Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, darf ich
einige Geburtstagsglückwünsche übermitteln. Der Kol-
lege Dirk Fischer hat am vergangenen Samstag seinen
65. Geburtstag und der Kollege Ulrich Maurer seinen
60. Geburtstag gefeiert. Dr. Heinz Riesenhuber ist am
Montag 73 Jahre alt geworden. Im Namen des Hauses
gratuliere ich Ihnen allen ganz herzlich, verbunden mit
allen guten Wünschen für das neue Lebensjahr.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck , Volker
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Rede
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vielfalt verbindet – Europäische Kultur stär-
ken und weiterentwickeln
– Drucksache 16/10339 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP
Angemessene und zukunftsorienti
stützung der Contergangeschädig
stellen
tzung
n 4. Dezember 2008
.00 Uhr
– Drucksache 16/11223 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen , Peter Albach, Dorothee Bär,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Steffen
Reiche , Monika Griefahn, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in und für
Europa aktiv gestalten
– Drucksache 16/11221 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
text
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung , Marie-Luise Dött, Katherina
Reiche , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
ln in Verantwortung – Für eine ambitio-
zweite Kioto-Verpflichtungsperiode
erte Unter-
ten sicher-
Hande
nierte
– Drucksache 16/11222 –
20682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Joachim Günther , Miriam Gruß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Positive Auswirkungen des Sports auf die Ge-
sellschaft nutzen und weiter fördern
– Drucksache 16/11174 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen für eine moderne und zukunfts-
fähige Sportpolitik auf den Weg bringen
– Drucksache 16/11199 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Priska Hinz , Katrin Göring-
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Politische Bildung zur Stärkung der Demokra-
tie und Bekämpfung des Rechtsextremismus
weiterentwickeln
– Drucksache 16/11201 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – Für
eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen
und Männern
– Drucksache 16/11175 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
trag der Abgeordneten Kai Gehring, Grietje
Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partizipation von Kindern und Jugendlichen
stärken – Mehr Kinder- und Jugendfreund-
lichkeit durch eine neue Beteiligungskultur
– Drucksachen 16/3543, 16/6074 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Katharina Landgraf
Marlene Rupprecht
Miriam Gruß
Diana Golze
Kai Gehring
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen , Peter Albach, Dorothee Bär,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. h. c.
Wolfgang Thierse, Monika Griefahn, Dr. Gerhard
Botz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto
, Christoph Waitz, Jan Mücke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Freiheits- und Einheitsdenkmal gestalten
– Drucksache 16/11200 –
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Florian Toncar,
Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Rechtsstaatlichkeit sichern – Effektiven Rechts-
schutz bei Terrorismusbekämpfung schaffen
– Drucksache 16/8903 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt Müller-
Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Das Verhalten von Birmas Junta muss Konse-
quenzen haben
– Drucksachen 16/9340, 16/10392 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Johannes Pflug
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20683
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Christine Scheel, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Schutz der Anlegerinnen und Anleger bei Zer-
tifikaten stärken
– Drucksachen 16/5290, 16/11226, 16/11279 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Ortwin Runde
Dr. Gerhard Schick
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 31, 35 und 39 werden
abgesetzt und die Tagesordnungspunkte 32 und 33 ge-
tauscht.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus-
schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 188. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitbera-
tung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Scheel, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Nachhaltig investieren in Klima, Bildung, so-
ziale Gerechtigkeit
– Drucksache 16/11023 –
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 190. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitbera-
tung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Neuer Schwung für die Klimaverhandlungen –
Poznań zum Erfolg machen
– Drucksache 16/11024 –
überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bun-
deskanzlerin
Zum Europäischen Rat in Brüssel am 11./12.
Dezember 2008
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann können wir das so festhalten.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-
hält nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
11. und 12. Dezember wird der Rat zum Abschluss der
französischen Präsidentschaft in Brüssel tagen. Frank-
reich musste – das kann man heute schon sagen – das eu-
ropäische Schiff durch schwere See steuern. Ich finde,
das ist der französischen Präsidentschaft außerordentlich
gut gelungen. Ich möchte mich heute schon bei Frank-
reich ganz herzlich bedanken, dass Europa so viele Be-
währungsproben bestanden hat.
Eine der großen Bewährungsproben in der Außenpo-
litik war mit Sicherheit im Sommer der Kaukasus-Kon-
flikt. Europa hat es hier – man muss sich das noch einmal
vor Augen halten – trotz 27 Mitgliedstaaten mit sehr un-
terschiedlichen Ansichten immer wieder geschafft, mit
einer Stimme zu sprechen, den Dialog weder mit Russ-
land noch mit Georgien abklingen zu lassen, sondern ei-
nen wichtigen Beitrag zur Lösung dieses Konfliktes zu
leisten. Das war eine Bewährungsprobe der europäi-
schen Außenpolitik, und Europa hat diese Bewährungs-
probe nach meiner Meinung gut bestanden. Deutschland
hat hier an der Seite Frankreichs sehr, sehr eng mitgear-
beitet.
Beim EU-Russland-Gipfel ist es dann auch gelungen, die
Verhandlungen zu dem Partnerschafts- und Koopera-
tionsabkommen wieder aufzunehmen. Dieses Abkom-
men ist – trotz aller strittigen Fragen – von größter strate-
gischer Bedeutung sowohl für die Europäischen Union
als auch für Russland. Deshalb wünsche ich mir zügige
Verhandlungen. Die ganze Bundesregierung – selbstver-
ständlich auch der Bundesaußenminister – wird sich da-
für einsetzen, dass das auch wirklich vorangeht.
Wir haben in der nächsten Woche beim Rat zwei The-
men im Mittelpunkt, die auf eine ganz besondere Weise
zusammenhängen. Zum einen haben wir uns mit den
20684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Folgen der weltweiten internationalen Finanzmarktkrise
zu befassen, die gefolgt wird von einer Wirtschaftskrise,
die wir schon als schwerwiegend einstufen müssen.
Zum anderen werden wir uns mit der Umsetzung ei-
nes Klimapakets befassen, das unter deutscher Präsi-
dentschaft in seinen Grundzügen verhandelt worden ist
und jetzt zum Abschluss gebracht werden muss. Beiden
Themen ist eigen, dass die Überschrift heißt: Es handelt
sich um globale Probleme. Eine nationale Lösung allein
wird nicht ausreichen. Globale Probleme können wir nur
gemeinsam lösen. Deshalb ist Europa in dieser Frage in
ganz besonderer Weise gefragt. Ob Finanz-, Wirtschafts-
krise oder Klimawandel, wir müssen zeigen, dass durch
internationale Zusammenarbeit gemeinsame Lösungen
für gemeinsame Probleme gefunden werden. Europa
kann und Europa sollte auch in diesen Themenbereichen
Vorreiter sein.
Europa hat bei der Bewältigung der Finanzmarkt-
krise gezeigt, dass wir mithilfe eines gemeinsamen In-
strumentenkastens und eines abgestimmten nationalen
Vorgehens diese Krise ein Stück weit in den Griff be-
kommen haben. Europa muss nun aber auch – das sage
ich ganz deutlich mit Blick auf das deutsche Bankenret-
tungspaket – zügig handeln. Europa hat uns aufgefor-
dert, schnell zu agieren. Wir haben das als Mitgliedstaat
getan. Nun erwarten wir aber auch zügige Genehmigun-
gen in Brüssel für unsere Rettungsaktion. Dort kann
auch nicht einfach Business as usual betrieben werden.
In der Wirtschaftskrise ist das gemeinsame europäi-
sche Vorgehen noch wichtiger; denn wir leben in einem
europäischen Binnenmarkt. Der Binnenmarkt ist sozusa-
gen das Herzstück der europäischen Zusammenarbeit.
Wir haben seit etlichen Jahren eine gemeinsame Lissa-
bon-Strategie, die zum Ziel hat – ich will daran noch ein-
mal erinnern –, dass Europa der modernste und wirt-
schaftlich effizienteste Kontinent am Beginn des zweiten
Jahrzehnts dieses Jahrhunderts wird. Wir haben einen
gemeinsamen Stabilitäts- und Wachstumspakt, auf des-
sen Grundlage die gemeinsame Währung, der Euro, in
Europa gilt. Das heißt, wir müssen, auch um die nationa-
len Programme überhaupt einpassen zu können, zu ei-
nem gemeinsamen europäischen Vorgehen kommen.
Man kann schon sagen, dass sich die 27 Mitgliedstaaten
in der Europäischen Union und ihre Staats- und Regie-
rungschefs ein Stück weit als das verstehen, was in
Frankreich manchmal „Wirtschaftsregierung Europas“
genannt wird. Dazu können wir uns bekennen. Ich bin
nur dafür, dass wir das gemeinsam mit allen Mitglied-
staaten tun und an dieser Stelle nicht Untergruppen bil-
den; denn wir haben einen gemeinsamen Binnenmarkt.
Das erfordert, dass die 27 Mitgliedstaaten miteinander
agieren.
Wir haben in unserer Ratssitzung Anfang November,
als wir uns mit der internationalen Krise der Finanz-
märkte und der Vorbereitung des Weltfinanzgipfels be-
schäftigt haben, genau aus diesen Gründen die Kommis-
sion gebeten, uns zum Dezember-Rat Vorschläge zu
machen, wie wir die Wirtschaftskrise auch durch ein ge-
meinsames europäisches Vorgehen bewältigen können.
Die Kommission hat uns in der vergangenen Woche Vor-
schläge gemacht. Die Finanzminister haben in dieser
Woche im Rat der Finanzminister, im Ecofin-Rat, aus-
führlich darüber diskutiert. Die Bundesregierung sagt:
Grundsätzlich gehen die Vorschläge, die die Kommis-
sion gemacht hat, in die richtige Richtung.
Die Kommission schlägt vor, einen zusätzlichen In-
vestitionsimpuls von etwa 200 Milliarden Euro in der
Europäischen Union zu geben. Das sind 1,5 Prozent des
europäischen Bruttoinlandsprodukts. Die Kommission
sagt, dass sie davon aufgrund ihrer finanziellen Möglich-
keiten 30 Milliarden Euro bereitstellen kann, und fordert
die Mitgliedstaaten auf, ihrerseits Mittel in Höhe von
170 Milliarden Euro – das sind 1,2 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts der Nationalstaaten – zur Verfügung zu
stellen.
Ich kann mitteilen, dass mit den heutigen Beratungen
im Deutschen Bundestag ein Maßnahmenpaket der Bun-
desregierung auf den Weg gebracht wird, durch das in
den nächsten zwei Jahren 32 Milliarden Euro an zusätz-
lichen Investitionen ermöglicht werden. Angeregt wer-
den dadurch sogar Investitionen in Höhe von 50 Milli-
arden Euro. Wir gehören damit zu den führenden
Ländern Europas, was die Reaktion auf die Wirtschafts-
krise anbelangt. Das will ich hier noch einmal betonen.
Unser nationales Maßnahmenpaket kann sich sehr wohl
sehen lassen, weil wir damit ähnlich vorgehen wie viele
andere auch. Wir werden heute hören, dass auch Frank-
reich zum Beispiel im Blick auf die Automobilindustrie
ganz gezielte Maßnahmen vorschlagen wird.
Wir haben gesagt: Natürlich werden wir den Verlauf
der Wirtschaftskrise, die Meldungen und die Einschät-
zungen, die wir jeden Tag bekommen und die sich im
Übrigen in der Zeitachse sehr verändern, Anfang des
nächsten Jahres vonseiten der Bundesregierung noch
einmal bewerten, ohne schon jetzt zu sagen, ob und ge-
gebenenfalls was wir tun. Wir wollen einfach nur zeigen:
Wir müssen den Verlauf der Krise verfolgen und schnell,
adäquat, aber auch sorgsam agieren.
Ich fordere in dieser Situation zu Besonnenheit auf. Ich
will daran erinnern, dass es in Europa einen Stabilitäts-
und Wachstumspakt gibt. Der Euro, unsere gemeinsame
Währung, gründet sich auf diesen Pakt. Wenn wir uns die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union anschauen
– auch das gehört zur Wahrheit; das muss ausgesprochen
werden –, dann stellen wir fest, dass die Bedingungen sehr
unterschiedlich sind, unter denen Mitgliedstaaten schon
heute Staatsanleihen aufnehmen dürfen. Das heißt, wir
müssen auf mittlere Sicht wieder Wert darauf legen, dass
der Stabilitäts- und Wachstumspakt von allen eingehalten
wird. Deutschland wird die Kommission darin unterstüt-
zen, solche mittelfristigen Pläne wieder aufzustellen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20685
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Deshalb werden wir in Deutschland bei aller Dringlich-
keit, die besteht, den Wettlauf um Subventionen oder
den Wettlauf um Milliarden, einfach nur um den Ein-
druck zu erwecken, man habe etwas getan, nicht mitma-
chen. Das sage ich für die ganze Bundesregierung.
Die Kommission hat eine Idee aufgegriffen, der auch
die Bundesregierung anhängt. Wenn wir Zusätzliches
tun, dann lasst uns dies dazu verwenden, aus der Krise
eine Chance zu machen. Dann lasst uns daran arbeiten,
dass ein zukunftsfähiges Europa ganz im Sinne der Lis-
sabon-Strategie das Ergebnis ist. Dann lasst uns dieses
Europa auf das 21. Jahrhundert vorbereiten. Deshalb
sind wir froh, dass die Vorschläge, die von uns zu den
Breitbandnetzen gemacht wurden, umgesetzt wurden.
Deshalb begrüßen wir es, dass zusätzliche Kreditpro-
gramme für die Europäische Investitionsbank aufgelegt
werden. Deshalb sind wir dafür, dass die Gelder, die in
Europa vorhanden sind, jetzt beschleunigt ausgegeben
werden, zum Beispiel für europäische Verkehrsnetze im
Rahmen der europäischen Strukturfonds. Es geht gar
nicht um mehr Geld, sondern es geht zuallererst darum,
dass die Bedingungen so sind, dass Europa sein Geld
ausgeben kann. Darauf werden wir Wert legen.
Wir, der Bundesaußenminister und ich, werden in der
nächsten Woche sehr viel Wert darauf legen, dass wir für
die Erreichung der Ziele, zum Beispiel Breitbandan-
schlüsse für alle in Europa, auch den entsprechenden Re-
gulierungsrahmen bekommen. Es wird sich kein Inves-
tor finden, wenn nicht die Breitbandversorgung im
ländlichen Bereich im Sinne des Investors für eine ge-
wisse Zeit privilegiert wird; das macht dann niemand.
Wir wollen, dass jeder einen Breitbandanschluss hat,
auch im ländlichen Raum. Dafür muss die Kommission
die Bedingungen schaffen. Darauf werden wir dringen,
ich hoffe: erfolgreich.
Genauso werde ich eine Sache verfolgen, die für un-
sere kleinsten Unternehmen von außerordentlicher Be-
deutung ist. Die Kommission sagt in der Wettbewerbs-
kommission, sie sei im Augenblick überlastet. Wir sagen:
Dann lasst uns doch in der Krise die Beihilferegelungen
so verändern, dass Zahlungen bis zu 400 000 Euro statt
heute bis zu 200 000 Euro nicht mehr beihilferechtlich
überprüft werden müssen! Dann hätten wir die De-mini-
mis-Regeln ein bisschen ausgeweitet. Die Kommission
hat dann weniger Arbeit, und wir können besser handeln.
Ich halte dies in dieser außergewöhnlichen Situation für
eine absolut richtige Maßnahme.
Wir wollen nicht verschweigen, dass in dem Kommis-
sionspaket auch einige Dinge kritisch von deutscher
Seite diskutiert werden, insbesondere steuerrechtliche
Fragen. Wir glauben zum Beispiel nicht, dass abgesenkte
Mehrwertsteuersätze für sogenannte Green Products
oder – um es auf Deutsch zu sagen, Herr Präsident –
Grüne Produkte
uns weiterhelfen. Wir haben die Sorge, dass dadurch
nichts erreicht wird und zusätzliche Bürokratie aufge-
baut wird, wenn alle auf dem Markt befindlichen Pro-
dukte zuerst auf ihre ökologische Eignung überprüft
werden müssen. Das ist ein schwer abgrenzbarer Pro-
zess. Deshalb setzen wir nicht auf diese Maßnahmen.
Der zweite große Schwerpunkt, über den wir im Eu-
ropäischen Rat zu diskutieren haben, ist das Klimapaket,
das natürlich mit der Frage, welche Rolle Europa in der
Welt einnehmen möchte, aber auch mit der Frage der
wirtschaftlichen Leistungskraft und der Bewältigung der
Wirtschaftskrise aufs Engste verflochten ist. Als wir un-
ter deutscher Präsidentschaft das Thema Klimaschutz
auf die Tagesordnung gesetzt haben, da konnte niemand
ahnen, in welcher Situation die Abschlussberatungen
stattfinden. Wir sind sehr froh, dass wir von dem neu ge-
wählten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Ame-
rika hören, dass sich Amerika auch hierbei stärker enga-
gieren wird. Ich will das ausdrücklich begrüßen; denn
das Klimathema ist genauso wie die Weltwirtschafts-
krise und die Finanzkrise ein Problem, das nur global ge-
löst werden kann. Europa hat heute einen Anteil an den
weltweiten CO2-Emissionen von 15 Prozent. Wenn die
Vereinigten Staaten von Amerika nicht mitmachen, wer-
den wir nicht zu einem vernünftigen internationalen Ab-
kommen im nächsten Jahr kommen. Dann wird unser
Bemühen in Europa, Vorreiter zu sein, natürlich fehl-
schlagen, weil wir die Nachteile haben, aber die An-
strengungen zur Erreichung der Vorteile nicht gemein-
sam unternommen werden.
Auf der anderen Seite wissen wir – ein Blick zum
Beispiel auf die amerikanische Automobilindustrie zeigt
das natürlich –: Wer die Zeit verschläft, wer nicht recht-
zeitig handelt, wer die Herausforderungen der Zukunft
nicht sieht, kann sich in eine schwierige Wirtschaftskrise
hineinbugsieren.
20686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Deshalb ist es richtig, dass wir in Deutschland und in
Europa jetzt starke Regelungen für die Automobilin-
dustrie haben.
Ich will aber deutlich sagen: Auch hier geht es darum,
dem Umweltschutz und dem Ziel der CO2-Minderung
wirklich zu dienen.
Deshalb begrüße ich den Kompromiss, den die französi-
sche Präsidentschaft mit dem – –
– Ich habe mir schon gedacht, dass Sie schreien werden,
Frau Künast. Wer am liebsten gar kein Auto mehr will,
kann nur böse sein, dass solch ein Kompromiss gefun-
den wurde.
Ich bitte Sie dann aber auch, keine Krokodilstränen zu
vergießen, wenn deutsche Arbeitsplätze in Gefahr sind.
Wir arbeiten für Arbeitsplätze und moderne Autos. Das
muss man schon zusammenbekommen in diesem Land,
wenn man vernünftige Politik machen will.
Ich sage: Die für die Automobilindustrie gefundene
Lösung ist eine vernünftige Lösung. In absehbarer Zeit
wird der durchschnittliche Flottenverbrauch einen CO2-
Ausstoß von 120 Gramm pro Kilometer erreichen. Das
ist eine Zielmarke, die wir für vernünftig halten.
Es ist doch wirklich nicht redlich, die Automobilher-
steller zum Schutz des Weltklimas zu Investitionen zu
drängen, die sie letztlich wirtschaftlich nicht leisten kön-
nen, und ihnen Strafen aufzuerlegen und ihnen damit ei-
nen Nachteil zu verschaffen.
Ich sage ausdrücklich: Die Konsumenten müssen ent-
scheiden, ob sie ein größeres oder ein kleineres Auto ha-
ben wollen. Wir wollen neueste Technik. Im Übrigen
findet die Innovation im Automobilbau immer zuerst bei
den großen Autos statt und setzt sich dann bei den klei-
nen durch. Auch das sollten wir nicht vergessen, wenn
wir über die deutsche Automobilindustrie sprechen.
Wir stehen zu den unter der deutschen Präsidentschaft
vereinbarten Zielen. „Dreimal 20“: 20 Prozent CO2-Re-
duktion bis zum Jahr 2020 und ein Anteil der erneuerba-
ren Energien an der Energieversorgung von 20 Prozent.
20-20-20, das ist unsere Zielmarke. Gleichzeitig haben
wir den festen Willen, bei den Verhandlungen darauf zu
drängen, dass dies nicht zulasten von Arbeitsplätzen er-
folgt, sondern dass dies mit dem Erhalt von Arbeitsplät-
zen in Deutschland einhergeht.
Wir von deutscher Seite haben die Kommission ge-
drängt, nicht einfach ein Klimapaket zu verabschieden,
ohne klarzumachen, wie der CO2-Emissionszertifika-
tehandel in der Industrie stattfinden soll. Die ursprüngli-
chen Überlegungen der Kommission waren, das erst
nach der internationalen Klimaschutzkonferenz in Däne-
mark im Jahr 2010 festzulegen. Die deutsche Wirtschaft
hat immer wieder gesagt: Wenn ihr das tut, dann führt
ihr uns in einen Investitionsattentismus, und wir werden
überhaupt nicht mehr investieren, bevor diese Festlegun-
gen nicht erfolgt sind. – Deshalb haben wir erfolgreich
darauf gedrungen, dass wir dies jetzt entscheiden. Wir
entscheiden es, damit wir Sicherheit für Zukunftsinvesti-
tionen in Deutschland und in Europa haben. Ich halte das
für absolut richtig.
Wir müssen es in diesem Zusammenhang schaffen,
dass die Innovation, zum Beispiel unseres Kraftwerks-
parks, gestärkt wird. Deshalb treten wir dafür ein, dass
Investitionen in gewisser Weise auch bei dem Zertifika-
tehandel berücksichtigt werden. Außerdem müssen wir
erreichen, dass unsere energieintensive Industrie, die
vom Export lebt, von dem Zertifikatehandel so ausge-
nommen wird, dass daraus keine Nachteile auf dem
Weltmarkt entstehen. Eine andere Sache wäre es, wenn
wir in anderen Regionen der Welt heute schon Zertifika-
tehandel hätten; dann brauchten wir das nicht. Aber so
wie die Sache steht, können wir uns unsere Exportchan-
cen nicht verderben und zum Schluss zusehen, wie Che-
miearbeitsplätze, Stahlarbeitsplätze und Ähnliches in
Regionen der Welt abwandern, wo der Umweltschutz
geringer ist als bei uns. Das wäre paradox und ist des-
halb nicht gut.
Uns werden – das kann man heute schon absehen –
harte Verhandlungen bevorstehen. Die Situation in der
Europäischen Union ist inzwischen so, dass wir mit Ab-
stand das industrieintensivste Land sind. 15 Prozent un-
serer Wertschöpfung kommen aus der klassischen Indus-
trie, und wir wollen, dass das so bleibt. Aber wir haben
zum Teil weniger Verbündete, weil andere Länder über
bestimmte Industrien überhaupt nicht mehr verfügen und
natürlich genau deshalb sagen: Wir haben ein Interesse
daran, dass Deutschland die Wirtschaftslokomotive in
Europa ist. – Das geht aber nur, wenn wir erträgliche Be-
dingungen haben und wenn unsere Betriebe nicht ab-
wandern. Diese Aufgabe werden wir nächste Woche an-
gehen müssen. Ich sage voraus: Es werden spannende,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20687
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
harte Verhandlungen, aber immer unter der Maßgabe:
Wir wollen einen Erfolg, wir wollen die Vorreiterrolle in
Europa. Wir sind nämlich der Meinung, dass wir gute
Technologien entwickeln. Wir wissen, dass unsere Um-
welttechnik schon heute ein Exportschlager ist. Das
Weltmarktvolumen von Umwelttechnologien beträgt in-
zwischen 1 000 Milliarden Euro. Es ist gut, wenn
Deutschland daran einen wichtigen Anteil hat. Das
schafft und sichert Arbeitsplätze bei uns.
Es soll Ausnahmeregelungen geben für Industriezweige
wie Eisen, Stahl, Grundstoffchemie, Zement – um nur
einige zu nennen. Wir sind darüber mit der Kommission
und auch mit der Präsidentschaft in einem intensiven
Gespräch.
Wir werden bei der Innovation des Kraftwerksparks
auch darüber sprechen müssen, welche Möglichkeiten
der Kohlendioxidspeicherung wir haben. Deutschland
selber arbeitet auch an dem Rechtsrahmen, um diese
Kohlendioxidspeicherung voranzubringen.
Meine Damen und Herren, neben dem Wirt-
schaftsprogramm und dem Klimaprogramm geht es als
drittem Beitrag um die Frage: Wie geht es mit dem Lis-
sabonner Vertrag weiter? Gestern Abend war der iri-
sche Premierminister zu Besuch in Berlin. Irland arbeitet
intensiv daran, einen Weg zu finden, um zu einer Ratifi-
zierung des Vertrages zu kommen. Wir werden Irland in
dieser Situation unterstützen. Ich will hier ganz klar sa-
gen: Schweden ist auf einem guten Weg. Das tschechi-
sche Verfassungsgericht hat vor kurzem ein positives
Votum zu dem Verfassungsvertrag abgegeben.
Ich gehe davon aus, dass die Ratifizierungsprozedur dort
weitergeht. Ich glaube, dass wir es schaffen können und
dass wir es schaffen werden, den Lissabon-Vertrag in
Kraft zu setzen, weil er besser ist als der heutige Nizza-
Vertrag. So viel steht für mich fest.
Unter tschechischer EU-Präsidentschaft wird das
erste Halbjahr des Jahres 2009 gestaltet. Ein wichtiger
Punkt in diesem Zusammenhang wird sein, dass es wie-
der einen EU-USA-Gipfel gibt. Dieser wird Anfang
April in Europa stattfinden, etwa am 60. Jahrestag der
NATO-Gründung. Wir werden alles daransetzen, neben
den Verhandlungen mit Russland über ein Partner-
schaftsabkommen vor allen Dingen die transatlantische
Achse zu stärken, in einer umfassenden Zusammenarbeit
zu kräftigen – von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
über den Umweltschutz bis hin zu den Fragen der Au-
ßen- und Sicherheitspolitik. Ich glaube, dass Europa da-
für gut gerüstet ist.
Insgesamt wird es ein spannender Rat nächste Woche,
ein Rat mit harten Verhandlungen, in dem wir bei allem
Bekenntnis zu den allgemeinen Zielen unsere eigenen
Positionen sehr hart vortragen werden, damit in
Deutschland keine Arbeitsplätze verloren gehen, son-
dern gesichert werden.
Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri-
büne hat der Präsident der Abgeordnetenkammer des
Königreichs Marokko, Herr Mustapha Mansouri,
mit seiner Parlamentarierdelegation Platz genommen.
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deut-
schen Bundestages begrüße ich Sie ganz herzlich.
Sehr geehrter Herr Präsident, es ist uns eine große
Freude, Sie und Ihre Begleitung zu einem offiziellen Be-
such in Deutschland zu Gast zu haben. Der Deutsche
Bundestag misst der Zusammenarbeit zwischen unseren
beiden Parlamenten große Bedeutung bei. Wir hatten
gestern bei unseren Gesprächen schon Gelegenheit, un-
ser gemeinsames Interesse an einer Vertiefung der Zu-
sammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft
und den Ländern des Mittelmeerraums zum Ausdruck zu
bringen. Das schließt auch besonders enge und freund-
schaftliche Beziehungen zwischen unseren Parlamenten
ein. Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt und für Ihr
weiteres parlamentarisches Wirken alles Gute.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol-
lege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Ihrer Regie-
rungserklärung davon gesprochen, dass Sie Deutschland
als eines der führenden Länder bei der Bewältigung der
Finanz- und Wirtschaftskrise betrachten. Das ist,
wenn man sich in Europa umhört – mit Verlaub gesagt –,
eine interessante Selbsttäuschung. Denn Tatsache ist,
dass Sie ganz andere Noten in der Europäischen Union
bekommen, als Sie sich hier selber geben.
Ihre Politik des Abwartens wird in Italien ängstlich und
versteinert genannt,
in Frankreich mutlos und unsichtbar; und in Großbritan-
nien nennt man das, was Sie tun, eine schwindsüchtige
Reaktion auf die Finanzkrise.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, Sie wollten keinen
Wettlauf um Milliarden.
20688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
Dr. Guido Westerwelle
Es geht nicht um einen Wettlauf um Milliarden, es geht
ganz einfach um die Frage: Ist es nicht klüger, jetzt in
Steuersenkungen zu investieren,
anstatt später mit Milliardenbeträgen Arbeitslosigkeit zu
finanzieren? Das ist die eigentliche Weichenstellung, vor
der wir stehen.
Das Entscheidende ist, dass Sie den Eindruck erwe-
cken, als habe sich Deutschland mehr oder weniger mit
der Rezession bereits abgefunden. Wenn Sie lediglich re-
agieren, dann mag das in der Großen Koalition für Sie
bequemer sein. Aber es ist für unser Land schlecht. Sie
wollen im nächsten Jahr über Steuersenkungen ent-
scheiden. Das hat nichts mit deutschem Interesse zu tun,
sondern das entspringt dem Wahlkampfinteresse der bei-
den Regierungsparteien.
Sie von der Großen Koalition wollen das Thema Steuer-
senkungen im Wahlkampf. Aber Deutschland braucht
Steuersenkungen jetzt; denn regieren heißt nicht reagie-
ren, sondern regieren heißt, unser Land so zu lenken,
dass man eine Krise, die man mit bloßen Händen greifen
kann, verhindert, in jedem Fall aber abmildert. Das ist
die patriotische Verantwortung, die Sie heute haben.
Man muss ja nicht mit allem einverstanden sein, was
Präsident Sarkozy oder Premierminister Brown vor-
schlagen; aber der deutsche Beitrag kann nicht sein, in
Lethargie zu verfallen und sich gar nicht zu Wort zu mel-
den. Das sagen übrigens der Internationale Währungs-
fonds, die Weltbank, die OECD, die EU-Kommission
und unsere anderen Partner in Europa, und der zukünf-
tige US-Präsident Obama wird seine Amtszeit mit einem
gigantischen Maßnahmenpaket beginnen. Ihre Antwort
ist es, abzuwarten und ein bisschen kosmetische Salbe
zu verteilen. Mehr ist es nicht, wenn Sie es allen Ernstes
als Beitrag für unsere Konjunktur ansehen, wenn beim
Kauf eines Neuwagens 100 Euro von der Kfz-Steuer
nachgelassen werden. Das ist keine vernünftige Politik.
Sie wissen doch auch von Ihrem eigenen Parteitag und
von Ihrer Schwesterpartei, der Partei von Herrn Seehofer,
dass wir Steuersenkungen in Deutschland brauchen. Sie
werden hier Steuersenkungen beschließen, weil Sie dem
Druck nicht dauerhaft standhalten können und weil die
Krise kommen wird. Das wissen wir alle, und jeden Tag
können wir das lesen. Deshalb ist es besser, jetzt zu han-
deln, als zu warten, bis die Katastrophe da ist. Vorsorgen-
des Regieren ist besser, als später hinterherzulaufen. Da-
rum wird es auch auf dem Gipfel gehen.
– Sie sagen „Kassandra“. Was bei Ihnen diskutiert wird,
sind Konsumgutscheine. Das ist das, was Sie als Bei-
trag zur Krise vorschlagen. Was soll das allen Ernstes
bringen? Das ist nicht mehr als ein Strohfeuer. Besser,
als zu Weihnachten irgendwelche Konsumgutscheine
unters Volk zu bringen, wäre es, dafür zu sorgen, dass
die Familien, die Bürger und die mittelständischen Un-
ternehmer in dieser Republik durch Steuersenkungen
dauerhaft entlastet werden.
Das ist die Aufgabe, vor der wir jetzt stehen.
Wir wissen, dass die anderen Länder sich nicht so
verweigern, wie Sie es tun. Deutschland wartet ab. In
Großbritannien senkt der Premierminister die Mehr-
wertsteuer. In Frankreich und Italien kündigt man eine
Senkung der Unternehmensteuer und eine entsprechende
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger an. In Spanien
werden die Steuern reduziert und zum Teil abgeschafft.
In Österreich werden Freibeträge erhöht, die Steuerta-
rife gesenkt und Familien steuerlich entlastet. Wie oft
hat man, auch als Opposition, der deutschen Regierung
vor einem europäischen Gipfel viel Erfolg gewünscht!
Es ist meines Wissens das erste Mal, dass ich in meiner
Antwort auf eine Regierungserklärung der Bundeskanz-
lerin aufgrund Ihrer zögerlichen Verhandlungstaktik
nicht Ihnen Erfolg wünsche, sondern den restlichen eu-
ropäischen Staaten. Möge sich Europa gegen Sie beim
Thema Steuersenkungen durchsetzen, Frau Bundeskanz-
lerin! Möge es anders kommen, als Sie es sich vorstel-
len!
Wenn Sie das der FDP nicht abnehmen, darf ich Sie
auf das aufmerksam machen, was Ihnen unser Bundes-
tagskollege Friedrich Merz wörtlich gesagt hat:
Die Vorsitzende der CDU sollte nicht die Letzte auf
der Welt sein, die zu der Einsicht gelangt, dass eine
solche Krise auch im Bereich der Steuer- und Abga-
benbelastung eine Korrektur erfordert.
Sie werden drei Punkte auf der Tagesordnung haben.
In zwei Punkten sind wir sehr nah beieinander; das gilt
insbesondere für die Fragen, die die deutsche Staatsrä-
son angehen, was also zum Beispiel den Lissabon-Ver-
trag angeht. In der Tat ist es auch richtig, dass Sie mit
Blick auf die Automobilindustrie deutsche Interessen
vertreten. Das ist vernünftig, und das will ich hier aus-
drücklich noch einmal zu Protokoll geben. Es ist richtig,
dass Sie auf Abschluss setzen.
Bei dem Kernanliegen, um das es nächste Woche in
Wahrheit gehen wird – dem Thema, wie wir auf die
Wirtschafts- und Finanzkrise reagieren –, liegen Sie al-
lerdings völlig falsch, Frau Bundeskanzlerin.
Nicht die anderen täuschen sich, sondern Sie sind in Eu-
ropa der Geisterfahrer. Die deutsche Bundesregierung
wendet sich in Europa gegen ein mutiges und entschie-
denes Handeln. Wir brauchen jetzt kein Klein-Klein,
keine mutlosen Kleinstpakete; vielmehr bräuchten wir
eine gestaltende Regierung, eine führende Regierung,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20689
(C)
(D)
Dr. Guido Westerwelle
die mutig bei einer Entlastung der Bürgerinnen und
Bürger ansetzt. Das ist aus unserer Sicht das, was in Eu-
ropa jetzt getan werden müsste.
Frau Bundeskanzlerin, wir bedauern es, dass Sie sich
für einen anderen Weg entschieden haben, und wir be-
dauern es nachdrücklich, dass Sie nur deshalb sehenden
Auges zusehen, wie Arbeitsplätze in Deutschland ver-
schwinden, weil Sie als Regierungspartei für den Wahl-
kampf im nächsten Jahr ein Thema haben wollen.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, einer müsste
auch einmal gegen den Strom schwimmen. So haben Sie
sich auf dem Parteitag erklärt. Es geht nicht darum, ob
Sie gegen den Strom schwimmen, Frau Bundeskanzle-
rin, es geht darum, dass man nicht zusieht, wie in
Deutschland die Zahl der Arbeitsplätze den Bach herun-
tergeht. Das wäre Ihre wirklich wichtige nationale Ver-
antwortung – auch in Europa.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Angelica Schwall-
Düren für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In der Krise zeigt sich, ob sich Institutionen bewähren.
Die EU hat sich in der internationalen Finanzkrise bisher
nicht schlecht geschlagen – so schrieb Nikolas Busse
letzte Woche in der FAZ.
Die französische Ratspräsidentschaft hatte es in der
Tat mit schwierigen Themen und mit schwierigen Pro-
blemen zu tun: Nach dem Nein Irlands kamen die Russ-
land-Georgien-Krise und die Finanzmarktkrise mit den
enormen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Da ist es
nicht von vornherein selbstverständlich, dass man zu ei-
nem gemeinsamen Handeln in der EU findet, obwohl die
Gelegenheit nie günstiger als heute war, dass wir in der
EU zusammenstehen, weil sogar Staaten wie Schweden,
Dänemark und das Vereinigte Königreich inzwischen
darüber nachdenken, ob sie der in der Krise erfolgrei-
chen Eurozone beitreten sollten.
In der Tat ist Abstimmung in diesen Zeiten unab-
dingbar. Um die Europäische Union aus der Finanzkrise
zu steuern, hat die EU erfolgreich einen Aktionsplan zur
Stützung des Bankensystems aufgelegt. Die EU hat sich
für den G-20-Gipfel ein gemeinsames Programm gege-
ben und dies dort erfolgreich durchsetzen können.
Wir sind froh, dass die Maßnahmen zur Regulierung
und Beaufsichtigung des Banken- und Finanzsektors auf
den Weg gebracht worden sind und nun im Europäischen
Parlament beraten und hoffentlich möglichst bald abge-
schlossen werden. Ich denke, es ist auch ein Erfolg für
Deutschland, Herr Westerwelle, dass die Vorschläge von
Peer Steinbrück zur Regulierung der Ratingagenturen
von der Kommission übernommen worden sind.
Ich sage Ihnen: Gestern Abend hat uns der amerikani-
sche Kongressabgeordnete Delahunt bei einer Veranstal-
tung gesagt, Washington und London hätten früher auf
Peer Steinbrück hören sollen. Ich glaube, das ist ein Be-
leg dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Nun kommen wir zur Realwirtschaft. Ich freue mich
sehr, dass uns Klaus Regling, der Hüter des Wachstums-
und Stabilitätspakts, auch ins Stammbuch geschrieben
hat, dass die EU-Staaten koordiniert handeln müssen,
weil nur so die Stärkung der Binnennachfrage möglich
ist. Ja, eine Abstimmung ist unabdingbar; denn, Herr
Westerwelle, wir können weder einen Subventionswett-
lauf gebrauchen – darin stimmen Sie mir sicher zu –,
noch können wir einen Steuersenkungswettlauf gebrau-
chen. In der Tat ist das Instrument der Steuersenkung
nämlich ein unpräzises und ungerechtes Instrument, ein
Instrument mit zweifelhafter Wirkung. Deswegen müs-
sen wir dafür sorgen, dass wir diesen Weg nicht be-
schreiten und uns gegenseitig nicht in diese Richtung
treiben lassen. Nein, wir brauchen das, was uns Frank-
Walter Steinmeier im Zusammenhang mit dem Begriff
der verdichteten Koordinierung auf den Weg gegeben
hat und was nun auch in der Europäischen Union weitge-
hend übernommen wird: der Zukunftspakt für Arbeit.
Mit dem Zukunftspakt für Arbeit wird in Ökologie und
in Innovationen investiert und damit der Arbeit ein abso-
luter Vorrang gegeben.
Ich freue mich sehr, dass wir in der Bundesrepublik
im Gegensatz zu dem, was Sie versuchen uns einzure-
den, eine ganze Reihe von richtigen Maßnahmen auf den
Weg bringen. Wenn dann, Herr Kauder, auch noch die
Länder daran mitwirken, so wie die Mitgliedstaaten das
auf der europäischen Ebene im Einzelnen tun müssen,
dann sind Ihre Vorschläge, dass es auch bei Schulen und
Krankenhäusern Investitionsbedarf gibt, selbstverständ-
lich zu begrüßen. Aber da müssen in der Tat auch die
Länder ihre Hausaufgaben machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die
weitere Stärkung der Investitionen im Bereich Klima-
schutz. Es ist für mich – so muss ich sagen – ein Skan-
dal, wenn einige CDU-Länderchefs meinen, der Klima-
wandel könne warten. Nein, er wartet nicht. Wir haben
mit der Krise nun auch die Chance, hier notwendige In-
novationen voranzubringen.
Der Europäische Rat steht vor einer großen Herausfor-
derung. Das Europäische Parlament drängt Präsident
Sarkozy zu Recht darauf, zu einem Abschluss zu kommen,
weil wir ansonsten nicht sicher sein können, während der
tschechischen Ratspräsidentschaft voranzukommen. Wir
müssen am Kioto-Protokoll, an den Zielsetzungen für den
Klimaschutz festhalten; ansonsten sind wir Europäer auf
20690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Angelica Schwall-Düren
der Posener Konferenz unglaubwürdig. Die Bundeskanz-
lerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Ver-
einigten Staaten brauchen, wenn wir auf diesem Weg vo-
rankommen wollen.
Das heißt ganz konkret, dass die Energieproduzenten
voll in den Zertifikatehandel integriert werden müssen.
Mir ist völlig klar, dass dies eine große Belastung für ei-
nige der neuen Mitgliedstaaten bedeutet. Wir müssen
dort Kompensationen finden, zum Beispiel über Struk-
turfondsinstrumente, anstatt die veraltete Technologie
weiter zu stützen, indem wir Ausnahmen im Zertifika-
tehandel zulassen.
Selbstverständlich ist es eine richtige Politik, Maß-
nahmen gegen Produktionsverlagerungen in den Be-
reichen der Eisen- und Stahlindustrie vorzunehmen.
Aber wir können die Industrie nicht generell von voraus-
weisenden Maßnahmen ausnehmen.
Ich glaube, dass wir mit dem Kompromiss zur Verrin-
gerung der CO2-Emissionen bei den Autos in der Tat
einen guten Mittelweg gefunden haben, der Umweltpoli-
tik und Industriepolitik miteinander verbindet. Mit die-
sem Beschluss wird es unausweichlich sein, dass klei-
nere, sparsamere und schadstoffärmere Autos auf den
Markt kommen, attraktiver werden und damit eine Inno-
vationsbasis für die Zukunft bilden.
Im Zusammenhang mit dem Stichwort Energie wird
in Zukunft bei allem Bemühen um Energieeffizienz und
um erneuerbare Energien auch das Thema der Energie-
versorgungssicherheit wichtig bleiben. Deshalb ist es
ganz entscheidend, dass wir das Gespräch mit Russland
weiterführen und die Verhandlungen über das Partner-
schafts- und Kooperationsabkommen wieder in Gang
gesetzt werden können, damit wir einen rechtlichen Rah-
men für mehr Energiesicherheit gewinnen. Ich bin sehr
froh, dass wir den Russland-Georgien-Konflikt so
handhaben können, dass wir auf der einen Seite Geor-
gien auf seinem Weg des Wiederaufbaus und der Trans-
formation helfen und auf der anderen Seite das Gespräch
und den Dialog mit Russland fortsetzen. Hier bedeutet
auch die transatlantische Partnerschaft mit Barack
Obama eine neue Chance. Ich gehe davon aus, dass wir
zusammen mit ihm einen guten Weg werden gehen kön-
nen.
Alle Maßnahmen der Europäischen Union, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, bedingen eine Erneuerung der
Institutionen und ein starkes Europäisches Parlament.
Nur dann werden wir unsere langfristige Vision von Sta-
bilität und Prosperität voranbringen. Deshalb, Frau Bun-
deskanzlerin, hoffe ich sehr, dass in Ihren Gesprächen
mit dem irischen Präsidenten deutlich gemacht werden
konnte, welch große Verantwortung Irland für die Zu-
kunft seines eigenen Landes, aber auch für die Zukunft
Europas hat, damit wir im nächsten Jahr endlich den Lis-
sabonner Vertrag in Kraft setzen können.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen,
und viel Erfolg für den Europäischen Rat am 11./
12. Dezember!
Dr. Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Europäische Rat wird eine Fülle von The-
men behandeln, die sich wechselweise durchdringen.
Wir alle wissen, dass wir komplexe Antworten brau-
chen.
Aktuell befinden wir uns in der tiefsten finanziellen,
wirtschaftlichen und sozialen Krise seit Jahrzehnten.
Diese Krise betrifft die Menschen weltweit; sie gefähr-
det Einkommen, soziale Sicherheit und bei den
Schwächsten gar die Existenz. Die Krise entstand aus
unverantwortlichem Handeln der politischen und ökono-
mischen Eliten.
Sie ist Folge des neoliberal globalisierten Kapitalismus,
der ungezügelten Raffgier und von Finanzspekulationen.
Kurz: Sie ist die Konsequenz aus fehlender Transparenz,
zu geringer Kontrolle und mangelnder Regulierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neoliberale
Ausrichtung der Wirtschaft wurde der EU und den eu-
ropäischen Volkswirtschaften nicht von außen aufge-
zwungen. Sie war politisch gewollt, und sie ist durch die
Einheitliche Europäische Akte und den Vertrag von
Maastricht durchgesetzt worden.
Im Vertrag von Lissabon sollte dies noch zementiert und
verschärft werden. Nicht einmal jetzt gehen Sie davon
ab, da offensichtlich wird, dass dies der falsche Weg ist.
Meine Damen und Herren, wir lehnen diesen Weg ab,
denn unser Nein zum Vertrag von Lissabon ist von unse-
ren proeuropäischen Hoffnungen getragen. Die Linke
will eine andere Politik. Sie will ein besseres Europa, das
auf wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt beruht und
in dessen Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger ste-
hen.
Wir Linken kämpfen für den Ausbau und die Wiederher-
stellung sozialer Errungenschaften. Wir wollen eine Po-
litik der Solidarität und Zusammenarbeit, die auf Vollbe-
schäftigung und einen vernünftigen Umgang mit der
Natur zielt.
Insofern halte ich es für richtig, dass die Bundeskanz-
lerin dem Klimaschutz in ihrer Rede einen ihm gebüh-
renden Platz einräumt, wiewohl wir seit langem keinen
Mangel an Absichtserklärungen haben, allerdings an
entsprechenden Ergebnissen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20691
(C)
(D)
Dr. Lothar Bisky
Die Vorschläge der EU-Kommission und der Mit-
gliedstaaten zur Überwindung der Finanz- und Wirt-
schaftskrise greifen zu kurz: Ein Finanzsystem, das nur
mit massiven staatlichen Bürgschaften wieder flottge-
macht werden kann, gehört dauerhaft unter öffentliche
Kontrolle.
Die Konjunkturprogramme von Bundesregierung und
EU-Kommission sind zu gering ausgestattet. So kann die
aktuelle Krise nicht wirksam bekämpft werden. Es ist
richtig, Opel zu helfen, aber es gilt, zu verhindern, dass
das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für
CO2-Killer-Autos verwendet wird und an den Mutter-
konzern General Motors fließt.
Eine Schlussfolgerung wäre die Aufhebung des Verbotes
von Kapitalverkehrskontrollen in der EU.
Die EU-Kommission hat angekündigt, Hilfsmaßnah-
men zur Rettung von Arbeitsplätzen zu erleichtern und
die Regeln für staatliche Beihilfen zu lockern – wir un-
terstützen das –, das reicht aber nicht. Die Genehmi-
gungspflicht bei Subventionen im Rahmen einer Kon-
junktur- und Strukturpolitik muss infrage gestellt
werden. Überdies brauchen wir ein besseres EU-Recht
zur Auftragsvergabe.
Es ist höchste Zeit, dass die Europäische Zentralbank zu
einer wirtschaftspolitischen Zielorientierung verpflichtet
wird und die Daseinsvorsorge vom Deregulierungs- und
Privatisierungsdruck befreit wird.
Dazu muss das EU-Vertragsrecht geändert werden. Hier
initiativ zu werden, stünde der Bundesregierung gut zu
Gesicht.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf den transatlanti-
schen Gipfel zwischen den USA und der EU hingewie-
sen. Wir würden es begrüßen, wenn in diesem Zusam-
menhang vereinbart würde, dass auf die US-Basen im
System des geplanten Raketenabwehrschildes in Polen
und der Tschechischen Republik gänzlich verzichtet
wird;
denn sie bringen nicht mehr Sicherheit, aber gewiss
mehr Aufrüstung, und sie bergen die Gefahr einer neuen
Spaltung Europas in sich.
Wir Linke wollen die neoliberale und auf Militärinter-
ventionen ausgerichtete EU-Politik stoppen. Nur wenn
das gelingt, wird die europäische Integration zu einem
sozialen und friedenssichernden Europa führen, zu ei-
nem Europa, zu dem die Menschen Ja sagen. Nur wenn
die Menschen dieses Europa bejahen, wird es auf Dauer
von Bestand sein.
Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Europäische Rat am 11. und 12. Dezember hat eine au-
ßerordentlich große strategische Bedeutung. Er trifft
Entscheidungen zu den Grundpfeilern des deutschen In-
dustriestandortes: zum Automobilbau, zur Chemieindus-
trie, zur Stahl- und Aluminiumproduktion, zur Energie-
wirtschaft und zu vielen weiteren Bereichen.
Das Ergebnis des Rates wird die industriepolitischen
Weichen für das nächste Jahrzehnt stellen. Dazu haben
Sie, Herr Westerwelle, nichts gesagt. Das war kleinliches
und parteipolitisches Gezänk. Dass Sie Italien als Ur-
laubsziel entdeckt haben, wissen wir. Dass Sie Italien
nun aber auch als wirtschaftspolitischen Kronzeugen
aufgerufen haben, fand ich doch etwas lächerlich.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich ganz
klar zu den Klimaschutzzielen. Wir wollen, dass
Deutschland und Europa in Sachen Klimaschutz die Vor-
reiterrolle behalten. Wir werden unseren Beitrag dazu
leisten. Über die Ausgestaltung einzelner Instrumente
muss aber geredet werden.
Die EU-Kommission hat Ende 2007 eine CO2-Stra-
tegie für Pkw vorgelegt. Diese musste nachgebessert
werden. Brüssel hatte die Hersteller von Kleinwagen
ganz klar bevorzugt. Die deutschen Automobilbauer hät-
ten die Hauptlast getragen. Das war nicht Klimaschutz-
politik, sondern ganz klar Industriepolitik zulasten von
Deutschland. Klar ist aber auch, dass die deutschen Au-
tomobilbauer mehr tun müssen, mehr in alternative An-
triebstechnologien investieren müssen.
Es ist der Bundeskanzlerin zu verdanken, dass am
Ende eine Lösung gefunden wurde, die ökologisch und
ökonomisch vernünftig ist. Die Grenzwerte sind erreich-
bar, zwingen aber auch die Unternehmen zu Innovatio-
nen. Jetzt sind Erfindergeist und deutsche Ingenieurs-
kunst gefragt; die Konzepte liegen vor.
Die Automobilindustrie dürfte aus ihren Erfahrungen ge-
lernt haben: Sie ließ die Zeitspanne, die ihr für die Erfül-
lung der freiwilligen Selbstverpflichtung zur CO2-Min-
derung eingeräumt wurde, ungenutzt verstreichen.
Ich wundere mich, dass den Grünen 700 000 Arbeits-
plätze in der Automobilindustrie und 5 Millionen davon
20692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Katherina Reiche
abhängende Arbeitsplätze bei den Zulieferern scheinbar
egal sind. Das spricht für sich.
Am vergangenen Wochenende haben wir eine gute
Nachricht gehört. Die gute Nachricht war, dass Deutsch-
land mit seiner Klimapolitik auf dem richtigen Weg ist.
Laut Umweltbundesamt hat Deutschland bereits im Jahr
2007 seine Verpflichtungen nach dem Kioto-Protokoll
mit einer Minderung von über 21 Prozent sogar über-
erfüllt. Das heißt, wir halten Wort beim Klimaschutz.
Das ist ein Erfolg, auf den die Unternehmen, die Hand-
werker und die Verbraucher stolz sein können.
Wenn Sie heute unter dem Stichwort „Emissionshan-
del“ googeln, erreichen Sie allein auf deutschen Seiten
ungefähr 500 000 Einträge. Das zeigt, welche Rolle der
Emissionshandel mittlerweile spielt. Dies ist ohne
Zweifel die kostengünstigste Möglichkeit, CO2 einzu-
sparen. Deshalb spielt er im Energie- und Klimapro-
gramm der Europäischen Kommission die zentrale
Rolle.
Damit einher geht eine entscheidende industriepoliti-
sche Weichenstellung für die kommenden Jahrzehnte.
Der Vorschlag der Kommission vom Januar stellt die
deutsche Volkswirtschaft vor enorme Herausforderun-
gen. Deutschland ist der letzte große wirklich bedeu-
tende Industriestandort innerhalb der Europäischen
Union. Ein falsch konzipierter Emissionshandel kann
dazu führen, dass viele Arbeitsplätze in den energie-
intensiven Industrien verloren gehen, weil sie nicht
mehr wettbewerbsfähig sind. Wir wollen das nicht.
Die Produktion würde in Regionen mit weniger Kli-
maschutz abwandern. Das schadet dem Klima, und das
schadet Deutschland. Wir wollen einen gerechten Las-
tenausgleich innerhalb der Europäischen Union. Das
liegt auch im Interesse von Mitgliedstaaten, die mit Eu-
ropas größter Volkswirtschaft eng verflochten sind. Fast
nirgendwo auf der Welt wird so umweltfreundlich und
effizient produziert wie hier in Deutschland.
Dass Deutschland ein Land ist, das beim Klimaschutz
vorangeht, das zeigen die Beispiele der Kioto-Ziele, und
das zeigt auch unser Integriertes Klima- und Energiepro-
gramm, das wir im Sommer dieses Jahres verabschiedet
haben. Wir sind mit unserer Selbstverpflichtung, unse-
ren CO2-Ausstoß gegenüber dem Basisjahr 1990 um
40 Prozent zu senken, gegenüber anderen Staaten in Vor-
leistung gegangen. Man kann aber nicht verlangen, dass
der gesamte Wirtschaftsstandort aufs Spiel gesetzt wird.
Im Gegensatz zu vielen anderen EU-Staaten haben
wir an unseren Industrien festgehalten. Die Unterneh-
men sind aus dem schmerzhaften Anpassungsprozess an
die Globalisierung gestärkt hervorgegangen. Innovatio-
nen haben sich gelohnt.
Aber nicht wenige Branchen wie die Stahlindustrie,
die Karbidindustrie und Raffinerien sind bezüglich des
CO2-Ausstoßes am physikalischen Limit angelangt. Es
geht technisch nichts mehr, und es geht physikalisch
nichts mehr. Das kann man zwar herbeireden, es macht
die Sache aber nicht besser.
Deshalb wollen wir, dass die zahlreichen energie-
intensiven Unternehmen weitgehend vom Emissions-
handel befreit werden. Man muss über die Details und
Abgrenzungskriterien sprechen.
Nach dem Willen der Kommission soll auch der Ener-
giesektor ab dem Jahr 2013 seine Emissionsrechte zu
100 Prozent ersteigern. Hinter diesem kurzen Satz ste-
cken weitreichende Folgen. Wir sind ein Land mit einem
hohen Kohleanteil bei der Stromerzeugung.
Wenn man weiß, dass wir bei den erneuerbaren Ener-
gien zwar schnell vorankommen, dass wir sehr viel
schneller unsere Ziele erreichen, wenn man weiß, dass
wir offensichtlich nicht nur der Kohle richtig Druck ma-
chen, sondern auch aus der Kernenergie aussteigen wol-
len – bestimmt nicht wir, aber viele in diesem Hause –,
dann muss man ganz klar sagen, was das zur Folge hat.
Zunächst einmal hat das mehr Gasimporte zur Folge.
Allein Russland, Iran und Katar verfügen über
55 Prozent der weltweiten Gasreserven. Auch die Ten-
denzen, eine Art Gas-OPEC zu bilden, nehmen immer
konkretere Formen an. Das sind die Nachteile des relativ
klimafreundlichen Energieträgers Gas.
Die Energiewirtschaft in Deutschland hat durch die
kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten in den
vergangenen Jahren Milliarden Gewinne eingefahren. Es
ist auch unser Ziel, diese Windfall-Profits wieder abzu-
schöpfen. Es ist aber auch unser Ziel, dass wir alte Kraft-
werke durch neue ersetzen. Es ist dringend geboten, den
Kraftwerkspark in Deutschland zu erneuern. Kraft-
werksneubauten sind dringend geboten. Also braucht es
hierfür Anreize.
Die EU-Kommission plant, Teile der Erlöse aus der
Zertifikateversteigerung an andere Mitgliedstaaten zu
verteilen. Auch hier muss man noch einmal ganz deut-
lich fragen, ob das so sein kann. Wir finden, dass die Er-
löse nach Deutschland fließen müssen, und zwar zu den
Verbrauchern, in Forschung und Entwicklung und in die
Erfüllung der Klimaschutzziele. Auch Klimaschutz-
maßnahmen außerhalb der Europäischen Union
müssen ab 2013 weiter auf europäische Minderungsver-
pflichtungen anrechenbar sein. CDM und JI müssen wei-
ter möglich sein. Den Vorschlägen der Kommission,
diese Instrumente ganz stark einzuschränken, widerspre-
chen wir. Sie führen im Umkehrschluss nämlich zu wei-
teren Erhöhungen von Strom- und CO2-Preisen.
Es gibt in der Europäischen Union Mitgliedstaaten,
die ihre Klimaverpflichtungen, ihre Kioto-Ziele nicht
besonders ernst nehmen. Auch hier muss man Druck
machen. Es kann nicht sein, dass einige wenige Länder
die Vorreiterrolle einnehmen. Anderen europäischen
Ländern darf hier kein Dispens erteilt werden.
Last, but not least muss, damit wir auch in Zukunft
Braunkohle und Steinkohle klimaverträglich nutzen kön-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20693
(C)
(D)
Katherina Reiche
nen, sowohl europäisch als auch national die Gesetzge-
bung hinsichtlich CCS vorangetrieben werden. Wir
wollen, dass Kohlekraftwerke mit Speicher- und Ab-
scheidungsmöglichkeiten von CO2 in Deutschland zu-
mindest erprobt werden. Wir wollen diesen Weg gern
gehen. Aber dazu brauchen wir sowohl in der Europäi-
schen Union als auch national eine klare Gesetzgebung.
Frau Bundeskanzlerin, Sie stehen auf dem Europäi-
schen Rat in der nächsten Woche wie gewohnt vor gro-
ßen Herausforderungen und vor sehr schwierigen Ver-
handlungen. Wir haben in der Vergangenheit erlebt, dass
Sie diese immer gemeistert haben. Wir wünschen Ihnen
auch diesmal eine glückliche Hand und viel Erfolg.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Merkel, ich stimme Ihnen ja zu: Klimakrise, Finanz-
marktkrise, Rohstoffkrise – all das wird sich nur gemein-
sam mit einem handlungsfähigen Europa lösen lassen.
Aber was machen Sie hier als Erstes in Ihrer Regierungs-
erklärung? Sie beschweren sich darüber, dass Sie Pro-
bleme mit der Notifizierung Ihres Bankensicherungs-
konzepts bei der Kommission haben. Ich sage Ihnen:
Diese Probleme sind hausgemacht. Sie sind nicht bei der
Kommission abzuladen.
Dass Sie heute vor einem Wettbewerbsproblem ste-
hen, hat eine einfache Ursache. Sie haben in dieser Frage
nicht auf Friedrich Merz gehört. Er hat Ihnen auf dem
Parteitag gesagt: Es geht nicht, dass sich die Banken sel-
ber aussuchen, wer unter den Schutzschirm geht. Hier
bedarf es – ich zitiere Friedrich Merz – des gesetzlichen
Zwanges. Genau das wäre richtig gewesen. Weil Sie das
falsch gemacht haben, haben Sie jetzt Probleme in der
Europäischen Union.
Sie werden sich wundern, dass ich Herrn Merz zitiere.
