär hatdas schon ausgeführt – eine Begrenzung des Haftungsri-sikos von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstandsmitglie-dern vor. Auch das unterstützen wir ausdrücklich. Es istja beinahe schon ein Wunder, dass sich überhaupt nochMenschen finden lassen, die bereit sind, Vorstandsfunk-tionen zu übernehmen. Man muss bedenken: Für Ver-einsvorstände gelten die gleichen Haftungsrisiken wiezum Beispiel bei GmbH-Geschäftsführern. Ich meine,
Metadaten/Kopzeile:
22192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Mechthild Dyckmanshier ist eine Unterscheidung nicht nur erlaubt, sondernsogar geboten.
Natürlich macht es einen Unterschied, ob jemand vonBerufs wegen – in der Regel gegen gutes Gehalt – solcheine Arbeit übernimmt, oder ob er solche Verpflichtun-gen ehrenamtlich in seiner Freizeit, neben seiner berufli-chen Tätigkeit, in Sportvereinen, in sozialen Einrichtun-gen, in Einrichtungen der Kulturpflege, beim RotenKreuz, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder sonst woübernimmt.Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Ge-setzentwurf jetzt offensichtlich unterstützt. Das hat beider Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf noch ganzanders ausgesehen.
Auch im Dezember des letzten Jahres war die Bundesre-gierung noch nicht so weit. Auf eine Anfrage meinesKollegen Burgbacher hat sie zu dem Zeitpunkt geant-wortet, dass man noch nicht weiß, wie man damit umge-hen soll. Es ist schön, dass man jetzt offensichtlich auchin der Bundesregierung zur Einsicht gekommen ist und,wie im Entwurf vorgesehen, einen § 31 a BGB einführenwill.Gleichwohl glaube ich auch, dass es einige Punktegibt, über die wir noch einmal sprechen sollten. Zum ei-nen gibt es den angesprochenen Vorschlag, ob man auchdas Haftungsrisiko für Vorstände von Stiftungen be-grenzen soll. In diesem Zusammenhang muss man prü-fen, ob die Haftungsrisiken tatsächlich vergleichbar sind.Falls das so ist, sehen ich und meine Fraktion keinenGrund, dass man nicht auch den Vorstand einer Stiftungin den Genuss einer gesetzlichen Haftungsbegrenzungkommen lassen soll.Beim zweiten Punkt geht es um das Kriterium derUnentgeltlichkeit. Dazu wurde im Gesetzentwurf, aller-dings nur in der Begründung, ausgeführt, dass die Tatsa-che, dass man für eine Tätigkeit lediglich eine Aufwands-entschädigung oder ein geringes Entgelt bekommt, derUnentgeltlichkeit nicht entgegenstehen soll. Der Vor-schlag aus dem Justizministerium, der eine Konkretisie-rung des Unentgeltlichkeitskriteriums vorsieht, scheintmir zielführend zu sein, sodass man diesen Punkt nocheinmal besprechen sollte.
Ich bin auch froh, dass man im Ministerium offen-sichtlich wieder davon abgekommen ist, eine Verpflich-tung der Vereine zum Abschluss einer entsprechendenVersicherung vorzuschlagen. Gut, dass man sich davongelöst hat. Es war gut, dass Sie bis zum Februar gewartetund heute Ihre Presseerklärung herausgegeben haben, inder Sie mitteilen, dass Sie allem in der jetzigen Form zu-stimmen.Ich würde mich also freuen, wenn wir ohne größereparteipolitische Auseinandersetzungen diesen Gesetzes-vorschlag schnell verabschieden könnten; denn das liegtim Interesse Tausender Frauen und Männer, die sich eh-renamtlich in Vereinen engagieren und jeden Tag aufsNeue einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer akti-ven und lebenswerten Bürgergesellschaft leisten.Schönen Dank.
Für den Bundesrat hat nun das Wort der Ministerprä-
sident des Saarlandes, Peter Müller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dass bürgerschaftliches Engagement einen un-schätzbaren Wert für unsere Gesellschaft hat und es we-sentlicher Teil des Kitts ist, der diese Gesellschaft zu-sammenhält, ist eine Tatsache, die in diesem Hausebekannt ist und die deshalb nicht weiter vertieft werdenmuss.Folglich ist es unsere Aufgabe, Rahmenbedingungenzu schaffen, die ehrenamtliches Engagement unterstüt-zen und Anreize schaffen, dieses Engagement zu erbrin-gen, und dort, wo ehrenamtliches Engagement behindertwird, gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Hürden be-seitigt werden. Das war immer ein Ziel der Arbeit in die-sem Haus. Das wurde auch beim Gesetz zur weiterenStärkung des bürgerschaftlichen Engagements, daswichtige Verbesserungen für bürgerschaftliches Engage-ment gebracht hat, deutlich.Die Frage der Haftung von ehrenamtlich und unent-geltlich tätigen Mitgliedern in den Vereinsvorständen istdort nicht geregelt worden. Diese Frage wurde bei denBeratungen jenes Gesetzentwurfs im Bundesrat ange-sprochen. Der Diskussionsbedarf wurde bestätigt, undauf dieser Grundlage beruht der jetzt vorliegende Ge-setzentwurf des Bundesrates, der auf saarländische Ini-tiative hin zustande gekommen ist.
Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf des Bun-desrates dieses Stadium im Hohen Haus erreicht hat.Nicht allen Entwürfen des Bundesrates ist dieses Schick-sal beschieden.
Umso mehr freue ich mich, dass dies heute der Fall ist,
und zwar auch deshalb, weil wir heute über eine rege-lungsbedürftige Angelegenheit sprechen. Frau Dyck-mans hat es eben gesagt: Durch die Rechtsprechung istdie Haftung der ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständederjenigen eines GmbH-Geschäftsführers angenähertworden. Das ist mit Sicherheit nicht sachgerecht.Ich will es ganz kurz an einem Beispiel erläutern– der Fall hat sich in dem von mir vertretenen Bundes-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22193
(C)
(D)
Ministerpräsident Peter Müller
land zugetragen –: Es geht um einen großen Sportverein,in dem ein ehrenamtlicher Jugendleiter für die Jugend-arbeit zuständig ist. Daneben gibt es eine Vertragsspie-lerabteilung mit einem Geschäftsführer, der Steuernnicht zahlt und Sozialversicherungsbeiträge nicht ab-führt. Irgendwann fällt dies auf. Die Ansprüche werdengeltend gemacht. Der Geschäftsführer ist weg. Der Ver-ein kann die Forderungen aus dem Vereinsvermögennicht befriedigen. Plötzlich sieht sich der ehrenamtlichtätige Jugendleiter einem Haftungsbescheid in der Grö-ßenordnung von 35 000 Euro gegenüber. Das kann nichtrichtig sein.
– Wenn Sie dazwischenrufen, da habe der Ministerpräsi-dent nicht aufgepasst, sage ich an dieser Stelle: Im Saar-land ist das einfacher als in Nordrhein-Westfalen, aberum alles kann sich auch der saarländische Ministerpräsi-dent nicht kümmern.
– Das ist richtig.Ich glaube, dass die Notwendigkeit besteht, in diesemBereich eine faire Verteilung der Haftungsrisiken herbei-zuführen. Eine faire Verteilung heißt: Natürlich hat jederfür das einzustehen, was er selber tut. Natürlich hat jederfür vorsätzliches Handeln und für grobe Fahrlässigkeiteinzustehen. Aber in Fällen des bloßen Nichtwissens, inFällen einfacher Fahrlässigkeit muss nach meinem Da-fürhalten – und das ist auch die Sprache dieses Gesetz-entwurfes, der im Grundsatz breite Unterstützung fin-det – eine Haftungsfreistellung gegeben sein.Ich halte die Bedenken in der ursprünglichen Stel-lungnahme der Bundesregierung für nicht begründet.Auf den Hinweis, dass wir vergleichbare Situationen beiStiftungen, bei Pflegepersonen und Betreuern haben,kann mit dem Argument geantwortet werden, dass diesePersonengruppen in die Regelungen einbezogen werden.Im Übrigen besteht schon ein Unterschied: Bei Vereinenhandelt es sich in der Regel um immateriell orientierteTätigkeiten, während die anderen Gruppen, die ange-sprochen worden sind, typischerweise mit Fragen derVermögenssorge befasst sind.Auch den Hinweis, dass bei einer Haftungsfreistel-lung das Risiko besteht, dass die Haftung des Vereinsverschärft wird, halte ich für falsch. Es geht meist umdiejenigen Fälle, in denen der Verein nicht haften kann,weil er nicht leistungsfähig ist, weil das Vereinsvermö-gen nicht ausreicht. Ich glaube auch, dass der Hinweisdarauf, damit sei das Risiko verbunden, dass Sozialversi-cherungsbeiträge oder Steuern ausfallen, am Ende nichttragen kann. Wir müssen beachten, dass wir über Be-träge reden, die mit Blick auf das Gesamtsteueraufkom-men oder das Gesamtaufkommen im Bereich der Sozial-versicherung von absolut vernachlässigbarer Größe sind.
Wir müssen auch beachten, dass es hier um Tatbeständegeht, die dazu führen können, dass ehrenamtlichesEngagement, dass die Bereitschaft, sich in Vereinen ein-zubringen, breitflächig zurückgeht. Vor diesem Hinter-grund hat, glaube ich, das fiskalische Interesse zurückzu-stehen.Ich bitte herzlich darum, diesen Gesetzentwurf ausdem Bundesrat zu unterstützen und zielführend zu bera-ten.
Ich verbinde dies mit der Bitte um Verständnis dafür,dass ich die Debatte gleich verlasse, weil parallel die Fö-deralismuskommission tagt und meine Anwesenheit dorterforderlich ist.
Es ist keine Missachtung des Hohen Hauses. Unterstüt-zen Sie bitte diesen Gesetzentwurf im Interesse desehrenamtlichen Engagements in unserem Land! Wirbrauchen bürgerschaftliches Engagement. Es macht dieMenschlichkeit dieser Gesellschaft aus.Ich bitte um Unterstützung.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Der vorliegendeGesetzentwurf ist durchaus vernünftig. Ich denke, wirwerden ihm zustimmen. Über seinen Inhalt gibt es ver-mutlich nur wenig Streit. Aber worüber reden wir ei-gentlich? Die wirklichen Probleme werden mit diesemGesetz nämlich nicht gelöst.Auch ich möchte ein Beispiel anführen: Ein Vereinmit 20 Mitgliedern sammelt seit über 20 Jahren Spendenfür die Kinder und jetzt erwachsenen Opfer von Tscher-nobyl. Das gesamte Geld, das dieser Verein jemals ge-sammelt hat, wurde gespendet und nach Weißrusslandoder in die Ukraine geschickt. Man hat also geholfenund gute Arbeit getan.Einmal im Jahr führt der Verein, weil das Vorschriftist, seinen Vereinstag durch, bestätigt seinen Vorstandoder wählt ihn neu. An diesem Tag entsteht ein Brand– aus welchen Gründen, lässt sich hinterher nicht mehrermitteln –, und die Räumlichkeit, in der der Verein ge-rade tagt, brennt ab. Es entsteht ein Schaden in Höhe von25 000 Euro. Das Vereinsvermögen beträgt 38,50 Euro;das ist das Geld, das der Verein für Briefmarken ausgibt.Das gesamte übrige Geld wird schließlich, wie gesagt,gespendet und zum Beispiel nach Belarus geschickt.Nun fordert der Besitzer der Räumlichkeit, die abge-brannt ist, Schadensersatz. Der Verein zahlt seine
Metadaten/Kopzeile:
22194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Ilja Seifert38,50 Euro und ist damit bankrott. Wer muss jetzt zah-len? Am Ende müssen die Vereinsvorstände zahlen. Daskann doch nicht sein. Das, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, können wir nicht wollen.
– Dann klären Sie mich nachher bitte auf. Ich kann Ihnensagen: Das ist die Rechtslage. Das können wir aber nichtwollen.Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die ehren-amtlich tätig sind, keine Angst haben müssen, dass aufihr Privatvermögen zurückgegriffen wird. Dafür gibt esverschiedene Möglichkeiten. Man könnte zum Beispieleine Haftungsbegrenzung vornehmen. Man könnte fürVereine auch eine staatliche Garantie abgeben und dieKosten für Vereinsschutzbriefe übernehmen, natürlichnur für die der untersten Kategorie; das ist klar. Das wäreeine Möglichkeit, Vereine, die nicht das nötige Geld ha-ben, um eine Versicherung abzuschließen, nicht einmaleine Versicherung für eine Vereinsveranstaltung, vondiesen Belastungen zu befreien. Das wäre wichtig.In eine solche Regelung könnten wir auch die anderenZielgruppen, von denen immer die Rede ist, einbezie-hen. Wie sieht es denn mit amtlich bestellten Pflegerin-nen und Pflegern oder Betreuerinnen und Betreuern aus?Auch sie haben ein Haftungsrisiko. Auch diesen Perso-nen müssen wir helfen. Insofern besteht durchaus Hand-lungsbedarf.Dass der Staatssekretär diesen Gesetzentwurf jetzt un-terstützt, finde ich sehr erfreulich. Aber das Schauspiel,das Sie uns geliefert haben, indem Sie den vorliegendenGesetzentwurf des Bundesrates sechs Monate lang ver-schleppt haben, ist ziemlich beschämend. Ich finde, da-für hätten Sie zumindest ein Wort der Entschuldigungsagen können.
Noch eines: Wenn wir Politikerinnen und Politiker ei-nen Fehler machen, sind unsere Diäten, also unsere Ge-hälter, und unsere Pensionen genauso sicher wie unsereVermögen, solange wir nicht ehrenamtliche Vorsitzen-den eines Vereins sind, von dem ich gerade sprach. Dassauch Spitzenmanager von Banken und großen Unterneh-men solchen Haftungsrisiken nicht ausgesetzt sind, erle-ben wir in letzter Zeit Tag für Tag. Lassen Sie uns dafürsorgen, dass diejenigen, die von allen und immer wiederfür ihre unverzichtbare ehrenamtliche Arbeit gelobt wer-den – Sie haben sie sogar als „Kitt der Gesellschaft“ be-zeichnet –, nicht solchen Risiken ausgesetzt sind.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Hans-Christian Ströbele hat seine Rede
zu Protokoll gegeben,1) sodass nun als letzter Redner in
dieser Debatte der Kollege Dr. Peter Danckert für die
SPD-Fraktion das Wort hat.
1) Anlage 2
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich muss sagen: Esgefällt mir, dass Sie diesen Gesetzentwurf des Bundes-rates persönlich vertreten. Das zeigt Ihr großes Engage-ment. Ich bin Ihnen sehr dankbar – ich sage das ganzfreimütig über Parteigrenzen hinweg –, dass hier eineMinireform – das muss man so sagen, wenn man sichvor Augen hält, was wir zum Abbau von Bürokratie indiesem Bereich eigentlich alles regeln müssten – ange-stoßen wurde. Dass Sie heute Abend hier sind, ist wirk-lich verdienstvoll.
Ich hoffe, dass wir Ihre Anwesenheit nicht nur der Koin-zidenz mit einem anderen Termin verdanken, sonderndass Sie auch gekommen wären, wenn Sie hier keine an-deren Verpflichtungen gehabt hätten. Ich würde Siegerne einladen, noch ein bisschen zu bleiben; denn auchwenn wir nachher über die Reform des Untersuchungs-haftrechts reden, könnten wir Ihre Unterstützung brau-chen. Ich weiß allerdings, dass Sie nicht so lange bleibenkönnen.Im Prinzip ist zu der großen Rolle der ehrenamtlichTätigen alles gesagt worden. Im Sportbereich – diesemBereich, Herr Ministerpräsident, sind wir ja beide ver-bunden – sind mehr als 1 Million Menschen als Vereins-vorsitzende ehrenamtlich tätig. Die bisherigen Regelun-gen im Bürgerlichen Gesetzbuch sind defizitär, siemüssen geändert werden. Insofern – ich habe es ebenschon gesagt –: Danke für die Anregung und den Anstoßzu dieser Gesetzesinitiative!Was uns besorgt hat – das will ich freimütig sagen –,ist der Umstand, dass dieser Gesetzentwurf zu scheiterndrohte. Es ist der Initiative vieler Mitglieder des Sport-ausschusses und des Rechtsausschusses zu verdanken,dass es zu einem Gespräch kam, in dem wir zusammenmit dem Generaldirektor des Deutschen OlympischenSportbundes unsere Bedenken geschildert und deutlichgemacht haben, dass wir eine gesetzliche Regelung indieser Richtung wollen.Von einer Sternstunde zu sprechen, ist vielleicht über-trieben; aber ein Erfolg ist es, dass aus dieser parlamen-tarischen Initiative – was ja nicht allzu häufig ist – mitder Formulierungshilfe, die die Bundesregierung geleis-tet hat, ein Gesetz geworden ist, das wir hier beratenkönnen. Das eine oder andere wird im Rahmen einesFeintunings noch modifiziert werden müssen; aber dieRichtung stimmt, das Gesetz findet ja jetzt Zustimmung.Ehrenamtliche Tätigkeit muss in der Form, wie esjetzt vorgesehen ist, ein Stück weit geschützt werden.Wir wissen von den Vorsitzenden vieler Vereine, dassdie Frage der Haftung sie sehr bedrückt. Das von Ihnen,Herr Ministerpräsident, genannte Beispiel mit den35 000 Euro war ja noch relativ harmlos. Als Anwalthabe ich vor zehn, zwölf Jahren selber erlebt, wie einVereinsvorsitzender einen Haftungsbescheid über 1 Mil-lion DM bekam – was nicht nur familiär katastrophale
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22195
(C)
(D)
Dr. Peter DanckertAuswirkungen hatte. Die Forderung konnte aus demVereinsvermögen – indem ein Teil des Geländes ver-kauft wurde – bezahlt werden.Die Haftung ist ein kritischer Punkt, es ist kritisch,wenn sich der Vorsitzende darauf verlassen muss, dassim größeren Umfeld alles seine Ordnung hat. Von daherist die Haftungsbegrenzung, die wir mit diesem Gesetzvorsehen, notwendig. Auch die Form, in der wir das ma-chen, ist richtig.Nachdenken müssen wir vielleicht noch darüber, obdie unentgeltliche Tätigkeit mit 500 Euro richtig ange-setzt ist. Klaus Riegert, ich habe das so verstanden, dasswir darüber in den Gremien noch einmal diskutierenwerden. Ich halte diesen Maßstab für durchaus angemes-sen; aber man kann darüber diskutieren, ob wir das nochetwas ausweiten sollten.Herzlichen Dank noch einmal an Sie, Herr Minister-präsident Müller. Dank auch an alle anderen, die dazubeigetragen haben, dass wir in dieser Legislaturperiodemit der Schaffung eines § 31 a BGB eine seit langem insAuge gefasste Änderung des § 31 BGB herbeiführenkönnen.Ich glaube, dass diese Änderung draußen akzeptiertwird und ankommt, weil die ehrenamtlichen Vorsitzen-den der Sportvereine unter der bisherigen Regelung inder Tat gelitten haben. Sie mussten besorgt sein, weil sienicht genau wissen konnten, was auf sie zukommt.Durch die Beschränkung der Haftung setzen wir eindeutliches Zeichen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/10120 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolf-gang Nešković, Monika Knoche, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Abschiebungen in das Kosovo– Drucksachen 16/9143, 16/11370 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Werner KammerRüdiger VeitHartfrid Wolff
Ulla JelpkeJosef Philip WinklerInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ichsehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich umdie Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans-Werner Kammer, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jel-pke und Josef Philip Winkler.1)Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/11370, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 16/9143 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten AntjeBlumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPDFrauen und Mädchen mit Behinderungenwirksam vor Gewalt schützen und Hilfsange-bote verbessern– Drucksache 16/11775 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitHaushaltsausschussAuch hier wurde vereinbart, dass die Reden zu Proto-koll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden fol-gender Kolleginnen und Kollegen: Antje Blumenthal,Michaela Noll, Marlene Rupprecht, Ina Lenke, Dr. IljaSeifert und Markus Kurth.2)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11775 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinAndreae, Alexander Bonde, Christine Scheel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKontrollrechte aus Bundesbeteiligungen stra-tegisch nutzen– Drucksache 16/11761 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussFederführung strittigAuch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben,und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen:1) Anlage 32) Anlage 4
Metadaten/Kopzeile:
22196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtKlaus-Peter Willsch, Bernhard Brinkmann, Ulrike Flach,Roland Claus und Dr. Thea Dückert.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11761 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istallerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derSPD wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss,die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federfüh-rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beimAusschuss für Wirtschaft und Technologie – abstimmen.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-schlag ist damit abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD – Federführungbeim Haushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt fürdiesen Überweisungsvorschlag? – Ist jemand dagegen? –Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damitmit großer Mehrheit angenommen. Das heißt, die Feder-führung liegt beim Haushaltsausschuss.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Untersuchungshaftrechts– Drucksache 16/11644 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,Sie sind damit einverstanden. Dann wird so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hatHerr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Harten-bach das Wort für die Bundesregierung.
A
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr van Essen, bis zwei kann ich zäh-len. Ich habe die richtige Rede.Die Untersuchungshaft ist eine besonders schwerwie-gende Beschränkung der Freiheit und mit weitreichen-den Grundrechtseingriffen verbunden. Ich sehe es des-halb als eine positive Entwicklung an, dass die Zahl derUntersuchungshäftlinge trotz einer effektiven Strafver-folgung seit Jahren sinkt. 2006 gab es insgesamt etwa24 000 Untersuchungsgefangene. Das ist sicherlich nochimmer eine hohe Zahl; aber 30 Jahre zuvor, 1976, alsoweit vor der deutschen Einheit, waren es noch über42 000. Das ist ein Rückgang um 43 Prozent. Ich glaube,1) Anlage 5wir verdanken dies nicht zuletzt den Maßnahmen zurHaftvermeidung und der Justiz, die diese anwendet.Trotzdem bleibt die Untersuchungshaft eine beson-dere Herausforderung für den Rechtsstaat. Mit diesemGesetzentwurf der Bundesregierung wollen wir deshalbklar regeln, unter welchen Voraussetzungen welche Be-schränkungen der Freiheit zulässig sind. Wir wollenauch die Rechte der Festgenommenen stärken.Wenn U-Haft angeordnet wird, geht es nicht nur umdie Freiheitsentziehung selbst, sondern auch um beglei-tende Maßnahmen wie die Postkontrolle oder Besuchs-beschränkungen. Im Gesetz war bislang weder geregelt,welche Beschränkungen zulässig sind, noch, unter wel-chen Voraussetzungen diese erfolgen können. Es exis-tierte lediglich eine gemeinsame Verwaltungsvorschriftder Länder. Infolge der Föderalismusreform regelt nunder Bund das Ob der Untersuchungshaft und das gericht-liche Verfahren, während die Regelungskompetenz fürdas Wie des Vollzugs bei den Ländern liegt.Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen vor-stellen, die der Entwurf der Bundesregierung vorsieht.Zu den Beschränkungen, die Untersuchungsgefange-nen über die Freiheitsentziehung als solche hinaus zurAbwehr von Flucht-, Verdunklungs- und Wiederho-lungsgefahr auferlegt werden können, gehören vor allemdie Überwachung der sogenannten Außenkontakte: Be-suche, Telekommunikation und Briefverkehr sowie dieTrennung von anderen Gefangenen, die an derselben Tatbeteiligt waren. Alle diese Eingriffe müssen im Hinblickauf die Unschuldsvermutung und das Freiheitsrecht desBeschuldigten sorgfältig abgewogen werden. Dafürschafft unser Entwurf transparente und klare gesetzlicheRegeln. Nicht ausreichend sind künftig rein standardmä-ßige, unabhängig von den konkreten Umständen desEinzelfalls angeordnete Beschränkungen. Die zuständi-gen Stellen müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob solcheBeschränkungen wirklich erforderlich sind. Damit tra-gen wir der Unschuldsvermutung in Zukunft noch sehrviel besser Rechnung.Im Gesetz wollen wir außerdem den Rechtsschutzklarer regeln. Damit wird für die Inhaftierten künftigdeutlicher, dass und mit welchen Rechtsmitteln sie sichgegen Beschränkungen in der U-Haft rechtlich zur Wehrsetzen können. Das schafft mehr Klarheit für die Voll-zugspraxis, stärkt die Rechte der Betroffenen und ist einZugewinn an Rechtsstaatlichkeit.Eine zweite wichtige Neuerung geht auf eine Anre-gung zurück, die wir den europäischen Institutionen zumSchutz der Menschenrechte verdanken. Es geht darum,dass Verhaftete über ihre Rechte möglichst frühzeitigund umfassend belehrt werden. Wir regeln in diesem Ge-setz, dass Beschuldigte in Zukunft bereits bei ihrer Fest-nahme und zudem schriftlich belehrt werden. Das be-deutet, dass sie nicht nur einen mündlichen Hinweis,sondern auch ein Papier bekommen, auf dem zum Bei-spiel steht, dass sie spätestens am nächsten Tag einemRichter vorgeführt werden, dass sie das Recht haben,keine Aussage zu machen, und dass sie Zugang zu einemVerteidiger und einem Arzt bekommen können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22197
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred HartenbachDes Weiteren verbessern wir das Recht der Inhaftier-ten, ihre Akten einzusehen. Es gibt natürlich Fälle, in de-nen die Gewährung von Akteneinsicht die Ermittlungenund damit den Zweck der Untersuchungshaft gefährdenwürde. In solchen Fällen kann die Staatsanwaltschaft dieAkteneinsicht verweigern. Trotzdem muss der Untersu-chungsgefangene oder sein Verteidiger jedenfalls die In-formationen bekommen, die notwendig sind, um dieRechtmäßigkeit der Inhaftierung beurteilen zu können.Das ist auch ein Gebot der Waffengleichheit; denn wennman über die Gründe nicht Bescheid weiß, kann man ge-gen eine Inhaftierung keine gezielten Rechtsmittel er-greifen.Ich denke, es wird deutlich, dass dieser Gesetzent-wurf ein echter Gewinn an Rechtsstaatlichkeit ist. Wirstärken die Rechte der Betroffenen und stellen klare undpraxistaugliche Regeln auf. Wir schaffen damit eine guteBalance zwischen der Unschuldsvermutung, die für Un-tersuchungsgefangene gilt, und dem Bedürfnis des Staa-tes nach einer wirksamen Strafverfolgung.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Gesetz-entwurf vorgelegt hat. Trotzdem will ich daran erinnern,dass ich bei meiner grundsätzlichen Kritik bleibe. DieEntscheidung im Rahmen der ersten Föderalismusre-form, wonach die Gesetzgebung für den Strafvollzug aufdie Länder übergegangen ist und nur noch das Ob nachBundesrecht entschieden wird, halte ich weiter fürfalsch.
Das ändert aber nichts daran, dass das, was die Bun-desregierung jetzt vorgelegt hat, ein Schritt in die rich-tige Richtung ist; er wird von uns ganz außerordentlichbegrüßt. Herr Staatssekretär, ich sehe das genauso wieSie. Es ist gut, dass diejenigen, die in Untersuchungshaftkommen und für die weiter die Unschuldsvermutunggilt, über das unterrichtet werden, was ihnen vorgewor-fen wird, dass sie Anspruch darauf haben, dass ihnen einExemplar des Haftbefehls ausgehändigt wird, und– auch das ist sehr wichtig – dass dies dem Häftling,wenn er der deutschen Sprache nicht mächtig ist, in sei-ner Heimatsprache oder einer ihm verständlichen Spra-che vorgetragen werden muss.
Ich glaube, dass das ein wichtiger und richtiger Schrittist.Ein zweiter Punkt gefällt mir ebenfalls sehr gut. Inden ursprünglichen Entwürfen, die zur Diskussion stan-den, waren sehr starke Einschränkungen der Außenkon-takte des Häftlings vorgesehen. Sie sind in dem von Ih-nen vorgelegten Gesetzentwurf zu einer Vorgehensweisezurückgekehrt, die mir sehr gut gefällt, nämlich dass imEinzelnen geprüft wird, ob eine Notwendigkeit zur Be-schränkung der Außenkontakte besteht. Das muss dannauch ausdrücklich angeordnet werden. Das entsprichtmeines Erachtens dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, dasauch bei der Untersuchungshaft zu gelten hat.
Es gibt einen Punkt, zu dem sich der Gesetzentwurfnicht verhält, auf den ich aber gerne eingehen möchte,weil er immer wieder Gegenstand von Entscheidungendes Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wieauch des Bundesverfassungsgerichts ist: die Länge derUntersuchungshaft. Das muss einem tatsächlich Sorgemachen. Ich will nicht verhehlen, dass hier durchauszwei Seelen in meiner Brust wohnen. Wenn man wie ichaus der staatsanwaltschaftlichen Praxis kommt, dannweiß man, dass die Länge der Untersuchungshaftmanchmal gar nicht von der Justiz beeinflusst werdenkann. Wenn man als die Ermittlung führender Staatsan-walt oder Oberstaatsanwalt immer wieder den Gutachtermahnt, endlich sein Gutachten vorzulegen – das Gutach-ten ist für eine Anklageerhebung dringend erforderlich –,
– richtig – und wenn man alles unternommen hat, stattdie Hände in den Schoß zu legen, es aber trotzdem zu ei-ner langen Untersuchungshaftzeit gekommen ist, fällt eseinem manchmal schwer, einzusehen, wenn das Ober-landesgericht feststellt – wie es mir passiert ist –, dassdas nicht akzeptabel ist.
– Dazu komme ich noch. Deswegen habe ich darauf hin-gewiesen, dass das am Anfang, wenn man die Ermitt-lung führt, schwer einzusehen ist, vor allen Dingen,wenn der Beschuldigte – beispielsweise weil er weiß,dass ihn eine lebenslange Haft erwartet – schon alles or-ganisiert und gar keine Unterkunft mehr hat. Aber ichteile das, was Sie gesagt haben, völlig. Wenn man dasGanze nicht mehr mit professioneller Betroffenheit, son-dern mit etwas Abstand sieht – insofern bin ich für IhrenEinwand dankbar –, wird deutlich, dass der Betroffenenichts dafür kann. Deshalb bin ich dankbar dafür, dassdie Gerichte, insbesondere die Obergerichte, in diesemPunkt sehr streng sind.Ich hätte mir gewünscht – vielleicht können wir das inden Berichterstattergesprächen tun –, dass wir uns, wennes schon zu einer Reform des Untersuchungshaftrechtskommt, auch damit befassen, wie wir dem Problem derzu langen Untersuchungshaftzeit in unserem Land, diehäufig und auch zu Recht kritisiert worden ist, begegnenkönnen.
Metadaten/Kopzeile:
22198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Jörg van Essen
Das werden wir als FDP-Bundestagsfraktion in die Bera-tungen einbringen.Insgesamt halten wir – das möchte ich abschließendals Fazit festhalten – diesen Gesetzentwurf für einenSchritt in die richtige Richtung. Ich habe das Gefühl,dass alle Fraktionen gemeinsam etwas verbessern wol-len. Wenn der Wille da ist, sollten wir das auch nutzen,um zu einem Ergebnis zu kommen, das dem RechtsstaatBundesrepublik Deutschland dient.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sieg-fried Kauder das Wort.
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen!Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegen-über einem Unschuldigen.Das ist kein Ausspruch von mir – auch wenn er von mirsein könnte –, sondern eine Schlussfolgerung des ehe-maligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsge-richts, Hassemer, im Strafverteidiger 1984, Seite 38 ff.Untersuchungshaft ist die einschneidendste strafpro-zessuale Maßnahme, die man sich vorstellen kann. Völ-lig unvorbereitet wird ein Tatverdächtiger, für den dieUnschuldsvermutung gilt, in Haft genommen. Sich ausder Haft heraus zu wehren, ist außerordentlich schwie-rig. Deswegen nimmt jemand, der es sich leisten kann,einen Anwalt. Der Anwalt muss aber rechtzeitig Infor-mationen haben. Nach geltendem Recht konnte mandem Strafverteidiger, der unmittelbar nach der Verhaf-tung mandatiert wurde, Akteneinsicht verwehren, weilder Ermittlungszweck dem entgegenstand. Hier hilft dasneue Gesetz deutlich. Danach müssen dem Strafverteidi-ger die Aktenteile sofort zur Verfügung gestellt werden,die er benötigt, um die Rechtmäßigkeit der Anordnungder U-Haft zu beurteilen.
– Genau das steht drin, Herr Kollege.An dem, was ich gerade geschildert habe, merkt manaber, dass wir im Bereich des Untersuchungshaftrechtesein Zweiklassenwahlrecht haben. Derjenige, der es sichwirtschaftlich leisten kann, nimmt sich einen versiertenVerteidiger. Nach dem in Diskussion stehenden Gesetzbekommt der Verteidiger sofort Akteneinsicht und kannsich für seinen Mandaten gegen die Inhaftierung zurWehr setzen. Aber was macht derjenige, der das Geld füreinen Verteidiger nicht hat? Nach geltendem Recht be-kommt er in aller Regel bei nicht allzu schweren Delik-ten nach drei Monaten verbüßter Untersuchungshaft ei-nen Verteidiger. Ich habe genügend Erfahrung damit:Nach drei Monaten braucht der Verteidiger gar nichtmehr anzutreten. Die sozialen Kontakte und das Arbeits-verhältnis sind weg. Das Mietverhältnis ist aufgelöst.Daher ist in der ersten Sekunde der Festnahme die Ver-teidigung das Allerwichtigste.
Wir müssen den Gesetzentwurf, was diesen Bereichangeht, kritisch betrachten. Der Gesetzgeber hat im Ge-setzentwurf versucht, dieses Problem zu lösen. § 147Abs. 7 der neuen Fassung der Strafprozessordnung siehtvor, dass der nicht durch einen Verteidiger vertretene In-haftierte über seine Rechte angemessen informiert wird.Diese Krücke wird nicht helfen; denn mancher wirdnicht am Wohnort, sondern zum Beispiel irgendwo inNorddeutschland – weil er sich dort gerade aufhält – inHaft genommen, obwohl er in Süddeutschland lebt. Aufdem sogenannten Schubweg braucht er etwa 14 Tage,bis er an seinem Wohnortgefängnis angekommen ist.Wer will ihn dabei informieren? Das heißt, wir müssengenau diese Lücke im Gesetz schließen. Ich danke demKollegen Danckert. Wir beide unterstützen das Anlie-gen, dass dort, wo U-Haft angeordnet wird, ein Pflicht-verteidiger beizuordnen ist, und zwar sofort, nicht erstnach drei Monaten.
Die Freiheitsentziehung beginnt aber nicht erst mitder Anordnung von Untersuchungshaft. Nach § 128 derStrafprozessordnung kann die Polizei nach vorläufigerFestnahme einen Bürger, gegen den Tatverdacht besteht,bis zu 48 Stunden in Polizeigewahrsam halten. Auchdort muss schon interveniert werden. Nach geltendemRecht mussten die Familienangehörigen erst ab der An-ordnung von Untersuchungshaft informiert werden. Daswird im neuen Gesetz anders geregelt. Sofort nach dervorläufigen Festnahme sind die Familienangehörigen zuinformieren. Sie leben also nicht 48 Stunden im Unge-wissen.Wir müssen aber nicht nur regeln, dass der Festge-nommene sofort nach der vorläufigen Festnahme belehrtwird, dass er einen Verteidiger in Anspruch nehmenkann. Vielmehr soll all das, was Kollege Danckert undich uns wünschen, schon für den Bereich der vorläufigenFestnahme gelten. Auch dann soll der Bürger einen An-spruch auf einen Pflichtverteidiger haben, der angemes-sen informiert werden muss.
Der Kollege Montag nickt gefällig. – Das ist eine Forde-rung, die Strafverteidiger seit langem erheben. Wir wis-sen, dass das den Ländern Kosten verursachen wird.Aber es steht in Diskussion, die Tagessatzhöhen beiGeldstrafen, die bisher nach § 40 Abs. 2 des Strafgesetz-buches bei 5 000 Euro enden, deutlich anzuheben. Mandenkt darüber nach, die bisherige Obergrenze von 5 000
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22199
(C)
(D)
Siegfried Kauder
Euro auf 30 000 Euro anzuheben. Das ergibt für die Län-der die Möglichkeit finanzieller Mehreinnahmen, dieman sehr wohl für eine Pflichtverteidigerbestellung ein-setzen kann.
Vielleicht kann man von diesen Mehreinnahmen nocheine Forderung der Opfer erfüllen, deren Erfüllung bis-her am Widerstand der Länder gescheitert ist: 10 Prozentder Geldstrafen für opferschützende Organisationen.Sie sehen also: Wenn man will, dann ist einiges mach-bar. Ich würde mich auf eine weitere Unterstützung un-seres Anliegens einer vorgelagerten Pflichtverteidiger-bestellung freuen. Wir werden das im Rechtsausschussdebattieren können.Ich habe Ihnen zwei Minuten und 57 Sekunden Rede-zeit erspart.Vielen Dank.
Herr Kollege Nešković hat seine Rede zu Protokoll
gegeben1).
Damit hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bedingungen und Grenzen der Beschneidung der Frei-
heit im Rahmen der Untersuchungshaft aufzeigen – das
ist das, was ein Gesetz zur Reform der Untersuchungs-
haft leisten müsste. Dabei – ich stimme Ihnen völlig zu,
Herr Kollege Kauder – streitet für den nicht rechtskräftig
verurteilten Beschuldigten die Unschuldsvermutung.
Beschränkungen der Freiheit sind nur dann, wenn sie
unerlässlich sind, nur dann, wenn sie auf gesetzlicher
Grundlage erfolgen, und nur dann, wenn sie aufgrund
richterlicher Anordnung und richterlicher Durchführung
erfolgen, zulässig. Wir haben aber stattdessen seit Jahr-
zehnten nur § 119 Abs. 3 und Abs. 6 StPO und eine Ver-
waltungsfiktion in der Untersuchungshaftvollzugsord-
nung, wonach jeder Ermittlungsrichter, der sich zu den
Haftbedingungen der Untersuchungshaft nicht äußert, in
jedem einzelnen Fall fingiert alle Bestimmungen der Un-
tersuchungshaftvollzugsordnung für diesen Beschuldig-
ten anordnet.
In der Praxis ist seit Jahrzehnten über diese immer am
Rande der Verfassungswidrigkeit schrammende Praxis
diskutiert worden. Wir haben seit Jahrzehnten Vor-
schläge zur Reform der Untersuchungshaft von Verbän-
den, von Professoren und aus der wissenschaftlichen De-
batte. Ich finde, dass ein Gesetz zur Reform der
Untersuchungshaft den Stand und das Niveau dieser
1) Anlage 6
jahrzehntealten Debatte widerspiegeln müsste. Aber der
Entwurf greift diese Vorschläge mit keinem einzigen
Wort auf. Er beschäftigt sich nicht mit ihnen; sie werden
schlicht ignoriert. Stattdessen – das lesen wir in der Be-
gründung – wird krampfhaft ausgeführt und beteuert,
dass die Regierung und die Koalition nicht mehr kodifi-
zieren möchten, als seit Jahrzehnten in der Untersu-
chungshaftvollzugsordnung sowieso schon stehe. Dazu
kommt noch das Eingeständnis, dass man nachvollzie-
hen will, wozu die Bundesrepublik Deutschland inzwi-
schen von internationalen Organisationen gezwungen
wird. Sie, Herr Staatssekretär, haben die Entscheidungen
des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter
und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung
oder Bestrafung zitiert. Es gibt auch Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das,
was von diesen Organisationen von Deutschland ver-
langt wird, wird mit diesem Gesetzentwurf implemen-
tiert – auch da nicht vollständig –, aber nichts mehr. Es
fehlt unendlich viel.
Ich will kurz das Wichtigste nennen. Wir brauchen
eine feste Begrenzung der Dauer der Untersuchungshaft.
Herr Kollege van Essen, Sie haben das angedeutet. Wir
brauchen eine Beiordnung der Verteidigung ab dem ers-
ten Tag der U-Haft; Herr Kollege Kauder, darin sind wir
uns einig. Ich hoffe, dass das Parlament die Kraft haben
wird, das tatsächlich durchzusetzen. Wir brauchen die
volle Akteneinsicht in den Fällen der U-Haft. Herr
Staatssekretär Hartenbach meinte, dass nach der jetzt
vorgeschlagenen Regelung die Akten zur Verfügung zu
stellen sind, die die U-Haft begründen.
Im Text des Gesetzentwurfs heißt es, es seien der Vertei-
digung „die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in ge-
eigneter Weise zugänglich zu machen“. Das ist eine Ka-
rikatur des Rechts auf Akteneinsicht und eine Karikatur
der unabhängigen Verteidigung.
Die Anordnungen der Freiheitsbeschränkungen müssen
schriftlich und begründet erfolgen. Ihre Ausführung
durch die Staatsanwaltschaft wie auch die Polizei und
die Justizvollzugsanstalt bedarf der Zustimmung der Be-
troffenen.
Herr Kollege, ich möchte Sie ungern unterbrechen,
aber der Kollege Hartenbach hat eine Zwischenfrage.
Gestatten Sie diese?
Gerne.
Herr Kollege Montag, würden Sie als Jurist zurKenntnis nehmen, dass das Recht auf Akteneinsicht seitetwa 100 Jahren in § 147 Abs. 1 StPO normiert ist?Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass ich nur
Metadaten/Kopzeile:
22200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Alfred Hartenbachdarauf hingewiesen habe? Würden Sie außerdem zurKenntnis nehmen, dass die Beschränkung der Aktenein-sicht ebenfalls seit langem – ich weiß jetzt nicht, ob auchseit 100 Jahren – in § 147 Abs. 2 StPO normiert ist unddass dieser Gesetzentwurf den Schritt vollzieht, dassdem Inhaftierten und seinem Verteidiger auf jeden Fallausreichende Informationen zur Verfügung gestellt wer-den, damit sie wissen, warum er in U-Haft sitzt, welcheGründe dazu geführt haben?
Lieber Herr Kollege und Staatssekretär Hartenbach,
ich nehme als Allererstes zur Kenntnis, dass Sie in Ihrer
Rede davon gesprochen haben, dass dem Verteidiger im
Falle einer Inhaftierung seines Mandanten diejenigen
Aktenteile zur Verfügung gestellt werden
– doch; wortwörtlich haben Sie dies in Ihrer Rede gesagt –,
die die Untersuchungshaft begründen.
Jetzt hingegen reden Sie davon, dass lediglich Informa-
tionen in geeigneter Art und Weise zugänglich zu ma-
chen sind.
Ich bleibe bei meiner Einschätzung, da in dem Ge-
setzentwurf überhaupt nicht klargestellt wird, in welcher
Form dies zu geschehen hat, was geeignet und was we-
sentlich ist; das wird nicht normiert.
– Natürlich. – All dies bleibt in den Händen der Staats-
anwaltschaft. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf sogar
ein Rückschritt gegenüber der Rechtsprechung des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In der Praxis
wird es zurzeit so gehandhabt, dass diejenigen Akten-
teile, die die Haftgründe beinhalten, vorgelegt werden.
Die Formulierung des Gesetzentwurfs fällt dahinter zu-
rück.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, und zwar des Kollegen Kauder?
Aber sehr gerne. Danke.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Herr Kollege Montag, könnten wir uns auf eine diffe-
renziertere Betrachtungsweise einigen? Es gibt den ver-
teidigten Inhaftierten, und es gibt den nicht verteidigten
Inhaftierten. Eines ist schon nach altem Recht so: Das
Recht auf Akteneinsichtnahme steht nicht dem Beschul-
digten persönlich zu, und zwar aus gutem Grund – es
kann ja passieren, dass er Aktenteile entnimmt –, son-
dern nur dem Verteidiger.
Im Gesetzentwurf ist es wie folgt geregelt: Wird der
Inhaftierte verteidigt, hat der Verteidiger ab der vorläufi-
gen Festnahme einen Anspruch auf Einsicht in die we-
sentlichen Aktenteile, die es ihm ermöglichen, die
Rechtmäßigkeit der Haftanordnung zu beurteilen. Was
Sie zitiert haben, betrifft den nicht verteidigten Inhaftier-
ten. Ihm kann man keine Aktenteile zur Verfügung stel-
len; ich habe es in meiner Rede erwähnt. Deswegen be-
hilft man sich mit einer Krücke. Man sagt: Der nicht
verteidigte Inhaftierte erhält Informationen, die ihm die
Möglichkeit geben, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung
zu beurteilen. Da stellt sich die Frage, wie man ihm
diese Informationen erteilt, wenn er 14 Tage „auf
Schub“ ist. Deswegen sage ich: Für ihn muss man einen
Pflichtverteidiger bestellen.
Bitte, bringen Sie diese beiden Fallvarianten nicht
durcheinander. – Wie ich sehe, nickt der Kollege. Also
können wir uns auf diese Diktion einigen.
Ich will Ihre Frage nicht nonverbal, sondern verbalbeantworten.
Ich bin sehr wohl bereit, mit Ihnen jede differenziertesachliche Betrachtung nachzuvollziehen.
Wenn es so ist, wie Sie es jetzt geschildert haben – dassder verteidigte Angeklagte über den Verteidiger und zuHänden des Verteidigers die Aktenteile bekommt, in de-nen die Untersuchungshaft begründet ist –, dann wäreder Gesetzentwurf die Wiedergabe der Mindestanforde-rungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.Leider ist in dem Gesetzentwurf bisher noch davon dieRede, dass die Verteidigung für die Beurteilung derRechtmäßigkeit nur Informationen erhalten soll.Ich schlage vor, dass wir darüber im Rechtsausschussdiskutieren. Dann können wir uns gegenseitig die Textevorhalten und uns überlegen, ob wir vielleicht gemein-sam zu der Überzeugung kommen, dass es, wenn sichein Beschuldigter schon in Untersuchungshaft befindet,überhaupt keinen Grund mehr geben kann, dem Verteidi-ger nicht die volle Akteneinsicht zu gewähren, weil danneine Konterkarierung des Verfolgungszwecks aufseitendes Verteidigers überhaupt nicht möglich ist.Wir sehen es so: Dieser Gesetzentwurf ist – bisher je-denfalls – nicht der große Wurf. Er enthält nur das Aller-mindeste dessen, was notwendig ist. Er reflektiert nichtdie jahrzehntelange Diskussion über eine Reform desUntersuchungshaftrechts. Er muss in Zusammenarbeitaller Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschussnoch erheblich verbessert werden.Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22201
(C)
(D)
Nun hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege
Dr. Peter Danckert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
gen! Der vorliegende Gesetzentwurf bietet uns eine Dis-
kussionsgrundlage. Er nimmt in einigen Bereichen Kor-
rekturen vor, die aus meiner Sicht – man muss es einfach
so sagen – überfällig waren.
Die Norm des § 119 StPO, der bisher die Umstände
der Untersuchungshaft regelt, weist Defizite auf. Jetzt
wird eine neue Rechtsgrundlage geschaffen, die dem in
Untersuchungshaft Befindlichen rechtliche Möglichkei-
ten eröffnet, sich gegen einzelne Maßnahmen zur Wehr
zu setzen. Das ist überfällig.
Es ist notwendig, dass die Angehörigen rechtzeitig in-
formiert werden und nicht erst nach Wochen genau er-
fahren, was Sache ist. Auch das ist überfällig; es soll
jetzt geregelt werden.
Ich bin dem Kollegen Kauder sehr dankbar, dass er
zusammen mit mir eine Initiative gestartet hat. – Herr
Kollege Kauder, ich habe das Bedürfnis, auch zu Ihnen
zu reden.
– Dann schicken Sie ihn auf die Oppositionsbank. Was
macht der eigentlich bei der CDU/CSU?
– Macht das doch an anderer Stelle. – In einigen Berei-
chen besteht die Notwendigkeit, Defizite zu beseitigen,
die seit langem vorhanden sind. Lieber Kollege Kauder,
Sie haben davon gesprochen, dass wir im Bereich des
Untersuchungshaftrechtes ein Zweiklassenhaftrecht ha-
ben. Das haben wir in der Tat: Einerseits haben wir den
Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen
Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt
und ihn möglicherweise vor der Untersuchungshaft be-
wahrt; andererseits haben wir den nichtverteidigten Be-
schuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungs-
haft wandert und nach drei Monaten – das ist die jetzige
gesetzliche Regelung – möglicherweise Anspruch auf ei-
nen Verteidiger hat. Das müssen wir dringend ändern.
Es ist nicht so – das war vielleicht ein kleines Miss-
verständnis –, dass sich nur Unschuldige in Untersu-
chungshaft befinden. Untersuchungshäftlinge gelten als
unschuldig; das ist ein kleiner Unterschied. Es kann
durchaus sein, dass Personen, die in Untersuchungshaft
kommen, am Ende zu Recht bestraft werden; aber in der
Zeit, in der das noch nicht geklärt ist, gelten sie als un-
schuldig. In dieser Situation müssen sie maximale
Rechte erhalten. Dazu gehört auch – der Kollege
Dr. Miersch ist, glaube ich, derselben Auffassung –, dass
die Betroffenen von der ersten Minute ihrer vorläufigen
Festnahme an – spätestens jedoch, wenn ihnen ein Haft-
befehl ausgestellt wird – Anspruch auf einen Pflichtver-
teidiger haben. Das ist unverzichtbar. Das gehört sozusa-
gen zum rechtsstaatlichen Standard, den wir gesetzlich
normieren müssen.
Wir schaffen in § 147 StPO eine neue Regelung. Hier
wird jetzt endlich etwas festgelegt, was uns das Bundes-
verfassungsgericht schon vor Jahren vorgeschrieben hat.
Ich wundere mich sehr, dass das bisher noch nicht Ein-
gang ins Gesetz gefunden hat. Man könnte ja meinen,
dass sich die Untergerichte, wenn das Bundesverfas-
sungsgericht eine Entscheidung zu der Frage trifft, was
dem Anwalt des Beschuldigten bzw. dem Beschuldigten
selbst zur Verfügung gestellt werden muss – dazu sind
grundlegende Entscheidungen getroffen worden –, da-
nach richteten; sie tun es aber leider nicht. Deshalb ist es
richtig, dass wir das jetzt im Gesetz genau regeln.
Lieber Kollege Kauder – ich könnte noch viele andere
ansprechen –, auch hier legen wir viel Wert darauf, dass
es zu einer Gleichbehandlung des Verteidigten und des
Nichtverteidigten kommt. Das kann man nur erreichen,
indem man dem Beschuldigten von der ersten Minute an
einen Verteidiger an die Seite stellt.
Dazu sind wir, die Gesellschaft, gegenüber jemandem,
der als unschuldig gilt, verpflichtet. Erst wenn man im
Umfeld, vielleicht bei einem Bekannten, miterlebt, dass
es in einer ganz speziellen Situation keine Möglichkeit
zur Verteidigung gibt, versteht man, wie unerlässlich es
ist, verteidigt zu werden. Ansonsten weiß man nämlich
gar nicht, wie man sich wehren kann und welche Rechte
man hat.
Ich halte es an dieser Stelle auch für unverzichtbar
– das müssen wir im Rahmen der Ausschussberatungen
regeln –, dass die Informationen über das, was zur Ver-
haftung geführt hat, auch dem nichtverteidigten
Beschuldigten gegeben werden – wir plädieren für Ver-
teidigung von der ersten Minute an – und damit Gleich-
stellung erfolgt. Schon als Strafverteidiger habe ich nicht
verstanden, warum der unverteidigte Beschuldigte bis-
her darauf verwiesen wird, dass er die Akten erst erhält,
wenn er einen Verteidiger hat.
Herr Kollege, darf ich Sie an die Redezeit erinnern?
Ja, die Redezeit. Ich nehme die Redezeit des Kollegen
Nešković mit in Anspruch.
So einfach geht es leider nicht.
Liebe Frau Präsidentin, es ist ja die letzte Rede fürheute. Unsere Gäste hier würden sich wundern, wennwir schon um 19.06 Uhr Feierabend machten.
Metadaten/Kopzeile:
22202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Peter Danckert
Für all das habe ich Verständnis. Ich muss Sie trotz-
dem darauf hinweisen.
Ich denke, es ist richtig, dass der Beschuldigte jeder-
zeit weiß, was ihm konkret vorgeworfen wird und wo-
rauf er sich einzustellen hat. Die bisherige Regelung
weist ja starke Defizite auf und wird im Übrigen häufig
auch missbraucht, weil nach § 147 Abs. 2 der Strafpro-
zessordnung eine Akteneinsicht verwehrt werden kann,
wenn der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine
Entscheidung hierüber unterliegt in der Regel der subjek-
tiven Brille des Staatsanwalts. Sie ist dann nicht einmal
anfechtbar, sie kann selbst gerichtlich nicht überprüft wer-
den. Es kann allenfalls eine Dienstaufsichtsbeschwerde
erhoben werden. Das ist aber meistens fruchtlos. Auch
hier müssen wir also für mehr Rechtsstaatlichkeit sor-
gen.
Ich glaube, die unserer Beratung zugrunde liegende
Vorlage sollte von uns dafür genutzt werden, eingehen-
der über das Untersuchungshaftrecht nachzudenken.
Den Kollegen, die das vertieft tun wollen, empfehle ich
meine grundlegenden Ausführungen in den Mitteilungen
der Bundesrechtsanwaltskammer aus dem Jahre 1988,
die ich als Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bun-
desrechtsanwaltskammer gemacht habe.
Herr Kollege, wir werden das alles nachlesen.
Wir sollten diese Ausführungen im Übrigen in unsere
Beratungen einbeziehen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld, nicht zuletzt bei
den Schriftführerinnen.
– Selbstverständlich auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. – Ich hoffe auf eine fruchtbare, intensive
und weiterführende Beratung sowie dann eine gute Ent-
scheidung des deutschen Parlaments.
Vielen Dank.
Damit ist die Aussprache zu diesem Punkt geschlos-
sen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/11644 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Die
Überweisung ist damit so beschlossen. Dann können Sie
alle das noch schön vertiefen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entschädigungsregelung für durch Blutpro-
dukte mit HCV infizierte Bluter schaffen
– Drucksache 16/11685 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Jens Spahn, Christian Klei-
minger, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald
Terpe und Parlamentarischer Staatssekretär Rolf Schwa-
nitz.
Die Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus in
den 1980er-Jahren, die durch die Anwendung von Blut-
produkten ausgelöst wurden, haben vor allem die Gruppe
der Hämophilen betroffen, die aufgrund ihrer Erkran-
kung regelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten
angewiesen sind. Aber auch andere Patienten sind durch
Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden. Uns ist die
Tragik dieser Infektionen für die Betroffenen sehr bewusst
und unser Mitgefühl gilt den Menschen, die mit dem HC-
Virus infiziert wurden. Sie und ihre Angehörige hatten
und haben eine große gesundheitliche und psychische Be-
lastung zu tragen.
Einen Grund für eine staatliche Entschädigungsrege-
lung, wie sie nun im vorliegenden Antrag gefordert wird,
sehe ich jedoch nicht. Eine Entschädigungsregelung des
Bundes kann es nur geben, wenn staatliche Rechts- oder
Prüfungsaufsichten verletzt wurden. Eine staatliche Ver-
antwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrecht-
lich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Ent-
schädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik
Deutschland aber nicht. Im Ergebnis wird meine Ansicht
auch von der Rechtsprechung geteilt, welche in den bis-
herigen Verfahren die Entschädigungsansprüche gegen
den Bund unter anderem aufgrund mangelnder Kausali-
tätsnachweise ablehnt.
Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht ein-
deutig feststellen, da es sich bei dem Infektionsgeschehen
zum damaligen Zeitpunkt wohl – so hart das klingt – um
unvermeidbare Ereignisse handelte. Schließlich ließ sich
(C)
(D)
Jens Spahn
bis weit in die 80er-Jahre kein Verfahren finden, welches
eine Infizierung von Blutprodukten mit HC-Viren voll-
ständig ausschließen konnte. Auch die häufig angeführte
sogenannte ALT-Testung und andere damals bekannte
Verfahren waren nicht hinreichend spezifiziert, um eine
sichere Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu
treffen. Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland
vorgeschriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss
auf das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese
Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird,
bei deren Herstellung tausende Einzelspenden gepoolt
werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasma-
pools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizier-
ten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen
aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test
konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert
werden.
Die häufige Bezugnahme in der Argumentation für
eine Entschädigungsregelung auf die finanzielle Hilfe für
die durch Blutprodukte HIV-infizierten Personen, wie sie
auch im vorliegenden Antrag genommen wird, führt im
Zusammenhang mit der Entschädigungsforderung für
HCV-Infizierte zu Verwirrung. Der vom Deutschen Bun-
destag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIV-In-
fektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legis-
laturperiode erhob die Forderung nach einer finanziellen
Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infizier-
ten, welche der Bund auch direkt erfüllte. Eine Entschä-
digungsregelung oder humanitäre Hilfe für die durch
Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Personen
forderte er jedoch nicht. Insofern stellt sich die Sachlage
bei den HIV-Infektionen anders dar. Es wurde eindeutig
eine seinerzeitige Verantwortung des Staates durch den
Untersuchungsausschuss zugewiesen. Zudem ist eine
HIV-Infektion trotz aller Fortschritte in der medizini-
schen Behandlung im Gegensatz zur HCV-Infektion noch
immer in jedem Fall ein Todesurteil. Auch dies muss zu
einer anderen Bewertung führen. Wichtig ist es, in jedem
Fall sicherzustellen – und das ist bei uns in Deutschland
auch sichergestellt –, dass die HCV-Infizierten Zugang zu
einer flächendeckenden, hochwertigen Versorgung haben.
Bei Verweisen auf Entschädigungsregelungen anderer
Länder muss dieser Punkt differenziert betrachtet wer-
den. Diese Länder weisen eine im Vergleich zur Bundes-
republik abweichende staatliche Verantwortung für das
Gesundheitswesen und die Versorgung von Patienten auf.
Anbieter der Blutprodukte sind innerhalb Deutschlands
weitgehend private Unternehmen oder Einrichtungen,
welche nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik
Deutschland grundsätzlich eigenverantwortlich handeln
und zivil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die
stationäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung
ist in der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich or-
ganisiert.
Zu erwähnen ist aber auch, dass die Bundesregierung
wiederholt um eine gemeinsame Initiative für humanitäre
Hilfe für durch Blutprodukte HCV-infizierte Personen bei
den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, den
Blutspendediensten des Deutschen Roten Kreuzes und
den Ländern bemüht war, jedoch bei diesen auf Ableh-
nung stieß. Es ist zu wünschen, dass die Bundesregierung
Zu Protokoll
die Gespräche mit den genannten Partnern, darunter na-
türlich auch den betroffenen Patientenverbänden, fort-
setzt und vertieft.
Wir sprechen heute über den Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Entschädigungsregelung für durchBlutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen“. Auchwenn das Schicksal der von einer durch Blutprodukte ver-ursachten Hepatitis-C-Infektion betroffenen Patienten-gruppe bislang in dieser Legislaturperiode noch nichtGegenstand einer Plenardebatte war, so haben wir unsdoch auch als Parlamentarier zu verschiedenen Gelegen-heiten – im Ausschuss und auch im Berichterstatterge-spräch und ich auch persönlich in Gesprächen mit Be-troffenen – ausführlich mit der Problematik befasst. Ichwill ausdrücklich sagen, dass es sich hier jenseits allerfachlichen und juristischen Erwägungen auch mensch-lich um eine außerordentlich schwierige Materie handelt.Ich meine allerdings, dass die Linke mit ihrem Antrag derKomplexität der mit einer Entschädigungsregelung ver-bundenen Fragen und der Verantwortung gegenüber denbetroffenen Menschen nicht gerecht wird. Auch die Be-gründung ihres Antrages weist unzulässige Verkürzungenauf.Um es aber deutlich zu sagen: Keiner möchte das Leid,das den Betroffenen durch eine Infizierung mit Hepati-tis C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine – meist chro-nisch verlaufende – Krankheit, die auch zu schwerwie-genden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch Le-berkarzinomen führen kann. Der Leidensweg vielerErkrankter macht mich persönlich betroffen. Dennoch istes nicht korrekt, wenn man die von Hepatitis C betroffenePatientengruppe undifferenziert mit derjenigen Gruppegleichsetzt, die mit dem HI-Virus infiziert wurde, auf-grund dessen 1995 die „Stiftung Humanitäre Hilfe fürdurch Blutprodukte infizierte Menschen“ eingerichtetwurde. Denn bei Aids handelte es sich damals, als die Stif-tung gegen den anfänglichen Widerstand unter anderemder Pharmaindustrie eingerichtet wurde, um eine in je-dem Falle tödlich verlaufende Krankheit. Allein deshalbwar eine schnelle, unbürokratische Hilfe durch die Stif-tung, an der sich Bund, Länder, die Pharmaindustrie unddie Blutspendedienste beteiligten, so wichtig. Und auchheute, wo der Krankheitsverlauf bei Aids mehr und mehrchronisch wird, sind die modernen Therapien weiterhinmit ganz erheblichen Nebenwirkungen und hierdurchauch mit einer Beeinträchtigung in der Lebensqualitätverbunden.Entgegen der Behauptung der Fraktion Die Linke gibtes auch keinen zwingenden Nachweis dafür, dass im frag-lichen Zeitraum in den 70er- und 80er-Jahren nach demdamaligen allgemeinen Kenntnisstand tatsächlich undnachweisbar eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätteverhindert werden können. Insoweit macht man es sichauch zu einfach, diese Problematik allein aus der heuti-gen Sicht zu betrachten, mit dem Wissen, den Möglichkei-ten und der Medizin von heute.Um die Betroffenen nicht mit ihrem Schicksal allein zulassen, haben wir in der Vergangenheit die Bemühungen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22203
gegebene Reden
(C)
(D)
Christian Kleimingerder Bundesregierung für eine humanitäre Hilfe unter-stützt. Alle Bemühungen, mit dem Roten Kreuz, der phar-mazeutischen Industrie und den Ländern zu einer ge-meinsamen freiwilligen Regelung zu kommen, scheitertenjedoch, und dies bereits zu Zeiten, als die Grünen dieBundesgesundheitsministerin stellten.Mir ist übrigens trotz intensiver Recherche keine Ini-tiative aus jenen Jahren bekannt, in denen die PDS dasGesundheitsressort in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern innehatte. Dazu wäre damals doch ausrei-chend Gelegenheit gewesen.Der Antrag der Fraktion Die Linke ist deshalb wohldem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet. Dafür istmir allerdings die Sache zu ernst. Im Interesse der Betrof-fenen sollten wir nicht weiter Hoffnungen schüren, die inForm von Entschädigungszahlungen – durch den Bundallein – nicht erfüllt werden können.
Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es im
Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von überwie-
gend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und Patien-
ten durch die Anwendung von mit HCV-Viren verseuchtem
Blut bzw. verseuchten Blutprodukten zu HCV-Infektionen
gekommen ist. Je nach Ausprägungsgrad der Krankheit ist
für die Betroffenen hieraus zum Teil großes Leid entstanden,
und sie müssen zahlreiche Einschränkungen ihres Lebens in
Kauf nehmen.
Die immer wieder diskutierte Frage, ob diese Infektio-
nen zum damaligen Zeitpunkt hätten vermieden werden
können, darf nicht anhand der heute vorhandenen Erkennt-
nisse beantwortet werden. Vielmehr müssen die damalige
Situation und die damaligen Erkenntnisse berücksichtigt
werden. Hier geht der Antrag der Linken fehl. Eine staat-
liche Verantwortung, die zu haftungsrechtlichen Entschä-
digungsansprüchen führen würde, ist nach Angaben des
Bundesgesundheitsministeriums nicht gegeben. Gerichts-
verfahren haben in dieser Hinsicht nichts anderes ergeben.
Der 3. Untersuchungsausschuss in der 12. Legislaturpe-
riode „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ hat in
seinem Schlussbericht im Gegensatz zu den HIV-Infizierten
für die HVC-Infizierten keine konkreten Forderungen für
eine Entschädigung oder humanitäre Hilfen aufgestellt. Aus
Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist dennoch
auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch unter-
nommen worden, in Analogie zu dem HIV-Hilfefonds zusam-
men mit den pharmazeutischen Unternehmen, den Blutspen-
dediensten des Deutschen Roten Kreuzes und den Ländern
zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne der Betroffenen
zu kommen. Dies ist jedoch leider nicht gelungen. Es ist auch
nicht zu erwarten, dass sich an dieser Haltung im Hinblick
auf die Beurteilung der Situation etwas ändern wird. Inso-
fern werden mit dem Antrag falsche Hoffnungen geweckt.
In den 1980er-Jahren wurden einige Tausend Men-schen durch einen Arzneimittelskandal mit dem Hepati-tis-C-Virus, HCV, der zu schweren Krankheiten führt, in-fiziert. Verantwortlich für diesen Skandal waren in derBundesrepublik Deutschland das Bundesgesundheitsamt,Zu Protokolldie Pharmaindustrie, die Behandler und die Blutspende-dienste. Das behauptet nicht die Linke, sondern das hatder Bundestag bereits 1994 durch einen Untersuchungs-ausschuss festgestellt. Dennoch haben die Bundesregie-rungen Kohl, Schröder und Merkel bisher diesen Men-schen eine Entschädigungsregelung verweigert.Wie kam es dazu? Blutern fehlt ein Gerinnungsstoff,sodass sie bei geringsten Verletzungen verbluten können.Seit den 1960er-Jahren kann man ein Gerinnungsmittelaus Blutspenden gewinnen und als Medikament einset-zen. Dieses Medikament hatte aber die Folge, dass sichBluter mit Krankheiten der Blutspender infizierten. Seit1977 gab es aber ein funktionierendes Verfahren, mit demman Spenderblut behandeln konnte und gefährliche Virenwie das Hepatitis-C-Virus oder auch HIV abtöten konnte.Nach Tests und Arzneimittelzulassungsverfahren hättendie alten, verseuchten Medikamente ab 1982, 1983 nichtmehr verabreicht werden dürfen. Aber die betroffenenBluter wurden teils in den Praxen und in den Kranken-häusern bis 1987 weiter damit behandelt. Erst 1989wurde die Virusinaktivierung zur Auflage gemacht.Bis dahin infizierten sich mehrere Tausend Menschenmit HIV und HCV – oder beiden Viren. Für die mit HIVinfizierten Menschen wurde infolge des Untersuchungs-berichts völlig zu Recht das HIV-Hilfegesetz auf den Weggebracht. Für diese Gruppe gab es nun eine Entschädi-gungsregelung. Nicht jedoch für die mit HCV Infizierten.Die Linke hat dieses Thema im Gesundheitsausschussschon mehrfach zur Sprache gebracht und fordert für dieBetroffenen eine Lösung. Dafür gab es auch durchausSympathien bei den anderen Oppositionsfraktionen.CDU/CSU und SPD und die Bundesregierung wehrensich jedoch dagegen. Es bestehe keine haftungsrechtlicheVerpflichtung für eine Entschädigung, außerdem sei diePharmaindustrie nicht bereit, etwas zu zahlen. Die ein-zige Schlussfolgerung, die das SPD-geführte Gesund-heitsministerium daraus gezogen hat: Die Betroffenenwurden eingeladen. Es wurde ihnen aber lediglich er-klärt, warum Koalition und Regierung keine Entschädi-gungslösung beabsichtigen.Es drängt sich der Eindruck auf: Hier wird auf Zeit ge-spielt und auf die biologische Lösung des Problems. Dennnach einer österreichischen Studie verkürzt eine HCV-In-fektion das Leben um etwa 18 Jahre. In meinen Augen istdie Untätigkeit der Bundesregierung ein Skandal.Nicht nur in Deutschland gab es diese Infektionen,sondern in vielen Ländern. Diese gehen anders mit derSituation um, zum Beispiel Irland, Großbritannien, Ita-lien, Spanien, Schweden und Ungarn. Dort wurden Ent-schädigungsregelungen eingeführt. Anfang 2008 ist auchJapan nachgezogen. Dort hat die Regierung ihre Verant-wortung für die Infektionen ausdrücklich anerkannt, beiden Betroffenen um Entschuldigung gebeten und eineEinmalzahlung von bis zu etwa 250 000 Euro beschlos-sen. Und vor wenigen Wochen hat auch Frankreich eineEntschädigung beschlossen.Die Fraktion Die Linke fordert deshalb erstens eineumfassende Entschädigungslösung, zweitens an dieserEntschädigungslösung die Pharmaindustrie zu beteili-
Metadaten/Kopzeile:
22204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Frank Spiethgen, drittens die Entschädigung rückwirkend zu zahlen.Viertens. Alternativ zu monatlichen Zahlungen könntenauch einmalige Abfindungen gezahlt werden.Kurz: Die Linke fordert die Bundesregierung auf, um-gehend zu handeln und dem japanischen und den euro-päischen Beispielen zu folgen.
Man muss sich fragen, warum wir heute – 25 Jahre
nachdem sich hunderte Bluter durch ein staatliches Ver-
säumnis mit Hepatitis C infizierten – noch darüber debat-
tieren müssen, ob diesen Betroffenen eine Entschädigung
gewährt werden sollte oder nicht. Die Antwort liegt ei-
gentlich auf der Hand. Ich begrüße, dass sich die Linke
nunmehr der Forderung der Grünen anschließt, eine hu-
manitäre Entschädigung für durch Blutprodukte mit HCV
infizierte Bluter durchzusetzen. Unsere Fraktion hat be-
reits im letzten Jahr einen entsprechenden Antrag einge-
bracht, der sich weitgehend mit den Forderungen des
heute zur Debatte stehenden Antrags deckt.
Die Auffassung der Bundesregierung, bei diesen Infek-
tionen handele es sich um ein „unvermeidbares Ereig-
nis“, ist nicht haltbar. Dies hat der Bericht des Untersu-
chungsausschusses „HIV-Infektionen durch Blut und
Blutprodukte“ eindeutig gezeigt.
Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bun-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22205
Metadaten/Kopzeile:
22206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
– Drucksache 16/4972 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses
– Drucksache 16/11906 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Hans-Christian Ströbele
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Mi-
chael Grosse-Brömer, Christoph Strässer, Mechthild Dy-
ckmans, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag, Parlamenta-
rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Heute wollen wir in zweiter und dritter Lesung den Ge-
setzentwurf zur Neuregelung des Zugangs zum Anwalts-
notariat beschließen. Dies begrüße ich aus mehreren
Gründen ausdrücklich. Zunächst wird durch die geplante
Anpassung der Bundesnotarordnung dem Regelungsauf-
trag des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2004
entsprochen. Damals hat das Verfassungsgericht dem
Gesetzgeber eine Novellierung des Zugangs zum An-
waltsnotariat aufgegeben, die dem Prinzip der Besten-
auslese eine höhere Gewichtung einräumt. Dieser Auf-
trag wird heute erfüllt.
Wir beschließen die notwendig gewordene Anpassung
heute in diesem Hohen Hause, damit das Anwaltsnotariat
sein hohes Ansehen in der Bevölkerung beibehält. Der In-
stitution des Anwaltsnotariats wird durch den Gesetzent-
wurf gedient, weil die Novelle eine stärkere Berücksichti-
gung notarspezifischer Fachkenntnisse und damit ein
durchgehend hohes fachliches Niveau sicherstellt. Der
Entwurf dient aber auch den einzelnen Notaranwärtern,
weil er ihnen größere Rechts- und Planungssicherheit
verschafft. Letzteres halte ich, der ich selbst viele Jahre
als Anwaltsnotar tätig war, für einen in seiner Bedeutung
nicht zu unterschätzenden Aspekt. Anwältinnen und An-
wälte, die beschließen, das Amt des Anwaltsnotars beklei-
den zu wollen, müssen wissen, worauf sie sich einlassen
und wie ihre Chancen auf eine Zulassung stehen. Diese
Berechenbarkeit eines Lebensentwurfs ist für die Betrof-
fenen von großer Wichtigkeit. Das habe ich aus vielen
Schreiben und Telefonaten erfahren, die mich seit der
Einbringung der Initiative und verstärkt seit der ersten
Lesung in diesem Hohen Hause im Mai letzten Jahres er-
reicht haben.
Der heute unter Tagesordnungspunkt 18 gegenständli-
che Gesetzentwurf verdient also bereits deshalb Zustim-
mung, weil er einen Regelungsauftrag des höchsten deut-
schen Gerichts umsetzt und für die Beteiligten Planungs-
und Rechtssicherheit schafft. Ich halte den Entwurf aber
auch wegen seines materiellen Regelungsgehalts für
überzeugend. Dies möchte ich nachfolgend anhand
dreier Punkte näher darlegen.
Erstens bewirkt der Entwurf, dass künftig nur diejeni-
gen als Anwaltsnotare zugelassen werden, die für diesen
Beruf und diese Berufung objektiv die beste Eignung mit-
bringen. Wer das von mehreren Bewerbern im Einzelfall
ist, wird de lege ferenda anhand einer Punktzahl zu ermit-
teln sein, die sich zu 40 Prozent nach dem Ergebnis des
zweiten juristischen Staatsexamens und zu 60 Prozent
nach dem Ergebnis einer notariellen Fachprüfung be-
misst. Die Einführung dieser notariellen Fachprüfung
stellt gewissermaßen das Kernstück der hier maßgeben-
den Bundesnotarordnungsnovelle dar. In vier schriftli-
chen Aufsichtsarbeiten sowie in einer mündlichen Prü-
fung müssen Notaranwärter vor einem eigens dafür bei
der Bundesnotarkammer einzurichtenden Prüfungsamt
ihre Fachkenntnisse unter Beweis stellen. Der Prüfungs-
umfang wurde dabei im Vergleich zum Ursprungsentwurf
abgespeckt. Das wird der Bestenauswahl keinen Abbruch
tun.
Der zweite Grund, weshalb ich für eine breite Zustim-
mung zu dem uns vorliegenden Entwurf werben möchte,
ist dessen Festhalten am Leitbild des Notars als Träger
eines öffentlichen Amtes. Wer sich unter dem Berufsbild
(C)
(D)
Michael Grosse-Brömer
des Notars lediglich einen „Urkundenvorleser“ vorstellt,
hat weit gefehlt. Als Mittler zwischen den Interessen sor-
gen Notare in dem für jede Gesellschaft so elementar
wichtigen Bereich des außergerichtlichen Rechts für ei-
nen adäquaten Ausgleich unterschiedlicher Interessen.
Diese Hoheitsaufgabe verdeutlicht übrigens ganz plas-
tisch das Amtsschild des Notars mit dem entsprechenden
Landeswappen.
Um die unbedingt erforderliche Unabhängigkeit und
Überparteilichkeit auch künftig zu gewährleisten, muss
der zu bestellende Notar – wie bereits de lege lata – seit
mindestens drei Jahren ununterbrochen in dem in Aus-
sicht genommenen Amtsbereich als Anwalt tätig gewesen
sein. Insgesamt muss ein Bewerber mindestens fünf Jahre
in nicht unerheblichem Umfang die Tätigkeit des Rechts-
anwalts ausgeübt haben. Diese Voraussetzungen sollen
sicherstellen, dass ein Notar über hinreichende Kenntnis
der örtlichen Gegebenheiten, über notwendige Kontakte
und über jene finanzielle Unabhängigkeit verfügt, die von
einem Träger eines öffentlichen Amtes zwingend einzu-
fordern ist.
Als dritten Punkt möchte ich schließlich auf eine durch
die Novelle zu erzielende Verbesserung der Rechtslage
eingehen, die vor allem den am Anwaltsnotariat interes-
sierten Rechtsanwältinnen und deren Familien zugute-
kommen dürfte. Bereits anlässlich der ersten Lesung des
Entwurfs am 8. Mai 2008 habe ich auf das Problem des
geringen Anteils der Frauen bei den Anwaltsnotaren hin-
gewiesen. Dieser bedauerliche Umstand war und ist
maßgeblich auf den derzeit noch bestehenden „Zwang
zum Scheinesammeln“ zurückzuführen. Bislang gestal-
tete sich die faktische Situation nämlich so, dass Notaras-
piranten ihre Chancen auf Zulassung durch ein Anhäufen
von Fortbildungsnachweisen verbessern konnten. Da al-
lerdings die entsprechenden Fortbildungsveranstaltun-
gen hauptsächlich an Wochenenden stattfanden, hatten es
Anwältinnen und vor allem Anwältinnen mit Kindern
häufig schwerer als andere. Hier sorgt die Neuregelung
des Zugangs zum Anwaltsnotariat für Abhilfe. Wie be-
schrieben, soll es künftig mit der notariellen Fachprüfung
maßgeblich auf die Qualität und nicht mehr auf die Quan-
tität der Fachkenntnisse ankommen. Obgleich von den
Bewerbern umfassende Kenntnisse verlangt werden, wird
künftig eine berufsbegleitende Vorbereitung eher möglich
sein, als dies bislang der Fall war. Wenn Juristinnen, wie
in der öffentlichen Anhörung mehrfach vorgetragen
wurde, im zweiten juristischen Staatsexamen eine höhere
Durchschnittsnote erzielen als ihre männlichen Kollegen,
dürfte dies zusammen mit der notariellen Fachprüfung zu
einem insgesamt höheren Frauenanteil bei den Anwalts-
notaren führen.
Des Weiteren möchte ich positiv hervorheben, dass die
im Entwurf bestimmte Übergangsfrist von 24 Monaten
allen Beteiligten hinreichend Zeit einräumt, sich auf die
geänderten Zugangsvoraussetzungen einzustellen.
Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, der
nicht Gegenstand dieses Gesetzentwurfs ist, aber im di-
rekten Zusammenhang damit steht. Es handelt sich um die
angemessene Vergütung der Notare in Deutschland. Das
Notarkostenrecht soll mittelfristig angepasst werden. Da-
Zu Protokoll
für ist es auch höchste Zeit. Das Bundesjustizministerium
hat am 10. Februar 2009 ein entsprechendes Experten-
gutachten vorgestellt und angekündigt, die Ergebnisse
der eingesetzten Kommission mit Blick auf einen mögli-
chen Referentenentwurf eingehend zu prüfen. Ziel muss
es sein, die Kostenordnung nach oben anzupassen. Das
Recht der Notare wird sich somit weiterentwickeln.
Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Verab-
schiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Neurege-
lung des Zugangs zum Anwaltsnotariat einen wichtigen
Beitrag für ein unverändert hohes Niveau der deutschen
Rechtspflege darstellt.