Er hat natürlich nur in dem einen Fall recht. Selbstver-
ständlich haben er und auch Sie, lieber Herr
Westerwelle, unrecht, wenn Sie sagen, dass man in die-
ser Situation etwas durch Steuersenkungen erreichen
könnte. Was würde denn passieren, wenn man die Ein-
kommensteuer jetzt senken würde? Sie würden sich
doch nicht noch eine schwarz-gelbe Krawatte kaufen;
und selbst wenn doch, würde uns das nicht aus der Wirt-
schaftskrise herausführen, Herr Westerwelle.
– Schön ist sie. – Das würde uns aber wirtschaftspoli-
tisch nicht weiterhelfen. Sie würden von dem zusätzli-
chen Geld wahrscheinlich Pfandbriefe kaufen bzw. es
entsprechend anlegen.
Was hieße das? Die Sparquote würde weiter nach oben
gehen. Das wäre konjunkturpolitisch kontraproduktiv
und sozial ungerecht. Deswegen ist es falsch, Steuersen-
kungen zu fordern.
Aber es lohnt, sich gelegentlich anzusehen, was die
Kommission in ihrem Paket gefordert hat. Sie hat nicht
allgemeine Steuersenkungen gefordert, sondern sie hat
erhöhte Transferzahlungen an Arbeitslose und Haushalte
mit niedrigen Einkommen gefordert. Sie hat niedrigere
Sozialabgaben gefordert. Frau Bundeskanzlerin, ich
frage Sie: Wo bleibt denn die angemessene Erhöhung
des Arbeitslosengeldes II? Das wäre vernünftig und so-
zial gerecht; übrigens auch aus europäischer Perspek-
tive.
Wie steht es um die Einführung eines Mindestlohns
wie in Großbritannien, in den Niederlanden und in
Frankreich? Stattdessen können wir heute Morgen in den
Zeitungen lesen, dass die Zahl der Aufstocker in
Deutschland um rund 40 Prozent gestiegen ist. Das ist
ein Skandal. Das zeigt, dass Sie immer noch nicht be-
griffen haben, was man in einer Abschwungphase wirt-
schaftspolitisch tun muss: Man muss die Kaufkraft der-
jenigen stärken, die wenig haben, und darf nicht einfach
nur abwarten.
Ein anderes Gegenbeispiel zu der Forderung nach
Steuersenkungen: Fast ein Drittel der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in diesem Lande zahlt keine oder kaum
Einkommensteuer, aber es werden ab dem ersten Euro,
der für ihre Beschäftigung ausgegeben wird, 40 Cent
Sozialversicherungsbeiträge fällig. Das schmälert das
Netto vom Brutto, lieber Herr Westerwelle, und zwar in
einem Ausmaß, wie Sie es sich bei der von Ihnen beklag-
ten sogenannten kalten Progression überhaupt nicht vor-
stellen können. Deswegen sage ich: Es ist höchste Zeit,
im Interesse der Bezieher kleiner Einkommen eine Pro-
gression bei den Sozialversicherungsbeiträgen einzufüh-
ren und endlich dafür zu sorgen, dass diese Menschen
mehr Netto vom Brutto behalten können. Das würde in
dieser wirtschaftlich schwierigen Situation helfen.
20694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Jürgen Trittin
Was wir in der gegenwärtigen Situation einer sich ab-
zeichnenden Rezession brauchen, sind massive Investi-
tionen in soziale Gerechtigkeit und ökologische Erneue-
rung; wir nennen das einen „Green New Deal“.
Dazu sagt Frau Merkel: Selbstverständlich
– seien Sie doch ruhig, wenn ich die Kanzlerin zitiere;
das sollte Sie eigentlich freuen –, wir stehen zu unseren
Klimaschutzzielen. Sehen wir uns einmal an, was in letz-
ter Zeit passiert ist: Aus der Vorreiterrolle beim Klima-
schutz, die Deutschland unter Klaus Töpfer innehatte,
ist heute eine Bremserrolle geworden.
Im Jahre 1998 haben Sie, Frau Merkel, als Bun-
desumweltministerin mit Herrn Piëch eine Vereinbarung
getroffen. Diese Vereinbarung lautete: Die deutsche Au-
toindustrie sorgt dafür, dass die Fahrzeuge bis zum
Jahre 2008 im Durchschnitt nur noch 140 Gramm CO2
pro Kilometer ausstoßen. Im Jahre 2008 hat die deutsche
Autoindustrie einen durchschnittlichen CO2-Ausstoß
von 170 Gramm pro Kilometer erreicht. Der europäische
Durchschnitt hingegen liegt bei 160 Gramm CO2-Aus-
stoß pro Kilometer.
In Anbetracht dessen hat die Kommission gesagt: Das
Versprechen, diese Werte bis 2008 zu erreichen, das man
Frau Merkel gegeben hat, wurde nicht eingehalten.
Wenn die Autoindustrie auch das Versprechen bezüglich
der Werte, die sie bis 2012 erreichen will, das Sie Frau
Merkel nun gegeben hat, nicht einhält, dann müssen
Sanktionen verhängt werden. Wie dankt Frau Merkel der
Kommission, dass sie sich dafür einsetzt, dass ihre
Worte ernst genommen werden? Sie tut alles, um genau
dies zu verhindern.
Sie hat alles getan, um die Selbstverpflichtung der
Automobilindustrie an dieser Stelle zu unterlaufen.
Ich habe mir einmal angesehen, was bei den Verhand-
lungen über das Maßnahmenpaket herausgekommen ist.
Ich greife jetzt bewusst nicht auf die Zahlen von Green-
peace zurück, sondern, liebe Frau Reiche, auf die Zahlen
der holländischen Regierung; dort regiert eine ähnliche
Koalition wie hier. Die holländische Regierung hat aus-
gerechnet, was das Maßnahmenpaket, das in der Nacht
auf Montag verabschiedet worden ist, in Wirklichkeit
bringt. Die Maßnahmen dieses Pakets bedeuten zusam-
mengenommen, dass sich die Autoindustrie bis 2012 ei-
nen CO2-Ausstoß von 160 Gramm pro Kilometer erlau-
ben darf, ohne dass eine Sanktion erfolgt. Verfolgt man
den vereinbarten Pfad weiter, so landet man erst im
Jahre 2015 bei einem CO2-Ausstoß von 140 Gramm pro
Kilometer. Liebe Frau Reiche, das ist genau der Wert,
den die Autoindustrie schon im Jahre 2008 zu erreichen
versprochen hatte. Das ist kein Klimaschutz. Das ist
schlicht und ergreifend ein Skandal. Das ist auch kein
Kompromiss. Das, was Sie hier vereinbart haben, ist ein
Kotau.
Ich setze meine Aufzählung fort. Schauen wir uns an,
was beim Emissionshandel geschieht. Liebe Frau
Merkel, ich will gerne konzedieren, dass Sie nicht ganz
so kurzsichtig sind wie Herr Rüttgers aus Nordrhein-
Westfalen, der ja glaubt, es sei eine Konjunkturmaß-
nahme, Kohlekraftwerke zu bauen. Dazu kann ich nur
sagen: Auch in Nordrhein-Westfalen braucht man vom
Bauantrag bis zur Realisierung fünf Jahre. Das, was Herr
Rüttgers vorschlägt, bedeutet also mit anderen Worten:
In fünf Jahren kümmern wir uns dann um die Rezession.
Sind Sie aber wirklich so viel klüger als Herr
Rüttgers? Schauen wir uns einmal die Position Deutsch-
lands im Hinblick auf den Emissionshandel an. Sie wol-
len, dass 90 Prozent der Industrie außerhalb der Stromer-
zeugung von der Versteigerung der Emissionszertifikate
ausgenommen werden. Das ist unklug, weil nur die Be-
reiche getroffen werden, die keinem internationalen
Wettbewerb ausgesetzt sind. Es ist aber auch unklug,
weil Sie damit ausschließlich die Rohstoffintensität zum
Maßstab machen und nicht mehr die Wettbewerbsfähig-
keit. Im Ergebnis heißt das nämlich, dass Sie kein Geld
zur Verfügung haben werden, mit dem Sie wirklich hel-
fen könnten, wettbewerbsverzerrende Zusatzkosten für
bestimmte Industriezweige aufzufangen.
Was heißt das zusätzlich? Wenn Sie tatsächlich die
gesamte Industrie in Europa außerhalb der Stromerzeu-
gung vom Emissionshandelssystem samt Versteigerung
ausnehmen, dann ist das ein Anschlag auf den internatio-
nalen Klimaschutz. Ich will Ihnen auch gerne erläutern,
warum.
In den USA wird gerade darüber debattiert, ob man
dort ein Emissionshandelssystem einführt. Was werden
denn die amerikanischen Lobbyisten sagen, wenn sie se-
hen, dass in Europa die gesamte Industrie in Sachen Kli-
maschutz nichts tun muss?
Sie werden sagen: Dann unsere Industrie auch nicht!
Jetzt komme ich aber zum nächsten Schritt. Wir alle
wissen, dass es ein Klimaabkommen nur zusammen mit
den USA, mit Indien und China geben wird. Was glau-
ben Sie denn, wie gut Ihre Verhandlungsposition ist,
liebe Frau Merkel, wenn Sie Indien und China erklären
wollen, diese brauchten sektorale Ziele für ihre Stahlin-
dustrie, aber die eigene Stahlindustrie werde vom Kli-
maschutz komplett ausgenommen? Das wird nicht funk-
tionieren. Deswegen haben Sie hier gerade einen
Anschlag auf den internationalen Klimaschutz vor. Das
ist kein Schritt nach vorne.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20695
(C)
(D)
Jürgen Trittin
– Wo ich gerade das Wort „Schwachsinn“ aus dem Pu-
blikum höre, will ich das gerne aufnehmen.
– Ich habe Sie nicht gemeint, Herr Westerwelle.
– Das war weiter hinten. Entschuldigen Sie, ich weiß,
dass Sie ein Mensch gepflegter Umgangsformen sind.
– Gut, dann war es aus dem Plenum, lieber Herr Kauder.
Damit komme ich zu den Baden-Württembergern. Frau
Merkel, Sie haben von Herrn Oettinger auf dem CDU-
Parteitag einen Fischertechnik-Baukasten bekommen,
mit dem man mithilfe von Windrädern, Biomasse und
Fotovoltaik Energie erzeugen kann. Das zeigt in ganz
zugespitzter Form die energiepolitische Kompetenz der
Union. Ich stelle mir diese so vor: Da sitzt spätabends
der Günther Oettinger im Lichte der Grundlast von
Neckarwestheim
und bastelt ein Modellwindrad, während er tagsüber alle
Windparks in Baden-Württemberg mit bürokrati-
schen Auflagen verhindert und nichts anderes zu tun hat,
als von morgens bis abends eine Laufzeitverlängerung
für Atomkraftwerke zur Vermehrung des Atommülls
zu fordern. Das ist kein Klimaschutz. Das ist keine Be-
wahrung der Schöpfung. Das ist einfach Bigotterie.
Wenn Sie in dieser schwierigen Situation etwas ma-
chen wollen, dann müssen Sie investieren. Ich frage Sie:
Wo bleibt eigentlich der 3-Milliarden-Euro-Effizienz-
fonds für unsere Industrien, damit sie tatsächlich wettbe-
werbsfähiger werden? Wo bleibt die 1 Milliarde Euro
zusätzlich – ich betone: zusätzlich – für die Gebäude-
sanierung? Das hilft nicht nur den Handwerkern. Das
hilft auch und gerade BASF, die jetzt 20 Produktions-
standorte stilllegen müssen; denn sie profitieren von ei-
nem solchen Programm. Wo bleiben die 750 Millionen
Euro für neue Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, die
uns tatsächlich von den von Ihnen angesprochenen Gas-
importen, liebe Frau Reiche, unabhängiger machen und
gerade auch dem Mittelstand an dieser Stelle Beschäfti-
gung bringen würden?
An all diesen Punkten tun Sie nichts. Sie verweigern
sich vernünftigen Investitionen in diesem Bereich. Statt-
dessen schmeißen Sie dem Porschefahrer 500 Euro Kfz-
Steuern hinterher. Nein, Frau Merkel, Sie schwimmen in
dieser Frage nicht gegen den Strom. Schlimmer: Sie ha-
ben sich darauf beschränkt, sich auf den Beifahrersitz
von Herrn Wiedeking zu setzen.
Das ist keine Klimapolitik. Das ist auch keine Wettbe-
werbspolitik. Das ist in einer solchen Krise schlicht und
ergreifend unverantwortlich.
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in der bisherigen Debatte überwiegend gehört,
was an wichtigen Sachthemen ansteht. Wir müssen hier
aber auch über das reden, was institutionell ansteht, da-
mit die Europäische Union überhaupt in der Lage ist,
diese Sachfragen auch im 21. Jahrhundert zu lösen. Des-
halb, liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Herr Bundes-
außenminister,
bitte ich Sie, bei dem Gipfel einfach Fragen zu stellen.
Fragen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen:
Haben wir uns vor zehn Jahren gemeinsam auf den
Weg gemacht, diese Europäische Union für das 21. Jahr-
hundert handlungsfähig zu machen?
Haben wir einen Konvent ins Leben gerufen, auf dem
wir eine öffentliche Debatte, getragen von den Parla-
mentariern, verbunden mit Lösungen, in Gang gesetzt
haben, die wichtige Ergebnisse gezeigt hat?
Haben die Organisationen der Zivilgesellschaft insge-
samt 1 200 Vorschläge für das künftige gemeinsame Eu-
ropa gemacht?
Haben wir in der deutschen Ratspräsidentschaft eine
Erklärung abgegeben, die lautet: „Wir werden diesen
Weg gemeinsam beibehalten, um zu Lösungen zu kom-
men“?
Hat in vier Referenden innerhalb der Europäischen
Union die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für eine
entsprechende Verfasstheit und nur die Minderheit gegen
eine solche Verfasstheit gestimmt?
Haben wir mittlerweile in insgesamt 54 Regierungs-
entscheidungen und insgesamt 84 Ratifizierungen in
Parlamenten ein Ja für diesen neuen Vertrag bekommen?
Haben die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Mehrheit,
und zwar in allen 27 Mitgliedstaaten ebenso wie in den
Staaten, die beitreten wollen, eine positive Erwartung an
die Europäische Union?
20696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Axel Schäfer
Haben wir jetzt zum ersten Mal die Chance, dass die
Bürgerinnen und Bürger auch im Rahmen von direkter
Demokratie in Europa mitentscheiden können? Auf
diese Fragen, liebe Frau Bundeskanzlerin, müssen wir
und müssen auch Ihre Kolleginnen und Kollegen jedes
Mal mit Ja antworten: Ja, wir haben uns dazu verpflich-
tet. „Verpflichtung“ heißt, dass wir daraus auch die Kon-
sequenzen ziehen müssen; denn Glaubwürdigkeit
macht ja aus, dass, nachdem man etwas vereinbart hat,
jeder in seiner Verantwortung und jeder in seinem Land
auch so handelt. Darum wird es bei diesem Gipfel gehen.
Wenn diese Frage am 11. und 12. Dezember ansteht,
dann müssen wir auch ein Stückchen die K-Fragen be-
antworten, die da lauten: Werden die Präsidenten, die die
Verträge inklusive der Verfassung selbst mit ausgearbei-
tet haben, zu ihrer Verpflichtung stehen – dabei geht es
nicht nur um Politik; das ist auch eine Frage von Moral
und Anstand – und, nachdem die parlamentarische Rati-
fizierung gelungen ist, in ihrem Land alles tun, um die-
sen Prozess auch abzuschließen? Ich nenne hier bewusst
die Herren Klaus und Kaczynski. Das Verhalten, das
sie angekündigt haben, ist sowohl aus europäischer Sicht
wie aus der Sicht der Parlamentarier in ihren Staaten, in
Tschechien und in Polen, nicht akzeptabel, und das soll-
ten wir hier auch deutlich benennen.
Ich sage weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir
als Parlamentarier haben kein Anrecht darauf, uns dazu
zu äußern, was das Bundesverfassungsgericht ent-
scheiden möge; aber wir als Verfassungsorgan haben ei-
nen Anspruch darauf, dass das Bundesverfassungsge-
richt entscheidet. Ich sage sehr vorsichtig, bei allem
notwendigen Respekt vor Karlsruhe: Wir erwarten, dass
es zu einer Entscheidung über die Klagen kommt, dass
wir als Bundestag bald die Möglichkeit haben, uns zu
äußern. Es kann nicht sein, dass wir in eine Spielsitua-
tion wie bei Maastricht kommen: Auf der einen Seite
sagt man, wie in Tschechien und in Polen: „Wir warten
ab, bis die Ratifizierung abgeschlossen ist“, und auf der
anderen Seite sagt man: „Wieso sollen wir in Karlsruhe
verhandeln, bevor es nicht in allen Staaten zu einem Ja
gekommen ist“? In diese Situation dürfen wir in
Deutschland nicht geraten.
Weil es um die Verantwortung jedes einzelnen Lan-
des, damit auch jeder Politikerin und jedes Politikers
geht, sage ich ferner: Verantwortung muss wahrgenom-
men werden.
Das heißt auch für Irland: Mut statt Kleinmut.
Wir haben zu Recht erwartet, dass die Staats- und
Regierungschefs von Ländern, die sich der Europäi-
schen Union nähern wollen – ich nenne das Beispiel
Serbien – und von denen wir, damit sie europafähig
werden, fordern, dass sie sich verändern und demokra-
tisieren, ihren Kopf auf den Richtblock legen mit der
Botschaft: Stimmt für Europa, oder wir als politisch
Verantwortliche scheitern! Das ist eine verdammt
ernste Sache. Für dieses Europa ist ein wundervoller
Regierungschef – Herr Djindjic – gestorben, weil die
Nationalisten das so nicht wollten. Jetzt gibt es einen
ebenso wunderbaren Staatschef, der sein Amt damit ver-
bunden hat, dass es weiter in Richtung Stabilitäts- und
Assoziationspakt geht.
Wir sollten deshalb die irische Regierung bitten,
dass auch dort bei der anstehenden Entscheidung klarge-
macht wird, dass es nicht mehr bloß um die Frage Ja
oder Nein oder um die eigenen nationalen Interessen
geht. Diese müssen natürlich gewahrt bleiben, und so
wäre es gut, wenn es dort zu einer Erklärung kommt, die
bei den Themen Verteidigungsbündnis, Abtreibung und
Steuererhöhung Klarheit schafft. Das alles ist in Ord-
nung, was Europa anbelangt. Aber letztendlich geht es
dort um folgende Frage: Können wir Iren uns so, wie wir
es zugesagt haben und wie es auch die Mehrheit unserer
Parlamentarier gewollt hat, an diesem gemeinsamen Eu-
ropa des 21. Jahrhunderts beteiligen, oder lassen wir die-
ses gemeinsame Europa des 21. Jahrhunderts scheitern?
Ich sage deshalb in vollem Respekt vor der nationalen
Souveränität: Die Entscheidung, die mit dem Referen-
dum 2009 in Irland ansteht, muss eine Entscheidung mit
Konsequenzen sein.
In Anlehnung an das, was der britische Premier
Harold Wilson in einer vergleichbaren dramatischen Si-
tuation für sein Land und seine gespaltene eigene Partei
gemacht hat, bitte ich deshalb den irischen Präsidenten
sehr eindringlich: Lassen Sie darüber abstimmen, ob der
Lissabon-Vertrag mit dem ratifiziert werden soll, was
noch an zusätzlichen Erklärungen nötig ist, aber verwei-
sen Sie zugleich auch auf die Konsequenz zu einem Nein
zu Lissabon, nämlich Austritt aus der Europäischen
Union. Es gibt zu der Fragestellung und den Konsequen-
zen keine Alternative mehr.
Würde diese Konsequenz nicht einbezogen, hieße das,
142 parlamentarische Entscheidungen in 27 Mitglied-
staaten würden durch ein einziges Votum zunichte ge-
macht. Alle Debatten, die gesamte Arbeit, alle gemein-
samen Anstrengungen von zehn Jahren wären für die
Katz. Das können wir uns nicht erlauben. Die Ge-
schichte wartet nicht.
Wir brauchen ein handlungsfähiges Europa für das
21. Jahrhundert. Deshalb brauchen wir einen gemeinsa-
men Erfolg auf dem Gipfel, und wir brauchen auch einen
Erfolg bei dem Referendum in Irland.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Dr. Daniel Volk.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20697
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Europas Wirtschaft gerät zunehmend in Turbulen-
zen. Unser Haus Europa ist selbst ein Opfer der Finanz-
krise geworden. Aber es gibt auch Hoffnung und
Zuversicht der Europäer in der Krise.
Zum einen hat die Europäische Zentralbank in ei-
nem kritischen Moment verantwortungsvoll gehandelt.
Sie hat Augenmaß und Besonnenheit gezeigt und die
Zinsen im richtigen Moment gesenkt. Der Euro hat sich
in der Krise als Stabilitätsanker bewährt. Ohne die ge-
meinsame europäische Währung hätte die Finanzkrise
schnell zu einer Währungskrise werden können. Kein
EU-Mitgliedstaat wäre in der Lage, die Krise alleine
wirksam zu meistern.
Die Europäische Union hat in der Krise erheblich an
Popularität gewonnen. Selbst in Irland. Nutzen wir diese
Chance, um endlich den dringend benötigten Lissabon-
Vertrag umzusetzen.
Zum anderen hat die Europäische Kommission zur
Bewältigung der Krise einen Werkzeugkasten zusam-
mengestellt. Es ist ein Mix aus koordinierten nationalen
und europäischen Maßnahmen, die kurzfristig Arbeits-
plätze und Wettbewerbsfähigkeit sichern sollen. Die
Kommission – sonst zu Recht Befürworterin niedriger
Staatsdefizite – plädiert für Steuersenkungen, um den
Konsum zu stützen. Bei einer Steuerentlastung mag es
um riesige Summen gehen. Doch eine tiefe Rezession
wäre für den Staat wesentlich teurer: Wenn das Wirt-
schaftswachstum einbricht, sinken die Steuereinnahmen
überproportional.
Was aber macht die Bundesregierung? In einem muti-
gen Schritt veranlasst sie, dass die Steuervorschläge von
der Tagesordnung des Europäischen Rates genommen
werden.
„Madame No“ nannte der Spiegel diese Woche Sie, Frau
Bundeskanzlerin, und traf damit den Nagel auf den
Kopf; denn seit vorgestern darf über Steuersenkungen
nicht einmal mehr diskutiert werden!
Da Weihnachten näher rückt, darf auch ich einmal ei-
nen Wunsch äußern. Ich wünsche mir, dass Sie tatsächlich
auf ein ordnungspolitisches Gewissen in Ihrer Partei hö-
ren. Keinesfalls darf die Unabhängigkeit der Europäi-
schen Zentralbank angetastet werden. Hände weg von
Protektionismus, von Abschottungspolitik oder Subven-
tionswettlauf zwischen den EU-Staaten.
Am Stabilitätspakt und an den Maastricht-Kriterien
muss festgehalten werden. Hören Sie auch auf ein ord-
nungspolitisches Gewissen, das Ihnen ein rettendes Kon-
junkturpaket zimmert. Bei aller Kontroverse – fangen
Sie damit bitte sofort an! Denn in erster Linie muss ein
Konjunkturpaket schnell wirken. Deshalb ist es höchst
gefährlich, was diese Bundesregierung gerade macht.
Sie reden davon, dass frühestens in einem Jahr eine
große Steuerreform mit echten Entlastungen für Bürger
und Unternehmen möglich sei. Es ist verantwortungslos,
die rettende Medizin erst dann zu geben, wenn der Patient
schon ins Koma gefallen ist.
Liebe Kollegen von den Steuererhöhungsparteien:
Kehren Sie jetzt um zur wirtschaftspolitischen Vernunft!
Senken Sie jetzt die Steuern!
Es gibt noch zwei weitere elementare Punkte, die ein
gutes Konjunkturpaket auszeichnen: Es muss zielge-
richtet und groß genug sein, um zu wirken. Ihre Antwort
auf diese ökonomische Tatsache ist der 15-Pünktchen-
Plan, ein Sammelsurium aus kleinen Geldgaben, die sich
kaum zu einem spürbaren Impuls addieren werden. Bei
vielen Einzelpunkten ist zudem nicht einmal abzusehen,
ob sie überhaupt Wirkung zeigen. Hier ein bisschen Ra-
batt beim Autokauf, da minimal verbesserte Abschreibe-
bedingungen, ein bisschen berufsbegleitende Weiterbil-
dung und auch noch etwas für das Klima.
Ich sage Ihnen: Dieses Kleckerprogramm wird weder
das Wachstum anregen noch Arbeitsplätze retten und
schon gar nicht die große Krise verhindern.
Den Unternehmen fehlen bereits jetzt die Aufträge. Des-
halb wollen die Menschen in diesem Land, dass Sie jetzt
nicht schweigen oder sie in die Zukunft vertrösten, son-
dern dass Sie beherzt handeln.
Wenn diese Bundesregierung die Frage, ob sie der
Krise gewachsen ist, eindeutig beantworten will, dann
muss sie jetzt handeln. Frau Bundeskanzlerin, beenden
Sie Ihr Schweigen und beantworten Sie die Frage, wie
Deutschland als führende Exportnation eine führende
Rolle bei der internationalen Krisenbekämpfung spielen
wird. Nur eine ordentliche Koordinierung und Abstim-
mung der nationalen Anstrengungen zwischen den EU-
Partnern kann der richtige Ansatz zur Bewältigung der
Krise sein.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Volk, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen gu-
ten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
20698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wenn es Ihnen auch in Zukunft gelingen sollte, Ihre
Redezeit so punktgenau wie heute auszufüllen, werden
Sie schnell zu einem der seltenen Lieblinge der amtie-
renden Präsidenten werden.
Nun hat das Wort der Kollege Thomas Silberhorn für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind uns darin einig, dass wir zügig reagieren müssen,
um langfristigen volkswirtschaftlichen Schaden durch
die Finanzmarktkrise abzuwenden. Wir sind uns sicher-
lich auch darin einig, dass wir innerhalb der Europäi-
schen Union koordiniert vorgehen müssen. Aber nicht
nur Geschwindigkeit, sondern auch Sorgfalt ist gefragt.
Ich kann mich erinnern, dass sich vor nicht allzu langer
Zeit ganze Fraktionsvorstände in unserem Haus mit nur
einstelligen Millionenbeträgen auseinandergesetzt ha-
ben. Nun schmeißen wir seit einigen Wochen mit drei-
stelligen Milliardenbeträgen nur so um uns. Wir haben
uns als Politiker insoweit gewaltig „verbessert“. Deswe-
gen meine ich, dass nun sehr sorgfältig abgewogen wer-
den muss, wie wir vorgehen wollen. Ich rate dazu, nicht
gewissen Versuchungen der Camouflage durch die Euro-
päische Kommission zu erliegen.
Das EU-Konjunkturpaket wird nicht von der Euro-
päischen Union, sondern zu Recht in erster Linie von
den Mitgliedstaaten getragen. Von den im Paket vorge-
sehenen 200 Milliarden Euro sollen 170 Milliarden Euro
durch die Mitgliedstaaten aufgebracht werden. Es ist
wichtig, zu betonen, dass es nicht auf den Umfang, son-
dern auf die Wirksamkeit der Maßnahmen, die nun
durchgeführt werden sollen, entscheidend ankommt.
Es ist notwendig, dass die Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union die Hauptlast dieses Pakets schultern und
die Freiheit haben, nach ihren eigenen Vorstellungen
vorzugehen.
Denn auch hier geht es um das Prinzip der Subsidiarität.
Die Auswirkungen der Finanzmarktkrise sind in den ein-
zelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union höchst
unterschiedlich. Deswegen müssen auch die Instrumente
unterschiedlich sein, mit denen die einzelnen Mitglied-
staaten auf diese Krise reagieren. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt betreffend die Camouflage der
Kommission: Wir sollten uns allen Versuchen widerset-
zen, nun europäische Vorgaben dafür zu machen, wie
viel Geld für welche Projekte eingesetzt werden soll.
Wir brauchen keine Wirtschaftsregierung der Euro-
päischen Union durch die Hintertür, auch wenn manche
unserer Partner in der Europäischen Union, insbesondere
die Franzosen, sie gerne möchten. Im Gegenteil: Es ist
notwendig, dass wir uns den gesunden Wettbewerb er-
halten. Nur dann können die Mitgliedstaaten ganz unter-
schiedlich reagieren. Es mag sein, dass Maßnahmen, die
in Deutschland weniger wirksam wären, in Frankreich
eine ganz andere Wirksamkeit entfalten, oder umge-
kehrt. Den gesunden Wettstreit um Instrumente und
Ideen sollten wir uns erhalten.
Der dritte Punkt zum Vorgehen der Kommission: Ich
betrachte mit Sorge, dass die Kommission versucht, un-
ter dem Deckmantel des Konjunkturpakets die geltende
Finanzielle Vorausschau erneut aufzubrechen. Wir
brauchen keine Zweckentfremdung der EU-Mittel, keine
EU-Steuern und keine Aufweichung des Verbots, Kre-
dite in der Europäischen Union aufzunehmen. Wir soll-
ten an dem bewährten Finanzsystem festhalten.
Die Kommission ist erst vor kurzem – ich meine: zu
Recht – damit gescheitert, ungenutzte Mittel aus dem
Agrarhaushalt für Nahrungsmittelhilfen umzuwidmen.
Sie hat erneut vorgeschlagen, nicht abgerufene Mittel in
den Jahren 2009 und 2010 – das sind insgesamt 5 Mil-
liarden Euro – für zusätzliche Investitionen aufzuwen-
den. Es wäre richtig, daran festzuhalten, was wir bei dem
Navigationssystem Galileo beschlossen haben, nämlich
nicht erneut die Finanzielle Vorausschau zu ändern. Da-
bei soll es bleiben. Ich sehe mit Interesse, Herr Bundes-
finanzminister, dass sich der Ecofin-Rat offenbar darauf
verständigt hat. Ich hoffe, dass auch der Europäische Rat
diese Linie weiterverfolgen wird. Die Kommission sollte
sich jedenfalls in dieser Krise nicht zum Trittbrettfahrer
machen und einen eigenen Vorteil suchen.
Ich begrüße, dass die Kommission Vorschläge aus der
hochrangigen Gruppe zum Bürokratieabbau unter Lei-
tung von Edmund Stoiber aufgreift. Das sind Maßnah-
men, die Wirksamkeit entfalten können, ohne viel Geld zu
kosten, ohne dass es notwendig wäre, Finanzmittel aufzu-
stocken oder umzuschichten. Nun ist die Zeit, im Rahmen
des Konjunkturpakets die konkreten Maßnahmen anzu-
gehen, die diese hochrangige Gruppe vorgeschlagen hat.
Die Kommission muss jetzt konkret werden, um das Ziel,
bis 2012 die bürokratischen Verwaltungslasten um
25 Prozent zu verringern, zu erreichen.
Wir müssen sehr darauf achten, dass die aktuelle Fi-
nanzmarktkrise nicht zum Vorwand genommen wird, um
bewährte Grundsätze unserer europäischen Politik über
Bord zu werfen. Die Sicherung der Währungsstabilität
bleibt ein wichtiges Anliegen. Wir können doch jetzt
nicht aus kurzfristigem Interesse den Stabilitäts- und
Wachstumspakt so aufschnüren, dass die langfristige
Wirksamkeit der Schuldenregeln infrage gestellt wird.
Wir dürfen diesen Stabilitätspakt nicht aushöhlen, und
wir dürfen die Stabilität des Euro nicht gefährden; denn
die Stabilität der Währung ist der Schutz des kleinen
Mannes in der Krise. Daran müssen wir festhalten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20699
(C)
(D)
Thomas Silberhorn
Ich freue mich, dass in dieser Diskussion mehrfach vor
einem Subventionswettlauf gewarnt worden ist. Ich
glaube, auch das ist wichtig. Es ist Aufgabe der Kom-
mission, den Wettbewerb im Binnenmarkt sicherzustel-
len. Dieser Aufgabe muss die Kommission als Hüterin
der Verträge gerecht werden. Sie darf keinem Wettlauf
der Subventionen Vorschub leisten.
Zum Klima- und Umweltpaket ist heute schon viel
gesagt worden. Ich teile die Einschätzung, dass wir zu
einer gerechten Lastenverteilung kommen müssen und
nicht knallharte wirtschaftliche Interessen unter dem
Vorwand des Klimaschutzes durchgehen lassen dürfen.
Was den Emissionshandel angeht, so macht es keinen
Sinn, dass wir energieintensive Branchen bei uns wett-
bewerbsunfähig machen. Das schützt keine Arbeits-
plätze, und das schützt vor allem auch nicht das Klima,
sondern das dient den nationalen Interessen einiger we-
niger. Deswegen ist es notwendig, dass dieser Emis-
sionshandel so gestaltet wird, dass wir nicht zu einer
Vollauktionierung kommen, sondern dass wir ein Phasing-
in machen, insbesondere für die deutsche Energiewirt-
schaft.
Ich möchte im Zusammenhang mit dem Emissionshan-
del darauf hinweisen, dass die Kommission den Versuch
unternimmt, sich eine eigene Einnahmequelle aus den
Erträgen des Emissionszertifikatehandels zu erschließen,
die keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliegt,
auch nicht einer Kontrolle durch unsere Kolleginnen und
Kollegen im Europäischen Parlament. Es wäre vorzuzie-
hen, wenn die Erträge aus dem Emissionszertifikatehan-
del nicht der Kommission zur Verfügung gestellt wür-
den, sondern an die Mitgliedstaaten zurückflössen.
Wir können uns gerne darauf verständigen, dass Einnah-
men aus dem Emissionshandel auch für Maßnahmen im
Bereich des Klimaschutzes verwendet werden müssen,
aber die Einnahmen sollen an die Mitgliedstaaten zu-
rückfließen. Auch hier warne ich vor einer Camouflage
der Kommission.
Was die CO2-Emissionen bei Neuwagen angeht, so
glaube ich, dass es notwendig ist zu sehen, dass der Be-
darf an Veränderung und Modernisierung in der Auto-
mobilindustrie nicht durch die Finanzkrise verursacht
worden ist, wohl aber durch diese Finanzkrise beschleu-
nigt wird. Aber wir dürfen bei allen Hilfen, die wir ge-
währen, nicht dazu beitragen, dass wir aus den Staatshil-
fen eine dauerhafte Einrichtung für Autohersteller
machen. Ich glaube aber auch, dass es wichtig ist, dass
wir jetzt nicht zu einer einseitigen Benachteiligung von
Herstellern von Premiumautomobilen kommen. Wir alle
wissen, dass der technische Fortschritt in der Automobil-
industrie gerade von den Herstellern ausgeht, die Pre-
miumautomobile produzieren. Deswegen müssen alle,
die ein Interesse an Klimaschutz und an Modernisierung
in diesem Bereich haben, darauf achten, dass sie diese
technologische Führerschaft nicht unterminieren.
Lassen Sie mich einige Worte zum Vertrag von Lis-
sabon sagen. In Irland hat ein Unterausschuss einen Be-
richt vorgelegt, der zu dem Ergebnis kommt, dass nach
der irischen Verfassung ein zweites Referendum möglich
ist. Ob die Iren dieses Vorgehen wählen, müssen sie
selbst entscheiden. Sie werden möglicherweise bei dem
im Dezember anstehenden Europäischen Rat ihre nächs-
ten Schritte darlegen und mit den Partnern der Europäi-
schen Union erörtern. Ich glaube aber auch, dass es not-
wendig ist zu sehen, dass trotz jüngster Umfragen eine
Mehrheit in der irischen Bevölkerung für den Vertrag
von Lissabon keineswegs als gesichert angesehen wer-
den kann.
Deswegen meine ich: Wir müssen sehr ernsthaft fragen,
was man jetzt tun kann, um irische Bedenken aufzugrei-
fen. Es gibt offenbar eine weitverbreitete Sorge, dass
irische Kerninteressen nicht berücksichtigt werden
könnten und sich die Europäische Union darüber hin-
wegsetzen könnte. Ich habe bei meinem Besuch in Irland
vor wenigen Wochen hohe Aufmerksamkeit für meine
Schilderung gefunden, wie wir im Parlament die Rolle
des Deutschen Bundestages und des Bundesrates bei der
Befassung mit europäischen Angelegenheiten gestärkt
haben. Ich glaube, dass das durchaus ein Modell wäre,
das auch in anderen Parlamenten, gerade in Irland, funk-
tionieren könnte. Wenn wir zeigen, dass das nationale
Parlament das Forum ist, wo die Begleitung europäi-
scher Prozesse erfolgt, dass wir damit nationale Interes-
sen auf die europapolitische Agenda setzen können und
diese durch die eigene Regierung in der Europäischen
Union vortragen lassen können, dann kann das insge-
samt die Akzeptanz der europäischen Politik stärken.
Ich möchte etwas zu dem Vorschlag, die Kommis-
sion neu zu ordnen, sagen. Es gibt einen gewaltigen
Drang, dahin zurückzukehren, dass jeder Mitgliedstaat
einen eigenen Kommissar hat. Ich kann dem Vorschlag
einiges abgewinnen, so etwas wie stellvertretende Kom-
missare einzuführen – unsere europäischen Kollegen
sprechen gern von „Juniorkommissaren“; das klingt mir
ein bisschen zu sehr nach Ausbildungsbedürftigkeit –,
die zwar kein eigenes Ressort, aber in der Kommission
ein volles Stimmrecht haben. Das ist ein diskussions-
würdiges Projekt. Ich darf darauf hinweisen, dass so et-
was in der bayerischen Staatsregierung seit vielen Jahr-
zehnten gut funktioniert.
Dort gehören die Staatssekretäre dem Kabinett mit vol-
lem Stimmrecht an. Es gibt also modellhafte Beispiele,
die die Praktikabilität eines solchen Vorschlags belegen.
Wenn diese Diskussion so geführt wird, müssen ge-
rade wir Deutschen uns in Erinnerung rufen, dass wir
einmal zwei Kommissare hatten und schon auf einen
verzichtet haben. Wenn wir also dahin kommen sollten,
dass wieder jeder Mitgliedstaat einen eigenen Kommis-
sar bekommt – wenn auch nicht jeder mit einem eigenen
20700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Thomas Silberhorn
Portfolio –, dann muss das Mindeste, was wir auf den
Tisch legen, sein, dass eine Rotation nur unter den klei-
nen Mitgliedstaaten stattfindet, dass aber die großen
Mitgliedstaaten einen ständigen Kommissar erhalten.
Das sollte unser Anliegen sein.
Auch hier gibt es übrigens ein Modell, das bereits
funktioniert, nämlich bei den Generalanwälten am Euro-
päischen Gerichtshof. Auch dort haben die großen Mit-
gliedstaaten einen permanenten Generalanwalt, und
auch dort findet bei der Vertretung der kleineren Mit-
gliedstaaten eine Rotation statt. Ich weiß wohl, dass man
dazu eine Vertragsänderung brauchte. Wenn eine solche
Diskussion, die auf einen Eingriff in das institutionelle
Gefüge abzielt, geführt wird, dann müssen wir unsere In-
teressen sehr klar auf den Tisch legen.
Lassen Sie mich dazu ein Letztes sagen. Die Diskus-
sion über die Zusammensetzung der Kommission wird
gerade deshalb so heftig geführt, weil die Kommission
die einzige Einrichtung ist, die überhaupt eine Initiative
ergreifen darf. Deswegen wiederhole ich meine Kritik an
diesem Initiativmonopol der Kommission: Dieses Mo-
nopol ist überholt. Wir müssen diese Regelung überar-
beiten. Wir müssen im Ergebnis dahin kommen, dass in
Europa eine Initiative eingebracht werden kann, die par-
lamentarisch, von gewählten Vertretern des Volkes, und
nicht nur von der Exekutive getragen ist. Dass das bisher
nicht so ist, halte ich für einen der Webfehler in der Kon-
struktion der Europäischen Union. Dieser Fehler erklärt
manche Diskussion, manche aktuelle Debatte erst. Wir
müssen die Ursachen bekämpfen und nicht nur an den
Symptomen herumdoktern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Dr. Diether Dehm ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Ver-
pflichtung auf den ,unverfälschten Wettbewerb‘ im
Lissabon-Vertrag stellt insgesamt die Öffentliche Da-
seinsvorsorge, den ,demokratischen und sozialen
Rechtsstaat‘ infrage.“
Das war ein Zitat vom Bundeskongress der Arbeits-
gemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, AfA,
dort so mit großer Mehrheit beschlossen.
Ich zitiere weiter: „Die AfA lehnt den Lissabon-Ver-
trag ab und fordert die Bundestagsabgeordneten der SPD
auf, diesem Vertrag im Bundestag nicht zuzustimmen.“
Das ist Eure Stimme aus den Betrieben, lieber Axel
Schäfer. Dieser Stimme zu folgen, ist besser, als Irland
und andere indirekt mit der Rauswurfdrohung aus der
EU zu erpressen.
Der miserable Lissabon-Vertrag ermutigt den Euro-
päischen Gerichtshof zu solchen Skandalurteilen wie dem
Rüffert-Urteil,
das der niedersächsischen Landesregierung verbietet,
Bauunternehmen Vorzug zu gewähren, die wenigstens
ordentliche Tariflöhne zahlen. Ich verweise auch auf die
unverschämten EuGH-Angriffe auf unser VW-Gesetz,
also auf die Mitbestimmung bei VW, oder – so im
Viking-Urteil geschehen – auf das Streikrecht in Europa.
Darum fürchten Sie jede Volksabstimmung wie der Teu-
fel das Weihwasser. Aber die Europawahl am 7. Juni
wird quasi zur Volksabstimmung gegen den Lissabon-
Vertrag. Die Linke wird die einzige Wahl sein, auch für
die Mitglieder der AfA in der SPD.
Barack Obama klotzt mit 2 Prozent des US-Brutto-
sozialprodukts für Arbeitsplätze und gegen die Finanz-
krise. So etwas dürften Sie beim EU-Stabilitätspakt gar
nicht.
Und so kleckern Sie mit „neu und netto“ 0,25 Prozent
hinterher.
Der oft von der NPD beklatschte Roland Koch sagte
gestern, wir bräuchten keine weiteren Konjunkturan-
strengungen. Koch, der Fachmann für schwarze Koffer,
kennt nur Milliarden für Milliardäre, aber nicht für Mil-
lionen Arbeitnehmer.
Mit dem geltenden EU-Recht könnten Sie nicht ein-
mal verhindern, dass Steuermilliarden für Opel in die
USA abfließen.
Das verbietet Ihnen Art. 56 des EG-Vertrages.
Wir aber wollen ein EU-Recht, mit dem die Folgen
der Krise nicht auf die Leiharbeiter, die Rentner, die Ar-
beiter bei Opel, die Studierenden und unsere Hand-
werksbetriebe abgewälzt werden. Diejenigen sollen
Macht abgeben, die diesen Finanz-Tsunami aufgequol-
len haben: die Spekulationsfondsbesitzer und die Groß-
banken.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20701
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Dr. Diether Dehm
Wir wollen ein neues EU-Recht, das dem Frieden
Vorrang gibt vor Battle Groups und dem Aufrüstungs-
zwang des Lissabon-Vertrags. Die Linke will ein neues
EU-Recht, das dem Klimaschutz Vorrang gibt vor den
Luxusklassen von BMW und Daimler,
wo die Konzernchefs den Umweltmarkt verschlafen ha-
ben.
Sie, Frau Merkel, haben sich vor dem EU-Rat und vor
dem Klimagipfel in Poznań für die Luxuskarossen
durchgesetzt,
ein Pyrrhussieg über das Polareis und die Alpenglet-
scher, ein trauriger Sieg über die Nachgeborenen.
Als Umweltministerin wollten Sie die 120 Gramm
pro Kilometer bis 2005, die Sie jetzt als Kanzlerin ins
Nirwana nach 2015 vertagen. Jetzt, wo es in den USA
ein kleines grünes Licht fürs Klima gibt, schalten Sie die
Ampel auf Schwarz-Rot. Sie sind keine große Europäe-
rin, Frau Merkel. Sie sind eine Kanzlerin der Luxusklas-
sen.
Sie flehen die Deutsche Bank an, die Steuermilliarden
doch gnädigerweise in Anspruch zu nehmen. Aber die
Deutsche Bank gehört seit 1945 eher verstaatlicht, als
mit den Milliarden der Steuerzahler gesalbt und gepu-
dert.
Der gesamte Kreditsektor gehört unter Gemeinnützig-
keit gestellt. Die Sparkassen und Genossenschaftsban-
ken müssen Vorrang haben vor den Universalbanken.
Kredite sollen kreativen unternehmerischen Ideen und
dem Allgemeinwohl dienen. Aber dazu muss das Fi-
nanzkasino radikal geschlossen werden.
Wir wollen ein europäisches Recht, das offen ist für
Vergesellschaftung – so wie unser Grundgesetz in
Art. 15 –, das den Wählerinnen und Wählern die Über-
führung der deutschen Banken in Gemeineigentum er-
laubt und nicht, mit dem Lissabon-Vertrag, verbietet.
Nur ein solches Europa, das rechtlich den „Terror der
Ökonomie“ stoppen darf, wie ihn Viviane Forrester ge-
nannt hat, das den Terror der Deutschen Bank und der
Allianz gegen Arbeitsplätze, Sozialstaat und Frieden
stoppen darf, ein Europa, das sozial, friedlich, ökolo-
gisch und demokratisch „mit dem Herzen gedacht ist“
– um Konstantin Wecker zu zitieren –,
hat – statt Milliardäre zu vergötzen – eine Zukunft in den
Herzen und Köpfen der Millionen in diesem Europa.
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Das Temperament der vorherigen Rede ist
nicht zu toppen; ich mache es ein bisschen ruhiger.
– Vielen Dank. Ich versuche auch, keine Parteitagsrede
zu halten.
Der Abschluss der französischen Ratspräsidentschaft
findet ganz ohne Zweifel unter ganz anderen Rahmenbe-
dingungen statt, als es zumindest zu Beginn absehbar
war. Die Finanz- und beginnende Wirtschaftskrise stellt
die Europäische Union vor mindestens zwei zentrale
Fragestellungen und Herausforderungen, die es anzu-
nehmen und zu bewältigen gilt.
Erstens. Wie kann Europa als gemeinsamer großer
Wirtschaftsraum – darüber ist heute in der Tat schon viel
gesprochen worden – in die Lage versetzt werden, die
notwendigen politischen Instrumente zu entwickeln
– wann sollte Europa dies tun, wenn nicht jetzt – und ge-
meinsam und koordiniert eine aktive, steuernde Wirt-
schafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu betreiben?
Die zweite Herausforderung ist, dass Europa als Vor-
reiter – jedenfalls bisheriger, mit starker deutscher Rolle –
weltweiter Klimaschutzpolitik erkennt, dass ein ambitio-
nierter Klimaschutz nicht Teil eines Weges in die Krise,
sondern Teil eines Weges aus der Krise ist.
Bei Letzterem muss man sich wirklich entscheiden.
Niemand – das ist heute hier mehrfach beschworen wor-
den – will Brüche in unserer industriellen Basis, nicht
bei Stahl, nicht bei Chemie und erst recht nicht beim
Auto. Vor allem die SPD will solche Brüche nicht. Ich
komme aus dem Ruhrgebiet und weiß, wie schwierig die
Situation ist, wenn es Brüche in der industriellen Basis
gibt. Behutsamkeit im Umbau der Grundlagen der Ener-
gieversorgung und der Energienutzung darf aber nicht
mit mangelnder Klarheit in der Zielrichtung und man-
gelnder Konsequenz in den Handlungen verwechselt
werden.
Ich fürchte, dass da die eine oder andere Diskussion zu
führen ist.
Nicholas Stern hat zu Recht darauf verwiesen, dass es
sich beim Klimawandel um das größte Marktversagen
aller Zeiten handelt. Die Folgen der aktuellen Entwick-
lungen der Finanzmärkte werden – bei aller Dramatik –
verschwindend gering sein gegenüber den Wohlstands-
verlusten, die durch den Klimawandel zu erwarten sind.
20702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Frank Schwabe
Jetzt gilt es, einem süßen Gift zu widerstehen: Wenn
man von der Notwendigkeit einer grundlegenden und
umfassenden Klimaschutzpolitik überzeugt ist – das ha-
ben, glaube ich, heute alle hier zum Ausdruck gebracht –,
darf man sich nicht von kurzfristigen, über den Tag nicht
hinausblickenden Lobbyinteressen leiten lassen.
Diese sind oftmals nicht von einer gesamtgesellschaftli-
chen Verantwortung getrieben, weder für Arbeitsplätze
noch für Energieversorgungssicherheit. Vielmehr sind
sie zu oft getrieben von kurzfristigem, rein auf eine
Kurzfristbetriebsökonomie ausgerichtetem Interesse.
Deshalb muss sich Politik ihrer Verantwortung bewusst
sein. Politik, nicht Kurzfristökonomie, kann und muss
gesellschaftliche Rahmenbedingungen für eine zukünf-
tige Energiepolitik durchsetzen.
Das sage ich gar nicht nur mit Blick auf die Begeg-
nungen mit Bangladeschis, Kenianern, Indonesiern,
Menschen aus Sibirien, dem Amazonas-Becken, von
kleinen gerade untergehenden Inseln, die uns bitten, ih-
nen zu helfen, weil unsere Lebensweise ihre gefährdet.
Nein, wir brauchen eine andere Energie- und damit Kli-
maschutzpolitik auch und gerade im eigenen wohlver-
standenen Interesse der Menschen in unserem Land. Wir
müssen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in
die Lage versetzen, sich auch zukünftig noch bezahlbar
von A nach B bewegen und ihre Wohnung heizen zu
können. Wir müssen die Unternehmen in die Lage ver-
setzen, zukünftig energieeffizienter produzieren und am
Weltmarkt die effizientesten Produkte anbieten zu kön-
nen. Das ist die Verantwortung, die wir als Politikerin-
nen und Politiker haben und die uns niemand abnehmen
kann, auch nicht die Wirtschaft. Wir müssen diese Ver-
antwortung wahrnehmen.
Dafür müssen wir jetzt mutig vorangehen. Jetzt ist die
entscheidende Zeit. Was gibt es Vernünftigeres, als ge-
rade jetzt in der Wirtschaftskrise auf Investitionen und
Impulse in neue, zukunftsfähige, innovative und effi-
ziente Produkte zu setzen? Das wird sich doppelt aus-
zahlen.
Entschuldigung, Frau Bundeskanzlerin, wenn ich das
an dieser Stelle sage: Ich teile all das, was heute in dem
beschreibenden Teil zum Klimaschutz gesagt wurde; bei
den konkreten Positionen kam mir das eine oder andere
allerdings doch etwas zu kurz. Ich glaube, dass aus dem
Deutschen Bundestag das klare Signal an die Bundesre-
gierung und den Europäischen Rat gesendet werden
muss, dass wir nicht bereit sind, bei den Klimaschutz-
zielen, die wir uns selber hier im Deutschen Bundestag
und in der Bundesregierung gesetzt haben, Abstriche zu
machen. Ich verweise ausdrücklich auf den Beschluss
– der im Übrigen auf die Koalition zurückgeht – in der
Drucksache 16/9334 des Deutschen Bundestages, in
dem zum Ausdruck kommt, dass wir zu einem ambitio-
nierten Klimaschutz stehen. In diesem Beschluss beken-
nen wir uns als Deutscher Bundestag zu dem 30-Pro-
zent-Ziel. Dieses Ziel ist heute nicht genannt worden.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung es auf europäischer
Ebene weiterhin vertreten wird. Voraussetzung ist natür-
lich, dass in Kopenhagen auch andere Industriestaaten
sich dazu bekennen. Aber ich finde, das 30-Prozent-Ziel
muss um der Klarheit willen immer erwähnt werden;
sonst glauben einige womöglich, dass sie sich dazu nicht
mehr verpflichten müssten.
Wir verpflichten die Bundesregierung – sehr selbstbe-
wusst, wie es dem deutschen Parlament gebührt – nach
Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes insbesondere auf zwei
Positionen zum europäischen Emissionshandel. Da wun-
dert es mich schon, wenn Abgeordnete der Union hier
anderes vertreten, als wir im Deutschen Bundestag
schon beschlossen haben und heute wieder bekräftigen.
Das ist erstens die Durchsetzung einer 100-prozentigen,
also umfassenden Versteigerung im Bereich der
Stromwirtschaft. Das ist beschlossen, und das werden
wir heute wieder beschließen. Es darf keine Lösung ge-
ben, bei der insbesondere für die deutschen Energiever-
sorger Ausnahmen möglich sind. Sollte die Regierung
diese Position nicht durchsetzen können, muss sie – auch
das sage ich hier ausdrücklich – nach Art. 23 den Parla-
mentsvorbehalt geltend machen.
Zweitens geht es in der Tat um die Wettbewerbsfä-
higkeit der heimischen Industrie; das ist gar keine
Frage. Das kann aber eben nicht bedeuten, dass wir Aus-
nahmen für alle Industrien machen.
Es gibt auch Industrien, die nicht im internationalen
Wettbewerb stehen. Für sie muss es einen Einstieg in die
Versteigerung geben.
Die Bundesregierung kann und darf hier also nicht
hinter diese Positionierung zurückfallen. Das würde un-
sere deutsche Rolle als Führungsnation beim internatio-
nalen Klimaschutz zunehmend infrage stellen und dem
Geist, aber auch den Buchstaben des Willens des Deut-
schen Bundestages widersprechen.
Wir erwarten diesbezüglich für die Verhandlungsfüh-
rung in den nächsten Tagen vor allem eine Unterstützung
der Position von Bundesminister Sigmar Gabriel. Achim
Steiner und andere, die das in den letzten Tagen gesagt
haben, haben recht: Der Klimawandel macht wegen der
Finanzkrise keine Pause. – Wir brauchen gerade jetzt
mutige Politikerinnen und Politiker, die ihrer Aufgabe
gerecht werden, Führung ausüben können und Führung
ausüben wollen.
Ich glaube, es ist nicht zu pathetisch, zu sagen: Die
Welt schaut auf uns und baut auf uns. Die Welt baut auf
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20703
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Frank Schwabe
eine starke Bundesregierung, die starke und klare Si-
gnale an die Weltgemeinschaft sendet. Die Welt schaut
auch auf die deutsche Bundeskanzlerin, die in der ent-
scheidenden Phase ihrer wahrhaft historischen Aufgabe
gerecht werden muss.
Der Deutsche Bundestag unterstützt sie dabei, aber er
verpflichtet sie auch mit seiner klaren Haltung für einen
engagierten, ambitionierten und konsequenten Klima-
schutz.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Klaus-Peter Flosbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Europäische Rat wird sich in wenigen Tagen mit der
Sicherheit von Einlagen bei Banken und Sparkassen be-
schäftigen.
Seit 1994 gibt es eine Richtlinie, durch die die Sicher-
heit von Einlagen geregelt wird. Nach den Turbulenzen
an den Finanzmärkten ist es jetzt aber unsere politische
Aufgabe, den Änderungen Rechnung zu tragen und
dementsprechend die Änderungen dieser Richtlinie vor-
zunehmen, damit das Vertrauen in die Finanzmärkte
wieder gestärkt wird.
Hinsichtlich der Banken in Deutschland haben wir si-
cherlich ganz hervorragende Sicherheits- und Schutzein-
richtungen, doch der wichtigste Schritt für die Bürger
war die Erklärung der Bundeskanzlerin, der Bundesre-
gierung und des Bundesfinanzministers, dass die Einla-
gen in Deutschland gesichert sind. Das war der wich-
tigste Schritt in Deutschland, um wieder Vertrauen zu
schaffen.
Seit 1994 gibt es in Deutschland und auch in Europa
eine gesetzliche Einlagensicherung. Durch diese wer-
den den Kunden 90 Prozent ihrer Einlagen auf dem
Konto garantiert. Das bedeutet also einen Schutz der
Guthaben auf den Konten, der Sparbriefe, der Sparbü-
cher und der Termingelder, der sogenannten Festgelder –
allerdings begrenzt auf maximal 20 000 Euro. Das gilt
nicht nur für Private, sondern auch für Gewerbetrei-
bende, für Freiberufler und insbesondere auch für die
mittelständischen Unternehmen.
Jetzt soll die europaweite Sicherung der Einlagen
kurzfristig und schnell auf 50 000 Euro und bis 2011
möglicherweise auf 100 000 Euro angehoben werden.
Das wird 90 Prozent aller Einlagen der Bürger und der
kleinen Unternehmen umfassen. Durch diese Entschei-
dung wird weiteres Vertrauen geschaffen, und sie wird
von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nachdrücklich
unterstützt. Dazu gehört auch, dass der Selbstbehalt des
einzelnen Bürgers von 10 Prozent wegfallen wird.
Der Entwurf der Richtlinie enthielt aber eine nicht ak-
zeptable Bestimmung. Der Schutz sollte auf Privatperso-
nen begrenzt werden. Damit wäre ein großer Teil des
Mittelstandes aus dem Schutzbereich, der mit dieser
Richtlinie verbunden ist, herausgedrängt worden. Der
Mittelstand als tragende Säule wäre schwer beschädigt
worden.
Erst die Beharrlichkeit der Bundesregierung hat dazu
geführt, dass auch die Einlagen von mittelständischen
Betrieben geschützt bleiben. Das ist ein wichtiger Erfolg
für die Unternehmen und die Sicherung der Arbeits-
plätze in Deutschland.
Beachten Sie bitte, dass die gesetzliche Einlagensi-
cherung nur eine Basisabsicherung ist; denn die deut-
schen Kreditinstitute gehen weit über diese Regelungen
hinaus. Jede Säule unseres Bankensystems hat einen ei-
genen, ergänzenden Sicherungsfonds. Der Einlagen-
und Sicherungsfonds des Bundesverbands deutscher
Banken garantiert auch bei Kleinstbanken Einlagen von
bis zu 1,5 Millionen Euro je Anleger. Die Sparkassen so-
wie die Raiffeisenbanken und Volksbanken gehen sogar
noch weiter und garantieren die vollständige Absiche-
rung aller Einlagen ihrer Kunden.
Ist deshalb eine europäische Lösung möglicherweise
überflüssig? Nein, in der europäischen Regelung wird
genau definiert, was mindestens abzusichern ist, wann
der Anspruch festgestellt werden muss und dass nach der
aktuellen Vorlage bereits nach 20 Arbeitstagen für jeden
einzelnen Anleger Entschädigung geleistet werden
muss.
Für die einzelnen Bürger ist es natürlich entschei-
dend, ob ihre Geldanlage bei der Bank gesichert ist oder
verloren gehen kann. Will der Bürger einen höheren Er-
trag erzielen, muss er ein höheres Risiko eingehen. Da
aber die Anbieter von Finanzprodukten einen Wissensvor-
sprung haben, muss der Anleger meines Erachtens jeder-
zeit darüber informiert sein, ob seine Anlage geschützt ist,
ob sie den Schutz einer Sicherungseinrichtung hat. Dann
werden auch keine Papiere gekauft oder verkauft, die für
eine Altersvorsorge überhaupt nicht geeignet sind.
Die Unsicherheit bei den Bürgern ist nach wie vor
sehr groß. Viele haben ihre Guthaben beispielsweise aus
offenen Immobilienfonds, offenen Investmentfonds und
auch aus Geldmarktfonds abgezogen, obwohl diese als
sogenannte Sondervermögen von der Pleite einer Bank
oder Investmentgesellschaft überhaupt nicht betroffen
wären. Hier liegt das Risiko nur innerhalb der Anlage,
innerhalb des Fonds.