Ich freue mich, dass wir mit dem vorliegenden, in zwei-ter und dritter Lesung zu verabschiedenden Gesetzentwurfzur Neuregelung des Zugangs des Anwaltsnotariats einGesetz verabschieden werden, das auf ganz überwiegendeZustimmung sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch beiden Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsaus-schusses und bei meinen Kolleginnen und Kollegen deranderen Fraktionen stößt.Das Gesetzgebungsverfahren wurde nötig, da die jet-zige Verwaltungspraxis dem Grundrecht auf freie Berufs-wahl nicht hinreichend Rechnung trage, wie das Bundes-verfassungsgericht in seiner Entscheidung feststellte.Letztlich beschränkte sich die Verwaltungspraxis beimAuswahlverfahren auf das Ergebnis des zweiten Staats-examens und auf eine formalisierte Auswahl nach eherquantitativ bestimmten Kriterien. Es fehlte beim Zugangzum Anwaltsnotariat vor allem an einer konkreten undeinzelfallbezogenen Bewertung der fachlichen Leistungdes Bewerbers. Dazu gehört unserer Ansicht nach aucheine stärkere und differenziertere Gewichtung notarspe-zifischer Leistungen gegenüber dem Ergebnis des meistzum Zeitpunkt der Bewerbung länger zurückliegendenStaatsexamens.Der unseren Beratungen zugrundeliegende Bundes-ratsentwurf, den wir heute mit einigen Änderungen ver-abschieden werden, hat sich als im Wesentlichen sach-gerechte Lösung für die Einführung eines bewertetenLeistungsnachweises in Form einer notarspezifischenschriftlichen und mündlichen Fachprüfung erwiesen. Dasist das Kernstück der Neuregelung. Daneben muss derNotariatsbewerber eine fünfjährige Tätigkeit als Rechts-anwalt nachweisen. Bisher galt sein Zulassungsnachweisals ausreichend. Als weitere und nach geltendem Rechtbereits bestehende Voraussetzung muss die Tätigkeit alsRechtsanwalt mindestens drei Jahre ohne Unterbrechungin dem in Aussicht genommenen Amtsbereich ausgeübtwerden.Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht umris-senen Mängel an der bisherigen Verwaltungspraxis haltenwir die beabsichtigte Neuregelung für eine sachgerechteund rechtssichere Lösung. Sie ist transparenter, objektiver,leistungsbezogener und damit in der Summe geeigneter,die fachliche Eignung der einzelnen Bewerber festzustellen.Gleichwohl hatten sich in der ersten Lesung des Gesetz-entwurfes sowohl von den Kolleginnen und Kollegen der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22207
gegebene Reden
(C)
(D)
Christoph Strässeranderen Fraktionen als auch von mir und meiner Fraktioneinige Änderungswünsche am Bundesratsentwurf ange-deutet. Die Sachverständigenanhörung hat uns in unseremBeschluss bestärkt, den Bundesratsentwurf in einigenPunkten zu ändern. Ich freue mich, dass die wesentlichenPunkte letztlich im Konsens aller Fraktionen beschlossenwerden konnten. Im Wesentlichen handelt es sich um fünfÄnderungen im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzent-wurf, die ich kurz erläutern möchte.Erstens. Wir haben uns dafür entschieden, den Terminusder „Hauptberuflichkeit“ in § 6 Abs. 2 Nr. 1 BNotO zustreichen. Die Formulierung, dass die Tätigkeit als Rechts-anwältin oder Rechtsanwalt in nicht unerheblichem Um-fang für verschiedene Auftraggeber ausgeübt werdenmuss, ist ausreichend. Gleichzeitig verdeutlichen wir damitim Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,dass auch bei einer Teilzeittätigkeit die notwendigenVoraussetzungen erfüllt werden können.Zweitens. An gleicher Stelle regeln wir, dass die Tätig-keit drei Jahre ohne Unterbrechung in dem in Aussichtgenommenen Amtsbereich ausgeübt werden muss. Damitbehalten wir die bisherige Regelung zur örtlichen Warte-zeit bei. In der Literatur scheiden sich zugegebenermaßendie Geister an der örtlichen Wartezeit. Doch diese wurdein der jüngeren Rechtsprechung nicht beanstandet. In derAnhörung und auch in den Berichterstattergesprächenhat sich die Mehrheit der Sachverständigen und Abgeord-neten für die Beibehaltung der bisherigen Regelung aus-gesprochen, ebenso wie schon zuvor die Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Verfassungspolitisch sind sicherlich nochandere Lösungen denkbar, verfassungsrechtlich gebotensind sie allerdings nicht.Es obliegt der Einschätzungsprärogative des Gesetzge-bers. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, dass die örtlicheWartezeit geeignet ist, die Funktionsfähigkeit des Anwalts-notariats zu sichern und auch bewährte örtliche und regio-nale Strukturen zu erhalten. Die Gewähr ist hoch, dass einBewerber, der drei Jahre vor Ort tätig war und eine örtlicheKanzlei aufgebaut hat, als wirtschaftlich unabhängig geltenkann. Die Aufnahme des Notaramts erfordert das Vorhan-densein einer personellen und organisatorischen Infra-struktur, die so sichergestellt werden kann. Gleichzeitigkann er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertrautmachen. Dieses Argument gilt noch immer, auch wenn essicherlich im Zeitalter modernster Kommunikationstech-niken an Bedeutung verloren hat.Einerseits gewährleistet die erfolgreiche Teilnahmean der Fachprüfung die hinreichende Qualifikation derNotare, andererseits ermöglicht die örtliche Wartezeit ei-nen chancengleichen Zugang zum Notaramt für orts-ansässige Bewerber. Durch die Ausgestaltung als Soll-vorschrift wird gleichzeitig sichergestellt, dass inEinzelfällen Bewerber auch ohne Einhaltung der örtli-chen Wartezeit in dem von ihnen anvisierten Amtsbereichzum Notar bestellt werden können.Drittens. Wir führen gegenüber dem Bundesratsent-wurf eine dreijährige Wartefrist nach der Zulassung zurAnwaltschaft ein, bevor die notarielle Fachprüfung abge-legt werden kann. Damit stellen wir sicher, dass die Prüfungnicht quasi auf Vorrat direkt im Anschluss an das zweiteZu ProtokollStaatsexamen abgelegt wird. Damit entkoppeln wir bewusstdie notarielle Fachprüfung vom Staatsexamen, verdeutli-chen deren eigenständige Bedeutung und stellen sicher,dass der Bewerber zunächst ausreichend anwaltlicheBerufserfahrung sammeln kann und soll.Viertens. Wir reduzieren die Anzahl der schriftlichenAufsichtsarbeiten um zwei und begrenzen diese damitinsgesamt auf vier Klausuren. In den parlamentarischenBeratungen hatte sich angedeutet, zu hinterfragen, ob diePrüfungsanforderungen nach dem Bundesratsentwurf, diedoch eine erhebliche Zusatzbelastung für Rechtsanwältin-nen und Rechtsanwälte darstellen, über das anvisierte Zielder Qualifizierung und Bestenauslese hinausschießen.Ich bin der Auffassung, dass vier Klausuren ausreichen,um alle relevanten Tätigkeitsfelder eines Notars in denPrüfungen abdecken und ein differenziertes Leistungsbilderstellen zu können.Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle festhalten, dassder Gesetzgeber darauf verzichtet, Bewerbern vorzugeben,wie sie sich auf die Prüfungen vorzubereiten haben. Wirwollen den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten einenQuasirückfall in studentische Zeiten ersparen, innerhalbeiner bestimmten Zeit oder Reihenfolge Fortbildungs-nachweise anzusammeln. Wir streben damit die Möglich-keit einer flexiblen Berufs- und Prüfungsvorbereitung an,auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Vorbereitung undAblegung der notariellen Fachprüfung berufsbegleitenderfolgen können soll.Fünftens. Aus den gleichen Gründen haben wir uns dafürentschieden, den Prüfungsstoff durch das Bundesjustiz-ministerium mit Zustimmung des Bundesrates in einerRechtsverordnung regeln zu lassen. In einer Rechtsver-ordnung lassen sich die einzelnen Prüfungsgebiete imSinne der Transparenz für den Prüfling konkreter und de-taillierter umreißen mit dem Ziel, insgesamt den Umfangdes Prüfungsstoffes sachlich zu begrenzen. Zu diesemZwecke engt das Gesetz den Prüfungsstoff bereits auf dennotarspezifischen Tätigkeitsbereich ein. Wir wollen einenotarielle Fachprüfung und kein drittes Staatsexamen.Zudem kann mit einer Rechtsverordnung flexibler als miteinem Gesetz auf notarspezifische Veränderungen rea-giert werden.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewahren wir dieGrundstruktur des Anwaltsnotariats, die sich in den letz-ten Jahrzehnten bewährt hat. Mit dem neuen Prüfungs-verfahren erfüllen wir die Kriterien einer transparentenund praktikablen Bestenauslese. Gleichzeitig scheint derGesetzentwurf durch seine Ausgestaltung geeignet zusein, Frauen einen besseren Zugang zum Anwaltsnotariatzu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem die Berück-sichtigung von Teilzeittätigkeiten und die flexiblen Vorbe-reitungsmöglichkeiten auf die Prüfungen, sodass dieseberufs- und familienbegleitend möglich erscheinen.Ich denke, dass wir auch im Sinne der Länder ein gutesGesetz auf den Weg bringen.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute mit der großenMehrheit des Hauses beschließen werden, beenden wir
Metadaten/Kopzeile:
22208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Mechthild Dyckmansdie derzeitige unklare Rechtslage hinsichtlich des Zu-gangs zum Anwaltsnotariat. Das Bundesverfassungsge-richt hat in seiner Entscheidung vom 20. April 2004 fest-gestellt, dass die Auslegung und Anwendung der Normender Bundesnotarordnung, die den Zugang zum Anwalts-notariat regeln, nicht den verfassungsrechtlichen Erfor-dernissen genügen. Bei der Auswahl der Bewerber fürdas Amt des Anwaltnotars sei nicht der Vorrang desjeni-gen mit der besten fachlichen Eignung gewährleistet.Der Gesetzentwurf nimmt den Handlungsauftrag desBundesverfassungsgerichts auf und etabliert ein neues,transparentes System für den Zugang zum Anwaltsnota-riat. Der Gesetzentwurf enthält eine Kombination aus ei-ner neuen notariellen Fachprüfung, einer praktischenAusbildung im Notariat und der Beibehaltung der allge-meinen und örtlichen Wartezeiten als Voraussetzung fürdie Bestellung von Anwaltsnotaren. Die Fraktionen desDeutschen Bundestages gehen übereinstimmend davonaus, dass die Neuregelung geeignet ist, den Zugang zumAnwaltsnotariat künftig schneller zu ermöglichen unddurch die Fokussierung auf die fachlichen Leistungen derBewerber insgesamt eine Qualitätssicherheit und Stär-kung des Anwaltsnotariats zu erreichen.Der Gesetzentwurf des Bundesrates hat sich als sehrsachgerechte Beratungsgrundlage herausgestellt. Auchin der Anhörung haben die Sachverständigen die Grund-züge und die Richtung des Entwurfs übereinstimmend ge-lobt. Im weiteren Verfahren ist es gelungen, die Hinweiseder Sachverständigen und die Vorschläge der Bundesre-gierung aufzunehmen und damit im Ergebnis den Entwurfnoch weiter zu verbessern.Vorgesehen ist eine örtliche Wartezeit, die sicherstellt,dass der Rechtsanwalt vor Ort eine anwaltliche Praxisaufgebaut hat, bevor er zum Notar bestellt wird. Wir ha-ben uns darauf geeinigt, das Bezugsgebiet der örtlichenWartezeit auf den Amtsgerichtsbezirk zu begrenzen. Ge-rade durch die Einführung der notariellen Fachprüfungwird es auch künftig gelingen, in den Amtsgerichtsbezir-ken eine Besetzung der Stellen mit qualifizierten Bewer-bern sicherzustellen. Darüber hinaus sieht der Entwurfnun eine Wartefrist von drei Jahren nach der Zulassungzur Rechtsanwaltschaft vor, bevor die notarielle Fach-prüfung abgelegt werden kann. Diese Regelung erschiennotwendig, um sicherzustellen, dass die Bewerber diepraxisbezogene Fachprüfung nicht unmittelbar im An-schluss an das zweite Staatsexamen ablegen, ohne dasssie zuvor anwaltliche Berufserfahrung erworben haben.Wichtig zu erwähnen ist auch, dass Wert darauf ge-legt wurde, die Fachprüfung nicht zu einem drittenStaatsexamen ausufern zu lassen. Daher wird die schrift-liche Prüfung auf vier Aufsichtsarbeiten beschränkt.Hinweisen möchte ich darauf, dass der Gesetzentwurfein wichtiges Signal zur Frauenförderung setzt. Wir ha-ben in dem Gesetzentwurf sichergestellt, dass auchFrauen, die aufgrund der Erziehung ihrer Kinder der Tä-tigkeit als Rechtsanwältin nicht hauptberuflich nachge-hen können, beim Zugang zum Anwaltsnotariat nichtschlechter gestellt werden als Kollegen, die sich vollum-fänglich ihrer Rechtsanwaltstätigkeit widmen können.Zu ProtokollEs ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass wir mitdem Gesetzentwurf ein gutes Beispiel für die Zusammen-arbeit zwischen Bundesrat und Bundestag im Rahmen derGesetzgebung geben können. Der Bundesrat hat die Ini-tiative ergriffen und einen Gesetzentwurf zur Neurege-lung des Anwaltsnotariats vorgelegt, der im weiteren par-lamentarischen Verfahren im Deutschen Bundestag nochan entscheidenden Stellen verbessert werden konnte.Bundestag und Bundesrat haben hier in vorbildlicherWeise zusammengearbeitet. Das Ergebnis kann sich se-hen lassen.Ich bin davon überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf,den wir heute verabschieden, ein transparentes Auswahl-verfahren sichergestellt werden kann, das sowohl Chan-cengleichheit zwischen den Bewerbern herstellt als auchdazu geeignet ist, die Qualitätssicherung des Anwaltsno-tariats zu garantieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lassen Sie mich etwas Grundsätzliches vorab anmer-ken: Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit demvorliegenden Gesetzentwurf im Interesse der Rechtsu-chenden auch eine hohe und umfassende Qualifikationder Anwaltsnotare gewährleistet werden. Wenn man dieRechtsprechung zur Haftung der Notare einmal genauanalysiert, dann kann man aber das Ziel, den Rechtsu-chenden eine von hoher und umfassender Qualität ge-kennzeichnete Beratung zukommen zu lassen, selbstdurch eine noch so gute Bewerberauswahl nur schwerlicherreichen.Die Haftungsrechtsprechung gewährt einen guten Ein-blick in die zwei signifikanten berufstypischen Schwach-stellen der Anwaltsnotare: Zum einen üben diese denNotarberuf lediglich im Nebenamt aus und verfügen na-turgemäß in den allermeisten Fällen – auch nach jahre-langer Tätigkeit – über weniger Erfahrung als ein haupt-beruflicher Notar. Zum anderen ist es für Anwaltsnotarenicht selten schwierig, ihre beiden Berufe strikt voneinan-der zu trennen. Gegenüber einem aus jahrelanger anwalt-licher Betreuung bekannten Mandanten ist es schon psy-chologisch schwer vermittelbar, dass man bei derNotartätigkeit auf einmal auch die Interessen des „Geg-ners“ zu wahren hat.Der Schutz des Bürgers vor unqualifizierter Beratungließe sich daher am besten und konsequentesten mit derAbschaffung des Anwaltsnotariats verwirklichen. Dieswar jedoch von vornherein nicht die Zielrichtung des vor-liegenden Gesetzentwurfes. Anlass war vielmehr eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die-ses die Auslegung und Anwendung der Normen der Bun-desnotarordnung in der Verwaltungspraxis der Länderbemängelt hat. In der Debatte zur ersten Lesung habe ichdeshalb drei Fragen in den Mittelpunkt gestellt. Erstens:Wollen wir überhaupt eine bundesrechtliche Lösung?Zweitens: Ist es sinnvoll, eine notarielle Fachprüfung alseinziges Auswahlkriterium neben dem Ergebnis des zwei-ten juristischen Staatsexamens einzuführen? Und drit-tens: Wenn eine notarielle Fachprüfung eingeführt wird,soll dies in der vorgesehenen Ausgestaltung geschehen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22209
gegebene Reden
(C)
(D)
Wolfgang NeškoviæWolfgang NeškovićAuch unter Berücksichtigung der Sachverständigen-anhörung sind für mich die ersten beiden Fragen zu ver-neinen. Der Bund ist nicht die Gouvernante der Länder.Wenn die Länder ihre Hausaufgaben nicht machen, dannist es nicht Aufgabe des Bundes, dies für sie zu erledigen.Der Gesetzentwurf ist unter diesem Gesichtspunkt schonüberflüssig. Auch die Einführung einer weiteren theoreti-schen Prüfung als alleiniges Auswahlkriterium zwischenden Bewerbern ist abzulehnen. Die Anforderungen, dieein zukünftiger Anwaltsnotar erfüllen und die bei der Be-werberauswahl im Vordergrund stehen sollten, hat derPa
„Wir wollen
Leute, die in der Praxis erfahren sind und gute Arbeit leis-
ten, und wir müssen darauf achten, dass wir nicht dieje-
nigen bevorzugen, die es sich leisten können, sich mit viel
Zeit und Geld auf theoretische Prüfungsfragen vorzube-
reiten.“ Für meine Fraktion birgt der eingeschlagene
Weg eines „dritten juristischen Staatsexamens“ jedoch in
ganz besonderer Weise die Gefahr, genau solche Bewer-
ber zum Zuge kommen zu lassen, die Staatssekretär Har-
tenbach eigentlich nicht wollte. Es ist deshalb auch be-
dauerlich, wenn der Rechtsausschuss die zuvor schon eng
gefasste „Öffnungsklausel“ in § 6 Abs.3 des Entwurfes
für die Berücksichtigung anderer Kriterien als die Ergeb-
nisse der notariellen Fachprüfung beziehungsweise des
zweiten Staatsexamens weiter begrenzt und zukünftig
diese Möglichkeit nur noch bei einem Bewerber, der
schon Notar ist oder in der Vergangenheit war, ange-
wandt werden kann.
Die Frage, ob die Einführung der notariellen Fach-
prüfung in der vorgesehenen Ausgestaltung erfolgen
sollte, hat auch die Mehrheit des Rechtsausschusses mit
Nein beantwortet. Die Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses geht hier auf einige – wenngleich nicht alle –
Einwände der Sachverständigen aus der Anhörung ein
und sieht entsprechende Veränderungen vor. So ist die
Anzahl der zu absolvierenden Prüfungen, die mit sechs
verlangten Leistungsnachweisen überdimensioniert war,
auf angemessene vier reduziert worden. Auch die Tatsa-
che, dass die Festlegung des Prüfungsstoffes nicht mehr
unmittelbar im Gesetz erfolgt, sondern auf den Verord-
nungsgeber delegiert wird, ist zu begrüßen. Damit ist es
besser möglich, den Prüfungsstoff auf die für die nota-
rielle Amtstätigkeit bedeutsamen Bereiche zu begrenzen.
Zwei weitere positive Änderungen, die Ergebnis der
Ausschussberatungen waren, sollen nicht unerwähnt
bleiben. Dass es nun nicht mehr möglich ist, die notarielle
Fachprüfung unmittelbar nach dem zweiten juristischen
Staatsexamen abzulegen, sondern dass zuvor eine drei-
jährige Wartezeit nach Zulassung zur Rechtsanwaltschaft
abgewartet werden muss, sorgt zumindest für eine ge-
wisse Berufserfahrung der Prüflinge und zukünftigen Be-
werber. Ebenfalls richtig ist die Ersetzung des Wortes
„hauptberuflich“ durch die Formulierung „in nicht un-
erheblichem Umfang“ in dem neuen § 6 Abs. 2 der Bun-
desnotarordnung. Das Kriterium der Hauptberuflichkeit
barg die Gefahr, diejenigen weiter zu benachteiligen, die
neben der Anwaltstätigkeit Erziehungsaufgaben wahr-
nehmen und lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nach-
Zu Protokoll
gehen. Derzeit sind dies noch immer vornehmlich
Frauen.
Wegen der angesprochenen grundsätzlichen Ein-
wände wird meine Fraktion den vorliegenden Gesetzent-
wurf jedoch ablehnen.
In meiner Rede zur ersten Lesung habe ich bereits ge-sagt, dass der Gesetzentwurf im Grundsatz in die richtigeRichtung geht. Ich habe Fragen aufgeworfen, ob der Um-fang des schriftlichen Teils der Fachprüfung angemessenausgestaltet worden ist. Es war auf den ersten Blick nichtunbedingt nachvollziehbar, warum es hierbei sechs fünf-stündiger Prüfungsklausuren bedürfen soll, in denen zu-dem thematisch über die notarspezifischen Bereichehinaus zum Beispiel auch Wissen zum Bürgerlichen, zumHandels- und zu unterschiedlichen Prozessrechten ge-prüft werden soll. Ist es wirklich gewollt, dass die schrift-liche Fachprüfung zum Anwaltsnotariat – das ja immer-hin im Nebenberuf ausgeübt wird – den Umfang einesdritten juristischen Staatexamens erhält?Wo stehen wir heute? Nach einer hilfreichen Anhörungund sehr konstruktiver Auswertung der Stellungnahmensind wichtige Verbesserungen vorgenommen worden. Sokönnen wir jetzt sagen: Wir haben ein gutes Gesetz.Der Bestenauslese wird nun besser Rechnung getra-gen, und gleichzeitig wird der Zugang zum Anwaltsnota-riat erleichtert. Es wird eine neue Prüfung eingeführt, diespezifisch auf den Notarberuf ausgerichtet ist. Die Notedes Staatsexamens fällt geringer ins Gewicht. Die nota-rielle Fachprüfung wird gegenüber dem Entwurf in ver-nünftiger Weise abgespeckt und konkretisiert. Wir werdenalso kein drittes Staatsexamen mehr haben. Es ist auchsinnvoll, die Einzelheiten in eine Verordnung auszula-gern.Das übertriebene System von zahllosen teuren Wo-chenendkursen zur Punktejagd, das sich in der Praxisetabliert hat, wird eingedämmt. Der Praxisnachweis wirdfür breitere Kreise zugänglich und kann teilweise durchnotariatsspezifische Praxislehrgänge ersetzt werden.Das bisherige System hat größere und große Kanzleienbegünstigt, weil diese die immensen Kosten von bis zu40 000 Euro eher aufbringen und häufiger Notarvertre-tungen zum Praxisnachweis zur Verfügung stellen kön-nen. Die Reform kommt damit besonders Frauen zugute,die überwiegend in kleineren oder Einzelkanzleien arbei-ten. Sie hatten dadurch weniger Chancen, als Notarver-treterin bestellt zu werden sowie die Kosten und den Ver-dienstausfall zu stemmen.Wichtig ist, dass die Voraussetzungen für die Bestel-lung zum Notar oder zur Notarin gegenüber dem ur-sprünglichen Gesetzentwurf so geändert werden, dass dievorherige fünfjährige Anwaltstätigkeit nicht hauptberuf-lich ausgeübt worden sein muss. Das wäre eine Benach-teiligung für alle gewesen, die aus Gründen der Verein-barkeit von Beruf und Familie in Teilzeit arbeiten, alsobesonders für Frauen. Das zu korrigieren war uns ein be-sonderes Anliegen.
Metadaten/Kopzeile:
22210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Jerzy MontagDas Konzept des Gesetzes, so wie wir es heute verab-schieden, legt die Grundlage dafür, dass sich der Anteilvon Anwaltsnotarinnen endlich deutlich erhöht. DieserAnteil liegt nämlich immer noch unter 10 Prozent, ob-wohl der Anteil von Rechtsanwältinnen an der Rechtsan-waltschaft immerhin etwa 30 erreicht hat.Abschließend möchte ich noch einmal betonen: DieZusammenarbeit der Berichterstatter – und auch mit demBundesjustizministerium – nach der Anhörung war sehrkonstruktiv und hat ein gutes Gesetz in mehreren Punktenweiter verbessert. Wir werden ihm deshalb zustimmen.A
Fast 8 000 Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotareüben in Deutschland neben ihrem Rechtsanwaltsberufdas Amt des Notars aus. Als unabhängige Träger eines öf-fentlichen Amtes ist es ihre Aufgabe, Beurkundungen vor-zunehmen und weitere Aufgaben auf dem Gebiet der vor-sorgenden Rechtspflege wahrzunehmen. Sie tun dies inguter und bewährter Weise. Nun kann allerdings nichtjede Anwältin und nicht jeder Anwalt auch Notarin oderNotar werden. Im räumlichen Bereich eines Anwaltsnota-riats sind rund 60 000 Rechtsanwältinnen und Rechts-anwälte tätig. Der Zugang zum Anwaltsnotariat ist alsoein Nadelöhr.Die letzten Jahre haben gezeigt, dass das bisher gel-tende Zugangssystem an seine Grenzen stößt: Das gel-tende Punktesystem, das in großem Umfang auf lediglichquantitativ messbare Kriterien wie die Dauer der Anwalts-tätigkeit, die Zahl vertretungsweise vorgenommener Be-urkundungen und die Zahl besuchter Fortbildungsveran-staltungen zurückgreift, um eine Auswahl unter denBewerbern für eine ausgeschriebene Notarstelle zu tref-fen, ist streitanfällig. Es verheißt eine Objektivität undTransparenz im Verfahren der Bestenauslese beim Zu-gang zum Anwaltsnotariat, die in der Praxis nicht einge-löst werden kann. Die vor dem Rechtsausschuss des Deut-schen Bundestages angehörten Sachverständigen habendie Mängel des geltenden Rechts, die nicht erst seit demBeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April2004 offenbar sind, einmütig bestätigt.Bestätigt haben sie auch, dass eine notarielle Fach-prüfung der einzig gangbare Weg ist, um die Mängel desgeltenden Rechts zu beseitigen. Ich begrüße es dahersehr, dass wir heute mit der gesetzlichen Neuregelung desZugangs zum Anwaltsnotariat ein von Bund und Ländernlange und intensiv vorbereitetes Gesetzgebungsverfahrenabschließen. Die Zugangsvoraussetzungen werden klarund eindeutig geregelt. Das schafft Rechtssicherheit undvermeidet Streitigkeiten. Eine neue notarielle Fachprü-fung sichert den erforderlichen Qualitätsstandard. Sieschafft einheitliche Standards. Das ist Voraussetzung da-für, dass Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare auchkünftig ihre Aufgaben in der vorsorgenden Rechtspflegeerfolgreich für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmenkönnen. Zugleich ermöglicht die notarielle Fachprüfungeine faire und gerechte Bestenauslese. Sie ermöglicht ei-nen chancengleichen Zugang von Rechtsanwältinnen undRechtsanwälten zum Notarberuf. Und die vorgesehenepraktische Ausbildung im Notariat, die bewusst flexibelZu Protokollausgestaltet ist, wird sicherstellen, dass die ausgewähltenBewerberinnen und Bewerber mit der notariellen Berufs-praxis so gut vertraut sind, dass sie die Amtstätigkeit so-fort auf hohem Niveau beginnen können.Die neuen Zugangsregelungen zum Anwaltsnotariatstellen sowohl im Interesse der Qualitätssicherung alsauch der Bestenauslese hohe Anforderungen. Die neuenotarielle Fachprüfung erstreckt sich auf den gesamtenBereich der notariellen Amtstätigkeit. Über eine schrift-liche und mündliche Fachprüfung, die bei dem bei derBundesnotarkammer zu errichtenden neuen Prüfungsamtdurchgeführt wird, müssen Bewerberinnen und Bewerberbeweisen, dass sie fit sind, das Amt einer Notarin oder ei-nes Notars auszuüben. Ich weiß, dass die Prüfung Lastenmit sich bringt, und ich weiß, dass die erforderliche Prü-fungsvorbereitung parallel zur Anwaltstätigkeit erfolgenmuss. Deshalb haben wir besonderen Wert darauf gelegt,die neue notarielle Fachprüfung so auszugestalten, dasssie machbar ist. Vier Punkte möchte ich hierzu kurz an-sprechen.Es gibt erstens keine gesetzlichen Vorgaben dazu, wiedie Prüfungsvorbereitung erfolgt. Insbesondere gibt eskeine Pflichtkurse für die Bewerber. Die wissen nämlichselbst am besten, wie sie sich gut und effektiv auf einePrüfung vorbereiten. Vorgaben sind daher entbehrlich.Die mit dem Verzicht auf bürokratische Vorgaben beab-sichtigte Flexibilität liegt gerade auch im Interesse derRechtsanwältinnen. Ich hoffe sehr, dass künftig mehr An-wältinnen den Weg in das Amt der Notarin finden werden.Das Potenzial, das die vielen hervorragend qualifiziertenRechtsanwältinnen haben, muss künftig auch im Notarbe-reich genutzt werden. Ich bin zuversichtlich, dass dasneue Zugangssystem mit der Stärkung der individuellenfachlichen Prüfung der Bewerber dazu führen wird, dassmehr Rechtsanwältinnen als bisher Notarin werden unddass ihr Anteil an den Anwaltsnotaren, der bisher unterzehn Prozent liegt, deutlich ansteigen wird.Zweitens soll der Prüfungsstoff nicht im Gesetz, son-dern in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Dasdient – neben der damit eröffneten Flexibilität – dazu, denPrüfungsstoff einzugrenzen und diese Begrenzung für dieBewerberinnen und Bewerber transparent zu gestalten.Was nicht konkret als Prüfungsgegenstand benannt wird,wird auch nicht geprüft.Drittens haben wir nach den Erörterungen im Rechts-ausschuss entschieden, dass auch vier statt der im Ge-setzentwurf vorgesehenen sechs Klausuren genügen, umdie fachliche Eignung der Bewerber festzustellen.Schließlich haben wir viertens – Sie sehen, wir habenuns auch um kleine, aber nicht unwichtige Details geküm-mert – festgelegt, dass entschuldigt versäumte Klausureneinzeln nachgeholt werden können, dass also nicht alleKlausuren nochmals geschrieben werden müssen, wennnur einzelne Klausuren versäumt wurden.Insgesamt wird mit der Reform des Zugangs zum An-waltsnotariat die leistungsbezogene Bestenauslese be-tont. Ziel ist es, denjenigen Rechtsanwältinnen undRechtsanwälten den Zugang zum Notarberuf zu eröffnen,die dafür am besten geeignet sind. Die Reform sichert undstärkt damit das Anwaltsnotariat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22211
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
22212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11906, den Gesetzentwurf des Bundes-
rates auf Drucksache 16/4972 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Jo-
sef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft-
werke in Osteuropa
– Drucksache 16/11764 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Christian Hirte, Christoph
Pries, Angelika Brunkhorst, Hans-Kurt Hill und Hans-
Josef Fell.
Auf eines kann man sich bei den Grünen immer verlas-
sen: Fällt das Wort „Kernkraftwerk“, kommt es sofort zu
einem Pawlow’schen Reflex, bei dem gebetsmühlenartig
der Ausstieg gefordert wird – ungeachtet bestehender
Verträge und Gesetze. Jetzt bläst die Fraktion der Grünen
zum Kreuzzug wider die slawische Gefahr vom Reaktor-
unfall oder dem Super-GAU, um sich vorbei an aller Re-
alität als Retter nicht nur Deutschlands, sondern ganz
Europas aufzuspielen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, es ge-
hört zur Realität, dass auch und gerade die Union die
Frage der Sicherheit von Kernkraftwerken in Osteuropa
sehr ernst nimmt. Nicht erst das Reaktorunglück von
Tschernobyl hat uns deutlich vor Augen geführt, welche
Konsequenzen ein nachlässiger Umgang mit der Kern-
energie haben kann. Zur Realität gehört weiterhin: Die
EU-Beitrittsverträge regeln klar die Abschaltung der un-
sicheren Reaktoren. Die von Ihnen im Antrag erwähnten
Länder können also nicht einfach mal so ein Formular
ausfüllen, einen Antrag auf Laufzeitverlängerung stellen,
und irgendein Amt entscheidet dann nach Gutdünken.
Dazu müssten nämlich erst neue völkerrechtliche Ver-
träge geschlossen werden.
Die Position sowohl der europäischen als auch der
christlichen Union ist klar: Wir wollen keine unsicheren
Reaktoren bei unseren Nachbarn. Das ist auch die Posi-
tion unserer Regierung. Da gibt es gar keine Diskussion.
Sie führen also wieder einmal eine presseheischende
„Hätte-wäre-wenn“-Debatte mit Blick auf Ihre Klientel,
jedoch ohne jede praktische Konsequenz.
Was dabei auch immer wieder gern vergessen wird:
Man kann nicht immer nur aufgeregt „Ausstieg, Aus-
stieg“ fordern und Fragen von Versorgungssicherheit
und Klimaschutz ignorieren. Gleichzeitig, neben dem
Ausstieg aus der Kernenergie, wollen Sie ja die Kohle-
kraftwerke beseitigen. Wo die Energie dann kurzfristig
herkommt, ist dabei scheinbar egal. Liebe Opposition,
hören Sie auf, zu polemisieren!
Alle Zukunftsszenarien gehen davon aus, dass der Be-
darf an Strom in Zukunft stärker wachsen wird als der an
anderen Energieformen. Damit müssen wir umgehen. Ein
Drittel der Stromerzeugung in der EU erfolgt heute mit-
tels Kernkraft. Derzeit sind in der EU 152 Kernkraft-
werke in Betrieb. Der Bedarf, den diese Kraftwerke de-
cken, kann nicht einfach wegdiskutiert werden.
Gleichzeitig darf man auch nicht vergessen, dass wir be-
reits 64 alte Reaktoren stillgelegt haben. Ein deutliches
Signal gerade für eine sichere Energieversorgung.
Es lässt sich aber auch nicht wegdiskutieren, dass Bul-
garien gefroren hat, als Russland und die Ukraine über
Gas stritten. Ich glaube, dass die Bulgaren in einer sol-
chen Situation mehr von ihren Freunden in der EU hören
wollen als: „Und nicht vergessen: Reaktor aus!“ Wir
schulden unseren osteuropäischen EU-Freunden mehr
als nur den erhobenen Zeigefinger. Wir müssen ihnen da-
bei helfen, Energiesicherheit zu erreichen: sichere Ver-
sorgung und sichere Energiegewinnung. Nur dann brau-
chen wir auch nicht zu befürchten, dass alte Kraftwerke
eventuell wieder ans Netz gehen.
Aber auch den baltischen Staaten kann man nicht ein-
fach mal ein paar Windmühlen schicken, und das wars.
Da braucht es schon mehr Unterstützung und Strategien.
Ein einfaches Nein zu fossilen und nuklearen Energieträ-
gern ist noch lange keine realistische Strategie.
Ich bin skeptisch, dass wir Versorgungssicherheit in
Europa in den nächsten Jahren ohne Kernenergie errei-
chen können. Es wäre geradezu töricht, den osteuropäi-
schen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie sichere
Energie realisieren – ganz davon abgesehen, dass sich
die Grünen hier über geltendes EU-Recht hinwegsetzen
möchten. Der Energiemix ist nämlich strikt nationale Sa-
che.
Wenn man zu der realistischen Einschätzung kommt,
dass ein Staat nicht ohne Kernenergie auskommt, dann
müssen wir das berücksichtigen. Deutschland kann mit
seinem Know-how dabei Unterstützung leisten, klima-
freundliche und sichere Lösungen zu finden und umzuset-
zen.
(C)
(D)
Christian Hirte
Kernenergie gehört nach wie vor zum umweltfreundli-
chen Energiemix in Deutschland und in Europa. Sicher
gibt es CO2-ärmere Energieerzeugungsmethoden. Aber
für die Erzeugung der Grundlast und vor allem für be-
zahlbare Energie sind Kernkraftwerke derzeit noch uner-
lässlich. Regenerative Energieträger, die das leisten
könnten, sind noch nicht zu wirtschaftlich vertretbaren
Kosten in Sicht. Deswegen haben nicht nur die Schweden
den Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen, sondern in
mehreren europäischen Nachbarländern befinden sich
neue Kernkraftwerke in Bau oder in Planung.
Europa und Deutschland können es sich im Moment
nicht leisten, Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke
gleichzeitig vom Netz zu nehmen. Lassen Sie uns also da-
ran arbeiten, wie wir die Energieversorgung in Europa
sichern können – mit sicheren, umweltfreundlichen Kraft-
werken und ohne Ideologie!
Die nukleare Sicherheit spielte eine zentrale Rolle beiden Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mitden osteuropäischen Staaten. Die alten Atomkraftwerkesowjetischer Bauart sollten entweder mit westlicherTechnik nachgerüstet oder – wo dies nicht möglich war –schnellstmöglich abgeschaltet werden. Die Beitrittskan-didaten haben diesem Verfahren – trotz ihrer immer wie-der geäußerten Kritik – zugestimmt.Folgende Vereinbarungen wurden in den Beitrittsver-trägen festgeschrieben:In Litauen wurde der Reaktor Ignalina 1 am 31. De-zember 2004 abgeschaltet. Der Reaktor Ignalina 2 musslaut Betrittsvertrag spätestens Ende 2009 vom Netz ge-nommen werden.Die Slowakei schaltete die Reaktoren Bohunice 1und 2 zum 31. Dezember 2006 und 2008 ab.In Bulgarien wurden die Reaktoren Kozloduj 1 bis 4bis zum 31. Dezember 2006 schrittweise stillgelegt.Im Gegenzug erhalten die Beitrittsländer für die Still-legung umfangreiche finanzielle Unterstützung durch dieEuropäische Union. Ich denke, wir alle hier im Hausesind uns einig, dass dieser Schritt für die Sicherheit vonMensch und Umwelt wichtig und richtig war.Nun hat der Gasstreit zwischen Russland und derUkraine in Bulgarien und der Slowakei die Diskussionüber die Abschaltung der Atomkraftwerke neu entfacht.Die slowakische Regierung hatte Anfang Januar ange-kündigt, aufgrund des Gaslieferstopps den gerade erstabgeschalteten Reaktor Bohunice 2 wieder anzufahren –auch um den Preis eines EU-Vertragsverletzungsverfah-rens. Nach Beendigung der Krise hat die slowakische Re-gierung am 23. Januar allerdings entschieden, auf dieWiederinbetriebnahme des umstrittenen Reaktors zu ver-zichten. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ent-scheidung ausdrücklich.In Bulgarien hat das Parlament am 23. Januar einenAntrag verabschiedet, der die Regierung auffordert, dieEuropäische Kommission um eine Überprüfung der Ab-schaltung der Reaktoren Kozloduj 3 und 4 zu bitten. Da-Zu Protokollbei beruft man sich auf Art. 36 des Protokolls über die Be-dingungen für die Aufnahme Bulgariens und Rumäniensin die Europäische Union. Dieser Artikel sieht für dieJahre 2007 bis 2009 vor, dass die Beitrittsländer beiSchwierigkeiten, welche einen Wirtschaftszweig erheb-lich und voraussichtlich anhaltend treffen oder welchedie wirtschaftliche Lage eines bestimmten Gebiets be-trächtlich verschlechtern können, die Genehmigung zurAnwendung von Schutzmaßnahmen beantragen können,um diese Lage wieder auszugleichen. Die Wiederinbe-triebnahme von Kozloduj soll Bulgarien bei der Bewälti-gung seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage helfen.Grundsätzlich möchte ich sagen: Die Menschen inOsteuropa haben Anspruch auf eine sichere Energiever-sorgung. Diese muss durch die Einhaltung eingegange-ner Verpflichtungen durch die Lieferländer gewährleistetwerden. Es ist deshalb zu hoffen, dass die jetzt erzielte Ei-nigung zwischen Russland und der Ukraine eine langfris-tige Versorgungssicherheit gewährleistet.Anderseits zeigen die Beispiele Bulgarien und Slowa-kei auch, dass man nach dem Beitritt in die EuropäischeUnion schnell gelernt hat. Insbesondere die Debatte überdie Atomenergie hierzulande wird offenbar aufmerksamverfolgt. Von der deutschen Energiewirtschaft hat mangelernt: Unterschreibe Verträge, wenn du deine Zielenicht anders erreichen kannst. Versuche anschließend,die Verträge zu deinen Gunsten zu ändern.Wer die Forderungen der Bulgaren und Slowaken alsVertragsverletzung kritisiert, der muss auch das Abrü-cken der deutschen Energiewirtschaft vom Atomkonsenskritisieren. Ich bin hier schon sehr auf die Ausführungender Union und der FDP in den Ausschussberatungen ge-spannt.Auch von Teilen der deutschen Politik haben Bulgarenund Slowaken sich etwas abgeschaut: Nutze jede Ener-giekrise, um auf die Unverzichtbarkeit der Atomenergiehinzuweisen. Ob damit das eigentliche Problem gelöstwird, ist egal. – Beim ersten Gasstreit im Januar 2006 hates der damalige Wirtschaftsminister Glos vorgemacht.Als die Gaslieferungen schrumpften, forderte er vehe-ment, nun müsse man aber endlich die Laufzeiten derdeutschen Atomkraftwerke verlängern. Dass zwischenStrom aus Atomkraftwerken und Wärme aus gasbetriebe-nen Heizkraftwerken kein Zusammenhang besteht, wardem Minister offenbar nicht bewusst.Das Gleiche gilt auch für Bulgarien und die Slowakei.Nach den Zahlen der Internationalen Energieagentur be-trug 2006 in Bulgarien der Anteil der Atomkraft an derErzeugung von Heizwärme gerade einmal 1,16 Prozent.Gas hingegen hatte einen Anteil von 53,5 Prozent. Bei derStromproduktion sind die Gewichte umgekehrt.Auch in der Slowakei betrug der Anteil von Gas an derStromproduktion 2006 gerade einmal 6,1 Prozent. DerAnteil von Atomenergie an der Wärmeenergieerzeugunglag bei bescheidenen 5 Prozent.Fazit: Mit Atomkraft lässt sich das Problem der Wär-meenergieerzeugung nicht beheben. Auch glühendeAtomstromleitungen heizen keine Wohnung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22213
gegebene Reden
(C)
(D)
Christoph PriesDass Heizen mit Strom ein Irrweg ist, zeigt uns Frank-reich in jedem kalten Winter. Dann können selbst 58 fran-zösische Reaktoren den Strombedarf der Elektroheizun-gen nicht decken – von der Ineffizienz undKlimaschädlichkeit einer Stromheizung ganz zu schwei-gen.Bisher liegt der EU-Kommission kein Antrag der bul-garischen Regierung vor. Die Erfolgsaussichten eines po-tenziellen Antrags auf Wiederaufnahme des Betriebs derReaktoren Kozloduj 3 und 4 werden von der EU-Kommis-sion sehr zurückhaltend kommentiert. Zudem müsste derEU-Rat bei einer positiven Entscheidung der EU-Kom-mission einbezogen werden.Was Litauen betrifft: Ein Referendum, das Atomkraft-werk Ignalina – entgegen den Zusagen Litauens im Bei-trittsvertrag – bis 2015 am Netz zu lassen, ist im Oktober2008 gescheitert. Das notwendige Quorum – eine Wahl-beteiligung von 50 Prozent – wurde verfehlt. Insofern istder vorliegende Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen be-reits vor der Beratung im Ausschuss überholt.Darüber hinaus erweckt der Antrag den Eindruck, alshabe sich die Bundesregierung bisher nicht in ausrei-chendem Maße auf europäischer und bilateraler Ebenefür eine vertragsgetreue Abschaltung der Atomkraft-werke in Osteuropa eingesetzt. Dies ist nicht so, und daswerden wir in den Ausschussberatungen klarstellen.Unabhängig davon möchte ich für die SPD-Bundes-tagsfraktion betonen, dass wir selbstverständlich auf ei-ner vertragsgetreuen Abschaltung der Atomkraftwerke inOsteuropa bestehen. „Pacta sunt servanda“ – Verträgemüssen eingehalten werden. Das gilt für die EU-Beitritts-verträge ebenso wie für den Atomkonsens mit den Ener-giekonzernen in Deutschland.Für die SPD ist Atomenergie eine Energieform desletzten Jahrhunderts. Gemessen an den hochfliegendenErwartungen der 1950er- und 60er-Jahre ist die Atom-energie immer „Ankündigungsenergie“ geblieben. ZweiBeispiele:Erstens. Die Internationale Atomenergie-Agentur pro-gnostizierte in ihrem Jahresbericht von 1974, im Jahr2000 würden weltweit Atomkraftwerke mit einer Leistungvon 4500 Gigawatt installiert sein. Die Realität im Jahr2008: 372 Gigawatt. Die weltweit 436 Reaktoren deckennur rund 15 Prozent des weltweiten Strom- und circa2,5 Prozent des Endenergieverbrauchs. Das Fazit: DieErwartungen wurden enttäuscht, die Risiken unter-schätzt.Zweitens. Seit Jahren eilt die Atomlobby von Renais-sance-Ankündigung zu Renaissance-Ankündigung.Glaubt man den PR-Strategen und den Hochglanzbro-schüren, schießen überall auf der Welt Atomkraftwerkewie Pilze aus dem Boden. Die Realität: Im Jahr 2008 gingzum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atomkraft-werk ans Netz.Die Bedeutung der Atomenergie wird weiter abneh-men. Im „World Energy Outlook 2008“ kommt die Inter-nationale Energieagentur zu dem Ergebnis, dass bis 2030der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Strompro-Zu Protokollduktion von 15 auf 10 Prozent sinken wird. Auch ein Ver-treter der Internationalen Atomenergie-Agentur kommt inder „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Schluss, es gebe beider Atomkraft lediglich eine Renaissance beim theoreti-schen Interesse.Wie so ein theoretisches Interesse aussieht, konnteman in den letzten beiden Jahren in Südafrika verfolgen.Im August 2007 brach dort laut n-tv die Atom-Ära an.15 Milliarden Euro sollten in fünf Jahren in die Atom-energie investiert werden. Die gute Hoffnung der Atom-lobby auf fette Aufträge am Kap erlitt dann aber schnellSchiffbruch. Bereits im Dezember 2008 erklärte derstaatliche Energiekonzern Eskom, der geplante Neubaueines Druckwasserreaktors werde aus finanziellen Grün-den aufgegeben.Dieses Schicksal könnte vor dem Hintergrund der Fi-nanzkrise auch noch die eine oder andere Neubauankün-digung in Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, wodas Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplantenAtomkraftwerke hernehmen soll. Ob in Schweden wirk-lich neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen ent-stehen, bleibt abzuwarten. Denn die Anlagen müssenkomplett privatwirtschaftlich finanziert werden. Derar-tige Bedingungen haben bisher noch jedem hochfliegen-den Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen.Es bleibt auch abzuwarten, wie viele AKW-Neubautensich die Hersteller noch leisten können. Der Bau desAtomkraftwerks in Finnland beschert Areva-Siemens be-reits einen satten Verlust von mindestens 500 MillionenEuro. Daher hat das Konsortium Ende 2008 ein Schieds-gerichtsverfahren angestrengt, um den zugesagten Fest-preis von 3,2 Milliarden für den Reaktor mit dem finni-schen Energiekonzern TVO nachzuverhandeln. DieFinnen zeigten sich hiervon wenig begeistert und überle-gen stattdessen, Areva-Siemens auf 2,4 Milliarden EuroSchadensersatz wegen der dreijährigen Bauverzögerungzu verklagen.Wir sind nicht die isolierten Nachzügler einer weltwei-ten Atom-Renaissance. Deutschland ist vielmehr der Vor-reiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung.Die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland undauch in Europa liegt im Ausbau der erneuerbaren Ener-gien, der Energieeffizienz und der Energieeinsparung.Dafür steht die SPD-Bundestagsfraktion.
2004 sind Polen, Litauen, die Slowakei und Slowenien,2007 Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten. IhrBeitritt war an verschiedene Bedingungen geknüpft, dievertraglich festgehalten wurden. An diese Verträge müs-sen sich die betreffenden Länder selbstverständlich hal-ten.Dementsprechend ist es richtig, dass die EU-Kommis-sion mit einem EU-Vertragsverletzungsverfahren droht,sollte die Slowakei zwei Reaktoren in Bohunice wieder inBetrieb nehmen. Gleiches gilt für Bulgarien. Staatspräsi-dent Parwanow hat angekündigt, einen Reaktor desAtomkraftwerks Kozloduj wieder in Betrieb zu nehmen,was Bulgarien laut EU-Beitrittsvertrag nicht gestattet ist.
Metadaten/Kopzeile:
22214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Angelika BrunkhorstAuch in diesem Fall muss die EU rechtliche Schritte da-gegen unternehmen. Die deutsche Bundesregierung mussder EU bei diesen Schritten Rückendeckung geben.Hinter den Bestrebungen der betreffenden osteuropäi-schen Länder verbirgt sich deren Wunsch, energiepoli-tisch unabhängig von Russland zu sein. Welche fatalenFolgen die alleinige Energieabhängigkeit von Moskauhaben kann, hat der zurückliegende Gasstreit überdeut-lich gemacht. Dass das Baltikum, Polen, die Ukraine undalle anderen Staaten – Deutschland eingeschlossen –Energieunabhängigkeit von Russland anstreben, ist über-aus verständlich. Einen Vertragsbruch rechtfertigt diesesBestreben jedoch nicht. Wir stimmen hier mit den Grünenüberein. Auf eines weisen wir jedoch ausdrücklich hin:Die Debatte um die vertragsgemäße Abschaltung von ost-europäischen Reaktoren darf keinesfalls mit der Diskus-sion über eine Laufzeitverlängerung deutscher Kern-kraftwerke vermengt oder verwechselt werden. Erst letzteWoche hat sich das Europäische Parlament klar für dieeuropaweite Förderung der Kernenergie ausgesprochen.Das Parlament forderte die Kommission auf, einen kon-kreten Fahrplan für Investitionen in Kernenergie vorzu-legen und unverzüglich einheitliche rechtliche und wirt-schaftliche Bedingungen für die friedliche Nutzung derKernenergie zu schaffen. Gut so! Denn mit Kernenergielässt sich der Energiemix umweltschonend, wirtschaftlichund auf Versorgungssicherheit bedacht gestalten. Sich ih-rer nicht zu bedienen, bis alternative Energien die glei-chen Möglichkeiten bieten, ist verantwortungsloser Un-sinn.Viele europäische Länder haben das erkannt. In Bul-garien, Finnland, Frankreich und in der Slowakei sindneue Reaktoren im Bau. Pläne für den Neubau schmiedenderzeit Bulgarien, Finnland, Frankreich, Großbritan-nien, Italien, Litauen, die Niederlande, Polen, Rumänien,Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Slowenien, dieUkraine und Weißrussland.Länder, die auf technisch sichere Kernkraftwerke set-zen, haben einige Sorgen weniger. Wir in Deutschlandhingegen schlafen weiterhin den rot-grün-ideologisiertenDornröschenschlaf und stehen ohne jedes Konzept da,wie wir unsere Energieversorgung klimafreundlich, ver-sorgungssicher, bezahlbar und unabhängiger von Impor-ten gestalten wollen. Auch in Deutschland sollte es Maß-stab der Vernunft sein, zunächst weiter auf die friedlicheNutzung der Kernenergie zu setzen.
In einigen osteuropäischen Staaten planen die Regie-
rungen das Wiederanfahren von alten, maroden Atom-
kraftwerken. Dass dieses Vorgehen gegen EU-Beitritts-
vereinbarungen verstößt, schert diese Länder herzlich
wenig. Warum auch? Schließlich lebt Deutschland derar-
tige Rechtswidersprüche vor. Zu besichtigen ist der poli-
tische Atom-GAU: Die CDU wirbt mit freundlicher Un-
terstützung der Atomkonzerne für die Abschaffung des
Ausstiegsgesetzes, die Bundesregierung wird unglaub-
würdig, und Deutschland macht sich zum EU-weiten Ge-
spött.
Zu Protokoll
Was viel schlimmer ist, meine werten Kolleginnen und
Kollegen von der Union: Sie setzen die Gesundheit der
Menschen in Europa aufs Spiel. Die Wiederbelebung der
radioaktiven Leichen ist mit extrem hohen Gefahren bis
hin zur Kernschmelze verbunden. Die Unbeherrschbar-
keit der Urantechnik ist der Grund, warum die maroden
Anlagen in Deutschland vom Netz müssen. Wer hier jetzt
die Rolle rückwärts macht, hat sicherlich nicht das Recht,
Bulgarien Vorschläge in der Atomfrage zu machen – ob
dies nun EU-konform ist oder nicht. Das heißt: Der Aus-
stieg aus dem Ausstieg ist der europaweite Einstieg in die
Gefahrenwirtschaft.
Doch wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass einige
Osteuropäer nun laut über Atomstrom nachdenken? Da
ist zum einen das Engagement vor allem deutscher Kon-
zerne wie RWE und Siemens zu nennen. Die wollen gern
in Osteuropa neue Atomkraftwerke bauen – gern auch
mitten in Erdbebengebieten. Zum anderen ist der Gas-
streit zwischen Russland und Ukraine wieder einmal
pünktlich zum neuen Jahr aufgeflammt. Der Lieferkon-
flikt fiel diesmal heftiger aus und legte über zwei Wochen
den Gasfluss nach Westen lahm. Länder wie die Slowakei
und Bulgarien, die in der Energiewirtschaft fast aus-
schließlich von russischem Gas abhängig sind, saßen
plötzlich im Dunkeln. Von der EU, die energiepolitisch
aus einzelstaatlichen Egoisten besteht, war nicht viel zu
erwarten – außer fehlendem Verhandlungsgeschick.
Noch weniger konnten die Osteuropäer auf Deutsch-
land hoffen. Wir verfügen zwar über riesige Gasspeicher,
die weiter ausgebaut werden. Doch wir denken gar nicht
daran, dieses Know-how mit unseren Nachbarn zu teilen.
Und mit der Ostseepipeline haben wir schon gegenüber
Polen, Litauen und Lettland gezeigt, dass wir kein Inte-
resse an einer gemeinsamen Gasstrategie mit unseren
osteuropäischen Partnern haben.
Statt acht Milliarden Euro in der Ostsee zu versenken,
müssen wir Osteuropa endlich wirksam in die Gasbevor-
ratung einbinden. Und wir müssen die Energieeffizienz
und den Ausbau erneuerbarer Energien schneller voran-
bringen.
Wir werden aber kein Gehör finden, solange Deutsch-
land seine Nachbarn vor den Kopf stößt und mit schlech-
tem Beispiel vorangeht. Wer jetzt effiziente und erneuer-
bare Energien ausbremst und die gefährliche Atomkraft
bewirbt, wie CDU/CSU und FDP es machen, bleibt un-
glaubwürdig. Deshalb ist der erste Schritt: schnellstmög-
licher Ausstieg aus der Urannutzung.
Der Antrag der Grünen ist deshalb zu unterstützen.
Um wenigstens die größten Risiken von Atomreaktorenzu verringern, gehören all jene Atomreaktoren, die schonaufgrund ihrer Konstruktion hochgefährlich sind, abge-schaltet. Das sieht auch die ansonsten atomfreundlicheEU-Kommission so. Sie hat deshalb in den Beitrittsver-trägen von Bulgarien, der Slowakei und Litauen fest-geschrieben, dass hier überalterte Reaktoren zu einem je-weils festgelegten Zeitpunkt aus Sicherheitsgründenabgeschaltet werden müssen. In Bulgarien und der Slo-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22215
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
22216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Hans-Josef Fellwakei ist dies bereits geschehen, in Litauen steht die Still-legung noch für dieses Jahr an.Im Zusammenhang mit der jüngsten Erdgaskrise wur-den in den betreffenden Ländern Forderungen laut, dieveralteten Atomkraftwerke vertragswidrig wieder in Be-trieb zu nehmen bzw. noch in Betrieb befindliche nichtzum vereinbarten Zeitpunkt abzuschalten. Trotz einigerNachrüstungen in den vergangenen beiden Jahrzehntensind sie weiterhin ein großes Sicherheitsrisiko. Ein länge-rer Betrieb wäre unverantwortbar. Um dieses Sicher-heitsrisiko auszuschließen, muss der fortgesetzte Betriebverhindert werden.Teilweise rudern die Regierungen wieder zurück, dochhat sich das Problem deswegen noch lange nicht erledigt.Im Gegenteil: Angesichts der Abhängigkeit Osteuropasvon russischen Energieimporten wird die Forderungschon bei der nächsten Erdgaskrise wieder aufflammen.Der Argumentation dieser Länder, dass ein Weiterbetriebunter bestimmten Voraussetzungen rechtlich möglich seiund diese Voraussetzungen jetzt gegeben seien, muss so-wohl juristisch als auch inhaltlich widersprochen werden –juristisch, weil diese Ausnahmeregelungen nicht für dieerneute Betriebsaufnahme gelten, sondern lediglich füreinen Weiterbetrieb. In der Slowakei und in Bulgarien hatsich dies mit dem bereits erfolgten Abschalten bereits er-ledigt. Aber es muss auch inhaltlich widersprochen wer-den; denn die Erdgaskrise ist nicht durch den Fortbetriebhochgefährlicher Schrottmeiler zu lösen, sondern nurdurch eine Energiewende in den Ländern selbst und einsolidarisches Handeln in der EU. Die Bundesregierungsollte sich hier als Vorreiter betätigen. Sollte zusätzlichStrom benötigt werden, dann kann und muss dieser künf-tig aus anderen Staaten der EU geliefert werden. Möglichist das heute schon. Es bedarf aber sicher auch neuer Ab-kommen und eines Ausbaus von Kuppelstellen.Aber auch den betreffenden Ländern selbst steht eineFülle von Instrumentarien zur Verfügung, um die Gefahrzukünftiger Erdgasverknappungen zu vermindern. Dazugehören eine höhere Energieeffizienz, der Ausbau der er-neuerbaren Energien, eine bessere Anbindung an dasErdgasnetz der EU sowie der Bau von Biogasanlagen.Hier muss ein Schwerpunkt der immer enger zusammen-wachsenden europäischen Energiepolitik liegen, um dieberechtigten Sorgen der osteuropäischen Staaten vorkünftigen Energieengpässen in Krisenzeiten zu mindern.Gerade angesichts der Erfüllung des 20-Prozent-EU-Ziels im Hinblick auf die erneuerbaren Energien sowiedes 20-Prozent-EU-Ziels im Hinblick auf die Effizienzsind auch die osteuropäischen Länder in der Pflicht. EinWeiterbetrieb der bereits abgeschalteten Reaktoren würdeden Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Effizienz-anreize verhindern.Von der Bundesregierung haben wir zu diesem Themabislang nichts gehört. Wir fordern sie deshalb auf, jetztendlich zu handeln und sich auf EU-Ebene und bilateral fürdie vertragstreue Abschaltung der betreffenden Altmeiler inOst- und Südosteuroapa einsetzt. Aber es müssen auchAlternativen geboten werden, um die Abhängigkeit vonfossilen und nuklearen Energieimporten zu verringern.Europa muss alles daransetzen, dass in diesen Staaten dieEU-Ziele erfüllt werden und sich erneuerbare Energienaus Sonne, Wind, aber auch aus Biogas durchsetzen undEnergieeffizienz vorankommt. Wir fordern deshalb dieBundesregierung auf, jetzt zu handeln und nicht bis zurnächsten Erdgaskrise zu warten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11764 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivil-
rechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie
sowie zur Neuordnung der Vorschriften über
das Widerrufs- und Rückgaberecht
– Drucksache 16/11643 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Marco Wanderwitz, Dirk
Manzewski, Mechthild Dyckmans, Karin Binder, Nicole
Maisch, Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Harten-
bach.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EU-Richtlinie zu Verbraucherkrediten und der zivilrechtlicheTeil der Zahlungsdiensterichtlinie umgesetzt sowie dieVorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht neugeordnet. Damit einher geht eine tiefgreifende Weiterent-wicklung dieser Rechtsgebiete.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Ge-setzentwurf grundsätzlich. Es ist unser Ziel, entsprechendder Brüsseler Vorgaben eine Umsetzung in das deutscheZivilrecht rechtzeitig bis zum 31. Oktober 2009 zu leisten.Wegen der besonderen Bedeutung für die Wettbewerbsfä-higkeit der Zahlungsdiensteanbieter auf der einen Seiteund für den Verbraucherschutz auf der anderen Seite wirdim Laufe der weiteren Beratung sorgfältig zu prüfen sein,inwieweit die beteiligten Interessen bereits angemessenberücksichtigt und zu einem vernünftigen Ausgleich ge-führt werden konnten bzw. inwieweit und an welchen Stel-len eine Nachsteuerung des Entwurfs erforderlich ist. Wirdürfen nicht, wie leider bereits so manches Mal, eine überdie Richtlinien hinausgehende Umsetzung anstreben,wenn dadurch nicht eine Verbesserung der Wettbewerbs-position im europäischen Vergleich bzw. substanzielleVerbesserungen im Bereich des Verbraucherschutzes er-reicht werden können.Mit der zur Umsetzung in nationales Recht anstehen-den Zahlungsdiensterichtlinie wird das positive Ziel an-gestrebt, grenzüberschreitende Zahlungen so einfach,
(C)
(D)
Marco Wanderwitzeffizient und sicher zu gestalten wie rein nationale Zah-lungen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaussoll der Wettbewerb dadurch erhöht werden, dass durchdie Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes neueAnbieter in den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten kön-nen, was zur höheren Effizienz und im Ergebnis geringe-ren Kosten für die Kunden führen soll. Dafür sind gleicheWettbewerbsbedingungen für alle Anbieter im EU-weitenZahlungsverkehr Voraussetzung, die durch angeglicheneAnforderungen für die Beaufsichtigung der Zahlungsins-titute und harmonisierte Marktzugangskriterien geschaf-fen werden sollen. Im Ergebnis sollen Kunden zugleichbessere Transparenz über Anbieter von nationalen undgrenzüberschreitenden Zahlungsdiensten gewinnen.Um diese Ziele zu erreichen, enthält die Richtlinie be-reits sehr detaillierte Regelungen. Neben den aufsichts-rechtlichen Anforderungen sind umfassende zivilrechtlicheNormierungen vorgesehen, die für alle Zahlungsdienst-leistungen bis spätestens zum 31. Oktober 2009 in derEuropäischen Union und den Staaten des EuropäischenWirtschaftsraums in nationales Recht umgesetzt werdenmüssen.Der vorliegende Regierungsentwurf integriert die um-fangreichen Vorgaben der Richtlinie in Bezug auf den zi-vilrechtlichen Teil der Umsetzung in das Bürgerliche Ge-setzbuch bzw. das Einführungsgesetz zum BGB. Umwelche neuen Vorgaben handelt es sich, bzw. welchergesetzgeberische Handlungsbedarf besteht? Die Ver-braucherkreditrichtlinie beinhaltet viele inhaltliche undtechnische Neuerungen, indem sie die Bestimmungen ins-besondere zur Werbung, zur vorvertraglichen Informa-tion, zum Widerruf, zur vorzeitigen Rückzahlung nebstVorfälligkeitsentschädigung harmonisiert. Kurz gesagt:Neuerungen, durch die Verbraucher zukünftig besserüber den Vertragsinhalt informiert werden sollen unddurch die zugleich Widerrufs- und Rückgaberechte beiVerbraucherkreditverträgen vereinfacht werden sollen.Herausheben möchte ich folgende Punkte:Erstens: Informationspflichten. Der Verbraucher sollkünftig vor Abschluss eines Darlehensvertrages in derPhase der Vertragsanbahnung über die wesentlichen Be-standteile des Kredits informiert werden. Unterstützt wirddies, indem der Verbraucher vor Vertragsschluss einenEntwurf des Darlehensvertrages anfordern kann. DerKreditgeber hat den Verbraucher über dieses Recht, fürdas im Übrigen kein gesondertes Entgelt erhoben werdendarf, gesondert vorab zu informieren. Dies soll dem Ver-braucher die Möglichkeit eröffnen, verschiedene Ange-bote besser zu vergleichen und in Kenntnis aller Um-stände sich für oder gegen eine Vertragsofferte zuentscheiden. Sobald sich die Wahl für einen bestimmtenKredit abzeichnet, muss der Darlehensgeber dem Ver-braucher zusätzlich die Hauptmerkmale des Vertrags er-läutern. Dabei wird nicht nur festgelegt, über was im Ein-zelnen zu informieren ist, sondern auch, auf welche Weisedies zu erfolgen hat. Damit geht die Vorschrift hinsichtlichihres Detaillierungsgrades deutlich über die bisherigenRegelungen hinaus. Genauso ist neu, dass der Verbraucherjederzeit – während der gesamten Vertragslaufzeit – einenTilgungsplan vom Darlehensgeber fordern kann.Zu ProtokollZweitens: Werbung. Ein weiterer Punkt ist die Wer-bung, die für Darlehensverträge strenger reglementiertwerden soll. Es soll nicht mehr als „Lockangebot“ eineeinzige Zahl herausgestellt werden, wie beispielsweiseein besonders niedriger Zinssatz. Zukünftig müssen dieKonditionen anhand eines repräsentativen Beispiels ver-deutlicht werden, wobei der Zinssatz, variabel oder fest,der Nettodarlehensbetrag, der effektive Jahreszins, derbei mindestens zwei Drittel der zu erwartenden VerträgeVerwendung finden wird, und die sonstigen Kosten darzu-stellen sind. Auch die Frage, „wie“ geworben werdendarf, wird geregelt – die Informationen sollen auffallend,also gegenüber dem restlichen Inhalt der Werbung op-tisch, akustisch oder ähnlich jeweils den Umständen ge-eignet, hervorgehoben werden. Damit soll der Verbrau-cher insgesamt in die Lage versetzt werden, aufgrundeines verbesserten Kenntnisstandes selbst die Vor- undNachteile des jeweiligen Kreditangebots abzuwägen.Hier sehe ich Diskussionsbedarf, denn es ist bishernoch offen, wie zum Beispiel die Zweidrittelregelung ein-geschätzt und wirksam kontrolliert werden soll, welcheVergleichsportfolios heranzuziehen sind und welche Da-ten offenzulegen sein werden.Drittens: Musterverträge für Verbraucherdarlehen.Künftig ist vorgesehen, einheitliche, für ganz Europa gel-tende Musterverträge für Kreditverträge zu etablieren.Der Gesetzesentwurf sieht vor, dies in Deutschland erst-mals auch gesetzlich zu kodifizieren, um an dieser Stelledie Rechtssicherheit bzw. Verbindlichkeit solcher Musterzu verbessern.Viertens: Kündigungsmöglichkeiten. Von besonderemInteresse wird auch die vorgeschlagene Neuregelung derKündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen sein.Kündigungen durch den Darlehensgeber sollen künftigbei unbefristeten Kreditverträgen nur noch zulässig sein,wenn eine Kündigungsfrist von mindestens zwei Monateneingehalten wird. Dagegen sollen Verbraucher einen un-befristeten Kreditvertrag zu jeder Zeit kündigen können.Eine vertraglich zu vereinbarende Kündigungsfrist darffür den Verbraucher eine Frist von einem Monat nichtüberschreiten. Im Falle eines befristeten Vertrages solldas Darlehen entsprechend jederzeit ganz oder teilweisezurückgezahlt werden dürfen. Ein eventuell entstehenderAnspruch des Darlehensgebers auf eine Vorfällig-keitsentschädigung soll dabei auf maximal ein Prozentdes vorzeitig zurückgezahlten Kreditbetrages beschränktwerden. Von den Neuregelungen sollen nicht nur reineDarlehensverträge, sondern auch andere Finanzierungs-geschäfte, wie etwa Teilzahlungsgeschäfte und Leasing-verträge, umfasst werden.Daneben ist die Zahlungsdiensterichtlinie zu betrach-ten, die neben den gesondert zu regelnden aufsichtsrecht-lichen Bestimmungen zivilrechtliche Regelungen für dieverschiedenen Zahlungsdiensteanbieter bzw. Zahlungs-verfahren vorsieht. Im Gegensatz zu dem aufsichtsrecht-lichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie, der das Ver-hältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Staat regelt,befasst sich der zivilrechtliche Teil mit dem Verhältniszwischen Zahlungsdienstleistern und Kunden. Im Bereichdes bargeldlosen Zahlungsverkehrs gelten für Anbieter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22217
gegebene Reden
(C)
(D)
Marco Wanderwitzund Nutzer von Zahlungsdienstleistungen künftig europa-weit weitestgehend einheitliche Rechte und Pflichten.Zum ersten Mal sollen sowohl für rein inländische alsauch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zumBeispiel Überweisungen, einheitliche Regelungen festge-legt werden. Interessant ist dies insbesondere für bargeld-lose Zahlungen. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraumwird es den Anbietern von Zahlungsdiensten darüber hi-naus erlauben, neue, europaweit funktionierende Verfah-ren für Zahlungen in Euro zu entwickeln. Insbesonderefür Verbraucher bedeutet das, dass bei einer Bestellungaus dem europäischen Ausland die Bezahlung nicht mehrnotwendigerweise per Kreditkarte vorgenommen werdenmuss, sondern künftig auch mittels einer Überweisungbeglichen werden kann.Von Bedeutung für die Zahlungsdiensteanbieter sindauch die neuen Vorschriften zu einer Vereinheitlichungund Verkürzung der Ausführungs- und Wertstellungsfris-ten, die nicht mehr zwischen nationalen und grenzüber-schreitenden Zahlungen innerhalb der EU unterscheiden.Aktuell müssen grenzüberschreitende Überweisungen inder EU binnen fünf Werktagen ausgeführt werden. Abdem 1. Januar 2012 sind alle Zahlungsaufträge in Euroinnerhalb eines Geschäftstages auszuführen. Bis dahinkann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart werden.Dies waren jetzt nur einige beispielhafte Neuerungen,mit denen wir uns in diesem Gesetzgebungsverfahrenauseinandersetzen werden.Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die zur Um-setzung anstehenden Richtlinien bzw. der vorgelegteGesetzentwurf zielen auf eine Verbesserung des Verbrau-cherschutzes ab. Dies und die zu erwartenden Kostenvor-teile durch Etablierung eines echten Binnenmarktes auchfür Verbraucherkredite sind grundsätzlich zu begrüßen.Zu beachten ist jedoch, dass überbürokratische Vor-schriften, die am Ende lediglich erhebliche Mehrkostenfür die Unternehmen der Kreditwirtschaft, im Ergebnisjedoch wenig echten Mehrwert für die Verbraucher schaf-fen und schlussendlich Kreditprodukte zu verteuern ge-eignet sind, was wiederum für Verbraucher von Nachteilwäre, vermieden werden.Insoweit wird im Rahmen des weiteren Gesetzge-bungsverfahrens, eine Expertenanhörung ist jedenfallserforderlich, zu untersuchen sein, ob der gesetzgeberi-sche Spielraum bei der Umsetzung der vorgenanntenRichtlinien richtig genutzt wurde. Uns als Union geht esdarum, die Umsetzung der Richtlinien als Chance zu nut-zen, gleichermaßen den Verbraucherschutz wie die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Kreditinstitute im künftigintensiver werdenden europäischen Wettbewerb zu ver-bessern.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen vor allemRichtlinien des europäischen Parlaments in nationalesRecht umgesetzt werden. Dabei geht es zum einen um dieZahlungsdiensterichtlinie, mit der ein harmonisierterRechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischenBinnenmarkt geschaffen werden soll, und zum anderenum die Verbraucherkreditrichtlinie, mit der verbraucher-Zu Protokollrechtliche Bestimmungen insbesondere zu Werbung, In-formationspflichten, Widerruf und Entschädigung har-monisiert werden sollen.Ich gehe davon aus, dass durch den Gesetzentwurf ins-besondere das Schutzniveau für die Verbraucher bei Ver-braucherkreditverträgen verbessert wird. Das gilt nichtnur für den Abschluss, sondern auch für die Durchfüh-rung von Darlehen. Verbraucher werden besser über denVertragsinhalt informiert werden, und unseriösen Lock-vogelangeboten wird ein Riegel vorgeschoben.Auch die geplante einheitliche Regelung über die Aus-gestaltung der Widerrufs- und Rückgabebelehrung in§ 360 BGB bei Verbraucherverträgen wird von mir dabeiausdrücklich begrüßt. Die neue Vorschrift fasst die An-forderungen an eine ordnungsgemäße Widerrufs- bzw.Rückgabebelehrung zusammen, was zu einer Vereinfa-chung und Erleichterung für den Rechtsanwender führenwird.Für den europäischen Markt werden darüber hinauseinheitliche Rechte und Pflichten für den bargeldlosenZahlungsverkehr geschaffen. Ich teile dabei die Auffassungder Ministerin aus der entsprechenden Pressemitteilungdes BMJ, dass hiervon die Kunden und die Zahlungs-dienstleister profitieren werden. Ich finde übrigens gut,dass die Werbung für Darlehensverträge stärker regle-mentiert wird. Dadurch, dass nicht nur der meinetwegenniedrige Zinssatz, sondern auch die weiteren Kosten desVertrages angegeben werden müssen, werden Lockange-bote unterbunden und dem Verbraucher aussagekräftigereInformationen zugeleitet. Dies wird unterstützt dadurch,dass künftig für die unterschiedlichen Kreditverträge ein-heitliche Muster zur Unterrichtung der Verbraucher gel-ten; denn die unterschiedlichen Angebote können so bes-ser verglichen werden.Profitieren werden die Verbraucher auch von den neuenKündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen – zumeinen, weil Kündigungen durch den Darlehensgeber beiunbefristeten Verträgen nur noch zulässig sind, wenn eineKündigungsfrist von mindestens zwei Monaten vereinbartwurde, der Darlehensnehmer demgegenüber aber jeder-zeit kündigen kann, und zum anderen, sollte dies der Fallsein, weil eine vereinbarte Vorfälligkeitsentschädigungauf maximal 1 Prozent des vorzeitig zurückgezahlten Be-trags beschränkt ist.Im Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs werdenkünftig für Anbieter und Nutzer von Zahlungsdienstleis-tungen europaweit weitestgehend einheitliche Rechte undPflichten gelten. Dies wird bargeldlose Zahlungen er-leichtern und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten er-höhen. Als Nebeneffekt ist verstärkter Wettbewerb unterden Zahlungsdienstleistern zu erwarten.Soweit das BMJ die Auffassung vertritt, dass die neuenRegelungen zu einer Vereinheitlichung und Verkürzungder Ausführungs- und Wertstellungsfristen führen wird,wird diese Hoffnung von mir geteilt, zumal nicht mehrzwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungeninnerhalb der EU unterschieden werden wird.Uns liegt hier ein durchdachter Gesetzentwurf vor. Na-türlich ist die eine oder andere Vorschrift noch einmal
Metadaten/Kopzeile:
22218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dirk Manzewskikritisch zu betrachten. Das werden wir auch im Laufe desGesetzgebungsverfahrens tun. Insgesamt gesehen han-delt es sich meiner Auffassung nach jedoch um einen aus-gewogenen Entwurf. Ich freue mich jedenfalls schon aufdie anstehenden Beratungen mit Ihnen.