Es ist unsere Aufgabe, insgesamt Rahmenbedingun-
gen für einen leistungsfähigen Finanzplatz in Deutsch-
land und Europa zu schaffen. Wer sein Geld sicher anle-
gen will und damit auf höhere Renditen verzichtet, muss
20704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Klaus-Peter Flosbach
sich darauf verlassen können, dass seine Anlage hier ge-
schützt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
rung konnte in den Vorverhandlungen zum Europäischen
Rat zahlreiche Verbesserungen erreichen. Gemeinsam
mit der Einlagensicherung deutscher Banken und Spar-
kassen werden die neuen europäischen Vorschriften den
Schutz der Anleger stärken und das Vertrauen in das fi-
nanzielle Sicherheitsnetz erhalten. Das ist ein wichtiger
Erfolg für die Sparer und Anleger in Deutschland.
Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Markus Meckel für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Kanzlerin hat zu Beginn ihrer Rede von
zwei großen Herausforderungen für die französische
Rede von: Unbekanntinfo_outline
zum einen von der außenpo-
litischen Herausforderung im Georgien-Russland-
Krieg und zum anderen von der Finanzkrise. Ich möchte
an den ersten Punkt anknüpfen und die Fragen der Au-
ßenpolitik, die auf dem Gipfel eine Rolle spielen – auch
wir stehen vor deren Beantwortung –, ansprechen.
Das, was Frankreich im Zusammenhang mit dem
Krieg zwischen Russland und Georgien erreicht hat, war
wichtig. Dies verdanken wir erstens einem entschlosse-
nen Handeln und zweitens einer großen Geschlossen-
heit; das ist angesprochen worden. Dass das bei 27 Staa-
ten mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen nicht einfach
ist, wurde ebenfalls deutlich. Dies zeigt aber auch, dass
wir politischen Willen und Geschlossenheit brauchen,
um das zu tun, was wir auch in Zukunft tun müssen und
was von uns erwartet wird, nämlich Global Player zu
sein. Die Europäische Union hat dies im Sommer dieses
Jahres zwar geschafft; aber sie wird dies auch fortführen
müssen. Dies ist für uns alle eine große Herausforde-
rung.
Natürlich wissen wir, dass der Lissabonner Vertrag
eine entscheidende Rolle spielt, wenn es darum geht, uns
die entsprechenden Instrumente in die Hand zu geben.
Wir alle hoffen sehr, dass im nächsten Jahr die richtigen
Entscheidungen fallen und wir diese Instrumente in die
Hand bekommen. Aber auch dann, wenn uns diese Instru-
mente zur Verfügung stehen, bleibt es bei der zentralen
Frage des politischen Willens und der Geschlossenheit der
Europäischen Union; denn die Herausforderungen, vor
denen wir stehen, sind groß. An allen Brennpunkten der
Welt – so kann man sogar sagen – sind die Erwartungen
an uns Europäer immens – gerade auch nach acht Jahren
Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Bush, nach
der sich manche Erwartungen an Amerika, aber nichts-
destoweniger auch an uns selbst richten.
Ich kann jetzt nicht alle Konfliktfelder aufführen und
werde mich auf ein paar Stichworte beschränken:
Erstens. Im Gefolge des Kaukasuskrieges wird es bei
der im Dezember erneut stattfindenden Genfer Konfe-
renz darauf ankommen, Russland davon zu überzeugen,
dass der von dieser Konferenz gesetzte Rahmen für die
Zukunft notwendig ist, um einerseits einen Rahmen für
die praktischen Fragen zu geben – die Menschen vor Ort
brauchen uns, und die Flüchtlinge müssen versorgt wer-
den; wie das konkrete Management vor Ort aussieht, ha-
ben wir gestern im Ausschuss von Herrn Haber, dem
Leiter der europäischen Mission gehört –, andererseits
aber auch im Hinblick auf die langfristigen Statusfragen.
Wir beharren darauf, dass die territoriale Integrität Geor-
giens gewahrt bleiben muss, und akzeptieren nicht, dass
Russland die beiden abgespalteten Gebiete anerkannt
hat. Für die Zukunft wird es also von zentraler Bedeu-
tung sein, einen langfristigen Rahmen für internationale
Konfliktlösungen zu schaffen.
Zweitens zur Zukunft des Kosovo: Nach dem Brief
des serbischen Präsidenten und der Entscheidung der
Europäischen Kommission kann EULEX endlich star-
ten. Dies ist die größte Mission der Europäischen Union,
bei der zivile Maßnahmen im Mittelpunkt stehen. Ge-
rade in den letzten Tagen haben wir erlebt, dass es eine
zentrale Frage sein wird, inwieweit die internationale
Akzeptanz, aber auch die Akzeptanz vor Ort für EULEX
gewährleistet werden kann. Ich nehme an, nicht allein
davon überzeugt zu sein, dass die Zukunft des Kosovo
vom Gelingen dieser Mission abhängt.
Die Zukunft der Menschen sowohl im Kosovo selbst
als auch in Serbien wird ganz wesentlich davon be-
stimmt sein, dass sie dies erkennen. Für das Kosovo gilt
dies im Hinblick auf den Umgang mit der dortigen serbi-
schen Minderheit, Serbien muss erkennen, dass nicht das
Fehlschlagen dieser Mission, sondern deren Gelingen
hilft, in der gesamten Region Fortschritte zu erzielen.
Dies verbinden wir mit der notwendigen europäischen
Perspektive, die wir eröffnet haben und die wir verstär-
ken müssen. Die Menschen setzen darauf, dass sie als
Europäer anerkannt sind. Es wird darauf ankommen,
dass wir ihnen die Bedingungen dafür schaffen. Natür-
lich müssen sie sich aber auch vor Ort entsprechend ver-
halten. Dies ist eine Herausforderung sowohl für Herrn
Thaçi und seine Regierung als auch für die serbische Re-
gierung, aber auch für uns, die wir diese Mission sowohl
personell als auch im konkreten Verhalten implementie-
ren müssen.
Drittens zur Zusammenarbeit von EU und NATO:
Während des Gipfels wird von Frankreich der Imple-
mentierungsbericht der europäischen Sicherheitsstrate-
gie vorgelegt werden. Wenn die NATO nach ihrem
60. Jahrestag im Frühjahr nächsten Jahres ein neues stra-
tegisches Konzept ausarbeiten wird, muss die Imple-
mentierung des europäischen Sicherheitskonzeptes ge-
meinsam mit dem strategischen Konzept so erfolgen,
dass die Zusammenarbeit von NATO und Europäischer
Union in Zukunft besser gewährleistet ist, als es bis
heute der Fall ist. Diese Frage stellt sich nicht nur Ame-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20705
(C)
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Markus Meckel
rika, sondern insbesondere uns Europäern. Wir müssen
klarmachen, was wir wollen, dass wir zu dem stehen,
was wir wollen, und dafür auch die notwendigen Res-
sourcen bereitstellen. Dieser großen Herausforderung
müssen wir Europäer uns stellen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11176. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke ge-
gen die Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf:
3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für ein einheitliches Rentenrecht in Ost und
West
– Drucksache 16/9482 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Cornelia Behm,
Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rentenwert in Ost und West angleichen
– Drucksache 16/10375 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Karin Binder, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Angleichung des aktuellen Rentenwerts
an den aktuellen Rentenwert
– Drucksachen 16/6734, 16/8443 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
der weiteren Debatte nicht folgen können oder wollen,
ihre Gespräche draußen fortzusetzen, damit wir uns auf
die folgenden Redner konzentrieren können.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle reden über die Rente, aber längst nicht alle wissen,
wie die Rente berechnet wird. Dabei ist das im Prinzip
recht einfach.
Mit den Rentenbeiträgen, die wir zahlen
– hören Sie gut zu, Herr Kollege –, erwerben wir soge-
nannte Entgeltpunkte. Wer in einem Jahr Beiträge auf
der Basis des Durchschnittseinkommens gezahlt hat, be-
kommt einen Entgeltpunkt, wer nur die Hälfte des
Durchschnittseinkommens verdient hat, bekommt einen
halben Entgeltpunkt, und wer das Anderthalbfache des
Durchschnittseinkommens verdient hat, bekommt an-
derthalb Punkte. Am Ende des Erwerbslebens werden
die Entgeltpunkte zusammengerechnet und die Entgelt-
punkte mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert. Das
Ergebnis ist der Rentenzahlbetrag, kurz: die Rente.
So weit, so klar. Der Teufel liegt im Detail – das ist der
Hintergrund unserer heutigen Debatte und des FDP-An-
trages –; denn fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen
Einheit gelten für die Berechnung der Rentenanwartschaf-
ten und der Renten für die 5,1 Millionen sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten und die 4,1 Millionen Rent-
ner in den neuen Ländern noch immer Besonderheiten:
Es gibt eigens Entgeltpunkte Ost, bei deren Berechnung
eine Hochwertung der in den neuen Ländern erzielten
Verdienste erfolgt. Im Gegenzug werden die Entgelt-
punkte Ost mit einem eigenen Rentenwert Ost bewertet.
Immer wieder flammen Diskussionen über tatsächli-
che oder vermeintliche Ungerechtigkeiten auf. Einer-
seits fühlen sich die Versicherten in den neuen Ländern
benachteiligt, da der Rentenwert Ost bei gleicher Ent-
geltpunktzahl und damit auch die Rente in den neuen
Ländern derzeit noch 12,1 Prozent unter den Werten in
den alten Ländern liegt; andererseits führt ein in den
neuen Ländern eingezahlter Rentenbeitrag aufgrund der
Lohnhochwertung trotz des niedrigeren Rentenwertes
Ost im Ergebnis sogar zu einem höheren Rentenan-
spruch als in den alten Ländern, sodass auch die Versi-
cherten in den alten Bundesländern mit der bestehenden
Gesetzeslage alles andere als zufrieden sind.
20706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Dr. Heinrich L. Kolb
Diese Probleme haben sicher auch unsere Kollegin-
nen und Kollegen gesehen, als sie 1990 die Rentenüber-
leitung – sicherlich eine der schwierigsten Materien bei
der Herstellung der deutschen Einheit –,
das heißt, die Überführung der Rentenanwartschaften,
die in der ehemaligen DDR erworben wurden, in das
SGB VI, das Rentenrecht der Bundesrepublik, geregelt
haben, als sie in das Gesetz geschrieben haben, wie die
Rentenbeiträge, die seit der Herstellung der deutschen
Einheit in den neuen Bundesländern gezahlt wurden und
werden, zu behandeln sind. Sie sind davon ausgegangen,
dass das vertretbar sei, weil sie erwarteten, dass sich das
Lohnniveau und damit auch die Rechenwerte der Ren-
tenversicherung in den neuen und den alten Bundeslän-
dern eher früher als später angleichen würde, Unter-
schiede also nur für kurze Zeit bestehen würden.
Diese Erwartungen – das muss man heute sagen – ha-
ben sich so leider nicht erfüllt. Die tatsächliche Entwick-
lung war eine andere als 1990 angenommen.
Es zeigt sich seit einigen Jahren, dass die Vorstellung,
dass sich die Durchschnittseinkommen in den alten und
den neuen Bundesländern innerhalb kurzer Zeit und be-
tragsgenau angleichen, nicht Realität wird. Der Renten-
wert Ost liegt seit 2003 unverändert 12,1 Prozent unter
dem Rentenwert West. Tatsächlich wäre der Rentenwert
Ost in 2007 und 2008 ohne die Schutzklausel des § 255 a
SGB VI sogar weiter hinter den Rentenwert West zu-
rückgefallen.
Die Frage ist nun: Können wir das sehenden Auges
einfach weiterlaufen lassen, oder ist der Gesetzgeber
aufgefordert, zu handeln? Wir meinen, die Versicherten
haben einen berechtigten Anspruch auf einen gerechten
und widerspruchsfreien Rechtsrahmen bei der Berech-
nung ihrer Renten.
Leider haben die Bundeskanzlerin und der Bundesar-
beitsminister angekündigt, dass ein Vorschlag zur Ver-
einheitlichung des Rentenrechts von Regierungsseite in
dieser Legislaturperiode nicht mehr zu erwarten ist.
Vielmehr wurde Ende November von der Bundesregie-
rung mit dem Rentenversicherungsbericht 2008 erst-
mals eine Modellrechnung vorgestellt, nach deren nega-
tiver Variante der Rentenwert Ost überhaupt nicht mehr
aufholt, also eine Angleichung auf Dauer, auf Sicht nicht
stattfindet. Ich meine, das ist unverantwortlich. Wir hal-
ten diese Position für falsch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb haben wir
bereits am 3. Juni dieses Jahres einen Antrag im Deut-
schen Bundestag vorgelegt, mit dem erstmals ein realis-
tischer Weg zur Vereinheitlichung des Rentenrechts in
Deutschland aufgezeigt wird. Wir schlagen vor, dass die
Rechengrößen für die Rentenversicherung – Entgelt-
punkte, Rentenwerte und Beitragsbemessungsgrenze –
in den alten und neuen Bundesländern zum Stichtag
1. Juli 2010 – also fast 20 Jahre nach der deutschen Ein-
heit – in einheitliche Werte überführt werden.
Ab diesem Stichtag passen sich die Renten im Bun-
desgebiet entsprechend der Entwicklung des einheitli-
chen Rentenwertes an. Jeder Euro Rentenbeitrag er-
bringt ab diesem Stichtag im ganzen Bundesgebiet den
gleichen Rentenanspruch. Das wird auch der sich zuneh-
mend ausdifferenzierenden Lohnstruktur in Ost und
West gerecht. Es gibt zunehmend Gebiete in den neuen
Bundesländern, in denen die Durchschnittsverdienste
über denen in ärmeren Regionen der alten Bundesländer
liegen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem aktu-
ellen Gutachten einen solchen Schritt ausdrücklich als
Handlungsoption erwähnt und empfohlen.
Alle zum Stichtag der Umstellung bestehenden Ren-
tenansprüche bzw. Rentenanwartschaften in Ost und
West bleiben bei einer solchen Umstellung in ihrem
Wert erhalten. Bestandsrentner und Beitragszahler in den
neuen Ländern behalten für die bereits erworbenen Ent-
geltpunkte Ost die Vorteile, die ihnen aus der Lohnhoch-
wertung zugewachsen sind.
Ganz wichtig ist, dass der ausstehende künftige Pro-
zess einer Angleichung des Rentenwertes Ost an den
Rentenwert West und die Hoffnung auf damit verbun-
dene Rentensteigerungen in der Zukunft in die Gegen-
wart vorgezogen und in Form einer Einmalzahlung an
alle Versicherten mit Entgeltpunkten Ost ausgezahlt
wird.
Meine Damen und Herren, niemand weiß heute, ob
und wie schnell der Rentenwert Ost künftig noch gegen-
über dem Rentenwert West aufholen wird. Fairerweise
sollte aber für die Berechnung der Einmalzahlung die
positive Prognose des aktuellen Rentenversicherungsbe-
richts zugrunde gelegt werden. Die Höhe der jeweils in-
dividuellen Einmalzahlung orientiert sich an der Zahl
der persönlichen Entgeltpunkte und der weiteren durch-
schnittlichen Lebenserwartung am Stichtag der Umstel-
lung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Lösung hat
mehrere Vorteile. Erstens werden von einer solchen Ein-
malzahlung auch diejenigen älteren Menschen profitie-
ren, die als Rentner oder rentennahe Jahrgänge von der
Rentenüberleitung besonders betroffen sind. Zweitens
bleibt diese Lösung in der mit der Rentenüberleitung ge-
wählten Systematik, dass nämlich die Vorteile, die den
Versicherten mit den erleichtert erworbenen Entgelt-
punkten Ost gewährt werden, an die prognostizierte
Lohnentwicklung in den neuen Ländern gebunden sind.
Drittens wird durch das Vorziehen verhindert, dass im
Regelfall noch auf Jahrzehnte hinaus für erworbene Ent-
geltpunkte Ost das alte Berechnungssystem weiterläuft
und sich die jährlichen Debatten um angebliche oder tat-
sächliche Ungerechtigkeiten des Rentensystems fortset-
zen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20707
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Dr. Heinrich L. Kolb
Schließlich – um auch die Skeptiker unter den Versi-
cherten zu beruhigen und zufriedenzustellen – erhalten
die Versicherten und Bestandsrentner mit Entgeltpunk-
ten Ost bezüglich der Einmalzahlung ein Wahlrecht. Das
heißt, sie können zum Stichtag erklären, ob ihr Renten-
wert auch in der Zukunft nach der geltenden Methode
weiterberechnet werden soll. Ich bin mir sehr sicher,
dass die Versicherten sehr schnell erkennen werden,
welch faires Angebot ihnen hiermit vorgelegt wird, und
regelmäßig von diesem Vorschlag Gebrauch machen
werden.
Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat
hat in seinem aktuellen Gutachten geschrieben:
Fast 20 Jahre nach der Vereinigung sollte eine ren-
tenrechtliche Vereinheitlichung auf die politische
Agenda gesetzt werden. Eine solche Entscheidung
erfordert Mut, denn sie muss unter Unsicherheit
hinsichtlich der einkommensmäßigen Entwicklung
getroffen werden.
Mut ist sicher kein herausstechendes Merkmal dieser
Großen Koalition. Ich meine gleichwohl, wir sollten
diese Aufgabe angehen. Die FDP hat einen guten und in
der Systematik richtigen Vorschlag für die Lösung dieser
Aufgabe vorgelegt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Dieser Debatte liegen
mehrere Anträge zugrunde. Sie alle enthalten die Forde-
rung, die Ostrenten und die Westrenten zusammenzufü-
gen, also ein einheitliches Bewertungs- und Berech-
nungssystem einzuführen. Das Ziel als solches eint uns
in diesem Parlament. Ich glaube, das kann man zu Be-
ginn einer solchen Debatte durchaus sagen; das ist fair.
Den Weg dorthin sehen wir allerdings sehr differenziert.
Es ist, wie ich finde, notwendig – das kann ich uns am
Anfang dieser Debatte nicht ersparen –, sich einige his-
torische Fakten noch einmal zu vergegenwärtigen, damit
man weiß, woher wir kommen. Wohin wir wollen, das
haben wir schon formuliert.
Ein solidarisches, einheitliches, generationengerech-
tes und zukunftsorientiertes Rentensystem für die ver-
einte Bundesrepublik zu schaffen, steht seit langem im
Mittelpunkt vieler Debatten. Dies ist ja nicht die erste
Rentendebatte, die wir in dieser Legislaturperiode füh-
ren. Aus eigenem Erleben weiß ich, dass diese Debatten
– bis auf wenige Ausnahmen von einigen Kollegen – im-
mer sehr verantwortungsvoll, mit Augenmaß und zu-
kunftsorientiert geführt wurden.
Ein Patentrezept hat niemand in der Schublade – auch
dies muss ich am Anfang meiner Rede feststellen –, auch
wenn bestimmte Vorschläge interessante Aspekte enthal-
ten, die wir durchaus in die künftige Diskussion einbin-
den sollten.
Der Anspruch, eine Lösung zu finden, die der Ar-
beitsleistung der Menschen im Osten Deutschlands ge-
recht wird und die soziale Sicherung im Alter garantiert,
wurde als solcher zunächst einmal 1990 erfüllt. Wie war
die Ausgangslage? In der DDR gab es für die breite Be-
völkerung eine Rente aus der Sozialpflichtversicherung,
die sich an einer Beitragsbemessungsgrenze von
600 Mark der DDR orientierte. Das entspricht einem Be-
trag von heute rund 160 Euro. Zum Vergleich: Aktuell
liegt die Bemessungsgrenze im Osten bei 4 500 Euro.
Auch diese Zahlen sind eine Aussage.
Versicherte, deren Einkommen bei über 600 Mark der
DDR lag, hatten die Möglichkeit, in die Freiwillige Ren-
tenzusatzversicherung, die sogenannte FZR, einzutreten.
Viele haben das getan, manche aber nicht. Diejenigen,
die es nicht getan haben, hatten monatlich mehr netto in
der Tasche, wussten aber, dass sie im Alter weniger Ein-
nahmen haben werden.
Neben der SV und der FZR bestanden in der DDR
weitere Versorgungssysteme, die bestimmten Berufs-
und Personengruppen vorbehalten waren. Zweck dieser
Versorgungssysteme war es, ganz gezielt diesen Men-
schen im Alter einen hohen Lebensstandard zu sichern.
In der Rechtsnatur sind die Zusatzversorgungssysteme
und die Sonderversorgungssysteme zu unterscheiden.
Angehörige der Zusatzversorgungssysteme erhielten die
gesetzliche Grundrente und die Zusatzversorgung oben-
drauf. Sie waren Mitglieder der sozialen Versicherung.
Die Mitglieder der Sonderversorgungssysteme unterla-
gen nicht der Sozialpflichtversicherung und erhielten al-
lein aus dem Sonderversorgungssystem ihre Rente.
Es gab also mehrere Gruppen, 27 Zusatzversorgungs-
systeme und fünf Sonderversorgungssysteme. Dieser
bunte Strauß der Rentenversicherungsregelung der
DDR, an dem für jeden einzelnen Menschen das Band
einer zuverlässigen Zusage für die Sicherheit im Alter
hing, ist am 1. Juli 1990 durch die Wirtschafts-, Wäh-
rungs- und Sozialunion verwelkt. Durch die Volkskam-
mer wurden die Zusatzversorgungssysteme zum 30. Juni
1990 geschlossen. Die genaue Ausgestaltung der Über-
20708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Maria Michalk
leitung wurde dem gesamtdeutschen Parlament übertra-
gen. Der Termin für die Überführung der Ansprüche und
Anwartschaften wurde jedoch auf das Ende des Jahres
1991 verschoben.
Es gab eine Besitzschutzregelung für die Zusatzver-
sorgungssysteme. Für die normalen Rentner mit niedri-
gem Einkommen gab es das System der Auffüllbeträge;
auch daran will ich noch einmal erinnern. Mit vielen Ge-
setzgebungsverfahren hat dieses Hohe Haus Regelungen
getroffen, um das lohnbezogene und beitragsfinanzierte
Rentensystem, das unabhängig von Berufsgruppen ist,
systematisch auf die gesamte Bundesrepublik Deutsch-
land zu übertragen.
Ich will auch daran erinnern, dass im Jahre 1991 die
gezahlten Renten der Bestandsrentner, also derjenigen,
die damals schon Rentner waren, zweimal, zum Jahres-
beginn und in der Mitte des Jahres, erhöht wurden, und
zwar um jeweils 15 Prozent. Das war eine solidarische
Leistung, die von allen mitgetragen wurde. Bei diesen
Personen handelt es sich nämlich um die Mütter und Vä-
ter, die unser Land nach dem Krieg unter schwierigen
Verhältnissen aufgebaut haben. Im Grunde genommen
ist ihre Lebensleistung die Basis, auf der wir heute auf-
bauen.
Der Geburtstag des einheitlichen Rentensystems ist
der 1. Januar 1992. Damals lag das Rentenniveau Ost bei
50 Prozent des Rentenniveaus West. Das Prinzip der
Lohnbezogenheit war das Kernstück unserer Reform.
Die Angleichung der Löhne war das politische Ziel. Da
niemand den Zeitpunkt der Lohnangleichung verlässlich
prognostizieren konnte – das wurde auch heute deutlich –,
haben wir eine Reihe von rentenrechtlich maßgeblichen
Rechengrößen differenziert festgelegt und ein neues An-
gleichungssystem eingeführt.
Die Altersrente wird von zwei Faktoren bestimmt:
von den individuellen Entgeltpunkten und vom aktuellen
Rentenwert; da Herr Kolb diesen Punkt schon ausgeführt
hat,
will ich ihn jetzt nicht weiter vertiefen. Hätten wir die
Regelung, die in Westdeutschland galt, eins zu eins auf
Ostdeutschland übertragen, wäre dies einer Bestrafung
der Bestandsrentner gleichgekommen, die unter dem
diktatorischen System der DDR versucht haben, sich ein
auskömmliches Leben aufzubauen, aber wenig verdient
haben.
Da auch das Durchschnittseinkommen in den neuen
Ländern Ende 1990 unter 50 Prozent des Einkommens-
niveaus West lag, hätte ein Versicherter mit ostdeutschem
Durchschnittsverdienst bei undifferenzierter Anwendung
des Verfahrens zur Ermittlung der Entgeltpunkte für ein
Jahr Beitragszahlung nur etwa 0,5 Entgeltpunkte West
erworben. Das wäre ungerecht gewesen.
Um diese Ungerechtigkeit zu vermeiden, haben wir
als Gesetzgeber in vielen Schritten den sogenannten
Hochwertungsfaktor eingeführt. Heute führt er zum
Teil zu neuen Ungerechtigkeiten, weil es in den neuen
Bundesländern mittlerweile Regionen gibt, in denen das
Lohnniveau West erreicht wird.
In vielen Gegenden Ostdeutschlands liegt das Einkom-
men der Menschen aber nach wie vor unter dem Durch-
schnitt. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Tarifpar-
teien heute noch unterschiedliche Tarifverträge für Ost-
und Westdeutschland abschließen. Das hat natürlich ei-
nen direkten Einfluss auf den Rentenwert.
Man muss sich einmal vergegenwärtigen: Seit Ende
des Jahres 1991 sind die Renten in den alten Bundeslän-
dern um 25 Prozent gestiegen, in den neuen Bundeslän-
dern um 116 Prozent. Damals betrug die Standardrente
im Westen im Durchschnitt 954 Euro, heute liegt sie bei
1 195 Euro. Im Osten betrug die Standardrente damals
486 Euro, heute liegt sie bei 1 050 Euro. Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, wer bestreitet, dass dies eine
hervorragende Anpassungsleistung, eine einmalige Soli-
darleistung
und eine geniale Systematik war, die dazu geführt hat,
dass die Rentner als Gewinner der deutschen Einheit be-
zeichnet werden können, der ignoriert die Wirklichkeit.
Allerdings sage ich auch: Wir wissen, dass die Inten-
sität dieses Angleichungsprozesses spürbar nachgelassen
hat – Herr Kolb, da gebe ich Ihnen recht – und dass wir
uns jetzt damit beschäftigen müssen, wie wir die endgül-
tige Angleichung in einem überschaubaren Zeitraum
vollziehen können. Auch heute liegt dafür aber kein Pa-
tentrezept auf dem Tisch,
und auch heute hat niemand eine Patentlösung. Dennoch
dürfen wir uns jetzt keine Schnellschüsse erlauben, we-
der mit Blick auf die künftigen Rentner noch mit Blick
auf die nächste Generation noch mit Blick auf die aktuel-
len Beitragszahler.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, dass die
Bundeskanzlerin dieses Thema aufgegriffen und den
Auftrag erteilt hat, hierzu einen ausgewogenen Vor-
schlag vorzulegen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20709
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Maria Michalk
Darüber werden wir in diesem Hohen Hause noch inten-
siv diskutieren.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Bundeskanzlerin Merkel, Herr Westerwelle, ich weiß
nicht, ob Sie schon in Koalitionsverhandlungen sind.
Aber heute geht es auf jeden Fall um die Rente.
Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen, worum
es alles nicht geht. Es geht nicht um die im Bundestag
leider beschlossene Kürzung der Rente, indem die Al-
tersgrenze um zwei Jahre angehoben und die Rente da-
mit nicht mehr ab 65, sondern ab 67 Jahren gezahlt wird.
Dies wird mit der Demografie begründet, obwohl es in
Wirklichkeit um die Produktivitätsentwicklung geht, die
völlig ausreicht, um die Renten weiterhin ab 65 Jahren
zu zahlen.
Es geht nicht um die falsche Rentenformel, die die
Rentenerhöhung weitgehend von der Lohnentwicklung
abkoppelt, sodass wir eigentlich wieder die frühere Ren-
tenformel benötigten.
Es geht auch nicht um die notwendigen Reformen der
gesetzlichen Rentenversicherung, die wir dringend be-
nötigen, indem wir zum Beispiel die Beitragsbemes-
sungsgrenzen aufheben, damit endlich auch Menschen
mit höheren Einkommen Beiträge in die gesetzliche
Rentenversicherung zahlen, um die durchschnittlich Ver-
dienenden zu entlasten.
Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass der damit
verbundene Rentenanstieg abgeflacht wird, weil es sich
um eine solidarische Versicherung handelt.
Es geht auch nicht darum, dass wir in der kommenden
Generation durchsetzen müssen, dass alle Menschen mit
Einkommen, auch Rechtsanwälte, Ärzte und Bundes-
tagsabgeordnete, in die gesetzliche Rentenversicherung
einzahlen, wovon wir nach wie vor entfernt sind.
Es geht auch nicht um unseren Vorschlag, die gesetzli-
chen Renten 2009, also im nächsten Jahr
– es haben ja alle über Dinge geredet, die nicht zur Sache
gehören; auch ich mache das nun –, um insgesamt
4 Prozent zu erhöhen, um erstens mehr soziale Gerech-
tigkeit herzustellen und um zweitens die Kaufkraft zu er-
höhen und damit die Binnenwirtschaft zu stärken.
Es geht auch nicht um die Ungerechtigkeiten und Lü-
cken bei der Rentenüberführung 1990, die es trotz aller
Leistungen, die ich gar nicht bestreite, gegeben hat.
Dazu haben wir 17 Anträge eingebracht. Diese werden
wir zu einem späteren Zeitpunkt beraten und, wie ich
hoffe, auch annehmen. Aber da bin ich bei Ihnen sehr
unsicher.
Es geht auch nicht um die in der Boulevardpresse be-
liebten Vergleiche zwischen den gesetzlichen Renten
Ost und West, die immer falsch sind. Bei diesen Ver-
gleichen kommt heraus, dass die gesetzliche Rente Ost
angeblich höher als die Rente West ist. Ich möchte auf-
klärerisch einmal sagen, warum sie falsch sind. Was
wird dabei nicht beachtet? Ein Punkt ist die unterschied-
liche Zahl von Arbeitsjahren. Es ist nämlich so, dass
Frauen im Westen, die die gesetzliche Rente bekommen,
im Schnitt 26,3 Jahre und Frauen im Osten 37,7 Jahre
gearbeitet haben. Bei Männern im Westen sind es
40,1 Jahre, bei Männern im Osten 45 Jahre. Wenn man
das nicht dazusagt, ist der ganze Vergleich falsch.
Es wird auch nicht gesagt, dass es im Westen Pensio-
nen gibt und im Osten nicht. Ich nehme ein Beispiel:
Professor Prokop, ein berühmter Gerichtsmediziner aus
Österreich und Leiter des Instituts der Charité, hat sich
bis zum Bundesverfassungsgericht durchgeklagt und be-
kam dann eine deutlich höhere Rente zugebilligt.
Das Problem ist nur, dass diese höhere Rente den Durch-
schnitt der gesetzlichen Rente Ost erhöht. Ein solcher
Professor hätte im Westen immer eine Pension bezogen
und würde bei der gesetzlichen Rente gar nicht einge-
rechnet. Auf diesen Unterschied muss man einmal hin-
weisen.
– Hören Sie doch einfach einmal zu. Sie können noch et-
was lernen.
20710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Gregor Gysi
Es ist so, dass die Altersbezüge im Osten zu 98 Prozent
aus der gesetzlichen Rente und die Altersbezüge im
Westen nur zu 72 Prozent aus der gesetzlichen Rente ge-
zahlt werden. Deshalb stimmt der Vergleich auch diesbe-
züglich nicht.
Es kommt noch etwas anderes hinzu: Rentnerinnen
und Rentner haben zusätzliche Einkommen. Diese be-
laufen sich bei Ehepaaren im Westen im Durchschnitt
auf 1 140 Euro, bei Ehepaaren im Osten nur auf
520 Euro; bei Alleinstehenden im Westen auf durch-
schnittlich 480 Euro, im Osten nur auf 170 Euro. Auch
diesen Unterschied muss man sehen. Dann muss man
berücksichtigen, dass die Betriebsrenten – das fand ich
falsch – im Osten einfach gestrichen wurden. Im Westen
werden sie natürlich gezahlt, aber bei der Berechnung
der gesetzlichen Rente nicht einbezogen; das ist klar.
Darüber hinaus gab es im Osten so gut wie keine Le-
bensversicherungen, also keine Vermögensbildung.
Diese gab es aber im Westen. Deshalb ist der ganze Ver-
gleich, wie er in bestimmten Zeitungen gezogen wird,
völlig falsch und dient nur der Verwirrung der Leute in
Ost und West.
Im Übrigen gibt es noch einen Irrtum, den man auf-
klären muss. Viele Menschen denken, dass das Geld, das
sie in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren eingezahlt haben,
angesammelt wurde und sie es jetzt wiederbekommen.
In Wirklichkeit ist es aber so, dass alle Beiträge, die im
November bezahlt werden, im Dezember, einen Monat
später, ausgegeben werden.
Sie müssen auch einmal erwähnen, dass im Osten, seit-
dem er dazugehört, ebenfalls in die gesetzliche Rente
eingezahlt wird und es nicht darum geht, was man in den
50er-, 60er- oder 70er-Jahren bezahlt hat.
Worum es also in der heutigen Debatte geht – nun
kommen wir zum Thema –,
ist die Angleichung der Rentenwerte in West und Ost.
Der Rentenwert im Osten ist über 18 Jahre nach Herstel-
lung der deutschen Einheit immer noch geringer. CDU/
CSU und SPD teilen uns erst mit, dass sie die Renten-
werte angleichen wollen, und dann teilen sie uns mit,
dass sie doch noch Probleme haben.
Sie sprechen von einem Schnellschuss. Ich bitte Sie!
Nach 18 Jahren ist es doch wohl fällig, dafür eine Lö-
sung zu finden.
Die verfügbare Eckrente nach 45 Beitragsjahren beim
Durchschnittsverdienst beträgt wegen des höheren aktu-
ellen Rentenwerts im Westen rund 1 078 Euro, im Osten
nur 949,60 Euro. Was wir wollen, ist ganz einfach.
Wir wollen, dass eine Verkäuferin im Osten und eine
Verkäuferin im Westen, die beide jeweils 30 oder auch
40 Jahre gearbeitet haben, in etwa die gleiche Rente be-
kommen. Was ist denn an diesem Wunsch so falsch,
wenn man die deutsche Einheit herstellt?
Es gibt ein Problem. Wenn man die Rentenwerte an-
gleicht, dann muss man angeblich – so zumindest haben
es die Ministerpräsidenten der Frau Bundeskanzlerin er-
klärt und sie damit völlig durcheinandergebracht – auch
die Höherbewertung des Osteinkommens streichen.
Wir sind der Gesetzgeber. Wo steht denn geschrieben,
dass wir das tun müssen? Es gibt überhaupt keinen zwin-
genden Grund dafür.
– Ich finde es süß, wie sich alle aufregen, aber es ist
trotzdem wahr. Ich sage es noch einmal: Der Rentenwert
Ost liegt um 14 Prozent niedriger als der Rentenwert
West.
– Nein, das stimmt nicht. Das ist wieder umgerechnet.
Glauben Sie mir! Es sind 14 Prozent.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Vaatz?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20711
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Herr Kollege Gysi, ist Ihnen bekannt, dass die Sächsi-
sche Zeitung am 13. Dezember des Jahres 1989 Oskar
Lafontaine mit dem Vorschlag zitiert hat, dass man nach
Westdeutschland übersiedelnden ostdeutschen Rentnern
überhaupt keine Rente zahlen solle, weil diese nicht in
die Systeme eingezahlt hätten und in der Bundesrepublik
Deutschland die Regel gelte, dass nur derjenige An-
spruch auf Rente hat, der auch in die Systeme eingezahlt
hat?
Mein historisches Gedächtnis reicht im Unterschied
zu Ihrem nicht bis zur Ausgabe der Sächsischen Zeitung
vom 13. Dezember 1989 zurück. Wenn er das gesagt ha-
ben sollte, wäre das falsch; er wird sich inzwischen kor-
rigiert haben.
– Ich kann ja einmal vortragen, was Sie von der SPD in
der Zeit alles gesagt haben. Da würden Sie sich aber
wundern.
Es gibt also das Problem der unterschiedlichen Ein-
kommen. Jetzt sagen die FDP und andere: Unterschiedli-
che Einkommen gibt es auch zwischen Schleswig-Hol-
stein und Bayern. – Das stimmt. Trotzdem: Die
Unterschiede zwischen Ost und West sind da viel zu
groß, als dass man sie negieren könnte.
Sie können das Problem auch nicht lösen, indem Sie sa-
gen: Wir machen eine Einmalzahlung, und dann ist das
erledigt. – Es ist ein hochwertiger Anspruch, dass die
Verkäuferin im Osten und die Verkäuferin im Westen
nach jeweils 30 oder 40 oder wie viel Arbeitsjahren auch
immer in etwa die gleiche Rente bekommen sollen. Das
gilt es durchzusetzen.
Wie kann man das lösen? SPD und Union haben gar
keine Lösung. Es ist wirklich ein Ding, finde ich, was
die Ministerpräsidenten diesbezüglich mit der Frau
Merkel gemacht haben. Es ist allerdings auch ein Ding
– das muss ich einmal ganz klar sagen –, dass sie darauf
hereinfällt. Das ist überhaupt nicht nötig. Dafür gibt es
andere Lösungen.
Was die FDP vorschlägt, funktioniert meines Erach-
tens nicht.
Die Grünen sagen: Wir wollen nur noch bei niedrigen
Einkommen eine Höherbewertung. – Das geht auch
nicht.
Sie können einer Ärztin im Osten nicht erklären, wes-
halb sie nach 40 Arbeitsjahren im Vergleich zu einer
Ärztin im Westen
– ich rede nicht von den verbeamteten; ich rede von den
angestellten – eine geringere Rente beziehen soll. Das ist
nicht erklärbar und auch nicht gerecht. Das hat mit der
Höhe des Einkommens zunächst einmal nichts zu tun.
Also muss es doch darum gehen, generell eine
Höherbewertung der Einkommen im Osten hinzube-
kommen, solange die Einkommen eben – leider – unter-
schiedlich sind. Dafür gibt es drei Wege. Das betone ich,
weil Sie meinen, es gebe keine Lösung. Wenn Sie von
der Union sagen: „Es gibt keine Patentlösung“, dann ma-
chen Sie doch meinetwegen eine Lösung ohne Patent!
Aber eine Lösung brauchen wir auf jeden Fall.
Es gibt also drei Wege. Der eine Weg ist, wie heute:
Man macht eine pauschale Höherbewertung der Ein-
kommen – natürlich nach Angleichung der Rentenwerte.
Das wäre die erste Voraussetzung.
Man könnte auch – da sich etwa öffentlicher Dienst
und Gewerbe unterscheiden – von sechs bis acht Bran-
chen ausgehen, für die wir unterschiedliche Sätze festle-
gen. Das wäre ein zweiter Weg, der etwas komplizierter
ist.
Der dritte Weg ist der komplizierteste, aber auch ge-
rechteste: Wir gehen von den Arbeitsjahren einer Ost-
deutschen oder eines Ostdeutschen aus und vergleichen
das mit der durchschnittlichen Entlohnung dieser beruf-
lichen Tätigkeit in den alten Bundesländern. Das muss
man aber individuell errechnen. Dadurch würde eine
Menge Arbeitsplätze bei der Rentenversicherung ge-
schaffen.
– Wir haben das auch nicht vorgeschlagen. Nein, ich
habe nur gesagt: Das ist der gerechteste Weg; er ist aber
auch der komplizierteste. Das bestreite ich auch nicht.
Damit Sie nicht mit der Ausrede kommen, das sei zu
kompliziert, haben wir den einfachsten Weg vorgeschla-
gen: die pauschale Höherbewertung.
– Ja, ich räume ein, dass darin ein Moment der Unge-
rechtigkeit enthalten ist.
Deshalb wäre mir die Variante nach den Branchen viel
lieber.
20712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
Dr. Gregor Gysi
Darüber können wir diskutieren, wenn Sie wirklich an
einer Lösung interessiert sind und nicht nur reden wol-
len.
Sie können aber den Rentnerinnen und Rentnern im
Osten nach 18 Jahren Einheit nicht erklären, dass sie
nach wie vor für die gleiche Leistung eine geringere
Rente bekommen.
Sie müssen denen, die heute arbeiten, erklären, dass sie
bei längerer Arbeitszeit und niedrigeren Löhnen, die sie
heute beziehen, später eine niedrigere Rente bekommen.
Das ist nicht gerecht. Wir müssen endlich zu der Lösung
kommen, dass es in Deutschland für gleiche Arbeit in
etwa den gleichen Lohn und auch die gleiche Rente gibt.
Abgesehen von den anderen Ungerechtigkeiten bei der
Rente, über deren Beseitigung wir demnächst diskutie-
ren werden – ich habe am Anfang meiner Rede darauf
hingewiesen, worüber wir alles nicht reden –, ist das ein
Minimum, das man erreichen muss.
Wir sind jetzt im 19. Jahr der Einheit. Wenn Sie we-
nigstens sagen würden, im 20. Jahr der Einheit wird das
Problem gelöst sein, dann wäre mir auch das zwar zu
spät, aber es wäre ein gemeinsames Ziel. Lassen Sie uns
gemeinsam daran arbeiten, meinetwegen auch in kleinen
internen Gruppen. Das ist mir alles wurscht; Hauptsache,
es kommt als Ergebnis heraus, dass in Deutschland dies-
bezüglich endlich Gerechtigkeit hergestellt ist.
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-
sche Staatssekretär Franz Thönnes das Wort.
F
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich fange gleich mit dem an, um das es geht.
Es geht darum, dass wir in der Tat fast zwei Jahrzehnte
nach der deutschen Wiedervereinigung etwas einzulösen
haben, was damals diskutiert worden ist, nämlich dass es
irgendwann in Deutschland zu einem gemeinsamen
Rentensystem mit gleichen Regelungen in Ost und West
kommt. Das ist diskutiert worden. Jetzt wird wieder da-
rüber gesprochen, weil Menschen es als Diskriminierung
begreifen, wenn dies nach langer Zeit noch nicht der Fall
ist.
Gleichwohl ist es nicht einfach – das haben meine
Vorredner schon deutlich gemacht –, weil etwas zu be-
achten ist, das sich geschichtlich entwickelt hat. Das
geht manchmal mit Emotionen einher, was auch nicht
schlimm ist. Aber letzten Endes muss man in diesem
Hause sachlich und vernünftig darüber sprechen und
nach Wegen suchen.
Es geht um ein geschichtsträchtiges Thema, ein
Thema, das die Menschen ursächlich berührt,
und es ist ein sehr komplexes Thema, sowohl für Ost- als
auch für Westdeutschland.
Deswegen sind wir gut beraten – das ist zum Teil schon
geschehen – einen Blick in die Geschichte zu werfen.
Wie war es am 30. Juni 1990? Damals lag die monatli-
che Eckrente in den alten Ländern bei 1 616 DM. Im Os-
ten lag sie zwischen 470 und 602 Mark. Der Verhältnis-
wert neue Länder zu alten Ländern lag damals zwischen
29,1 und 37,3 Prozent.
Zum 1. Juli 1990 stellte sich das Bild bereits wie folgt
dar: Knapp 1 667 DM im Westen standen 672 DM im
Osten gegenüber. Damit ergab sich ein Verhältnis von
40,3 Prozent. Über die Jahre 1991 und 1992 bis zum
1. Juli 1993 kam es in Halbjahresschüben in den neuen
Ländern zu Angleichungsraten von zweimal plus 15 Pro-
zent sowie 11,65 Prozent, 12,73 Prozent, 6,1 Prozent
und 14,12 Prozent.
Danach war am 1. Juli 1993 bereits ein Verhältniswert
von 72,3 Prozent erreicht. Das ist – da kann ich die Kol-
legin Michalk nur unterstützen – ein Beweis für die ge-
meinsame innere deutsche Solidarität, die an dieser
Stelle geleistet worden ist
und die auch von unserer ökonomischen Stärke her
machbar gewesen ist; denn wir wollten, dass auch hier
das zusammenwächst, was zusammengehört.
Die Angleichung sollte – so die damals beschlossene
gesetzliche Grundlage; das ist ja in den Parlamenten be-
schlossen worden – der Lohnentwicklung in Ostdeutsch-
land folgen. Um jedoch den Angleichungsprozess nicht
nur darauf basieren zu lassen und auch vor dem Hinter-
grund niedrigerer Einkommen in den neuen Ländern galt
und gilt bis heute ergänzend eine Höherwertung der
Einkommen in den neuen Ländern bei der Ermittlung
der jährlichen Entgeltpunkte. Ich komme gleich darauf
zurück.
Diese Berechnungsgrundlage hat dazu geführt, dass
sich der Verhältniswert der Eckrente der neuen Länder
dem in den alten Ländern zum 1. Juli 2008 auf 88,1 Pro-
zent angenähert hat. Es ist richtig, aufgrund der geringe-
ren Lohnentwicklung im Osten hat sich dieser Prozess in
den letzten Jahren verlangsamt, und die Menschen fra-
gen: Wann kommt denn die Angleichung?
Aber diese Bestandsaufnahme ist um folgende Punkte
zu ergänzen, wenn man die aktuelle Situation bewerten
will: Die Beitragseinnahmen in den neuen Ländern rei-
chen gegenwärtig nicht aus, um die Rentenausgaben in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20713
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Franz Thönnes
den neuen Ländern zu finanzieren. Das heißt, wir haben
einen Finanztransfer von West nach Ost, der im Jahre
2004 bei ungefähr 13,1 Milliarden Euro lag und der auf-
grund der Organisationsreform in der Rentenversiche-
rung für spätere Jahre nur geschätzt werden kann. Aber
er dürfte im Jahre 2008 wahrscheinlich bei rund
14 Milliarden Euro liegen.
Die Angleichung der Renten in den neuen Ländern an
die Renten in den alten Ländern ist nach dem Anglei-
chungsmechanismus, der mit dem Renten-Überleitungs-
gesetz angelegt ist, von der tatsächlichen Angleichung
der Löhne und Einkommen der aktiv Beschäftigten in
den neuen Ländern abhängig.
Für die Rentenberechnung gilt deshalb bis zur An-
gleichung der Lohn- und Einkommensverhältnisse für
Beitragszeiten in den neuen Ländern ein geringerer aktu-
eller Rentenwert als in Westdeutschland. Dennoch haben
ostdeutsche Versicherte gegenwärtig ein günstigeres
Verhältnis der Beiträge zu den Leistungen in der gesetz-
lichen Rentenversicherung als Versicherte in den alten
Ländern. Der aktuelle Rentenwert West ist zwar um
14 Prozent höher als der aktuelle Rentenwert Ost. Aber
die in den neuen Ländern versicherten Arbeitsverdienste
werden höher bewertet.
Maßgebend dafür ist der Abstand des Durchschnitts-
verdienstes West zum Durchschnittsverdienst Ost. Die-
ser ist aktuell um 18 Prozent höher. Das heißt, der Vor-
teil beim Beitrags-Leistungs-Verhältnis liegt somit schon
bei rund 4 Prozent. Bezogen auf das Jahr 2007 bedeutet
das beispielsweise, dass ein Versicherter in Kiel für dieses
Arbeitsjahr aus einem Bruttoverdienst von 25 295 Euro
eine monatliche Bruttorente von 22,19 Euro und ein Ver-
sicherter in Rostock bei gleich hohem Lohn eine monat-
liche Bruttorente von 23,09 Euro erhält. Diese Hochwer-
tung kommt im Übrigen auch denjenigen zugute, deren
Löhne tariflich bereits angeglichen sind.
Eine aktuelle Angleichung der Ostrenten würde zu
höheren Rentenzahlungen für alle Renten in den neuen
Ländern führen. Deshalb ist es sinnvoll, auch einen
Blick auf die tatsächlichen Rentenzahlbeträge und nicht
nur auf den Rentenwert zu werfen.
Der durchschnittliche monatliche Rentenzahlbetrag
der laufenden Renten in den neuen Ländern übersteigt
den durchschnittlichen Rentenzahlbetrag in den alten
Ländern. Bei Männern liegt er in Westdeutschland bei
951 Euro und in den neuen Ländern bei 994 Euro.
Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag bei Frauen in
den alten Ländern liegt bei rund 478 Euro und in den
neuen Ländern bei rund 666 Euro.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Kolb?
F
Ja.
Herr Staatssekretär Thönnes, ich frage Sie, ob Sie
wissen, dass Ihre Redezeit gleich vorbei ist, und ob Sie
noch so freundlich wären, uns mitzuteilen – alles, was
Sie sagen, ist richtig –, was die Bundesregierung in Zu-
kunft zu tun gedenkt, um die vor uns liegende Aufgabe,
den Lückenschluss, zu bewerkstelligen.
F
Ich weiß, werter Kollege Kolb, dass Sie immer ein
bisschen ungeduldig sind. Ich beschreibe die Lage; denn
man darf nicht zu voreiligen Regelungen kommen. Die
Ausführungen in dieser Debatte und auch Ihr Modell ma-
chen deutlich – selbst der Kollege Gysi hat das gesagt –,
dass es sich um eine sehr komplexe Materie handelt.
Deswegen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich wei-
ter referieren und die Situation beschreiben ließen. Dann
sage ich Ihnen auch, woran wir zurzeit arbeiten.
Wenn man das gleichzeitige Zusammentreffen mehre-
rer Renten nach dem Personenfallkonzept betrachtet,
wenn zum Beispiel eine Alters- und eine Witwenrente
zusammenfallen, dann stellt man fest, dass die Rentner
in den alten Bundesländern im Durchschnitt rund
953 Euro und in den neuen Bundesländern 1 004 Euro
erhalten.
Der durchschnittliche Rentenzahlbetrag bei Rentnerin-
nen in den alten Bundesländern liegt bei rund 650 Euro
und in den neuen Bundesländern bei rund 848 Euro.
Herr Kollege Gysi, Sie haben durchaus recht: Das hat et-
was mit den unterschiedlichen Berufsbiografien zu tun.
Herr Staatssekretär, der Kollege Gysi hätte eine Zwi-
schenfrage.
20714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
F
Bitte.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, dass der
Durchschnitt bei den Pensionen in den alten Bundeslän-
dern bei über 2 000 Euro liegt und dass es im Osten
keine bzw. so gut wie keine Pensionen gibt, dass das also
mit in der gesetzlichen Rente enthalten ist? Der Durch-
schnittsvergleich kann schon aus diesem einen Grund
niemals stimmen. Sonst müssten Sie die Pensionen in
den Durchschnitt der gesetzlichen Rente West einbezie-
hen. Das ist nicht üblich – das würde ich auch gar nicht
machen –, und deshalb hilft uns dieser Vergleich nicht
weiter.
F
Herr Kollege Gysi, da ich mit einer solchen Frage ge-
rechnet habe und wir im Ministerium ebenfalls daran ar-
beiten, haben wir eine Untersuchung darüber anstellen
lassen, wie es aussieht, wenn man alles einbezieht, damit
das Bild ergänzt wird. Nach dieser Studie verfügten Ehe-
paare mit Bezugspersonen über 65 Jahre im Jahr 2007 in
den alten Bundesländern im Durchschnitt über ein mo-
natliches Nettoeinkommen in Höhe von 2 350 Euro. In
den neuen Bundesländern sind es durchschnittlich
1 937 Euro. Daran kann man sehen, wie groß die Distanz
noch ist. Bei den alleinstehenden Frauen ist dabei der
Unterschied am geringsten, auch beim Nettoeinkommen.
Hier liegt er nur noch bei rund 50 Euro. So viel abschlie-
ßend zur Bestandsaufnahme.
Was würde nun geschehen, wenn man den aktuellen
Rentenwert in Höhe von 23,34 Euro im Osten auf den
Betrag von 26,56 Euro im Westen anhebt? Die durch-
schnittliche Altersrente von Männern stiege von 994 Euro
um 137 Euro auf 1 131 Euro. Damit läge der Wert im
Osten nicht mehr 43 Euro, sondern 180 Euro über dem
Wert im Westen. Entscheidend ist aber: Für eine sofor-
tige, von der Lohnentwicklung abgekoppelte Anhebung
des Rentenwerts Ost auf den Rentenwert West wären
Mehrausgaben in Höhe von 6 Milliarden Euro erforder-
lich, und zwar jährlich. Bei einer schrittweisen Anglei-
chung bauten sich die Mehrausgaben proportional mit
den Angleichungsschritten bis auf diesen Betrag auf. Ein
derartiger Weg führte über den entsprechenden Zeitraum zu
jeweils höheren Anpassungen der Renten in Ostdeutsch-
land im Vergleich zu den Renten in Westdeutschland, die
nur entsprechend der Lohnentwicklung angeglichen wer-
den. Die weitere Entwicklung der Mehrausgaben hängt
dann von der tatsächlichen Lohnentwicklung in den
neuen Bundesländern ab.
Die 6 Milliarden Euro Mehrausgaben müssen aber
von irgendjemandem aufgebracht werden, entweder von
den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern oder von den
Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern.
Auch ein Wegfall der Höherwertung, über den manch-
mal diskutiert wird, leistete keinen Finanzierungsbei-
trag; denn die Einsparungen entstünden erst langfristig
und wüchsen langsam auf. Fällt allerdings die Hochwer-
tung in Höhe von circa 18 Prozent weg, steht ihr auf der
anderen Seite die Beseitigung des heute noch 14-prozen-
tigen Unterschiedes zwischen den beiden Rentenwerten
Ost und West gegenüber. Das heißt, der Vorteil des
4-prozentigen Beitrags-/Leistungsverhältnisses fiele eben-
falls weg. Beide Wirkungen – Angleichung umsetzen
und Höherwertung beibehalten – dürften für die Vermitt-
lung in Deutschland eine erheblichere Herausforderung
darstellen.
Der nachvollziehbare Wunsch, fast 20 Jahre nach der
Einheit zu einem einheitlichen Rentensystem zu kom-
men, ist also nicht einfach zu realisieren. Es gibt dazu
Vorschläge und Überlegungen, vom Sachverständigenrat
bis hin zu den Parteien. Sie betreffen die Renten im Os-
ten wie im Westen. Bundesarbeits- und -sozialminister
Scholz wurde im Kabinett gebeten, Vorschläge für eine
Angleichung der Rentenwerte Ost und West zu prüfen.
Das machen wir in der gesamten Bandbreite. Eine einfa-
che Lösung wird es dabei auf die Schnelle nicht geben.
Ich bin aber zuversichtlich, dass wir eine Lösung im In-
teresse aller Beteiligten erreichen können. Die muss an-
ständig austariert sein. Das erfordert einen breiten Kon-
sens im Bundestag und im Bundesrat. Meine Bitte ist:
Helfen Sie mit, die Diskussion so sachlich zu führen,
dass das, was trennt, nicht noch größer wird, sondern
dass man am Ende des Prozesses eine Lösung findet, die
in Ost und West – und damit meine ich Gesamtdeutsch-
land – auch in der Zukunft Bestand hat. Das müsste un-
ser Ziel sein.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Gysi.
Herr Staatssekretär, ich bin jetzt natürlich nicht in der
Lage, Ihre Berechnungen zu überprüfen, gehe aber da-
von aus, dass sie alle stimmen. Es gibt nur einen Punkt,
den Sie nicht erwähnt haben: die unterschiedliche Zahl
von Arbeitsjahren. Die Frauen im Osten haben eine viel
höhere durchschnittliche Zahl von Arbeitsjahren als die
Frauen im Westen. Wenn Sie das nicht erwähnen, dann
stimmen die Zahlenvergleiche nicht. Darauf möchte ich
hinaus. Sie müssten ausrechnen, wie viel das pro Jahr
ausmacht, und dann den Unterschied berechnen. Ich bin
es leid, in der Boulevardpresse falsche Vergleiche zu le-
sen. Ich finde, wir als Bundestag sollten geschlossen et-
was dagegen tun.
Danke.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20715
(C)
Herr Staatssekretär, wollen Sie darauf antworten? –
Ja.
F
Verehrter Herr Kollege Gysi, ich habe vorhin Ver-
ständnis für Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen
Vaatz gehabt, als Sie sagten, Ihr Erinnerungsvermögen
gehe möglicherweise nicht bis zum Jahr 1989 zurück.
Dass es aber jetzt nicht einmal zwei Minuten zurück-
reicht, wundert mich sehr;
denn im Protokoll meiner Rede werden Sie nachlesen
können, dass ich vorhin genau gesagt habe – ich habe Ih-
nen in diesem Punkt zugestimmt –, dass man die unter-
schiedlichen Berufsbiografien und damit die Jahre ein-
rechnen muss. Das habe ich hier deutlich gesagt.
Deswegen kann Ihr Vorwurf so nicht stehen bleiben.
Nun hat das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-
Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon symptomatisch für die Politik der Großen
Koalition: Alle drei Oppositionsfraktionen legen jeweils
Anträge zur notwendigen Rentenangleichung vor,
aber die Bundesregierung vertagt das Thema auf unbe-
stimmte Zeit. Diese Politik der ruhigen Hand ist keine
Lösung.
Bundeskanzlerin Merkel hatte noch im Oktober ange-
kündigt, sie wolle die Renten in Ost und West verein-
heitlichen. Inzwischen ruht sie sich darauf aus, dass
selbst die ostdeutschen Ministerpräsidenten das Thema
mit spitzen Fingern anfassen. Sie verfährt nach dem
Motto: Es ist viel zu tun, warten wir es ab. – Diese Untä-
tigkeit werden wir nicht zulassen.
Wir Grüne wollen die Rentenangleichung nicht auf
die lange Bank schieben. Damit die Beschäftigten eine
Perspektive haben, muss jetzt gehandelt werden. Wer
eine Bilanz ziehen will, sollte sich zunächst damit aus-
einandersetzen, was bisher erreicht wurde; denn da gibt
es eine Vielzahl von Fehlinterpretationen und auch ge-
fühlte Ungerechtigkeit. Nach der deutschen Einheit war
es richtig, die damaligen DDR-Renten sehr schnell anzu-
heben, um rasch mit einer Angleichung der Lebensver-
hältnisse in Ost und West zu beginnen. Deshalb war es
nötig, 1991 in den neuen Bundesländern die Renten
zweimal um jeweils 15 Prozent anzuheben. Die heute
noch geltende Regelung im Sozialgesetzbuch VI trat
1992 mit dem Renten-Überleitungsgesetz in Kraft und
sollte im Verlauf einiger Jahre einheitliche Einkommens-
verhältnisse auch bei der Rente in beiden Teilen
Deutschlands herstellen. Das ist nicht geschehen. Das
war erforderlich, weil nämlich 1991 die Einkommen in
den neuen Bundesländern nur halb so hoch waren wie in
den alten. Das unterdurchschnittliche Einkommen im
Beitrittsgebiet wird seither durch die Höherwertung
der Entgelte ausgeglichen. Das ist vielen überhaupt
nicht bekannt.
Diese Höherwertung betrug im Jahre 2008 immerhin
18 Prozent, und zwar nicht nur bei denen, die weniger
verdienen, sondern auch bei denjenigen, die das gleiche
Einkommen haben wie ihre Kollegen und Kolleginnen
im Westen. Mit der Höherwertung sollte die Kluft bei
den Verdiensten zwischen Ost und West geglättet wer-
den. Das hatte zur Folge, dass von 1992 bis heute die
Renten in den neuen Bundesländern um mehr als
116 Prozent gestiegen sind, in den alten Bundesländern
aber nur um gut 25 Prozent. Wer das verschweigt, wie
die Linke das nun leider tut, betreibt ein gefährliches
Spiel.