Da liegt sie nun, die Drucksache 16/11643 vom21. Januar 2009. 313 Seiten gilt es zu durchdringen, unddas in gerade einmal 15 Werktagen. Dass die heutigeerste Lesung da nicht mehr sein kann als eine erste Ein-schätzung, liegt auf der Hand.Lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, dem diebesondere Aufmerksamkeit der FDP-Bundestagsfraktiongalt und gilt: der Rechtssicherheit beim Widerrufs- undRückgaberecht. Es war die FDP-Bundestagsfraktion, diedieses Thema in parlamentarischen Initiativen auf die po-litische Agenda gesetzt und die Kritik aus Reihen derRechtsprechung und Literatur aufgegriffen hat. Auf dieseWeise haben wir erreicht, dass nach jahrelanger Kritikzum 1. April 2008 eine korrigierte Musterbelehrung inKraft treten konnte, die zu einem Zuwachs an Rechtssi-cherheit geführt hat. Da jedoch auch dieses Muster nurVerordnungsrang hatte, hätte es theoretisch weiterhin voneinzelnen Gerichten für unwirksam erklärt werden undfindige Anwälte hätten ihren „Abmahnterror“ weiter ver-anstalten können. Damit ist nun Schluss. Nach dem Ge-setzentwurf soll das Muster in einem formellen Gesetz ge-regelt werden. Dies führt zu mehr Rechtssicherheit und zueinem besseren Schutz vor Abmahnungen, auch wenn esin Sachen Rechtssicherheit durchaus noch Gestaltungs-spielräume für Verbesserungen gibt.Noch immer vorgesehen ist eine Vielzahl von Gestal-tungshinweisen, die in der Praxis zu Interpretations- undAuslegungsfragen und zu Diskussionen darüber führenwerden, ob die im konkreten Fall verwendete Formulie-rung den gesetzlichen Anforderungen genügt. Wün-schenswert wäre darüber hinaus ein einheitliches Musterfür alle Vertragsarten und Vertriebsformen unter Ein-schluss auch von Verbraucherdarlehensverträgen. Min-destens erforderlich ist eine Maximalgrenze für die Aus-übung des Widerrufsrechts. Dies gilt jedenfalls so lange,wie Verbraucherkreditverträge aus dem Anwendungsbe-reich der Musterbelehrungen ausgeklammert sind.Ausdrücklich zu begrüßen ist die Absicht, die bislangbestehende Ungleichbehandlung von Onlineshops undInternetauktionen bei Widerrufsfrist und Wertersatz auf-zuheben. Diese Unterscheidung war künstlich. Sie be-ruhte auf einer rechtlichen Konstruktion, ohne dass in derSache eine unterschiedliche Behandlung geboten gewe-sen wäre.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch einegrundsätzliche Bemerkung. Ich begrüße das Muster auspraktischen Erwägungen. Rechts- und ordnungspolitischkönnte man auch zu anderen Ergebnissen kommen. Un-verändert stellt sich die Frage, ob es Aufgabe des Gesetz-gebers ist, Muster für die Rechtspraxis vorzuhalten. Nachmeiner Auffassung ist dies eigentlich Aufgabe der rechts-beratenden Berufe. Nachdem nun aber einmal der Wegüber Muster des Verordnungs- bzw. jetzt Gesetzgebers be-Zu Protokollschritten worden ist, wird man nüchtern feststellen müs-sen, dass ein abermaliger Systemwechsel zu einer neuer-lichen Belastung des Rechts- und Geschäftsverkehrsführen würde, woran niemand ein Interesse haben kann.Für mich ist mit der Festlegung auf eine Musterwider-rufsbelehrung aber keine Vorentscheidung für andereRechtsbereiche, beispielsweise das Gesellschaftsrecht,verbunden. Hier sollte die Rechtsgestaltung weiterhinden rechtsberatenden Berufen vorbehalten bleiben. Diesermöglicht auch eine schnellere Anpassung an die sichändernden Verhältnisse.Lassen Sie mich nun zu den umzusetzenden Richtlinienkommen und mit der über Verbraucherkredite beginnen.Ziel ist es, Verbraucher künftig besser zu schützen, wennsie Kredite aufnehmen oder abbezahlen. Zu diesemZweck sollen die Kreditgeber die Verbraucher bereits inder Anbahnungsphase eines Vertrages umfassend infor-mieren. Auch soll – so Bundesjustizministerin Brigitte Zy-pries in einer Pressemitteilung – „Lockvogelangebotenein Riegel vorgeschoben werden“. Um dies zu erreichen,müssen in Zukunft alle Kosten des Vertrages aufgelistetwerden. Außerdem sollen die Verbraucherrechte bei einerDarlehenskündigung gestärkt werden. Bei befristetenVerträgen sollen Verbraucher das Darlehen künftig je-derzeit ganz oder teilweise zurückzahlen dürfen. Verlangtder Kreditgeber in einem solchen Fall eine Vorfällig-keitsentschädigung, soll diese auf maximal 1 Prozent desvorzeitig zurückgezahlten Betrages beschränkt werden.Das alles klingt sehr technisch. Tatsächlich verbindetsich hiermit jedoch die Hoffnung, einen echten Binnen-markt für Verbraucherkredite schaffen zu können. FürAnbieter von Krediten soll es zukünftig nicht mehr not-wendig sein, sich an die unterschiedlichen Rechtsvor-schriften der einzelnen Mitgliedstaaten anpassen zu müs-sen. Effizienzgewinne der Banken und größenbedingteEinsparungen sollen die Folge sein.Positive Effekte sollen sich auch für die Verbrauchereinstellen. Der verstärkte Wettbewerb soll zu einem brei-teren Angebot und zu einem Sinken der Kreditzinsen füh-ren. Verbraucher sollen zudem vor unverhältnismäßigenKrediten geschützt werden. Mitunter sollen sie gar vorsich selbst geschützt werden. Ökonomisch könnte es näm-lich durchaus sinnvoll sein – so die Richtlinie – wenn Kre-ditgeber in einzelnen Fällen einen Kredit auch einmalverweigern. Dies diene überdies der Stabilisierung derinternationalen Finanzwelt, die nicht zuletzt durch dieunverantwortliche Kreditvergabepraxis US-amerikani-scher Banken in Turbulenzen geraten sei.Das alles klingt gut und nachvollziehbar. Es darf abernicht den Blick dafür versperren, dass mit der Richtlinieauch Gefahren, in jedem Falle aber Kosten verbundensein werden. Den Kreditgebern werden Kosten entstehen,beispielsweise um den Beratungs- und Dokumentations-pflichten zu genügen. Das Risiko, in gerichtliche Verfah-ren verwickelt zu werden, wird steigen. Und die steigen-den Kosten und Risiken werden es für Kreditgeber häufigfinanziell unattraktiv machen, überhaupt bestimmte klei-nere Darlehen zu gewähren. Es ist also nicht gänzlichauszuschließen, dass am Ende eine Verknappung des Kre-ditangebotes stehen wird. Den Preis hierfür werden aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22219
gegebene Reden
(C)
(D)
Mechthild Dyckmansauch die Verbraucher zahlen, die entweder höhere Kre-ditkosten tragen müssen oder überhaupt keinen Kreditmehr erhalten können. Gemessen an der wechselvollenund langen Entstehungsgeschichte der neuen Richtliniehätte es schlimmer kommen können.Gleichwohl bleiben Zweifel am Harmonisierungskon-zept der neuen Richtlinie. Was wir beobachten, ist einFlickenteppich, eine bunte Mischung aus Vollharmonisie-rung, Mindestharmonisierung, partieller Harmonisie-rung und zulässigen Alternativregelungen in Form vonOptionsklauseln. Das macht die Richtlinie zu einem Re-gelwerk, das im Gemeinschaftsprivatrecht seinesgleichensucht. Das bleibt nicht ohne Folgen auch für die Ziele, diemit der Richtlinie verfolgt werden. Ich habe Zweifel, dassdie Rechtslage in den Mitgliedstaaten durch die Umset-zung tatsächlich soweit vereinheitlicht wird, dass dieMarktbedingungen in allen Mitgliedstaaten gleich sindund Banken ihre Verbraucherkredite wirklich in identi-scher Form EU-weit anbieten können.Mit Blick auf das gemeinschaftsrechtliche Subsidiari-tätsprinzip stellt sich deshalb mit besonderem Nachdruckdie Frage, ob eine Vollharmonisierung im Verbraucher-recht mit allen Schwierigkeiten, die sie für die Mitglied-staaten birgt, überhaupt gerechtfertigt ist. In diesemSinne ist die Verbraucherkreditrichtlinie ein echter Test-ballon für alle weiteren Harmonisierungsbestrebungenim Verbraucherrecht. Dies gilt insbesondere auch im Hin-blick auf die anstehende Überarbeitung des Verbraucher-acquis.Neben diesen eher grundsätzlichen Überlegungenwerden wir uns im Gesetzgebungsverfahren auch mit Ver-besserungen im Detail auseinanderzusetzen haben. Einewichtige Forderung in diesem Zusammenhang ist die Ver-meidung von unverhältnismäßigen Rechtsfolgen bei In-formationsdefiziten. Wenn man bedenkt, dass der Gesetz-entwurf an verschiedenen Stellen Rechtsfolgen bis hinzum Verlust jeglicher Zinsansprüche vorsieht, bedarf dieseiner sehr kritischen Überprüfung.Ich bitte mir nachzusehen, dass ich die Zahlungs-diensterichtlinie an dieser Stelle aus Zeitgründen nurstreifen kann. Grenzüberschreitende Zahlungen sollengenauso einfach, effizient und sicher werden wie Zahlun-gen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus sollder Wettbewerb erhöht werden. Durch die Schaffung ei-nes einheitlichen Binnenmarktes sollen neue Anbieter inden Zahlungsverkehrsmarkt eintreten können, was zu ei-ner höheren Effizienz und zu geringeren Kosten führensoll. All dies findet seinen Niederschlag in einer Vielzahlvon sehr detaillierten Regelungen, die zu entsprechendengen Vorgaben für den nationalen Gesetzgeber führen.War im deutschen Recht bislang nur der Überweisungs-vertrag detailliert geregelt, enthalten die neuen Vor-schriften nunmehr darüber hinausgehende Anforderun-gen, die auch für die sonstigen Zahlungsinstrumente, wiezum Beispiel Lastschriften, Karten, das Onlinebanking,die Geldkarte usw., gelten sollen.All dies hat erhebliche Auswirkungen auf unser gutesaltes BGB. Mir wird schwummrig bei der Vorstellung,dass § 675 BGB künftig eine Buchstabenkette aufweisenZu Protokollwird, die bis hin zu § 675 „z“ BGB gehen soll. Wer solldas eigentlich noch verstehen?Ich bin mir des begrenzten Spielraums, der für den na-tionalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinieverbleibt, durchaus bewusst. Wir dürfen jedoch den Kopfnicht in den Sand stecken, sondern müssen den verblei-benden Spielraum im Gesetzgebungsverfahren effektivnutzen. Das gilt einerseits im Interesse der Verbraucher.Hier werden wir uns mit dem Zusammenspiel der neuenRegelungen noch intensiver beschäftigen müssen. Sokann es doch beispielsweise nicht sein, dass der Widerrufvon Zahlungsaufträgen bei sofort erkannten Fehlern of-fensichtlich fast unmöglich wird und sich Fehler nichtmehr unbürokratisch beseitigen lassen. Dies gilt aberauch im Interesse der Banken. Die Umsetzung der Ver-braucherkredit- und Zahlungsdiensterichtlinie bedeutetfür die Kreditwirtschaft einen weiteren großen Kraftakt ineiner Zeit, in der durch die Finanz- und Wirtschaftskriseohnehin schon genug Belastungen zu bewältigen sind.Hier liegen große Anstrengungen vor den Banken.Deshalb sollte das einheitliche Inkrafttreten der Um-setzung von Verbraucherkreditrichtlinie und Zahlungs-diensterichtlinie noch einmal überdacht werden. Für dieZahlungsdiensterichtlinie gilt ein Umsetzungszeitraumbis zum 1. November 2009. Das ist schon knapp genug,aber nicht zu ändern. Bei der Verbraucherkreditrichtliniehaben wir etwas mehr Luft. Hier ist Stichtag für die Um-setzung der 12. Mai 2010. Es ist kein Sachgrund ersicht-lich, das Inkrafttreten des Gesetzes auch insoweit auf den31. Oktober 2009 vorzuziehen. Das sollten wir im Gesetz-gebungsverfahren korrigieren.In diesem Sinne freue ich mich auf gute Beratungenund auf entsprechende Erkenntnisgewinne bei allen Be-teiligten.
Angesichts der weltweiten Wirtschafts- und Finanz-krise ist der vorliegende Gesetzentwurf fast schon eineProvokation. Während die Bürgerinnen und Bürger mitihren Steuern und häufig genug auch mit dem Verlust ih-res Arbeitsplatzes die Folgen der Krise zu bezahlenhaben, und während Milliarden an Steuergeldern anWirtschaft und Banken verschenkt werden, wird der fi-nanzielle Verbraucherschutz von Bundesregierung undEU nicht etwa gestärkt, sondern geschwächt. Fehlenderunmittelbarer oder mittelbarer Verbraucherschutz spielteine bedeutende Rolle in der Finanzkrise. Doch nicht ein-mal jetzt macht sich die Bundesregierung auf, ein zu-kunftsfähiges und Verbraucherinnen und Verbraucherschützendes Kreditwesen zu schaffen.Dieser Gesetzentwurf bringt alles andere als die Ver-besserung des finanziellen Verbraucherschutzes inDeutschland. Er basiert auf einer EU-Richtlinie, an derdie Bundesregierung in Brüssel maßgeblich beteiligt war.Der Entwurf belegt, dass trotz aller Beteuerungen ausdem Regierungslager über dringend notwendige, schär-fere Regulierungen der Finanzmärkte gerade das genaueGegenteil stattfindet. Inmitten der katastrophalen Fi-nanz- und Wirtschaftskrise lässt die Regierung den Neo-liberalismus hochleben. Das ist die Wirklichkeit.
Metadaten/Kopzeile:
22220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Karin BinderIch werde Ihnen das erläutern. Die Verbraucherkredit-richtlinie enthält heute alles, was die Bankenlobby sichwünscht: die Anerkennung von Kreditverkäufen, ein nichtaussagefähiger Effektivzins, Ausnahmen für Kleinkredite,Anerkennung der wucherischen Überziehungsprovisio-nen und Verschuldung auf Mausklick im Internet ohne ei-genhändige Unterschrift. Den nationalen Parlamentenwurde nur wenig Spielraum gelassen, um die Verbrauche-rinnen und Verbraucher besser zu schützen.Aber auch diesen Spielraum nutzt die Bundesregie-rung in ihrem Gesetzentwurf nicht. Der Kreditmarkt istintransparent und soll offenbar auch weiter intransparentbleiben. Banken können weiterhin mit Kreditzinsen wer-ben, die die Verbraucherinnen und Verbraucher in derRealität nie bekommen werden. So gehört mittlerweilezur gängigen Praxis, dass 50 Prozent der Kreditkostenverschleiert werden, indem die Vergabe von Krediten miteiner Restschuldversicherung gekoppelt wird, die denKredit erheblich verteuert. Ignoriert wird auch, dass eineKreditvergabe häufig an den Abschluss einer Kapitalle-bensversicherung gebunden wird. Danach müssen zuerstdie Kosten der Versicherungen und das Anlageproduktbezahlt werden, bevor der Kredit abgetragen werdenkann. So kassieren die Banken doppelt: erst die Provisio-nen der Versicherungen, die teilweise 60 Prozent betra-gen, und obendrein die hohen Zinsen der Kreditnehme-rinnen und Kreditnehmer.Ein weiteres großes Problem sind Kleinkredite, dieebenso wenig unter die verbraucherschützenden Normendes Gesetzes fallen. Dazu gehört zum Beispiel die Praxisder Banken, Verbraucherinnen und Verbraucher zu einerKette von Kreditkarten zu verleiten, in der die Überschul-dung einer Kreditkarte durch die nächste verlängert undverschärft wird und die Menschen in eine Überschul-dungsspirale treibt. Das Gleiche gilt für Kapitallebens-versicherungskredite oder für sogenannte finanzierte Ka-pitalanlagen. Diese Praxis, die in angelsächsischenLändern verbreitet ist, treibt nun auch bei uns ihre fal-schen Blüten. Damit wird das Kreditmonopol untergra-ben.Es wird zusätzlich dadurch aufgeweicht, dass es in ei-nigen neuen EU-Ländern, wie zum Beispiel in Tsche-chien, es dieses Kreditmonopol gar nicht gibt. Interessiertes die Bundesregierung gar nicht, welche Probleme fürdie Bürgerinnen und Bürger dadurch entstehen können?Auch Kettenumschuldungen interessieren die Koalitionoffenbar nicht, die die Kreditnehmerinnen und Kreditneh-mer in eine Überschuldung treiben. So müssten die Ket-tenkredite untersagt werden, wo wegen eines geringenZusatzbedarfs des Kreditnehmers gleich der gesamteKredit mehrfach umgeschuldet wird. Dadurch verdop-peln sich die Kreditkosten innerhalb kürzester Zeit, ohnedass die Kreditnehmerin bzw. der Kreditnehmer eineChance gehabt hätte, den Kredit zu mindern. Dadurchwerden Schuldenberge aufgetürmt, die nicht mehr abzu-tragen sind. Das ist Ausbeutung durch Umschuldung.Das Gesetz ändert nichts an der Praxis, von den Ver-braucherinnen und Verbrauchern Wucherzinsen zu neh-men. Bei Überschreitung des Dispolimits verlangen vieleInstitute schon 20 Prozent und mehr Überziehungszins.Zu ProtokollDer Zinssatz ist nach der bisherigen Rechtsprechung aufmaximal 16 bis 18 Prozent beschränkt. Diese Wucherkre-dite werden nicht von den Gutsituierten in Anspruch ge-nommen, sondern von den Leuten, denen bereits jetzt dasWasser bis zum Hals steht. Dazu gehören auch Kleinstun-ternehmer und Selbstständige. Diese Wucherzinsen müs-sen verboten werden.Während in Frankreich, Italien, den Benelux-Ländernoder auch in Polen Antiwuchergesetze bestehen, gibt es inDeutschland bislang nur eine Rechtsprechung, die jedochnicht mehr greift. Sie besagt nämlich, das Doppelte vomÜblichen sei nichtig. Was jedoch „üblich“ ist, wurde per-vertiert. In Deutschland wird Wucher so zum Alltagspro-blem.Die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD lässt daskalt. Wo sind die Antiwucherregelungen in Ihrem Gesetz-entwurf? Ist für Sie der § 138 Abs. 2 BGB etwa der Weis-heit letzter Schluss?Ich fasse zusammen: Wir haben in Deutschland – imUnterschied zu zahlreichen anderen vergleichbaren Län-dern – ein großes Problem mit dem Effektivzins, mit demKreditmonopol, mit Wucher, mit Kreditkartenketten undmit Überschuldung. Das alles scheint Ihnen gleichgültigzu sein. Im Gesetzentwurf ist es kein Thema.Ich möchte daran erinnern, dass die internationaleGemeinschaft sieben Prinzipien für eine verantwortlicheKreditvergabe aufgestellt hat. Sie könnten dies als Anre-gung nutzen, um den Gesetzentwurf zu überarbeiten.Auch besteht dringender Handlungsbedarf bei der finan-ziellen und personellen Ausstattung der Schuldnerbera-tungsstellen. Bereits heute wird von der Wirtschaftsaus-kunftei Creditreform für dieses Jahr eine Zunahme derVerbraucherinsolvenzen um 50 Prozent angekündigt.Dieser Gesetzentwurf birgt gerade für Menschen mitkleineren Einkommen massive Verschlechterungen. Erdarf so nicht angenommen werden.
Die Finanzkrise hat es deutlich gezeigt: Ob bei Geld-anlagen oder Kreditvermittlung, die Verbraucherinnenund Verbraucher brauchen mehr Schutz auf den Finanz-märkten. Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Umset-zung der Verbraucherkreditrichtlinie setzt eine EU-Richt-linie um, die im Frühjahr 2008 verabschiedet wurde.Bereits in der EU-Richtlinie wurde der Verbraucher-schutz aufgrund von massiven Protesten der Banken imVergleich zum ursprünglichen Entwurf erheblich aufge-weicht.Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zurUmsetzung der Richtlinie ebenfalls kein großer Wurf inSachen Verbraucherschutz. Viele Probleme bleiben imGesetz ungeregelt. Ein Beispiel ist das Thema unseriöseKreditvermittler. Nach wie vor werden die Verbrauche-rinnen und Verbraucher nicht effektiv vor Kredithaien ge-schützt, obwohl die EU-Richtlinie durchaus Raum fürstrengere Auflagen und Pflichten für Kreditvermittler ge-lassen hätte. Das ist fahrlässig, denn mit unseriösen Kre-diten werden im Jahr mindestens 150 Millionen Euro zumSchaden der Verbraucherinnen und Verbraucher umge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22221
gegebene Reden
(C)
(D)
Nicole Maischsetzt. Die Zahl der Verbraucherinnen und Verbraucher,denen diese unseriösen Kredite angeboten werden, liegtjährlich bei 400 000, wie eine Schufa-Studie belegt. Hierhätte die Bundesregierung handeln müssen, damit denschwarzen Schafen am Markt endlich das Handwerk ge-legt wird und die Menschen nicht mit faulen Kreditange-boten geködert werden. Diejenigen Verbraucherinnenund Verbraucher, die sich bewusst zur Aufnahme einesKredits entscheiden, müssen sich darauf verlassen kön-nen, dass sie nicht übervorteilt oder in unüberschaubareSchulden getrieben werden. Zu einem seriösen Umgangmit Krediten gehören auch verbraucherfreundliche Stan-dardinformationen in der Werbung.Bei den Regelungen zum Widerrufsrecht wurde eben-falls geschlampt. Verbraucherinnen und Verbrauchermüssen davor geschützt werden, dass sie nicht auf Pro-dukten sitzen bleiben, die sie weder haben wollten nochwissentlich bestellt haben. Ein effektives und klar ver-ständliches Widerrufsrecht im Sinne der Verbraucherwäre hier wünschenswert gewesen.Schutzdefizite gibt es auch bei den Neuregelungen fürdie Restschuldversicherungen. Unter anderem fehlt dieFestlegung einer angemessenen Obergrenze für Rest-schuldversicherungen.Auch die Regelungen beim Zahlungsverkehr bringenkeine Vorteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher.Kommt es zu Missbrauch bei Kartenzahlung oder PIN,trägt noch immer der Verbraucher ein sehr hohes Haf-tungsrisiko. Hier hätte der Gesetzgeber endlich dafürsorgen müssen, dass nicht die Verbraucherinnen und Ver-braucher den Schaden alleine tragen, wenn sie bei Kar-tenzahlungen von Betrügern abgezockt werden. Noch un-verständlicher ist, dass der jetzige Entwurf vorsieht, dassdie Verbraucherinnen und Verbraucher bei Kartenmiss-brauch in jedem Fall mit 150 Euro selbst haften, auchdann, wenn sie nachweislich nicht fahrlässig gehandelthaben. Das ist nicht akzeptabel. Vielmehr sollten die Ban-ken endlich in die Verantwortung genommen werden undsichere Zahlungssysteme für ihre Kunden und Kundinnenbereitstellen.Für die Verbraucherinnen und Verbraucher bergen dieRegelungen zur Zahlungsdiensterichtlinie auch Über-schuldungsrisiken. Wenn Kreditkartenanbieter zukünftigkeine Banklizenz mehr benötigen, werden noch mehr Kre-ditkarten im Umlauf sein. Für die Verbraucherinnen undVerbraucher ist die Gefahr der Überschuldung umso hö-her, wenn sie unzählige Kreditkarten nutzen können.Insgesamt bleibt festzustellen: Der Verbraucher-schutz kommt im Gesetzentwurf wieder einmal zu kurz.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat den Antrag„Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten“, Drucksa-che 16/11205, in das parlamentarische Verfahren einge-bracht. Unter anderem fordern wir dort auch, dass ein so-genannter Finanzmarktwächter die Interessen derVerbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärk-ten vertritt. An diesem und den zahlreichen anderen Vor-schlägen sollte sich die Bundesregierung orientieren undsie in ihre Gesetzgebung einfließen lassen, damit die Ver-braucherinnen und Verbraucher nicht weiterhin die Ver-lierer auf dem Finanzmarkt sind.Zu ProtokollA
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-rung sollen zwei europäische Richtlinien in deutschesRecht umgesetzt und die Vorschriften zum Widerrufsrechtneu geordnet werden. Zur Umsetzung der Richtlinien istbesonders darauf hinzuweisen, dass beide Richtliniendem Prinzip der Vollharmonisierung folgen. Der natio-nale Gesetzgeber darf also grundsätzlich nicht inhaltlichvon den Vorgaben aus den Richtlinien abweichen. Folg-lich beschränkt sich der Entwurf in weiten Teilen auf eineEins-zu-eins-Umsetzung.Der Gesetzentwurf beinhaltet, die Vorgaben der Ver-braucherkreditrichtlinie sowie des zivilrechtlichen Teilsder Zahlungsdiensterichtlinie in das Bürgerliche Gesetz-buch zu integrieren. Dies ist konsequent. Auch bisher sinddie entsprechenden Regelungsmaterien, die durch diebeiden Richtlinien betroffen werden, dort angesiedelt.Um das Bürgerliche Gesetzbuch nicht mit Details zuüberfrachten, sollen die langen Informationspflichten-kataloge sowie die erforderlichen Muster in das Einfüh-rungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch überführtwerden. Damit stehen diese Vorschriften und Muster auchauf einer formell-gesetzlichen Grundlage, was dieRechtssicherheit der Betroffenen erhöht. An diesengrundlegenden Entscheidungen ist im bisherigen Verlaufdes Gesetzgebungsverfahrens keine Kritik geübt worden.Inhaltlich ist Folgendes hervorzuheben: Die Neuord-nung der Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zumWiderrufs- und Rückgaberecht dient der Vereinfachungund soll die Verständlichkeit dieser schwierigen Materieverbessern. Sie ist zur Richtlinienumsetzung nicht erfor-derlich, bietet sich aber in diesem Sachzusammenhang an.Im Verbraucherdarlehensrecht wird die Pflicht desDarlehensgebers zur vorvertraglichen Information dazuführen, dass Verbraucher die Vor- und Nachteile einesVertragsabschlusses besser abwägen können. Dies stärktdie Position des mündigen Verbrauchers, der eigenverant-wortlich auf fundierter Grundlage seine Entscheidungentrifft. Einheitliche Informationsmuster werden es demVerbraucher ermöglichen, auf einen Blick mehrere Ange-bote miteinander zu vergleichen.Hinzu kommen Regelungen zur jederzeitigen vorzeitigenRückzahlung des Darlehens. Verbraucher können zukünf-tig Darlehen, die nicht grundpfandrechtlich gesichertsind, jederzeit, das heißt ohne die bisherige Warte- undKündigungsfrist, zurückzahlen. Als Ausgleich steht demDarlehensgeber eine Vorfälligkeitsentschädigung zu. De-ren Berechnung war auf europäischer Ebene bis zuletztumstritten. Nach dem Gesetzentwurf ist dieser Anspruchals ein in der Höhe begrenzter Schadensersatzanspruchausgestaltet. Dies ist eine systemkonforme Umsetzung,die insgesamt sachgerecht und ausgewogen erscheint.Neu geregelt wird ferner die Werbung für Verbraucher-kredite. Wirbt ein Unternehmer mit Zahlenangaben fürKredite, kann er zukünftig nicht mehr eine besondersgünstige Zahl, wie etwa den Jahreszins, herausstellen,sondern muss weitere Pflichtangaben machen. Damit sollLockvogelangeboten in der Werbung entgegengewirktwerden. Nach dem Vorschlag im Umsetzungsgesetz müssen
Metadaten/Kopzeile:
22222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22223
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachdie Pflichtangaben so gewählt werden, dass mindestenszwei von drei Verträgen, die aufgrund der Werbung abge-schlossen werden, den in der Werbung versprochenenKonditionen entsprechen.Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs betrifft dieUmsetzung der zivilrechtlichen Vorschriften der Zahlungs-diensterichtlinie. Die Richtlinie schafft einen harmonisier-ten Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischenBinnenmarkt. Die Umsetzung erfordert erhebliche Än-derungen und Ergänzungen sowohl der einschlägigenVorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs – §§ 675a ff.BGB – als auch der Regelungen zu den Informations-pflichten. Erstmals gibt es sowohl für rein inländische alsauch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zumBeispiel Überweisung, Zahlungskarte oder Lastschrift,einheitliche Regelungen. Dies erleichtert bargeldloseZahlungen und erhöht die Rechtssicherheit für alle Betei-ligten. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum – SingleEuro Payments Area, SEPA – wird es den Anbietern vonZahlungsdiensten darüber hinaus erlauben, neue, euro-paweit funktionierende Verfahren für Zahlungen in Eurozu entwickeln, sogenannte SEPA-Produkte.Beispiele: Ein europäisches Lastschriftverfahren wirdes ermöglichen, dass Strom- und Telefonkosten für eine Fe-rienwohnung auf Teneriffa oder die Miete für das Zimmerim Studentenwohnheim bei einem Auslandsaufenthalt mo-natlich von einem deutschen Konto bequem abgebuchtwerden können. Auch bei Internetbestellungen aus demeuropäischen Ausland muss eine Bezahlung nicht mehrnotwendigerweise per Kreditkarte erfolgen, sondernkann per Lastschrift oder Überweisung durchgeführtwerden. Deshalb wird – jedenfalls soweit es um die Be-zahlung geht – der Standort eines Anbieters künftig keinHindernis mehr dafür sein, sich als Kunde für das güns-tigste Angebot zu entscheiden. Zugleich fördern gleicheRahmenbedingungen auch den grenzüberschreitendenWettbewerb unter den Zahlungsdienstleistern. Durch ein-heitliche Vorgaben über die Information der Kunden wirdes leichter, auch das Angebot ausländischer Zahlungs-dienstleister zu bewerten.Schließlich führen die neuen Regelungen zu einer Ver-einheitlichung und Verkürzung der Ausführungs- undWertstellungsfristen. Künftig wird nicht mehr zwischen na-tionalen und grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalbder EU unterschieden. Bisher sind grenzüberschreitendeÜberweisungen in der EU binnen fünf Werktagen zu er-bringen. Ab 1. Januar 2012 müssen alle Zahlungsaufträgein Euro innerhalb eines Geschäftstages ausgeführt werden.Bis dahin kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbartwerden. Damit können Zahlungsdienstnutzer zielgenauerihre Zahlungspflichten gegenüber ihren Gläubigern erfül-len und so lange wie möglich mit ihrem Geld arbeiten.Abschließend möchte ich betonen, dass der Gesetzent-wurf inhaltlich ausgewogen ist. Er beschränkt sich grund-sätzlich auf die zur Umsetzung notwendigen Eingriffe indas bestehende Recht und geht nur insoweit über die Vor-gaben hinaus, als dies mit den Grundgedanken des bishe-rigen Rechts in Einklang steht. Gleichwohl ist er natürlichsehr umfangreich und durchaus nicht unkompliziert. Under ist äußerst eilbedürftig. Die Umsetzungsfrist endet fürdie Zahlungsdiensterichtlinie am 31. Oktober 2009 undfür die Verbraucherkreditrichtlinie am 12. Mai 2010. Ichwäre Ihnen daher für eine zügige Beratung des Entwurfsdankbar, damit wir diese Fristen einhalten können.
Auch hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 16/11643 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi-
resistente Problemkeime wirksam bekämpfen
– Drucksache 16/11660 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Hans Georg Faust,
Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth,
Dr. Harald Terpe, Parlamentarischer Staatssekretär Rolf
Schwanitz.
In Deutschland werden jährlich circa 17 MillionenMenschen an 142 Millionen Pflegetagen in etwa2 100 Krankenhäusern behandelt. Hinzu kommen medi-zinische Maßnahmen im Rahmen der ambulanten medizi-nischen Versorgung und in anderen Einrichtungen desGesundheitswesens. Wie in anderen Industrienationengehören Infektionen, die in zeitlichem Zusammenhangmit einer medizinischen Maßnahme stehen und als solchenicht bereits vorher bestanden – nosokomiale Infektio-nen; § 2 Infektionsschutzgesetz, IfSG –, zu den häufigstenInfektionen in Deutschland und den häufigsten Kompli-kationen medizinischer Behandlungen insgesamt. Natio-nale und internationale Prävalenzstudien zeigen, dassnosokomiale Infektionen bei circa 4 bis 9 Prozent dervollstationär behandelten Patienten auftreten. Dabei gibtes Unterschiede in Spektrum und Häufigkeit der Infektio-nen je nach Land, Region, Krankenhaus, Abteilung undFachrichtung.Von besonderer Bedeutung sind Infektionen mit Erre-gern mit speziellen Resistenzen und Multiresistenzen, diedarüber hinaus mit erhöhter Letalität belastet sind. EinTeil dieser Infektionen ist durch geeignete Präventions-maßnahmen vermeidbar. Solche werden von der Kommis-sion für Krankenhaushygiene und Infektionspräventionbeim Robert-Koch-Institut unter Einbeziehung weitererExperten erarbeitet und zusammen mit ergänzenden hilf-reichen Informationen veröffentlicht: www.rki.de.Zu den international bewährten und allgemein aner-kannten Maßnahmen der Prävention und Kontrollenosokomialer Infektionen gehört wesentlich auch eine
(C)
(D)
Dr. Hans Georg Faustetablierte Surveillance, also die systematische und kon-tinuierliche Überwachung von Erkrankungen bzw. To-desfällen. Mit diesem Ziel wurde die Erfassung und Be-wertung von nosokomialen Infektionen und von Erregernmit speziellen Resistenzen einschließlich der Rückkopp-lung an die betroffenen Organisationseinheiten inDeutschland im Infektionsschutzgesetz gesetzlich veran-kert – § 23 Abs. 1 IfSG – und ein Nationales Referenzzen-trum, NRZ, für die Surveillance nosokomialer Infektionengeschaffen. Von dort wird das auf freiwilliger Teilnahmebasierende Krankenhaus-Infektions-Surveillance-Sys-tem, KISS, geleitet und koordiniert. Die freiwillige undgegenüber Dritten anonymisierte Teilnahme dient dabeider Datenqualität.Von besonderer Bedeutung sind also die mehrfach ge-gen Antibiotika resistenten Erreger, die sich im Kranken-haus ausbreiten und die mit der Verlegung von Patientenauch zwischen Krankenhäusern übertragen werden kön-nen. Im Falle von Infektionen mit diesen Erregern sinddie antibiotischen Behandlungsalternativen deutlich ein-geschränkt. Gegenwärtig besteht diese Problematik inDeutschland insbesondere bei Methicillin(Oxacillin)-re-sistenten Staphylococcus-aureus-Stämmen so-wie – regional verschieden – bei vancomycinresistentenEnterokokken, besonders VRE faecium, sowie multiresis-tenten Stämmen von Pseudomonas und Acinetobacter.Die systematische Erfassung und Bewertung von Iso-laten mit bestimmten Resistenzen und Multiresistenzen istgemäß § 23 Abs. 1 IfSG bereits jetzt eine bewährte Me-thode, entsprechende Risikobereiche, gesteigerte Antibio-tikaverbrauche und Cluster bzw. Ausbrüche zu erkennen.Somit ist mit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes imJahr 2000 für Krankenhäuser die Durchführung einer ge-zielten Surveillance nosokomialer Infektionen, also dieErfassung, Dokumentation und Feedback der Daten, ver-pflichtend. Diese Verpflichtung ergibt sich aus § 23Abs. 1 IfSG. Dem Gesundheitsamt ist auf Verlangen Ein-sicht in die Aufzeichnungen zu gewähren. Hierdurch solldas Gesundheitsamt in die Lage versetzt werden, sich vonder Durchführung der gesetzlich verlangten Surveillancezu überzeugen.In diesem Zusammenhang sollte mit großer Vorsichtdarüber diskutiert werden, ob es zielführend ist, die beider Surveillance ermittelten Infektionsraten der Öffent-lichkeit zugänglich zu machen und gegebenenfalls alsWerbeträger von den Krankenhäusern einsetzen zu las-sen. Der Wunsch, vorzeigbare Infektionsraten zu ermit-teln, und die Verknüpfung von Surveillancedaten mit wirt-schaftlichen Interessen könnten einer objektivenSurveillance jedoch dann im Wege stehen. Denn zurzeitkann noch keine Aussage darüber getroffen werden, obdie Vorteile solcher öffentlichen Berichte zu nosokomia-len Infektionen die Nachteile aufwiegen werden. Obwohlin den USA seit 2002 in inzwischen fünf Bundesstaatenbereits ein Public Reporting von nosokomialen Infektio-nen gesetzlich gefordert wird, spricht das US-amerikani-sche Healthcare Infection Control Practices AdvisoryCommittee, HICPAC, daher keine Empfehlung für dieVeröffentlichung von Infektionsdaten aus.Zu ProtokollDie Auseinandersetzung mit den Infektionsraten mussvor allem in den Krankenhäusern bzw. in den medizini-schen Abteilungen und auf den pflegerischen Stationenerfolgen. Nur hier können die richtigen Schlüsse in Be-zug auf mögliche Konsequenzen bei den Infektionsprä-ventionsmaßnahmen gezogen werden. Dass dieser An-satz, wonach die Auseinandersetzung mit denInfektionsraten vor allem in den Krankenhäusern erfol-gen muss, der zielführendere ist, wird deutlich, wenn mandie jüngsten Erkenntnisse des 33. Interdisziplinären Fort-bildungsforums der Bundesärztekammer vom 8. Januar2008 zur Kenntnis nimmt. Denn dort stellte Frau Dr.Christine Geffers vom Hygieneinstitut der Charité Berlindie aktuellen Daten zu methicillinresistenten Staphylo-kokken, MRSA, in Deutschland vor. Nach den medizi-nisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von Frau Dr.Geffers lag in Deutschland der Anteil der MRSA an allenStaphylokokken in Blutkulturen 2007 bei 16 Prozent nachüber 20 Prozent in den Jahren davor. Eine ähnlich gute,rückläufige Tendenz ist bei postoperativen Wundabstri-chen festzustellen: Hier lag die Quote 2007 bei 20,7 Pro-zent, im Jahr zuvor noch bei 21,9 Prozent.Wenn die tatsächlichen Infektionen in Kliniken analy-siert werden, zeigt sich sogar ein noch deutlicherer Rück-gang. So lag die Inzidenzdichte für MRSA-Infektionen aufdeutschen Intensivstationen in den Jahren 2006 und 2007bei 0,3 Infektionen pro 1 000 Patiententage. 1997 warenes noch 50 Prozent mehr Fälle. Dass die deutschen Kran-kenhäuser darüber hinaus auch weiter aktiv sind, wirddadurch deutlich, dass mittlerweile 1 116 Kranken-schwestern bzw. Krankenpfleger mit der Zusatzqualifika-tion „Hygienefachkraft“ in den Häusern beschäftigt wer-den und dort eine vorbildliche Arbeit leisten.Sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion DieLinke, nicht wirklich überraschend ist, dass Sie hier wie-der einmal nur einen Antrag eingebracht haben, der nichtwirklich zur Lösung von Herausforderungen im Gesund-heitssystem beitragen wird bzw. nur Ängste und Sorgenbei den Menschen weckt. Denn wenn es Ihnen ernsthaftum die Bekämpfung von Krankenhausinfektionen gegan-gen wäre, hätten Sie, um Sachkenntnis erhalten zu kön-nen, zumindest die öffentliche Anhörung des Gesund-heitsausschusses vom 18. Juni 2008 zu Ihrem Antrag„Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden“,Drucksache 16/8375, nutzen können. Sie haben dies aber– im Gegensatz zur CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die dieSachverständige Frau Dr. Annette Busley vom Medizini-schen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V.und den Sachverständigen Herrn Georg Baum von derDeutschen Krankenhausgesellschaft e. V. befragt hat – un-terlassen. Zur Erinnerung: Frau Dr. Busley antwortetedamals folgendermaßen: „Es gibt sicher keine dramati-sche Zunahme von Infektionen in den deutschen Kranken-häusern.“ Und Herr Baum sagte: „Über eine dramati-sche Zunahme von Krankenhausinfektionen kann ichnicht berichten.“Auf die verschiedenen unterstützenden Aktivitäten derBundesregierung, wie zum Beispiel die „Aktion saubereHände“ oder das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“,möchte ich nicht weiter eingehen, denn Sie haben jadurch die Antworten auf Ihre schriftlichen und Kleinen
Metadaten/Kopzeile:
22224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Hans Georg FaustAnfragen dazu ausreichend Informationen erhalten. Undfalls Sie dies nicht so empfinden sollten, empfehle ichherzlich einen Besuch der Homepage des Bundesministe-riums für Gesundheit.Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind diePatientensicherheit und die Qualität der Versorgung vonPatientinnen und Patienten ein zu hohes Gut, um es durchschnelllebige Anträge beschädigen zu lassen. Daher leh-nen wir diesen Antrag ab.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke fordert
die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Bekämpfung
der Krankenhausinfektionen zu ergreifen. Die Bundesre-
gierung ist sich der Problematik der Krankenhausinfek-
tion sehr bewusst, und aus diesem Grund ist sie in diesem
Bereich schon seit geraumer Zeit aktiv. Wenn ich mir ihre
Forderungen so ansehe, dann kommt mir das Sprichwort
von den Eulen, die nach Athen getragen werden, in den
Sinn. Denn entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung
der Krankenhausinfektion hat die Bundesregierung
längst in Angriff genommen.
Bei anderen Forderungen richten sie den Appell an
den Bund, obwohl dafür die Länder zuständig sind, wie
beispielsweise der Forderung nach Aufstockung und bes-
serer Qualifizierung des Fachpersonals der Gesundheits-
ämter. Auch für den Erlass von Krankenhaushygienever-
ordnungen sind die Länder zuständig. Einige Länder, wie
zum Beispiel Bremen, Sachsen und Berlin, haben bereits
solche Verordnungen. Ich erwarte, dass andere Länder
dem Beispiel folgen und nicht versuchen, ihre Verantwor-
tung an andere abzuschieben, wie kürzlich die nieder-
sächsische Gesundheitsministerin Ross-Luttmann mit ih-
ren unpassenden Forderungen an den G-BA.
Ebenfalls kein Geheimnis ist, dass das Bundesministe-
rium für Gesundheit derzeit einen Entwurf zur Erweite-
rung der Meldepflicht von MRSA in enger Abstimmung
mit den Ländern, Verbänden und Experten erarbeitet. Es
ist davon auszugehen, dass bereits im Sommer eine ent-
sprechende Regelung in Kraft treten kann. Sie sehen,
auch hier hat man den Handlungsbedarf längst erkannt,
und entsprechende Maßnahmen sind ergriffen worden.
Der Kampf gegen Krankenhausinfektionen muss an
mehreren Stellen und mit verschiedenen Mitteln geführt
werden. Neben gesetzlichen Bestimmungen spielen Kam-
pagnen und Programme für eine Verbesserung der Kran-
kenhaushygiene eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür
ist die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte
„Aktion Saubere Hände“. Die sorgfältige Handdesinfek-
tion ist die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung der
Übertragung von Infektionserregern; darin sind sich alle
Experten einig. Bundesweit nehmen fast 500 Kranken-
häuser an dieser Aktion teil. Ich freue mich über die gute
Resonanz, insbesondere auch darüber, dass sich in mei-
ner Heimatstadt Braunschweig gleich zwei Häuser betei-
ligen: das Herzogin Elisabeth Hospital und das Klinikum
Braunschweig, wo die Aktion mit dem bundesweiten Ak-
tionstag am 22. Oktober 2008 gestartet wurde. Das Kli-
nikum hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe einge-
setzt, die eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet
Zu Protokoll
hat. Dazu zählen unter anderem Fortbildungsveranstal-
tungen, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und die Erfas-
sung und Meldung des Desinfektionsmittelverbrauchs auf
allen Stationen. Diese vergleichsweise einfachen, aber
höchst wirksamen Programme zur Handdesinfektion sind
ein wichtiger Baustein zur Eindämmung von Kranken-
hausinfektionen.
Krankenhausinfektionen stellen eine der größten He-
rausforderungen auf dem Gebiet der Patientensicherheit
dar. Die Bundesregierung hat in ihrem Verantwortungs-
bereich die notwendigen Maßnahmen auf den Weg ge-
bracht, sei es über gesetzliche Regelungen oder über die
Förderung entsprechender Programme. Dort, wo weite-
rer Handlungsbedarf besteht wie beispielsweise bei der
Meldepflicht, werden Änderungen vorgenommen. Zu-
gleich sind die Länder gefordert, in ihrem Zuständigkeits-
bereich ihren Beitrag zur Bekämpfung der Krankenhaus-
infektionen zu leisten. Ich bin mir sicher, dass wir dann
bei der Eindämmung der Infektionen einen guten Schritt
vorankommen. Einen weiteren Antrag, der nichts Neues
beinhaltet, brauchen wir hierfür allerdings nicht.
Resistenzen bei Bakterien, also das Unempfindlichwer-
den von Bakterien gegen Substanzen oder Medikamente,
die sie zurückdrängen oder vernichten sollen, sind ein Pro-
blem, das über die Hygienemaßnahmen der Krankenhäu-
ser hinausgeht. Resistenzen können viele Ursachen haben.
Sie entwickeln sich durch zu häufige und nicht indizierte
Verschreibung von Antibiotika, durch das Verfüttern von
Antibiotika an Tiere, deren Fleisch dann wieder von Men-
schen genossen wird, oder durch nicht ausreichende Des-
infektionen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Infektionen mit MRSA – Methicillin-resistenter Sta-
phylococcus aureus – sind ein Problem vorwiegend bei
Patienten und Patientinnen, die langdauernd antibiotisch
behandelt werden mussten. Die im Antrag der Linken for-
mulierte Unterstellung, Krankenhäuser würden aus wirt-
schaftlichen Gründen auf die Verdachtsdiagnose MRSA
verzichten und eine auf MRSA-Infektion gerichtete
Diagnostik unterlassen, ist durch nichts zu belegen.
Die Umsetzung der im Antrag der Linken formulierten
Forderungen würde mit Sicherheit höhere Kosten im System
verursachen. Ob damit jedoch das Problem der multi-
resistenten Problemkeime im Allgemeinen und von MRSA
im Besonderen einer Lösung näher gebracht werden
kann, darüber muss noch einmal grundlegend im Rahmen
der Beratung im Ausschuss diskutiert werden.
Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihre Mutter ins Kran-kenhaus, der ein Herzschrittmacher implantiert werdensoll. Bei der erforderlichen Operation infiziert sie sichmit Krankenhauskeimen. Die Folge: Es entstehen Ent-zündungen an unterschiedlichen Körperstellen, die anden Händen so schlimme Auswirkungen haben, dass ein-zelne Fingern amputiert werden müssen. Sie mögen glau-ben, dies sei ein Horrorszenario. Weit gefehlt. Diese Er-fahrung habe ich selbst gemacht. Wenn ein Patient eingeschwächtes Immunsystem hat, und der Keim besonders
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22225
gegebene Reden
(C)
(D)
Frank Spiethaggressiv ist, breiten sich solche Entzündungen aus undkönnen im schlimmsten Fall zum Tode führen. Gemeinhinnimmt man an, dass man Krankenhausentzündungen mitAntibiotika behandeln kann. Wenn Sie Glück haben, ge-lingt dies. Wenn Sie Pech haben, nicht. Nach Schätzungender Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygienemuss man davon ausgehen, dass in Deutschland jährlichetwa 20 000 bis 50 000 Menschen an Krankenhauskei-men sterben. Zum Vergleich: In Deutschland sterben anBrustkrebs jährlich rund 17 000, im Straßenverkehr5 000, an illegalen Drogen 1 400 und knapp 500 Men-schen an Aids. Auch das ist unakzeptabel, der Vergleichzeigt aber: Krankenhauskeime sind ein gewaltiges Ge-sundheitsrisiko in Deutschland.Jedes Jahr infizieren sich etwa 500 000 bis800 000 Menschen in den deutschen Krankenhäusern,also etwa jeder zwanzigste bis dreißigste Patient. Als be-sonders gefährlicher Keim erweist sich der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus, MRSA. 1992 hat dieserKeim nur 2 Prozent der Krankenhausinfektionen ausge-macht. Bis 2007 hat sich diese Zahl jedoch verdreizehn-facht. Auf Intensivstationen beträgt das Infektionsrisikomittlerweile durchschnittlich 15 Prozent. Die starke Aus-breitung der Keime kommt unter anderem daher, dass dasKrankenhauspersonal unter einem enormen Zeitdrucksteht und die erlernten Hygienemaßnahmen unzurei-chend einhält. Oft geht es um Basishygiene: Der einewäscht sich zu selten die Hände, der andere trägt wo-chenlang denselben Kittel. Die Medizin am Fließbandfordert so ihren Tribut.Besonders tückisch: Immer mehr Erreger sind resis-tent gegen Antibiotika. Die Keime lernen, mit den Anti-biotika umzugehen, und vererben diese Eigenschaft andie nächsten Generationen weiter. Der falsche oder über-triebene Einsatz von Antibiotika fördert die Verbreitungresistenter Keime. Folgt dann noch ein zu lascher Um-gang mit Desinfektionsmitteln und andere Hygienemaß-nahmen im Krankenhaus, verschärft sich das Problemimmer weiter.Die jetzige Bundesregierung und ihre Vorgängerregie-rung packen die Lösung des Problems nicht konsequentan. Es gibt lediglich Programme, an denen Krankenhäu-ser auf freiwilliger Basis mitmachen können. Was wirbrauchen, sind verbindliche Vorschriften, damit demSchlendrian in der Hygiene in den Krankenhäusern einEnde gemacht wird.Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesländerüber Landesrichtlinien größtenteils für die Hygiene inden Krankenhäusern zuständig sind. Gute Beispiele ge-ben Berlin, Sachsen und Bremen ab. Hier wurden ver-pflichtend Hygieneärzte in Krankenhäusern eingeführt.Durch die bundesweite Aufsplitterung von Kompetenzenentsteht aber ein Flickenteppich von Regelungen. Kran-kenhauskeime machen jedoch an den Grenzen der Bun-desländer nicht halt, und so werden gute Ansätze einzel-ner Länder wieder zunichtegemacht.Andere europäische Staaten, zum Beispiel die Nieder-lande, zeigen uns, wie es funktionieren kann. Dort hatman bereits Anfang der 1980er-Jahre mit offensivenMaßnahmen gegen MRSA begonnen. Ergebnis: Bei unsZu Protokollist das MRSA-Risiko bis zu 20-mal höher als dort – mitsteigender Tendenz. Die positiven niederländischen Zah-len sind kein Zufall, sondern Ergebnis eines ganzen Bün-dels von Maßnahmen, die die Politik den dortigen Kran-kenhäusern verordnet hat.Wir fordern, dass auch in Deutschland die Lösung desProblems der Krankenhauskeime wirkungsvoll ange-packt wird. Präventionsmaßnahmen stehen dabei an ers-ter Stelle. Die Ausbreitung von Keimen muss ständig be-obachtet und in ihrer Entstehung verhindert werden.Dazu wären Screenings sinnvoll. Bei den derzeitigen Ver-gütungsmechanismen hätten Krankenhäuser, die konse-quent Screenings durchführen und Maßnahmen gegenKeime ergreifen, jedoch einen Wettbewerbsnachteil. DieFallpauschalen in den Krankenhäusern führen mehr undmehr zur Fließbandmedizin. Hygiene und das Patienten-wohl sind unter diesen Bedingungen leider nur zweitran-gig, weil sie sich betriebswirtschaftlich für das Kranken-haus nicht rechnen. Auch das muss sich schnell ändern.Wir fordern, dass jedes Krankenhaus Hygieneärzteeinstellen muss. Nicht nur in den Krankenhäusern, son-dern auch in den Gesundheitsämtern muss das Personalgeschult und aufgestockt werden, damit die Gesundheits-ämter ihrer Kontrollfunktion auch ernsthaft nachkommenkönnen. Die Bundesregierung muss Einfluss auf die Bun-desländer nehmen, da vieles nur über Landesrecht zu re-geln ist.Die Richtlinie des Robert-Koch-Instituts zum Umgangmit MRSA muss konsequent und verbindlich umgesetztwerden. Für MRSA muss eine Meldepflicht her, damitendlich systematisch gegen diesen Keim vorgegangenwerden kann und damit nicht jedes Krankenhaus auf sichallein gestellt ist. Diese Absicht hat die Bundesregierungauch bereits im Januar 2008 bekundet, und immer nochist nichts passiert. Und schließlich muss man nicht allesneu erfinden: Andere Länder, nicht nur die Niederlande,machen uns erfolgreich vor, wie die gefährlichen Keimezu stoppen sind. Daran sollten wir uns orientieren.Das wird erst einmal Geld kosten; das ist klar. Aber esgeht um die Gesundheit und das Leben von Zehntausen-den Menschen jedes Jahr. Das alleine sollte uns das Geldwert sein. Es ist aber zudem zu erwarten, dass die Prä-ventionsmaßnahmen rentierlich sein werden, da durchdie Vermeidung von Erkrankungen auch viel Geld einge-spart werden kann.Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen imSinne der Patienten.
Der Antrag, über den wir heute diskutieren, greift einwichtiges Thema auf: Krankenhausinfektionen, insbeson-dere solche mit multiresistenten Keimen, können bei denBetroffenen großes Leid verursachen, sie können ihreGesundheit auf Dauer schädigen, und sie können sie imschlimmsten Fall das Leben kosten. Deshalb ist es zu-nächst einmal zu begrüßen, dass sich auch die Politikdarüber Gedanken macht, welchen Beitrag sie dazu leis-ten kann, dieses Leid zu verhindern.
Metadaten/Kopzeile:
22226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Harald TerpeZunächst muss man aber eine Tatsache berücksichtigen:Da wir es hier mit biologisch aktiven und auch wandlungs-fähigen Keimen zu tun haben, werden wir solche Infektio-nen nie umfassend und komplett verhindern können. Es giltaber, die Gefahr so weit zu reduzieren, wie es in unsererMacht steht. Dänemark macht dies in beeindruckenderWeise vor. Hier in der Bundesrepublik besteht hingegennoch Nachholbedarf. Seit 1990 ist beispielsweise die Zahlder MRSA-Infektionen in Kliniken deutlich angestiegen,von 1,7 auf 32 Prozent.Unabhängig von der Frage, ob die von den Linken imvorliegenden Antrag vorgeschlagenen Lösungen die In-fektionsgefahr signifikant verringern können, muss mansich eines Problems bewusst werden: Wir haben es hiermit einer enormen Zersplitterung von Verantwortlichkei-ten zu tun – nicht nur rechtlich, sondern auch in der prak-tischen Umsetzung. Der vorliegende Antrag vermitteltden Eindruck, dass es in der alleinigen Macht des Bundesstehe, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen undso die Infektionsgefahr zu verringern. So wünschenswertdies in diesem Fall vielleicht wäre, weil es die Sache ein-facher machen würde, so wenig stimmt es. Natürlich hatder Bund im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes Mög-lichkeiten, auf die Ausbreitung bestimmter Erreger Ein-fluss zu nehmen. Es bleibt allerdings die Frage, ob Maß-nahmen in diesem Kompetenzbereich – wie beispielsweisedie vorgeschlagene Einführung einer Meldepflicht – wirk-lich ausreichen.Die personelle und materielle Ausstattung der Kranken-häuser, wie beispielsweise auch der Einsatz von Hygiene-fachkräften und -fachärzten, liegt in der Zuständigkeitder Länder und der Krankenhausträger. Die Umsetzungder erforderlichen Schutzmaßnahmen liegt hingegen inder Hand der Krankenhausleitung, die Kontrolle in derVerantwortung des jeweils zuständigen Gesundheitsamtes.Die Ausstattung der Gesundheitsämter, damit sie ihreAufgabe wahrnehmen können, liegt wiederum in der Ver-antwortung der Länder.Dazu kommt: Viele Übertragungswege können – auchdurch gesetzliche Regelungen oder Aktionen wie „SaubereHände“ oder „HAND-KISS“ – nicht beseitigt werden,wenn die einzelnen Akteure nicht mitziehen. Die Einhaltungvon bereits existierenden Hygienevorschriften wie denRichtlinien des Robert-Koch-Institutes zur Prävention vonMRSA oder das verantwortungsvolle Verschreiben vonAntibiotika liegt in der Hand der Ärzte und des Pflege-personals. Eine entsprechende Weiterbildung der Ärzte,dieser Verantwortung auch gerecht zu werden, ist Auf-gabe der ärztlichen Selbstverwaltung.Wir haben es also mit einem mehr oder weniger erfolg-reichen Zusammenwirken vieler Faktoren zu tun. Dies er-kennt man auch an folgender Tatsache: Die Verbreitung vonmultiresistenten Keimen ist nicht nur von Bundesland zuBundesland, sondern teilweise auch von Region zu Regionund von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich.Hier könnte zwar die Einführung einer Meldepflicht denVorteil bringen, das Bewusstsein in einigen Kliniken oderRegionen zu schärfen, gezielter auf die Einhaltung derHygienevorschriften zu achten. Für eine wirkungsvollePrävention aber brauchen wir gezielte Maßnahmen wieZu Protokollbeispielsweise Screeningprogramme, eine konsequenteDesinfektion oder den Einsatz von Hygienefachkräftenund -fachärzten. Berlin, Bremen und Sachsen ebenso wieein Modellprojekt im Raum Münster machen uns vor, wieman dadurch gezielt Krankenhausinfektionen verhindernkann.Eine generelle Änderung der Situation können wir nurherbeiführen, indem wir alle diese Verantwortungsträgereinbeziehen. Ein Alleingang des Bundes ist hier schwermöglich. Der Bund könnte aber Initiator einer konzertiertenAktion der Gesundheitsministerkonferenz werden, damitentsprechende personelle, materielle und organisatorischeRessourcen in Krankenhäusern und Gesundheitsämternrealisiert werden. Langfristig werden dadurch Kosten ge-senkt und vor allem das mögliche Leid vieler Betroffenerverhindert.R
Im Krankenhaus erworbene Infektionen sind einegroße Herausforderung für die Medizin. Jährlich betref-fen diese Infektionen circa 500 000 Menschen, von denen10 000 bis 40 000 daran sterben. Etwa 30 Prozent dieserInfektionen sind vermeidbar. Um diese vermeidbaren In-fektionen erfolgreich zu bekämpfen und Krankenhausin-fektionen und resistente Keime einzudämmen, müssenalle Beteiligten ihre Verantwortung wahrnehmen. Nebender Bundesregierung und ihren Einrichtungen sind diesdie Länder und ihre Behörden, die medizinischen Fach-gesellschaften und Ärztekammern, die Selbstverwaltung,die Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen undnatürlich auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen.Der Bund begegnet der Problematik der Krankenhaus-infektionen und der Resistenzentwicklung konsequent.Das Infektionsschutzgesetz enthält umfangreiche Rege-lungen zur Prävention von Krankenhauskeimen. Notwen-dige Anpassungen dieses Gesetzes werden zeitnah umge-setzt. Derzeit ist der Entwurf einer Rechtsverordnung zurMRSA-Meldepflicht in der Abstimmung mit den Ländern.Darüber hinaus werden auf Bundesebene fachliche Emp-fehlungen und Leitlinien erstellt und durch die Initiierungund Förderung von Projekten wichtige Impulse und An-stöße gegeben.Lassen Sie mich beispielhaft nennen: Mit der Deut-schen Antibiotika-Resistenzstrategie haben BMG undBMELV ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnah-men zur Eindämmung von Antibiotikaresistenzen undKrankenhausinfektionen initiiert und auch die durchfüh-renden Stellen benannt. Bei der Erstellung dieser Strate-gie waren Fachgesellschaften, Verbände und Selbstver-waltung eingebunden. Selbstverständlich wurden auchdie Erfahrungen der Nachbarländer berücksichtigt.Was die Einsetzung von Hygienefachkräften und Ärz-ten für Hygiene in Krankenhäusern betrifft, hat die vomBundesministerium für Gesundheit berufene Kommissionfür Krankenhaushygiene und Infektionsprävention
entsprechende fachliche Empfehlungen ent-
wickelt, wie es ihre im Infektionsschutzgesetz vorgese-hene Aufgabe ist. Diese Empfehlungen mit Leitliniencha-rakter geben den medizinischen Einrichtungen die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22227
gegebene Reden
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitzerforderlichen Hinweise für das korrekte Vorgehen unddienen den Gesundheitsbehörden als Grundlage für ihreÜberwachungs- und Beratungstätigkeiten. Die Länderkönnen hieraus auch verbindliche rechtliche Vorgaben inForm von Krankenhaushygieneverordnungen ableiten,wie es bereits einige getan haben – die Bundesregierungwürde es begrüßen, wenn alle Länder sich dazu entschlie-ßen könnten.Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen,dass die Bundesregierung das Thema Krankenhausinfek-tionen und Antibiotikaresistenzen sehr ernst nimmt. DieBundesregierung hat das Instrumentarium für eine um-fassende Bekämpfung von Krankenhausinfektionen be-reitgestellt. Alle am Gesundheitswesen Beteiligten sindaufgerufen, dieses Instrumentarium verantwortlich zunutzen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11660 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Besitz und Anbau von Cannabis zum Eigen-
gebrauch entkriminalisieren – Glaubwürdige
und am Menschen orientierte Cannabisprä-
vention umsetzen
– Drucksache 16/11762 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kolleginnen und Kollegen Maria Eichhorn,
Dr. Margrit Spielmann, Detlef Parr, Monika Knoche und
Dr. Harald Terpe haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.
Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- undeuropaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge.Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahrenstark zugenommen. Während 1993 16 Prozent der 12- bis25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabishatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweilesind in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend jungeMenschen Cannabiskonsumenten; 220 000 sind stark ab-hängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr alsverfünffacht. Vor diesem Hintergrund lehnen wird denvorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen ab.In diesem wird gefordert, den Besitz von Cannabis zumEigengebrauch von Strafe freizustellen und Cannabis ineinem Modellversuch kontrolliert an Konsumenten abzu-Zu Protokollgeben. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verfolgt nacheigenen Angaben mit dem Antrag das Ziel, den riskantenCannabiskonsum einzuschränken. Aufgabe sollte es jedochsein, den Cannabiskonsum generell zu verringern. Denn esgibt keine ungefährliche Menge an Cannabis. JeglicherKonsum von Cannabis schädigt die Gesundheit. Dies bele-gen Studien namhafter Wissenschaftler aus dem In- undAusland.So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des InstitutUniversitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus,dass Cannabis schädlicher ist, als bisher vermutet. DenProbanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Be-standteils von Cannabis – delta-9-THC – verabreicht. Beieinem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringeDosis schwerwiegende Angststörungen und in weitererFolge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindelund paranoide Angststörungen aus. Dies zeigt also: Nichtnur der Dauerkonsum, sondern bereits der Konsum ge-ringer Mengen von Cannabis ist gesundheitsschädigendund sollte daher vermieden werden. Bei langfristigemKonsum weisen Studien auf eine Reihe akuter Beein-trächtigungen hin. Diese sind vor allem bei chronischemDauerkonsum mit großen gesundheitlichen Risiken bishin zur psychischen Abhängigkeit verbunden.Besorgniserregend ist auch der mittlerweile wissen-schaftlich erbrachte Nachweis, dass Cannabis Einstiegs-droge für den späteren Konsum härterer Drogen ist. Wis-senschaftler der Universität Amsterdam konnten diesdurch eine Studie bestätigen: Jugendliche, die Cannabisrauchen, haben ein sechsfach höheres Risiko, später här-tere Drogen zu konsumieren, als Jugendliche, die keinCannabis nehmen. Daher ist es unverantwortlich, eineStraffreistellung für den Besitz von Cannabis zum Eigen-gebrauch zu fordern, wie Bündnis 90/Die Grünen diestun. Jegliche Bemühungen im Bereich der Präventionwerden ad absurdum geführt, wenn der Besitz erlaubt unddurch das mit dem Antrag geforderte Modellprojekt sogarnoch durch den Staat gefördert wird.Durch das von Bündnis 90/Die Grünen geforderte na-tionale Aktionsprogramm zur Cannabisprävention sollriskantem Cannabisgebrauch entgegengewirkt und sol-len die Therapiemöglichkeiten verstärkt werden. DiesesProgramm ist unglaubwürdig, wenn der Staat selbst dieDroge ausgibt. Dabei hat die Präventionsarbeit der letz-ten Jahre bereits Früchte getragen. Ganz offensichtlichkonnte mehr Jugendlichen vermittelt werden, dass Can-nabis keine Spaßdroge ist, sondern wesentliche gesund-heitliche Risiken nach sich zieht.Die Zahl jugendlicher Cannabiskonsumenten ist nacheiner Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-klärung endlich wieder rückläufig. So sank der Prozentsatzderjenigen 14- bis 17-Jährigen, die in ihrem Leben schoneinmal Cannabis konsumiert haben, von 22 Prozent imJahr 2004 auf heute 13 Prozent. Von einer Trendwendebeim Cannabiskonsum zu sprechen ist dennoch zu früh.Der Anteil der jungen Erwachsenen, die regelmäßig Can-nabis konsumieren, ist nach wie vor hoch. Um den EinstiegJugendlicher in den Drogenkonsum zu verhindern, ist esdaher notwendig, die Präventions- und Beratungsarbeit
Metadaten/Kopzeile:
22228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Maria Eichhornvor allem an Schulen und in Vereinen weiterhin auszu-bauen.Das Hilfesystem ist bisher nicht ausreichend auf dieKonsummuster jugendlicher Cannabiskonsumenten aus-gerichtet. Junge Abhängige können nicht mit den gleichenMethoden behandelt werden wie Alkoholkranke oder Opiat-abhängige, die meist älter sind. Das Beratungs- und The-rapieangebot muss stärker auf die Zielgruppe der jugend-lichen Konsumenten ausgerichtet und die Aufklärungverstärkt werden. Dass der Cannabiskonsum irreparablegesundheitliche Schäden hervorrufen kann, muss in dasBewusstsein der Jugendlichen dringen. Drogenberatungs-stellen und Jugendhilfe müssen hierbei noch intensiverzusammenarbeiten.Ein Modellprojekt, wie von Bündnis 90/Die Grünengefordert, würde mehrere Millionen Euro kosten, und diesfür ein Projekt, dessen Nutzen höchst zweifelhaft und nichterwiesen ist. Stattdessen wird sogar die Schädlichkeit derDroge verharmlost. Das Geld wäre weitaus besser angelegt,wenn es in den Ausbau bestehender, erfolgreich funktio-nierender Präventionsprojekte fließen würde. Hiermitkönnte auch einer weitaus größeren Anzahl von Menschengeholfen werden.Mit uns wird es keine Legalisierung des Cannabiskon-sums geben. Cannabis dient als Einstiegsdroge und führtzu starken gesundheitlichen Schäden. Das wollen wirverhindern.
Herr Jürgen Trittin, Bundesminister a. D., hat übereine Jamaika-Koalition einmal gesagt: „Jamaika solleine schöne Insel sein, aber grüne Inhalte können Sie dain der Tüte rauchen.“ Liest man Ihren Antrag, scheinendie grünen Inhalte tatsächlich nicht mehr wert zu sein alsder Rauch eines Glimmstengels.In Ihrem Antrag stellen Sie Behauptungen auf, dieschlicht und ergreifend falsch sind. Sie sagen, der Ansatz,mithilfe des Strafrechts den Konsum von Cannabis zu ver-hindern, habe nachweislich keinen Erfolg. Wie kommt esdann, dass laut der Jahresberichte der deutschen und eu-ropäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Dro-gensucht sowie der Sonderauswertungen der BZgA von2007 der Cannabiskonsum sinkt? Nur noch 13 Prozentder 14- bis 17-Jährigen haben 2007 zumindest einmalHaschisch oder Marihuana probiert. 2004 waren es noch22 Prozent in dieser Altersgruppe.Ihrer Auffassung nach verhindern die Illegalisierungvon Cannabis und Kriminalisierung der Konsumentenund Konsumentinnen eine glaubwürdige Prävention.Fakt ist, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Projek-ten erfolgreich auf den Weg gebracht worden ist. Nebendem Projekt „FreD – Frühintervention bei erstauffälli-gen Drogenkonsumenten“ sind das „Realize it“, eineKurzintervention bei Cannabismissbrauch, oder auch„Can Stop“ zur Rückfallprävention, um nur einige zunennen. Besonders erfolgreich verlief dabei das Pro-gramm „Quit the shit“ der BZgA. Nach drei Monatenwiesen 30 Prozent der Teilnehmer dieses Programms kei-nen Konsum mehr auf. Und die Personen, die weiter kon-Zu Protokollsumieren, haben ihren Konsum weiter reduziert. DieseTatsachen sprechen für sich. Von einer unzureichendenund unglaubwürdigen Prävention kann hier also nicht dieRede sein.Natürlich darf man sich hier nicht zufrieden zurück-lehnen und es bei dem bereits Getanen belassen. Beson-ders Jugendliche, bei denen ein früher Kontakt mit Can-nabis nachweislich ein erhöhtes Risiko für eineSuchterkrankung im Erwachsenenalter zur Folge hat,müssen vor den Gefahren geschützt und ausreichend auf-geklärt werden. Das Verbot von Spice, einer viel genutz-ten Ausweichdroge für Cannabiskonsumenten, zielt dabeiin die richtige Richtung. Dagegen hätte Ihr Ansatz zurFolge, dass die Hemmschwelle zum Konsum der zuvor il-legalen Droge weiter sinkt. Können Sie es verantworten,vor allem Jugendliche diesem erhöhten Suchtrisiko aus-zusetzen? Ich in meinem Verständnis als Gesundheits-politikerin kann es jedenfalls nicht. Dies entspricht nichtmeinem Verständnis von Prävention.Zudem assoziiert eine Freigabe von Cannabis für denEigengebrauch, dass es sich hierbei um eine harmlose,ungefährliche Droge handelt. Dagegen sollte es aber Zielder Politik sein, endlich mit dem Spaßdrogenklischee vonCannabis aufzuräumen. Keine der neueren Studien hatCannabis eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausge-stellt. Hinzu kommen die hinlänglich bekannten und be-wiesenen Gesundheitsrisiken, die eindeutig gegen eineAufhebung der Strafbarkeit von Cannabis sprechen.Zum letzten Punkt ist außerdem noch zu sagen, dassseit dem sogenannten Cannabisbeschluss des Bundesver-fassungsgerichts vom 9. März 1994 bis zum Besitz einerbestimmten Menge ohnehin von einer Strafverfolgung ab-gesehen wird. Die von Ihnen beschriebene soziale Aus-grenzung durch die angeblich unverhältnismäßige Krimi-nalisierung der Cannabiskonsumenten ist damit hinfällig.Auch Ihre Berufung auf das Selbstbestimmungsrechtkann ich nicht nachvollziehen. Natürlich hat jederMensch ein Recht, dieses wahrzunehmen. Andererseitsbesitzt der Einzelne aber auch ein Recht auf Schutz vorgesundheitsschädigendem Verhalten. Deshalb haben wirin der nahen Vergangenheit ja auch so viel für den Nicht-raucherschutz getan. Die Fürsorgepflicht des Staates undauch Art. 2 des Grundgesetzes, also das Recht jedes Men-schen auf Leben und körperliche Unversehrtheit, stehenhier dem Selbstbestimmungsrecht entgegen. Zudem ist fürmich ohnehin fraglich, ob ein Drogenabhängiger über-haupt noch mündig und selbstbestimmt handeln kann.Besonders interessant finde ich auch Ihren Hinweis,dass die Kosten der Repression höher seien als die Aus-gaben für Präventionsmaßnahmen. Dass Sie sich dabeiauf Schätzungen des Deutschen Hanfverbandes berufen,der zwangsläufig ein hohes Interesse an einer Freigabevon Cannabis hat, ist schlicht und ergreifend absurd. Tat-sache ist, dass über diese komplexen Repressionskostenselbst der Bundesregierung keine genauen Zahlen vorlie-gen.Außerdem stellt sich für mich die Frage, wie Sie sichdie Aufgabe der Prohibition von Cannabis in den völker-rechtlichen Verträgen vorstellen. Nur zur Erinnerung:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22229
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Margrit SpielmannDas Verbot von Cannabis zum Eigengebrauch 1961 und1988 war ja gerade die Folge des zunehmenden Miss-brauchs von Cannabis als Rauschdroge. Mir ist unver-ständlich, warum man hier durch eine Freigabe wiedereinen Schritt zurückgehen soll.Wie so häufig wird auch in Ihrem Antrag Cannabis mitAlkohol und Nikotin verglichen, was wohl eine relativeHarmlosigkeit suggerieren soll. Dazu kann ich abschlie-ßend nur eines sagen: Solange Cannabis nicht als ge-sundheitlich unbedenklich angesehen werden kann, gibtes keine Veranlassung, den bestehenden Gesundheitsrisi-ken durch Tabak und Alkohol durch die Freigabe vonCannabis ein weiteres hinzuzufügen.
Die Diskussion in Deutschland über die Legalisierung
von Cannabis reißt nicht ab. Immer wieder wird die ge-
nerelle Legalisierung von Cannabis gefordert. Auch nicht
neu ist die Forderung der Entkriminalisierung von Can-
nabis bei Eigengebrauch – sprich: insofern der Hanf le-
diglich zum eigenen Gebrauch gezüchtet und hergestellt
wird und auch die im Besitz befindliche Menge für den Ei-
genkonsum bestimmt ist. Diese Forderungen untermau-
ern die in der breiten Öffentlichkeit oft geäußerte Mei-
nung, der Konsum von Cannabis sei doch unbedenklich,
sofern er mit Augenmaß erfolgt.
Diese Auffassung ist schlichtweg falsch. Experten
warnen eindringlich vor dem Cannabiskonsum, da die
Droge immer giftiger wird und der THC-Gehalt im Laufe
der Jahre durch verschiedene Züchtungen der Droge im-
mer höher geworden ist. Dieser hohe THC-Gehalt kann
beispielsweise schnell zu schizophrenen Psychosen füh-
ren.
Studien belegen, dass der Konsum von Cannabispro-
dukten eng mit dem Jugend- bzw. jungen Erwachsenenal-
ter verknüpft ist. Fast jeder Zweite in der Altersgruppe
der 18- bis 20-Jährigen hat Erfahrungen mit Cannabis
gesammelt. Die Zahl derjenigen, die exzessiv Cannabis
konsumieren, steigt stetig. Nach internationalen Diagno-
sestandards weisen 10 bis 15 Prozent aller Konsumenten
einen abhängigen Cannabiskonsum auf. Wir wissen, dass
gerade für Heranwachsende der intensive Konsum von
Cannabis lebenslange Gesundheitsschäden zur Folge ha-
ben kann.
Vor diesem besorgniserregenden Hintergrund lehnen
wir als FDP eine Legalisierung von Cannabis ab. Bei ei-
ner prinzipiellen Aufhebung des Verbotes ergeben sich
praktische und auch juristische Fragen, die schwierig zu
klären sind. Wie soll zum Beispiel in der Praxis der Anbau
für den Eigengebrauch abgegrenzt werden gegenüber
dem kommerziellen und somit illegalen Handel?
Auch das gerne angeführte Argument, Cannabis zu le-
galisieren sei eine logische Konsequenz, weil ja auch der
Konsum von Tabak und Alkohol gesundheitsgefährdend
ist und diese Produkte legal sind, ist nicht stichhaltig. Wir
wissen, dass bei Dauergebrauch die möglichen Gesund-
heitsschäden erheblich sind. Die gesellschaftlichen Fol-
gen sind nicht kalkulierbar. Kinder und Jugendliche sind
in der heutigen Gesellschaft ohnehin zunehmend Gesund-
Zu Protokoll
heitsrisiken ausgesetzt. Diese sollten also möglichst ge-
ring gehalten werden.
Allerdings hält auch die FDP den Weg, den Gelegen-
heitskonsumenten zu entkriminalisieren, für richtig. Für
die Tatsache, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints
ein gesellschaftliches Phänomen ist – was auch, wie ein-
gangs erwähnt, die Zahlen der Studien beweisen –, gilt es,
eine angemessene und verhältnismäßige Lösung zu fin-
den. Dies sollte nicht repressiv mit „aller Staatsmacht“
erfolgen, sondern praktikabel. Dazu gehört unbedingt
eine bundesweit einheitliche Festlegung auf eine gering-
fügige Menge, die straffrei bleibt.
Vor allem in Zeiten, in denen der Cannabiskonsum ge-
rade bei Kindern und Jugendlichen besorgniserregend
ansteigt, ist eine Intensivierung der Aufklärungs- und
Präventionsarbeit dringend nötig. Über die gesundheitli-
chen Gefahren, die entstehen, sobald aus dem gelegent-
lichen Konsum ein Dauerkonsum wird, und darüber,
welche Auswirkungen der Konsum bei Kindern und Ju-
gendlichen hat, muss verstärkt informiert und aufgeklärt
werden. Eine liberale Sucht- und Drogenpolitik setzt aus
diesem Grund stärker auf Prävention als auf Repression.
Das gilt auch für die weiche Droge Cannabis.
Wenn neue Drogen in größerem Maßstab Verbreitungfinden, kommt es immer wieder zu Aufwallungen in derÖffentlichkeit. Rufe nach einem Verbot werden laut. DasBeispiel „Spice“ hat es gerade erst wieder gezeigt. Aberauch für die Konsumenten von Cannabis ist die Zeit derDiskriminierung nicht vorbei. Die Kriminalisierung desAnbaus von Cannabis und die Praxis des Führerschein-entzugs beim Nachweis des Wirkstoffs THC sind nur zweiBeispiele.Natürlich trägt eine realistische und rationale Be-trachtung viel dazu bei, dass ein aufgeklärterer Blick ent-steht. Wenn circa vier Millionen Bundesbürger schon ein-mal Cannabis gebraucht haben, dann weist das auf dieprinzipielle Unmöglichkeit hin, ein drogenfreies Leben zupostulieren und abweichendes Verhalten zu kriminalisie-ren. Zumindest kann das so für das allgemeine Bewusst-sein gesagt werden. Abgesehen von den ernstzunehmen-den Gefährdungen, die individuell im Konsum vonCannabis liegen können, zum Beispiel als Auslöser psy-chischer Krankheitsbilder, sind gerade auch höchstrich-terliche Urteile in Deutschland ergangen, nach denenCannabisgebrauch für medizinische Zwecke nicht mehrals Straftat betrachtet werden kann. Sogar der DeutscheBundestag muss mittlerweile zugestehen – wie sich auf ei-ner Fachanhörung im Gesundheitsausschuss gerade erstzeigte –, dass Cannabis als verschreibungsfähige Arzneizugelassen werden sollte.Längst ist Cannabis keine kulturfremde Droge mehr.Ähnlich wie bei Alkohol und Nikotin ist sein Gebrauch re-lativ üblich. Dennoch existieren hohe Strafrechtsnormen,die in keinem Verhältnis stehen zu Allgemeingefährdungoder Fremdgefährdung respektive Eingriffen in Rechts-güter anderer, die durch den Gebrauch entständen. Essind nichts weiter als Schikanen, die der Gesetzgeber den
Metadaten/Kopzeile:
22230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Monika KnocheCannabiskonsumenten auferlegt, und dazu ist der Bun-destag meiner festen Auffassung nach nicht berechtigt.Darüber hinaus wird das postulierte Präventionszieldurch eine Fokussierung auf das Strafrecht erkennbarnicht erreicht. Höchst zweifelhaft ist darüber hinaus, obes dem Gesetzgeber überhaupt zusteht, ein gegebenen-falls selbstschädigendes Verhalten unter Strafandrohungzügeln zu wollen.All diese hier von mir umrissenen Überlegungen sindalles andere als neu. Seit etwa zehn bis 15 Jahren sind imDeutschen Bundestag die drogenpolitischen Argumenteausgetauscht worden und dennoch ist bislang keine Re-gierung dem Beispiel anderer Staaten gefolgt. Nicht ein-mal der Eigenanbau und der Besitz zum Eigenverbrauchsind aus dem Kriminalitätskatalog gestrichen worden.Das sage ich ausdrücklich zu den Antragstellern. DieGrünen haben während ihrer relativ langen Regierungs-zeit von sieben Jahren nichts, aber auch gar nichts getan,um eine Entkriminalisierung voranzutreiben. Ich war da-mals drogenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundes-tag und kann bezeugen: In der Regierungsverantwortungsind die Grünen kleinbürgerlich, kleinlaut und hasenfü-ßig gewesen. Jetzt in der Opposition ist es für sie wiederattraktiv, sich als dynamische, unangepasste Szene- undKlientelpartei darzustellen. Ich unterstelle ihnen Lauter-keit in ihrem Antragsbegehren und halte nahezu alle For-derungen für richtig. Dennoch möchte ich sagen: Keineihrer früheren Ministerinnen, auch nicht Frau Künast alsVerbraucherministerin, hat eine Initiative ergriffen, umdie Voraussetzungen im Betäubungsmittelgesetz zu schaf-fen und eine Entkriminalisierung durchzusetzen. Wie vielGlaubwürdigkeit soll ich also dieser Initiative heute bei-messen?Ich sehe die Notwendigkeit, dass das völkerrechtlicheVerträgekorsett gelockert wird. In Ihrem Antrag wird die-ser ganz wesentliche Rechtsrahmen benannt. Ohne eineAufhebung des Konzeptes des internationalen „war ondrugs“ kann es keine echten Legalisierungen geben. Dasist in der Sache vollkommen richtig. Zumindest aber sindRegelungen wie in den Niederlanden realisierbar.Für die Linke stelle ich fest: Die Kriminalisierung desDrogenkonsums ist nicht zu rechtfertigen. Präventions-politisch ist die Kriminalisierung ein gescheiterter Weg.Wissenschaftlich belegt ist die medizinische Nutzung undtherapeutische Wirkung von Cannabisprodukten. DasGesundheitsministerium verhindert einen rationalen,aufgeklärten und gesundheitspolitisch sinnvollen Um-gang mit Cannabis. Konsumenten illegaler Drogen wer-den gegenüber Konsumenten legaler Drogen diskrimi-niert. Die Prohibition widerspricht dem Konzeptmündiger Bürger und ihrer Selbstbestimmungsrechte undzeichnet darüber hinaus ein Kriminalitätsbild in der Be-völkerung, das der Realität nicht entspricht. Die völker-rechtliche Ächtung von Cannabis ist ein weltweit geschei-terter Weg und hält die Drogenmafia am Leben.Meiner Auffassung nach ist es allein der politischeWille, der fehlt, um endlich Vernunft in die Drogenfrageneinkehren zu lassen. Deshalb halte ich den vorliegendenAntrag für einen wichtigen Beitrag, parlamentarisch end-lich Mehrheiten zu finden. Für nicht erforderlich aller-Zu Protokolldings halte ich den Vorschlag, ein Modellprojekt aufzule-gen, wie es im Antrag dargestellt wird. Bei derHeroinsubstitution war das der richtige Weg. Beim Kon-sum aus Genussgründen – und dieses Recht hat eine jedeund ein jeder – sehe ich für eine wissenschaftliche Studiekeinen rechten Anlass. Präventionspolitischen Wissens-gewinn kann ich im Moment nicht erkennen. Aber viel-leicht werden wir in den weiteren Beratungen des Antragsmehr dazu hören können.