Angesichts dieser Bilanz zugunsten der neuen Bun-
desländer sind einige ostdeutsche Ministerpräsidenten
inzwischen etwas vorsichtiger geworden. Der Minister-
präsident von Sachsen-Anhalt wird in der Berliner Zei-
tung mit der Bemerkung zitiert, Ostrentner könnten
durch eine Angleichung sogar schlechter gestellt wer-
den.
Man muss einmal einen Blick auf den Arbeitsmarkt
werfen: In vielen Bereichen mit Tarifverträgen erhalten
die Beschäftigten in den neuen Bundesländern inzwi-
schen das gleiche Grundeinkommen wie die in den alten
Bundesländern – ich nenne die Stahlindustrie, die Me-
tall-, die Elektro- oder auch die Druckindustrie, die Post,
die Telekom, die Banken, die Versicherungen und den
großen Bereich des öffentlichen Dienstes –; trotzdem
werden die Rentenbeiträge der dort Beschäftigten vom
Staat um 18 Prozent hochgewertet. Dadurch entsteht zu-
nehmend Ungerechtigkeit in den alten Bundesländern,
und das wollen wir verhindern.
Eine Untersuchung der Deutschen Rentenversiche-
rung kommt bei einem Vergleich zu dem Ergebnis, dass
eine Person mit einem Einkommen von 2 500 Euro in
20716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Irmingard Schewe-Gerigk
Frankfurt am Main nur 26,70 Euro Rente erwirbt, wäh-
rend sich bei einer Person mit gleichem Einkommen,
aber wohnhaft in Frankfurt an der Oder eine höhere An-
wartschaft, nämlich 27,30 Euro, ergibt. Daher finde ich,
dass der Präsident der Deutschen Rentenversicherung,
Rische, zu Recht urteilt, dass dieses Thema nicht länger
als alleiniges Ost-West-Problem angesehen werden darf;
denn auch in Westdeutschland gibt es Regionen mit ho-
her Langzeitarbeitslosigkeit. Da müssen wir etwas tun,
auch auf dem Arbeitsmarkt.
Hinzu kommt, dass in keinem anderen europäischen
Land der Niedriglohnsektor so stark angewachsen ist
wie in Deutschland, und das besonders im Osten unseres
Landes. Unser Ziel in der Rentenpolitik muss daher Ar-
mutsvermeidung in Ost und West sein. Darum fordere
ich die Bundesregierung auf, endlich die Halbierung der
Rentenversicherungsbeiträge für Hartz-IV-Empfänger
zurückzunehmen.
Es ist doch ein Skandal, dass Langzeitarbeitslose nur ei-
nen Rentenanspruch von weniger als 2,20 Euro pro Mo-
nat erwerben.
Da wissen sie doch gleich, dass sie am Ende ihres Er-
werbslebens in die Grundsicherung fallen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen haben
schon im September einen Antrag zur Rentenanglei-
chung Ost/West eingebracht,
der eine sachgerechte Antwort auf die – zugegebenerma-
ßen schwierige – Situation gibt. Die Versicherten in den
neuen Ländern brauchen endlich eine verbindliche Per-
spektive, wann sie mit einem einheitlichen Rentenrecht
in Ost und West rechnen können. Deshalb wollen wir
mit einer Stichtagsregelung alle maßgeblichen Bezugs-
größen in Ost und West angleichen, sodass ein einheitli-
cher Rentenwert entsteht. Eine Hochwertung der Ent-
gelte soll es dann aber nur noch für Geringverdienende
geben, und zwar in Ost und West.
Die Regelung zur Berechnung der Ostrenten hat in
den letzten Jahren dazu geführt – Herr Gysi, ich möchte
Sie bitten, genau zuzuhören –, dass Gutverdienende mit
einem Gehalt in der Nähe der Beitragsbemessungs-
grenze von dem geltenden System in doppelter Weise
profitiert haben: Wegen der niedrigeren Beitragsbemes-
sungsgrenze im Osten mussten sie vergleichsweise we-
niger Beitrag als im Westen zahlen; zusätzlich erhielten
sie die Höherbewertung ihrer Entgelte, und Geringver-
dienende im Westen gingen im Unterschied dazu bisher
leer aus; denn das allgemeine Rentenrecht sieht den
Nachteilsausgleich für Einkommensungleichheit bisher
nur im Osten vor.
Wir Grüne wollen Gerechtigkeit für alle. Wir wollen
Altersarmut bekämpfen, unabhängig vom Wohnort. Wir
haben mit unserem Antrag zum Rentenwert in Ost und
West einen Reformvorschlag mit Augenmaß vorgelegt.
Wir verlangen die Finanzierung der Hochwertung zu-
gunsten von Geringverdienenden aus Steuermitteln. Eine
Hochwertung aus Beitragsmitteln lehnen wir ab; denn
damit würden ausschließlich die gesetzlich Rentenversi-
cherten belastet.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider?
Gerne.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben eben davon
gesprochen, dass Sie Gerechtigkeit für alle wollen. Ich
habe in Ihren bisherigen Ausführungen immer wieder
gehört, dass Sie sich sehr auf die Branchen konzentriert
haben, in denen eine Angleichung der Löhne Ost und
West schon stattgefunden hat. Sie haben auch von den
Geringstverdienenden gesprochen. Sie haben bis jetzt
aber überhaupt nicht von den Branchen geredet, in denen
das Niveau der Angleichung zurzeit bei 70 Prozent liegt.
Das heißt, wir haben im Moment ein doppeltes Problem:
Der Höherwertungsfaktor ist ein Zwischenwert, der
für die einen viel zu hoch und für die anderen nach wie
vor viel zu niedrig ist. Jetzt wollen Sie diesen Höherwer-
tungsfaktor auch noch abschaffen. Das ist doch zumin-
dest für diejenigen, die nur 70 Prozent bekommen, eine
absolute Katastrophe. Erklären Sie mir doch einmal, in-
wieweit es für Sie gerecht ist, wenn Sie die Höherwer-
tungsfaktoren abschaffen.
Herr Gysi hat vorhin gesagt, dass man im Grunde ge-
nommen eine Lösung finden müsse, die individueller ist.
Aber dann wird es auch bürokratischer. Eine Lösung
müsste sich irgendwo dazwischen bewegen. Aber dazu
sagen Sie gar nichts.
Vielen Dank für Ihre Frage.
Natürlich wollen wir die Höherwertung für die Per-
sonen, die weniger als 2 500 Euro im Monat verdienen.
Das sind genau diejenigen, von denen Sie sprechen. So-
wohl im Osten als auch im Westen wollen wir diesen
Personen dazu verhelfen, dass sie eine auskömmliche
Rente haben. Wir wollen aber nicht einseitig nur im Os-
ten hochrechnen und sagen, dass uns die Situation im
Westen, beispielsweise in Wilhelmshaven und im Saar-
land – Sie kommen ja aus dem Saarland; dort sind die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20717
(C)
(D)
Irmingard Schewe-Gerigk
Einkommen sehr niedrig –, nicht interessiert. Das ist
keine gesamtdeutsche Politik, Herr Schneider.
Im Unterschied zur Linksfraktion gehen wir auch mit
Steuermitteln sorgsam um, indem wir die Hochwertung
– Sie haben diesen Punkt mit Ihrer Frage vorweggenom-
men – nur noch für unterdurchschnittlich Verdienende
fordern. Wir wollen eine Aufstockung bei allen kleinen
Einkommen über Steuermittel. Aber wer bereits das
gleiche Einkommen hat wie in den alten Ländern, wird
nicht weiter begünstigt. Dafür sollen alle Versicherten in
den neuen Ländern eine Rente erhalten, die mit dem all-
gemeinen Rentenwert multipliziert wird.
Herr Schneider, die Linksfraktion macht es sich ein-
fach. Sie wollen den Rentenwert anpassen und die Hoch-
wertung für alle Entgelte im Osten beibehalten. Die
Mehrbelastung von jährlich 6 Milliarden Euro für alle
Steuerzahlenden nehmen Sie in Kauf, um – jetzt kommt
es; Herr Gysi, hören Sie einmal gut zu – Gutverdienende
ausschließlich im Osten besser zu stellen als im Westen.
Sind Sie eigentlich die Partei der Besserverdienenden im
Osten?
Doch, die Berechnung zeigt es. Die Wirtschaftsweisen
– nicht ich – haben ausgerechnet, dass nach Ihrem Mo-
dell die Besserverdienenden in den neuen Ländern
30 Prozent mehr erhalten als in den alten Ländern. Das
ist weder gerecht noch angemessen.
Ich frage Sie: Wollen Sie sich tatsächlich Wählerstim-
men damit sichern, dass Sie die Gräben zwischen Ost
und West weiter aufreißen?
Frau Kollegin, es besteht ein weiterer Wunsch nach
einer Zwischenfrage, nämlich von dem Kollegen
Dr. Gysi.
Bitte schön, selbstverständlich.
Sie ermahnen mich regelmäßig, zuzuhören. Wenn Sie
mir zugehört hätten, –
Ja, das habe ich.
– dann wüssten Sie, dass ich Ihnen am Schluss drei
Varianten angeboten habe. Ich habe gesagt, wir könnten
wie bisher eine Pauschale machen.
– Die Pauschale von 18 Prozent für alle ist doch nicht
von mir, sondern von Ihnen geregelt worden. Da müssen
Sie doch nicht so dämlich lachen. – Ich habe dazu ge-
sagt: Die ist aber ungerecht – das stimmt –, weil sie näm-
lich die einen begünstigt und die anderen benachteiligt.
Dann habe ich gesagt: Es gibt eine zweite Variante,
über die wir reden können. Diese beinhaltet: Wir machen
einen Zuschlag nach Branchen. Dann wird es unter-
schiedlich.
– Ich sage Ihnen gleich, warum wir etwas anderes bean-
tragt haben.
Die dritte Variante, die ich genannt habe, ist die indi-
viduelle Variante.
Sie wäre am gerechtesten. Bei ihr würden die Durch-
schnittseinkünfte in den alten Bundesländern mit den
Einkünften in den neuen Bundesländern verglichen.
Dann ist es nicht mehr ungerecht. Es ist aber am kompli-
ziertesten. Wir haben die allgemeine Pauschale nur des-
halb beantragt, weil es der unbürokratischste Weg ist.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie bereit sind, das zur
Kenntnis zu nehmen. Sie können uns sofort davon über-
zeugen, dass die Notwendigkeit besteht, nach Branchen
oder individuell vorzugehen. Wenn Sie damit einverstan-
den wären, hätten wir eine gerechte Lösung.
Herr Gysi, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass Sie zur Kenntnis genommen haben, dass die 18-pro-
zentige pauschale Erhöhung ungerecht ist.
Ich beziehe mich nicht auf Ihre Rede, sondern darauf,
was Sie uns in Ihrem Antrag vorgelegt haben.
20718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Irmingard Schewe-Gerigk
Wenn es, wie Sie sagen, verschiedene Möglichkeiten
gibt, dann können wir darüber reden. Aber Ihr Antrag
sieht etwas anderes vor.
Ich komme jetzt zum FDP-Antrag. Die FDP fordert
ähnlich wie wir eine Stichtagsregelung, die zu einem ein-
heitlichen Rentenrecht führen soll. Dabei sollen die ver-
gangenen und zukünftigen Einkommensnachteile über
eine Einmalzahlung ausgeglichen werden. Es ist in die-
sen Zeiten oft von Einmalzahlungen – eine Einmalzah-
lung von 500 Euro für die Konjunktur, dann die Einmal-
zahlung für die Rentner – die Rede. Dieser Vorschlag
– ich konnte es gar nicht glauben, weil ich gedacht hatte,
dass Sie näher an der Realität sind – soll aus Beitragsmit-
teln finanziert werden. Das heißt, alle Beitragszahlenden
müssen diese Einmalzahlung finanzieren. Die FDP
macht noch nicht einmal Vorgaben für die Verwendung
der Einmalzahlung. Man kann sich dafür ein Auto kau-
fen, und man kann das Geld auch in die Rente einzahlen.
Man kann es machen, wie man möchte. Das heißt, wenn
jemand die Einmalzahlung für eine kapitalgedeckte
Rente verwenden will und das ohne fachlichen Rat tut,
könnte es passieren, dass das Geld verloren geht und
diese Person später auf Grundsicherung verwiesen wird.
Herr Kolb, einen solchen „liberalen“ Vorschlag – wobei
das „liberal“ in Anführungszeichen zu verstehen ist – zu-
lasten der Beitragszahler und Beitragszahlerinnen lehnen
wir ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Die Bundesregierung scheut das Thema wie
der Teufel das Weihwasser. Obwohl die Kanzlerin beim
Bericht zur deutschen Einheit noch eine Lösung in dieser
Wahlperiode versprochen hat, will sie das Thema nun
doch nicht mehr anpacken. In dem Rentenversicherungs-
bericht, den das Kabinett vor wenigen Wochen beschlos-
sen hat, wird die Angleichung der Rentenwerte nicht
einmal diskutiert. So schafft man kein Vertrauen in der
Bevölkerung. Damit wird eher das Vorurteil genährt,
dass die Politik sich an ihre Versprechen nicht hält. Ich
finde das gerade in dieser Zeit sehr gefährlich. In den
neuen Bundesländern bleibt das vorherrschende Gefühl,
abgehängt worden zu sein.
Wer eine gerechte Rentenreform möchte, eine ge-
rechte Angleichung der Renten zwischen Ost und West,
wer eine Reform mit Augenmaß möchte, die finanzier-
bar ist, und wer Altersarmut in Ost und West bekämpfen
will, der sollte dem Antrag der Grünen zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wenn man über die Angleichung der Renten zwi-
schen Ost und West diskutiert, dann ist es gut, zunächst
einmal festzustellen: Die Einbeziehung der Rentnerin-
nen und Rentner in den neuen Bundesländern in das Sys-
tem der gesetzlichen Rentenversicherung ist eine der
größten sozialpolitischen Leistungen des deutschen Eini-
gungsprozesses.
Die Rentnerinnen und Rentner – Frau Kollegin
Michalk hat es schon im Einzelnen ausgeführt – sind die
Gewinner der deutschen Einheit. Deswegen muss man in
einer solchen Debatte auch einmal ein herzliches Wort
des Dankes an die Beitragszahlerinnen und Beitragszah-
ler der Rentenversicherung sowie an die Steuerzahlerin-
nen und Steuerzahler in diesem Land dafür richten, dass
sie diese großartige Solidarleistung der Deutschen mit
ihren Beiträgen bis zum heutigen Tag mitfinanziert ha-
ben.
Nun ist in der Debatte schon deutlich geworden: Die
Rentenüberleitung in den neuen Bundesländern ist ein
sehr kompliziertes System. Diesem System lag ein Ge-
danke zugrunde, nämlich dass die unterschiedlichen
Werte, von denen wir reden, sich dadurch angleichen,
dass auch die Löhne und Gehälter zwischen Ost und
West angeglichen werden.
Als man diese gesetzliche Regelung geschaffen hat, war
das eine durchaus sinnvolle und plausible Idee.
In den ersten Jahren der deutschen Einheit, etwa bis
1995 oder 1996, hatten wir einen durchaus deutlichen,
kräftigen Angleichungsprozess;
die Löhne Ost stiegen und damit auch die Renten Ost. In
den letzten Jahren hat sich dieser Angleichungsprozess
allerdings verlangsamt; teilweise ist er sogar zum Still-
stand gekommen.
Deswegen hat uns der Sachverständigenrat in diesem
Jahr empfohlen, zunächst einmal festzustellen: Der Au-
tomatismus, der zur Angleichung der beiden Rentensys-
teme führt und den wir damals bei der Gesetzgebung un-
terstellt haben, wird nicht funktionieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20719
(C)
(D)
Peter Weiß
Daraus ergibt sich der politische Handlungsauftrag für
uns als Gesetzgeber, per Gesetzgebung ein System der
Angleichung der Renten zwischen Ost und West zu
schaffen. Das ist Fakt.
Deswegen möchte ich mich bei der Frau Bundeskanz-
lerin ausdrücklich dafür bedanken, dass sie der Bundes-
regierung den Auftrag gegeben hat,
eine solche Gesetzgebung in Gang zu setzen, die ein ein-
heitliches deutsches Rentenrecht schafft. Das soll aber
– das ist wichtig – richtig gemacht werden.
Deswegen bin ich den Oppositionsfraktionen sehr
dankbar, dass heute hier von den drei Oppositionsfrak-
tionen, die es im Bundestag gibt, mittlerweile insgesamt
fünf unterschiedliche Vorschläge vorgetragen worden
sind.
Das ist eine beachtliche Leistung und zeigt, wie einfach
das ist. Wenn drei Oppositionsfraktionen fünf unter-
schiedliche Vorschläge machen, dann sieht man, wie ein-
fach es ist, ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West
zu schaffen.
Wer ein wirklich gerechtes gesamtdeutsches Rentensys-
tem schaffen will, der muss sich das jetzige Übergangs-
system und die damit verbundenen Leistungen und Wir-
kungen genau ansehen.
Weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den
neuen Bundesländern trotz der Annäherung der unter-
schiedlichen Lohnniveaus durchschnittlich weniger ver-
dienen als ihre Kolleginnen und Kollegen in den alten
Ländern, werden ihre Entgeltpunkte in der Rentenversi-
cherung bis heute höher bewertet. Das ist ein furchtbar
technischer Ausdruck, und niemand kann sich etwas da-
runter vorstellen. Deswegen will ich ihn kurz erklären.
Das bedeutet Folgendes: Ein ostdeutscher Versicherter
in der Rentenversicherung hat derzeit ein durchschnittli-
ches Jahresgehalt von 25 437 Euro. Bei der Rentenversi-
cherung wird er wie ein deutscher Durchschnittsverdie-
ner im Westen behandelt, nämlich so, als ob er 30 084
Euro verdienen würde. Das ist eine Höherwertung. Er er-
hält also genauso wie sein westdeutscher Kollege exakt
einen Entgeltpunkt in der Rentenversicherung gutge-
schrieben.
Durch diese Sonderregelung einer Höherwertung in
den neuen Bundesländern wurde es überhaupt erst mög-
lich gemacht, dass heute in den neuen Bundesländern
auskömmliche Renten gezahlt werden. Hätte man von
Anfang an ein gleiches Rentenrecht in Ost und West ge-
schaffen, dann würden die Rentnerinnen und Rentner in
den ostdeutschen Bundesländern wesentlich weniger
verdienen. Sie würden alle am Hungertuch nagen. Das
ist Fakt.
Würde man andererseits in Ost und West den gleichen
Rentenwert, also den gleichen Zahlbetrag pro Entgelt-
punkt, zugrunde legen, aber die Höherwertung im Osten
weiterführen,
dann wäre dies eine massive Benachteiligung der Versi-
cherten im Westen.
Auch das möchte ich deutlich machen.
Es ist ja schon vorgetragen worden: Schon heute gibt
es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die für die
gleiche Tätigkeit im Osten und im Westen das Gleiche
verdienen: zum Beispiel durch die Tarifangleichung im
öffentlichen Dienst.
Wie wirkt sich das aus? – Wer derzeit ein Bruttoein-
kommen von 2 500 Euro im Monat bezieht, also 30 000
Euro jährlich, und davon 5 970 Euro als Beiträge in die
Rentenversicherung einzahlt, der erwirbt als Arbeitneh-
mer im Westen einen Rentenanspruch von 26,73 Euro.
Der Kollege im Osten, der für den gleichen Job genauso
viel monatlich verdient, erwirbt bereits einen Rentenan-
spruch von monatlich 27,30 Euro. Es ist doch klar, dass
der westdeutsche Kollege das nicht für besonders ge-
recht hält.
Wenn man nun dem Vorschlag der Linken folgen
würde, den sie in ihrem Antrag, der zur Abstimmung ge-
stellt wird, gemacht haben, dann würde dieser ostdeut-
sche Kollege sogar einen Rentenanspruch von 31,06 Euro
erwerben.
20720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Peter Weiß
Entschuldigung, ich kann doch kein neues gesamtdeut-
sches Rentensystem einführen, mit dem ich die Un-
gleichbehandlung noch vergrößere statt verkleinere.
Durch diese Beispiele und auch die Beispiele, die der
K
Angebliche Ungerechtigkeiten und Ungleichbe-
handlungen, die die Menschen heute in der Tat empfin-
den, durch neue Ungleichbehandlungen und Ungerech-
tigkeiten abzulösen, ist garantiert der falsche Weg für die
Entwicklung eines gesamtdeutschen Rentenrechts.
Bei einem gerechten und von den Versicherten in Ost
und West akzeptierten Rentenrecht muss man daher mit
Übergangsregelungen, Stichtagen und Regelungen zur
Besitzstandswahrung arbeiten, durch die ein sinnvoller
Übergang ermöglicht wird.
Deshalb
ist es gut, dass die Bundesregierung unter Auswertung
des Gutachtens des Sachverständigenrates an einer sol-
chen sachgerechten Lösung arbeitet.
Herr Kolb, Frau Schewe-Gerigk, Sie haben bei der
Vorstellung Ihrer Modelle vergessen, zu sagen, dass das,
was Sie vorschlagen, in Zukunft für viele Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer natürlich zu geringeren Ren-
tenansprüchen führt.
– Doch, so ist es. – Dies zeigt: Besitzstandswahrung und
Neuregelung miteinander zu vereinbaren, ist keine einfa-
che Aufgabe.
Wenn man ein gerechtes Rentensystem schaffen will,
dann sollte man ehrlicherweise hinzufügen, dass es ein
unterschiedliches Lohnniveau nicht nur zwischen Ost
und West gibt. Ich will Ihnen dazu ein paar Zahlen nen-
nen, die dies deutlich machen: Seit der Rentenüberlei-
tung im Jahre 1992 liegt zwar regelmäßig das Bundes-
land mit dem niedrigsten Durchschnittswert in
Westdeutschland noch vor dem Bundesland mit dem
höchsten Durchschnittswert in Ostdeutschland. Aber es
ist bereits heute so, dass zum Beispiel Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in Brandenburg 90 Prozent des-
sen verdienen, was jemand durchschnittlich in Schles-
wig-Holstein verdient.
Aber derjenige, der in Schleswig-Holstein lebt, verdient
heute nur 83 Prozent dessen, was jemand in Hessen ver-
dient. Es hat aber noch kein Kollege aus Schleswig-Hol-
stein im Bundestag beantragt, ein Rentensystem mit ei-
ner Höherwertung der Löhne in Schleswig-Holstein
einzuführen, damit man dort auf das Niveau von Hessen
kommt. Würde man jetzt noch kleinräumigere Unter-
scheidungen vornehmen, nämlich zwischen einzelnen
Landkreisen, dann würde man entdecken, dass es mitt-
lerweile in den neuen Bundesländern Landkreise gibt,
die ein durchschnittliches Lohnniveau haben, das durch-
aus dem eines westdeutschen Landkreises entspricht.
Wer also genauer hinschaut, erkennt: Was die Linke
heute zur Abstimmung stellt, schafft massive neue Un-
gerechtigkeiten und hat mit einem solidarischen Sozial-
system ganz und gar nichts zu tun – im Gegenteil.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein neues
gesamtdeutsches Rentensystem darf Deutschland nicht
erneut teilen. Es muss die Solidarität stärken. Das ist un-
ser Maßstab für das, was wir jetzt von der Bundesregie-
rung erwarten und wofür wir der Bundeskanzlerin und
dem Bundesarbeitsminister viel Erfolg wünschen.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Jan Mücke für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-
ben in dieser Debatte gelernt, dass das Ungerechtigkeits-
gefühl auf beiden Seiten besteht: in Ost und in West. In
den alten Ländern existiert dieses Gefühl der Ungerech-
tigkeit, weil es im Osten bei den Entgeltpunkten den
Aufwertungsbetrag von 18,27 Prozent gibt. Im Osten
existiert ein Ungerechtigkeitsgefühl, weil dort immer
nur der Rentenwert betrachtet und argumentiert wird,
der Rentenwert sei um über 3 Euro geringer als der im
Westen. Wenn die Menschen in Ost und West jeweils
immer nur einen Teil dieser Rechnung betrachten, dann
wird sich dieses Ungerechtigkeitsgefühl bis in alle Ewig-
keit fortsetzen. Deshalb ist es höchste Zeit, darüber
nachzudenken, ein einheitliches System für Ost und
West zu schaffen.
Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit wäre noch hin-
nehmbar, wenn diese Anpassungsprozesse relativ
schnell erfolgen würden und man davon ausgehen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20721
(C)
(D)
Jan Mücke
könnte, dass die Anpassung des Ostens an den Westen in
einem überschaubaren Zeitraum zum Ende käme.
Die Wahrheit ist aber, dass dieser Anpassungsprozess
schon vor vier Jahren zum Erliegen gekommen ist. Wahr
ist auch, dass wir, zieht man die Prognose aus dem Ren-
tenversicherungsbericht heran und unterstellt bei der An-
passung des Rentenwertes ein um 0,1 Prozent höheres
Wirtschaftswachstum im Osten als im Westen – das ha-
ben wir schon seit langem nicht mehr –, über eine An-
passung des Ostens an den Westen bis zum Jahre 2128
reden würden. Angesichts dessen, dass die deutsche Tei-
lung 40 Jahre gedauert hat, die Anpassung des Renten-
systems aber 140 Jahre, verstärkt sich dieses Ungerech-
tigkeitsgefühl. Deshalb hat die FDP den Vorschlag
gemacht, das Rentensystem zu vereinheitlichen.
Es geht keinesfalls darum, Renten zu kürzen, wie das
ein Kollege von der Union gesagt hat.
Nichts davon ist richtig. Ich empfehle einen Blick in das
Gutachten des Sachverständigenrates. Dort ist von einer
„besitzstandswahrenden Umbewertung“ die Rede. Das
ist richtig; das ist genau das FDP-Modell.
Meine Damen und Herren, dieses Ungerechtigkeits-
gefühl müssen wir aus der Welt schaffen, weil die meis-
ten Menschen kein Verständnis dafür haben, dass es in
Ost und West Unterschiede gibt. Die Unterschiede bei
den Löhnen gibt es auch innerhalb des Westens und des
Ostens. Jemand in Emden verdient sehr viel weniger
Geld als jemand, der in München tätig ist. So ist es auch
innerhalb des Ostens: Wer in Dresden arbeitet, hat ein
ganz anderes Einkommen als jemand, der im Erzgebirge
arbeitet. Das ist ein Fakt.
Da das Rentensystem nur eingeschränkt dazu geeig-
net ist, diese Unterschiede auszugleichen, sagen wir: Es
ist höchste Zeit, ein einheitliches System zu schaffen.
Zugleich schlagen wir vor, dass es ein Wahlrecht geben
soll, das mit dem 60. Lebensjahr – man kann auch über
das 65. Lebensjahr reden – ausgeübt wird. Wer eine ge-
brochene Erwerbsbiografie hat oder zum Teil im Osten
und im Westen gearbeitet hat – dieser Fall kommt ganz
häufig vor –, soll dieses Wahlrecht ausüben und selbst
entscheiden können, welches System für ihn das bessere
ist. Niemand würde durch unseren Vorschlag in ein
neues einheitliches System gezwungen, wenn er sich mit
dem alten System der Angleichung Ost an West besser-
stellte. Das wäre ein ganz erheblicher Vorteil; dieses
Wahlrecht führte dazu, dass sich niemand übervorteilt
fühlen könnte. Niemand könnte von sich behaupten, er
werde in ein einheitliches System gezwungen.
Deshalb ist der Vorschlag der FDP-Fraktion außeror-
dentlich fair, zugleich aber auch realisierbar. Insoweit
sehen wir uns durch das Gutachten des Sachverständi-
genrates bestätigt, das uns in all diesen Punkten recht
gibt.
Der Sachverständigenrat sagt eindeutig, dass es auch aus
verfassungsrechtlichen Gründen eine Umbewertung ge-
ben muss.
Hinzu kommt, dass wir mit dem Vorschlag einer Ein-
malzahlung einen Anpassungsprozess, der in den letz-
ten vier Jahren gar nicht mehr stattgefunden hat, über-
haupt noch stattfinden lassen wollen. Das ist doch die
Wahrheit. Wir müssen doch sehen, dass es auf lange
Sicht keine Anpassung gäbe, wenn wir uns jetzt nicht
endlich dazu aufrafften, die Rentnerinnen und Rentner in
den neuen Ländern mit einer Einmalzahlung abzufinden.
Gerade diese Betroffenengruppe hätte sehr viel mehr da-
von, wenn eine Anpassung in Form einer Einmalzahlung
in ihrem Portemonnaie ankäme, als wenn sie auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet würde.
Wir wünschen uns eine sachliche Debatte und ein ge-
ordnetes Gesetzgebungsverfahren, das all diese Aspekte
berücksichtigt. Wir als FDP wünschen uns, dass es auch
im Rentenrecht eine Vereinheitlichung gibt, und zwar
nicht nach 140 Jahren, sondern jetzt.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Anton
Schaaf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kolb, Sie wissen, ich lasse Sie in Rentendebatten nie
aus; das werde ich selbstverständlich auch hier nicht tun.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir 20 Jahre nach
der Einheit in der Frage einer Ost-West-Angleichung
Bewegung brauchen. Diese Frage stellt sich mir über-
haupt nicht.
Zunächst komme ich auf die linke Seite zu sprechen,
bevor ich auf den FDP-Vorschlag eingehen werde. Ich
weise es zurück, dass die Linke denen, die seit der Ein-
heit in Gesamtdeutschland Verantwortung hatten, unter-
stellt, sie hätten an dieser Stelle nichts gemacht und
wollten sich auch heute nicht bewegen. Die Mechanis-
men, die wir damals zur Angleichung einführten, haben
über Jahre hinweg ordentlich funktioniert und den Men-
schen im Osten auch höhere Renten gebracht.
20722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Anton Schaaf
Diese automatisch wirkenden Instrumente sind erst in
den letzten Jahren ausgefallen, was mit der Abkoppe-
lung der Lohnentwicklung zu tun hat. Sie hat nicht so
stattgefunden, wie wir es uns alle außer der FDP ge-
wünscht haben.
– Ich kann mich sehr wohl noch an Debatten erinnern,
Herr Kolb, in denen im Hinblick auf die ostdeutschen
Länder von Sonderwirtschaftszonen sowie der Außer-
kraftsetzung der Tarifautonomie und der Betriebsverfas-
sung die Rede war.
Zu dem FDP-Antrag sage ich Folgendes: Mich
würde einmal interessieren, was mit der Einmalzahlung
der Höhe nach gemeint ist. Das müsste man den Men-
schen ja einmal sagen. Bekommen sie dann 1 000 Euro,
1 500 Euro oder 5 000 Euro? Wie viel bekommen sie
denn dann? Hoch spannend ist natürlich auch, dass das
aus Beitragsmitteln finanziert werden soll.
An dieser Stelle wird es kritisch, und auch das muss man
den Menschen sehr deutlich sagen.
Ich finde es übrigens merkwürdig, dass in der Diskus-
sion gefordert wird, dass der Rentenversicherungsbei-
trag abgesenkt wird
– das ist Ihr Anliegen –, man der Rentenversicherung
aber gleichzeitig Mehrlasten in Form von Einmalzah-
lungen aufbürden will. Das ist schon eine merkwürdige
Debatte.
Ihr Vorschlag läuft schlichtweg darauf hinaus, den
Status quo, der insbesondere von den Menschen im Os-
ten als ungerecht empfunden wird, festzuschreiben. Sie
wollen die Menschen mit einer Einmalzahlung ruhigstel-
len. Das funktioniert aber nicht. Das ist ein rentenpoliti-
sches Placebo und sonst gar nichts. Das bringt keine An-
gleichung der Ostrenten an die Westrenten. Deswegen
kann man Ihrem Antrag wirklich nicht zustimmen.
Herr Kollege Gysi, Ihre Rede war ein kurzer Rund-
umschlag. Sie haben gesagt, was aus Ihrer Sicht renten-
politisch alles falsch läuft. Ich nenne nur ein Beispiel,
das von Ihnen immer wieder erwähnt wird. Sie behaup-
ten, die Rente mit 67 sei eine Rentenkürzung.
Diese Argumentation wäre nur dann schlüssig, wenn
man auch sagen würde, dass die Verlängerung der durch-
schnittlichen Rentenbezugszeit, die sich zwischen den
60er-Jahren und heute von 10 auf 17 Jahre verlängert
hat, eine gigantische Rentenerhöhung ist. Nur dann
greift diese Argumentation; sonst läuft sie ins Leere.
Ich finde, man muss auch an solchen Stellen anständig
miteinander umgehen.
Zur Frage der Beitragsbemessungsgrenze: Vielleicht
werden Sie irgendwann einmal verstehen, dass
höchstrichterlich festgestellt wurde, dass Rentenansprü-
che, die man erworben hat, dem Eigentumsvorbehalt un-
terliegen. Man kann Beiträge, die in die Rentenversiche-
rung eingezahlt wurden, nicht einfach umverteilen. Das
funktioniert so nicht. Das muss man doch wissen. Es ist
nicht machbar, die Beitragsbemessungsgrenze aufzuhe-
ben und die Beiträge derer, deren Einkommen darüber
liegt, umzuverteilen. Das würde im Übrigen einem zen-
tralen Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung, der
Leistungsgerechtigkeit, nicht entsprechen. Das muss
man schlichtweg so sagen.
Wenn Sie umverteilen wollen, bleiben Sie lieber im
Bereich der Steuern. Das ist das, was Sie immer ma-
chen. Steuern sind zur Umverteilung geeignet. Sie wer-
den in der Regel erhoben, damit man Leistungen erbrin-
gen kann. Das ist der richtige Ansatz, wenn man das
denn machen will.
All denen, die in der heutigen Debatte gemeint haben:
„Wir nehmen Steuergelder, um die zusätzlich entstehen-
den Lasten zu finanzieren“, sage ich allerdings: Achtet
mir bitte schön auf die Parität.
Jeder Cent mehr Steuern sorgt dafür, dass im System das
Prinzip der Parität verlassen wird. Das kritisieren Sie
sonst immer besonders stark. Ich will nur darauf hinwei-
sen, dass das so ist.
Bezüglich des Lohnniveaus im Osten darf ich als So-
zialdemokrat und Gewerkschaftler einmal feststellen:
Da, wo wir im Osten Tarifgebundenheit haben, ist die
Lohnangleichung zu 95 Prozent erreicht.
Die Ansprüche derer, die im Osten den gleichen Lohn
wie im Westen beziehen, werden höher bewertet. Das
stellt auch niemand infrage. Dadurch ist es in der Tat so,
dass der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin im Os-
ten später höhere Ansprüche hat als der Arbeitnehmer
bzw. die Arbeitnehmerin im Westen.
Es wurde vorgeschlagen, den Rentenwert jetzt anzupas-
sen. Ich habe Sympathien für diesen Vorschlag; das
sollte man zügig machen. Wenn man aber gleichzeitig
die Höherbewertung beibehält, verhält man sich den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Westen ge-
genüber ungerecht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20723
(C)
(D)
Anton Schaaf
Wir können nicht Ungerechtigkeiten oder gefühlte Un-
gerechtigkeiten durch die Verlagerung von Ungerechtig-
keiten beseitigen. So funktioniert das aus meiner Sicht
nicht.
Von daher ist es ohne jeden Zweifel in der Tat ange-
bracht, wenn schon 20 Jahre ins Land gegangen sind,
sich vernünftig und sachgerecht mit dieser Frage zu be-
fassen und sich darüber klar zu werden, wie man dem
berechtigten Anliegen der Menschen im Osten, und zwar
gegenüber allen Beteiligten, gerecht werden kann. Die
Vollendung der deutschen Einheit bedeutet für mich
auch, dass wir die Unterschiede im Rentensystem über-
winden. Ein einheitliches Rentensystem sollte man
aber nicht aushebeln, indem man permanent Ausnahme-
tatbestände schafft, beispielsweise durch Höherbewer-
tung oder durch Beträge, die zusätzlich gezahlt werden
oder Ähnliches. Das kann man nicht machen.
Übrigens kann man – gerechterweise muss man das
sagen – drohende Altersarmut nicht über das Renten-
system bekämpfen. Das funktioniert überhaupt nicht.
Das, was arbeitsmarktpolitisch leider noch nicht funktio-
niert, was sozialpolitisch und auf anderen Ebenen leider
noch nicht ordentlich funktioniert, über das Rentenrecht
reparieren zu wollen, ist höchst gefährlich für dieses
System. Bei diesem System geht es nämlich auch um die
Akzeptanz der Menschen, übrigens in Ost und in West.
Herr Gysi, was Sie vorschlagen, wäre eine dauerhafte
Besserstellung. Wenn ich die Diskussion der Menschen
im Osten richtig verstanden habe – ich glaube, ich habe
sie richtig verstanden –, dann streben die Menschen im
Osten keine dauerhafte Besserstellung, sondern eine
Gleichstellung an. Wir werden uns darum kümmern.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Herr Kollege
Dr. Kolb.
Herr Kollege Schaaf, Sie haben – wie zuvor schon
Frau Kollegin Schewe-Gerigk – behauptet, die FDP
schlage eine Finanzierung aus Beitragsmitteln vor. Wir
schlagen in der Tat eine Finanzierung aus der Renten-
kasse vor. Ich will Sie aber daran erinnern, dass die Ren-
tenkasse aus Beitragsmitteln und aus Steuermitteln ge-
speist wird. 80 Milliarden von 240 Milliarden Euro
kommen aus dem Bundeshaushalt. Das ist ein Drittel der
Einnahmen der Rentenkasse. Dies haben wir bei unse-
rem Vorschlag natürlich berücksichtigt.
Ich kann Ihre Verwunderung auch in der Sache nicht
nachvollziehen. Wenn wir alles so weiterlaufen lassen,
wie es jetzt ist – das wollen Sie offensichtlich –, würde
ein künftiges Anwachsen des Rentenwertes Ost, der
dann zu höheren Renten führt, natürlich auch aus der
Rentenkasse finanziert.
Wir schlagen vor, die Zahlungsreihe, die sich ergibt,
wenn man die künftig zu erwartenden Rentensteigerun-
gen zugrunde legt – nach unserem Vorschlag auf der Ba-
sis der positiven Prognose des Sachverständigenrates –,
mit einem vernünftigen und korrekten Abzinsungsfaktor
in die Gegenwart vorzuholen.
Das ergibt eine Zahlung, die man natürlich nicht pau-
schal berechnen kann. Diese Zahlung ist vielmehr indi-
viduell. Das hängt von der Zahl der Entgeltpunkte Ost
ab, die man als Versicherter hat. Außerdem hängt dies
von der durchschnittlichen künftigen Lebenserwartung
der entsprechenden Kohorte ab; denn es stellt sich die
Frage, wie lange man an den künftigen weiteren Renten-
steigerungen teilhat.
Dann ergibt sich ein individueller Zahlungsbetrag.
Sie sind ohne Weiteres – wenn nicht Sie, dann die Bun-
desregierung – in der Lage, das selbst einmal durchzu-
rechnen. Der Vorschlag ist fair, systematisch, und er ent-
hält keinen Bruch. Wenn man die Rentenerhöhungen
künftig aus der Rentenkasse finanziert, dann spricht
überhaupt nichts dagegen, die Einmalzahlung auch aus
der Rentenkasse zu finanzieren. Zieren Sie sich deshalb
nicht lange. Stimmen Sie dem Vorschlag der FDP zu,
weil er eine zeitnahe und finanzierbare Lösung beinhal-
tet.
In einem Punkt stimme ich mit Ihnen überein. Man
sollte nicht versuchen, die Frage der Vereinheitlichung
des Rentenrechts und des Lückenschlusses damit zu
überfrachten, dass man bei Gelegenheit das Problem der
Altersarmut mit lösen will, wie es die Grünen vorge-
schlagen haben.
Die Aufgabe ist komplex genug. Wir wollen das eine
von dem anderen trennen. Wir sollten aber beides zügig
angehen.
Wollen Sie antworten, Herr Kollege? – Bitte, Herr
Kollege Schaaf.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kolb, wenn Sie die
Rentenkasse und den darin enthaltenen Steueranteil ins
Spiel bringen, dann muss man dennoch darauf hinwei-
sen, dass dies die Rentenkasse zusätzlich sehr deutlich
belasten wird. Sie haben eine Diskussion mit dem Ziel
geführt, den Rentenversicherungsbeitrag abzusenken.
Das heißt, Sie belasten mit Ihrem Vorschlag die Einnah-
20724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Anton Schaaf
meseite der Rentenversicherung. Auf der anderen Seite
sind dann Mehrausgaben über den Weg zu tätigen, den
Sie beschrieben haben.
Das führt dazu, dass man die Staatsverschuldung
eventuell erhöhen muss. Man muss dann aber auch ehr-
lich sagen, dass man das in Kauf nimmt. Sie plädieren
aber immer wieder dafür und haben auch im Rahmen der
Haushaltsberatungen gesagt, eine Nettoneuverschuldung
von 18,5 Milliarden Euro sei nicht notwendig. All das
haben Sie gesagt, und das steht im Widerspruch zu dem,
was Sie jetzt fordern.
Eines bleibt auch sicher. Sie waren dabei, als die deut-
sche Einheit und die aus der deutschen Einheit resultie-
renden Lasten falsch finanziert wurden.
Sie waren dabei, als die Sozialkassen mit den Kosten
der deutschen Einheit belastet worden sind.
Rot-Grün hat das langsam umgesteuert. Daher kom-
men im Wesentlichen die 80 Milliarden Euro für die
Rentenversicherung, weil diese in den Jahren seit 1998
aufgewachsen sind.
Das ändert nichts daran, dass Sie mit Ihrem Vorschlag
das von den Menschen im Osten als ungerecht empfun-
dene System schlichtweg festschreiben und durch eine
Einmalzahlung sozusagen Ihr schlechtes Gewissen beru-
higen. An dieser Stelle können wir nicht mitmachen.
Nun hat das Wort der Kollege Matthäus Strebl für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute über Anträge zur
Angleichung der Rentenwerte Ost an West. Dazu liegen
bekannterweise Anträge von den drei Oppositionspar-
teien vor. Ob dieser Weg zum richtigen Ziel führt,
möchte ich dahingestellt sein lassen. Aber ich muss ein-
gangs feststellen: Für die Unionsfraktion ist es unbefrie-
digend, dass es bei den Renten immer noch Unter-
schiede zwischen Ost und West gibt. Wir alle wissen:
Im direkten Vergleich hat ein Westrentner nach 45 Bei-
tragsjahren rund 150 Euro monatlich mehr als sein Kol-
lege aus dem Osten in der Tasche. Aber wir dürfen diese
Debatte, die ein sehr sensibles Thema behandelt, nicht
zu einer Diskussion über Ost gegen West oder umge-
kehrt werden lassen.
Auch ich setze mich mit meiner Fraktion der CDU/
CSU und gemeinsam mit der Großen Koalition über-
zeugt für eine zügige Angleichung der Rentenwerte ein.
Diese Diskussion muss aber sachlich geführt werden.
Tun wir bitte nicht so, als wäre seit der Wiedervereini-
gung für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bun-
desländern nichts getan worden. In all den Jahren wurde
eine Menge getan.
Der geforderte Anpassungsprozess hat durch das
Renten-Überleitungsgesetz bereits im Jahr 1992 be-
gonnen. Dieses Renten-Überleitungsgesetz hat sich be-
währt. Die eingeführten Faktoren zur Berechnung einer
Rente sorgen seither für eine schrittweise Anpassung.
Die Erhöhung der Renten seit dem Renten-Überleitungs-
gesetz belegt das eindeutig. So sind von 1991 bis heute
die Renten in den alten Bundesländern um 25 Prozent
gestiegen. Zum Vergleich: In den neuen Bundesländern
sind sie um 116 Prozent gestiegen.
Grund dafür – das wissen wir; das wurde heute schon
von meinen Vorrednern angeschnitten – ist sicher auch,
dass die Renten in Ostdeutschland besonders in den ers-
ten Jahren nach der Wiedervereinigung stärker gestiegen
sind. Solche Rentensteigerungen würden wegfallen,
wenn die Werte ab dem nächsten Jahr bundesweit ein-
heitlich festgelegt würden. Das ist nur ein Beispiel, wa-
rum eine sofortige Angleichung negative Auswirkungen
mit sich bringen würde.
Würden die Rentenwerte ab dem nächsten Jahr
gleichgestellt werden, hätte dies den Wegfall der Höher-
bewertung von 18 Prozent der Ostentgelte in der Ren-
tenberechnung zur Folge. Das wiederum führt bei
gleichbleibenden Einkommen zu niedrigeren Rentenan-
sprüchen. Erklären lässt sich das dadurch, dass die Ein-
kommen in den neuen Bundesländern im Allgemeinen
nicht auf dem Westniveau sind. Vielmehr liegen sie im
Durchschnitt rund 18 Prozent niedriger als im Westen.
Durch die Höherbewertung wird also von Anfang an ein
Beitrag zur Gerechtigkeit geleistet.
Wahr ist auch: In etlichen Fällen gibt es dadurch im
Osten sogar höhere Durchschnittsrenten aus der ge-
setzlichen Rentenversicherung als im Westen. Ich nenne
ein Beispiel – darauf hat auch schon Kollege Peter Weiß
verwiesen; ich möchte es wiederholen, um es noch ein-
mal klar herauszustellen –: Nach den Berechnungen der
Deutschen Rentenversicherung bekommt ein Arbeitneh-
mer mit 30 000 Euro Jahresgehalt für seine gezahlten
Beiträge im Westen eine Rente von 27,02 Euro und im
Osten eine von 27,59 Euro. Wie gesagt, das ist auf ein
Jahresgehalt bezogen.
Weil die Wirtschaftskraft in den neuen Bundeslän-
dern noch immer geringer als im Westen ist, werden die
Ostrenten zum Teil mit Beitragsgeldern aus den alten
Ländern finanziert. Laut Einheitsbericht der Bundesre-
gierung beträgt dieser West-Ost-Transfer im laufenden
Jahr rund 14 Milliarden Euro.
Für die volle Anpassung der Rentenhöhe würden
nach Expertenschätzung weitere 6 Milliarden Euro be-
nötigt. Es ist also unsinnig, zu behaupten, die Renten-
werte könnten losgelöst von anderen Faktoren behandelt
werden. Wenn nicht auch die gesamtwirtschaftlichen
Daten annähernd gleich sind, ist dies eine Milchmäd-
chenrechnung. Solange sich die Produktivität von Ost
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20725
(C)
(D)
Matthäus Strebl
und West nicht ebenfalls angeglichen hat, hätten einsei-
tige Angleichungen der Rentenwerte verheerende finan-
zielle Folgen.
Diese Probleme – da müssen wir alle der Bundes-
kanzlerin und den Ministerpräsidenten der ostdeutschen
Länder recht geben – sind kurzfristig nicht zu lösen. Da-
her sage ich unmissverständlich an die Adresse derer, die
meinen, das Rentenniveau Ost könne sofort an das Ren-
tenniveau West angeglichen werden – das richtet sich
insbesondere an die Linkspartei –: Sie machen den Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Rentne-
rinnen und Rentnern Versprechen, die Sie nicht halten
können. Diese Versprechen könnten Sie nur dann halten,
wenn Sie den Menschen entweder in die Taschen greifen
oder die Verschuldung erhöhen würden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die geplan-
ten Rentenwertangleichungen würden dauerhaft Kos-
ten verursachen, die nicht durch neue Steuerbelastungen
gedeckt werden können. Ich darf Sie daran erinnern,
dass wir in der vergangenen Woche, als es um den Haus-
halt ging, ausführlich über das Thema Steuerbelastun-
gen diskutiert haben. Das scheinen die Kolleginnen und
Kollegen von der FDP allerdings nicht zu berücksichti-
gen. Sie schlagen vor, alle Rechenwerte bis Juni 2010 zu
vereinheitlichen – so habe ich den Kollegen Kolb jeden-
falls verstanden –,
damit dann alle einheitliche Rentenansprüche haben.
Wie das finanziert werden soll, sagen Sie allerdings
nicht.
Sie vom Bündnis 90/Die Grünen schlagen vor, alle
Bezugsgrößen der Rentenversicherung sofort zu verein-
heitlichen und dafür die Höherbewertung nur noch für
Geringverdiener beizubehalten.
Die Frage der Gegenfinanzierung lassen auch Sie of-
fen.
Sie von der Linken machen es sich einfach. Sie for-
dern schlichtweg die immerhin stufenweise Angleichung
bis 2012, wollen die Höherbewertung der Ostentgelte al-
lerdings beibehalten. Die dadurch entstehenden Kosten
von über 6 Milliarden Euro – das ist ein immenser Be-
trag – sollen nach Ihrer Auffassung wahrscheinlich die
Steuerzahler tragen. Ich stelle ausdrücklich fest: Die drei
zum Thema „Einheitliches Rentenrecht in Ost und West“
vorliegenden Anträge werfen neue Fragen auf, mit Risi-
ken und Nebenwirkungen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
wenn wir über Gerechtigkeit bei der Rente reden, müs-
sen wir den Menschen auch vermitteln, dass die Politik
gemeinsam, ernsthaft und nachhaltig auf die Anglei-
chung der Rentenniveaus hinarbeitet.
Weil es gerade um das Thema Gerechtigkeit geht,
möchte ich noch auf ein Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts aus dem Jahr 2005 hinweisen. Nach Ansicht der
Richter ist es der Politik gelungen, die Bestandsrentner
in behutsamer Weise an das neue Recht heranzuführen.
Eine Dynamisierung der Auffüllbeträge, so die Richter,
würde jährliche Kosten von bis zu 28 Milliarden Euro
verursachen. Auch die Berücksichtigung der letzten
20 Erwerbsjahre sei nicht zu beanstanden, urteilten die
Richter.
Ich wiederhole, dass das Thema, über das hier disku-
tiert wird, ein äußerst sensibles Thema ist. Gehen wir
auch so damit um! Das Thema Rente muss mit der gebo-
tenen Sorgfalt und Weitsicht und vor allem im Interesse
der Bürgerinnen und Bürger im Osten wie im Westen,
also im Sinne der Bürgerinnen und Bürger Gesamt-
deutschlands behandelt werden. Aus diesem Grunde
empfehle ich Ihnen am Schluss meiner Rede, insbeson-
dere den Antrag der Linken abzulehnen.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Iris Gleicke für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor kurzem wurde eine Studie veröffentlicht, nach der
die Menschen in Ostdeutschland mit der sozialen Ge-
rechtigkeit in unserem Land mehrheitlich unzufrieden
sind. Mehr als die Hälfte, nämlich 53 Prozent der befrag-
ten Ostdeutschen, vertrauen unseren sozialen Siche-
rungssystemen nur zum Teil, 28 Prozent haben wenig
und 8 Prozent überhaupt kein Vertrauen in sie. Dabei ist
die Frage nach dem Vertrauen in unseren Sozialstaat
für das Vertrauen in die Demokratie mit entscheidend.
Die Rente ist ein durch Arbeit und durch Beitragszah-
lung erworbener Rechtsanspruch. Wer mit diesem sen-
siblen Thema Schindluder treibt, versündigt sich am So-
zialstaat und damit auch an der Demokratie.
Die Menschen in Ostdeutschland empfinden das
geteilte Rentenrecht als ungerecht. Das ist auch kein
20726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Iris Gleicke
Wunder; denn es war nur für einen Übergangszeitraum
gedacht. Deshalb arbeiten wir an einer Ausgestaltung
des Rentenrechts, die von den Menschen in Ostdeutsch-
land und in Westdeutschland als gut und gerecht emp-
funden wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
Sie haben einen Vorschlag vorgelegt, den Sie hier und in
der Öffentlichkeit als Gipfel der sozialen Gerechtigkeit
verkaufen. Sie wollen den Rentenwert Ost auf das
Westniveau anheben und gleichzeitig die Hochwertung
der ostdeutschen Arbeitsentgelte beibehalten. Ganz
abgesehen davon, dass Ihr Vorschlag über 6 Milliarden
Euro kosten würde, die irgendwie aufgebracht werden
müssten, würde damit der Grundsatz „gleiche Beiträge,
gleiche Rente“ eben nicht verwirklicht werden,
sondern wir hätten dann ganz klar immer noch ein ren-
tenrechtliches Sondergebiet Ost.
Wir hätten – auch das gehört dazu – eine deutliche
Besserstellung der Ostdeutschen gegenüber den West-
deutschen. Ich frage Sie ganz klar: Was hat das eigent-
lich mit Gerechtigkeit zu tun?
Zumindest die Ostdeutschen unter Ihnen wissen, wie
schwer es für uns alle in Ostdeutschland ist, so elementar
wichtige und zentrale Dinge wie den Solidarpakt gegen-
über allen möglichen Begehrlichkeiten aus den alten
Bundesländern zu verteidigen. Mit Ihrem Vorschlag,
liebe Kolleginnen und Kollegen, erweisen Sie uns einen
Bärendienst.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider?
Aber selbstverständlich.
Bitte.
Ja, das ist richtig. Man kann auch Fragen zum Osten
stellen, wenn man ganz aus dem Westen dieses Landes
kommt.
Das ist wahr.
Liebe Kollegin Gleicke, Sie sind zwischenzeitlich
schon die fünfte Rednerin – ich habe das mitgezählt –,
die den Punkt anspricht, dass die Höherwertung eine
Bevorzugung der Menschen im Osten darstellen kann.
Ich frage jetzt zum zweiten Mal: Warum spricht hier nie-
mand der Rednerinnen und Redner das Problem an, dass
immer noch mit der Höherwertung von 18 Prozent der
Durchschnitt von 82 Prozent des Westlohnes ausgegli-
chen werden soll und dass so etwas leider Gottes wie ein
Schuss aus der Schrotflinte ist? Das bedeutet eben, dass
Menschen, die 100 Prozent bekommen, damit unange-
messen viel erhalten, dass aber auf der anderen Seite
denjenigen, die heute nur 70 Prozent des Westlohnes er-
halten, mit diesen 18 Prozent zwar wenigstens etwas ge-
holfen wird, aber Gerechtigkeit auch an dieser Stelle
nicht hergestellt wird.
Ein zweiter Punkt.
– Auch Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bevor Sie hier in einen Dialog eintreten, möchte ich
gerne noch den zweiten Punkt hören, damit ich etwas
dazu sagen kann.
Sie haben den Punkt der Beitragszahlung angespro-
chen. Die Beitragszahlung ist von dem Lohn, den ich
verdiene, abhängig. Wenn ich einen ungerechten Lohn
beziehe, der deutlich niedriger liegt als der im Westen,
dann habe ich natürlich die Schwierigkeit, entsprechend
viel einzuzahlen, um dieselbe Rente zu bekommen. Kön-
nen Sie sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass
Menschen mit gleicher Lebensleistung, also die Verkäu-
ferin, die früher im Konsum gearbeitet hat und heute von
mir aus bei Karstadt im Osten arbeitet, und die Verkäufe-
rin, die im Westen bei Karstadt arbeitet, am Ende für die
gleiche Lebensleistung die gleiche Rente bekommen?
Herr Kollege Schneider, Ihre beiden Fragen sind ent-
larvend. Sie stimmen mir nämlich zu und erklären das
auch noch. Sie möchten nämlich gerne allen alles Gute
tun.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20727
(C)
(D)
Iris Gleicke
Sie möchten sich dabei jedoch nicht in der Systematik
der Rente bewegen, sondern Sie machen wie immer Ver-
sprechungen, aber zulasten anderer.
Das, was Sie gerade mit den ungerechten Löhnen der
Verkäuferinnen angesprochen haben, versuchen wir So-
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit unserem
Kampf für Mindestlöhne und ordentliche Tariflöhne
zu korrigieren.
Nach Ihren Anträgen wissen wir ja, dass Sie – das ist
wunderbar – an unserer Seite kämpfen. Damit haben wir
kein Problem. Unterstützen Sie uns ruhig weiterhin.
Aber die Ungerechtigkeit, die Sie beschreiben, gilt eben
auch für die Verkäuferinnen in den alten Bundesländern.
Unser Problem ist – Herr Schneider, das wissen wir in
Ostdeutschland doch –, dass Licht und Schatten eng bei-
einanderliegen. Wir wissen: Wir haben viel erreicht. Wir
haben aber noch viel zu tun. Es gibt Branchen, in denen
die Löhne angeglichen sind. An anderer Stelle haben wir
solche gravierenden Unterschiede, wie Sie sie benennen.
Deshalb formulieren wir eben nicht einen populistischen
Antrag sondern versuchen, eine wirklich vernünftige Lö-
sung zu finden, die genau bei den Ungerechtigkeiten in-
nerhalb des Systems ansetzt. Das ist unsere Aufgabe.
Herr Schneider, was wollen Sie eigentlich? Wollen
Sie eine auf Dauer angelegte saubere und gerechte Lö-
sung im Sinne des sozialen Friedens in diesem Land,
oder geht es hier wirklich bloß um billigen Wahlkampf
und um billige wahltaktische Vorteile? Begreifen Sie ei-
gentlich gar nicht, dass Sie mit Ihren Vorschlägen an der
Büchse der Pandora zumindest herumfummeln, dass Sie
damit leichtfertig vieles von dem aufs Spiel setzen, was
seit 1990 in unserem Land zusammengewachsen ist?
Die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner sind
nicht die Verlierer der deutschen Einheit; ganz im Ge-
genteil. Die geltende Regelung hat seit der Rentenüber-
leitung in Ostdeutschland Nachteile für Beitragszahler
und Rentner ausgeglichen, für die Beitragszahler des-
halb, weil die viel zu niedrigen Löhne auf das durch-
schnittliche Westniveau hochgewertet wurden, und für
die Rentnerinnen und Rentner deshalb, weil die Renten
enorm steigen konnten – das ist von der Kollegin Michalk
schon gesagt worden –, nämlich in den alten Bundeslän-
dern seit 1991 um rund 25 Prozent, in den neuen Bun-
desländern um rund 116 Prozent. Das, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hätten wir mit einem von Anfang an ein-
heitlichen, gesamtdeutschen Rentenrecht niemals erreicht.
Es ist unseriös, ja nachgerade unanständig, wenn Sie
sich hinstellen und sagen: Da besteht seit 18 Jahren eine
Ungerechtigkeit. – Die Ungerechtigkeiten sind in den
letzten Jahren entstanden. Das hat etwas mit den Anglei-
chungsprozessen zu tun. Zumindest das müssen Sie den
Menschen auch sagen.
Jetzt brauchen wir einen klaren Fahrplan.
Wir müssen im Hinblick auf die Ungerechtigkeiten, die
da sind, klare Antworten finden. Nicht nur das Kabinett
hat den Bundesarbeitsminister dazu aufgefordert, son-
dern auch die Fraktionen sind mit ihm im Gespräch.
Wir wollen eine vernünftige, der Sache angemessene
und gerechte Lösung. Sie muss aus der Sicht der ostdeut-
schen Sozialdemokraten folgende drei Kriterien erfüllen:
Erstens. Alle bis zur Angleichung erworbenen An-
wartschaften und Entgeltpunkte müssen in ihrem Wert
bestehen bleiben.
Es darf nicht zu Verschlechterungen für Versicherte so-
wie Rentnerinnen und Rentner kommen.