Es geht hier und heute nicht nur ganz allgemein um dieEntkriminalisierung von Cannabis. Es geht auch darum,ob vor allem Union und SPD endlich bereit sind, dieRealitäten wahrzunehmen. Cannabis ist keine Mode-droge. Cannabis ist längst eine Alltagsdroge wie Alkoholoder Tabak. Es eignet sich nicht, um daran einen ewigwährenden Kulturkampf zu zelebrieren.Cannabis ist Ausdruck für eine verfehlte Drogenpoli-tik, die noch immer vorrangig auf Repression setzt undbei der die Prävention nicht Hauptsache, sondern nurBeiwerk ist. Cannabis ist zu einem Symbol geworden füreine Drogenpolitik, die an einer Ideologie, aber nicht ander Lebensrealität der Menschen orientiert ist. Es ist ander Zeit, die Glaubwürdigkeit und vor allem die Wirksam-keit dieser Drogenpolitik und ihrer Instrumente kritischzu hinterfragen.Die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens gilt inder Rechtsordnung immer als Ultima Ratio: Ein bestimm-tes Verhalten wird von der Gesellschaft als so sozial-schädlich angesehen, dass es nicht nur verboten ist, son-dern dass auch jeder Verstoß durch eine individuelleBestrafung des Handelnden geahndet werden muss. Invielen Fällen macht dies Sinn. Aber auch beim Eigenge-brauch von Cannabis? Der Schutz der Gesellschaft, ins-besondere der Rechtsgüter Dritter, kann ein solches Ver-bot nicht rechtfertigen. Der Eigengebrauch an sichschädigt keine Dritten. Auch die allgemeine Sicherheitwird dadurch nicht gefährdet. Im Gegenteil könnte insbe-sondere die Legalisierung des Eigenanbaus dazu beitra-gen, den Schwarzmarkt auszutrocknen. Man kann dassehr anschaulich an den Erfahrungen der USA nach Auf-hebung der Prohibition beobachten. Zudem wissen wiraus der Suchtforschung, dass der Umstieg von Cannabisauf härtere Drogen nicht durch den Stoff selbst bedingtist, sondern durch den Kontakt mit der Drogenszene aufdem Schwarzmarkt. Auch Gesundheitsgefahren durch mitBlei oder Glas verunreinigten Cannabis – wie er ver-mehrt auch in Deutschland auftaucht – könnte so wirk-sam begegnet werden. Gesamtgesellschaftlich betrachtetwäre eine Legalisierung des Eigenanbaus also eher dazugeeignet, Rechtsgüter zu schützen als diese zu gefährden.Keine Droge ist harmlos. Auch Cannabis kann bei in-tensivem Gebrauch zu einer psychischen Abhängigkeitführen. Bei bestimmten Konsumentinnen und Konsumen-ten besteht auch die Gefahr der Auslösung von Psycho-sen. Zudem führt das Cannabisrauchen zu ähnlichen ge-sundheitlichen Schädigungen wie der Tabakkonsum.Cannabis sollte allerdings auch nicht einfach mit an-deren illegalen Drogen auf eine Stufe gestellt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22231
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
22232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Dr. Harald TerpeDas Suchtpotenzial von Cannabis ist bedeutend geringer,als früher angenommen, und beispielsweise nur halb sohoch wie das von Alkohol. Menschen mit Alkoholproble-men landen 13-mal so häufig in stationärer Therapie wieCannabiskonsumenten. Weltweit starben 2007 rund2,5 Millionen Menschen am Konsum von Alkohol. Undder in den letzten zehn Jahren angeblich dramatisch an-gestiegene THC-Gehalt von Cannabis ist ein Märchen.Er lässt sich weder mit den Zahlen des Bundeskriminal-amtes noch der Europäischen Union belegen. Es gehörtfür mich auch zur Glaubwürdigkeit einer Drogen- undSuchtpolitik, dass man gesetzliche Regelungen an realenGesundheitsgefahren orientiert.Kann aber vielleicht die Strafbarkeit dazu beitragen,dem Täter sein gesundheitsschädliches Verhalten vor Au-gen zu halten und so eine Verhaltensänderung herbeizu-führen? Eine Befragung des Münchner Instituts für The-rapieforschung hat ergeben, dass nur rund 0,4 Prozentder ehemaligen Cannabiskonsumenten ihren Konsum we-gen eines Strafverfahrens aufgegeben haben. Das ist fürdie Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, ehrlich ge-sagt, ein vernichtendes Urteil. Der Staat könnte das Geld,das Polizei und Justiz in die Strafverfolgung investieren,woanders besser einsetzen, zum Beispiel in wirksamePrävention durch Aufklärung über Konsumrisiken oderFrühintervention bei Konsumenten mit riskantem Ge-brauch.Eine solche Prävention ist aber nur bei einer Entkri-minalisierung des Eigengebrauchs möglich – übrigensauch nach Einschätzung der Deutschen Hauptstelle fürSuchtfragen und der Drogen- und Suchtkommission desBundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2002. Derbloße Hinweis auf die Strafbarkeit mit der Forderungnach Abstinenz hat, wie die letzten Jahrzehnte zeigen, bis-lang kaum Wirkung gehabt. Im Gegenteil: Länder miteinem strengen Cannabisverbot haben viel größere Pro-bleme mit anderen, halblegalen Drogen, auf die Jugend-liche gegebenenfalls ausweichen, die aber mitunter vielgrößere Risiken für die Gesundheit bergen. Ich erinnerenur an die jüngsten Erfahrungen mit Spice.Die letzte verbleibende Rechtfertigung, die es alsonoch für ein Verbot geben könnte, wäre, dass dies andereMenschen davor abschreckt, selbst Cannabis zu konsu-mieren. Aber auch dies trifft nicht zu. Die Zahl der Kon-sumenten liegt hierzulande seit Jahren konstant bei 2 bis4 Millionen Menschen. Umgerechnet auf die Gesamtbe-völkerung ist das prozentual mindestens genauso viel wiein den Niederlanden. Und nur 2,8 Prozent der ehemali-gen Cannabiskonsumenten geben an, dass sie aus Angstvor Bestrafung ihren Konsum aufgegeben hätten.Sie sehen also: alle Gründe, die eine Kriminalisierungdes Eigengebrauchs von Cannabis rechtfertigen könnten,laufen ins Leere. Mitunter wirkt das Strafrecht sogar kon-traproduktiv. Wir fordern die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen deshalb auf: Stellen Sie endlich eineglaubwürdige und wirksame Prävention in den Mittel-punkt ihrer Drogenpolitik! Lösen Sie sich von Ihren altenKlischeevorstellungen! Heben Sie die Strafbarkeit des Ei-gengebrauchs von Cannabis auf! Entwickeln Sie ein um-fassendes nationales Aktionsprogramm zur Cannabis-prävention, zur Verbesserung der Therapie und zurSchadensminderung, und setzen Sie sich auch auf inter-nationaler Ebene dafür ein, in diesem Bereich das Prohi-bitionsdogma durch eine rationale Gesundheitspräven-tion zu ersetzen. Ziel einer glaubwürdigen und wirksamenPrävention muss die Verhinderung des frühen Einstiegsin den Cannabiskonsum und die bessere und frühere Er-reichbarkeit von Menschen mit riskanten Konsummus-tern sein, nicht ihre Kriminalisierung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11762 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kürzungen bei künstlicher Befruchtung
zurücknehmen
– Drucksache 16/11663 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Maria Eichhorn, Hubert
Hüppe, Mechthild Rawert, Dr. Konrad Schily, Frank
Spieth, Birgitt Bender, Parlamentarische Staatssekretärin
Marion Caspers-Merk.
Kinderlosigkeit ist nicht nur ein gewolltes Phänomen,
sondern kann für viele Paare bei ungewollter Kinderlo-
sigkeit zu einer wirklichen Belastungsprobe werden. Von
den deutschen Erwachsenen zwischen 25 und 59 Jahren
wollen nur rund 8 Prozent ausdrücklich keine Kinder.
Aber 30 Prozent von ihnen haben keine Kinder. Wunsch
und Realität klaffen also deutlich auseinander.
Wenn der ersehnte Kinderwunsch jahrelang ausbleibt,
ist die künstliche Befruchtung für viele Paare der letzte
Ausweg. Doch die Behandlungen sind nicht nur aufwen-
dig und belastend, sondern sind seit der Einschränkung
der Kostenübernahmeregelung, die mit dem GKV-Mo-
dernisierungsgesetz vorgenommen wurde, eine finan-
zielle Hürde. Die gesetzliche Krankenkasse beteiligt sich
mit 50 Prozent an den Kosten für die ersten drei Versuche
der künstlichen Befruchtung. Die Folge ist, dass viele
Paare auf eine reproduktionsmedizinische Behandlung
verzichten oder diese nach wenigen Versuchen abbre-
chen.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke, die
Einschränkung der Kostenübernahmeregelung zurückzu-
nehmen. Grundsätzlich ist auch aus Sicht der CDU/CSU
eine Vollfinanzierung reproduktiver Maßnahmen durch
die gesetzlichen Krankenkassen positiv.
(C)
(D)
Maria Eichhorn
Die Einschränkung der Kostenübernahme von 2004
war eine bewusste Entscheidung aufgrund der finanziel-
len Situation. Wegen der aktuellen Lage hat diese Be-
gründung weiterhin Bestand.
Es ist auch zu bedenken, ob es sinnvoll ist, dass eine fa-
milienpolitisch als richtig erscheinende Maßnahme aus-
schließlich aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversi-
cherung bezahlt werden soll. Vielmehr ist zu überlegen,
ob sie nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer zu-
sätzlichen Finanzierung durch Steuermittel bedarf.
Diesen Weg geht der Freistaat Sachsen. Ab März die-
ses Jahres bekommen Ehepaare für die zweite und dritte
Behandlung staatliche Zuschüsse von jeweils bis zu 900
Euro. Für die vierte wird eine Pauschale von 1 600 bis
1 800 Euro gezahlt. Das Bundesland stellt dafür jährlich
1,1 Millionen Euro bereit.
Die Bedingungen sind die gleichen wie auf Bundes-
ebene: Die Frau muss zwischen 25 und 40 Jahre alt sein
und der Mann das Alter von 50 Jahren nicht überschritten
haben. Weiterhin müssen sie verheiratet sein.
Die Altersgrenzen halte ich für sinnvoll und richtig;
denn sie orientieren sich an der von der Natur vorgege-
benen Zeitspanne, in der Frauen in der Regel Kinder be-
kommen. Deshalb sollte die Altersbeschränkung nicht,
wie im Antrag der Linken gefordert, zurückgenommen
werden.
Ebenso muss die Vorraussetzung bestehen bleiben,
dass nur Paare, die verheiratet sind, Maßnahmen der
künstlichen Befruchtung in Anspruch nehmen dürfen. Die
verantwortungsvolle Entscheidung, eine Familie zu grün-
den, sollte auf einer stabilen Partnerschaft beruhen. Das
ist eine Voraussetzung für den Aufbau guter Eltern-Kind-
Beziehungen. Die Ehe als ein Versprechen lebenslanger
gegenseitiger Verantwortung kann dem am besten Rech-
nung tragen. Dies bestätigen die Statistiken.
Die Beschränkung auf drei Versuche ist sinnvoll. Denn
viele erfolglose Versuche bedeuten eine körperliche und
seelische Belastung für die Frau. Viele Argumente, die
durchaus bedenkenswert sind, sprechen für eine volle
Kostenübernahme reproduktiver Behandlungen. So kann
vielen Paaren, die ungewollt kinderlos bleiben, mithilfe
von Methoden künstlicher Befruchtung der Kinder-
wunsch doch noch erfüllt werden. Auch wird von Exper-
ten darauf hingewiesen, dass die künstliche Befruchtung
nicht nur die Geburtenstatistik erhöht, sondern auch die
demografische Krise in Deutschland abmildern kann.
Dennoch ist aufgrund der Situation in der gesetzlichen
Krankenversicherung der Vorschlag der vollständigen
Kostenübernahme derzeit nicht umsetzbar. Die Beiträge
sind gerade erst erhöht worden, eine weitere Erhöhung
wäre nicht zumutbar. Deshalb sollten andere Wege der
Finanzierung gesucht werden.
Das GKV-Modernisierungsgesetz hat ab 2004 eine Be-grenzung der Ausgaben für künstliche Befruchtung einge-führt, die von den Grundsätzen der medizinischen Not-wendigkeit und der Erfolgsaussicht geleitet ist. Wie auchZu Protokollin anderen Bereichen wurde eine Beteiligung der Versi-cherten eingeführt.Ein solidarisches Gesundheitssystem – und auch dieöffentliche Hand – kann nicht alles Wünschenswerte odermedizinisch Mögliche unbeschränkt finanzieren. Es mussGrenzen geben, die sich am medizinisch Notwendigenorientieren. Natürlich kann man eine Auseinanderset-zung darüber führen, ob die Grenze bei drei oder vier Be-handlungszyklen festzulegen ist, ob und wie hoch eineSelbstbeteiligung zu sein hat, ob man eine ausreichendeErfolgswahrscheinlichkeit bei einem maximalen Lebens-alter von 40 oder 45 Jahren ansiedelt.Das Deutsche IVF-Register veröffentlicht Daten ab1982, es deckt also mittlerweile einen Zeitraum von25 Jahren ab. Betrachtet man die Daten des DeutschenIVF-Registers, so stellt man fest: Im Jahre 2007, demjüngsten erfassten Jahr, wurde mit 64 578 Zyklen diedritthöchste Zahl an IVF-Behandlungen seit Anbeginndes IVF-Registers registiert. Das Jahr 2007 wird hin-sichtlich der Zahl durchgeführter künstlicher Befruchtun-gen nur von den beiden Rekordjahren 2002 und 2003übertroffen. Zehn Jahre zuvor, 1997, zähte das DeutscheIVF-Register noch 30 676 Zyklen; das ist weniger als dieHälfte der für 2007 erfassten Zyklen. Der geburten-stärkste Jahrgang mit fast 1,4 Millionen Geburten war1964. Wer 1964 geboren ist, war 1997 33 Jahre alt, ge-hörte also zu der Altersgruppe, die potenziell Kinder be-kommt. Der Jahrgang 1974 verzeichnete nur noch etwasüber 800 000 Geburten. Wer 1974 geboren ist, war dannim Jahre 2007 33 Jahre alt und gehörte zu der Alters-gruppe, die potenziell Kinder bekommt. Natürlich be-rücksichtigt dieses Beispiel keine Faktoren wie Ab- undZuwanderungen, doch es zeigt die Tendenz.Obwohl also die Zahl potenzieller junger Eltern in denzehn Jahren zwischen 1997 und 2007 stark zurückgegan-gen ist, hat sich die Zahl der IVF-Behandlungszyklen imgleichen Zeitraum von 30 676 auf 64 578 mehr als ver-doppelt, so jedenfalls die Zahlen des Deutschen IVF-Re-gisters.Und obwohl die seit 2004 geltenden Regelungen derFinanzierung künstlicher Befruchtungen innerhalb dergesetzlichen Krankenversicherung seither nicht geändertwurden, verzeichnet das Deutsche IVF-Register seit 2005wieder eine Zunahme: Gegenüber 56 232 Behandlungs-zyklen 2005 verzeichnet das Deutsche IVF-Register für2006 bereits 59 295 und für 2007 64 578. Gleichzeitigentnehmen wir dem Deutschen IVF-Register, dass dasmittlere Alter der Frauen zwischen 1997 und 2007 von32,6 Jahren auf 34,6 Jahre angestiegen ist.Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassenhat gemäß § 27 a SGB V Richtlinien über die künstlicheBefruchtung beschlossen. Danach dürfen Maßnahmenzur künstlichen Befruchtung nur durchgeführt werden,wenn hinreichende Erfolgsaussicht besteht, dass durchdie Behandlungsmethode eine Schwangerschaft herbei-geführt wird. Eine hinreichende Erfolgsaussicht bestehtnach diesen Richtlinien in der Regel dann nicht, wenn dieIVF-Behandlung bis zu viermal vollständig durchgeführtwurde, ohne dass eine Schwangerschaft eingetreten ist.Wenn der Bundesausschuss jedenfalls nach dem vierten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22233
gegebene Reden
(C)
(D)
Hubert HüppeVersuch keine hinreichende Erfolgsaussicht mehr sieht,war die Begrenzung des Leistungsanspruchs auf drei Ver-suche vertretbar.Ähnlich hat der Bundesausschuss der Ärzte und Kran-kenkassen zur Altersgrenze niedergelegt:Da das Alter der Frau im Rahmen der Sterilitätsbe-handlung einen limitierenden Faktor darstellt, sol-len Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung beiFrauen, die das 40. Lebensjahr vollendet haben,nicht durchgeführt werden. Ausnahmen sind nur beiFrauen zulässig, die das 45. Lebensjahr noch nichtvollendet haben und sofern die Krankenkasse nachgutachterlicher Beurteilung der Erfolgsaussichteneine Genehmigung erteilt hat.Da bereits nach dem 30. Lebensjahr das Optimum dernatürlichen Empfängnisfähigkeit überschritten ist, undweil die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft nachdem 40. Lebensjahr sehr gering ist, war es vertretbar,dass zulasten der Solidargemeinschaft IVF-Behandlun-gen nur bis zu einem Maximalalter der Frau von 40 Jah-ren finanziert werden.Das Mindestalter von 25 Jahren betrifft allenfalls sehrwenige unfruchtbare Ehepaare. Das Mindestalter trägtdazu bei, dass die Chancen einer natürlichen Schwanger-schaft ausgeschöpft werden und es nicht vorschnell zu ei-ner Medikalisierung des Kinderwunsches kommt.Die gegenwärtige Regelung verkennt nicht die Hoff-nungen und Wünsche vieler Paare mit unerfülltem Kin-derwunsch. Die Solidargemeinschaft unterstützt drei Ver-suche, mithilfe von IVF-Maßnahmen Eltern eines Kindeszu werden. Für die Leistungsansprüche gelten Vorausset-zungen und Grenzen, die angesichts des Kostendrucks imGesundheitswesen und der Belastbarkeit der Beitrags-zahler vertretbar sind.
Was will die Linke? In ihrem letzten Antrag vom ver-gangenen Jahr hat sie sich gegen die Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichtes von 2007 und die gesetzlichenÄnderungen im Rahmen des GKV-Modernisierungs-gesetzes von 2004 ausgesprochen und eine Ausweitungder Eigenmittel bei künstlichen Befruchtungen auf nichtverheiratete Paare gefordert. Unter Bezugnahme auf ei-nen von den CDU-geführten Ländern Saarland, Sachsenund Thüringen in den Bundesrat eingebrachten und vonder Länderkammer dann beschlossenen Antrag revidiertdie Linke ihren Antrag von 2008 und will die Hilfen beikünstlichen Befruchtungen nun doch auch weiterhin aufverheiratete Paare beschränkt lassen. Eine Gleichbehand-lung sieht anders aus. Aber das verstehe, wer will.Obgleich bereits im Kontext des Antrags von 2008 aus-giebig diskutiert, bleibt die Linke dabei, dass es sich beieiner künstlichen Befruchtung ausschließlich um einegesundheitspolitische und nicht auch um eine familien-politische Leistung handelt. Unbestritten ist, dass dieGebär- und Zeugungsfähigkeit mit zunehmendem Alterabnimmt. Als Sozialdemokratin möchte ich Frauen undMänner ermutigen, bereits in jungen Jahren ihren Kinder-wunsch zu erfüllen. Ja, ich gehe sogar noch weiter: WirZu Protokollmüssen sie nicht nur ermutigen, wir müssen auch dieRahmenbedingungen schaffen, damit vor allem jungeFrauen während ihrer Ausbildung, ihres Studiums undauch später im Berufsleben nicht in ein Entweder-Kind-oder-Karriere-Dilemma kommen.„Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ – so die dochrichtige Aussage aus dem Bundesfamilienministerium.Ich teile diese Einschätzung und frage mich, weshalb dieLinke diesen Zusammenhang noch nicht verstanden hat.Warum fordert sie keine Ausweitung der künstlichen Be-fruchtung auf alle hetero- und homosexuellen Lebensfor-men und damit die familienpolitische Gleichstellung vonRegenbogenfamilien und anderen Familien? Warum for-dert die Linke nicht, dass Frau von der Leyen getreu ih-rem Leitspruch „Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ un-verzüglich Mittel aus dem Etat ihres Ministeriums fürungewollt kinderlose Paare zur Verfügung stellen muss?Für mich als Sozialdemokratin ist nicht nachvollziehbar,weshalb Frau Bundesministerin von der Leyen nicht auchdie entsprechenden Konsequenzen für eine solche Zu-kunftspolitik zieht und ihrer gesamtgesellschaftlichenVerantwortung für die kommenden Generationen nach-kommt.Ich wiederhole es gerne – vergleiche meine Plenarredezur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes zurÄnderung des Fünften Sozialgesetzbuches am 7. März2008; ich habe damals gesagt –: „Wer Vorschläge zurAusweitung der künstlichen Befruchtung macht, mussauch sagen, wie diese aus familienpolitischer Sicht sicher-lich wünschenswerte Forderung im SBG V, dem Rege-lungsbereich der gesetzlichen Krankenkassen – GKV –,finanziert wird.“ Eine Antwort gibt die Linke nun in ihremAntrag: „Um die vollständige Kostenübernahme für Maß-nahmen der künstlichen Befruchtung zu gewährleisten,wird der Bundeszuschuss an die gesetzliche Kranken-kasse, GKV, entsprechend erhöht“. Was aber bedeutetdiese Forderung angesichts der auch den Linken bekanntenTatsache, dass die vorgesehene Erhöhung des steuer-finanzierten Bundeszuschusses in der gesetzlichen Kran-kenkasse zur Stabilisierung des Leistungskatalogs derGKV gedacht ist? Ich sage Ihnen, was aus der Forderungder Linken unweigerlich folgt: Die Linke will Steuererhö-hungen.Doch zurück zur künstlichen Befruchtung selbst. Seitdem 1. Januar 2004 haben Versicherte bei ungewollterKinderlosigkeit folgende Leistungsansprüche bis hin zurkünstlichen Befruchtung an ihre gesetzlichen Kranken-kassen. Alle Mitglieder der GKV haben – unter anderemaufgrund des § 27 SGB V – bei ungewollter Kinderlosig-keit einen Leistungsanspruch auf Krankenbehandlung.Die Kosten für die Diagnostik der ungewollten Kinder-losigkeit werden grundsätzlich übernommen. Gleiches giltauch für medizinische Maßnahmen zur Herstellung derZeugungs- oder Empfängnisfähigkeit beispielsweise durchchirurgische Eingriffe, die Verordnung von Medikamentenoder auch durch eine psychotherapeutische Behandlung.Diese Maßnahmen haben grundsätzlich Vorrang vor derkünstlichen Befruchtung durch zum Beispiel intrauterineInsemination, IUI, durch die In-vitro-Fertilisation, IVF,und/oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI.
Metadaten/Kopzeile:
22234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Mechthild RawertWenn diese Maßnahmen nicht greifen, übernimmt diezuständige Krankenkasse auf der Grundlage des von ihrim Vorfeld zu bewilligenden Behandlungsplanes 50 Pro-zent der Behandlungskosten und Medikamente für bis zudrei Versuche. Die übrigen 50 Prozent sind als Eigen-anteil zu erbringen. Die Leistungen gelten für Ehepaare;Frauen dürfen zwischen 25 und 40 Jahre alt, Männermüssen unter 50 Jahre alt sein.Zur vollen Wahrheit gehört, dass die Einfügung des§ 27 a SGB V im Jahr 1990 als Nachtrag zur Gesund-heitsreform von 1988 erfolgte. Schon damals war grund-sätzlich strittig, ob die künstliche Befruchtung überhauptin den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werdensoll. Denn die Verfolgung familienpolitischer Zielsetzungist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen. Kinder-losigkeit gilt nicht als Krankheit. Die künstliche Befruch-tung selbst gilt folglich nicht als Behandlung einerKrankheit. Damit sie dennoch in den Leistungskatalogder GKV aufgenommen werden konnte, wurde sie den fürKrankheiten geltenden Regelungen des SGB V quasi unter-stellt. Die Leistungen bezüglich künstlicher Befruchtun-gen sind weiterhin versicherungsfremde Leistungen dessolidarischen Gesundheitssystems. Ja, ich verhehle auchnicht, dass die 2004 erfolgte Einschränkung der Anzahlvon Versuchen sowie die Beschränkung auf Ehepaareeine Kostenbegrenzung zur Folge hatte. Gesprochen wirdvon einer Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen umrund 100 Millionen Euro im Jahr.Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklunghat eine volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht. Wennder Staat die Kosten für eine künstliche Befruchtung zu100 Prozent übernähme – etwa 18 000 Euro pro Wunsch-kind –, würde er nach einer Studie des Instituts sogar dasVierfache – etwa 79 000 Euro pro Wunschkind – wiederzurückbekommen. Die Rechnung beruht darauf, dass ausKindern später einmal auch Steuer- und Beitragszahlerwerden.Aus familien- bzw. bevölkerungspolitischer Sicht be-grüße ich das Vorhaben des Landes Sachsen, Frauen undMännern bei künstlichen Befruchtungen über die Möglich-keiten der gesetzlichen Krankenkassen hinaus finanziellzu helfen. Es stimmt: Die demografische Entwicklung un-serer Gesellschaft und die geringe Geburtenrate lasseneine volle Kostenübernahme bei Hilfen zur künstlichenBefruchtung durchaus erstrebenswert erscheinen.Doch auch in anderen europäischen Ländern gibt es beiden gesetzlichen Vorgaben zu künstlichen Befruchtungeneingeschränkte Leistungsansprüche, beispielsweise inGroßbritannien. In den meisten Ländern werden Behand-lungen und Arzneimittel nur teilweise und nur für einebeschränkte Anzahl von Zyklen erstattet.Was aber macht Sachsen genau? Sachsen wird für diezweite und dritte Behandlung einer künstlichen Befruchtungstaatliche Zuschüsse an die hoffungsfrohen Eltern in Höhevon jeweils 900 Euro auszahlen, für die vierte Behandlungwird eine Pauschale von 1 600 bis 1 800 Euro gewährt. DieEltern mit Kinderwunsch müssen die notwendigen Eigen-mittel der ersten Behandlung auch in Sachsen selberfinanzieren, und von einer fünften oder auch sechstenBehandlung ist auch hier nicht die Rede. Ab März 2009Zu Protokollund in 2010 sollen hierfür im Ministerium für Familie,Soziales und Gesundheit von CDU-Ministerin ChristineClauß Haushaltsmittel – je nach Pressemeldung – inHöhe von jährlich 500 000 oder sogar von 1,1 MillionenEuro eingestellt sein. Partizipieren können von diesemProgramm auch hier nur verheiratete Paare; die Fraudarf nicht älter als 40 Jahre und der Mann nicht älter als50 Jahre alt sein. Und noch eines ist von besonderer Be-deutung: Die Paare müssen seit mindestens einem Jahrihren Wohnsitz in Sachsen haben und sich auch hier be-handeln lassen. Wie lange die Paare auch noch im An-schluss in Sachsen wohnen müssen, ist mir nicht bekannt.Wer die Regelungen zu den Leistungen bei der künstli-chen Befruchtung heute als „Soziale Selektion“ – ChristineClauß – bezeichnet, vergreift sich nicht nur in der Wort-wahl. Er verkennt auch, dass für eine Beschränkung derVersuchszahl und die Einführung einer Altersgrenze eineReihe wissenschaftlicher Erkenntnisse sprechen. So werdendie Erfolgsaussichten der künstlichen Befruchtung nachdem dritten Versuch und mit zunehmendem Lebensalterder Frau immer geringer. Tatsächlich kommt es auch nurbei 18 von 100 behandelten Frauen zur Geburt des er-hofften Wunschkindes.Auch aus der FDP in NRW wird die Forderung laut nachvoller Kostenübernahme für die künstliche Befruchtungdurch die Krankenkassen. Es sei – ich zitiere –: „inhumanund in Zeiten des demografischen Wandels auch töricht,dass hier finanzielle Hürden aufgebaut worden sind“.Kritisiert wird die Begrenzung auf drei Befruchtungs-versuche. Allerdings sei die Voraussetzung, dass es sichum verheiratete Paare handeln müsse, zu überdenken.Willkürlich sei die Altersbegrenzung bei den Müttern auf40 Jahre und 50 Jahre bei den Vätern. Kann man hierwirklich von Willkür sprechen? Ich finde, ethische Zweifelsind durchaus berechtigt, wenn ich an den aktuellen Fallder 60-jährigen Kanadierin denke, die Zwillinge bekom-men hat.Aus der in politischer Verantwortung der Linksparteigeführten Senatsverwaltung Gesundheit, Umwelt undVerbraucherschutz ist zu vernehmen, dass es in Berlinauch weiterhin keine finanzielle Unterstützung für Ehe-paare geben wird, die sich einer künstlichen Befruchtungunterziehen. Angesichts der Haushaltslage seien Finanz-hilfen aus Ländermitteln nicht möglich. Zu Recht weisenExperten auf einen möglichen Flickenteppich von bundes-länderbezogenen Regelungen oder auch Nichtregelungenhin.Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten istbewusst, dass es für Menschen eine schwere Belastung ist,wenn sie eigene Kinder haben wollen und keine Kinder be-kommen können. Ich nehme die Trauer und die Verzweif-lung ungewollt kinderloser Menschen sehr ernst. Geradedeshalb dürfen wir aber neben den tatsächlichen Erfolgender künstlichen Befruchtung – wie schon erwähnt, bekom-men nur 18 Frauen von 100 tatsächlich ihr „Wunsch-kind“ – nicht verschweigen, dass die körperlichen undseelischen Belastungen bei den verschiedenen Formender künstlichen Befruchtung hoch und dass auch gesund-heitliche Risiken damit verbunden sind. Für viele Paare istdie künstliche Befruchtung der letzte Ausweg. Sie wollen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22235
gegebene Reden
(C)
(D)
Mechthild Rawertund können in der Situation wohl auch gar nicht anders,als eher die Fortschritte der Reproduktionsmedizin zu sehenund weniger die belastende und aufwendige Behandlung.Ich wiederhole: Es ist mir unverständlich, warum dieLinke ihre Forderungen für „Maßnahmen der assistiertenReproduktion“ ausschließlich an die Gesundheits- undeben nicht an die Familienpolitik richtet. Und ich bekräf-tige auch noch einmal: Familienpolitische Ziele, wie es jadie Erhöhung der Geburtenrate in Deutschland ist, sindnicht ausschließliche Aufgaben der gesetzlichen Kran-kenversicherungen. Familienpolitik ist Zukunftspolitik.Selbstverständlich will auch ich keinen bundesländer-spezifischen Flickenteppich. Wir wissen aus anderenPolitikfeldern, wie schädlich das sein kann. Aber diebloße Aussage der Linken, „um die vollständige Kosten-übernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtungzu gewährleisten, wird der Bundeszuschuss an die gesetz-liche Krankenkasse entsprechend erhöht“, reichtfür eine verantwortungsvolle Politik nicht aus.Mein Fazit: Die Linke versucht, ein Thema zu besetzen.Auch ich bin der Meinung, dass im Sinne der ungewolltkinderlosen Menschen die Diskussion fortgeführt werdenmuss. Wer aber die ungewollte Kinderlosigkeit für dieBetroffenen wirklich beheben und nicht nur ein Themabesetzen will, muss ein komplettes familienpolitischesMaßnahmenbündel schnüren und es entsprechend formu-lieren. Das aber erfüllt der Antrag der Linken zu „Kür-zungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ mit-nichten. Stattdessen birgt dieser Antrag der Linken dieGefahr in sich, dass mit den Gefühlen vieler ungewolltkinderloser verheirateter Menschen – ich möchte auchdie ungewollt kinderlosen, unverheirateten Menschen,und zwar die hetero- und homosexuellen, zusätzlich er-wähnen – gespielt wird und dass Hoffnungen gewecktwerden, die über die Solidargemeinschaft der gesetzlichKrankenversicherten nicht abgesichert werden können.Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag daher ab.
In einer über Zwangsabgaben finanzierten Kranken-
versicherung muss an jedem einzelnen Punkt genau über-
legt werden, welche Leistungen hierüber finanziert wer-
den sollen und welche nicht. Das gilt auch für die
künstliche Befruchtung. Vom Grundsatz her handelt es
sich um eine versicherungsfremde Leistung. Insofern ist
der Antrag der Linken konsequent, die Aufstockung der
Kostenübernahme auf 100 Prozent durch einen höheren
Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung
finanzieren zu wollen. Im Hinblick auf die 28,8 Milliarden
Euro, die die GKV zusätzlich über das Konjunkturpaket II
erhält, glaubt man wohl, dass es auf weitere Mehrbelas-
tungen nicht mehr ankommt. Diese Kredite müssen je-
doch irgendwann zurückgezahlt werden. Im weiteren Ge-
setzgebungsprozess muss deshalb über den Vorschlag
noch einmal gründlich diskutiert werden.
2004 strichen SPD, CDU/CSU und Grüne in einerwahren Kürzungsorgie den Leistungskatalog der gesetz-Zu Protokolllichen Krankenversicherung zusammen. Neben Zuzah-lungserhöhungen für Medikamente, Heil- und Hilfsmittelsowie Krankenhausaufenthalte wurde die Praxisgebühreingeführt, Brillen müssen seitdem selbst bezahlt werden,das Sterbegeld wurde abgeschafft und vieles anderesmehr. Diese Koalition des Sozialabbaus beschloss gleich-zeitig, die Krankenkassenbeiträge der Arbeitgeber zusenken – auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer sowie der Rentnerinnen und Rentner, die deshalbheute mehr zahlen.Menschen, die Kinder bekommen wollen, aber auf na-türlichem Wege nicht zeugen können, haben heute immernoch mit den folgeschweren Kürzungen zu tun. Bis 2003wurden die ersten vier Versuche einer künstlichen Be-fruchtung von der Krankenkasse bezahlt. Ab 2004 werdennur noch die ersten drei Versuche gezahlt – und die nur zu50 Prozent übernommen. Das hat die Auswirkung, dassdie Betroffenen pro Versuch etwa 1 750 Euro drauflegenmüssen. Wenn drei Versuche notwendig sind, kostet das5 250 Euro. Jeder weitere Versuch muss selbst gezahltwerden. Bei vier Versuchen kostet die Zeugung desWunschkindes die Betroffenen dann etwa 8 750 Euro.Einige können das zahlen, viele aber nicht. Deshalb istalleine 2004 die Zahl der künstlichen Befruchtungen fasthalbiert worden. Dies sind 45 000 Einzelschicksale, indenen keine künstliche Befruchtung durchgeführt wurde.In meinen Augen ist dies nicht nur skandalös, sondernauch familienfeindlich. Die Entscheidung zu einer künst-lichen Befruchtung darf nicht an einem zu kleinen Geld-beutel scheitern. Denn niemand entscheidet sich mirnichts, dir nichts für eine solche Behandlung. Denn bei ei-ner Befruchtung im Reagenzglas muss zuerst die Frau mitnebenwirkungsreichen Hormonen behandelt werden, da-mit Eizellen heranreifen. Dann müssen der Frau die Ei-zellen entnommen werden, bevor die eigentliche Befruch-tung im Reagenzglas stattfinden kann.Danach hat das Paar eine weitreichende Entschei-dung zu treffen: Wie viele Embryonen sollen in die Gebär-mutter implantiert werden? Es kommt oft vor, dass einEmbryo sich nicht in der Gebärmutter einnistet. Deshalbist es gesetzlich erlaubt, pro Befruchtungsversuch bis zudrei Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen und zu im-plantieren. Je mehr implantiert werden, umso besser ste-hen die Chancen auf eine Schwangerschaft, umso höherist aber auch das Risiko einer Mehrlingsschwanger-schaft.Wenn das Paar über wenig Geld verfügt und lange aufden Versuch hat sparen müssen, dann wird mit höhererWahrscheinlichkeit die Einsetzung von drei Embryonengewählt. Die sich daraus entwickelnde Schwangerschaftist dann mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Drillings-schwangerschaft. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko fürdie Frauen und die sich entwickelnden Kinder. Oft ratendie Ärzte dann zu einer Reduktion, also der Abtötung ei-nes oder zweier Embryonen bzw. Föten. Mir liegt es fern,solche Entscheidungen moralisch zu bewerten. Es istaber absurd, wenn solche existenziellen Entscheidungenabhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellenMitteln getroffen werden müssen.
Metadaten/Kopzeile:
22236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Frank SpiethUnsinnig war auch die neue Festlegung der Alters-grenzen. Frauen unter 25 Jahren haben seither gar kei-nen Anspruch auf Kostenbeteiligung der Kassen undmüssen bei Unfruchtbarkeit erst dieses Alter abwarten.Frauen ab 40 haben auch keinen Anspruch mehr, auchdann nicht, wenn ein Gutachten Erfolgschancen ver-spricht. Die Altersgrenze 50 Jahre für Männer ist ge-nauso unsinnig. Diese starren und willkürlichen Grenzengab es zuvor nicht, und sie sollten nach unserer Auffas-sung auch wieder abgeschafft werden.Das alles wollen wir mit unserem Antrag ändern. Wirwollen, dass die Betroffenen selbstbestimmt den aktuellenStand der medizinischen Möglichkeiten nutzen können.Eine Rückkehr zu der alten Regelung hat auch bereits derBundesrat gefordert. Im Juli 2008 hat der Bundesrat aufAntrag des Saarlandes, von Thüringen und Sachsen be-schlossen, dass die Bundesregierung die Kürzungen zu-rücknehmen und zum alten Rechtszustand zurückkehrensoll.Die Gesundheitsministerin Frau Schmidt hat dieseEntschließung kurz und knapp beiseite gewischt. Von derPresse zu der Bundesratsentscheidung befragt, sagte sienur, die Vollfinanzierung sei eine familienpolitische Auf-gabe und keine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversi-cherung.Wir nehmen sowohl den Bundesrat als auch die Minis-terin beim Wort: Wir fordern, dass die künstliche Befruch-tung wieder voll finanziert werden soll. Die Mehrkostensollen aus Steuermitteln kommen. Dazu soll der Bundes-zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung ent-sprechend erhöht werden. Das ist ein Vorschlag, mit demBundesrat und Ministerin, aber vor allem die Betroffenenleben können. Daher bitte ich auch um die Unterstützungder anderen Fraktionen.