Zweitens. Die gesamtdeutschen Lohn- und Gehalts-
steigerungen müssen sich für die Versicherten und Rent-
ner gleichermaßen auswirken.
Drittens. Mit bestehenden Ungleichbehandlungen der
ost- und der westdeutschen Versicherten bei gleichen
Löhnen und Gehältern – das ist vollkommen klar – muss
Schluss sein.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht
nur um Rechtseinheit. Im Osten – nicht nur im Osten,
auch im Westen, aber gerade im Osten, und zwar auf-
grund der höheren Arbeitslosenzahlen und der vielfach
gebrochenen Erwerbsbiografien – droht Altersarmut;
unser Kollege Schaaf hat das schon angesprochen. Wir
müssen an der Stelle für die Menschen etwas tun. Wir
müssen Altersarmut dauerhaft verhindern, und zwar in
Ost wie in West.
Wir brauchen zumindest gesetzliche Mindestlöhne.
Ohne einen vernünftigen, existenzsichernden Lohn kann
niemand einen vernünftigen, existenzsichernden Renten-
anspruch aufbauen; das ist doch so klar wie Kloßbrühe.
Das sage ich jetzt ganz bewusst den Kolleginnen und
Kollegen von der FDP: Herr Kollege Mücke, wie Sie
merken, teile ich Ihren Befund; das ist gar keine Frage.
20728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Iris Gleicke
Aber es sind doch Krokodilstränen, die Sie da vergießen,
Herr Kollege Kolb. Ihre Antwort auf die Frage des Auf-
baus Ost war in vielen Jahren – sie ist es immer noch –,
die Löhne so niedrig wie möglich zu lassen.
Genau darin liegt die Ursache dafür, dass die Rentenan-
sprüche geringer sind. Wenn wir mit der Angleichung in
den vergangenen 20 Jahren vorangekommen wären,
hätte sich der Aufwertungsfaktor genau wie die unter-
schiedlichen Rentenwerte in Luft aufgelöst.
Kämpfen Sie also mit uns zusammen für gleiche Löhne
für gleiche Arbeit! Tun Sie mit uns zusammen etwas ge-
gen die Dumpinglöhne im Osten, die dort noch vielfach
gezahlt werden!
Die Menschen in Ostdeutschland wollen nicht besser-
gestellt und bevorzugt werden. Wir wollen Gleichstel-
lung ohne Wenn und Aber, und zwar zu 100 Prozent.
Dafür kämpfen wir als ostdeutsche Sozialdemokraten.
Dafür kämpfen wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen
und Kollegen auch aus den alten Bundesländern. Dafür
setzen wir uns ein, und dafür machen wir auch Druck.
Aber wir lassen uns nicht unter Druck setzen.
Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Gregor Amann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Knapp 40 Jahre nach ihrer Gründung musste die
DDR wirtschaftlich gesehen Insolvenz anmelden.
Der volkswirtschaftliche Bankrott der DDR – vom poli-
tischen Bankrott ganz abgesehen – führte zur Wiederver-
einigung Deutschlands. Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, aber auch Rentner und Rentnerinnen in Ost und
West zahlen noch heute, 20 Jahre nach der Wiederverei-
nigung, den Preis für die Jahrzehnte einer untauglichen
Wirtschaftspolitik der DDR.
Bis heute liegt das Lohnniveau in den neuen Bundeslän-
dern unter dem des Westens und damit auch der Renten-
wert Ost unter dem Rentenwert West.
Über die letzten 20 Jahre betrachtet – das wurde wie-
derholt gesagt – war die Geschichte der Überleitung der
Ostrenten in die gesamtdeutsche Rentenversicherung
eine Erfolgsgeschichte. Ich muss das nicht weiter aus-
führen. Diese Erfolgsgeschichte wurde in den letzten
beiden Jahrzehnten durch einen hohen Milliardentrans-
fer von West nach Ost finanziert. Ich kritisiere das nicht.
Er war richtig und gerecht. Aber ich möchte an dieser
Stelle auch erwähnen, welche Summen dafür aufge-
bracht werden mussten.
In den letzten Jahren stagnierte die Angleichung von
Löhnen und Renten in Ost und West, während sich die
Lebenshaltungskosten weiter anglichen. Deshalb ist die
Frage von vielen berechtigt, wann die letzten Unter-
schiede beseitigt werden. Eine endgültige Lösung dieser
Frage muss aus meiner Sicht folgende Bedingungen er-
füllen:
Erstens. Die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Ren-
ten muss gegeben sein. Mit jedem eingezahlten Euro
Rentenbeitrag muss der gleiche Rentenanspruch erwor-
ben werden, unabhängig vom Wohn- und Beschäfti-
gungsort.
Zweitens. Die heutige Rentnergeneration darf nicht
gegen die zukünftige Generation, also die heutigen Bei-
tragszahler, ausgespielt werden. Die Lasten müssen
gleichmäßig und gerecht auf beide Gruppen verteilt wer-
den.
Drittens. Es darf nicht Ost gegen West ausgespielt
werden. Keine Reform darf einen Teil des Landes einem
anderen gegenüber bevorzugen oder benachteiligen.
Viertens. Jeder Rentenvorschlag muss auch finanzier-
bar sein.
Alle vorgeschlagenen Reformen, auch die vorliegen-
den Anträge, müssen anhand dieser Kriterien bewertet
werden. Wenn sie sie nicht vollständig erfüllen können,
dann müssen sie zumindest mehr Gerechtigkeit schaffen
als beim Status quo.
Am stärksten wird diese Zielmarke von dem vorlie-
genden Antrag der Linken verfehlt. Sie wollen den Ren-
tenwert Ost auf den Rentenwert West bis zum Jahr 2012
bei gleichzeitiger Beibehaltung der Höherbewertung
der Einkünfte in Ostdeutschland anheben. Dass diese
Anhebung des Rentenwertes 6 Milliarden Euro kosten
würde, wurde schon erwähnt; das ist aber nicht mein
Hauptargument dagegen. Der Antrag der Linken kann
keines der genannten Kriterien erfüllen. Erstens zerstört
er die Äquivalenz zwischen Beiträgen und Renten, einen
der Grundprinzipien unseres Rentenversicherungssys-
tems.
In Ostdeutschland wären Lohnniveau und Rentenhöhe
voneinander abgekoppelt. Gleiche Rentenbeiträge wür-
den zu unterschiedlichen Rentenleistungen führen. Der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20729
(C)
(D)
Gregor Amann
Antrag spielt Alt gegen Jung aus, da er Bestandsrentner
im Osten deutlich besser stellt, aber zulasten künftiger
Rentnergenerationen, also der heutigen Steuer- und Bei-
tragszahler. Er spielt auch Ost gegen West aus; denn von
der Anhebung und Höherbewertung profitieren aus-
schließlich Rentner und Arbeitnehmer im Osten, wäh-
rend die Rentner und Arbeitnehmer im Westen relativ
schlechter gestellt würden bzw. das Vorhaben über ihre
Steuern und Beiträge finanzieren müssten.
Die Beibehaltung der Höherbewertung der Einkom-
men in den neuen Bundesländern kann man den Be-
schäftigten in westdeutschen Niedriglohngebieten nur
schwer erklären – das wurde schon ausgeführt –, zumal
Sie diese Höherbewertung anscheinend anders als die
Angleichung des Rentenwerts nicht aus Steuern, sondern
aus Beitragsmitteln finanzieren wollen.
Der Antrag entspricht also der üblichen Machart der An-
träge von Linken. Sie versprechen den Menschen mög-
lichst viel, sagen aber nicht, dass man dafür bezahlen
muss und wer es bezahlen soll.
Aber auch der Antrag der FDP ist ein unzureichender
Versuch, die Ost-West-Rentenfrage zu lösen. Sie wollen
ein einheitliches Rentenrecht einführen. Die Lohnhoch-
wertung wird abgeschafft. Dieser Vorschlag erfüllt zu-
mindest eine der von mir genannten Bedingungen:
Jeder Beitrags-Euro führt zu einer gleichen Rentenleis-
tung.
Aber, Herr Dr. Kolb, ich möchte noch etwas zu der
Einmalzahlung sagen, die Sie erwähnt haben. Diese
Einmalzahlung wird auf der Grundlage einer unterstell-
ten statistischen Lebenserwartung errechnet. Das bedeu-
tet doch, dass sich jeder Rentner, der sich wirtschaftlich
klug verhält – Sie meinen zumindest, die Partei des wirt-
schaftlichen Sachverstands zu sein –, bemühen muss,
möglichst unterhalb dieser Lebenserwartung zu bleiben;
denn jeder, der vorher verstirbt, hat einen Gewinn ge-
macht. Das ist die Gerechtigkeit dieser Einmalzahlung.
In dem Antrag der Grünen wird ebenfalls eine An-
gleichung der Rentenwerte vorgeschlagen, aber bei einer
teilweisen Beibehaltung des Hochwertungsfaktors
nur für Geringverdiener. Auch das überzeugt mich
nicht.
– In dem Antrag kann man nicht erkennen, ob sich das
nur auf Ost oder auf Ost und West bezieht.
– Sie haben in Ihrem Beitrag gesagt, dass sich das auf
Ost und West bezieht. Aber auch das widerspricht dem
Äquivalenzprinzip unserer Rentenversicherung. Auch
hier führte der gleiche Rentenbeitrag zu unterschiedli-
chen Rentenleistungen.
Abschließend will ich noch darauf hinweisen, dass
keiner der vorgelegten Anträge einen Vorschlag dazu
enthält, wie wir mit rentenrechtlichen Lücken und mit
Zeiten der Langzeiterwerbslosigkeit umgehen, welche
die Rentenbiografie gerade vieler ostdeutscher Arbeit-
nehmer in den letzten 20 Jahren prägen und – unabhän-
gig von der Angleichung des Rentenwerts – eine wich-
tige Ursache für mögliche Altersarmut der Betroffenen
in der Zukunft sind.
Ziel sozialdemokratischer Politik ist weiterhin, mög-
lichst bald gleiche Lebensbedingungen in Ost und West
zu schaffen, also auch gleiche Löhne und Renten. Die
vorliegenden Anträge taugen dazu nicht. Deswegen leh-
nen wir sie ab.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9482 und 16/10375 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 c. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Angleichung des aktuellen Renten-
werts an den aktuellen Rentenwert“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/8443, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/6734 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a bis 44 g sowie
Zusatzpunkt 1 a bis 1 c auf:
44. a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des
Fahrverbots als Hauptstrafe
– Drucksache 16/8695 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
20730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Tä-
terverantwortung
– Drucksache 16/10068 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Sach-
aufklärung in der Zwangsvollstreckung
– Drucksache 16/10069 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung vom 23. März 2007 des Übereinkommens
vom 20. August 1971 über die Internationale
Fernmeldesatellitenorganisation „ITSO“
– Drucksache 16/10932 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Agrarstatistikgesetzes und des
Rinderregistrierungsdurchführungsgesetzes
– Drucksache 16/10994 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Mechthild Dyckmans, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Zwangsvollstreckung beschleunigen – Gläubi-
gerrechte stärken
– Drucksache 16/7179 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht über die Tätigkeit der Verkehrsinfra-
strukturfinanzierungsgesellschaft im Jahr 2006
– Drucksache 16/8277 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 1 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck , Volker
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vielfalt verbindet – Europäische Kultur stär-
ken und weiterentwickeln
– Drucksache 16/10339 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP
Angemessene und zukunftsorientierte Unter-
stützung der Contergangeschädigten sicher-
stellen
– Drucksache 16/11223 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen , Peter Albach,
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in und für
Europa aktiv gestalten
– Drucksache 16/11221 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 o sowie
Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.
Tagesordnungspunkt 45 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom
8. Dezember 2005 zu den Genfer Abkommen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20731
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
vom 12. August 1949 über die Annahme eines
zusätzlichen Schutzzeichens
– Drucksache 16/9700 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses
– Drucksache 16/10648 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Marina Schuster
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/10648, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9700
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Protokollen vom 9. Juli
2008 zum Nordatlantikvertrag über den Bei-
tritt der Republik Albanien und der Republik
Kroatien
– Drucksache 16/10814 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses
– Drucksache 16/11239 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Johannes Jung
Dr. Werner Hoyer
Monika Knoche
Marieluise Beck
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/11239, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10814
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der
Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 7. De-
zember 2005 zur Änderung des Abkommens
vom 20. Juni 1996 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland, den Vereinten
Nationen und dem Sekretariat des Rahmen-
übereinkommens der Vereinten Nationen über
Klimaänderungen über den Sitz des Sekreta-
riats des Übereinkommens
– Drucksache 16/10815 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
– Drucksache 16/11218 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11218, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/10815 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Absicherung von Luftquali-
tätsanforderungen in der Verordnung über
Großfeuerungs- und Gasturbinenanlagen und
der Verordnung über die Verbrennung und
Mitverbrennung von Abfällen
– Drucksachen 16/10993, 16/11125 Nr. 2.1,
16/11219 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Detlef Müller
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11219, der Verordnung der Bun-
desregierung auf Drucksache 16/10993 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Tages-
ordnungspunkte 45 e bis 45 o. Es handelt sich um die
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
20732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 45 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 485 zu Petitionen
– Drucksache 16/11092 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 485 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 486 zu Petitionen
– Drucksache 16/11093 –
Wer dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 486 ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 45 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 487 zu Petitionen
– Drucksache 16/11094 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 487 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 488 zu Petitionen
– Drucksache 16/11095 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 488 ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 489 zu Petitionen
– Drucksache 16/11096 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 489 ist bei Gegenstim-
men von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Rest der Stim-
men des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 490 zu Petitionen
– Drucksache 16/11097 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 490 ist bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen
des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 491 zu Petitionen
– Drucksache 16/11098 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 491 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 492 zu Petitionen
– Drucksache 16/11099 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 492 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 45 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 493 zu Petitionen
– Drucksache 16/11100 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 493 ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 45 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 494 zu Petitionen
– Drucksache 16/11101 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 494 ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20733
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 45 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 495 zu Petitionen
– Drucksache 16/11102 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 495 ist ebenfalls mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 2:
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung , Marie-Luise Dött, Katherina
Reiche , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Handeln in Verantwortung – Für eine ambitio-
nierte zweite Kioto-Verpflichtungsperiode
– Drucksache 16/11222 –
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist bei Gegenstim-
men der Grünen mit dem Rest der Stimmen des Hauses
angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung steuer-
rechtlicher Regelungen des Maßnahmenpa-
kets „Beschäftigungssicherung durch Wachs-
tumsstärkung“
– Drucksache 16/10930 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksachen 16/11171, 16/11190 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Reinhard Schultz
Dr. Volker Wissing
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/11183 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider
Otto Fricke
Roland Claus
Alexander Bonde
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die öffentliche Debatte in diesen
Tagen und Wochen verfolgt, dann hat man den Eindruck,
wir wären dabei, uns zu überlegen, ob wir ein Maßnah-
menpaket für mehr Wachstum und Beschäftigung brau-
chen. In Wirklichkeit – das dokumentieren wir hier und
heute – beschließen wir bereits eines. Es ist schon etwas
merkwürdig, über Nachfolgemaßnahmen zu philoso-
phieren und öffentlich nachzudenken und sich wechsel-
seitig mit Vorschlägen zu überbieten, bevor wir unser
Paket, das wir heute beraten, beschlossen haben und es
überhaupt Wirkung entfalten kann.
Dieses Steuerpaket ist ein ganz wichtiger Baustein
aus einem größeren Maßnahmenpaket, das zu einem Teil
aus Haushaltsmitteln gespeist wird, soweit es die Infra-
strukturmaßnahmen des Bundes angeht, zum anderen
Teil aus zinsgünstigen Darlehen der KfW für die Wirt-
schaft und für die privaten Haushalte besteht. Wenn man
über die Größenordnung dieses Programms redet, darf
man auch nicht übersehen, dass wir parallel dazu zum ei-
nen außerordentlich niedrige Energiepreise haben, die
sehr viel Luft für zusätzliche private Ausgaben, aber
auch solche der Wirtschaft schaffen, und zum anderen
eine außerordentlich günstige Euro-Dollar-Relation, die
den Export stützt und ihn nicht schwächt. Wir haben
Parallelmaßnahmen in Form der Verlängerung der Be-
zugsdauer des Kurzarbeitergeldes durch den Bundes-
arbeitsminister in Gang gesetzt, damit die Firmen, die
kurzfristig in Schwierigkeiten kommen, ihre Belegschaft
halten können. Da immer über Steuerentlastungen gere-
det wird, haben wir perspektivisch fest verabredet, dass
die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab
dem Jahr 2010 vollständig von der Steuer abgesetzt wer-
den können. Das bewegt sich also im Rahmen des Zeit-
raums, über den wir nachdenken, wenn wir über die Kri-
senbewältigung reden.
Es wird auch immer übersehen, vor allen Dingen
dann, wenn mit einem Tremolo in der Stimme beschrie-
ben wird, dass das die größte aller Wirtschaftskrisen
überhaupt seit Erfindung von Wirtschaftskrisen ist, dass
das eine Prognose ist, die nur zutreffen könnte, wenn
keiner etwas täte. In Wirklichkeit tun alle Industrieländer
und alle Schwellenländer etwas in erheblichem Umfang.
Wenn man die Ausgaben, die zur Stabilisierung der Bin-
nenwirtschaft dieser Länder getätigt werden, zusammen
mit dem sieht, was dort bewegt worden ist und wie sich
das für Exportländer, wie wir eines sind, auswirkt, dann
ergibt sich ein ganz anderes Bild. Das heißt nicht, dass
ich glaube, dass wir im nächsten und im übernächsten
Jahr auf der Insel der Seligen leben werden. Aber eine
künstliche Dramatisierung, die nur Milliardenforderun-
gen auf all den Politikgebieten, auf denen man sich bis-
lang nicht durchsetzen konnte, legitimieren soll, halte
ich auch nicht gerade für verantwortlich.
20734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Reinhard Schultz
Wir machen genau das, was jetzt machbar und was
jetzt notwendig ist. Es sind Maßnahmen, die schnell um-
setzbar, die zielgenau und die zeitlich befristet sind, da-
mit eine zusätzliche Anstrengung auch der Wirtschaft
und der Privaten erfolgt. Folgten wir denen, die fordern,
die degressive Abschreibung auf Dauer wieder einzufüh-
ren, würden wir zwar eine andere steuerliche Kulisse
schaffen, aber keinen Anreiz setzen, irgendwelche In-
vestitionen auf das nächste oder das übernächste Jahr
vorzuziehen; das ist doch ganz offensichtlich. Wir haben
bereits bei der Unternehmensteuerreform erklärt, dass
wir im Bereich der Abschreibungen ein paar Instrumente
für konjunkturell schlechte Zeiten in petto haben wollen.
Deshalb werden wir zu einer normalen Abschreibungs-
kulisse zurückkehren, wenn diese konjunkturell schlech-
ten Zeiten vorbei sind. Wenn wir nicht so vorgehen, ha-
ben wir keine Instrumente mehr, um beim übernächsten
Konjunktureinbruch noch angemessen reagieren zu kön-
nen.
Alle Maßnahmen, die wir getroffen haben, stimmen
mit unseren grundsätzlichen Politikzielen voll überein.
Im Bereich der Investitionen sorgen wir für mehr Ener-
gieeffizienz, zum Beispiel in den privaten Haushalten.
Das fördert den ökologischen Umbau dieser Gesellschaft
und steht sozusagen nicht „quer im Stall“. Wir ziehen In-
vestitionen im Infrastrukturbereich, die wir sowieso täti-
gen würden, vor. Wir machen kein Strohfeuer oder Ähn-
liches wie die klassische japanische Wirtschaftspolitik,
der es gelungen ist – man hat sich lange Zeit von Krise
zu Krise gehangelt und sich mit öffentlichen Mitteln ge-
holfen –, fast ganz Japan zu asphaltieren. Man sah näm-
lich den einzigen Weg darin, die Baukonjunktur auf Teu-
fel komm raus zu stützen. Bei uns würde dies zu
Fehlallokationen führen. Wir versuchen, diesen zusätzli-
chen Impuls in unsere gesamtpolitischen Zielsetzungen
einzubetten.
Eine der wichtigen gesamtpolitischen Zielsetzungen
ist natürlich ein ausgeglichener Staatshaushalt. Man hat
insbesondere mit Blick auf die USA diagnostiziert, dass
eine der Ursachen der Finanzkrise die Überschuldung
von Staat und privaten Haushalten gewesen ist. Die Ant-
wort darauf kann nicht sein, dass sich Deutschland wei-
ter verschuldet.
Wenn man schuldenfinanzierte Zig-Milliarden-Pro-
gramme fordert, dann begibt man sich auf einen Pfad in
Richtung USA und der dort vorhandenen Probleme.
Diese Probleme werden die USA durch die Art und
Weise, wie sie jetzt versuchen, die Fehler der Vergan-
genheit zu berichtigen, auch in Zukunft haben.
Interessant ist auch die europäische Diskussion. Ich
sage einmal ganz offen: Ich bin sehr dafür, dass die Ver-
antwortlichen ihre nationalen Wirtschaftspolitiken bes-
ser verzahnen und koordinieren. Ich halte es nicht für be-
sonders hilfreich, dass die EU-Kommission riesige
Konjunkturprogramme vorschlägt, für deren Finanzie-
rung sie keinen einzigen Cent in ihrer Tasche hat. Sie
kann maximal 20 Prozent dieser Programme durch das
Vorziehen von Haushaltsverpflichtungen der nächsten
Jahre selber finanzieren; den Rest müssten nationale
Mittel ausmachen. Das geht nicht. Es wird suggeriert, es
komme etwas Zusätzliches, aber in Wirklichkeit ist es
die Addition der Maßnahmen, die die einzelnen Länder
schon durchführen.
Wenn man der – Gott sei Dank nicht geäußerten – For-
derung der EU folgte, neben dem Finanzierungsregime
der EU – es ist quasi ein Umlagesystem, das sich an der
Wirtschaftskraft der einzelnen Länder orientiert – noch
eines nach demselben Mechanismus einzuführen, würde
man einen gewaltigen zusätzlichen Finanzausgleich in-
stallieren, der ausschließlich zulasten der starken Volks-
wirtschaften gehen würde und zulasten derjenigen Volks-
wirtschaften, die, was ihre Haushaltssituation angeht,
ihre Schularbeiten gemacht haben. Insofern haben beide
– Finanzminister und Außenminister – recht, Peer
Steinbrück, der sich dagegen wehrt, durch die Hintertür
ein völlig neues Haushaltsregime zu unseren Lasten ein-
zuführen, und der Außenminister, der gesagt hat: Wir
brauchen eine stärkere Koordinierung. – Beide verfolgen
unterschiedliche Ziele.
Der Vorwurf, wir blockierten auf europäischer Ebene,
ist falsch. Wir warnen vor Übergriffen in nationale Zu-
ständigkeiten. Jeder muss nach seinen strukturellen Ge-
gebenheiten, nach seinen Haushaltsmöglichkeiten und
nach der Schuldensituation der privaten Haushalte ange-
messen reagieren können. Das geht nicht, wenn es ein
Zentralregime gibt.
Wir hören überall Diskussionen, in denen gesagt
wird, man müsse jetzt in erster Linie steuerlich etwas
tun. Einmal abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen
quer zu den Haushaltskonsolidierungszielen stehen
würde – natürlich wünscht sich jeder, dass seine Steuer-
oder Abgabenlast reduziert wird –: Maßnahmen wie die
Absenkung der Mehrwertsteuer – in Großbritannien
wird eine Diskussion darüber geführt; der dortige Ein-
zelhandel selber erklärt, eine solche Absenkung sei gera-
dezu albern – hätten zur Folge, dass eine solche Absen-
kung voll eingepreist wird. Sie zöge de facto eine
Preiserhöhung im Einzelhandel nach sich und brächte
dem privaten Konsumenten nicht mehr Ausgabemög-
lichkeiten. Am Beispiel Großbritannien bekommen wir
das sozusagen in der Retorte aktuell vorgeführt. Eine
solche Maßnahme hilft überhaupt nicht weiter.
Genauso wenig hilfreich ist die Diskussion darüber,
den ermäßigten Mehrwertsteuersatz durch die Hintertür
zum Regelsteuersatz zu machen, indem wir immer neue
Ausnahmetatbestände einführen. Der eine möchte den
ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel und
medizinische Hilfsmittel; der andere möchte sie auf Le-
bensmittelprodukte, die vor Ort beispielsweise im Café
verzehrt werden. Das hilft uns aber überhaupt nicht wei-
ter, weil es unsere Steuerbasis geradezu zerstört. Kon-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20735
(C)
(D)
Reinhard Schultz
junkturpolitik zu machen, ist das eine. Eine zielgerich-
tete und nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik zu
machen, ist das andere.
Beides muss vernünftig zusammengeführt werden.
Allein das Steuerpaket, das heute verabschiedet wird,
mobilisiert etwa 25 Milliarden Euro. Enthalten sind die
degressive AfA, der Investitionsabzug, den wir mehr
Unternehmen ermöglichen, und vor allen Dingen eine
Verdopplung der Grenze für die Steuerabzugsfähigkeit
von Handwerkerleistungen in privaten Haushalten. Da-
mit haben wir seit 2005 bereits gute Erfahrungen in Sa-
chen Anschub gemacht. Wir mobilisieren dadurch vor
allen Dingen privates Geld.
Ich wiederhole, was ich in der Debatte gesagt habe,
als der Gesetzentwurf eingebracht wurde: Wir haben
eine im internationalen Vergleich exorbitant hohe Spar-
quote. Sie wird, was die OECD-Staaten angeht, nur von
den Japanern übertroffen. Übrigens sind die Japaner da-
mals, als es dort eine Wirtschaftskrise gab, mit Konsum-
gutscheinen nicht zu locken gewesen. Diese Gutscheine
haben nicht zu mehr Ausgaben geführt, sondern ledig-
lich dazu, dass unter dem Strich die Sparquote gestiegen
ist. Die Menschen haben die Gutscheine ausgegeben und
das so eingesparte Geld aufs Sparkonto oder unters Bett
gelegt oder in Gold investiert. Letztendlich haben sie das
Geld gespart und nicht ausgegeben.
Ich finde es verständlich – das ist auch in einer De-
batte über Instrumente zulässig –, über den Anschub des
privaten Konsums nachzudenken. Aber dagegen spricht,
dass wir zumindest im Augenblick keine Konsumkrise
haben. Man kann doch weiß Gott nicht behaupten, dass
wir eine hätten. Wir haben – erstaunlicherweise, wie
manche sagen – ein deutlich ansteigendes Weihnachts-
geschäft. In einer solchen Situation Staatsknete in Form
von Gutscheinen zur Steigerung des Konsums einzuspei-
sen, würde nicht helfen. Es würden dieselben Weih-
nachtsgeschenke gekauft werden, aber – und das ist das
Problem dabei – zulasten des Fiskus und nicht mehr zu-
lasten des eigenen Sparbuchs. Deswegen rate ich drin-
gend davon ab, solche Gutscheine in der gegenwärtigen
Situation auszugeben.
– Die SPD ist eine Partei der Freiheit des Geistes. Wir
sind auch ein Parlament von selbstbewussten und unab-
hängigen Abgeordneten.
Als jemand, der zumindest ein bisschen etwas von Fi-
nanzen versteht, weiß ich, dass Konsumgutscheine nur
einen Einmaleffekt haben und verpuffen. Konsumgut-
scheine bringen konjunkturell nichts, sie führen nur zur
Erhöhung der Sparquote.
Das möchte ich einmal sachlich feststellen.
Ich erkläre diese Möglichkeit nicht für aus der Welt
und auch nicht für verrückt. Aber ich sage: Es ist keine
angemessene Antwort auf ein Problem, das es derzeit
gar nicht gibt. Dieser Umstand kommt erschwerend
hinzu: Wir würden damit ein Problem lösen, das es der-
zeit nicht gibt. Wir lösen doch nicht das Problem der Au-
tomobilzulieferer dadurch, dass wir Konsumgutscheine
ausgeben. Für 125 Euro kann man noch nicht mal einen
alten Manta tunen. Das bringt überhaupt nichts.
Weswegen ist denn der Konsum gestiegen? Wir ha-
ben Gott sei Dank die Situation, dass einerseits durch
bessere Tarifabschlüsse, die es aufgrund der verbesserten
wirtschaftlichen Situation gab, höhere Löhne bei den
Menschen angekommen sind und in der andererseits die
Inflation gesunken ist. Dadurch wurde eine Menge zu-
sätzliches Geld freigesetzt, was sich im Weihnachtsge-
schäft zeigt.
Ich glaube, zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss man
eher darüber nachdenken, wie man nachhaltige Investi-
tionen fördert, als darüber, wie der private Konsum zu-
sätzlich angekurbelt werden kann. Es mag ja sein, dass
das noch einmal nötig ist. Aber zum jetzigen Zeitpunkt
steht es sicherlich nicht zur Debatte.
Ich verstehe die Ängste bei der Diskussion über Kon-
junkturpakete. Aber man muss doch auf dem Teppich
bleiben. Wir legen jetzt dieses Programm auf und
schauen, wie es wirkt. Ebenso ist es aber intellektuell
redlich, darüber nachzudenken, was sinnvoll sein könnte,
wenn darüber hinaus etwas notwendig wird. Das ist bes-
ser, als im Dunkeln mit der Schippe irgendetwas zutage
zu fördern, was kein Mensch braucht und niemandem
nützt. Natürlich müssen wir unsere ökonomische Muni-
tionskiste intellektuell redlich auffüllen für den Fall, dass
weitere Schritte notwendig werden. Darum geht es jetzt.
Aber auch da sind wir, glaube ich, gut beraten, wenn wir
weiterhin über einen ökologischen Umbau dieser Indus-
triegesellschaft nachdenken und darüber, wie wir wirk-
lich eine Forschungs- und Bildungsgesellschaft werden;
da stehen wir ja erst am Anfang. Solche ohnehin notwen-
digen Investitionen müssen beschleunigt und verstärkt
werden. Natürlich gehört in den nächsten Schritt eine
vernünftige Kfz-Steuer-Reform statt des Halbjahrespro-
gramms, das wir jetzt aufgelegt haben.
Das ist notwendig, um allen Beteiligten, den Autokäu-
fern genauso wie der Automobilindustrie, Planungssi-
cherheit zu geben.
Ebenso werden wir darüber nachdenken müssen, wie
wir die Kommunen, denen es zum Teil sehr schlecht
geht, die zwangsbewirtschaftete Haushalte haben und
denen es untersagt ist, aktiv an der Stützung der Kon-
junktur mitzuwirken, in die Lage versetzen, notwendige
20736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Reinhard Schultz
Investitionen vorzunehmen. Das wird ein Ringen mit
den Ländern sein.
– Entsprechende Gespräche finden schon statt. – Der
Bund kann derzeit nicht mehr tun als das, was wir ma-
chen, nämlich strukturschwachen Gemeinden zinsver-
günstigte Kredite anzubieten. Aber das hilft denjenigen
nicht, die ohnehin schon unter dem Schuldendeckel an-
gekommen sind und nach Weisung ihrer Kommunalauf-
sicht selbst diesen zinsvergünstigten Kredit nicht anneh-
men dürfen. Das wird nur über Zuschüsse funktionieren.
Zuschüsse können nur dann gegeben werden, wenn die
Länder mitspielen. Es muss sichergestellt sein, wenn
sich Bund und Länder gemeinsam um diese Kommunen
kümmern, dass das Geld nicht in den Landeshaushalten
versickert,
wie wir es leider schon erlebt haben, völlig unabhängig
von der parteipolitischen Landschaft in den Ländern.
Das sind Punkte, über die wir jetzt nachdenken müs-
sen, ebenso wie über Branchensonderprogramme, die mit
der allgemeinen Konjunktur nichts zu tun haben. Natür-
lich wollen wir nicht, dass die Automobilzulieferer in der
gegenwärtigen Krise reihenweise Insolvenz anmelden
müssen. Dazu müssen wir wirtschaftspolitische Instru-
mente finden, die aber nicht nach dem Gießkannenprin-
zip für alle gleichermaßen angewendet werden dürfen;
vielmehr sind da sehr zielgerichtete Maßnahmen erfor-
derlich.
Es gibt keinerlei Denkverbote; es muss aber auch
nicht jeder Schwachsinn ausgesprochen werden.
Ich bin auch sehr froh darüber, dass der Koalitionspart-
ner, der dieses Maßnahmenpaket mit uns gemeinsam
sehr konstruktiv beschlossen hat,
auf dem Parteitag der Versuchung widerstanden hat,
große steuerpolitische Versprechen zu machen. Das
finde ich ausgesprochen gut. Da sind wir sehr nah bei-
einander. Denn selbst wenn man jetzt etwas Derartiges
versprechen würde, brächte das strukturpolitisch und
konjunkturpolitisch überhaupt nichts. Wann würde eine
sogenannte neue große Steuerreform ihre Wirksamkeit
wohl frühestens entfalten? Ich vermute, 2011. Ich hoffe
aber dringend, dass wir 2011 zumindest nicht mehr über
eine Konjunkturkrise zu reden haben, die wir mit steuer-
politischen Maßnahmen bekämpfen wollen, sondern
dass wir dann wieder in einem ruhigeren wirtschaftspoli-
tischen Fahrwasser sind und die Arbeitsplätze, die jetzt
gefährdet sind, gesichert haben, um dann in einer ökono-
misch gesehen normalen Lage in Ruhe darüber nachzu-
denken, wie wir die steuerpolitische Kulisse, gestützt
durch Wachstum, anders ordnen. Heute gibt es dazu
keine Gelegenheit, keine Luft, kein Geld und auch keine
Notwendigkeit.
Ein letzter Appell. Ich habe eben die Situation der
Kommunen angesprochen. Es kann nicht sein, dass der
Bund allein dafür zuständig ist, die ökonomischen
Schwierigkeiten zu bekämpfen. Wir müssen die Länder
mit ins Boot bekommen. Wenn die Länder erklären, sie
hätten damit nichts zu tun, Konjunkturpolitik sei aus-
schließlich Bundessache, dann ist das erstens, auch ver-
fassungsrechtlich gesehen, falsch und zweitens unver-
antwortlich. Wenn wir öffentliche Investitionen wollen,
die von der Gesetzeslage her zum Teil gemeinschaftlich
finanziert werden bzw. nach der Föderalismusreform I
getrennt finanziert werden, dann müssen Bund und Län-
der im selben Boot sitzen, und jeder muss im Rahmen
seiner Zuständigkeit mitwirken, auch im Interesse der
Kommunen. Ich denke, auch dort sind für das Jahr 2009
dringend Gespräche erforderlich, um zu einem besseren
Gleichschritt zu kommen.
Es kann nicht sein, dass der Bund sozusagen aus
Daffke in eine neue Schuldenfalle gedrängt wird, wäh-
rend sich andere trotz wirtschaftspolitischer Schwierig-
keiten ihren Haushalt sanieren. Das können wir nicht
mitmachen. Wir müssen ernsthaft miteinander reden.
Ich denke, das müssen alle Fraktionen hier im Hause
gemeinsam so sehen und auch betreiben – jeder in seiner
Zuständigkeit und jeder an seinem Platz.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Menschen erwarten von der Bundesregierung, dass
sie angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage
entschieden handelt. Anstatt die Ärmel hochzukrempeln
und kraftvoll an die Sache heranzugehen, wird uns hier
aber Politik mit Ärmelschonern geboten.
Sie sagen den Menschen, dass wir große Probleme ha-
ben, und bieten ihnen nur kleinste Lösungen an, weil Sie
sich auf nichts Großes verständigen können. Das ist die
Wahrheit.
Die Bundeskanzlerin sagt, 2009 werde ein Jahr der
schlechten Nachrichten. Ich finde es durchaus mutig,
dass Frau Merkel die Bevölkerung auf eine sehr schwie-
rige Wirtschaftlage vorbereitet, aber sie ist nicht dafür
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20737
(C)
(D)
Dr. Volker Wissing
gewählt worden, die Bevölkerung vor Schaden zu war-
nen, ihre Aufgabe ist es, die Menschen vor Schaden zu
bewahren.
Wenn, wie es so schön heißt, Wirtschaft zu 50 Prozent
Psychologie ist, dann heißt das doch auch, dass von die-
sem Konjunkturpaket – unabhängig von den steuerrecht-
lichen Einzelregelungen – ein positives Signal für unsere
Wirtschaft ausgehen muss. Wenn Sie mit diesem Kon-
junkturpaket etwas erreichen wollen, dann muss es die
Menschen und die Wirtschaft überzeugen. Deutschland
muss daran glauben, dass die Maßnahmen wirksam sind.
Das tut aber niemand in diesem Land. Sie glauben ja
nicht einmal selbst daran.
Während wir heute Ihr Konjunkturpaket beraten, hört
man aus Ihren Fraktionen, dass Sie schon an dem zwei-
ten und dritten Konjunkturpaket arbeiten. Herr Kollege
Schultz, es ist auch an Ihren Ausführungen deutlich ge-
worden, dass es erhebliche Diskrepanzen zwischen dem
gibt, was Sie erklären, und dem, was Mitglieder Ihrer
Fraktion öffentlich erklären.
Es gibt eine Nahles-SPD, die Konsumgutscheine for-
dert, und es gibt eines Steinbrück-SPD, die das Ratten-
rennen um Milliarden leid ist. Die CSU fordert Steuer-
senkungen mit voller Pendlerpauschale, und die CDU
will das irgendwie auch, aber erst später oder vielleicht
sogar erst nach der Wahl.
Von wem geht denn hier das Rattenrennen aus? – Es
geht doch von der SPD und der CDU/CSU aus. Sie sind
es doch, die mit Ihrem Durcheinander in den eigenen
Reihen dafür sorgen, dass das, was wir heute beraten,
morgen wirkungslos verpuffen wird.
Wenn Sie ein Konjunkturprogramm mit Salamitaktik zu-
sammenflicken, dann ist die Bilanz schon heute abseh-
bar: Wir werden eine minimale Wirkung bei enorm ho-
her Neuverschuldung erleben.
Das ist besonders schlimm, weil andere Staaten um
uns herum entschlossen handeln und investieren: Groß-
britannien 24 Milliarden Euro, Spanien 38 Milliarden Euro,
Frankreich 40 Milliarden Euro, Italien 80 Milliarden
Euro, China 450 Milliarden Euro und Amerika sage und
schreibe 550 Milliarden Euro.
Es geht nicht darum, wer am meisten Geld in die
Hand nimmt, es geht um die Ernsthaftigkeit, mit der auf
eine Bedrohung reagiert wird. Im Rest der Welt geht
man von einer bevorstehenden ökonomischen Katastro-
phe aus und entlastet die Menschen bei den Steuern. In
Deutschland heißt die Devise: erst einmal abwarten. Wo
andere Länder klotzen, wird bei uns gekleckert. Die
Bundesregierung scheint noch immer darauf zu hoffen,
dass die Krise einen großen Bogen um Deutschland
macht. Damit gehen Sie aber ein unverantwortliches Ri-
siko ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Konjunkturpa-
ket kann nicht wirken, wenn es aus reinem Aktionismus
heraus entsteht. Es reicht in einer Krisensituation nicht
aus, verschiedene Forderungen von Verbänden abzuar-
beiten. Ihr Vorschlag ist ein Sammelsurium mehr oder
weniger sinnvoller Einzelmaßnahmen. Die Ökonomen
sind sich dagegen einig: Es muss zügig ein Konjunktur-
paket geben, und es muss kraftvoll und zielgenau ausge-
richtet sein. Ich füge noch eines hinzu: Wir wissen nicht,
wie lange die Krise anhalten wird. Deshalb muss ein
Konjunkturprogramm neben den sofortigen Effekten
auch strukturelle Verbesserungen bringen, die mittelfris-
tig wirken und unsere Volkswirtschaft stärken.
Kaum eine dieser Anforderungen ist in Ihrem Maß-
nahmenpaket umgesetzt.
Die FDP hat im Laufe der Beratungen hinsichtlich der
Steuern insgesamt zehn Verbesserungsvorschläge zu Ih-
rem Konjunkturprogramm gemacht. Wir haben auch
konkrete Anträge dazu vorgelegt. Wir haben wichtige
Korrekturen der Unternehmensteuerreform gefordert.
Ich nenne nur die Korrektur der Zinsschranke und Ver-
besserungen beim Mantelkauf, was in einer wirtschaft-
lich schwierigen Situation sehr dringend erforderlich ist.
Unter unseren Vorschlägen sind auch Verbesserungen
für kleine und mittlere Einkommen, nämlich durch eine
Korrektur des Tarifverlaufs bei der Einkommensteuer.
Wir wollen eine deutlich gerechtere Steuerkurve, um
niedrige und mittlere Einkommen gerade in dieser
schwierigen Zeit zu entlasten.
Dies könnte im Gegensatz zu Ihren Äußerungen, Herr
Kollege Schultz, schon ab Januar 2009 schnell und ef-
fektiv wirken,
wenn Sie nur handlungsfähig wären.
Es ist nicht hinnehmbar, dass der Bundesfinanzminis-
ter jährlich 25 Milliarden Euro einnimmt, weil kleine und
mittlere Einkommen überproportional hohe Steuern zah-
len. Es müsste doch eigentlich ein gemeinsames Anliegen
sein – nicht nur ein Kernanliegen liberaler, sondern auch
sozial- und christdemokratischer Finanzpolitik –, im
Steuersystem bestehende Ungerechtigkeiten wie die kalte
Progression und den Mittelstandsbauch zu beseitigen.
Aber Sie haben keinen unserer Vorschläge angenommen.
Sie weigern sich, kleinen und mittleren Verdienern mehr
Kaufkraft zu geben. Ich halte das in dieser Situation für
ökonomisch und sozialpolitisch unverantwortbar.
Wir hätten die einmalige Chance, sowohl etwas für die
konjunkturelle Belebung zu tun als auch strukturell drin-
20738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Volker Wissing
gend erforderliche Verbesserungen im Steuerrecht in
Angriff zu nehmen. Sie verweigern sich und bieten uns
mickrige kleine gemeinsame Nenner.
Die Vorschläge der FDP zu Steuersenkungen liegen
konkret auf dem Tisch.
Wir könnten sie heute beschließen. Die versprochenen
Entlastungen der Bundesregierung sind ebenso wenig
glaubwürdig wie damals die Äußerungen der SPD im
Kampf gegen die Mehrwertsteuererhöhung.
Wir machen Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie heute ei-
nen zweistelligen Milliardenbetrag für ein Konjunktur-
programm in die Hand nehmen. Wir werfen Ihnen aber
vor, dass Sie dieses Geld ziellos verplempern, anstatt ge-
zielt etwas für die Struktur und die Konjunktur in unse-
rem Land zu tun.
Es geht heute um viel Steuergeld. Um es in einem
Sammelsurium von Einzelmaßnahmen versickern zu las-
sen, ist es wahrhaftig zu viel Geld der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler, das Sie heute auf den Weg bringen
wollen.
Die Bundeskanzlerin hat in diesem Hohen Hause für
eine Politik mit Maß und Vernunft geworben. Genau
diese Anforderungen stellen wir an Sie. Es wäre maßvoll
und vernünftig, jetzt die Steuern zu senken, wie es in Eu-
ropa um uns herum geschieht. Damit könnten sowohl
kurzfristige als auch mittelfristige strukturelle Effekte
ausgelöst werden. Was für ein großer Schritt für dieses
Land wäre das!
Die CDU hat auf ihrem Parteitag einen Beschluss ge-
fasst mit dem Titel: „Die Mitte. Deutschlands Stärke“.
Ich frage Sie: Warum haben Sie in dieser Legislaturperi-
ode nichts unternommen, um die Mitte zu stärken?
Ihre Politik verdient den Titel: „Das Mittelmaß.
Deutschlands Schwäche“. Sie haben die Mitte seit 2005
durch Ihre kontinuierliche Steuererhöhungspolitik ge-
schwächt. Sie sind auch jetzt nicht bereit, sie wirksam zu
entlasten. Den finanziellen Handlungsspielraum, der Ih-
nen zur Verfügung stand, haben Sie nicht genutzt, um
den Haushalt stressfest zu machen. Sie haben nicht in
der Zeit gespart und stehen jetzt in der Not schlecht da
und setzen noch eines drauf: Sie versäumen es, die not-
wendigen Maßnahmen effizient auf den Weg zu bringen,
und verplempern Geld, das Sie noch nicht einmal haben.
Es ist eine Sache, den Menschen im Aufschwung Fes-
seln anzulegen, so wie Sie es gemacht haben. Aber noch
schlimmer ist es, wenn man sich in der Abschwungphase
weigert, den Schlüssel herauszugeben. Deshalb fordern
wir Sie auf: Nehmen Sie die Verantwortung Ihrer großen
Regierungsmehrheit wahr! Hören Sie auf, die Menschen
in Krisenzeiten mit Ihrem kleinsten gemeinsamen Nen-
ner abzuspeisen! Senken Sie jetzt die Steuern! Die Men-
schen in Deutschland können und wollen nicht länger
darauf warten.
Nächster Redner ist der Kollege Eduard Oswald,
CDU/CSU-Fraktion.
Als verantwortungsbewusste Politiker müssen wir
uns entsprechend verhalten. Es gilt, die Situation zu son-
dieren und, soweit dies momentan möglich ist, auf Basis
solider Informationen und Analysen zu handeln. Wenn
wir aber jeden Tag und jede Stunde einen anderen Vor-
schlag bekommen, der möglichst schon gestern realisiert
worden sein sollte, dann ist dies nicht hilfreich. Wie ver-
unsichert die Menschen sind, zeigt sich daran, dass im
Finanzausschuss schon Anfragen eingehen, wann der
entsprechende Konsumgutschein oder Steuergutschein
ausbezahlt werde.
Die Ursache der Probleme ist die Finanzkrise. Wie
sich die konjunkturelle Lage entwickeln wird, ist nicht
abzuschätzen. Fortwährend werden Wachstumsprogno-
sen aller Couleur korrigiert. Für die Zukunft fehlt jedoch
eine sichere Datenbasis. Wir wissen nicht, wie lange der
Abschwung der Wirtschaft andauern wird und wie tief
diese Effekte greifen werden. So viel steht fest: Jeder
historische Rückgriff bleibt erfolglos, eine reine Paral-
lele existiert nicht, und jeder Vergleich hat Lücken.
Handlungsstränge der Vergangenheit auf die Gegenwart
zu übertragen, wäre daher verfehlt und bisweilen töricht.
Dennoch haben die Bundesregierung und die Koali-
tion mit ihrem Finanzpaket richtig und vor allem rasch
gehandelt. Das schnelle und effektive Handeln zeigt,
dass unsere parlamentarische Demokratie auf Basis der
sozialen Marktwirtschaft alternativlos ist.
Das Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung durch
Wachstumsstärkung“ ist ein weiterer bedeutsamer
Schritt, um Investitionen und den Konsum im Inland zu
fördern. Dies sollte man nicht kleinreden.
Wir verzichten dabei auf effektlose Einmalzahlungen,
wie es sie Anfang des Jahres in den USA gab. Heute
muss man fragen, ob sie einen messbaren Effekt hatten.
Anfang Januar 2008 wurden Steuerschecks ausgegeben,
die den Konsum stärken sollten. Das Volumen betrug
1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wie Analysen zei-
gen, wurde lediglich ein Strohfeuer entfacht, und im
Sommer sind die Einzelhandelsumsätze wieder zurück-
gegangen. Geschätzt wird, dass nur ein Fünftel ausgege-
ben wurde; der Rest landete auf Sparbüchern. Wer sol-
che Vorschläge macht, sollte sich auch diese Erfahrung
einmal ganz genau anschauen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20739
(C)
(D)
Eduard Oswald
Genau dies wollen wir vermeiden. Deswegen setzen
wir bewusst auf Beschäftigung durch Wachstumsstär-
kung. Ich nenne nur ein Beispiel: Handwerkerleistungen
sind ab Januar 2009 noch besser von der Steuer absetz-
bar. Derzeit gibt es einen Steuerbonus von bis zu
600 Euro pro Jahr, also 20 Prozent der Arbeitskosten in
Höhe von 3 000 Euro. Bei Instandhaltungs- und Moder-
nisierungsmaßnahmen wird der Steuerbonus im Rahmen
des Schutzschirms für Arbeitsplätze auf 20 Prozent von
maximal 6 000 Euro, also auf 1 200 Euro, verdoppelt.
Man muss dies erst einmal beschließen, damit die Men-
schen es wahrnehmen können.
Dank der verbesserten steuerlichen Absetzbarkeit wer-
den auf der einen Seite private Haushalte als Auftragge-
ber gestärkt und auf der anderen Seite Handwerksbe-
triebe unterstützt, weil es den Menschen nun leichter
fallen wird, einen Handwerker zu beauftragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Kreditver-
sorgung der Wirtschaft und insbesondere des Mittelstan-
des auch bei Engpässen im Bankenbereich zu sichern,
wird bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau zeitlich be-
fristet bis Ende 2009 ein zusätzliches Finanzierungs-
instrument mit einem Volumen von bis zu 15 Milliarden
Euro geschaffen, mit dem das Kreditangebot der priva-
ten Bankwirtschaft verstärkt wird.
In die gleiche Kerbe schlägt die Förderung der Sanie-
rungskredite der KfW. So werden wir die staatlichen
Mittel für die Kredite zur energetischen Sanierung für
drei Jahre um insgesamt 3 Milliarden Euro aufstocken.
Dabei geht es uns um die gesamte Programmfamilie, die
neben der CO2-Gebäudesanierung auch die Kredite zur
Finanzierung von Wohnraummodernisierung, zu ökolo-
gischem Bauen und der Erzeugung von Solarstrom um-
fasst.
Herr Kollege Oswald, der Herr Kollege Wissing
würde furchtbar gerne eine Zwischenfrage stellen.
Mir sind die Wortbeiträge des Kollegen Wissing aus
dem Ausschuss wohlbekannt, sodass seine Frage für
mich vermutlich keine große Überraschung darstellt.
Das weiß man nie. – Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Vielen Dank, Herr Oswald. Ich glaube, ich werde Sie mit
meiner Frage wirklich nicht überraschen. Ich möchte Sie
an das erinnern, was die CSU, der Sie ja angehören, in
letzter Zeit gefordert hat: gerade angesichts der jetzigen
Situation baldige Steuersenkungen! Meine Frage lautet:
Warum vertreten Sie das an dieser Stelle nicht? Halten
Sie Steuersenkungen in der jetzigen Situation für erfor-
derlich? Wenn ja, warum erfolgen diese nicht?
Kollege Wissing, wie unschwer zu erraten ist, stehe
ich als CSU-Abgeordneter zu dem Paket, das wir bereits
im Mai dieses Jahres auf den Weg gebracht haben. Als
CSU sind wir aber nun einmal mit der CDU zusammen;
Sie haben den CDU-Parteitag in Stuttgart erwähnt. Au-
ßerdem bilden wir eine Koalition mit der SPD. Von da-
her ist es so, dass wir den Willensbildungsprozess nicht
im Bundestag austragen, sondern innerhalb der Fraktion
und innerhalb der Koalition. So ist das nun einmal. Eine
Koalition muss Geschlossenheit darstellen, weil sie
sonst nicht handlungsfähig ist. Deswegen geben wir das
Ziel unserer Partei „Mehr Netto vom Brutto“ in der Ko-
alition aber nicht auf.
Sehen Sie, Sie sind in Bayern mit meinen CSU-Kolle-
gen in einer Koalition. Auch da wird es so sein, dass Sie
nicht anders als vereinbart stimmen, sondern sich eben-
falls koalitionstreu verhalten. Wenn ich mich an die Zei-
ten erinnere, in denen wir eine Koalition gebildet haben,
muss ich sagen: Auch wir waren nicht immer ein Herz
und eine Seele, aber wir haben uns immer zusammenge-
rauft und gute Ergebnisse hervorgebracht.
Ich prophezeie Ihnen: Wir haben einen langen Atem.
Wir sind die Partei der Nachhaltigkeit. Wir setzen uns
auch in dieser Frage durch. – Vielen Dank für Ihre Zwi-
schenfrage.
Die Fragen, die uns gestellt werden, lauten: Wie ver-
binden wir unsere klare ordnungspolitische Linie mit der
nötigen Flexibilität? Wie schaffen wir es, Impulse zu set-
zen, ohne gleichzeitig die Schleusen für sinnlose Geld-
ausgaben zu öffnen?
Wie handeln wir angemessen, ohne die Lage schlechter-
zureden, als sie ist, und sie dadurch noch weiter zu ver-
schlechtern? Das sind doch die zentralen Fragen. Für
mich ist entscheidend, dass die deutsche Wirtschaft aus
dem aktuellen Abschwung – Kollege Dr. Wissing, jetzt
sind Sie wieder ganz bei mir – strukturell gestärkt und
nicht geschwächt hervorgeht. Auch dies erfordert eine
konjunkturgerechte Wachstumspolitik, die auf Maßnah-
men setzt, die auch langfristig sinnvoll sind.
Deswegen bitte ich Sie, im ersten Schritt dem heute
vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition zuzustimmen.
20740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn manche es nicht hören wollen: Ich denke, es
ist gesichert, dass wir vor der größten Weltwirtschafts-
krise seit 1945 stehen. Zum ersten Mal sind alle drei
Zentren, die USA, Europa und die größten Teile Asiens,
betroffen. Das hat es in dieser Form noch nicht gegeben.
Hinzu kommt die Finanzmarktkrise.
Das wird dazu führen – und das hat überhaupt nicht
viel mit Psychologie zu tun –, dass wir auch in der Bun-
desrepublik den seit 1949 schärfsten Rückgang bei den
Wachstumsraten erleben werden. Zur Erinnerung: 1975
hatten wir einen Rückgang um 0,9 Prozent. Das war der
bisher stärkste Rückgang. Ich denke, in einem Jahr wer-
den wir gemeinsam feststellen, dass wir auch aufgrund
der Untätigkeit der Bundesregierung bei minus
2 Prozent oder noch mehr landen werden. Das ist keine
Frage des privaten Verbrauchs – der stagnierte in den
letzten Jahren sowieso schon aufgrund der Schaffung
des Niedriglohnsektors und der schlechten Tarifab-
schlüsse, bei denen noch nicht einmal der verteilungs-
neutrale Spielraum ausgeschöpft wurde –, sondern Folge
des Einbruchs bei den Exporten; und das in einer Wirt-
schaft, die voll auf den Export getrimmt worden ist und
in der der Binnenmarkt seit zehn Jahren völlig vernach-
lässigt wurde. Das ist sozusagen das Resultat.
Deswegen ist dringend aktives Handeln notwendig.
Herr Oswald, gestern ist das von Ihrem neuen Minister-
präsidenten Seehofer genauso angemahnt worden,
weil er in der Tat von vornherein erkannt hat, dass das,
was man jetzt nicht macht, die Krise nur verschärft und
anschließend in Form von höherer Arbeitslosigkeit und
geringeren Steuereinnahmen sowieso wieder auf uns zu-
kommt.
Insofern stellt in der gegenwärtigen Situation die
Aussage, es sei kein Geld da, schlicht und einfach die
Aussage dar: Im Augenblick passt uns die Wirtschafts-
krise nicht so richtig. Es ist aber nun einmal so, dass in
einer Marktwirtschaft bzw. im Kapitalismus Zyklen
existieren. Diese kann man entweder aktiv bekämpfen,
oder man kann sie hinnehmen, was zur Konsequenz hat,
dass die Folgen umso schwerwiegender sind. Das haben
wir in den 80er-Jahren erlebt, das haben wir unter Herrn
Eichel erlebt, und das werden wir das nächste Mal bei
Ihnen erleben.
Insofern ist die Politik aus unserer Sicht völlig ver-
fehlt, zunächst einmal abzuwarten und zu schauen, wie
das Progrämmchen wirkt, dann Mitte des Jahres festzu-
stellen, dass es nicht wirkt, wenn man sich bereits in ei-
ner größeren Krise befindet.
Was wir nicht brauchen, sind große Versprechungen
in Bezug auf Steuersenkungen, die man sowieso schon
machen wollte und die dann letztlich in Form einer hö-
heren Sparquote bei den Reichen landen. Auch die Frage
der Steuerschecks scheint mir völlig zielungenau zu
sein. Wenn dies nicht nur bei den untersten Einkommen
ankommt, ist mit keinen Konjunkturimpulsen, sondern
nur mit großen Mitnahmeeffekten zu rechnen.
Insofern sagt die Linke, dass Handeln dringend erfor-
derlich ist, und zwar auf drei Ebenen.
Erstens. Wir brauchen dringend eine Stärkung der
Massenkaufkraft. Dazu schlagen wir erstens die sofor-
tige Anhebung des Arbeitslosengeldes II und des Sozial-
geldes auf 435 Euro vor und zweitens die Aufhebung der
Rentendämpfungsfaktoren in der Rente. Das würde ins-
gesamt zu einer zusätzlichen Nachfrage von 15 Milliar-
den Euro führen. Dies würde in der Tat eine sofortige
Ankurbelung des Konsums bedeuten.
Zweitens. Wir sollten so schnell wie möglich – spä-
testens Mitte nächsten Jahres – die Gewerbesteuerum-
lage zugunsten des Bundes aussetzen. Das würde bedeu-
ten, dass den Städten und Gemeinden sofort 4 Milliarden
Euro zusätzlich zur Verfügung stünden, die vor Ort aus-
gegeben werden können und die dort direkt ankommen,
ohne dass wir Angst haben müssen, dass die Länder zu-
lasten der Gemeinden sparen.
Drittens. Das ist der Kern und mit das Wichtigste: Wir
brauchen ein großes und sehr schnell eingeleitetes Inves-
titionsprogramm, und zwar in Richtung Energie, in
Richtung Bildung, in Richtung ökologischer Umbau, in
Richtung Gesundheit und vieles andere mehr.
Es geht nicht darum, Strohfeuer zu entfachen. Es geht
nicht darum, in Bereiche zu investieren, die dann wieder
aufgegeben werden. Sondern wir brauchen den Einstieg
in diese Bereiche. In diesen Bereichen ist die Expansion
nachgewiesenermaßen am größten. So können wir ver-
suchen, Beschäftigung zu halten, und so können wir ver-
suchen, die Konjunktur zu stützen.
Wenn nun die Frage nach der Finanzierung auf-
kommt, dann sage ich, dass dies mittelfristig natürlich
über Steuern und Steuererhöhungen zu finanzieren ist.
Die Linke hat hierzu Vorschläge entwickelt. Wir sagen,
dass wir die Wiedererhebung der Vermögensteuer brau-
chen. Wir sind nach wie vor verärgert darüber, was in
der vergangenen Woche im Hinblick auf die Erbschaft-
steuer beschlossen worden ist. Hierbei sind mindestens
4 Milliarden Euro Mehreinahmen möglich.
Wir brauchen eine Wiederanhebung des Spitzensteu-
ersatzes. Außerdem brauchen wir eine breit angelegte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20741
(C)
(D)
Dr. Axel Troost
Finanztransaktionsteuer, damit wir zu einer Entschleuni-
gung – –
– Tobin ist genauso darin enthalten wie die alte Börsen-
umsatzsteuer.
Das wäre ein Schritt zur Entschleunigung und Dämp-
fung der Finanzmarktkrise.
Das wird natürlich aber nur mittelfristig machbar
sein. Insofern muss man schlicht und einfach die Neu-
verschuldung ansteigen lassen.