Nachdem wir im März 2008 bereits einen – wenn auchin eine andere Richtung gehenden – Antrag der Linkenberaten haben, liegt uns nun ein neuer, anders gelagerterVorstoß vor. Beim aktuellen Antrag muss ich mich nicht,wie vor etwa zwei Jahren, wundern, warum die sonst üb-liche linke Rhetorik der Abschaffung von Zuzahlungenfehlt. Dafür verwundert es mich heute, dass die Linke nundie von ihr vorgeschlagenen finanziellen Verbesserungenaus dem Beutel der Versichertengelder ausschließlichEhepaaren zugutekommen lassen will. Sind ihr heute dieunverheirateten kinderlosen Paare nicht mehr genausoviel wert? Auf die Einbeziehung von kinderlosen Allein-stehenden sowie Lesben hatte die Linke ja von Anfang anverzichtet. Nun sind Sie aber voll auf der konservativenSchiene gelandet: nur in der Ehe soll es den Anspruch aufeine Finanzierung der künstlichen Befruchtung geben.Die sächsische Linke müsste gegen dieses „antiquierteFamilienbild“ ihrer Bundestagsfraktion konsequenter-weise genauso Sturm laufen, wie sie es gegenüber dersächsischen Landesregierung getan hat, die verheirate-ten Paaren ab März 2009 Zuschüsse für die künstlicheBefruchtung zahlt.Ich kann mich nur wiederholen: Im Rahmen der Ge-sundheitsreform 2003 wurde der heute gültige Kompro-Zu Protokollmiss gefunden, zu dem wir trotz einer eher kritischenSicht auf IVF und ICSI weiterhin stehen. Er war Teil einesGesamtpakets von höheren Eigenbeteiligungen durch Pa-tientinnen und Patienten oder Streichungen; StichwortePraxisgebühr oder Wegfall der Erstattung frei verkäufli-cher Arzneimittel. Diese Regelung zur künstlichen Be-fruchtung wurde im September 2007 vom Bundessozial-gericht bestätigt.Es wurde damals nicht nur eine Eigenbeteiligung von50 Prozent eingeführt, sondern es wurden auch erstmalsAltersgrenzen festgelegt. Mich würden die Gründe inte-ressieren, warum die Linke diese Altersgrenzen wiederabschaffen will. Denn schließlich schützen diese Alters-grenzen zum einen davor, dass junge Frauen zu schnell inunnötige bzw. zum anderen ältere Frauen in erfolgloseBehandlungen mit möglicherweise massiven Nebenwir-kungen getrieben werden.Äußerst kritisch sehe ich, dass die Diskussion über un-gewollte Kinderlosigkeit eine extreme Konzentration aufdie Methoden der künstlichen Befruchtung und hier vonIVF und ICSI erfahren. Es gibt unbestritten Fälle, in de-nen medizinische Befunde vorliegen, die ein solches Vor-gehen notwendig machen. Aber ist dies immer auch derrichtige oder erfolgversprechende Weg? So weist dasDeutsche IVF-Register auch eine nicht unbeträchtlicheZahl von Fällen ohne Befund aus, und laut der aktuellendeutschen ICSI-Follow-up-Studie II werden 20 Prozentderjenigen, die durch ICSI schwanger wurden und eineerneute Schwangerschaft planten, später spontan, dasheißt auf natürlichem Weg schwanger.In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes– Robert-Koch-Institut, Heft 20 – wird auf eine Studieverwiesen, die darstellt, dass ungewollt Kinderlose oftwenig über die Altersabhängigkeit der Fruchtbarkeit wis-sen. Noch erschreckender ist, dass 50 Prozent der an derStudie beteiligten ungewollt Kinderlosen keinen Ge-schlechtsverkehr in den fruchtbaren Tagen hatten. DieSchlussfolgerung lautet, dass vor reproduktionsmedizini-schen Eingriffen eine Sexualanamnese und Sexualaufklä-rung notwendig seien.Gestern konnte man in der Presse – zitiert wurden Re-produktionsmediziner – Schätzungen über den Anteil un-gewollt kinderloser Paare lesen. Die dort verkündeten15 Prozent stehen in krassem Widerspruch zu den Aussa-gen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Dortheißt es, der Anteil ungewollt Kinderloser werde häufigüberschätzt; nach neueren Untersuchungen blieben etwa3 Prozent der Paare dauerhaft kinderlos. Damit das De-mografieproblem zu begründen dürfte sehr schwer fallen.Wir haben es hierbei mit vielfältigen Ursachen zu tun.Statt immer wieder Anträge zur Finanzierung der Re-produktionsmedizin einzubringen, wäre es aus grünerSicht sehr viel sinnvoller, sich im Bundestag in Bezug aufdie technisch assistierte Fortpflanzungsmedizin mit demwissenschaftlichen Erkenntnisstand in Bezug auf die Ge-sundheit von Frauen und Kindern sowie einem Überblicküber Erfolge, Probleme, aber auch alternativen Lösungs-ansätzen auseinanderzusetzen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22237
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
22238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
(C)
(D)
Birgitt BenderIm Gegensatz zur Linken betreiben wir Bündnisgrünenkeine Symbolpolitik, sondern machen Nägel mit Köpfen.Wir Grünen haben vorgeschlagen, dass das Büro fürTechnikfolgenabschätzung einen Bericht zur Fortpflan-zungsmedizin erstellt. Der Forschungsausschuss hat eineTAB-Studie „Fortpflanzungsmedizin – Wissenschaftlich-technische Entwicklungen, Folgen und Rahmenbedin-gungen“, in die auch Vorschläge der SPD eingeflossensind, verabschiedet. Der Bericht wird einen Überblicküber den aktuellen Stand und die Perspektiven der tech-nisch assistierten Reproduktionsmedizin ebenso wie überdie nichttechnischen, alternativen Interventionen, zumBeispiel psychosoziale und psychotherapeutische Bera-tungskonzepte, bei ungewollter Kinderlosigkeit gebenund diese vergleichen. Ein grünes Anliegen dabei ist,dass die gesundheitlichen und psychischen Folgen fürFrauen und Kinder, zum Beispiel Recht des Kindes aufWissen der Abstammung, Mehrlingsschwangerschaften,ebenso wie die sozialwissenschaftliche Forschung überdie Auswirkungen der künstlichen Befruchtung Berück-sichtigung finden.Ich rate der Linken, ständige, sich auch noch wider-sprechende Vorstöße zur Finanzierung der künstlichenBefruchtung zu unterlassen und eine ernsthafte Diskus-sion zu beginnen, wenn der TAB-Bericht vorliegt.M
Der Anspruch von Versicherten der gesetzlichen Kran-
kenversicherung auf Maßnahmen zur künstlichen Be-
fruchtung ist durch das GKV-Modernisierungsgesetz mit
Wirkung vom 1. Januar 2004 zumutbar eingeschränkt
worden. Seitdem werden nur noch drei Versuche zur Her-
beiführung einer Schwangerschaft von den Krankenkas-
sen anteilig statt zuvor vier Versuche vollständig über-
nommen. Zugleich gelten Altersgrenzen zwischen 25 und
40 Lebensjahren für Frauen bzw. 50 Lebensjahren bei
Männern. Grund für die Beschränkung der Versuchszahl
und die Einführung einer oberen Altersgrenze war nicht
zuletzt, dass die Erfolgsaussichten der künstlichen Be-
fruchtung nach dem dritten Versuch und mit zunehmen-
dem Alter immer geringer werden.
Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen be-
trägt nunmehr 50 Prozent, sodass die Versicherten mit ei-
ner Eigenbeteiligung von ebenfalls 50 Prozent an den
Kosten der künstlichen Befruchtung beteiligt werden.
Wie nach früher geltendem Recht übernehmen die
Krankenkassen die anteiligen Kosten einer künstlichen
Befruchtung nur, wenn gewährleistet ist, dass bestimmte
Voraussetzungen erfüllt sind:
Die Maßnahmen müssen nach ärztlicher Feststellung
erforderlich sein. Es muss nach ärztlicher Feststellung
hinreichende Aussicht bestehen, dass durch die Maßnah-
men eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Es werden
grundsätzlich nur bis zu drei Maßnahmen durchgeführt.
Die Kostenübernahme gilt nur für Ehepaare und nur für
Maßnahmen mit Ei- und Samenzellen der Eheleute, also
im sogenannten homologen System.
In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung
rufen, dass die Vorschrift – § 27a SGB V – erst 1990 in
das SGB V eingefügt worden ist. Bei den umfangreichen
Vorarbeiten zu diesem Gesetz ist auch die Frage erörtert
worden, welche Formen der künstlichen Befruchtung in
die Leistungspflicht der Krankenkassen einbezogen wer-
den sollen. Die Beschränkung des Leistungsanspruchs
auf Ehepaare gründet auf der im Grundgesetz veranker-
ten Pflicht zur Förderung der Ehe und Familie. Erst im
Jahr 2007 hat das Bundesverfassungsgericht die Be-
schränkung der Leistung auf Ehegatten für verfassungs-
mäßig erklärt.
Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist im breiten
Konsens vom Deutschen Bundestag verabschiedet wor-
den. Die Notwendigkeit einer umfassenden Gesundheits-
reform hat es erforderlich und möglich gemacht, auch
über eigene persönliche und parteipolitische Ansichten
hinweg Themenkomplexe anzugehen, die anderenfalls
möglicherweise nicht zur Disposition gestanden hätten.
Die Anspruchseinschränkung wurde seinerzeit für erfor-
derlich gehalten, um die Ausgaben der GKV im Bereich
der versicherungsfremden Leistungen nicht ausufern zu
lassen.
Die Gründe, die im Jahr 2003 zu Einschränkungen des
Anspruchs führten, sind im Jahre 2009 nicht weniger ge-
wichtig. Auch wenn eine Ausweitung des Anspruchs auf
künstliche Befruchtung manchem als familienpolitisch
sinnvoll erscheinen mag, ist doch eines klar: Die Verfol-
gung familienpolitischer Zielsetzungen ist nicht Aufgabe
der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer also eine
volle Kostenübernahme für diese Leistung fordert, muss
auch einen Finanzierungsvorschlag machen. Und der
kann sich nicht darauf beschränken, mit dem Finger auf
die Krankenkassen zu weisen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11663 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sindauch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Trittin, Kerstin Müller , Winfried Nacht-wei, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKontraproduktive US-Operationen in Pakis-tan sofort einstellen – Umfassende Strategiezur Stabilisierung Pakistans entwickeln– Drucksachen 16/10333, 16/11251 –Berichterstattung:Abgeordnete Holger HaibachGert Weisskirchen
Dr. Werner HoyerWolfgang GehrckeMarieluise Beck
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Redenzu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22239
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtReden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger Hai-bach, Johannes Pflug, Elke Hoff, Wolfgang Gehrcke undKerstin Müller.1)Damit kommen wir zur Abstimmung. Der AuswärtigeAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/11251, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10333 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegen-stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-men.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 25:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeHöfken, Priska Hinz , Jerzy Montag,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBiopatentrecht verbessern – Patentierung vonPflanzen, Tieren und biologischen Züchtungs-verfahren verhindern– Drucksache 16/11604 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungFederführung strittigFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihreReden zu Protokoll gegeben: Dr. Günter Krings,Dr. Matthias Miersch, Dr. Christel Happach-Kasan,Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken.
„Biopatentrecht verbessern – Patentierung von Pflanzen,
Tieren und biologischen Züchtungsverfahren verhindern“
lautet der Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen. So sehr erstrebenswert das Ansinnen ist, die
Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen
Züchtungsverfahren zu verhindern, so sehr muss man sich
aber auch die Frage stellen, ob dafür wirklich das Bio-
patentrecht verändert werden muss oder ob die heutigen
Bestimmungen nicht doch ausreichend sind.
Vor gut vier Jahren standen wir schon einmal an dieser
Stelle und haben über das gleiche Thema diskutiert. Damals
ging es um die Umsetzung der Biopatentrichtlinie in natio-
nales Recht. Die Unionsfraktion, obwohl damals in der Op-
position, hat sich konstruktiv an den Gesetzesberatungen
beteiligt und letztlich auch dem ausgehandelten Kompro-
miss zugestimmt. Die Reichweite des Patentschutzes wurde
seinerzeit nicht etwa wegen des Engagements des grünen
Koalitionspartners eingegrenzt, sondern auf Initiative von
CDU und CSU. Dies geschah durch die Einschränkung des
Stoffschutzes, sodass der Schutzumfang des Patents nach
1) Anlage 7
der nun geltenden Bestimmung nur die konkrete Verwen-
dung umfasst, aber nicht absolut gilt.
Die damals von der rot-grünen Bundesregierung vorge-
schlagene Regelung hätte die Bestimmung der Reichweite
des Patentschutzes in die Hände der Gerichte gelegt. In
diesem sensiblen Bereich ist allerdings der Gesetzgeber
gefordert. Er kann derart fundamentale Entscheidungen
nicht an die Gerichte delegieren, sondern muss selbst
Position beziehen. Wenn wir der rot-grünen Bundesregie-
rung gefolgt wären, hätte dies zu Rechtsunsicherheit ge-
führt. Das konnte durch die Unionsfraktion verhindert
werden.
Was allerdings schon etwas merkwürdig anmutet, ist,
warum es nun der Oppositionsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen nicht schnell genug gehen kann mit einer
Überprüfung der rechtlichen Situation bei biotechnologi-
schen Erfindungen. Als sie noch in Regierungsverantwor-
tung standen, haben sie da etwas mehr Muße an den Tag
gelegt. Mitte 1998 ist die Richtlinie in Kraft getreten und
hätte bis Mitte 2000 von Deutschland umgesetzt werden
müssen. Erst Anfang 2005 haben sie es geschafft, die
Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht im Bundes-
gesetzblatt zu veröffentlichen. Eben noch auf dem Stand-
streifen und jetzt schon auf der Überholspur, das ist wenig
glaubwürdig.
Ich kann auch nicht erkennen, welcher besondere Anlass
nun in der konkreten Patenterteilungspraxis eingetreten
sein soll, der es rechtfertigen könnte, auf Ebene der Bundes-
regierung im europäischen Rechtsrahmen aktiv werden zu
müssen. Sie liefern nämlich selbst ein sehr gutes Beispiel
dafür, dass die Selbstreinigungskräfte des Europäischen
Patentübereinkommens sehr gut funktionieren.
Der US-Forscher James Thomson brachte in Zusam-
menarbeit mit der amerikanischen Universitätsstiftung
Wisconsin Alumni Research Foundation eine Patent-
anmeldung beim Europäischen Patentamt in München
ein. Gegenstand des Patentantrags war die künstliche
Herstellung von menschlichen embryonalen Stammzellen,
wodurch automatisch Embryonen vernichtet werden. Das
Europäische Patentamt nahm den Patentantrag schon im
Jahr 2004 nicht an, was den Antragsteller allerdings
nicht davon abhielt, in die nächste Instanz zu gehen, um
doch noch an das Patent zu gelangen. Die Sache wurde
an die Große Beschwerdekammer verwiesen, die Ende
letzten Jahres klarstellte: Ein derartiges Patent würde gegen
die öffentliche Ordnung und die guten Sitten verstoßen.
An Deutlichkeit lässt diese Entscheidung nichts zu wün-
schen übrig.
Es ist nicht ersichtlich, warum das Europäische Patent-
amt bei Tieren, Pflanzen und biologischen Züchtungsver-
fahren nicht die gleiche Sorgfalt an den Tag legen sollte
wie bei menschlichen Embryonen. Was im Moment der
Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patent-
amtes zur Entscheidung vorliegt, sind Patente zum Züch-
tungsverfahren von Brokkoli und Tomaten. Hier geht es um
die patentrechtlich entscheidende Abgrenzung: Haben wir
es hier mit einem im Wesentlichen biologischen Verfahren
zu tun – das wäre dann nicht mehr patentfähig –, oder
zeichnen sich die Verfahren durch technische Besonder-
heiten aus, die dann patentierbar wären?
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Man sollte sich die Entscheidung der Großen Be-
schwerdekammer sehr genau anschauen, aber man sollte
sie nicht jetzt vorwegnehmen. Änderungen, die jetzt im
Vorfeld auf europäischer Ebene eingespeist werden, kön-
nen die Entscheidung ohnehin nicht mehr beeinflussen,
zumal auch gar nicht klar ist, wo der Hebel für eine Än-
derung im Patentrecht angesetzt werden müsste. Wenn
Lehren aus der Entscheidung der Großen Beschwerde-
kammer des Europäischen Patentamts zu ziehen sind,
dann ergibt es mehr Sinn, zunächst die Entscheidung ab-
zuwarten und sich anschließend, in Kenntnis der Ent-
scheidung, für eine Änderung der Biopatentrichtlinie ein-
zusetzen.
Wenn Sie in Ihrem Antrag als Kronzeugen für den Hand-
lungsbedarf den wissenschaftlichen Beirat beim Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Technologie zitieren, dann
ist das selbstverständlich nur die halbe Wahrheit. Denn in
dem Gutachten „Patentschutz und Innovation“ heißt es
auch:
Die Kriterien für die Erteilung von Patenten sollten
konsequent angewendet und bei Bedarf verschärft
werden. Patente sollten Innovationen unterstützen,
aber nicht Investitionen absichern. Die operative
Umsetzung dieser Aufgabe fällt den Patentämtern
zu, beispielsweise durch Erhöhung der Anforderun-
gen an den erfinderischen Schritt einer Erfindung.
Es ist hier nicht notwendig, den Gesetzgeber zu be-
mühen.
Der Patentierung menschlichen Lebens hat das Euro-
päische Patentamt klar widersprochen. Ich erwarte eine
ebenso klare Entscheidung bei den anhängigen Züch-
tungsverfahren. Zurzeit gibt es daher keinen Handlungs-
bedarf seitens des Gesetzgebers. Dem Bericht ist insofern
nichts hinzuzufügen, zumal er auch gar nicht konkret auf
biotechnologische Erfindungen eingeht und in diesem
Bereich spezielle Probleme erkennen lässt.
Ich plädiere dafür, die Entscheidung der Großen Be-
schwerdekammer des Europäischen Patentamts bezüglich
der biologischen Züchtungsverfahren abzuwarten. Geht
sie nicht nach unseren Vorstellungen aus, dann – in dem
Punkt haben die Grünen recht – gehört diese Debatte in
den Deutschen Bundestag. Wir sprechen heute also über
das richtige Thema zum falschen Zeitpunkt.
Auf drei Bereiche wird es in der Zukunft ganz beson-ders ankommen: auf die Wasserversorgung, auf die Ener-gieversorgung und auf die Versorgung mit Nahrungsmit-teln. Alle drei Bereiche sind für die Menschheitexistenziell. Insoweit ist es verständlich, dass diese Fel-der seit längerer Zeit auch in den Fokus wirtschaftlicherInteressen gerückt sind. Das gewerbliche Schutzrecht istdabei ein Hebel, diesen wirtschaftlichen Interessen ge-recht zu werden.Im Ernährungsbereich hat das Saatgut zentrale Be-deutung. Hier bilden Sortenschutzrecht und Patentrechtdie Rechtsgrundlagen, die – das möchte ich an dieserStelle gleich betonen – nach meiner Auffassung in denvergangenen 20 Jahren stets zugunsten der Wirtschaft er-Zu Protokollweitert wurden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sowurden die Forschungs- und Züchtungsmethoden kosten-intensiver. Mit der Erweiterung der Schutzrechte sollteder Wettbewerb und vor allem auch die mittelständischeZüchtungsindustrie gestärkt werden.Ich will an dieser Stelle nicht die Frage vertiefen, obdie Rechtsänderungen tatsächlich geeignet gewesen sind,die Ziele zu erreichen. Ich möchte auch nicht der Fragenachgehen, ob die Forschung gerade im Bereich derPflanzenwissenschaft in die richtige Richtung geht. Ichmöchte an dieser Stelle vor allem auf das Spannungsfeldzwischen wirtschaftlichen Interessen und Interessen derAllgemeinheit hinweisen. Gerade in den eingangs be-schriebenen Bereichen ist es entscheidend, dass die Inte-ressen der Allgemeinheit gewahrt werden.Mit großer Sorge muss man deshalb die unterschiedli-chen Verfahren vor dem Europäischen Patentamt be-trachten, die sich zum Beispiel mit der Patentierung vonZuchtverfahren normaler, konventioneller Schweineras-sen beschäftigen oder mit der Patentierung von konven-tionellen Pflanzenarten. Bislang konnte davon ausgegan-gen werden, dass bei konventionellen Pflanzenartenlediglich das Sortenschutzrecht und nicht das PatentrechtGültigkeit hat. Dabei muss berücksichtigt werden, dassim Bereich des Sortenschutzes nur eine Pflanzensorte ge-schützt werden kann. Dagegen eröffnet das Patentrechtviel weitergehende Möglichkeiten. Insoweit wird auch diegrüne Gentechnik von Landwirten und Verbrauchern kri-tisch beurteilt, da die gentechnische Veränderung – wennsie eine biotechnologische Erfindung darstellt – paten-tierbar ist und das damit zusammenhängende Patent eineVielzahl von Pflanzensorten und Pflanzenarten betreffenkann.Ich kann Ihnen im Namen der SPD-Fraktion versi-chern, dass auch wir die von Ihnen angesprochenenPunkte sehr kritisch beobachten und die weiteren Bera-tungen nutzen werden, um möglichst eine einheitliche Li-nie mit den anderen Fraktionen des Bundestages zu ent-wickeln. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dassdie Biopatentrichtlinie bei uns nach langen Beratungsab-läufen im Jahr 2005 umgesetzt worden ist und – wie dieGrünen in ihrem Antrag richtig hervorheben – im Rah-men der rechtlichen Möglichkeiten Einschränkungenvorgenommen worden sind. Zu betonen ist auch, dass dieEntscheidung des Europäischen Patentamts zu den em-bryonalen Stammzellen aus dem Jahre 1998 zu begrüßenist und gleichzeitig offenbart, dass jede Novellierungsde-batte auch all die Kräfte wieder auf den Plan rufenkönnte, die für eine Erweiterung der Biopatentierung ein-treten. Auf der anderen Seite kann und darf der Gesetzge-ber nicht schweigen, wenn sich Entwicklungen andeuten,die dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht entspre-chen.Ich meine, dass der Gesetzgeber nicht immer aufhöchstrichterliche Entscheidungen warten sollte, wennsich im Laufe von rechtlichen Auseinandersetzungen an-deutet, dass zumindest Zweifel an der Auslegung zentra-ler Fragen bestehen. Vielmehr ist der Gesetzgeber dannaufgerufen, seiner Aufgabe und Verantwortung gerechtzu werden und für Klarstellungen zu sorgen. Das gilt
Metadaten/Kopzeile:
22240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Matthias Mierschumso mehr, wenn zumindest zweifelhaft ist, ob die Kon-trollmechanismen wirkungsvoll sind und denen einer un-abhängigen richterlichen Kontrolle entsprechen.Mir ist bewusst, dass die Bundesrepublik Deutschlandnur ein Staat des Europäischen Patentübereinkommensist, die Biopatentrichtlinie europäisches Recht darstelltund es deshalb nicht allein auf die Bundesrepublik an-kommt. Das darf jedoch nicht ein Argument dafür sein,eine Entwicklung kommentarlos hinzunehmen, die derzeitbeim Europäischen Patentamt, das seinen Sitz in Mün-chen hat, klar zu beobachten ist. Am 16. Juli 2008 wurdeam Europäischen Patentamt das Patent EP 1651777 aufdie Zucht normaler, konventioneller Schweine erteilt. DasPatent beruht auf der Nutzung von natürlichen Gen-varianten, die in allen Schweinerassen vorkommen. Ent-sprechende Patente können sich auch auf Nachkommenerstrecken und haben somit eine enorme Reichweite. DasPatent reiht sich ein in die Kette weiterer Patentanmel-dungen im Bereich der Tier- und Pflanzenzucht. Es drohtsomit die Gefahr, dass das Patentrecht dazu verwendetwird, globale Abhängigkeiten zu schaffen.Das von mir beschriebene Spannungsfeld zwischenwirtschaftlichen Interessen und den Interessen der Allge-meinheit würde empfindlich gestört werden. Bereits dieanhängigen Verfahren beim Europäischen Patentamt do-kumentieren die offenkundigen Auslegungsspielräume.Sie zeigen, dass zumindest der Wille des nationalen Ge-setzgebers, biologische Verfahren vom Patentrecht aus-zuschließen und Pflanzensorten sowie Tierrassen nichtpatentieren zu können, infrage gestellt wird und es insbe-sondere bei der Abgrenzung zwischen nicht patentierba-ren biologischen Verfahren wie Züchtungen einerseitsund patentierbaren biotechnologischen Erfindungen an-dererseits erhebliche Rechtsunsicherheit gibt. Wir solltennicht warten, bis die letztinstanzlichen Entscheidungendes Europäischen Patentamtes vorliegen, sondern bereitsjetzt klar zum Ausdruck bringen, wo wir eine deutlicheFehlentwicklung sehen. Es geht hier um elementare ethi-sche und rechtliche Grundfragen.Schließlich sollten wir die Beratungen auch nutzen,um institutionelle Fragen der Patentämter zu klären. Sobesteht nach meiner Einschätzung Bedarf, den Aspekt derFinanzierung der Patentämter – gerade auch des Euro-päischen Patentamtes – und die Möglichkeit der richter-lichen Überprüfung letztinstanzlicher Entscheidungennäher anzuschauen.
Die Biopatentrichtlinie hat sich laut Urteil derer, die
sie anwenden, weitgehend bewährt. Vor diesem Hinter-
grund und auch im Rückblick auf die fast zehnjährige
konstruktive Diskussion über die Biopatentrichtlinie und
deren Bestätigung durch den EUGH ist ihre Änderung
zurzeit sachlich nicht geboten. Es gibt keinen unmittelba-
ren Handlungsbedarf.
2002 stellte die Kommission fest: ,,… es ist dem euro-
päischen Gesetzgeber gelungen, eine praktikable Rege-
lung zu schaffen, welche die in der Europäischen Ge-
meinschaft anerkannten ethischen Grundprinzipien
berücksichtigt.“ Die Grünen wollen mit ihrem Antrag die
Zu Protokoll
Wiederaufnahme der polarisierten Diskussion über Bio-
patente erreichen und daraus für sich einen Nutzen zie-
hen. Ihr Handeln richtet sich gegen die Interessen des
Wissenschaftsstandortes Deutschland. Der Bericht der
EU-Kommission 2002 weist aus, dass über 25 Prozent
der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt
aus Deutschland kommen.
Es gibt kein Patent auf Leben, auch wenn mit dieser
griffigen Formel häufig gegen Biopatente emotionalisiert
wird. Es gibt die Möglichkeit, Pflanzen und Tiere unter
bestimmten in der Richtlinie festgelegten Voraussetzun-
gen patentieren zu lassen. Die Krebsmaus ist dafür ein
ganz bekanntes Beispiel, eine Maus, die in der Erfor-
schung neuer Möglichkeiten zur Heilung von Krebs eine
große Bedeutung hat.
Biopatente sind eine besondere Form des Schutzes
geistigen Eigentums für Erfindungen. Es ist völlig unbe-
stritten, dass Autoren das Recht der wirtschaftlichen Ver-
wertung ihrer schriftstellerischen Arbeit haben. Genauso
unbestritten sollte sein, dass Erfinder das Recht haben,
wirtschaftlichen Nutzen aus ihrem Patent zu ziehen. Pa-
tente haben zwei Funktionen: Sie schützen das Recht des
Erfinders auf wirtschaftliche Verwertung. Gleichzeitig
sind sie auch eine Veröffentlichung der Erfindung. Der
Erfinder bezahlt durch die Veröffentlichung seiner Erfin-
dung für deren Schutz. Dieser Schutz ist zeitlich begrenzt.
Jeder weiß, dass das Rezept für Coca-Cola nicht pa-
tentiert und auch nicht öffentlich zugänglich, also geheim
ist. Eine Patentierung hätte zur Veröffentlichung geführt,
und jeder hätte das Rezept nach Ablauf von 20 Jahren
nutzen können. Aber Coca-Cola gibt es seit 1886.
Die Pflicht zur Veröffentlichung zusammen mit dem
Forschungsprivileg ermöglichen den Informationsaus-
tausch über Erfindungen, ohne deren kommerzielle An-
wendung zu gefährden. Das ist eine wesentliche Funktion
von Patenten. Voraussetzung für die Erteilung eines Pa-
tents sind die Kriterien der Neuheit der Erfindung; nur
Erfindungen, nicht aber Entdeckungen werden patentiert.
Die Biopatentrichtlinie bestimmt eindeutig, dass Pflan-
zensorten und Tierrassen nicht patentierbar sind. Verfah-
ren zum Klonen von Menschen sind ebenfalls nicht paten-
tierbar, ebenso wenig totipotente Stammzellen. Gegen die
Erteilung eines Patents kann Einspruch erhoben werden.
Dies ist vielfach erfolgreich geschehen.
Es ist zu beobachten, dass Unternehmen versuchen,
sehr weitreichende Patentansprüche mit dem Patentrecht
durchzusetzen. Es ist verständlich, dass dies zu Unmut
führt. Dennoch ist eine stärkere gesetzliche Vorgabe ab-
zulehnen. Die Vorstellung, dass im Gesetz jede Einzelheit,
die jetzt von Bedeutung ist und die zukünftig von Bedeu-
tung sein wird, festgelegt werden kann, ist absurd. Ge-
richte brauchen Ermessensspielräume für ihre Entschei-
dungen, um mit ihren Urteilen jedem Einzelfall gerecht
werden zu können. Die Alternative wäre ein unüber-
schaubares Gesetz, das niemandem helfen würde.
Was haben Brokkoli, Schweine und Sonnenblumen ge-meinsam? Man kann sie, wenn Mensch will, essen. Und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22241
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Kirsten Tackmannweil Essen existenziell ist, wäre die Kontrolle über das,was wir essen, eine Schlüsselposition. Wer Essen oderden Zugang zu Essen kontrolliert, hat so unglaublicheMacht – bis zur Erpressbarkeit derer, die essen.Was hat das mit dem vorliegenden Antrag der Grünenzu tun? Die wahrscheinlich beste Möglichkeit, mit Nah-rungsmitteln für die Menschheit Geld zu verdienen, ist diePatentierung von Genen. Wer so ein Patent besitzt, kanntheoretisch jedes Mal mitverdienen, wenn Sie in Ihr Bröt-chen beißen. Eigentlich ist das in Europa verboten, abereben nur eigentlich. Das Europäische Patentamt, EPA,umgeht das Verbot regelmäßig, in letzter Zeit immerhäufiger – leider. Wenn ein Erzeugnis, eine Pflanzensorteoder Tierart, nicht patentierbar ist, dann wird das Her-stellungsverfahren oder eine Verwendung des Erzeugnis-ses zum Patent angemeldet. Die negative Wirkung bleibtdie gleiche: Das Schwein in meinem Stall gehört nichtmehr mir.Das EPA nutzt dabei Spielräume in der zu löchrig for-mulierten EU-Biopatentrichtlinie. Herstellungsverfahrenwie zum Beispiel Selektionsverfahren sind so ein Schlupf-loch. Diese Schlupflöcher sind aber kein Zufall, sondernabsichtlich eingebaut. So dürfen beispielsweise keine Pa-tente auf „im Wesentlichen“ biologische Verfahren zurZüchtung von Pflanzen und Tieren erteilt werden. Die bei-den Worte „im Wesentlichen“ sind doch genau deshalb indiesem Satz, damit Ausnahmen möglich sind.Die aktuelle Situation, in welcher multinationale Ag-rar- und Saatgutkonzerne auf die Grundlagen unserer Er-nährung zugreifen können, ist und bleibt schlicht nichthinnehmbar. Bis vor kurzem galt der freie Zugang zu ge-netischen Ressourcen als Grundrecht und Grundvoraus-setzung für die Züchtung. Ja, wir brauchen auch einefreie, uneingeschränkte Arbeit von Forschung und Ent-wicklung. Auch dafür muss das Biopatentrecht wiedervom Kopf auf die Füße gestellt werden, statt die alleinprofitorientierte Ausbeutung und Blockade menschlichenWissens auch noch zu protegieren. Zumindest in Berei-chen des öffentlichen Interesses muss der alleinige oderzu bezahlende Wissenszugriff auf Ausnahmen beschränktoder noch besser unterbunden werden.Für die Linke gilt dabei weiterhin der Grundsatz: KeinPatent auf Leben. Wir wollen weder ein Recht, Gene zupatentieren, noch ein Patentrecht auf eine besondereEigenschaft eines Gens. Gene sind keine Erfindungen,sondern Ergebnis der Evolution. Sie können gesucht, un-tersucht, bewundert und verwendet, aber sie dürfen nichtin privaten Besitz genommen werden. Allenfalls sind sieder Besitz der Völker, mit dem sie im Interesse nachfol-gender Generationen umgehen müssen. Eine Privatisie-rung oder Ausbeutung von gesamtgesellschaftlichen, na-türlichen Ressourcen im alleinigen privaten Interesse istnicht zu akzeptieren.Die Patentierung von Pflanzen, Tieren und deren Ge-nen hat das Potenzial, im Bereich der allgemeinen Le-bensgrundlagen weitreichende Monopole zu schaffen.Profitabel ist der technologische Eingriff, während es imkapitalistischen Wirtschaftssystem für den Erhalt der Ar-tenvielfalt und das kollektive Wissen von Landwirtschaftund Pflanzenzüchtung keine vergleichbaren ökonomi-Zu Protokollschen Anreize gibt, weshalb ihr Schutz oft hinter andereVerwertungsinteressen gestellt wird. Das ist letztlich in-novations- und forschungsfeindlich und muss durch poli-tische Entscheidungen verhindert werden.Die Landwirtschaft muss sich weiterhin auf frei zu-gängliche genetische Ressourcen stützen können. Dafürbrauchen wir gesamtgesellschaftliches Wissen über dieGenome unserer Kulturpflanzen und Nutztierrassen. Pa-tente auf das Wissen über dieses Leben schränken dage-gen den Zugang ein. Das ist mit der Linken nicht zu ma-chen.
Die zahlreichen Streitfälle um Biopatente, die vomEuropäischen Patentamt in den letzten Jahren erteiltwurden, zeigen die eklatanten Mängel der EU-Biopatent-Richtlinie immer deutlicher. Es geht dabei nicht nur umgentechnisch veränderte Pflanzen oder Tiere, sondernaktuell besonders um biologische Züchtungsverfahren.Art. 4 der Biopatent-Richtlinie 98/44/EG besagt inAbs. 1: Nicht patentierbar sind a) Pflanzensorten undTierrassen, b) im Wesentlichen biologische Verfahren zurZüchtung von Pflanzen oder Tieren.Im Widerspruch dazu besagt Art. 4 Abs. 2s: Erfindun-gen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, könnenpatentiert werden, wenn die Ausführungen der Erfindungtechnisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oderTierrasse beschränkt ist. Und Art. 2 Abs. 2: Ein Verfahrenzur Züchtung von Pflanzen oder Tieren ist im Wesentli-chen biologisch, wenn es vollständig auf natürlichenPhänomenen wie Kreuzung oder Selektion beruht.Das Europäische Patentamt hat in industriefreundli-cher Auslegung dieser widersprüchlichen EU-Richtliniein den letzten Jahren daher Patente auf Tiere und Pflan-zen erteilt. Dies entspricht einer Interpretation der Richt-linie, wonach Orangen nicht patentiert werden können,Südfrüchte aber schon. Bis 2005 wurden in Europa850 Patente auf Pflanzen und Tiere erteilt. Aktuelle Fällebetreffen Brokkoli , Schweine – ur-sprünglich von Monsanto angemeldet, derweil im Besitzdes US-Unternehmens Newsham Choice Genetics – undKühe . Dage-gen laufen zahlreiche Organisationen, UmweltverbändeSaatzuchtunternehmen und Bauernverbände – auch derdeutsche Bauernverband – Sturm. Lediglich das ehren-amtliche Engagement einer kritischen Öffentlichkeitführt so derzeit dazu, dass die Vergabe von Biopatentengelegentlich vom EPA nachträglich eingeschränkt wird,wie kürzlich im Fall der Embryonen. Doch trotz allerProteste zeigt die EU-Kommission keinerlei Bereitschaft,die EU-Biopatent-Richtlinie zu korrigieren. Die Bundes-regierung sieht der katastrophalen Entwicklung tatenloszu. Mit der heutigen Praxis der Patentierung werdenZüchtung und Innovation eingeschränkt und die Land-wirtschaft somit ihrer Produktionsgrundlagen beraubt.Die Abhängigkeit der Landwirtschaft wie auch derkleinen und mittelständischen Züchtungsunternehmensteigt angesichts der hohen Lizenzgebühren und Eigen-tumsrechte der Agro-Konzerne dramatisch. Wenn Pa-tente, wie das auf den Brokkoli, die gesamte Produktions-
Metadaten/Kopzeile:
22242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22243
(C)
(D)
Ulrike Höfkenkette von der normalen Zucht bis hin zum Lebensmittelumfassen, führt das zu einer regelrechten Übernahme derKette der Lebensmittelproduktion durch die Patentinha-ber. Diese versuchen so, den industriellen Mehrwert fürsich zu reklamieren.„Das Patentrecht wird zu einer Krake, die Pflanzenund Tiere als Grundlagen der Welternährung umschlingtund der Kontrolle von Konzernen unterwirft“, sagt derals privatwirtschaftliches Kontrollinstrument stellt eineentscheidende Bedrohung der biologischen Vielfalt dar;deren Schutz und Förderung die Bundesregierung sichnoch im letzten Jahr als Gastgeberland der Vertragsstaa-tenkonferenz des Übereinkommens über die biologischeVielfalt vollmundig auf die Fahnen schrieb.Das Europäische Patentamt erteilt seine Patente weit-gehend auf Basis der widersprüchlichen EU-Biopatent-Gentechnikspezialist Christoph Then. Die Bekämpfungdes Welthungerproblems wird vollständig ad absurdumgeführt, wenn Saatgut, das heute noch zu 80 Prozent freigetauscht wird, mit teuren Besitzansprüchen von Privat-konzernen belegt ist. Dies bedeutet eine akute Bedrohungder Ernährungssicherheit und ein Scheitern derMilleniumsziele. Angesichts der wachsenden Bedeutungdes Weltmarktes bei Nahrungsmitteln versuchen dieAgro-Konzerne, die Ur- und Lebensmittelproduktion zumonopolisieren.Auch die Terminator-Technologie, bei der das Erbgutvon Pflanzen so verändert wird, dass sie unfruchtbar wer-den, zielt in diese Richtung. Dadurch wird verhindert,dass ein Teil der Ernte für die Aussaat im nächsten Jahrwieder verwendet werden kann. Die Technologie ist we-gen der Auskreuzungsgefahr von der Konvention überbiologische Vielfalt geächtet worden. Sogar derWissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium fürWirtschaft und Technologie warnt in einer Stellungnahmevom März 2007, dass die heutige Patentierungspraxis ne-gative Auswirkungen auf Wirtschaft und Entwicklung ha-ben kann. Er schreibt – ich zitiere –: „Eine Rückbesin-nung auf hohe Qualitätsstandards bei Recherche undPrüfung in den Patentämtern ist daher dringend zu for-dern – höhere Anforderungen an die Patentierbarkeitwürden die Zahl marginaler Patente […], die auf einemgeringen erfinderischen Schritt beruhen – verringern, dieKomplexität des Patentdickichts reduzieren und die Nut-zung solcher Patente für strategische Zwecke einschrän-ken.“Auch die englische „Commission on Intellectual Pro-perty Rights“ – Komission für geistige Eigentumsrechte –empfiehlt ausdrücklich, dass zumindest Entwicklungslän-der Patente auf Saatgut und Pflanzen komplett verbietensollten.Nicht Entdeckungen sollen im Patentrecht belohntwerden, sondern ausschließlich Erfindungen mit konkre-ter Anwendung und darauf beschränktem Geltungsbe-reich.Nutztiere und Nutzpflanzen sind ein gemeinsames kul-turelles Erbe der Menschheit, das in jahrhundertealterArbeit entstand. Sie sind kein Privatbesitz weniger Unter-nehmen und sollen es auch nicht werden. UnfruchtbarkeitRichtlinie, die in der Praxis zu inakzeptablen Patentie-rungen führt.Wir fordern:Das Biopatentrecht muss verbessert werden. Die Bun-desregierung muss umgehend die Initiative auf EU-Ebeneergreifen, um die EU-Biopatent-Richtlinie zu reformie-ren. Patente auf Pflanzen und Tiere sowie biologischeZüchtungsverfahren dürfen nicht erteilt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11604 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist allerdings
die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das heißt Feder-
führung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Der
Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, das heißt Feder-
führung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? –
Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen;
das heißt, die Federführung liegt beim Rechtsausschuss.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ih-
nen, dass Sie der Debatte so lange beigewohnt und sie
aktiv gestaltet haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2009,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.