Ich bin auch Mitglied der Föderalismuskommission.
Ich hätte nicht gedacht, dass man vor dem Hintergrund
der allgemeinen Krise und der Dämonisierung der
Staatsverschuldung so schnell vergisst, dass das Instru-
ment der Staatsverschuldung zumindest als antizykli-
sches Instrument ein ungeheuer wichtiges Mittel ist.
Der Staat ist der Einzige, der in der Krise Impulse set-
zen kann, und zwar kreditfinanziert. Ich bin erstaunt da-
rüber, dass diese klare Erkenntnis der Finanzwissen-
schaft in der Bundesrepublik so schnell in Vergessenheit
gerät.
Mit Sparen kommen Sie nicht aus der Krise.
Die Krise wird uns alle einholen. Wir werden im nächs-
ten Jahr Nachtragshaushalte und die Auflage weiterer
Programme erleben; aber das alles bei höherer Arbeitslo-
sigkeit. Daran hat Ihre Mutlosigkeit, die sich gegenwär-
tig zeigt, Schuld.
Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kanzlerin hat den Parteitag der CDU ja ganz gut
überstanden,
aber auch nur mit der Ansage: Bloß keine Festlegungen!
Das heißt, niemand weiß, was in den nächsten Monaten
noch alles kommt. Das trägt natürlich dazu bei, dass die
Leute sehr verunsichert sind. Das muss man einmal so
festhalten.
Das heute vorliegende Paket enthält ein Sammelsu-
rium von steuerlichen Maßnahmen. Davon sind einige
recht gut, wie zum Beispiel die bezüglich der Handwer-
kerleistungen, die Verbesserung der Kreditvergabe und
einiges mehr. Es sind allerdings auch Maßnahmen dabei,
die wir für völlig kontraproduktiv halten. Das ist zum
Beispiel die völlige Steuerbefreiung von Spritschleu-
dern. Ich glaube, damit wird das falsche Signal ausge-
löst.
Das ist auch für die Sicherung der Arbeitsplätze in der
Automobilindustrie nicht die richtige Antwort.
Herr Schultz hat ja angemahnt, man solle nicht dau-
ernd neue Vorschläge machen. Die Union führt im Mo-
ment aber eine Diskussion, bei der man verschiedene
Meinungen aufeinanderprallen sieht. Auf der einen Seite
sagt die CSU, man brauche Steuersenkungen vor der
Bundestagswahl. Auf der anderen Seite sagt die CDU:
Wir wollen Steuersenkungen nach der Bundestagswahl.
Dann gibt es noch ein paar bei Ihnen, die sagen, die
Mehrwertsteuer, die Sie selber um 3 Prozentpunkte an-
gehoben haben, müsse wieder herunter. Auch das trägt
nicht gerade zur Klarheit bei.
– Hü und hott!
Die SPD diskutiert über Konsumschecks. Die einen
fordern Schecks in Höhe von 200 Euro, andere von
500 Euro. Wenn man sich anschaut, was das kostet, stellt
man fest, dass dies bis zu 40 Milliarden Euro sind. Da
muss man dann den Bürgern und Bürgerinnen draußen
auch sagen, dass das 40 Milliarden Euro neue Schulden
bedeutet. Es bedeutet, dass die nächsten Generationen
die Zins- und die Tilgungslasten zu tragen haben und
dass dies keine nachhaltige Investitionspolitik ist, son-
dern ein reines Strohfeuer und sonst gar nichts.
Damit sich die Menschen einmal vorstellen können,
was man mit bis zu 40 Milliarden Euro machen kann,
nenne ich Ihnen drei Beispiele. Sie könnten mit diesem
Geld für alle Kinder in diesem Land, die jünger als drei
Jahre sind, ein pädagogisch wertvolles Betreuungsange-
bot finanzieren. Oder Sie könnten alle Schulen über die
nächsten Jahre zu Ganztagsschulen mit kleineren Klas-
sen umwandeln. Oder Sie könnten 27 Jahre lang allen
Schülern und Schülerinnen die Fahrt zur Schule, die
Schulbücher und andere Lernmittel bezahlen, und Sie
könnten für die 25 Prozent aller Kinder, die aus einkom-
mensschwachen Haushalten kommen, ein kostenloses
Mittagessen anbieten.
20742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Christine Scheel
Diese Beispiele helfen, sich etwas darunter vorzustellen.
Wir brauchen also keinen Konsumgutschein nach
dem Motto: Geht einmal schnell einkaufen, kauft etwas,
egal was, und seid zufrieden; denn das kurbelt die Wirt-
schaft an. Das ist völliger Quatsch.
Wir Grünen vertreten ein Programm zur nachhaltigen
Investitionspolitik, das mehr Investitionen in Klima-
schutz, Investitionen in Bildung und Investitionen in so-
ziale Gerechtigkeit vorsieht. Wir sind davon überzeugt,
dass eine ökologische Modernisierung die richtige Ant-
wort im Kampf gegen die Klimakatastrophe und auch in
der jetzigen Zeit, in der wir es mit der Finanzkrise zu tun
haben, das richtige Signal ist: So kann etwas für die Zu-
kunft getan und so können Arbeitsplätze geschaffen wer-
den, die auch in Zukunft Bestand haben.
Das bedeutet, dass wir einen Strukturwandel durch-
führen müssen, einen Strukturwandel in ökologischer
und sozialer Hinsicht. Jedes Aufschieben dieses Struk-
turwandels macht es für die nächsten Generationen noch
schwieriger, die Probleme, die in diesem Land existie-
ren, zu lösen. Dass die Große Koalition das nicht zur
Kenntnis nimmt, muss man ihr wirklich vorwerfen.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat zu
Recht eine kommunale Investitionsoffensive gefordert.
Wir Grüne haben diesen Vorschlag aufgegriffen. Wir tre-
ten dafür ein, dass der kommunale Investitionsstau in
Höhe von 700 Milliarden Euro endlich aufgelöst wird.
Die Kommunen stehen vor einem Berg politischer He-
rausforderungen. Wir müssen sie dabei unterstützen, ihre
Infrastruktur für Kinder, Gesundheit und Bildung auszu-
bauen. Außerdem müssen wir sie in die Lage versetzen,
eine zuverlässige Daseinsvorsorge sicherzustellen.
Wenn man das schaffen will, muss man sich auch Ge-
danken darüber machen, ob es sinnvoll ist, durch zins-
günstige Kredite Investitionsanreize zu geben, und ob
klammen Kommunen nicht Sonderkonditionen einge-
räumt werden sollten. Viele Kommunen befinden sich ja
in einer schlechten finanziellen Situation. Aber auch die
Kommunen, die im Moment keine Kofinanzierung leis-
ten können, müssen in die Lage versetzt werden, ver-
nünftige Investitionen zu tätigen. Zurzeit können sie das
nicht, weil die Aufsichtsbehörden ihre Haushalte nicht
akzeptieren würden. Was die Infrastruktur betrifft, wäre
das ein Investitionsanschubpaket, von dem alle etwas
hätten: Kinder, Erwachsene und vor allen Dingen unser
Land.
Wir haben zielgenaue Vorschläge zur Stärkung der
Kaufkraft der Bezieher kleiner Einkommen gemacht.
Wir schlagen vor, die Sozialversicherungsbeitragssätze
für die Bezieher kleiner Einkommen zu senken. Das
könnte man sofort tun. Dies hätte zur Folge, dass die
Menschen sofort mehr Netto in der Tasche hätten. Im
Gegensatz dazu hätte die Umsetzung der Forderung der
FDP nach einer allgemeinen Steuersenkung nur eine Er-
höhung der Sparquote zur Folge, sonst nichts.
Hier muss man zielgenau vorgehen.
„Zielgenau“ heißt, die Bevölkerungsgruppen zu unter-
stützen, die dringend Geld brauchen: nämlich diejeni-
gen, die Arbeitslosengeld II beziehen,
und diejenigen, die ein sehr geringes Einkommen haben.
Insbesondere diesen Menschen wollen wir helfen. Wir
wollen ihnen die Möglichkeit geben, das Geld, das sie
gerne investieren würden, auch zu investieren.
Frau Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wissing?
Sehr gerne.
– Das muss mir gerade Herr Brüderle erzählen. Bei ihm
und seinen Kollegen wird doch immer die Lautstärke he-
runtergestellt.
Frau Kollegin Scheel, teilen Sie meine Auffassung,
dass unsere Vorschläge, den Verlauf des Steuertarifs so
zu verändern, dass untere und mittlere Einkommen ent-
lastet werden, nicht zu einer Erhöhung der Sparquote
führen würde, weil die Sparquote in diesen Einkom-
mensgruppen zum Teil bereits negativ ist?
Weshalb behaupten Sie hier das Gegenteil?
Herr Kollege Wissing, wie Sie wissen, sind die Grü-
nen der Auffassung, dass die Hartz-IV-Regelsätze auf
420 Euro erhöht werden sollten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20743
(C)
(D)
Christine Scheel
und die Regelsätze für Kinder neu justiert werden müs-
sen. Die Sozialminister aller Bundesländer haben bestä-
tigt, dass dieser Schritt angebracht wäre. Wenn man das
tut, muss man natürlich auch das steuerfreie Existenz-
minimum erhöhen. Dieser Vorschlag wird von unserer
Seite unterstützt.
Wir können den Leuten in der aktuellen Situation und
angesichts der gigantischen Staatsverschuldung aber
nicht versprechen, dass wir den Steuertarif insgesamt
senken, wie Sie es vorgeschlagen haben. Dafür ist jetzt
der falsche Zeitpunkt. Jetzt muss man die Dinge tun, die
jetzt anstehen, um den Leuten zu helfen, die jetzt Unter-
stützung brauchen. Deswegen müssen wir sowohl die
Hartz-IV-Sätze als auch die unteren Einkommen in den
Blick nehmen. Von einer Erhöhung des steuerfreien
Existenzminimums, Herr Wissing, hätten sogar alle et-
was. Hinzu käme, dass sehr viele Menschen dann nicht
mehr steuerlich belastet würden. Auch das würde insge-
samt zur Vereinfachung beitragen.
Das wäre die richtige Antwort. Das gilt aber nicht für
das Steuerprogramm, das die FDP vorgeschlagen hat.
Für uns ist es wichtig, dass wir in die Zukunft inves-
tieren. Für uns ist es wichtig, dass wir Regelungen tref-
fen, die Anreize zu mehr Klimaschutz und zur Einspa-
rung von Energie geben. Auch die Einsparung von
Energie ist ein gutes Investitionsprogramm; denn das hat
zur Folge, dass die Bürger und die Unternehmen in Zu-
kunft geringere Kosten haben. Wir müssen Schritte in
diese Richtung unternehmen.
Darüber hinaus treten wir Grüne für ein Green-Car-
Konzept ein;
das wissen Sie. Das würde eine ökologische Innova-
tionskraft entfalten, mit der für die Automobilindustrie
neue Märkte erschlossen werden können. Auch das geht
in die richtige Richtung. Das heißt: Wir müssen den
technologischen Wandel fördern. Wir müssen umwelt-
verträgliche Automobile so schnell wie möglich auf die
Straße bringen und dürfen nicht das tun, was diese
Große Koalition vorgeschlagen hat und heute mit diesem
Gesetz verabschieden wird, nämlich CO2-Schleudern
auch noch von der Kfz-Steuer zu befreien. Das ist, wie
gesagt, die falsche Antwort.
Es gibt viele gute Ideen. Die Grünen haben diese
Ideen vorgetragen. Wir gehen davon aus, dass wir diese
in der Zukunft weiter diskutieren werden. Das werden
wir wohl machen, wenn die Regierung im Herbst des
nächsten Jahres wechselt. Dann haben wir vielleicht die
Chance, diese Ideen umzusetzen, und zwar sofort.
Ich gebe dem Kollegen Philipp Mißfelder, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Scheel, ich habe den Verdacht,
dass Sie diese Rede nicht selber geschrieben haben, son-
dern dass dieser Hokuspokus, den Sie hier gerade vorge-
tragen haben, aus der grünen Zauberkiste stammt.
All das kann doch nicht ernsthaft Ihrer Überzeugung ent-
sprechen. Ich bin sonst von Ihren Reden, Äußerungen
und Interviews im Fernsehen und in anderen Medien ge-
wohnt, dass Sie den Aspekt der Nachhaltigkeit und der
Generationengerechtigkeit verteidigen.
Im Gegensatz zu anderen Grünen, bei denen ich wenig
Hoffnung habe, haben Sie ja in der Vergangenheit ver-
nünftige Positionen vertreten. Aber leider – das muss ich
sagen – war das gerade eben in Ihrem Wortbeitrag nicht
der Fall. Vielmehr haben Sie hier zulasten der zukünfti-
gen Generationen ein Konjunkturprogramm gefordert
– das tun Sie auch in Ihrem Antrag –, das absolut unver-
antwortlich ist und das wir auf keinen Fall mittragen
werden.
Eine Ihrer hier vorgetragenen Forderungen – aus Ih-
rem Regenbogen an Forderungen ist dies eine, die ei-
gentlich nur mit „Wünsch dir was“ überschrieben wer-
den kann – ist die Anhebung der Hartz-IV-Sätze. Damit
sind Sie nahe bei dem, was die Linkspartei gefordert hat.
Sie fordern die flächendeckende Einführung von Min-
destlöhnen und die Verstaatlichung der Stromnetze und
verüben fortwährend Frontalangriffe auf die Automobil-
industrie. Damit haben Sie hier gerade ja auch fulminant
geendet.
Ich sage Ihnen: Gerade die Automobilindustrie, die
momentan so viele Schwierigkeiten hat,
braucht unsere Unterstützung statt weiteren Gegenwind.
Deshalb wehre ich mich gegen die Vorschläge, die Sie in
Ihrem Antrag aufgestellt haben.
20744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Scheel?
Ja, selbstverständlich.
Lieber Kollege Philipp Mißfelder, wir hatten zu die-
sem Gesetzentwurf eine Anhörung. Bei der Anhörung zu
diesem Gesetzentwurf waren auch Vertreter der Ver-
bände der Automobilindustrie da. Die Vertreter dieser
Verbände haben die Position vertreten, dass sie Klarheit
im Blick auf die Zukunft der Kfz-Steuer brauchen und
dass jetzt eine CO2-orientierte Kfz-Besteuerung auf den
Weg gebracht werden solle.
Das, was in dem vorliegenden Gesetzentwurf steht,
ist in dieser Form nicht zukunftsgerecht und nicht das,
was die Automobilindustrie von der Politik und von der
Großen Koalition erwartet. Vielmehr will sie eine CO2-
basierte Kfz-Steuer, und zwar entsprechende Beschlüsse,
nicht nur mit Gerede.
– Wie stehen Sie dazu? Wann kommt denn jetzt dieses
Gesetz?
Die rhetorische Frage, die Sie noch angeschlossen ha-
ben, gibt mir die Gelegenheit, darauf zu antworten. Auch
wir stehen in permanenten Gesprächen mit der Automo-
bilindustrie. Ich selber war bei der Anhörung nicht da-
bei. Ich lese mir das Protokoll aber gerne durch; das
werde ich im Anschluss an diese Sitzung tun.
Ich kann Ihnen allerdings versichern: Das, was wir
mit der Automobilindustrie und mit führenden Automo-
bilkonzernen besprochen haben, ist etwas anderes. Wir
haben uns bei unseren Vorschlägen, insbesondere denje-
nigen, die der Automobilindustrie helfen sollen, an dem
orientiert, was uns in diesen Gesprächen geraten worden
ist. Diese Vorschläge sind ja nicht aus der Luft gegriffen
worden, sondern sie sind in enger Abstimmung mit de-
nen erfolgt, die in der Automobilindustrie Verantwor-
tung tragen, insbesondere auf der Ebene der Vorstands-
vorsitzenden und der Bundeskanzlerin. Deshalb kann ich
nur sagen: Der Weg, den wir beschreiten, ist der richtige
und nicht der, den Sie hier anmahnen.
All Ihre Vorschläge bedeuten nicht nur eine Belastung
für die zukünftige Generation, sondern – ich habe gerade
schon gesagt, dass das für uns nicht vertretbar ist – sie
bedeuten auch weitere Belastungen für die Bürgerinnen
und Bürger in einer Phase, in der wir uns entschlossen
haben, den Bürgerinnen und Bürgern nicht noch mehr
zuzumuten.
In einer Zeit, in der die Menschen ohnehin das Gefühl
haben, sie würden an vielen Stellen stärker zur Kasse ge-
beten, wäre es ein völlig falscher Weg, sowohl der Wirt-
schaft als auch den Menschen noch weitere Bürden auf-
zuerlegen. Deshalb bin ich dagegen, dass Sie Ihre grüne
Zauberkiste öffnen und Dinge vorschlagen, die letztlich
absolut unrealistisch sind und nur einem kleinen Teil der
Bevölkerung dienen, nämlich Ihrer Klientel, die ledig-
lich Klientelpolitik will und die sich den Luxus, den Sie
an vielen Stellen einfordern, leisten kann.
In den vergangenen Tagen haben wir darüber disku-
tiert – auch mit unserem Koalitionspartner –, wie eine
maßvolle Reaktion auf das, was sich aktuell im Bereich
der Wirtschaft tut, aussehen könnte. Es darf nicht eine
Ad-hoc-Maßnahme nach der nächsten geben. Mich stört
bei dieser ganzen Diskussion, dass immer wieder Einzel-
vorschläge, auch übereilt, kommen, die weder gegenfi-
nanziert noch durchdacht sind und die im Zweifel nur
auf einem basieren, nämlich auf der Belastung der zu-
künftigen Generationen.
Deshalb teile ich das, was die Bundeskanzlerin in der
Öffentlichkeit, auf dem CDU-Parteitag, aber auch hier
im Deutschen Bundestag gesagt hat, absolut. So halte ich
die Strategie, auf Sicht zu fahren, für den besseren Weg
als den, sich in Forderungen nach Einzelmaßnahmen, die
letztlich nur weitere Verschuldung für die junge Genera-
tion bedeuten, gegenseitig zu überbieten.
Es geht darum, dass der Staat auch in Zukunft hand-
lungsfähig bleibt
und dass wir auch in den kommenden Monaten noch Re-
aktionsmöglichkeiten haben. Deshalb werbe ich für eine
maßvolle Reaktion auf das, was wir in den nächsten Wo-
chen und Monaten noch erleben werden, um so hoffent-
lich Schlimmeres abwenden zu können.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist auf dem richti-
gen Weg, ausnahmsweise, muss ich sagen – ich bin sonst
eher ein Kritiker der Großen Koalition –, gemeinsam mit
dem Koalitionspartner, der SPD. Ich möchte mich des-
halb für die gute Zusammenarbeit bei vielen Sozialde-
mokraten bedanken, die eher an das anknüpfen, was
auch wir wirtschaftspolitisch für sinnvoll erachten, als
an das, was die Grünen nun fordern, obwohl bei diesen
vor einiger Zeit auch noch Vernunft vorhanden war.
Einen Satz möchte ich noch zur FDP sagen. Sie haben
heute mit Ihren Zwischenrufen, Herr Brüderle und Herr
Wissing – Herr Niebel ist ja leider schon gegangen –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20745
(C)
(D)
Philipp Mißfelder
– er übt Zwischenrufe, aha –, deutlich gemacht, mit wel-
cher Vorfreude Sie den September nächsten Jahres er-
warten,
wenn Sie mit uns gemeinsam, wie ich hoffe, die Regie-
rung stellen werden. Diese Vorfreude möchte ich erwi-
dern. Ich bitte Sie aber, bis dahin noch einige Positionen
zu prüfen.
Wenn Sie mit uns regieren sollten, werden Sie sicherlich
den einen oder anderen Kompromiss mittragen müssen.
Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen: Orientieren Sie
sich an Bayern, an dem, was Horst Seehofer dort macht!
Da üben Sie gerade den Kompromiss. Da können Sie
sich schon an das Regierungshandeln mit uns gewöhnen.
Auf gute Zusammenarbeit im nächsten Jahr!
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Große Koalition hat bewiesen, dass sie ge-
rade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten handlungsfähig
und handlungsbereit ist.
Wir haben bereits vier Wochen nach der Pleite von Leh-
man Brothers in den Vereinigten Staaten das bisher
größte Rettungsprogramm vorgelegt und hier innerhalb
einer Woche verabschiedet; sogar die FDP hat mitge-
macht. Damit haben wir zunächst einmal die notwendi-
gen Maßnahmen ergriffen, um die Finanzkrise einiger-
maßen in den Griff zu bekommen.
Inzwischen hat die von der Großen Koalition getra-
gene Bundesregierung schon ein 15-Punkte-Programm
beschlossen, um sicherzustellen, dass die Auswirkungen
der Finanzkrise auf die Realwirtschaft begrenzt werden
können, und um die Wachstumskräfte zu fördern. In die-
ser Debatte heute geht es lediglich darum, drei Punkte
aus diesem 15-Punkte-Programm zu verabschieden. Es
sind solche, die steuerlich relevant sind. In wenigen Mi-
nuten werden wir also drei ganz entscheidende Schritte
machen. Wer jetzt sagt, das seien nur kleine Schritte,
dem sei erwidert: Es sind nur die steuerlichen.
Ein ganz wichtiger Schritt – für mich mit der wich-
tigste – ist das 15-Milliarden-Euro-Programm der KfW.
Das brauchen wir jedoch hier nicht zu verabschieden.
Firmen haben dank dieses Programms die Chance, Kre-
dite mit bis zu 90-prozentiger Bürgschaft für Investitio-
nen und mit bis zu 50-prozentiger Bürgschaft für Be-
triebsmittel zu erhalten. Das ist für die mittelständische
Wirtschaft zurzeit der wichtigste Punkt. Dieses Pro-
gramm läuft jetzt an.
– Schön, dass das auch die Grünen so sehen, Kollegin
Scheel. Das ist jedenfalls gut, und das ist auch die Auf-
fassung in diesem Hause.
Heute wollen wir die folgenden drei Maßnahmen be-
schließen:
Erstens. Wer bis zum 30. Juni 2009 ein neues Auto
kauft, wird für ein bis zwei Jahre von der Kfz-Steuer be-
freit.
Ich weiß, dass dieser Vorschlag umstritten ist. Aber das
war eine zentrale Forderung der Automobilindustrie. Ich
finde, wir sollten dieses Zeichen setzen und das Thema
nicht zerreden. Wir sind sicher nicht in der Lage, inner-
halb von drei Wochen eine CO2-Steuer einzuführen, aber
diese Maßnahme können wir in wenigen Tagen verab-
schieden. Das ist ein positives Signal für die Automobil-
industrie, bei der die Krise jetzt real angekommen ist.
Beim zweiten Punkt geht es um die zentrale Forde-
rung des deutschen Handwerks, indem wir die Möglich-
keiten bei einem Instrument, das sich bewährt hat, jetzt
schlicht verdoppeln.
Bei Handwerkerleistungen können in Zukunft 20 Prozent
vom Arbeitslohn bis zu einem Betrag von 6 000 Euro
steuerlich abgesetzt werden. Auf die Art kann jeder
1 200 Euro Steuern im Jahr sparen. Das ist eine wichtige
Maßnahme, die wir positiv verkaufen sollten. Das Hand-
werk wartet darauf. Es ist eine Botschaft, dass wir ge-
rade in schwierigen Zeiten zum deutschen Handwerk
stehen.
Drittens verändern wir für eine begrenzte Zeit die Ab-
schreibungsmöglichkeiten zum einen für die kleinen Be-
triebe, indem wir bestimmte Betriebs- und Gewinngren-
zen erhöhen, zum anderen insbesondere dadurch, dass
wir befristet wieder die Möglichkeit zur degressiven Ab-
schreibung eröffnen. Dies ist zwar nichts für notleidende
Firmen – das weiß ich; denn wer nur zu 70 Prozent aus-
gelastet ist, kauft keine neue Maschine –, aber Gott sei
dank gibt es eine Reihe von Bereichen, denen es noch
gut geht. Hoffentlich reden wir die nicht auch noch in
die Krise. Die zeitlich begrenzte Einführung degressiver
Abschreibungsmöglichkeiten dürfte dazu führen, dass
manche Investition vorgezogen wird. Damit hätten wir
ein positives Signal für die Nachfrage im Investitionsbe-
reich erreicht.
Erfreulich an dieser Debatte war für mich, dass alle
Fraktionen erklärt haben, dass sie von dem Gespenst der
20746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Otto Bernhardt
Konsumentengutscheine nichts halten. Ich habe aller-
dings eine kleine Befürchtung. Ich hoffe nicht, dass der
Kollege Schultz, der ja als einziger von den Sozialdemo-
kraten geredet hat, auch der einzige Sozialdemokrat ist,
der dagegen ist. Aus den heutigen Presseberichten ge-
winnt man ja den Eindruck, dass 50 Prozent dafür und
50 Prozent dagegen sind. Wir hier im Parlament haben
jedoch gezeigt, dass wir nichts davon halten.
– Nein, offensichtlich hat man die Vernünftigen ans Red-
nerpult geschickt; die anderen durften oder wollten
nicht.
Für Konsumentengutscheine in Höhe von 500 Euro
pro Person müssten wir 15 Milliarden Euro – ich kann
dem Kollegen Schultz nur zustimmen – am Kapitalmarkt
aufnehmen. Dafür würden wir jährlich 100 Millio-
nen Euro Zinsen zahlen, und irgendwann müssten unsere
Kinder das zurückzahlen. Ich hoffe, dass das Gespenst
nach dieser Debatte verschwunden ist. Denn eines ist
klar: Diese Schecks erzeugen Hoffnung. Viele wissen
schon, was sie damit machen wollen. Deshalb ist die
Botschaft von hier, dass wir die Steuergelder nicht so
leichtsinnig einsetzen werden, richtig und gut.
Abschließend will ich auf einen Aspekt eingehen, der
in keiner Rede heute und eigentlich auch nicht in den
vielen Reden, die wir draußen im Lande halten, fehlen
darf. Es geht um die Frage, wie es mit der Konjunktur in
Deutschland und weltweit weitergeht.
Ich selbst betrachte mich als positiven Realisten. Ich
schließe mich der Auffassung des Internationalen Wäh-
rungsfonds und der des Präsidenten der Deutschen Bun-
desbank an. Beide haben in diesen Tagen in etwa Fol-
gendes erklärt: Das erste Halbjahr 2009 wird noch sehr
kritisch. Wir werden einen realen Rückgang des Brutto-
inlandsprodukts erleben.
Aber es spricht aus heutiger Sicht vieles dafür, so der
Internationale Währungsfonds und der Chef der Deut-
schen Bundesbank, dass schon im zweiten Halbjahr die
positiven, die Wachstumskräfte überwiegen werden und
wir wieder halbwegs vernünftige Zahlen haben werden.
Diese Botschaft, meine Damen und Herren, sollten wir
verbreiten und nicht Panik.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelun-
gen des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssicherung
durch Wachstumsstärkung“ auf Drucksache 16/10930.
Ich weise darauf hin, dass zu dieser Abstimmung
31 Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vorliegen. 1)
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD in der Ausschussfassung anzuneh-
men, Drucksache 16/11171 und Drucksache 16/11190.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, sich zu erheben? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter
Beratung ebenfalls mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/11209? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und
CDU/CSU gegen die Stimmen der Fraktion der FDP bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-
lehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11210?
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU und der FDP gegen die Stim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung von Familien und haushaltsna-
– Drucksachen 16/10809, 16/11001 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksachen 16/11172, 16/11191 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Lydia Westrich
1) Anlagen 2 bis 4
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20747
(C)
(D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Carl-Ludwig Thiele
Barbara Höll
Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/11184 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider
Otto Fricke
Roland Claus
Alexander Bonde
Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der
FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor. Über den Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir später
namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Nicolette Kressl.
N
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit diesem Gesetz zur Unterstützung von Familien wer-
den wir eine Förderung von Familien auf den Weg brin-
gen, die auf vier Säulen beruht.
Zum einen wird die materielle Unterstützung von Fa-
milien durch Anheben des Kinderfreibetrags verbessert.
Grundlage dafür ist die Berechnung des steuerlichen
Existenzminimums von Kindern. Hierbei sind also Fak-
ten die Grundlage. Es ist mir besonders wichtig, darauf
hinzuweisen, weil in der einen oder anderen politischen
Debatte manchmal der Eindruck erweckt wird, als könne
man die Höhe des Kinderfreibetrags beliebig aus dem
Ärmel schütteln. Das tun wir nicht, sondern wir rechnen
das wirklich aus.
Zweitens. Da es im System der bisherigen Freibeträge
liegt, dass Familien, die mehr verdienen, auch mehr ent-
lastet werden, ist es eine politische Entscheidung der Re-
gierung und der Fraktionen zu sagen: Wir wollen auch
das Kindergeld anheben. Ich betone, dazu besteht kein
verfassungsrechtlicher Zwang. Es ist eine politisch ge-
wollte und gute Entscheidung der Fraktionen und der
Bundesregierung, das Kindergeld anzuheben.
Dabei wird auf die Situation von Mehrkindfamilien
Rücksicht genommen. Darüber gab es ja eine Debatte.
Aber natürlich wissen alle, dass ab dem dritten Kind die
Frage nach dem Auto oder der Wohnung eine andere Be-
deutung erhält.
Drittens. Wir werden mit diesem Gesetz auch Fami-
lien unterstützen, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld
beziehen. Das war nicht immer so. Aber ich halte es für
ausgesprochen wichtig, dass wir in diesem Gesetz
sowohl Einkommensteuerzahler als auch Transferleis-
tungsbezieher berücksichtigen.
Wir werden ein Schulstarterpaket im Wert von
100 Euro pro Jahr auflegen, und zwar jedes Jahr. Der
Begriff „Schulstarterpaket“ mag darauf hinweisen, dass
es nur um den Beginn der Schule geht. Nein, das ist
nicht der Fall. Vielmehr werden die betreffenden Fami-
lien zu Beginn eines jeden Schuljahres 100 Euro erhal-
ten.
Ich halte das für wichtig, weil wir damit Rücksicht da-
rauf nehmen, dass es zwei unterschiedliche Systeme
gibt, Familien und Kindern das Existenzminimum zu si-
chern: auf der einen Seite die eigenständige Existenzmi-
nimumssicherung von Kindern und Familien, die Trans-
ferleistungen erhalten, und auf der anderen Seite die
Einkommensteuerzahler. Mit unserem Gesetz unterstüt-
zen wir beide. Ich setze im Übrigen voraus – das ver-
binde ich mit einem dringenden Appell –, dass kein Bun-
desland – ich betone: kein – diese Regelung dazu nutzt,
weitere Einsparungen zum Beispiel bei der Lernmittel-
freiheit zu begründen.
Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Der
Bundesrat hat uns eine Prüfbitte mit auf den Weg gege-
ben. Ich saß in der Debatte im Bundesrat dabei, als die
Sozialministerin aus Baden-Württemberg die Bundesre-
gierung gebeten hat, zu prüfen, ob wir das Schulstarter-
paket nicht auch auf Kinder ab dem zehnten Schuljahr
ausweiten können.
Wir haben in der Gegenäußerung zugesagt, das zu prü-
fen. Ich will ausdrücklich betonen: Es liegt in der Hand
des Parlaments und der zuständigen Gremien, die über
den Gesetzentwurf beraten werden, darauf zu reagieren.
Ich persönlich glaube, dass es notwendig ist, darüber hi-
nauszugehen, weil Kinder unabhängig von ihrer Her-
kunft Unterstützung bei jedem Bildungsabschluss brau-
chen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und
ist ökonomisch sinnvoll; denn es dürfen keine Talente
verloren gehen.
Viertens. Die im Gesetz vorgesehene Unterstützung
von haushaltsnahen Dienstleistungen verbessert nicht
nur die materielle Situation der Betreffenden – anderen-
20748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl
falls würden wir nur an den Symptomen herumdoktern –,
sondern gibt Menschen in Familien die Möglichkeit,
durch eigene Arbeit für ihre materielle Basis zu sorgen.
Wir verbessern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
und unterstützen damit Familien. Wir weiten die steuer-
liche Förderung betreffend die haushaltsnahen versiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, aber auch
betreffend die Beschäftigungsverhältnisse in Dienstleis-
tungsagenturen deutlich aus, und zwar auf einheitlich
20 Prozent der Aufwendungen von bis zu 20 000 Euro,
höchstens 4 000 Euro pro Jahr. Damit schaffen wir ne-
ben der materiellen Verbesserung die Grundlage für Fa-
milien, sich freier als bisher zu entscheiden, wenn es um
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen.
Wie wir wissen, stehen Alleinerziehende immer im Mit-
telpunkt der Armuts- und Reichtumsberichte. Auf diese
Gruppe müssen wir besonders achten; denn sie trägt das
höchste Armutsrisiko.
Wer aber glaubt, mit materiellen Verbesserungen al-
leine könnte Alleinerziehenden geholfen werden, täuscht
sich. Wir müssen den Alleinerziehenden zum Beispiel
durch Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und
Beruf die Möglichkeit geben, für sich selber sorgen zu
können. Nur dieses wird ihnen auch im Alter helfen,
nicht in Altersarmut zu geraten.
Zusammenfassend: Das ist ein gutes Paket für Fami-
lien, das die Zustimmung der Fraktionen verdient. Ich
wünschte mir, wir würden diese nachher bei der Abstim-
mung erleben.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Carl-
Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst finde ich es schon
erstaunlich, dass zu diesem von der Regierung einge-
brachten Gesetz zur Förderung der Familien kein Vertre-
ter des Familienministeriums das Wort ergreift. Das
zeigt ganz deutlich, wessen Handschrift dieses Gesetz
trägt: nicht die des Familienministeriums, sondern die
des Finanzministeriums. Deshalb hat Frau Kressl hier
gesprochen; denn was hier groß als Familienförderpaket
dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eher eine Belastung
für Familien. In den letzten drei Jahren ist das Kinder-
geld um über 2,5 Milliarden Euro zurückgegangen, unter
anderem aufgrund von Kürzungsmaßnahmen, die die
Große Koalition vorgenommen hat.
Das Kindergeld wird nicht mehr für 26-Jährige bzw.
27-Jährige ausgezahlt. Das Geld, das die Familien bisher
erhalten haben, wird den Familien bei der jetzigen Erhö-
hung des Kindergeldes nicht einmal in der bisherigen
Größenordnung zurückgegeben. Der Staat hat für Kin-
dergeld 2,5 Milliarden Euro weniger ausgegeben, und
mit diesem Gesetz gibt er den Bürgern 2,2 Milliarden
Euro als Familienförderung zurück. Ich glaube, meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union und
von der SPD, das ist eigentlich nicht das, was wir allge-
mein unter Familienförderung verstehen.
Insofern möchte ich für die FDP hier erklären, dass
uns die Erhöhung zu niedrig ist. Seit 2002 hat es weder
eine Erhöhung des Kinderfreibetrags noch eine Erhö-
hung des Kindergelds gegeben. Die Kosten sind in den
sieben Jahren aber gestiegen. Zusätzlich zu den gestiege-
nen Kosten hat es deutliche Steuererhöhungen der Gro-
ßen Koalition gegeben. Diese ganzen Mehrausgaben ha-
ben die Familien aus einem begrenzten Budget zu
leisten. Dass zum Ende einer Legislaturperiode eine Er-
höhung stattfindet, ist eher Zeichen eines schlechten Ge-
wissens als Zeichen eines entschlossenen Handelns.
Schauen wir uns einmal das Kindergeld an. Es steigt
ab dem dritten Kind um 16 Euro. Da frage ich mich na-
türlich: Warum eigentlich nicht beim ersten und beim
zweiten Kind? Beim ersten und zweiten Kind haben wir
eine Steigerung um etwa 6 Prozent, um lediglich
10 Euro. Der Hintergrund – das kann ich hier erklären,
und das hat mir die Bundesregierung auf meine Anfra-
gen bestätigt – ist: Kindergeld für das erste Kind wird für
über 10 Millionen Kinder gezahlt, Kindergeld für das
zweite Kind für 5 Millionen Kinder, und Kindergeld ab
dem dritten Kind wird für etwa 3 Millionen Kinder ge-
zahlt. Wenn man für die ersten beiden Kinder das Kin-
dergeld nicht erhöht, dann erhält der Großteil der Fami-
lien keine Förderung, die der Förderung ab dem dritten
Kind entspricht. Das halten wir für falsch. Wir wollen
eine stärkere Erhöhung schon für das erste und zweite
Kind. Im Finanzausschuss haben wir 6 Euro mehr gefor-
dert. Wir hätten dann ein einheitliches Kindergeld von
170 Euro ab dem ersten Kind und danach eine Staffelung
mit höheren Beträgen.
Die langfristige Richtung der FDP besteht allerdings
darin, das Existenzminimum deutlich zu erhöhen. Es
wird hier um etwa 2 Prozent erhöht. Das ist uns nach sie-
ben Jahren zu wenig. Wir fordern einen einheitlichen
Freibetrag von 8 000 Euro für Erwachsene und Kinder
und ein einheitliches Kindergeld von 200 Euro, weil das
erforderlich ist, um den Familien in unserem Lande zu
helfen. Familienpolitik besteht nicht nur in der Auszah-
lung von Geld, das ist vollkommen klar: Wir brauchen
eine familienfreundliche Gesellschaft, und zu der Fami-
lienfreundlichkeit der Gesellschaft gehört auch, dass Fa-
milien entsprechend gefördert werden, damit die Kosten
tatsächlich getragen werden können. Dafür ist dieser
Entwurf viel zu mutlos. Er ist saft- und kraftlos und er-
reicht nicht das, was das Gesetz vorgaukelt, nämlich die
Familien tatsächlich zu fördern.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20749
(C)
(D)
Carl-Ludwig Thiele
Schauen wir uns doch einmal den Stuttgarter Parteitag
der Union an. Da wurde gesagt: Lasst uns die Steuern
senken. – Das kann man über einen Freibetrag machen,
das kann man tariflich machen, man kann es aber auch
über das Kindergeld in Form einer negativen Einkom-
mensteuer machen.
– Herr Kollege Kauder, wir machen das gerne mit Ihnen,
aber wir hätten uns etwas mehr Einsatz schon bei diesem
Gesetz gewünscht. Hier haben wir nämlich ein Steuerge-
setz, welches ab dem 1. Januar nächsten Jahres in Kraft
tritt. Die von uns erwünschte Wirkung hätte für große
Teile der Bevölkerung, gerade für die Familien, schon ab
dem 1. Januar 2009 einsetzen können, wenn hier etwas
mutiger vorgegangen würde.
Dabei muss man wissen, dass sich die Diskussion
über eine Erhöhung des Kindergeldes und des Kinder-
freibetrages schon über Jahre hinzieht und dass der
Abschluss zustande kam, bevor das Finanzmarktstabili-
sierungsgesetz verabschiedet und das Konjunkturpro-
gramm aufgelegt worden waren. Wenn man sagt: „Ab
dem 5. Januar fangen wir an, den Leuten zu erklären,
warum wir die Steuern senken“, frage ich mich natür-
lich: Warum zeigt man nicht hier und heute Flagge, in-
dem man die Bürger ab dem 1. Januar 2009 per Gesetz
steuerlich entlastet? Das wäre heute möglich. Mir ist un-
verständlich, dass Sie das nicht machen.
Herr Kollege Thiele, die Kollegin Frechen würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Thiele, können Sie mir sagen, wie sich
die von Ihnen geforderten höheren Kinderfreibeträge auf
die Familien auswirken, die im Schnitt 30 000 Euro zu
versteuerndes Einkommen im Jahr und zwei Kinder ha-
ben? Wie viel haben sie mehr in der Tasche, wenn die
Kinderfreibeträge erhöht werden? Sollten Sie nicht so
blitzschnell rechnen können wie ich, möchte ich Sie nur
bitten, mir zu sagen, ob Sie mir zustimmen, dass diese
Familien durch die Erhöhung der Freibeträge null Euro
mehr in der Tasche haben, weil sie einzig und allein vom
Kindergeld profitieren.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Frechen. – Sie wis-
sen, dass wir die Zahlung des Kindergeldes im Einkom-
mensteuergesetz geregelt haben. Das Kindergeld ist die
Zahlung eines monatlichen Abschlags auf die Wirkung
des Freibetrages, die erst im Laufe des Jahres einsetzt.
Im Gesetz steht, dass es sich um eine zusätzliche und ge-
wollte Förderung der Familie handelt, sofern der Um-
fang des Kindergeldes über die Wirkung des Freibetrags
hinausgeht. Wir als FDP haben damals das Modell einer
negativen Einkommensteuer entwickelt. Es ist das erste
praktizierte Bürgergeld – wir als FDP treten dafür ein –,
welches hier gesetzlich verankert worden ist.
Wir bitten immer wieder darum, den Zweiklang zu
beachten: Wir wollen zum einen den Freibetrag erhöhen
– das habe ich vorgetragen – und parallel das Kindergeld
erhöhen. Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten
Sie – das wird voraussichtlich Bestandteil unseres nächs-
ten Bundestagswahlprogramms werden –: Wir wollen
einen Freibetrag in Höhe von 8 000 Euro für alle und ein
Kindergeld von 200 Euro. Davon sind wir nach dem
Vorschlag, den die Koalition hier zuletzt auf den Tisch
gelegt hat, leider noch entfernt. Denn wenn ich es recht
sehe, fehlen noch – insbesondere für das erste und das
zweite Kind – 36 Euro, um den Wert von 200 Euro zu
erreichen. Ich bitte Sie, den Zweiklang, den die FDP im-
mer gesehen hat, im Auge zu behalten: Kinderfreibetrag
auf der einen Seite, Kindergeld auf der anderen Seite.
Sie haben recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass der
Freibetrag nicht jedem Steuerpflichtigen zugutekommt.
Daher wollen wir neben dem Freibetrag die Erhöhung
des Kindergeldes, wofür in der Vergangenheit auch ein-
mal die Sozialdemokraten eingetreten sind, Frau Kolle-
gin. Insofern betrachten wir die Erhöhung des Kinder-
geldes nach sieben Jahren um lediglich 10 Euro für das
erste und zweite Kind – der Großteil der Familien hat so
viele Kinder – für absolut unzureichend; 6 Prozent nach
sieben Jahren, das ist zu wenig. Damit ist nicht einmal
die Preissteigerung abgebildet. Wir fordern – die FDP
hat es in ihrem letzten Wahlprogramm gefordert; auch
bei der nächsten Wahl werden wir mögliche Koalitions-
partner daran messen –, unseren Vorschlag umzusetzen.
Wir haben ferner das Problem, dass der Freibetrag
beim sächlichen Existenzminimum lediglich um 2 Pro-
zent steigt. Auch das ist uns zu wenig; das reicht nicht
aus. Insofern hätte ich mir etwas mehr Mut gewünscht
und nicht nur den Verweis: Einen Tag vor dem Dreikö-
nigsfest beschließt die Union ein Steuerprogramm,
die Weihnachtsbescherung kommt im Januar. Das kann
nicht die richtige Politik sein. Hier und heute können wir
beschließen. Wir sollten nicht alle Hoffnung auf die Zu-
kunft setzen, zumal man sehen muss, dass gerade die
Hoffnung auf die Zukunft von der Union auch in dieser
Wahlperiode nicht erfüllt wurde, Stichwort „Steuererhö-
hungen“. Das, was befürchtet wurde, wurde getoppt.
Dies ist eine Koalition der Steuererhöhungen und nicht
der Steuersenkungen. Wer hier ernsthaft und glaubwür-
dig vor die Bürger treten will, der muss sich jetzt zu
Steuersenkungen bekennen. Das ginge mit einer entspre-
chenden Ausgestaltung dieses Gesetzes direkt und kon-
kret.
Lassen Sie mich zu zwei weiteren Punkten kommen.
20750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Carl-Ludwig Thiele
Wir begrüßen es, dass die Haushalte inzwischen auch
von den Sozialdemokraten als private Arbeitgeber aner-
kannt werden. Über die Technik kann man streiten; da
haben wir andere Vorstellungen. Dass das geschieht, hal-
ten wir für richtig und begrüßen es.
Ich möchte noch einige Sätze zum Schulstarterpaket
sagen. Wir als FDP halten es für richtig, dass Kinder
frühzeitig in die Lage versetzt werden, Bildungschancen
unabhängig vom Einkommen der Eltern wahrzunehmen.
Deswegen halte ich persönlich es für einen Fehler, dass
unter Rot-Grün an dieser Stelle Bildung kein Bestandteil
des Warenkorbes für die Bemessung der Regelsätze im
Sozialgesetzbuch II wurde.
Das gehört im Interesse der Kinder da hinein; es ist aber
bislang nicht enthalten.
Wir halten dies für falsch.
Deswegen müssen wir uns mit diesem Problem be-
schäftigen. Ein entsprechender Ansatz geht zwar in die
richtige Richtung, aber ich halte ihn für etwas zu kurz
gesprungen. Denn wir wollen, dass das Geld tatsächlich
bei den Kindern ankommt. Deshalb plädiert die FDP für
eine Nachweispflicht oder für ein Gutscheinsystem; über
die Technik, wie man das umsetzt, kann man sich noch
unterhalten. Wir wollen, dass das, was den Familien, die
nicht in der Lage sind, aus eigener Erwerbstätigkeit den
Unterhalt ihrer Kinder zu bestreiten, zusätzlich gegeben
wird, bei den Kindern ankommt.
Wir müssen in diesem Zusammenhang aber auch das
Lohnabstandsgebot beachten. Es muss auch für Gering-
verdienende in unserer Gesellschaft interessant sein, er-
werbstätig zu sein und ihre Kinder mit den entsprechen-
den Schulmaterialien auszustatten.
Wenn Sie unserem Vorschlag folgen und den Grundfrei-
betrag erhöhen würden, dann wäre diese Bedingung für
Steuerpflichtige erfüllt. Auch für diejenigen, die nur we-
nig Steuern zahlen, wäre diese Bedingung aufgrund der
Erhöhung des Kindergeldes erfüllt. Deshalb bitte ich Sie,
über diesen Vorschlag noch einmal nachzudenken.
Aber eines geht nun überhaupt nicht, nämlich dass
man sagt: Unterstützung beim Schulmaterial muss sein,
aber mit der zehnten Klasse ist Schluss damit.
Das ist überhaupt nicht richtig und überhaupt nicht ak-
zeptabel. Diese Unterstützung muss für die Zeitdauer der
gesamten Schulpflicht inklusive der beruflichen Bildung
gelten. Es ist mir unbegreiflich, wie man seitens der Gro-
ßen Koalition in eine solche Situation kommen kann. Ich
halte Ihren Weg für den falschen. Wir kritisieren Ihre
Pläne und haben entsprechende Änderungsanträge im
Ausschuss gestellt.
Herr Kollege Thiele.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Weil das
Gesetz gleichwohl eine Erhöhung des Kindergeldes und
des Kinderfreibetrages vorsieht – wenn auch aus unserer
Sicht nicht in ausreichendem Maße –, enthalten wir uns.
Der Weg geht in die richtige Richtung, aber er ist viel zu
mutlos. Sie hätten mehr machen können. Vielleicht gibt
es im Laufe der Debatte und bei der Abstimmung noch
Bewegung.
Herr Kollege Thiele, Sie müssen jetzt zum Ende kom-
men.
Denn der Bundestag beschließt heute und muss nicht
zwangsläufig dem folgen, was der Finanzausschuss be-
schlossen hat.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Ich gebe das Wort der Kollegin Patricia Lips, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Augenmerk vieler Menschen in diesem
Land liegt ganz sicher auf den Beschlüssen des heutigen
Tages, die zur Belebung und Aufrechterhaltung der Kon-
junktur beitragen sollen, natürlich auch ausgelöst durch
die weltweite Finanzmarktkrise.
Das Familienleistungsgesetz wird durch seine Entlas-
tungswirkung in der vor uns liegenden Zeit zu einem
ganz wichtigen Baustein in der weiteren Entwicklung
werden. Herr Thiele, das hat nichts – ich sage dies aus-
drücklich – mit schlechtem Gewissen zu tun. Wir begrü-
ßen vor allem, dass alle darin enthaltenen Maßnahmen
darauf ausgerichtet sind, gerade diejenigen zu unterstüt-
zen und zu stärken, die das Fundament einer stabilen Ge-
sellschaft bilden, nämlich die Familien.
Alle Inhalte des Gesetzes sind kurzfristig umsetzbar. Sie
berücksichtigen individuelle Lebensumstände, und sie
sind vor allem Investitionen in die Zukunft, auch über
die Finanzmarktkrise hinaus.
Ich möchte es noch einmal kurz zusammenfassen:
Erstens. Das Kindergeld wird gestaffelt erhöht. Dies
kommt vor allem Mehrkindfamilien zugute. Davon sind
rund 4,5 Millionen Kinder in unserem Land betroffen.
Zweitens. Die Erhöhung des Kinderfreibetrages be-
wirkt eine weitere Entlastung an anderer Stelle und er-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20751
(C)
(D)
Patricia Lips
gibt sich schon aus verfassungsrechtlicher Notwendig-
keit.
Drittens. Berufstätige Eltern, die praktische Hilfe im
Alltag in Anspruch nehmen wollen, die ihnen am Ende
mehr Zeit für das Zusammensein mit ihren Kindern er-
möglicht, erhalten eine verbesserte steuerliche Absetz-
barkeit ihrer Aufwendungen. Damit verbunden ist natür-
lich auch das Ziel, vorhandenes Potenzial bezüglich des
Beschäftigungsaufbaus gerade in schwierigen Zeiten
auszuschöpfen.
Viertens. Ganz neu ist – wir haben es heute schon ge-
hört – das sogenannte Schul- oder Starterpaket in Höhe
von 100 Euro zu Beginn eines jeden Schuljahres für
Kinder und Jugendliche aus Familien, die auf Hartz IV
bzw. Sozialhilfe angewiesen sind. Es gilt bis zum
10. Schuljahr und damit bis zum Ende der gesetzlichen
Schulpflicht. So weit die Vorlage.
Alle genannten Punkte reihen sich nahtlos in die Er-
folgsgeschichte ein, die wir in den vergangenen drei Jah-
ren für die Kinder in diesem Land und deren Eltern auf
den Weg gebracht haben. Das wollen und dürfen wir
nicht vergessen.
Bei allem, was darüber hinaus gefordert wird, auch in
dieser Debatte und auch von uns, dürfen wir nicht Ge-
fahr laufen, diese Leistung aus dem Blick zu verlieren.
Mit dem Familienleistungsgesetz gehen wir heute ei-
nen weiteren wichtigen Schritt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Gruß?
Ja, gerne.
Frau Kollegin, da Sie nicht im Familienausschuss
sind, möchte ich an dieser Stelle auf etwas hinweisen,
was vielleicht die Kolleginnen und Kollegen aus dem
Familienausschuss nicht mehr hören können, was Sie
aber ebenfalls wissen sollten.
– Die Frage kommt. Ich will sie nur einführen. – Sie ha-
ben davon gesprochen, dass die Maßnahmen aus dem
Familienleistungsgesetz sich in die Erfolgsgeschichte
einreihen würden, die wir für Familien in den letzten
drei Jahren auf den Weg gebracht hätten.
Meine Frage an Sie lautet: Wie beurteilen Sie im Zusam-
menhang mit dieser Erfolgsgeschichte, dass Sie per
Beschluss dieses Bundestages in den letzten drei Jahren
19-mal die Steuern und Abgaben erhöht haben, was dazu
geführt hat, dass eine vierköpfige Familie pro Jahr im
Durchschnitt 1 600 Euro mehr ausgeben muss?
Dass die Familien mit Kindern durch unsere Unter-
stützung eine Erfolgsgeschichte erlebt haben, steht un-
widerruflich fest.
Das können Sie nicht negieren. Von dem, was von Ihrer
Seite in der Vergangenheit an Vorschlägen gerade in die-
sem Bereich kam, war vieles ohne eine auch nur annä-
hernd ausreichende Gegenfinanzierung, was für die Zu-
kunft der Kinder, auf die Sie sich in Ihrer Fragestellung
bezogen haben, aber wichtig wäre. Ich werde später
noch einmal darauf zurückkommen. Wir müssen in un-
serer Gesellschaft die Balance wahren. Dazu gehört,
dass wir, in Bezug sowohl auf die Gegenwart als auch
auf die Zukunft, darauf achten, wie wir mit dem Vermö-
gen der Kinder umgehen.
Viele Maßnahmen, die Sie vorgeschlagen haben, auch
im Finanzausschuss – heute sind ja die Familien- und die
Finanzpolitiker im Dialog –, gingen weit über diese Ver-
antwortung hinaus. Das sage ich durchaus mit einem ge-
wissen Erstaunen in Richtung Ihrer Partei.
Ich komme zurück zu meiner Rede. Bei allem, was
der Gesetzentwurf bietet, haben wir dennoch darüber hi-
nausgehende eigene Vorstellungen und Ideen. Das haben
wir an verschiedenen Stellen deutlich gemacht. Natür-
lich ist es schwer nachvollziehbar, weshalb das Schulpa-
ket, die 100 Euro für die Schulausstattung, nur bis zum
10. Schuljahr gezahlt werden soll – obgleich wir der
Überzeugung sind, dass sich die verantwortlichen Spit-
zen in den zuständigen Ministerien sicher etwas bei die-
ser Begrenzung gedacht haben. Es liegt nun in unserer
Verantwortung, wie wir damit umgehen. Wir haben das
Angebot gemacht, diese Unterstützung grundsätzlich
auszuweiten und auch jenseits der Schulpflicht zu ge-
währen. Damit bin ich aber schon bei einem weiteren
Punkt. Aus unserer Sicht ist es ebenso wenig begründbar
– da gebe ich Ihnen recht, Herr Thiele –, weshalb wir
uns in der Frage der Ausweitung in den letzten
48 Stunden immer nur auf die allgemeinbildenden Schu-
len, Stichwort: Oberstufe, versteifen. Was antworten wir
dem Jugendlichen, der aus einer Familie kommt, die
Hartz IV bezieht, und der eben nicht diesen Weg ein-
schlagen will, sondern bereits früher in die berufliche
Bildung wechseln will?
Was antworten wir auch den vielen Familien, die zwar
nicht Hartz-IV-berechtigt sind, aber mit einem niedrigen
Erwerbseinkommen auskommen müssen? So wenig, wie
das eine begründbar erscheint, so schwer ist doch auch
das andere zu beantworten. Es ist nicht immer nur so
einfach,
20752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Patricia Lips
dass es auf der einen Seite die Transferleistungsbezieher
und auf der anderen Seite die Steuerzahlenden gibt. Wir
müssen aufpassen, dass wir die vielen dazwischen nicht
immer wieder durch ein Raster fallen lassen.
– Nein, Herr Thiele, gestatten Sie mir, dass ich jetzt erst
einmal im Zusammenhang fortfahre.
Ich möchte ein Weiteres nennen: Immer mehr Arbeit-
geber – darunter viele mittelständische Betriebe –, die
ihre guten Fachkräfte halten wollen, engagieren sich da-
rin, ihren Mitarbeitern bei der Betreuung ihrer Kinder
Unterstützung zu geben, damit sie ihrer Arbeit vollum-
fänglich und guten Gewissens nachgehen können.
Ist das Kind vier Jahre alt und im Kindergarten, dann
besteht für die Eltern eine Steuerfreiheit hinsichtlich die-
ser Unterstützungsleistung. Ist das Kind neun Jahre alt
– ich nenne das jetzt einfach einmal als Beispiel – und
kommt es mittags von der Grundschule nach Hause
– teilweise recht unkalkulierbar –, sodass es faktisch
ebenso einer Betreuung bedarf, dann gilt dies in dieser
Form laut geltendem Recht zumindest im Moment noch
nicht.
Diese Situation finden wir in einem hohen Maße bei vie-
len einfachen, redlichen Familien in unseren Regionen
vor, die wir vertreten.
Ich sagte es bereits: Es ist in der Tat unsere Aufgabe,
Balance zu wahren. Wir müssen es vermeiden, dass bei
Eltern und Familien mit eigenem Einkommen – das sind
vielfach auch Geringverdiener – der Eindruck entsteht,
dass sich ihre eigene Leistung und ihr eigener Einsatz
nicht mehr lohnen. Wir wollen ausdrücklich diejenigen
unterstützen, die der Hilfe bedürfen. Ja! Wir sind stolz,
in einem Land zu leben, in welchem dies auch derart
umfänglich möglich ist.
Wir wollen und dürfen aber auch diejenigen nicht aus
dem Blick verlieren, die uns diese Hilfe am Nächsten
mit ihren Abgaben und Beiträgen überhaupt erst ermög-
lichen und damit zur gegenseitigen Solidarität in unserer
Gesellschaft beitragen.
Das sind nicht nur die Reichen, das sind auch sehr viele
aus Mittelstand.
Zusammengefasst: Wir wollen erstens die Auswei-
tung des Bedarfspakets für Jugendliche über die 10. Jahr-
gangsstufe hinaus, wobei zweitens die Schülerinnen und
Schüler an allgemeinbildenden und berufsbildenden
Schulen in gleicher Weise berücksichtigt werden.
– Ich komme gleich darauf. – Drittens wollen wir eine
Prüfung, inwieweit diese Förderung auch außerhalb von
Hartz IV bzw. Sozialhilfe – ich nenne das jetzt so – Fa-
milien mit geringem Einkommen zugutekommen
könnte. Viertens sind wir für die Ausweitung der Steuer-
befreiung hinsichtlich der Leistungen der Arbeitgeber,
die die Betreuung der Kinder ihrer Arbeiter und Ange-
stellten bis zum 14. Lebensjahr finanziell unterstützen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind un-
sere Vorstellungen, durch die in unseren Augen ein guter
Weg aufgezeigt wird. Wir respektieren auch die vielen
anderen Vorstellungen. Eine Verständigung insgesamt
war – sagen wir es einmal so – auch in der Kürze der
Zeit nicht möglich.
Wir regen deshalb an, das Gesetz so, wie es zunächst
ist – mit all den vielen guten Maßnahmen –, heute auf
den Weg zu bringen, um die zeitnah zu erfolgenden Ent-
lastungen – beispielsweise beim Kindergeld – nicht zu
gefährden, sondern aus diesem Haus möglichst breit zu
unterstützen.
In einer zweiten Runde – es gibt ja durchaus Elemente,
die am 1. Januar 2009 gar nicht zum Tragen kommen –
sollten wir gemeinsam nochmals zusammenkommen,
um die vielen Vorschläge, die zurzeit genannt werden,
ihrer Bedeutung gemäß zu bewerten, zu prüfen und ge-
gebenenfalls umzusetzen.
Wir sollten keine einseitigen Schnellschüsse in einer
emotionalen Zeit abgeben, so gut sie auch gemeint sind,
sondern uns darum bemühen, die offenen Fragen mög-
lichst umfassend zu beantworten, Anregungen aufzu-
greifen und diejenigen mitzunehmen, die ebenfalls am
Wegesrand stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Vizepräsident. – Frau Kolle-
gin Lips, einem Großteil Ihrer Fragen – das möchte ich
vorab sagen – kann ich ausdrücklich zustimmen. Sie ha-
ben aber auch viele Ihrer Aussagen in Fragen gekleidet.
Sie haben gefragt: Was sagen wir denn den Menschen,
wenn die Unterstützungsleistungen nach dem 10. Schul-
jahr nicht weiter gewährt werden? Was sagen wir denn
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20753
(C)
(D)
Carl-Ludwig Thiele
den Menschen, wenn sie im berufsbildenden Bereich
nicht gewährt werden? Die Fragen habe ich aufgenom-
men.
Ich habe aber auch eine Frage an Sie: Was sagen Sie
diesen Menschen denn? Eine Antwort habe ich nämlich
nicht gehört. Ich habe nur die Frage dazu gehört, aber
nicht die Antwort – auf die bin ich gespannt.
Frau Kollegin Lips.
Sehr geehrter Kollege Thiele, ich glaube, ich habe ge-
gen Ende meiner Ausführungen einen Weg aufgezeigt.
Deswegen wollte ich meinen Redebeitrag erst fortsetzen,
bevor ich Ihre Frage beantworte. Ich habe gerade in den
letzten 48 Stunden gemerkt, dass es zu diesem Thema
sehr viele Emotionen gibt. Betrachten Sie die Aussagen,
die ich als Fragen formuliert habe – ich hätte sie auch als
Forderungen formulieren können –, in gewisser Weise
auch unter einem rhetorischen Aspekt.
Uns geht es darum, die Probleme hinsichtlich der
Menschen, die von SGB II und Hartz IV betroffen sind,
und denjenigen, die das entsprechende Einkommen ha-
ben, einer umfänglichen Prüfung zu unterziehen. Der
Fairness halber soll dies nicht nur einseitig für eine Be-
völkerungsgruppe geprüft werden, sondern es soll auch
den anderen die Chance zu einer neuen Bewertung gege-
ben werden. Das habe ich damit beabsichtigt.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lips, seit 2002 wurde das Kindergeld nicht mehr
erhöht. Es war Zeit genug, nachzudenken und Antworten
zu finden, um uns hier nicht wieder mit einem Fragenka-
talog zu konfrontieren.
Sie erhöhen endlich das Kindergeld um 10 Euro pro Mo-
nat. Sie besitzen aber die Frechheit, dies als Bestandteil
Ihres Konjunkturprogrämmchens zu verkaufen. Das finde
ich wirklich bodenlos.
Kindergeld und Kinderfreibetrag sind kein Gnaden-
akt. Uns liegt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vor. Das Existenzminimum, auch das von Kindern, muss
steuerfrei sein. Wir haben nun zu überlegen, wie das be-
rechnet wird. Sie berechnen es permanent; das hat Frau
Kressl auch gesagt. Sie berechnen es aber permanent zu
niedrig. Die Berechnung der Regelsätze geht in die Be-
rechnung des steuerfreien Existenzminimums ein. Der
Paritätische Wohlfahrtsverband und die Familienver-
bände der Evangelischen Kirche und der Katholischen
Kirchen haben Ihnen ihre Berechnungen vorgelegt. Sie
ignorieren das einfach. Sie tun so, als ob diese nicht da
wären und nicht gelten.
Dass wir heute so intensiv über das Schulstarterpaket
diskutieren, hat natürlich etwas mit den Regelsätzen zu
tun. Sie alle hier waren doch von der Einführung von
Hartz I bis Hartz IV und von der Festsetzung der Regel-
sätze begeistert. Die Bildung wurde einfach rausgelas-
sen.
Daran sind Sie alle doch beteiligt. Rot-Grün hatte die
Verantwortung. Gegenstimmen der anderen waren nicht
zu hören. Sie plustern sich jetzt hier auf und sagen, dass
es endlich gemacht werden muss. Natürlich muss es end-
lich gemacht werden. Aber dann lassen Sie uns die Bil-
dung insgesamt betrachten.
Bei der frühkindlichen Bildung muss ebenfalls mehr
getan werden. Vielleicht sollte ein Kindergartenkind
auch zusätzliche Bildung in Form von musikalischer
Früherziehung oder sportlicher Betätigung bekommen.
All das fällt weg. Hartz-IV-Kinder brauchen kein Abitur,
weil sie sowieso nicht studieren werden. Studiengebüh-
ren können sie sowieso nicht aufbringen. Also lassen wir
es alles. Diese Perspektive sollte es nicht mehr geben.
Das ist Ihre zynische Politik.
Die SPD sagt: Wir wollten für Abiturientinnen und
Abiturienten unbedingt, aber wir haben die 18 Millionen
Euro von der CDU nicht bekommen. – Das ist einfach
nur ein Armutszeugnis.
Die SPD-Kollegin Westrich hat im Ausschuss gesagt
und uns versprochen: Die SPD wird sich dafür einsetzen,
dass die Kinderregelsätze kindgerecht ausgestaltet wer-
den, noch in dieser Legislaturperiode. – Da bin ich ge-
spannt. Dies ist natürlich ein Eingeständnis, dass Ihre
Regelsätze viel zu gering sind und Sie sich seit Jahren
nicht mehr auf dem festen Boden der Verfassung befin-
den
– das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu geäußert –,
sondern weit darunter sind.
20754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Barbara Höll
Machen wir es einmal konkret: Von Regelsätzen in
Höhe von 235 Euro pro Monat geht der Bericht zum
Existenzminimum aus. Der Paritätische Wohlfahrtsver-
band spricht für 2008 von realistischen Regelsätzen in
Höhe von 299 Euro, und der Caritasverband hat Ihnen
vorgerechnet, dass sich allein aufgrund der Inflation eine
Steigerung um 18 Prozent niederschlagen müsste. Nichts
passiert, was der Realität von Kindern und Jugendlichen
tatsächlich nahe käme.
Frau Kressl, Sie haben zum Ende Ihrer Rede gesagt,
Materielles allein helfe vor allem Alleinerziehenden
nicht. Dies streitet niemand ab. Wir brauchen natürlich
Berufstätigkeit von Frauen. Wir brauchen vor allem glei-
chen Lohn für gleichwertige Arbeit: 24 Prozent beträgt
der Abstand zur Bezahlung von Männern; damit sind wir
europaweit ganz hinten. Wir brauchen Kinderbetreuung.
Dies aber so zu interpretieren und umzusetzen, wie Sie
es getan haben, dass nämlich bei den Alleinerziehenden
gar nichts mehr ankommen muss, das entbehrt doch jeg-
licher Logik.
Erinnern Sie sich bitte an die Anhörung: 500 000 Kin-
der von Alleinerziehenden leben vom Bezug von Unter-
haltsvorschussleistungen, 800 000 Kinder von Alleiner-
ziehenden vom Bezug von Hartz IV. Bei weiteren
2 Millionen Kindern von Alleinerziehenden werden nur
5 Euro von der Kindergelderhöhung ankommen. Das
sind die Fakten: Es kommt genau bei den Menschen, die
wenig haben – entweder kein Einkommen oder nur ein
geringes Einkommen –, überhaupt nichts an. Diesem
Problem stellen Sie sich nicht. Sie machen keine Fami-
lienförderung, wenn Sie die Familien von Alleinerzie-
henden hier überhaupt nicht mehr auf dem Schirm ha-
ben. Nur 1,6 Prozent der Alleinerziehenden können den
Kinderfreibetrag ausnutzen. Diese 1,6 Prozent berück-
sichtigen Sie – das will ich Ihnen zugestehen –, aber die
große Mehrheit eben nicht.
Wir haben Ihnen dazu entsprechende Vorschläge im
Ausschuss vorgelegt und werden dies nachher noch dis-
kutieren: Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung bei
Hartz-IV-Beziehern. Sie verweigern sich dem, und das
ist nicht mehr zu akzeptieren.
Dies alles ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die
Familienministerin bereits am 18. September hier im
Plenum sehr wohl zur Kenntnis genommen hat, dass es
einen sehr guten Weg aus dieser Situation heraus gibt
und dass wir es tatsächlich erreichen könnten, dass alle
Kinder dem Staat und unserer Gesellschaft gleich viel
wert sind. Ich habe Frau von der Leyen hier bereits ein-
mal zitiert und mache es noch einmal:
Wenn man das alles auf ein Niveau bringen will,
dann kann man das Ganze doch wohl nicht auf das
niedrigste Niveau herunterstufen. Dann muss man
vielmehr lege artis auf das höchste gemeinsame Ni-
veau heraufstufen. Das würde 15 Milliarden Euro
kosten – eine Illusion, die mit der Realität wenig zu
tun hat.
Ich wiederhole: Es kostet keine 15 Milliarden Euro.
Lassen Sie uns im Einkommensteuerrecht zur Indivi-
dualbesteuerung bei Übertragbarkeit des steuerfreien
Existenzminimums des Partners oder der Partnerin über-
gehen, wenn diese es nicht ausschöpfen. Dann brauchten
wir nur noch 6 Milliarden Euro. Es kann nicht angehen,
was Sie machen. Seien Sie wenigstens so ehrlich, den
Menschen zu sagen: Kinder bekommen den Rest, den
wir noch irgendwo haben, Kinderarmut ist nicht schön,
aber wir müssen erst einmal die Banken beschirmen. –
Es ist einfach Pflicht, dass diese 6 Milliarden Euro über
den Bundeshaushalt bereitgestellt werden.
Unser Ziel sind eine realitätsgerechte Bewertung des
steuerfrei zu stellenden Existenzminimums, eine Umset-
zung, die es ermöglicht, dass es bei allen Kindern an-
kommt, weil uns alle Kinder gleich viel wert sein sollen,
und ein ganz kurzfristiges Reagieren, damit zumindest
diese viel zu niedrige Kindergelderhöhung – wir fordern
200 Euro Kindergeld – bei Hartz-IV-Bezug, bei Bezug
von Sozialgeld und Unterhaltsvorschuss nicht gegenge-
rechnet wird. Deshalb können wir dem Gesetzentwurf
heute nicht zustimmen. Die kleine Erhöhung lehnen wir
nicht ab. Wir können uns nur enthalten. Denken Sie end-
lich um und gehen Sie mit uns in die andere Richtung,
die besagt, dass alle Kinder dem Staat gleich viel wert
sind.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Staatssekretärin beim Bundesminister der Finan-
zen! Herr Staatssekretär bei der Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend! Wir haben hier
gerade wirklich einiges gehört: „ein gutes Paket für Fa-
milien“, so die Staatssekretärin;
„eine Erfolgsgeschichte für Kinder“;
„ein Konjunkturprogramm“ – der Beitrag aus dem Be-
reich Familie.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich finde,
Sie sollten auf dem Teppich bleiben. Ein bisschen mehr
Bescheidenheit angesichts dessen, was Sie hier als Fami-
lienleistungsgesetz vorlegen, stünde Ihnen ganz gut zu
Gesicht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20755
(C)
(D)
Britta Haßelmann
Warum sage ich das? Natürlich ist nichts dagegen ein-
zuwenden, wenn Familien eine Kindergelderhöhung be-
kommen. Diejenigen, die sie zu Beginn des nächsten
Jahres bekommen werden, werden sich darüber freuen.
Auch aus Sicht derjenigen, die vom Schulstarterpaket
letztlich profitieren, spricht nichts dagegen; sie werden
sich über 100 Euro mehr freuen. Und auch diejenigen,
denen die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen
zugutekommt, werden sich freuen. Für Familien und
Kinder, die diese Leistungen erhalten – ich betone: die
diese Leistungen erhalten –, ist das sicher positiv. Wir
haben hier aber auch über diejenigen zu reden – das hat
von den Rednern aus der Großen Koalition bisher nie-
mand getan –, die diese Leistungen nicht erreichen. Das
ist doch der Punkt. Sie machen ein Familienleistungsge-
setz und verkaufen es als die Maßnahme, als Konjunk-
turprogramm und als Erfolgsgeschichte für Familien,
dabei wird ein großer Teil der Familien und Kinder in
Deutschland nicht erreicht. Das ist das Problem, über das
wir heute zu sprechen haben.
Das Gesetz erreicht die Kinder, die am dringendsten
Unterstützung brauchen, nicht. Kinder in prekären Situa-
tionen, die auf Hilfe angewiesen sind, profitieren in kei-
ner Weise davon. Es gibt genügend Familien mit Kin-
dern – das wissen Sie ganz genau –, die von der
Kindergelderhöhung nicht einmal ansatzweise profitie-
ren. Warum klopfen Sie sich kurz vor Weihnachten hier
eigentlich ständig selbst auf die Schultern? Erläutern Sie
doch einmal, warum Sie meinen, einen großen Teil der
Kinder ausgrenzen zu müssen.
Damit endlich einmal Schluss damit ist, dass Sie sich
in dieser Debatte hier ständig selbst beweisen, wie stark
Sie agiert haben, will ich auch in Richtung der Zuhöre-
rinnen und Zuhörer sagen: Hier wird etwas vorgegau-
kelt; denn in Wirklichkeit wird nur ein Teil der Familien
erreicht. Wir legen heute einen Entschließungsantrag
vor, der im Bundesrat einstimmig beschlossen worden
ist. Im Bundesrat haben die CDU- und SPD-geführten
Länder die Mehrheit. Dort ist einstimmig beschlossen
worden, den Bundestag dazu aufzufordern, die Eckregel-
sätze für Kinder neu zu fassen, die Kinderregelsätze zu
erhöhen und dies umgehend, sofort und nicht erst in
zwei oder drei Jahren zu tun.
Das werden wir heute zur Abstimmung stellen. Wir ent-
lassen Sie an dieser Stelle nicht mit warmen Worten aus
Ihrer Verantwortung.
Wissen Sie eigentlich, was passiert? Von Nordrhein-
Westfalen bis Bayern gehen die Sozialminister der
Union und der SPD, Karl-Josef Laumann und andere,
durchs Land und propagieren überall: Die Hartz-IV-Re-
gelsätze, die Kinderregelsätze, alles ist viel zu niedrig;
der Bundestag muss jetzt handeln.
Damit bekommen sie dicke Schlagzeilen in den regiona-
len Zeitungen der unterschiedlichen Länder. Aber hier,
im Bundestag, kneifen Sie.
Deshalb werden wir heute genau diesen Antrag zur
Abstimmung stellen. Sie können sich hier nicht einfach
aus der Verantwortung stehlen, im Land sagen, dass eine
Erhöhung des Kinderregelsatzes dringend notwendig ist,
hier aber erklären, dass eine solche Erhöhung nicht in-
frage kommt.
Und jetzt sage ich noch etwas zu der Posse um das
Schulbedarfspaket: Sie bringen ein Schulbedarfspaket
für Kinder von der 1. bis zur 10. Klasse, die aus armen
Familien kommen, auf den Weg. Was ist das für eine bil-
dungspolitische Botschaft? Sind Kinder aus diesen Fa-
milien nicht auch in der Lage, Abitur zu machen?
Sollten sie nicht auch die Chance bekommen bis zum
Abitur oder zum Abschluss einer berufsbildenden
Schule geführt zu werden?
In den Zeitungen kann man lesen, was Sie sich in den
letzten zwei Tagen geleistet haben: einen offenen Koali-
tionsstreit darüber, ob man sich die Ausgabe der
17 Millionen Euro leisten kann, die es kosten würde, die
Kinder aus ärmeren Familien zu unterstützen, die weiter-
führende Schulen besuchen, und ob diese 17 Millio-
nen Euro mit der Verlängerung bei der Absetzbarkeit der
betrieblichen Betreuungskosten gegengerechnet werden
können. In Klammern füge ich hinzu: Diese Maßnahme
verursacht locker 70 bis 100 Millionen Euro Minderein-
nahmen. Das haben Sie als Große Koalition nicht hinbe-
kommen. Das muss man den Leuten draußen erzählen.
Was ist das für ein Maßstab? Was ist das für eine Politik
im Sinne der Gerechtigkeit, die alle Kinder erreicht? Je-
des Kind muss uns doch gleich viel wert sein in seinem
Zugang zu Bildungschancen, in seiner Teilhabe an Bil-
dung und in seiner materiellen Absicherung.
Sie liefern ein Armutszeugnis ab mit dem, was Sie
sich in den vergangenen zwei Tagen mit Ihrem Streit ge-
leistet haben. 17 Millionen Euro zusätzliche Ausgaben
gegen 100 Millionen Euro Mindereinnahmen. Das wa-
ren Ihnen die Kinder an dieser Stelle nicht wert. Das
finde ich wirklich fatal.
Was bleibt also unter dem Strich bei diesem fulminan-
ten Familienleistungsgesetz? Es bleibt die Kindergeld-
erhöhung, die die Familien erreicht und für die Familien
gut ist, die davon profitieren. Es bleiben 100 Euro als
Einmalhilfe für die Schüler von der 1. bis zur 10. Klasse,
die unterstützungsberechtigt sind. Außerdem sind haus-
haltsnahe Dienstleistungen künftig eher absetzbar als
bisher.
20756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Britta Haßelmann
Es bleibt aber auch, dass Sie sich mit diesem Gesetz-
entwurf weiter von Ihrem Anspruch, dass uns jedes Kind
gleich viel wert ist und dass uns jede Familie gleich viel
wert sein muss, verabschieden und damit dazu beitragen,
dass Bildungsgerechtigkeit in diesem Land leider immer
noch nicht verwirklicht wird.
Deshalb freuen wir uns, gleich zu sehen, wie Sie über
unseren Entschließungsantrag mit dem Text von CDU
und SPD abstimmen werden. Ich bin gespannt, ob Sie
dem zustimmen, so wie es die CDU- und SPD-geführten
Länder gemacht haben.
Im Übrigen werden wir Ihrem Gesetzentwurf an die-
ser Stelle nicht zustimmen; denn er hat zu viele Macken
und ist ungerecht. Wir werden uns an dieser Stelle der
Stimme enthalten.
– Herr Singhammer, hören Sie doch erst einmal zu. Blei-
ben Sie ganz ruhig und begründen Sie gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern zunächst einmal die Unge-
rechtigkeiten, die Sie produzieren.
Das Wort hat die Kollegin Lydia Westrich von der
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fulminante
Rede von Frau Haßelmann hat die Stimmung im Parla-
ment ein wenig angeheizt. Bei diesen Temperaturen ist
das vielleicht nicht schlecht. Allerdings enthielt die Rede
viele Mängel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben als Staat
jedes Jahr mehr als 180 Milliarden Euro zur Förderung
von Familien aus. Viele Milliarden Euro hat die Große
Koalition in den vergangenen Jahren noch auf den Hau-
fen hinzugelegt: Elterngeld, Kinderzuschlag, BAföG-
und Wohngelderhöhung sowie das Sonderpaket für die
Schaffung von Kinderkrippenplätzen in Höhe von 4 Mil-
liarden Euro samt dem Rechtsanspruch auf die Betreu-
ung für die Kleinsten. Wenn wir jetzt noch einmal 2 Mil-
liarden Euro für die Familien oben draufsetzen, bedeutet
das eine riesengroße Bilanz, die sich wirklich sehen las-
sen kann.
Die mit diesem Gesetzentwurf angestrebte Kindergeld-
erhöhung ist ein weiterer Schritt in der Geschichte der
Entlastung von Familien. Den Kinderfreibetrag müssen
wir ohnehin anheben, weil dies verfassungsgemäß gebo-
ten ist. Der Existenzminimumsbericht liegt vor.
In allen Fraktionen gibt es Diskussionen darüber, ob
Investitionen in eine familiengerechte Infrastruktur oder
eine materielle Erhöhung der bessere Weg der Familien-
förderung ist. Wir als Große Koalition haben uns für ei-
nen Mix entschieden und entsprechend gehandelt. Die
Investitionen in Kinderbetreuungseinrichtungen sind
zum Beispiel auf den Weg gebracht, und – jetzt kommt
es – sie bedeuten eine finanzielle Verbesserung für die
Familien. Dies ist notwendig – ich weiß das –, weil die
unumgängliche Mehrwertsteuererhöhung besonders Fa-
milien hart getroffen hat. Die Erhöhung des Kindergel-
des um 10 Euro pro Kind im Monat ist für die Koalition
in dieser schwierigen Zeit eine Anstrengung. Aber wir
haben sie gern umgesetzt. Zusätzlich gibt es mehr Geld
für Mehrkindfamilien. Es gibt auch mehr Geld im Be-
reich der Sozialleistungen aus SGB II und XII.
Das Schulbedarfspaket, das in diesem Gesetzentwurf
enthalten ist, erfüllt punktgenau die Vorstellung von Bil-
dungsförderung für alle Kinder. Es kompensiert für die
Familien, denen die Erhöhung des Kindergeldes nicht
direkt zugutekommt, die Ausgaben für die Schule, die
nicht aus dem Sozialgeld oder dem Arbeitslosengeld II
zu leisten sind. Es ist in diesem Gesetzentwurf erst ein-
mal bis zum 10. Schuljahr gesichert. Darüber kann ich
mich freuen, weil es immerhin für 1 Million Familien
gilt.
Allerdings kann ich die Befristung nicht nachvollzie-
hen.
Frau Lips, diese Begrenzung wurde übrigens nicht in
den Ministerien festgelegt, sondern im Koalitionsaus-
schuss. Wir als Parlament hätten dies sehr gut reparieren
können. Langzeitarbeitslose Eltern, die es schaffen, mit
ihrem geringen Einkommen Kinder auf eine weiterfüh-
rende Schule, auf das Gymnasium oder Berufsaufbau-
schulen zu schicken, verdienen doch Respekt und brau-
chen unsere Unterstützung.
Die Verlängerung der Gewährung des Schulbedarfs-
pakets würde etwa 17 Millionen Euro kosten und für
rund 160 000 Kinder gelten. Jedes Kind mehr auf dem
Gymnasium oder der Berufsaufbauschule ist doch zu be-
grüßen.
Ich kann nicht verstehen, dass sich unser Koalitionspart-
ner nicht dazu durchringen konnte, auch diese Kinder
jetzt zu unterstützen. Die Sozialdemokraten sind aus-
drücklich der Meinung, dass Kinder aus finanzschwa-
chen Familien weiter unterstützt werden müssen, um auf
weiterführende Schulen gehen zu können.
Wir wollen alle Kinder mitnehmen und gerade dort un-
terstützen, wo besondere Anstrengungen notwendig
sind.
Hier klaffen der Anspruch, Deutschland zu einem Bil-
dungsland zu machen, und die raue Wirklichkeit weit
auseinander. Die Begrenzung der Gewährung des Schul-
bedarfspakets auf zehn Jahre für finanzschwache Fami-
lien muss deshalb umgehend aufgehoben werden. Ich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20757
(C)
(D)
Lydia Westrich
sehe eine erste Chance – nicht bei der namentlichen Ab-
stimmung über den Antrag der Grünen – beim Vermitt-
lungsausschuss. Rheinland-Pfalz hat bereits einen An-
trag dazu eingereicht. Die A-Länder werden zu diesem
Punkt den Vermittlungsausschuss anrufen.
Ich bin davon überzeugt, dass das Gesetz im Endeffekt
diese Position enthalten wird. Das ist politisches Ge-
schäft. Falls sich der Bundesrat doch nicht darauf ver-
ständigen kann, bin ich und ist auch die gesamte SPD-
Fraktion dazu bereit, schnellstmöglich auf die Verlänge-
rung der Gewährung des Schulbedarfspakets hinzuarbei-
ten. Ich denke, dass die CDU/CSU da mitmachen wird.
Denn hier geht es um Bildungsgerechtigkeit.
Es ist ja schlimm genug, dass unserem Schulsystem
sogar international immer wieder bestätigt wird, wie we-
nig durchlässig es gerade für Kinder aus finanzschwa-
chen Familien ist. Für mich ist das ein nationaler
Schandfleck, den wir umgehend beseitigen müssen.
Durch den so hoch gelobten Bildungsgipfel hatte ich
Hoffnung geschöpft. Der Schandfleck lebt in diesem Ge-
setzentwurf aber leider weiter. Deswegen kann diese be-
rechtigte Forderung, Frau Lips, nicht Tauschpfand für
die Erweiterung steuer- und sozialversicherungsfreier
Arbeitgeberleistungen für Kinderbetreuung sein.
Die SPD-Fraktion unterstützt die Anstrengungen von
Unternehmen, mehr zur Vereinbarkeit von Familie und
Beruf zu tun. Steuer- und sozialversicherungsfreie Ar-
beitgeberleistungen für Kinderbetreuung jetzt auch auf
Schulkinder auszudehnen,
bedeutet aber, ein sehr großes Fass aufzumachen, wenn
wir die Absetzungsfähigkeiten nicht eingrenzen. Dazu
war die CDU/CSU leider nicht bereit. Diese Maßnahme
eröffnet nämlich viele Gestaltungsmöglichkeiten. Sie
kostet mindestens 130 Millionen Euro an Ausfällen bei
Steuern und Sozialversicherung. Wir als SPD-Fraktion
können uns eine bessere Verwendung des Geldes vor-
stellen, als zum Beispiel die Internatskosten – ob für ein
Internat in Salem, in Oxford oder wo auch immer – als
Gehaltsbestandteil steuer- und sozialversicherungsfrei
zu lassen. Da ist es eher angebracht, das Schulbedarfspa-
ket zu erweitern,
und zwar ohne die von der FDP geforderte Überprüfung
der Kosten. Wenn es um die Unternehmen geht, fordert
die FDP ständig weniger Bürokratie, zum Beispiel den
Wegfall von Aufzeichnungspflichten.
Wenn es aber um die Unterstützungsberechtigten geht,
fordern Sie mehr Überprüfungen. Das zeigt ganz deut-
lich Ihre Geisteshaltung, Herr Thiele.
Sicherlich wäre ein Kindergeld in Höhe von 200 Euro
eine tolle Sache. Aber im Endeffekt müssten die Kinder,
die wir jetzt mit viel Geld fördern wollen, dieses Geld
später zuzüglich Zins und Zinseszins zurückzahlen. Des-
halb ist jetzt eine maßvolle Erhöhung sinnvoll. Außer-
dem wissen auch Sie, dass wir diese Mittel angesichts
der Finanzkrise dringend brauchen. Die 4 000 Opel-Ar-
beiter hoffen auf die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze. So
gesehen ist auch das Familienförderung. Es könnte ja
sein, dass sie diese Unterstützung dringend brauchen.
Geld kann man nur einmal verteilen. Das sage ich ins-
besondere in Richtung der Fraktion Die Linke, die heute
selbst Unterstützung für Opel gefordert hat. Ich kann all-
mählich wirklich nicht mehr glauben, dass es Ihnen, den
Mitgliedern der Fraktion Die Linke, wirklich um die
Fortentwicklung des Familienleistungsausgleichs geht.
Ihre Forderungen – von der Nichtanrechnung der Kin-
dergelderhöhung auf Sozialleistungen bis hin zum Un-
terhaltsvorschuss – sind rein polemisch.
Sie selbst wissen nur zu gut, dass wir die verschiedenen
Sozialsysteme nicht vermischen können und wollen; das
gilt auch für die Grünen.
– Können und wollen. Ich sage ganz deutlich: Die SPD-
Fraktion will den Regelsatz für sozial bedürftige Kinder
kindgerecht anpassen. Dafür werden wir auch in der
Koalition kämpfen.
– Da wir früher gemeinsam in einer Koalition waren,
wissen Sie doch, wie das läuft. Sie können sich ruhig
einbringen, Frau Haßelmann. Verwirklicht werden kann
das aber nicht in diesem Gesetz. Wir sollten uns davor
hüten, die beiden Systeme miteinander zu verknüpfen.
Ich will an der Verankerung des Kindergelds im Ein-
kommensteuerrecht und an seinem Förderanteil festhal-
ten. Das Kindergeld soll ein Rechtsanspruch bleiben und
nicht zu einem verhandelbaren Almosen des Staates für
die Familien werden.
Hier können wir uns keine Experimente, wie Sie sie for-
dern, leisten. Allerdings will ich mich auch im Namen
der SPD-Fraktion gerne dafür einsetzen, dass die Leis-
tungssätze beim Arbeitslosengeld II und beim Sozial-
geld erhöht werden, bis sie kindgerecht sind.
20758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Lydia Westrich
Zusammenfassend möchte ich sagen: Ab dem 1. Ja-
nuar 2009 stellt die Große Koalition über 2 Milliarden
Euro für Familien zur Verfügung. Das Kindergeld und
der Kinderfreibetrag werden erhöht, das Schulbedarfspa-
ket, das für Kinder und Jugendliche bis zum 10. Schul-
jahr gilt, tritt in Kraft, und die Absetzbarkeit haushalts-
naher Dienstleistungen wird ausgeweitet.
Ich bin froh, dass es der Großen Koalition gelungen
ist, die steuerliche Begünstigung haushaltsnaher Dienst-
leistungen nicht nur in einem Paragrafen zu erwähnen,
sondern auch die Förderung entsprechend zu erhöhen.
Wir möchten das Ziel, die Schwarzarbeit in diesem Be-
reich zurückzudrängen, gerne weiterverfolgen. Dass wir
dabei erfolgreich sind, bestätigen die Ergebnisse ver-
schiedener Studien einschließlich der OECD und der
EU-Kommission. Dadurch werden wir mehr sozialversi-
cherungspflichtige Arbeitsverhältnisse schaffen, ob in
Privatfamilien oder in Pflege- und Dienstleistungsein-
richtungen. Außerdem werden wir den Familien für ihre
Lebensplanungen die notwendige Luft verschaffen.
Es ist mehr als sinnvoll, dieses Gesetz zu unterstüt-
zen. Weil sich der Bundesrat noch mit den Anträgen der
FDP, der Grünen und der Linken befassen wird, können
wir sie in Ruhe ablehnen und dem vorliegenden Gesetz-
entwurf mit gutem Gewissen zustimmen.
Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Paul Lehrieder von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Her-
ren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne,
insbesondere aus dem Landkreis Main-Spessart!
Werte Freunde an den Fernsehern!
Dank des Familienleistungsgesetzes können Familien
mit Kindern dem neuen Jahr von heute an mit großer
Freude entgegensehen. Denn durch das Familienleis-
tungsgesetz erhalten sie deutlich mehr Unterstützung als
bisher. Familien sollen gestärkt und als Arbeitgeber und
Arbeitnehmer mehr als bisher gefördert werden. Mit
dem Leistungsgesetz für Familien will die Große Koali-
tion ihren sehr erfolgreichen Weg in der Familienpolitik
fortsetzen. Neben dem eingeführten Elterngeld, dem ver-
stärkten Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijäh-
rige und den Verbesserungen beim Kinderzuschlag für
Geringverdiener werden auch mit dem heute zur Debatte
stehenden Gesetz Familien in Deutschland zukünftig ge-
fördert und entlastet.
Folgende Maßnahmen zur Senkung der steuerlichen
Belastung von Familien und für Investitionen in Fami-
lien werden zum 1. Januar 2009 eingeführt: die Erhö-
hung des Kinderfreibetrags und des Kindergeldes – die
Vorredner haben zum Teil darauf hingewiesen –,
die Verbesserung der steuerlichen Förderung von haus-
haltsnaher Beschäftigung und Dienstleistung – Stich-
wort: Haushalt als Arbeitgeber – sowie pünktlich zum
neuen Schuljahr das hier bereits eingehend diskutierte
neue Schulstarterpaket für bedürftige Kinder und Ju-
gendliche. Die Gesamtentlastungswirkung durch das
Familienleistungsgesetz beträgt jährlich mehr als 2 Mil-
liarden Euro.
Es sind ganz besonders die Familien mit Kindern, die
das Fundament einer stabilen Gesellschaft bilden. Ge-
rade sie brauchen eine sichere finanzielle Grundlage in
Form von Ausgleichszahlungen und steuerlichen Entlas-
tungen. Das Kindergeld für das erste und zweite Kind ist
seit sechs Jahren nicht mehr erhöht worden. Seit 2002
sind die Lebenshaltungskosten jedoch merklich gestie-
gen.
Eine Erhöhung des Kindergeldes wird den finanziel-
len Spielraum der Familien mit Kindern in Zukunft er-
weitern: Das Kindergeld wird durch dieses Familienleis-
tungsgesetz für das erste und zweite Kind um jeweils
10 Euro von 154 Euro auf 164 Euro, für das dritte Kind
um 16 Euro von 154 Euro auf 170 Euro sowie für vierte
und weitere Kinder um 16 Euro von 179 Euro auf
195 Euro angehoben. Familien mit drei Kindern verfü-
gen damit über 432 Euro mehr im Jahr. Bei Familien mit
vier Kindern sind es sogar 624 Euro.
Diese wichtige Anhebung und gezielte Staffelung des
Kindergeldes, sehr geehrter Herr Thiele, trägt insbeson-
dere zur Stärkung kinderreicher Familien sowie von Fa-
milien im unteren und mittleren Einkommensbereich
bei. Sie selber – ich habe mich im Bundestagshandbuch
kundig gemacht – sind Vater von immerhin fünf Kin-
dern.
Sie wissen, dass mehr Kinder mehr Aufwand und mehr
Kosten als in der Einkindfamilie bedingen. Deshalb ha-
ben wir die Staffelung vorgenommen. Vielleicht können
Sie es akzeptieren, dass eine gezielte Förderung von
Mehrkindfamilien von uns politisch gewollt und auf den
Weg gebracht worden ist.
Ein Viertel aller Kinder mit Anspruch auf Kindergeld
lebt in einer Familie mit drei oder mehr Kindern; das
sind 4,5 Millionen Kinder und Jugendliche. In vielen
dieser Mehrkindfamilien ist die Erwerbstätigkeit beider
Eltern oft nicht mehr möglich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20759
(C)
(D)
Paul Lehrieder
Das ist nachvollziehbar. Kinderreichtum darf in diesem
Land jedoch keinesfalls zur Armut führen, sondern sollte
entsprechend gefördert und anerkannt werden. Die ge-
plante Kindergelderhöhung wird den betroffenen Fami-
lien somit eine spürbare finanzielle Entlastung bringen.
Darüber hinaus wird mit dem Familienleistungsgesetz
der Kinderfreibetrag erhöht. Insgesamt werden zur Um-
setzung des zwischenzeitlich vorliegenden Existenz-
minimumberichts die Freibeträge für jedes Kind von
5 808 Euro auf immerhin 6 024 Euro erhöht. Über die
Anhebung der Kinderfreibeträge und des Kindergeldes
wird sichergestellt, dass Familien mit Kindern wirksam
geholfen wird.
Eltern brauchen jedoch nicht nur finanzielle Unter-
stützung und Erleichterungen, sondern vor allem auch
Zeit für ihre Familie sowie praktische Hilfe und Entlas-
tung im Alltag. Wer selbst Kinder hat, weiß, wie sehr es
oft gerade an Zeit mangelt und wie schwer es manchmal
ist, neben der Berufstätigkeit allem anderen gerecht zu
werden.
Zukunftsorientierte Familienpolitik muss daher dazu
beitragen, dass Familie und Beruf besser miteinander
vereinbart werden können. Deshalb wird mit dem Fami-
lienleistungsgesetz die Förderung von familienunterstüt-
zenden Dienstleistungen, wie beispielsweise Hilfe im
Haushalt oder bei der Pflege von Angehörigen, deutlich
vereinfacht. Zudem werden die Möglichkeiten erweitert,
diese Leistungen steuerlich geltend zu machen. Die bis-
her in mehreren Vorschriften verstreuten Regelungen zur
steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungs-
kosten werden ohne materiell-rechtliche Änderungen in
einer einzigen Vorschrift zusammengefasst.
Die Verbesserungen der steuerlichen Förderung haus-
haltsnaher Dienstleistungen leisten nicht nur einen wich-
tigen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und
Familie und tragen der zunehmenden Erwerbsorientie-
rung von Frauen Rechnung. Darüber hinaus sichern die
Förderungen Arbeitsplätze in der Dienstleistungswirt-
schaft. Die Verdrängung von Schwarzarbeit durch le-
gale, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im
Haushalt führt letztendlich zu mehr Wachstum und Be-
schäftigung in diesem unserem Land.
Im Rahmen des Familienleistungsgesetzes wird auch
die mit dem Koalitionspartner vereinbarte Einführung
eines Schulbedarfspaketes für Kinder aus Familien, die
auf Leistungen für den Lebensunterhalt angewiesen
sind, umgesetzt: Kinder und Jugendliche aus bedürftigen
Familien, solchen, die Leistungen nach dem SGB II oder
dem SGB XII bekommen, erhalten bis zum Abschluss
der Jahrgangsstufe 10 jeweils zum Beginn eines Schul-
jahres einen zusätzlichen Betrag von 100 Euro. Damit
soll über die materielle Existenzsicherung hinaus die
notwendige Ausstattung mit Schul- und Unterrichtsma-
terialien sichergestellt werden.
Jeder, der selbst Kinder im schulpflichtigen Alter hat,
weiß aus eigener Erfahrung, welch hohe Beträge für die
Anschaffung von Heften, Büchern usw. zu Beginn eines
Schuljahres anfallen.
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Reinke von der Linken?
Sofern es der Wissensmehrung dient, sehr gern.
Bitte schön.
Vielen Dank. – Ich habe einfach eine Bitte. Sie haben
Ihre Leute aus dem Wahlkreis begrüßt. Vielleicht können
Sie denen auch einmal erklären, warum Sie dagegen
sind, dass Kinder aus Familien im Hartz-IV-Bezug ab
Klasse 11 nicht mehr von diesem Schulstarterpaket pro-
fitieren dürfen.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Reinke. Mit etwas
Geduld hätte sich die Frage erübrigt. Ich wäre ohnehin
darauf zu sprechen gekommen. So habe ich etwas mehr
Redezeit. Danke schön dafür.
Wir halten eine Ausweitung der Leistung des Schul-
bedarfspakets über die 10. Jahrgangsstufe hinaus für ge-
boten.
Frau Reinke, hören Sie zu? Haben Sie es verstanden? –
Herr Präsident, die Kollegin Reinke konnte meine Ant-
wort nicht vernehmen. Ich wiederhole sie. – Aber viel-
leicht können Sie alle auch etwas leiser sein.
Sehr geehrte Frau Reinke, wir halten eine Ausweitung
der Leistung des Schulbedarfspakets über die
10. Jahrgangsstufe hinaus für geboten. Insofern besteht
Einvernehmen mit den Kolleginnen und Kollegen von
der SPD.
Hierdurch sollen Schülerinnen und Schüler an allge-
meinbildenden und berufsbildenden Schulen in gleicher
Weise gefördert werden.
Von der Kollegin Westrich wurde zutreffend die Berufs-
aufbauschule exemplarisch angeführt. Diese Auffassung
teilen wir.
Zudem möchten wir prüfen, ob die Förderung über
den Kreis von Empfängern von Leistungen nach dem
SGB II bzw. dem SGB XII hinaus auch Familien mit ge-
ringem Einkommen – um die machen sich unsere
Freunde von der Linkspartei genauso Sorgen wie wir –
zugutekommen kann, wobei insbesondere der Kreis der
sogenannten Aufstocker und Kinderzuschlagsbezieher
einbezogen werden müsste.
20760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Paul Lehrieder
Um eine sozial ausgewogene und gerechte Lösung für
alle Familien gleichermaßen zu erreichen, werden wir
sine ira et studio mit unserem Koalitionspartner eine ge-
rechte Prüfung mit Blick auf alle Familien mit Kindern
im entsprechenden Alter vornehmen.
Zur Frage der Kollegin Haßelmann: „Warum nicht
jetzt?“ Folgendes: Das erste Schulstarterpaket – Sie ken-
nen den Jahresablauf – wird es frühestens im August
2009 geben. Das heißt, wir können mit dem Koalitions-
partner eine sozial ausgewogene gerechte Lösung auch
nach dem 1. Januar 2009 noch diskutieren.
Da diese Prüfung etwas Zeit erfordert, die Erhöhung
des Kindergeldes in diesem Gesetz jedoch nicht verzö-
gert werden soll, bitten wir Sie, dem Gesetz in der jetzi-
gen Form insoweit zuzustimmen – mit der Maßgabe,
dass die Ausweitung des Kreises der Bezugsberechtigten
für das Schulstarterpaket, wie ausgeführt, noch geprüft
wird. Da sind wir mit unserem Koalitionspartner völlig
d’accord; da passt zwischen uns kein Blatt.
Zusätzlich und im gleichen Atemzug sollte – auch das
ist ein Gebot der Gerechtigkeit bezüglich der jeweils be-
troffenen Kinder – die Steuerbefreiung von Arbeitgeber-
leistungen für Kinderbetreuung und -unterbringung,
welche derzeit mit dem sechsten Lebensjahr des Kindes
endet, in Zukunft bis zum vollendeten 14. Lebensjahr
des Kindes gewährt werden.
Hierbei, Frau Kollegin Westrich, handelt es sich kei-
nesfalls nur um Internatskosten. Auch die alleinerzie-
hende Krankenschwester ist darauf angewiesen, dass ihr
schulpflichtiges Kind nachmittags vernünftig betreut
wird.
Es ist nicht einzusehen, dass diese Kosten – anders als
bei einem unter sechsjährigen Kind – nicht abgesetzt
werden können.
Hier besteht noch Diskussionsbedarf mit unserem
Koalitionspartner. Das erkennen wir an. Wir bemühen
uns um eine gerechte, korrekte und soziale Lösung. Ich
kenne die Genossinnen und Genossen aus der Sozialde-
mokratie gut genug, um zu wissen, dass auch ihnen eine
soziale Lösung am Herzen liegt. Ich freue mich auf die
Diskussion in der nächsten Zeit.
Insofern wird das Jahr 2009 ein gutes Jahr für Fami-
lien, für Kinder und hoffentlich auch für uns in der Poli-
tik.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich
zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Gegenwärtig liegen 52 Erklärungen zur Ab-
stimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor, die
wir zu Protokoll nehmen.1)
Zweitens. Der Kollege Carl-Ludwig Thiele möchte in
der zweiten Beratung mündlich einen Änderungsantrag
einbringen, den er jetzt vortragen und begründen wird
und auf den Sie dann gegebenenfalls reagieren können.
Danke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Debatte nicht
groß verlängern. Herr Kollege Lehrieder, Sie haben es
bereits angesprochen; auch Frau Westrich und Frau Lips
haben es angesprochen: Die Begrenzung auf den Ab-
schluss des 10. Schuljahrs – neben der Diskussion, was
weiter erfolgen sollte – halten wir, glaube ich, fraktions-
übergreifend für völlig falsch.
Weil wir alle im Deutschen Bundestag die Gesetzge-
ber sind, halte ich es für richtig, nicht auf den Vermitt-
lungsausschuss oder auf das nächste Jahr zu warten.
Vielmehr beantrage ich ganz konkret, in Art. 3 des Ge-
setzentwurfs in § 24 a in den Zeilen 3 und 4 die Worte
„bis zum Abschluss der Jahrgangsstufe 10“ zu streichen.
Dann wäre dieser Änderungswunsch schon erfüllt.
Wenn danach noch mehr kommen sollte, dann soll
uns das recht sein. Aber was wir heute erledigen können,
das sollten wir heute auch machen.
Herzlichen Dank.
Ich darf fragen, ob einer der Geschäftsführer der Ko-
alitionsfraktionen darauf antworten möchte. – Der Frak-
tionsvorsitzende der SPD, Peter Struck, möchte darauf
antworten. Bitte schön, Herr Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbstver-
ständlich stimmen wir diesem Vorschlag zu, aber es ist
völlig klar, dass Sie hier ein rein taktisches Spiel betrei-
ben.
1) Anlagen 5 bis 7
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20761
(C)
(D)
Dr. Peter Struck
– Doch, Herr Thiele. Sie sind nie auf die Idee gekom-
men, selbst ein Schulbedarfspaket zu initiieren. Das war
unsere Idee.
Wir werden Ihren Antrag jetzt ablehnen. Wir werden
das Vorhaben im Vermittlungsausschuss oder im nach-
folgenden Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß be-
raten. Dann wird genau das kommen, was wir wollen.
Wir lehnen Ihren Antrag ab.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur För-
derung von Familien und haushaltsnahen Dienstleistun-
gen.
Bevor wir in die Abstimmung über den Vorschlag des
Ausschusses eintreten, stimmen wir jetzt über den An-
trag des Kollegen Carl-Ludwig Thiele ab. Wer diesem
Antrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ände-
rungsantrag des Kollegen Thiele ist abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen und gegen einige Stimmen
aus den Koalitionsfraktionen.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung – das sind die Drucksachen 16/11191 und
16/11172 –, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksachen 16/10809 und 16/11001 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal-
tung der Oppositionsfraktionen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11225? Ich
bitte um Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-
Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/11188? Ich bitte um
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen.
Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11224.
Auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
stimmen wir nun über den Entschließungsantrag na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, ihre Plätze einzunehmen. – Haben die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer ihre Plätze eingenommen? –
Ich sehe, das ist jetzt der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung. – Gibt es noch Mitglie-
der des Hauses, die ihre Stimme nicht abgegeben
haben? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort. Daher bitte ich die
Kolleginnen und Kollegen, die Plätze wieder einzuneh-
men.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kindergelderhöhung sofort auch bei Hartz IV
wirksam machen
– Drucksachen 16/10616, 16/11240 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Stöckel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, wir
lehnen Ihren Antrag ab. Mit Ihrer Forderung leisten Sie
keineswegs einen nachhaltigen Beitrag zur Bekämpfung
von Kinderarmut, und Sie stellen auch nicht, wie Sie be-
haupten, mehr Gerechtigkeit her. Dass Sie mit Vorliebe
tagesaktuelle und populistische Anträge einbringen, ist
nichts Neues. Ob es aber ratsam ist, auf jedes, aber auch
auf jedes Pferd, das sich Ihnen in den Weg stellt, aufzu-
springen, muss bezweifelt werden.
Man kann nämlich bei unrealistischer Beurteilung der
Abstände auf der anderen Seite wieder herunterfallen,
was bei Ihnen sehr häufig der Fall ist.
Sicherlich kommt Ihre Forderung, die geplante Kin-
dergelderhöhung von der Einkommensanrechnung nach
1) Seite 20763
20762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Gabriele Hiller-Ohm
SGB II und SGB XII auszunehmen, bei den Betroffenen
gut an. Das Problem, das Sie eigentlich aus der Welt
schaffen wollen, lösen Sie mit diesem Schnellschuss
aber nicht. Sie werfen vielmehr eine Nebelbombe; denn
das, was Sie fordern, ist gar nicht Ihr Anliegen, wie wir
aus der Begründung Ihres Antrages ersehen können. Die
10 Euro mehr pro Kind sind lediglich, wie Sie selber
schreiben, als Kompensation gedacht. Sie sind eine Zwi-
schenlösung, bis eine Neuberechnung der Kinderregel-
sätze stattgefunden hat. Ihr eigentliches Ziel sind höhere
Kinderregelsätze, Regelsätze, die sich am Bedarf der
Kinder orientieren sollen. Wie die jetzt von Ihnen gefor-
derte Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung in die
gesetzliche Systematik passen soll, bleibt im Dunkeln.
Unklar ist auch, was in der Realität geschehen soll,
wenn eine Neuberechnung der Kinderregelsätze erfolgt
ist. Soll das Kindergeld dann genauso wie bisher in vol-
ler Höhe als Einkommen behandelt werden und den
Hartz-IV-Eltern bzw. ihren Kindern wieder weggenom-
men werden? Werden Sie das dann auch fordern, nach
dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartof-
feln“? Warum – so frage ich Sie – fordern Sie nicht
gleich, was Sie eigentlich wollen? Ich will es Ihnen sa-
gen: Die Kindergelddebatte passt Ihnen gut in den Kram,
um einen populistischen Antrag zu stellen. Es ist Ihnen
egal, ob die Forderung zielführend ist oder nicht.
Worum geht es? Kinderarmut soll bekämpft werden.
Dafür brauchen wir ein schlüssiges Lösungskonzept. Die
SPD hat ein entsprechendes Zehnpunkteprogramm vor-
gelegt, das alle politischen Ebenen einbezieht.
Die Verbesserung der Lebenschancen unserer Kinder
hängt nicht allein von den Entscheidungen des Bundes
ab. Länder und Kommunen sind gleichermaßen gefor-
dert. Die Länder tragen zum Beispiel Verantwortung für
die Bildung. Die Kommunen sind für die Kinderbetreu-
ung zuständig. Die Bereitstellung von angemessenen
Kinderregelsätzen für Eltern im Arbeitslosengeld- oder
Sozialhilfebezug ist Aufgabe des Bundes. Hier besteht
Handlungsbedarf.
Heute sind 60 bzw. 80 Prozent des Eckregelsatzes ei-
nes alleinlebenden Erwachsenen die Basis für das, was
Kindern zugestanden wird. Die Erwachsenenregelsätze
leiten sich aus der Einkommens- und Verbrauchsstatistik
ab, die alle fünf Jahre durchgeführt wird. Die derzeitige
Festlegung der Kinderregelsätze passt nicht in diese Sys-
tematik. Sie ist einfach zu ungenau. Deshalb brauchen
wir an dieser Stelle eine Änderung.
Das Ministerium für Arbeit und Soziales führt aktuell
eine Überprüfung durch, die den Bedarf von Kindern ge-
nauer beziffert.
Heute haben wir für zwei Altersgruppen Kinderregel-
sätze: zum einen für die bis zu 14-Jährigen und zum an-
deren für die 14- bis 18-Jährigen. Eine stärkere Differen-
zierung mit mindestens drei Stufen ist notwendig, um
die jeweiligen Bedarfe besser erfassen zu können. Au-
ßerdem muss der Zeitraum zwischen den statistischen
Erhebungen verkürzt werden, um zu aktuelleren Ver-
brauchswerten zum Beispiel im Fall von Energiekosten-
steigerungen zu kommen. Notwendig ist, dass bald Lö-
sungsvorschläge vom Ministerium für eine bessere
Berechnung der Regelsätze vorgelegt werden.
Aktuell sind wir einen guten Schritt vorangekommen.
Um die Bildungschancen von Kindern bedürftiger Eltern
zu verbessern, haben wir das Schulbedarfspaket auf den
Weg gebracht. Eltern erhalten für jedes Schulkind
100 Euro pro Jahr, um die notwendigen Schulmateria-
lien kaufen zu können. Das ist ein wirklicher Erfolg. Das
passt in die Systematik; denn wir stellen dieses Geld ge-
zielt für die Bildung der Kinder zur Verfügung und leis-
ten damit einen Beitrag, ihre Situation zu verbessern. Ich
freue mich, dass wir mit diesem Schritt einen weiteren
Punkt aus unserem SPD-Programm umsetzen werden.
Selbstverständlich muss diese Förderung bis zum Ende
der Schulausbildung laufen, also bis zum Abitur. Die
Union sagt an dieser Stelle: Nach der 10. Klasse ist
Schluss.
Damit sind wir nicht einverstanden. Um es auch für den
Kollegen Gysi, der heute leider nicht da ist, klarzustel-
len: Die SPD kämpft für das Schulbedarfspaket bis zum
Abitur. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, können im Übrigen nicht einmal ein
Schulbedarfspaket für die 1. Klasse vorweisen.
Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern,
und Eltern sind arm, weil sie keine oder eine schlecht be-
zahlte Arbeit haben. Der dritte Armuts- und Reichtums-
bericht hat gezeigt, dass Alleinerziehende und mit ihnen
ihre Kinder zu den besonders Betroffenen gehören. Über
660 000 Alleinerziehende leben gegenwärtig in einer
Bedarfsgemeinschaft mit Kindern. Damit Alleinerzie-
hende erwerbstätig sein können, haben wir in den ver-
gangenen Legislaturperioden einen Paradigmenwechsel
in der Familien- und Bildungspolitik eingeleitet. Gute
und zuverlässige Betreuungsmöglichkeiten sind jedoch
die zentrale Voraussetzung, damit Eltern überhaupt ar-
beiten gehen können. Auch hier hat der Bund große An-
strengungen unternommen, um Deutschland im europäi-
schen Vergleich nach vorne zu bringen. Den Kommunen
haben wir beim Aufbau und Ausbau von Krippen und
Kindertagesstätten mit erheblichen finanziellen Mitteln
auf die Sprünge geholfen. Wir haben gegen den Willen
der Union den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab
dem ersten Geburtstag ab 2013 durchgesetzt. Wir haben
gemeinsam mit den Grünen mit einem 4-Milliarden-
Euro-Investitionsprogramm den Ausbau von Ganztags-
schulen angeschoben, auch wenn dies eigentlich Auf-
gabe der Länder ist, die so viel Wert auf die Bildungsho-
heit legen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20763
(C)
(D)
Gabriele Hiller-Ohm
Sylvia Kotting-Uhl Wolfgang Bosbach Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Renate Künast
Undine Kurth
Markus Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Carsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd Müller
Bernd Neumann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Fritz Kuhn Klaus Brähmig
Peter Hintze Laurenz Meyer
Mit unserer Arbeitsmarktp
folge erzielt. Die Erwerbslo
3 Millionen Erwerbslosen so
nicht mehr. So bekämpfen w
Übrigen auch das Deutsche
schung mit neuesten Daten.
darauf aber nicht. 660 000 a
und deren Kinder sind eine H
wir uns. Wenn wir hier noch
men wir auch das Armutsrisi
Wir setzen das mit unseren K
Danke schön.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 546;
davon
ja: 48
nein: 394
enthalten: 104
Ja
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
olitik haben wir große Er-
sigkeit ist mit weniger als
niedrig wie seit 16 Jahren
ir Armut. Das bestätigt im
Institut für Wirtschaftsfor-
Ausruhen werden wir uns
lleinerziehende Arbeitslose
erausforderung. Der stellen
erfolgreicher sind, bekom-
ko der Kinder in den Griff.
onzepten um.
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
der SPD)
ann Otto Solms:
edner das Wort erteile, gebe
führerinnen und Schriftfüh-
r namentlichen Abstim-
ktion Bündnis 90/Die Grü-
setzes zur Förderung von
Dienstleistungen bekannt:
it Ja haben gestimmt 48,
94, Enthaltungen 104. Der
lehnt.
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer
Wolfgang Meckelburg
20764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht
Peter Rzepka
Anita Schäfer
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Marcus Weinberg
Peter Weiß
Gerald Weiß
Ingo Wellenreuther
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller
Michael Müller
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche
Maik Reichel
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
Anton Schaaf
Axel Schäfer
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dr. Frank Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
Heidi Wright
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20765
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Otto Fricke Gisela Piltz Dr. Barbara Höll
Wir setzen jetzt die Aussp
Kollege Heinz-Peter Haustein
DP):
Meine sehr verehrten Da-
wieder! Alle Jahre wieder
ken zu Hartz IV – vernebelt
wahrheiten gespickt.
e bei Abgeordneten der
. Rolf Stöckel [SPD])
rechnung des Kindergeldes
. Hartz IV ist gleich Sozial-
etz der sozialen Sicherun-
esser als Sozialhilfe!)
eit finden, sind damit abge-
tschland über 2 Millionen
illionen Kinder. Dass Kin-
nicht gut: Kinder gehören
er gehören in die Mitte un-
d das Wertvollste, was wir
uns im Klaren sein. Dafür
der FDP)
Eine Familie mit zwei Kin
heute etwa 1 600 Euro inklus
terkunft. Hinzukommen 439
bezahlt vom Staat. Das gibt
über 2 000 Euro. Dazukomm
bei Theaterbesuchen, bei R
Schüler bei der Beförderung.
troffenen gönne, will ich einm
muss ungefähr 1 650 Euro br
ALG-II-Niveau zu kommen.
Damit wir uns klar versteh
soziale Sicherungssysteme h
herrscht; aber es ist auch wic
einmal drehen und uns ansc
bringt.
Gysi, hat darauf hingewie-
ur Rettung der Banken,
ur Verfügung gehabt haben.
r die Bereitstellung dieses
unser deutsches Land geht.
spaket gestimmt, um Scha-
abzuwehren. Aber, liebe
chen Rettungsschild für die
nicht mit Kindergeld oder
ieser Vergleich hinkt. Das
Horst Friedrich Dr. Konrad Schily Ulla Jelpke Gert Winkelmeier
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Frank Schäffler
fraktionsloser
Abgeordneter
Henry Nitzsche
Enthalten
SPD
Uwe Beckmeyer
Clemens Bollen
Lothar Ibrügger
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Michael Link
Markus Löning
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Dr. Daniel Volk
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer
Volker Schneider
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
fraktionsloser
Abgeordneter
20766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Heinz-Peter Haustein
ist, als wenn man Äpfel mit Birnen, nein, als wenn man
Äpfel mit Sauerkraut vergleicht. So etwas passt über-
haupt nicht.
Die Linke fordert immer und immer wieder höhere
Regelsätze, immer mehr Transferleistungen. Aber fragen
Sie einmal diejenigen, die um fünf in der Früh aufstehen,
die arbeiten gehen: Ich denke an Menschen, die um
sechs Uhr in der Bäckerei stehen, an die Kranken-
schwestern in den Krankenhäusern, an die Müllmänner,
die den Müll wegräumen, an die vielen fleißigen Leute.
Ich denke auch an die Handwerksbetriebe und an die
Landwirte, denen – trotz Arbeit – immer mehr wegge-
nommen wurde oder wird.
Fragen Sie einmal diejenigen, die immer wieder die
Transferleistungen erwirtschaften müssen. Bitte, sehen
Sie nicht nur immer die eine Seite, sondern auch die an-
dere Seite.
Eine Familie mit drei Kindern und einem Alleinverdie-
ner mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro hatte
in den letzten drei Jahren dank der Steuererhöhungspoli-
tik über 8 000 Euro weniger zur Verfügung. Auch da-
rüber müssen wir einmal sprechen.
Wir als FDP haben gute Konzepte. Wir wollen, dass
die Kinder in den Mittelpunkt der Politik gestellt wer-
den.
Wir treten für Chancengleichheit von Anfang an ein.
Wir sind für eine einmalige Unterstützung der Kinder
beim Schulbedarf, und zwar in Form von Sachleistungen
bis zu 100 Euro. Es kann nicht sein, dass es an Schulmit-
teln fehlt, wenn ein Kind in die Schule geht.
Wir sind dafür, dass auch die Sprachförderung einge-
führt wird, damit alle, die in die Schule kommen,
Deutsch reden und verstehen können.
Wir wollen weg von der Objekt- und hin zu der Subjekt-
förderung. Das Geld sollte nicht den Einrichtungen, son-
dern den Kindern gegeben werden. Die Kinder müssen
im Mittelpunkt stehen.
Wir fordern das Bürgergeldsystem, um endlich von
Hartz IV wegzukommen.
Wir fordern das, weil es wichtig ist, unser Land zu er-
neuern. Dazu brauchen wir zuallererst ein einfaches, so-
ziales und gerechtes Steuersystem. Damit geht es los.
Schafft es doch endlich, gerade in der jetzigen Situation!
Im Krieg und in der Not ist der Mittelweg der Tod. Wir
müssen jetzt etwas tun. Dann kommt es auch unseren
Kindern zugute. Dafür müssen wir etwas machen.
Liebe Freunde, die FDP hat gute Programme. Unter-
stützen Sie uns dabei! In diesem Sinne ein herzliches
Glückauf aus dem Erzgebirge!
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag, den Sie heute vorlegen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Fraktion Die Linke, ist, wie die
Kollegin Hiller-Ohm schon sagte, sehr populistisch und
polemisch.
Ich werde Ihnen nachher die deutliche Diskrepanz zwi-
schen Ihrem Fordern und Handeln nachweisen. Eines
sollte eine politische Selbstverständlichkeit sein: Derje-
nige, der fordert, muss auch handeln.
In den Bereichen, wo er die Möglichkeit zum Handeln
hat, sollte er es tun. Auf diesen Punkt komme ich nach-
her noch zurück.
Zunächst einmal möchte ich für uns alle feststellen
– ich glaube, das gilt fraktionsübergreifend –, dass uns
das Thema Kinderarmut sicherlich nicht ruhen lässt und
auch nicht ruhen lassen kann.
Wir werden alles tun, damit Kinder aus der Armut he-
rauskommen. Das ist unser oberstes Ziel. Wir wissen
doch genau: Wer einmal im Kreislauf des Arbeitslosen-
geld-II-Bezugs ist, kommt so schnell nicht wieder he-
raus. Deswegen ist es wichtig, dass wir Maßnahmen auf
den Weg bringen, mit denen dieser Kreislauf durchbro-
chen und den Kindern eine Chance gegeben wird.
Die Bundesregierung hat einiges auf den Weg ge-
bracht, um Kindern eine gerechte Chance zu geben. Ich
erinnere nur an die Reform des Kinderzuschlags. An die-
ser Stelle ist ganz deutlich, dass man den Wert der Arbeit
stärken muss. Damit die Menschen nicht in die Sozial-
hilfe abgleiten, muss man dafür sorgen, dass sie in Ar-
beit bleiben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20767
(C)
(D)
Ingrid Fischbach
In dem Familienleistungsgesetz, das wir heute auf den
Weg gebracht haben, ist das Schulstarterpaket enthalten.
Aber werte Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich muss schon
feststellen: Der Entwurf stammte von Ihrem Minister
Scholz.
Dieser enthielt die Begrenzung bis zum 10. Schuljahr.
Sie ist nicht von uns gefordert worden.
Allerdings kann man sie begründen. Die Schulpflicht
umfasst nämlich einen Zeitraum von zehn Jahren. Des-
wegen war es an dieser Stelle sinnvoll, es so zu regeln.
Wenn wir im Laufe der Zeit andere Erkenntnisse gewin-
nen, dann werden wir sie berücksichtigen und für ent-
sprechende Veränderungen sorgen. Da können Sie sicher
sein.
Ich möchte noch einmal feststellen: Die Begrenzung
auf zehn Schuljahre war keine Erfindung der Union,
sondern Ihres Ministeriums. Sie hätten an der Stelle von
Anfang an widersprechen können. Sie haben doch einen
direkten Draht zum Minister, der leider nicht anwesend
ist. Da aber sein Staatssekretär hier ist, denke ich, dass er
meine Anregung weitergibt.
Wir wissen, dass Kinder und Jugendliche, die nur von
einem Elternteil großgezogen werden, überproportional
oft von Armut betroffen sind. Das gilt vor allem für
Haushalte von Alleinerziehenden mit zwei und mehr
Kindern. Ich glaube, die wichtigste Maßnahme ist, die
Menschen in Arbeit zu bringen. Eine vernünftige Ar-
beitsmarktpolitik musste her. Das haben wir geschafft.
Die Zahlen vom Arbeitsmarkt zum jetzigen Zeitpunkt
sprechen für sich. Wir haben es geschafft, dass 2 Millio-
nen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse
mehr entstanden sind.
Damit haben wir mehr Menschen die Möglichkeit gege-
ben, eine Arbeit anzunehmen.
Eines ist auch wichtig – das möchte ich Ihnen an die-
ser Stelle deutlich sagen –: Die Sozialhilfeleistungen
sind nachrangige Leistungen. Wenn Sie jetzt fordern, die
Erhöhung des Kindergeldes solle nicht auf die Transfer-
leistung angerechnet werden, dann widersprechen Sie
der Systematik der Sozialhilfegesetzgebung. Die Sozial-
leistungen sollen erst dann erbracht werden, wenn es der
Einzelne aus eigener Kraft nicht schafft, für sich zu sor-
gen. Vorrangig muss es aber das Ziel sein, dass die Men-
schen selber Verantwortung dafür tragen, ihr Leben in
Würde zu gestalten.
Mit der Anhebung des Kindergeldes, die wir heute be-
schlossen haben, haben wir endlich nach sieben Jahren
– auch das will ich sagen – ein für die meisten Eltern
wichtiges Anliegen umgesetzt. Sinn und Zweck des Kin-
dergeldes und auch des Kinderzuschlages ist es, Sozial-
hilfebedürftigkeit zu vermeiden. Das Kindergeld ist
aufgrund seines Gesamtvolumens die wichtigste famili-
enpolitische Transferleistung.
Ich stelle noch einmal fest, dass das Kindergeld den-
selben Zweck wie die kindbezogenen Leistungen in der
Grundsicherung für Arbeitssuchende erfüllt, nämlich
den Lebensunterhalt des Kindes zu decken.
Jetzt komme ich zu dem zweiten Teil des Antrages,
den auch Sie, Frau Kollegin, schon angesprochen haben.
Da geht es um die Eckregelsätze. Wir sind uns einig,
dass wir hier eine Überprüfung auf den Weg bringen
müssen. Das haben wir getan. Deshalb haben wir, Herr
Staatssekretär – das sage ich für meine Fraktion, die
CDU/CSU –, den Prüfantrag gestellt, der ja auch nötig
ist. Immer wenn die neuen Einkommens- und Ver-
brauchsstrichproben, EVS, vorliegen, sind Sie aufgefor-
dert, zu prüfen und gegebenenfalls nachzubessern. Wir
haben Sie darum gebeten und hoffen, dass wir eine Vor-
lage bekommen, wenn die statistischen Angaben von
2008 vorliegen, sodass wir uns dann auf dieser Grund-
lage um die neue Ausgestaltung der Eckregelsätze für
Kinder kümmern können. Es ist wichtig, dass sie kindbe-
zogen sind. Da haben Sie vollkommen recht, und da ha-
ben Sie uns auch auf Ihrer Seite.
Jetzt komme ich zu den Linken und der Kontroverse
von Fordern und Handeln. Man könnte denken, Sie mei-
nen es ernst, wenn Sie sagen, dass der Antrag, den Sie
hier einbringen, den Kindern helfen soll. Um dieses dann
durchzusetzen, bleibt Ihnen ja leider nur Berlin – oder
auch Gott sei Dank. Aber „Gott sei Dank“ kann man
auch nicht sagen, weil Sie an der einen oder anderen
Stelle äußern, dass Sie gar nicht regieren wollen. Kön-
nen Sie sich vorstellen, dass Politiker einer Partei in den
Wahlkampf ziehen und sagen, sie wollten gar nicht re-
gieren? Das machen doch nur diejenigen, die keine Ver-
antwortung für die Umsetzung übernehmen wollen.
Ich habe hier einen Zeitungsartikel über ein Gespräch
mit der Spitzenkandidatin der Linken aus Hamburg.
Überschrift: „Wir wollen nicht regieren“. Sie sagt in die-
sem Gespräch, dass es sich viel besser in der Opposition
lebe, weil sie da viel besser Politik gestalten könne. Das
heißt doch im Klartext: Wir wollen nur knöttern, pole-
misch und populistisch sein; aber wenn wir Verantwor-
tung übernehmen sollen, kneifen wir. – Schade, sage ich
da nur – oder auch: Gott sei Dank!
Das Gleiche gilt, wenn Sie sagen, dass Sie Kindern
helfen wollen, damit es ihnen besser geht.
20768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Ingrid Fischbach
– Ich freue mich immer, wenn Sie anfangen, unruhig zu
werden.
Als Lehrer bekommt man ein Gefühl dafür: Wenn die
Klasse unruhig wird, ist entweder das Thema sehr inte-
ressant, oder der Lehrer hat etwas gesagt, was alle auf-
scheucht und dazu bringt, sich zu melden. Das scheint
bei Ihnen der Fall zu sein; sonst wären Sie jetzt ganz ru-
hig. Dachten Sie, dieser Zeitungsartikel sei der einzige,
den ich hier habe?
Ich schaue einmal weiter. Am 25. Juni dieses Jahres hat
die Partei der Linken in Nordrhein-Westfalen gesagt
– ich wollte es eigentlich nicht zitieren; aber ich höre ge-
rade etwas von „Einzelperson“ –: Die Linken wollen
2010 nicht regieren.
– Wir sind ja auch froh, Herr Niebel; aber man muss sich
das einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Was machen Sie in Berlin noch? Es gibt eine Studie
des Deutschen Jugendinstituts, in der untersucht wurde,
wie die Kinder- und Jugendhilfe in den deutschen Bun-
desländern finanziell ausgestattet ist. Das Bundesland,
das in dem Bereich die massivsten Kürzungen vorge-
nommen hat, ist Berlin. Sie haben über 30 Prozent der
Mittel für die Kinder- und Jugendhilfe gekürzt,
obwohl mittlerweile jedes dritte Kind in Berlin von Ar-
mut bedroht ist. Das ist Ihre Politik, wenn Sie die Mög-
lichkeit haben, vor Ort zu agieren. Da kann ich nur sa-
gen: Armes Deutschland! Ich könnte auch sagen: Gott
sei Dank haben Sie nur in einem Bundesland die Mög-
lichkeit und nicht in mehreren.
Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten
Weg. Wir sind noch lange nicht am Ende; das will ich
nicht bestreiten. Vor uns liegen noch einige Aufgaben.
Wir werden diese Aufgaben mit dem Respekt und dem
Ernst angehen, den politische Entscheidungen erfordern.
Wir werden das nicht populistisch und polemisch ma-
chen, wie es die Linken tun. Deshalb werden wir den
Antrag der Linken aus vollster Überzeugung ablehnen.
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Fischbach, Ihren Ausführun-
gen konnte ich entnehmen: Sie sind Lehrerin.
– Oberlehrerin!
Sie haben hier ja eine relativ lange Redezeit gehabt. Ich
hätte mir gewünscht, dass Sie sich – das ist eigentlich
üblich und zumindest von Lehrerinnen zu erwarten – ein
wenig mit dem Thema auseinandersetzen, zu dem Sie
sprechen.
Es ist ja schön, wenn Sie Hamburg, Schleswig-Holstein
oder sonst was zitieren. Wenn ich der Lehrer wäre und
Sie die Schülerin, hätte ich gesagt: Thema verfehlt,
Sechs, setzen!
Um was geht es denn? Obwohl wir ein reiches Land
sind, haben wir in diesem Land 2,5 Millionen Kinder in
amtlich festgestellter Armut. Wir wissen, dass alles teu-
rer wird: Strom, Miete, Lebensmittel, Kleidung, Schul-
bücher, Monatskarten. Wir wissen auch, dass die Real-
einkommen der meisten Menschen stagnieren oder sogar
sinken. Viele Familien sind auf das Kindergeld angewie-
sen.
Sie erhöhen das Kindergeld ab dem 1. Januar 2009
um 10 Euro für das erste und das zweite Kind und um
16 Euro für die weiteren Kinder.
Es handelt sich dabei um die erste Anhebung seit dem
Jahr 2002. In diesen sieben Jahren sind die Verbraucher-
preise um fast 12 Prozent gestiegen. Das bedeutet eine
Anhebung des Kindergeldes für das erste Kind um
6,5 Prozent und für das dritte Kind um 9 Prozent bei ei-
ner Steigerung der Verbraucherpreise um fast 12 Pro-
zent. Wissen Sie, wie Ihre Familienpolitik im Bereich
Kinder aussieht? Das Kindergeld ist real niedriger als
vor einigen Jahren. Das ist Ihre reale Politik, und das
leugnen Sie hier.
Wenn Sie schon sagen, die Linken seien populistisch,
dann kann ich nur sagen: Es ist eine populistische Poli-
tik, so zu tun, als würde man das Kindergeld tatsächlich
erhöhen, während man real nicht einmal die Preissteige-
rungsrate ausgleicht. Das ist Populismus.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20769
(C)
(D)
Klaus Ernst
Wir haben festzustellen: Die Große Koalition lässt die
Familien mit Kindern im Regen stehen. Das Kindergeld
ist real niedriger als im Jahr 2002.
Jetzt kommen wir zu dem Punkt, über den Sie eigent-
lich hätten reden sollen, weil hier ein Antrag vorliegt,
liebe Frau Kollegin Fischbach, und den Sie bewusst ver-
schwiegen haben, weil Sie offensichtlich keine Argu-
mente dagegen haben.
Wir haben nun die Situation, dass diese Kindergelderhö-
hung natürlich insbesondere für diejenigen wirkt, die
kein Arbeitslosengeld II beziehen. Beim Arbeitslosen-
geld II wird diese Kindergelderhöhung angerechnet.
– Regen Sie sich doch nicht so auf. Wir sind doch nicht
im Bierzelt, Kollege.
In einem Punkt haben Sie recht: Sie haben damit
recht, dass es systematisch natürlich nicht in Einklang
damit zu bringen ist, einfach zu sagen, dass man das
nicht anrechnet. Ich hätte von Ihnen dann aber einen
Vorschlag dafür erwartet, wie man diese himmelschrei-
ende Ungerechtigkeit ausgleicht,
dass die Eltern der Kinder, die sich im Hartz-IV-Bezug
befinden, diese 10 Euro beim ersten Kind und 16 Euro
beim dritten Kind wieder angerechnet bekommen.
– Gleich, Herr Kollege Weiß, ich habe Sie gesehen. Sie
müssen noch ein bisschen stehen bleiben, weil ich noch
etwas zu sagen habe.
Liebe Frau Fischbach, Sie müssen mir erklären, wieso
Ihnen die Kinder derer, die Arbeitslosengeld II beziehen,
weniger Geld wert sind als die anderen. Darauf läuft der
Gesetzentwurf hinaus.
Herr Kollege Ernst, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Weiß?
Ich erlaube Sie, Herr Weiß.
Herr Weiß, bitte schön.
Herr Kollege Ernst, die Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch II – das Arbeitslosengeld II – werden
von den deutschen Steuerzahlerinnen und deutschen
Steuerzahlern bezahlt. Darunter sind, wie Sie wissen,
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht
unbedingt ein hohes Gehalt beziehen, aber zwei, drei
Kinder haben.
Das Gehalt eines Arbeitnehmers mit Kindern ist trotz
der erhöhten Ausgaben das Gleiche wie das eines Ar-
beitnehmers ohne Kinder. Um das auszugleichen, gibt es
Kindergeld. Beim Arbeitslosengeld II ist es so, dass der
ALG-II-Bezieher, der keine Kinder hat, deutlich weniger
ausbezahlt bekommt als der ALG-II-Bezieher, der Kin-
der hat, weil beim Arbeitslosengeld II auf die Kinderzahl
Rücksicht genommen wird, während beim normalen
Lohn im Betrieb auf die Kinder nicht Rücksicht genom-
men wird.
Wie möchten Sie bitte einem deutschen Arbeitnehmer
mit drei Kindern zu Hause plausibel machen,
dass der ALG-II-Empfänger für die Kinder Geld vom
Staat ausbezahlt bekommt, also einen höheren Regelsatz
hat, während sein Lohn der Gleiche bleibt? Wie erklären
Sie das?
– Das ist doch der Punkt.
Das kann ich Ihnen gerne erklären, Herr Weiß. – In
der jetzigen Debatte gibt es doch folgenden Fakt: Sie ha-
ben selber festgestellt, dass das Kindergeld offensicht-
lich zu niedrig ist. Deswegen erhöhen Sie es um 10 Euro
bzw. 16 Euro. So weit sind wir uns ja einig.
Eine Gruppe der Eltern wird jetzt von der Erhöhung
ausgenommen. Das ist genau die, die es am meisten
brauchte.
Diese bekommen diese 10 Euro nicht, weil sie angerech-
net werden. Stimmt das, oder stimmt das nicht, Herr
Weiß?
Sie werden sagen: Das stimmt.
Sie haben bei Ihrer ganzen Berechnung folgenden
Punkt nicht bedacht: Sie verteilen diese 10 Euro un-
20770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Klaus Ernst
gleich, nämlich abhängig davon, ob jemand Arbeitneh-
mer oder Hartz-IV-Empfänger ist.
– Herr Weiß, er hat die Kosten für seine Kinder. Sie ge-
ben den Hartz-IV-Empfängern weder 10 Euro noch
16 Euro. Das ist ein Skandal. Insofern ist Ihre Frage be-
antwortet; das ist meine Antwort.
Ich gebe den Damen und Herren, die vorhin geredet
haben, in einem Punkt durchaus recht: Es ist dringend
notwendig, dass wir die Regelsätze insgesamt erhöhen.
Die 10 Euro bzw. 16 Euro können somit nicht das Ende
der Debatte sein. Tatsächlich kommt es darauf an, dass
wir die Regelsätze erhöhen.
Wenn Sie dieser Auffassung sind, frage ich mich
– Sie regieren schließlich schon seit einigen Jahren –:
Warum haben Sie diesen Weg nicht schon längst vorge-
schlagen? Warum haben Sie nicht schon längst einen
Antrag zur Erhöhung der Regelsätze für Kinder von Ar-
beitslosengeld-II-Empfängern eingebracht?
Das sind Sie schuldig geblieben, und deshalb konnte ich
Ihre Argumentation überhaupt nicht ernst nehmen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband – das ist im Übri-
gen keine Vorfeldorganisation der Linken – hat eindeutig
festgestellt,
dass ungefähr 40 Prozent der Regelsätze für Hartz-IV-
Kinder zu niedrig angesetzt sind. Ich hätte schon erwar-
tet, dass man nicht nur sagt: Eine Erhöhung um 10 Euro
monatlich ist jetzt nicht möglich; das ist auch nur ein
Tropfen auf den heißen Stein. – Ich hätte erwartet, dass
Sie sich, wenn Sie unseren Antrag ablehnen, zumindest
Gedanken darüber machen, wie Sie diese Situation än-
dern können. Das haben Sie nicht gemacht, und deshalb
konnte ich Ihre Argumentation überhaupt nicht ernst
nehmen.
Wir haben vorgeschlagen, dass die 10 Euro bzw.
16 Euro nicht auf das Kindergeld angerechnet werden,
solange die Regelsätze nicht angeglichen sind. So weit
zu Ihrer Systematik.
In dem Moment, wo sie angeglichen werden, wäre das
Kindergeld wieder anzurechnen. Nicht einmal dazu sind
Sie bereit. Was Sie hier betreiben, ist keine Sozialpolitik,
sondern eine Politik gegen alle, die Arbeitslosengeld II
beziehen und Kinder haben. Das ist die Wahrheit.
Wir befinden uns wie immer in der gleichen Situa-
tion. Was wir vorschlagen, ist natürlich, wie immer, Un-
fug. Was wir vorschlagen, ist, wie immer, populistisch.
Was wir vorschlagen, ist, wie immer, nicht zu finanzie-
ren. In Bezug auf die 10 Euro bzw. 16 Euro und auf das
Arbeitslosengeld II geht es sicher nicht um viel Geld.
Darüber sind wir uns vielleicht relativ einig. All denen
von der SPD, die sagen, das wäre populistisch, möchte
ich etwas zeigen.
Auf diesem Foto sehen Sie Ihren früheren Vorsitzenden.
– Das ist der Herr Beck. Die haben so viele gehabt; ich
meine den letzten. – Herr Beck hat selber eine Bundes-
ratsinitiative vorgeschlagen. Er hat in dieser Bundesrats-
initiative genau dasselbe vorgeschlagen, was wir hier im
Parlament des Deutschen Bundestages vorschlagen. In
der Badischen Zeitung vom 4. Dezember 2008 heißt es:
Für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten
Kurt Beck sind die Argumente der Großen
Koalition gleichwohl nicht überzeugend. Die Main-
zer Regierung meint, dass gerade Kinder aus ärme-
ren Familien die volle Unterstützung und Solidari-
tät der Gesellschaft brauchen, wie es in einem
Bundesratsantrag der Landesregierung heißt.
Ich weiß, dass Sie Ihre Vorsitzenden gern demontie-
ren und abwatschen. Wenn Sie dann aber einen Antrag
ablehnen, der keinem von Ihnen wehtut und der zu fi-
nanzieren ist, mit dem Argument „Populismus“ abmei-
ern, dann schicken Sie diesen Vorwurf des Populismus
doch nach Rheinland-Pfalz. Verschonen Sie uns damit,
wenn Sie selber keine besseren Argumente gegen Ihren
Ex-Vorsitzenden haben!
Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Ernst, haben Sie schon einmal etwas vom
Nachranggrundsatz in der Sozialhilfe gehört? Dieser be-
sagt, dass anderes Einkommen vorrangig angerechnet
wird. Haben Sie das nicht gehört? – Das sehe ich. Sie
kommen von der IG Metall. Die bieten Seminare zur po-
litischen Bildung an. Nehmen Sie doch einmal eines in
Anspruch.
Ich finde es vollkommen absurd, jetzt eine Ausnahme
einzuführen und dann zu sagen: Den Regelsatz wollen
wir aber auch noch erhöhen, und dann schaffen wir die
Ausnahme wieder ab. – Ich finde es kläglich, dass eine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20771
(C)
(D)
Markus Kurth
Oppositionsfraktion so etwas ernsthaft als Politikversuch
einbringt. Ich habe schon bei der ersten Lesung gesagt,
dass ich es für politisch verfehlt halte, an dieser Stelle
die Regelsatzdebatte nicht weiter voranzutreiben und
nicht auf den Kern der ganzen Sache zu gehen.
– Wir machen einen Vorschlag. Wir haben im Verfahren
Vorschläge und natürlich Anträge zur Erhöhung der Re-
gelsätze eingebracht. Wir haben eine Anhörung dazu ge-
habt. Der Dame, die dort dazwischenruft, möchte ich sa-
gen: Sie sind nicht im Ausschuss für Arbeit und
Soziales. Wenn Sie sich einmal mit der Antragslage be-
schäftigen, dann wissen Sie, dass wir Anträge gestellt
haben.
Herr Kollege Kurth, die Dame möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Es ist die Frau Kollegin Dr. Höll.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, wir haben dies alles eben in der familienpoliti-
schen Debatte weitgehend erörtert. An dieser Stelle hat
die Linke ohnehin eine hohe Redundanz.
Entscheidend ist die Frage, welche politischen Priori-
täten man setzt. Die Erhöhung des Regelsatzes ist unsere
Priorität; an dieser Stelle sind wir uns sogar mit relativ
großen Schnittmengen einig. Aber das, was von Ihnen
kommt, ist wirklich nur Populismus kurz vor Weihnach-
ten. Ich möchte mich daher gar nicht mehr weiter mit Ih-
rem Antrag auseinandersetzen, sondern auf die wichti-
gere politische Frage zu sprechen kommen, wie der
Stand der Debatte um die Erhöhung der Regelsätze ei-
gentlich ist.
Häufig denke ich, ich bin im falschen Film. Wenn Sie,
Frau Hiller-Ohm, eben sagten, der Regelsatz für Kinder
sei nicht von dem für Erwachsene abzuleiten und man
müsse andere Überlegungen anstellen, und Frau
Fischbach Sie sogar darin bestätigte, dass das alles so
nicht gehe,
dann frage ich Sie, warum Sie eben bei der namentlichen
Abstimmung dem Bundesratsantrag nicht zugestimmt
haben. In diesem Entschließungsantrag, der mit dem
Text wortgleich ist, den sämtliche Bundesländer be-
schlossen haben, heißt es:
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die
Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie
die Regelsätze nach dem SGB XII unverzüglich
neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spe-
zielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen.
Diesem Satz hätten Sie doch zustimmen können.
– Sie haben aus den Reihen der Koalition 394 Neinstim-
men zusammengebracht; das ist doch eine Tatsache.
Dies werden wir vor und nach Weihnachten in den
Wahlkreisen auch publik machen. Selbst die Fraktion
Die Linke hat sich an dieser Stelle ganz offensichtlich
nur enthalten, obwohl das Land Berlin dem zugestimmt
hatte. Ich glaube wirklich, dass ich hier im falschen Film
bin.
In den Ländern laufen Ihre Kollegen – dies gilt auch
für die CSU in Bayern – fleißig durch die Gegend und
sagen, die Regelleistungen für Kinder seien zu niedrig.
Am 24. November erklärte Frau Haderthauer, die neue
bayerische Sozialministerin:
Es kann nicht sein, dass gerade Familien, die auf
eine Erhöhung ihrer Leistungen in ganz besonde-
rem Maße angewiesen sind, leer ausgehen.
Frau Fischbach, Herr Laumann fordert in Nordrhein-
Westfalen landauf, landab andere Regelsätze speziell für
Kinder. Er sagte im Landtag, es könne gar nicht sein,
dass ein 14-Jähriger nur 60 Prozent dessen esse, was ein
Erwachsener isst. – Sie nicken hier und pflichten mir bei.
Aber politisches Handeln ist bei Ihnen überhaupt nicht
zu entdecken. Diese Heuchelei – so muss man es nennen –
gilt es aufzudecken; es lohnt sich, hierüber eine politi-
sche Debatte zu führen. Es reicht nicht aus, nur Killefitz
zu machen, wie Sie von der Linken es tun.
Es bedarf an dieser Stelle auch keiner weiteren Prü-
fung. Jetzt ist Handeln angesagt. Es liegt eine hinrei-
chende Zahl von Studien vor: ernährungswissenschaftli-
che Studien, Studien zum Bildungsbedarf, zu den
Mobilitätskosten usw. Angesichts dessen halte ich es
wirklich für eigentümlich, welche Pirouetten insbeson-
dere die SPD dreht. Zum Schluss kann ich Ihnen einen
Beschluss vom Juni 2008 nicht vorenthalten, dessen
Wortlaut man sich auf der Zunge zergehen lassen muss.
Die SPD schreibt hier:
Die Ableitung der Regelleistung für Kinder als rei-
ner Anteil des Erwachsenenregelsatzes ist … pro-
blematisch, da durch diese Vorgehensweise der kin-
derspezifische Bedarf zu wenig abgedeckt sein
kann.
So weit, so gut. Aber jetzt kommt es:
Wir unterstützen daher die Bemühungen des Bun-
desministeriums für Arbeit und Soziales, die Er-
mittlung eines eigenständigen Kinderregelsatzes zu
prüfen.
Sie unterstützen Bemühungen, zu prüfen!
20772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Markus Kurth
Hier haben Sie sich wirklich das schwächste interne
Kompromissargument einfallen lassen. Wer so dünn auf-
gestellt ist, hat seine sozialpolitische Kompetenz ver-
spielt.
Dazu passt es, dass Sie jetzt auch noch eine Debatte
über irgendwelche Konsumgutscheine führen. Konzen-
trieren Sie sich doch auf das, was konjunktur- und so-
zialpolitisch unmittelbar hilft. Eine Regelsatzerhöhung
speziell für Kinder wäre begründbar. Weil sie direkt in
den Konsum flösse, wäre sie eine zielgerichtete und we-
sentlich sinnvollere Maßnahme. Ich fordere Sie auf, auf
diesem Wege voranzugehen. Sollten Sie es nicht tun,
werden wir Ihnen das im nächsten Jahr bei den verschie-
denen Wahlkämpfen noch mehrmals deutlich mitteilen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Kollege Kurth, Sie sind seit dem Jahr 2002 Bun-
destagsabgeordneter. Ob Sie hier fehl am Platz oder im
falschen Film sind, werden im nächsten Jahr Bürgerin-
nen und Bürger entscheiden.
Es gilt aber, festzuhalten, dass Sie mit Ihrer Jastimme
an der Einführung von Hartz IV beteiligt waren. Wenn
ich zitieren darf – ich habe es mir extra noch einmal he-
rausgesucht –: Immerhin galt in § 21 Bundessozialhilfe-
gesetz für Alleinerziehende noch ein Mehrbedarf – unter
Punkt 3 –, zum Beispiel für die Beschaffung von beson-
deren Lehrmitteln für Schüler. Ich könnte das weiterfüh-
ren.
Da Sie sich jetzt hier hinstellen und so tun, als gehöre die
Diskussion über die Regelsätze nicht hierher, obwohl Sie
die Hartz-IV-Regelsätze hier, im Bundestag, mit verab-
schiedet haben, obwohl Sie wussten, dass 500 000 Kin-
der und Jugendliche in Hartz IV fallen würden, müssen
Sie sich fragen lassen, allerdings von den Wählerinnen
und Wählern, ob Sie hier fehl am Platze sind.
Sie haben die Regelsätze mitbeschlossen. Die Tatsache,
dass Sonderbedarfe und Ausgaben für Bildung und Kul-
tur herausgenommen wurden, ist das Ergebnis Ihrer poli-
tischen Entscheidung.
Zur Erwiderung, Herr Kurth.
Erstens, Frau Höll: Über die Regelsätze habe ich hier
die ganze Zeit gesprochen und die politische Aussage,
dass sie der Kern der Problematik sind, meiner Rede vo-
rangestellt.
Zweitens, zu den politischen Verantwortlichkeiten,
die Sie angesprochen haben: Sie sind erst seit 2005 im
Deutschen Bundestag. Wahrscheinlich kennen Sie des-
wegen nicht die Protokolle und Abstimmungslisten der
namentlichen Abstimmungen zu Hartz IV. Es ist klar,
dass die politische Verantwortung bei der Fraktion liegt.
Sie haben aber gesagt: „Sie haben zugestimmt.“ Damit
haben Sie mich persönlich angesprochen. Ich war einer
von den Abgeordneten, die damals mit Nein gestimmt
haben. Das nur zur Feststellung der historischen Wahr-
heit.
Das entlässt meine Fraktion nicht aus der politischen
Gesamtverantwortung. Wir haben mit der Zusammenle-
gung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und mit der Ein-
führung der Dezentralität, die die Große Koalition jetzt
wieder infrage stellt, auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-
politik wichtige Schritte gemacht – das will ich noch
einmal betonen –, zu denen wir stehen. An einigen Stel-
len haben wir sicherlich auch Fehler gemacht. Wir
Grüne haben das auf Parteitagen aufgearbeitet und auf
den Parteitagen entsprechende Korrekturen beschlos-
sen. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie ein Problem
darin sehen, dass wir hier eine offene Debatte über Ver-
änderungen führen.
Sie beziehen sich immer noch auf Ihren Gründungs-
mythos und wollen jede Dynamik und Weiterentwick-
lung der politischen Debatte verhindern. Das verstehe
ich auch, denn Sie wollen weiterhin den Nimbus haben,
dass Sie die Einzigen in ganz Deutschland sind, die für
soziale Gerechtigkeit eintreten. Das sind Sie, glaube ich,
nicht. Sie verkrusten zunehmend.
Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
den Kollegen Kurth als vernünftigen Sozialpolitiker ein-
mal ein bisschen in Schutz nehmen. In den sieben Jahren
rot-grüner Bundesregierung haben wir das Kindergeld
immerhin von 112 Euro auf 154 Euro erhöht. Insofern ist
es für uns konsequent, jetzt diesen Schritt zu gehen und
die erforderlichen Maßnahmen auf der Grundlage des
Existenzminimumberichts für die Jahre 2009 und 2010
vorzuziehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20773
(C)
(D)
Rolf Stöckel
Im Gegensatz zu den falschen Behauptungen, die auf
dem jüngsten CDU-Parteitag aufgestellt wurden, versi-
chere ich Ihnen, dass meine Fraktion diese Familienför-
derungsmaßnahmen ausdrücklich unterstützt. Wir möch-
ten sogar weitere Kindergelderhöhungen ermöglichen.
Herr Ernst, wir möchten vor dem Hintergrund der Ge-
rechtigkeitsfrage auch die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, zum Beispiel bei Daimler, unterstützen. Das
kann man zum Beispiel dadurch machen, dass man an-
statt der jetzigen Freibeträge einen Kindergrundfreibe-
trag in das Steuerrecht einführt und das Ehegattensplit-
ting abschmilzt.
Wir wollen, dass die staatlichen Leistungen vor allen
Dingen bei den Familien ankommen, die sie am meisten
benötigen. Dazu fehlen unserem Koalitionspartner aber
offensichtlich noch der Mut und die Orientierung. Das
kann nach der nächsten Bundestagswahl aber noch wer-
den.
Beim Schulstarterpaket, geschätzte Kollegin Fischbach,
war die Regelung kein Vorschlag von Olaf Scholz, son-
dern sie ist im Koalitionsausschuss vonseiten der CDU/
CSU-Fraktion vorgeschlagen worden. Wir wollten aus-
handeln, dass es den Kindern, die in Familien aufwach-
sen, die Transferleistungen beziehen, bis zum 13. Schul-
jahr gewährt wird. Die Schulpflicht ist nun wirklich kein
Argument. Auch diesen Kindern muss selbstverständlich
das Abitur ermöglicht werden.
Insofern hätten wir es gern gesehen, wenn Sie nicht un-
zumutbare Gegenleistungen eingefordert hätten.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
gleichzeitig mit den Beschlüssen zur Familienförderung
Minister Scholz mit der Prüfung der Bedarfsgerechtig-
keit und einer spezifischen Kinderregelleistung in der
Systematik der Grundsicherung beauftragt. Ich möchte
noch einmal daran erinnern, dass die jetzt geltenden Re-
gelsätze nicht nur vom Bundessozialgericht als ange-
messen beurteilt worden sind, sondern dass das Bundes-
verfassungsgericht grundsätzlich auch das SGB II für
verfassungsgemäß erklärt hat.
Zu den Überprüfungen. Sie tun alle so, als sei dies
selbstverständlich und es sei in der Wissenschaft unum-
stritten – trotz aller Unterschiedlichkeit der Zahlen, die
uns auch von den Wohlfahrtsverbänden vorgelegt wer-
den –, dass das automatisch eine Erhöhung der Regel-
sätze beinhaltet. Das ist äußerst umstritten.
Ich kann Ihnen ganz klar sagen: Unabhängig davon,
welche Kriterien wir anlegen, wird es letztendlich poli-
tisch normiert werden müssen. Ich mache ganz deutlich,
dass die SPD-Fraktion keine Kürzungen der Regelsätze
in den Grundsicherungssystemen möchte. Wir wollen
vielmehr ein bedarfsgerechtes System.
Sie fordern die Nichtanrechnung der Kindergelderhö-
hung. Das ist in der Tat – da gebe ich dem Kollegen von
der FDP recht – ein politisches Ritual. Zudem ist dieses
Vorgehen parteitaktisch motiviert, eigentlich nur, um ei-
nen billigen moralischen Vorteil zu erlangen. Deshalb
wird dies von den Chefdemagogen von den Linken in al-
len Talkshows gebetsmühlenartig vorgetragen.
Das kommt vordergründig auch gut an, weil man ei-
nen scheinbaren Widerspruch, eine scheinbare Unge-
rechtigkeit in einem Teilausschnitt der Grundsicherungs-
systeme konstruiert. Dabei setzt man auf die allgemeine
Unkenntnis hinsichtlich der Gesamtzusammenhänge,
der Systematik der Grundsicherung und der Fakten.
Meine Damen und Herren, genau das wird mit diesem
Antrag gemacht, in dem behauptet wird, Kinderarmut
könne mit einer Nichtanrechnung von 10 Euro bekämpft
werden.
Ich will Ihnen die Zahlen und Fakten gern liefern. Der
Staat fördert Familien, die aufgrund hoher Einkommen
den vollen Steuerfreibetrag ausschöpfen können, im
nächsten Jahr pro Kind mit monatlich 226 Euro.
Wer hingegen auf das Kindergeld als Steuerabschlag
oder staatlichen Zuschuss angewiesen ist, weil er keine
Einkommensteuer bezahlt, erhält für das erste Kind
164 Euro, für das dritte Kind 170 Euro und für jedes
weitere Kind 195 Euro.
Wer auf die Grundsicherung, also auf Sozialhilfe oder
Arbeitslosengeld II, angewiesen ist, bekommt für ein
Kind unter 14 Jahren derzeit 211 Euro und für ein Kind
ab 14 Jahren 281 Euro im Monat. Nach der jetzt ge-
schätzten Anpassung der Renten und Regelsätze der
Grundsicherung zum 1. Juli 2009 erhöhen sich die Bei-
träge auf 217 Euro und 289 Euro; das sind, wie gesagt,
Schätzungen.
Meine Damen und Herren, wer die erste Kindergeld-
erhöhung seit dem Jahr 2002 mit einem Plus von
6,5 Prozent für die Arbeitnehmerfamilien berechnet und
daraus die Forderung der Nichtanrechnung ableitet, der
muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Kinderregel-
sätze seit dem Jahr 2002, also vor der SGB-II-Reform,
aber vor allen Dingen seit dem Jahr 2005 ebenfalls ge-
stiegen sind und ab dem 1. Juli 2009 weiter steigen wer-
den.
Dazu hat auch die politische Entscheidung der Gro-
ßen Koalition beigetragen, die Regelsätze im Westen
und Osten unabhängig von der Datenbasis auf derselben
20774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Rolf Stöckel
Höhe festzusetzen. Allein seit dem Jahr 2005 bedeutet
das für Kinder unter 14 Jahren, die sich in den sozialen
Grundsicherungssystemen befinden, ein Plus von 10 Euro
in den alten und von 19 Euro in den neuen Bundeslän-
dern. Für Kinder ab 14 Jahren sind dies 19 und 24 Euro.
Hinzu kommt das jetzt von der Koalition beschlos-
sene und hier schon bewertete Schulstarterpaket, das für
Kinder in den Grundsicherungssystemen von der ersten
bis zur 10. Klasse – also in der Regel vom sechsten bis
zum 16. Lebensjahr – eine zusätzliche einmalige Leis-
tung in Höhe von 100 Euro – das sind monatlich über
8 Euro – garantiert.
Sie verschweigen in Ihrem Antrag nicht nur, dass es
beim Arbeitslosengeld II im Vergleich zur alten Sozial-
hilfe höhere Freibeträge bei der Einkommensanrech-
nung, den Hinzuverdiensten und beim Schonvermögen
gibt, dass es Mehrbedarfsregelungen für Alleinerzie-
hende gibt, sondern schlicht auch die Tatsache, dass die
Preissteigerungen bei Mieten und Heizkosten über die
Erstattung der Kosten der Unterkunft durch die Kommu-
nen ausgeglichen werden. Auch das ist ein Grund dafür,
dass die Zahlen der Bedarfsgemeinschaften und der so-
genannten Aufstocker weiter steigen.
Es ist heuchlerisch, wenn Sie in weiteren Anträgen
die steigenden Ausgaben der Kommunen für die Kosten
der Unterkunft beklagen, Abhilfe aus dem Bundeshaus-
halt fordern und gleichzeitig mit diesem Antrag den
Kreis der Grundsicherungsberechtigten ausweiten wol-
len. Das hat mit einer seriösen und nachhaltigen Politik
der Armutsbekämpfung und sozialen Sicherung so viel
zu tun wie ein pyromaner Feuerwehrmann, der sich die
Löscheinsätze selbst verursacht.
Wenn man die Arbeitnehmerfamilien gerecht entlas-
ten will, dann muss man das tun, was diese Große Koali-
tion auf unsere Initiative hin getan hat, nämlich die
BAföG- und Wohngelderhöhungen durchsetzen. Wir ha-
ben den Kinderzuschlag für die Familien verbessert, die
trotz Erwerbseinkommen aufgrund der Kinder auf
Grundsicherung angewiesen wären.
Wer Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität einfor-
dert, Herr Ernst, und sie über den Sozialstaat organisie-
ren will, der muss die Solidarität der Stärkeren mit den
Schwächeren stets im Zusammenhang denken und wie
einen Augapfel hüten. Wenn es Ihnen mit der Zukunfts-
fähigkeit und der Verbesserung der Grundsicherung
wirklich ernst ist – da gehen Sie ja über Ihre Parole
„Hartz IV weg“ weit hinaus –, dann empfehle ich Ihnen
dringend, dem Konsens in der Republik über die Nach-
rangigkeit der Leistungen aus den Grundsicherungen
beizutreten.
Wir haben dafür gesorgt, dass das steuerlich freie
Existenzminimum erhöht wird und die Eingangssteuer-
sätze so gesenkt werden, dass heute eine Familie mit
zwei Kindern und einem Jahresbruttoeinkommen von
37 610 Euro im Ergebnis keine Einkommensteuer mehr
zahlt. Der Staat gibt 190 Milliarden Euro pro Jahr für die
Familienförderung aus. Mit rund 3 Prozent des Brutto-
inlandsproduktes investiert Deutschland weit mehr als
der OECD-Durchschnitt in die finanzielle Förderung
von Kindern und Familien, auch von den Familien, die
nicht über Erwerbseinkommen verfügen.
Die zentrale Frage lautet aber: Warum erreichen an-
dere Staaten wie zum Beispiel Frankreich und Schweden
mit etwa gleich hohen bzw. geringeren staatlichen Mit-
teln deutlich bessere Ergebnisse bei den konkreten An-
geboten und Hilfen für Kinder und Familien? Deshalb
meine ich, dass der Schwerpunkt der Bekämpfung der
Armut und der Benachteiligungen – davon bin ich über-
zeugt – in der offensiven Förderung der Teilhabe der El-
tern auf dem Arbeitsmarkt, in der Qualifizierung und in
der Förderung gleicher Bildungschancen sowie indivi-
dueller Förderung von Anfang an liegt.
Armut darf sich nicht weitervererben. In der Tat müs-
sen dem Staat alle Kinder gleich viel wert sein.
Dazu liefert Ihr Antrag nicht einen einzigen Vorschlag.
Helfen Sie auch mit Blick auf die Maßnahmen gegen die
Folgen der drohenden Rezession mit, dass wir in einer
Gemeinschaftsaktion – das ist wichtig – von Bund, Län-
dern und Kommunen kostenlose Kinderbetreuung und
Ganztagsschulen inklusive kostenfreier gesunder Mahl-
zeiten flächendeckend verwirklichen. Helfen Sie mit,
dass die Früherkennung von Problemlagen, der Schutz
vor Verwahrlosung, der Sprachunterricht für Migranten-
kinder, die Integration von Kindern mit Behinderungen
in den Regeleinrichtungen unseres öffentlichen Bil-
dungs- und Betreuungssystems von der Ausnahme zur
Regel werden und dass die Bildungs- und Entwick-
lungschancen aller Kinder in Deutschland nicht länger
durch den Streit über Kompetenzen und durch das Hin-
und Herschieben der Finanzverantwortung zwischen
staatlichen Ebenen und gesellschaftlichen Akteuren ver-
spielt werden. Das würde den Kindern in armen Fami-
lien wirklich helfen, und das wäre um ein Vielfaches
wirksamer, Herr Ernst, als Ihr irreführender, effekthei-
schender Antrag, den der Ausschuss deshalb – mit Aus-
nahme der Mitglieder Ihrer eigenen Fraktion – zur
Ablehnung empfiehlt. Nicht überall, wo soziale Gerech-
tigkeit draufsteht, ist soziale Gerechtigkeit drin.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Linken nutzen solche Anträge
gern – das ist jetzt schon mehrfach angesprochen wor-
den –, um populistisch darzustellen, sie seien die Einzi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20775
(C)
(D)
Miriam Gruß
gen, die Kinderarmut verstanden haben, sie seien die
Einzigen, die etwas für die Kinder und gegen die Armut
tun. Ich will an dieser Stelle, weil natürlich ganz viele
Zuschauer nicht nur hier im Bundestag, sondern auch an
den Fernsehbildschirmen die Debatte verfolgen, darauf
hinweisen, dass allen Fraktionen die Bekämpfung von
Kinderarmut sehr am Herzen liegt. Wir haben schon
mehrere Debatten darüber geführt. Nicht nur die Linke
sorgt dafür, dass Kinderarmut reduziert wird, sondern
alle Parteien sind aufgerufen und daran beteiligt, etwas
gegen Kinderarmut zu tun.
Kinderarmut ist schrecklich. Kinder, die arm sind, lei-
den in vielfältiger Art und Weise. Ich will den Menschen
draußen sagen: Das haben alle Fraktionen hier verstan-
den, nicht nur die Linke. Es ist billig, wenn hier so ein
Antrag vorgelegt wird, nur um zu zeigen: Wir Linken
sind die Tollsten, und wir sind diejenigen, die für soziale
Gerechtigkeit sind.
Denn Sie haben ein ganz anderes Grundverständnis
davon, wie man die Probleme lösen sollte.
Ihr Grundverständnis folgt folgendem Grundsatz: Zu-
erst nehmen wir den Menschen das Geld weg, schicken
es durch eine gigantische Umverteilungsmaschinerie
und geben es dann großgönnerhaft aus.
Das ist eine Masche, die unseres Erachtens überhaupt
nicht funktioniert und nicht trägt, weil sie zulasten der
Familien geht. Warum belässt man das Geld nicht von
vornherein bei den Familien, statt es ihnen erst wegzu-
nehmen und es dann auszugeben?
An dieser Stelle muss ich ein bisschen Wasser in den
Wein der Großen Koalition gießen. Fakt ist: Die Kinder-
armut hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Erhö-
hung des Kindergeldes um 10 Euro ist in der Tat kein
großes Meisterstück;
in der Debatte über das Familienleistungsgesetz wurde
das vorhin schon angesprochen.
Frau Kollegin Gruß, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst von der Fraktion Die Linke?
Bitte.
Bitte, Herr Ernst.
Werte Frau Gruß, weil Sie gerade gesagt haben, wir
würden den Menschen Geld wegnehmen, möchte ich Sie
fragen: Ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass wir
die Einführung eines Mindestlohns befürworten, weil
wir den Menschen mehr Geld geben wollen, und dass
die FDP dagegen ist? Das ist exakt das Gegenteil von
dem, was Sie hier behaupten.
Zweitens. Ist Ihnen weiter entgangen, dass nach unse-
ren Plänen auch die Menschen, die Arbeitslosengeld II
beziehen, monatlich 10 Euro mehr Kindergeld bekom-
men würden, dass nach unserem Modell also auch dieser
Personenkreis nicht weniger, sondern mehr Geld erhal-
ten würde?
Wir kümmern uns darum, dass die Menschen mehr Geld
zur Verfügung haben, nicht weniger. Dafür zu sorgen,
dass sie weniger haben, ist Ihr Job.
Sehr geehrter Herr Ernst, Sie haben nicht verstanden,
was ich gesagt habe. Genau darum geht es doch. Um et-
was finanzieren zu können, braucht man erst einmal
Geld. Drucken wir im Bundestag neuerdings Geld-
scheine? Die arbeitende Bevölkerung muss dieses Geld
erst einmal verdienen und einen Teil davon abgeben.
Erst dann können wir etwas davon ausgeben. Wo kommt
denn das Geld, das Sie ausgeben wollen, her?
Ich erinnere an dieser Stelle an die Debatte im Fami-
lienausschuss. Die Linken haben einen Antrag einge-
bracht, der Forderungen enthielt, deren Umsetzung
9 Milliarden Euro gekostet hätte. Woher kommt dieses
Geld? Es kommt von den Leuten, die arbeiten gehen.
Denen müssen Sie es erst einmal wegnehmen, damit Sie
es dann verteilen können. Damit ist Ihre Frage beantwor-
tet.
Eines möchte ich ganz klar festhalten – hier haben wir
einen Dissens; an dieser Stelle werden wir auch nie einer
Meinung sein –: Wir sind gegen den Mindestlohn. Wir
verstehen Ihre Argumentation bei diesem Thema über-
haupt nicht. Auch wenn Sie immer wieder versuchen,
sich so darzustellen, sind Sie keine Gutmenschen.
Zurück zum Grundsätzlichen. Kinderarmut ist ein
Thema, das uns alle angeht. Seitdem die Große Koalition
regiert, hat die Kinderarmut zugenommen. Auf diesem
Gebiet müssen Sie Ihre Hausaufgaben also noch erledi-
gen. Das Familienleistungsgesetz, das Sie heute vorge-
legt haben, ist nicht unbedingt geeignet, die Kinderarmut
zu reduzieren. Anerkennenderweise muss ich allerdings
sagen: Es ist damit ein Schritt in die richtige Richtung
gemacht worden.
20776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Miriam Gruß
Wir müssen uns überlegen, wie die Kinderarmut zu be-
kämpfen ist. Der Ausbau der Kinderbetreuung war ein
wichtiger und richtiger Schritt. Dafür hat sich die FDP-
Fraktion immer ausgesprochen.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherzu-
stellen, ist das Mittel schlechthin, um den Menschen zu
ermöglichen, aus der Armut herauszukommen, und um
Alleinerziehenden, insbesondere Frauen, die arbeiten
wollen, zu ermöglichen, sich einzubringen.
Deswegen war dies ein richtiger Schritt.
Die FDP ist die Fraktion, die den Familien vertraut
und ihnen ihr Geld lassen will.
Die Familien wissen selbst, wofür sie ihr Geld am besten
ausgeben. Wir wollen es ihnen nicht erst wegnehmen,
durch eine gigantische Umverteilungsmaschinerie schi-
cken und es dann großgönnerhaft ausgeben. Wir haben
das familienfreundlichste Steuerkonzept, mit einfachen,
niedrigen und gerechten Steuersätzen.
Wir fordern darüber hinaus das liberale Bürgergeld, das
für die Einkommen, die nicht von Steuervorteilen profi-
tieren würden, eine unbürokratische Grundsicherung
vorsieht. Damit haben wir das familienfreundlichste
Konzept zur wirklichen Bekämpfung der Kinderarmut.
Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Uns liegen alle Kinder am Herzen, vor allem aber
diejenigen, deren Eltern wenig Geld zur Verfügung ha-
ben.
Deshalb haben wir Schwung in die Familienpolitik ge-
bracht:
mit dem Kindergeld, dem Kinderzuschlag, dem Eltern-
geld, vor allem mit dem Sockelbetrag in Höhe von
300 Euro für jedes Kind, mit der Verdreifachung der
Zahl der Kinderbetreuungsplätze und der besseren Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf.
Unser Motto ist: Taten statt Worte.
Der Antrag der Linken hingegen zeichnet sich wie-
derum durch etwas aus, bei dem Sie wirklich in der
Champions League spielen: durch das Aufstellen von
Forderungen. Bei der Durchsetzung und Erfüllung von
Forderungen stehen Sie aber in der Kreisliga auf einem
Abstiegsplatz.
Ich möchte noch einmal das Beispiel nennen, das
Kollegin Fischbach schon angesprochen hat. Dort, wo
Sie Verantwortung tragen, beispielsweise in Berlin, sind
die Leistungen für die Familien nicht erhöht worden. Im
Gegenteil: Ich lese beispielsweise, dass die Hilfen für
die Erziehung in Kinder- und Jugendeinrichtungen um
160 Millionen Euro gekürzt worden sind. 140 Jugend-
einrichtungen sind gar geschlossen worden.
Auch beim Kita-Personal wurde drastisch gespart. Da-
mit gewinnt man keine Glaubwürdigkeit. Man sollte Sie
an Ihren Taten messen, nicht an Ihren Worten.
Ich komme zum Kindergeld. Die Kindergeldleistun-
gen, die nun erhöht werden, sind nicht, wie behauptet
wurde, nur Peanuts. 120 Euro, 240 Euro, 432 Euro oder
624 Euro im Monat – je nach Kinderzahl – sind für die El-
tern nämlich von Bedeutung. Ohne das Kindergeld – das
darf ich an dieser Stelle sagen – wären rund 1,7 Millio-
nen Kinder arm oder armutsgefährdet. Wir verhindern
das mit dem Kindergeld.
Zum Kinderzuschlag. Mit Erhöhung des Kinderzu-
schlags haben wir 250 000 Kinder in einem Jahr aus der
statistischen Armut herausgeholt. Im Zusammenhang
mit dem Kinderzuschlag möchte ich sagen: Wir differen-
zieren sehr genau; denn diejenigen, die es brauchen, die
es vielleicht mehr brauchen als jemand, der mehr hat, er-
halten durch den Kinderzuschlag im Schnitt 206 Euro
bis 280 Euro im Monat. Das Kindergeld für das erste
Kind ist sonst deutlich niedriger. Das ist gerecht und dif-
ferenziert, weil derjenige, der es braucht, mehr be-
kommt.
Wir haben das Elterngeld erhöht. Das Elterngeld be-
trägt mindestens 300 Euro monatlich. Hinzu kommt das
jetzt erhöhte Kindergeld. Das ergibt 464 Euro monatlich
für die ersten zwölf Monate für das erste Kind. Da kann
man doch nicht sagen: Das ist nichts. Man kann immer
noch mehr fordern; aber wir leisten schon viel.
Wir haben die Kinderbetreuung ausgebaut. Das ist
wichtig, Frau Kollegin Gruß – da haben Sie recht –, weil
wir damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ent-
scheidend fördern. Die Vereinbarkeit von Familie und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20777
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(D)
Johannes Singhammer
Beruf ist ein wichtiger Weg, Arbeitslosigkeit und damit
auch die Armut von Kindern zu vermeiden.
– Herr Kollege, keine Angst, denn es kommt noch ein
Punkt: Wir haben gemeinsam auch das Betreuungsgeld
beschlossen. Wir sind nämlich nicht nur für einen Korri-
dor der Lebensmodelle und Lebensplanungen zuständig,
sondern für eine große Bandbreite. Wir wollen auch den-
jenigen, die sich dazu entschieden haben, sich für eine
bestimmte Zeit oder dauerhaft der Kindererziehung zu
widmen und nicht dem Beruf nachzugehen, einen Aus-
gleich geben. Deshalb haben wir das Betreuungsgeld be-
schlossen: unter dem Gesichtspunkt der Garantie von
Wahlfreiheit.
Der entscheidende Punkt, der wirklich hilft, die Kin-
derarmut zu bekämpfen, ist aber, die Armut der Eltern zu
verringern.
Die Verringerung der Armut der Eltern – das ist die Wur-
zelbehandlung – erreicht man durch eine Verringerung
der Arbeitslosigkeit. Wir haben in den vergangenen drei
Jahren in der Großen Koalition 1,5 Millionen Menschen
mehr in Erwerbstätigkeit gebracht, und zwar die aller-
meisten davon in eine sozialversicherungspflichtige Er-
werbstätigkeit.
Wir haben 2,5 Millionen weniger Arbeitslose als zuvor.
Selbstverständlich wirkt sich das auch auf die Kinder
aus.
Ich darf Ihnen beispielhaft zwei Zahlen nennen: Die
Zahl der Kinder, deren Eltern Hartz IV beziehen, hat
sich allein im Vergleich zwischen November 2008 und
November 2007 um 6,8 Prozent verringert. Das ist echte
Hilfe, wenn es darum geht, Armut zu bekämpfen. Auf
dem Weg machen wir weiter.
Eine zweite Zahl: Die Zahl der Bezieher einer Kinder-
komponente unter den Beziehern von Lohnersatzleistun-
gen ist – das ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie es um
die Bekämpfung der Armut von Vätern und Müttern,
aber auch von Kindern steht – von 1,127 Millionen im
Jahr 2005 auf 647 000 im Jahr 2007 gesunken. Das besa-
gen Zahlen, die uns neuerdings vorliegen. Auch das
spricht eine ganz klare Sprache: Wir bekämpfen Kinder-
armut.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diesen Weg
werden wir weiter beschreiten. Wir werden Arbeits-
plätze schaffen. Wir werden Eltern, Vätern und Müttern,
zu einem Arbeitsplatz verhelfen. Wir wissen, dass damit
auch für die Kinder das Bestmögliche getan ist.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kindergelderhöhung
sofort auch bei Hartz IV wirksam machen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11240, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/10616 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen al-
ler übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatz-
punkte 3 und 4 auf:
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Wolfgang Bosbach, Norbert Barthle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dagmar
Freitag, Dr. Peter Danckert, Martin Gerster, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesellschaftliche Bedeutung des Sports
– Drucksache 16/11217 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Joachim Günther , Miriam Gruß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Positive Auswirkungen des Sports auf die Ge-
sellschaft nutzen und weiter fördern
– Drucksache 16/11174 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen für eine moderne und zukunfts-
fähige Sportpolitik auf den Weg bringen
– Drucksache 16/11199 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
20778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Klaus Riegert von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Morgen
ist der Tag des Ehrenamtes, der von den UN 1985 dekla-
rierte Volunteer Day. Dieser Tag würdigt den ehrenamtli-
chen Einsatz und das Engagement aller Freiwilligen
weltweit. Für ihren Einsatz wollen wir allen bürger-
schaftlich Engagierten ein herzliches Dankeschön sagen.
In Deutschland engagieren sich mehr als 23 Millionen
Menschen ehrenamtlich. Ohne die Leistungen der Frei-
willigen in vielen Bereichen wie Soziales, Kultur, Ge-
sundheit, Bildung, Umwelt-, Katastrophen- oder Verbrau-
cherschutz und natürlich Sport wäre gesellschaftliches
Leben nicht denkbar. Über 2,7 Millionen Menschen en-
gagieren sich in den Sportvereinen, leisten 500 Millio-
nen Stunden ehrenamtliche Arbeit und übernehmen ge-
sellschaftliche Aufgaben, die der Staat so nicht leisten
könnte.
Diese Bereitschaft ist nicht selbstverständlich, son-
dern muss gepflegt werden. Für dieses Engagement ge-
bührt den ehrenamtlich Tätigen besonderer Dank, Aner-
kennung und Unterstützung –
Unterstützung, indem wir die Rahmenbedingungen für
unsere Engagierten ständig verbessern. So haben wir ne-
ben der Verbesserung des Versicherungsschutzes mit den
„Hilfen für Helfer“ die Übungsleiterpauschale erhöht,
die kleine Übungsleiterpauschale für Vereinsvorstände
eingeführt und die Vereinsfreigrenzen angehoben. Diese
Große Koalition setzt nun eine gesetzliche Begrenzung
der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen
durch.
Sport bringt Lebensfreude, schafft Lebensqualität;
Sport fasziniert. Millionen von Bürgerinnen und Bürgern
nehmen in vielfältiger Weise aktiv am Sportgeschehen
teil. Heute Morgen war ich einer von ihnen: 3 000-Me-
ter-Lauf und 200 Meter Schwimmen fürs Sportabzei-
chen.
– Ich war erfolgreich, jawohl.
Ich möchte mich bei allen Frauen und Männern, die bun-
desweit das Sportabzeichen abnehmen, ganz herzlich be-
danken.
In vielen Bereichen, zum Beispiel Integration, Ge-
sundheit, Bildung, Erziehung, nationale Repräsentanz
und internationale Verständigung, ist der Sport ein wich-
tiges und unverzichtbares Mittel.
Mit ihren gewachsenen Strukturen leisten die unter dem
Dach des DOSB vereinten Sportorganisationen und -ver-
eine somit einen bedeutenden Beitrag für unsere Gesell-
schaft.
Hier sehe ich ein Alleinstellungsmerkmal des organisier-
ten Sports mit den sozialen Funktionen und dem bürger-
schaftlichen Engagement: die Gemeinwohlorientierung.
Dafür sage ich dem ehrenamtlichen Präsidium des
DOSB herzlichen Dank, das auf dem Weg nach Rostock
heute extra angereist ist,
aber auch allen Mitarbeitern in Frankfurt und dem
DOSB insgesamt.
Durch Sport überwinden Menschen Sprachbarrieren.
Sport erleichtert die Verständigung von Menschen unter-
schiedlicher Nationalitäten und Kulturen. Beim Sport
sind Leistung und Teamgeist, nicht Herkunft oder Haut-
farbe entscheidend. DOSB-Präsident Thomas Bach hat
einmal gesagt – ich zitiere –:
Sport ist nicht Mittel zur Integration, Sport ist Inte-
gration.
Das Projekt „Integration durch Sport“ hat sich als wich-
tiges und wirkungsvolles Instrument erwiesen. Es führt
junge Menschen, die als Aussiedler oder Ausländer zu
uns gekommen sind, und Menschen mit Migrationshin-
tergrund in den Sport. Neben seiner integrativen Kraft
leistet es nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Sichtung
möglicher Talente.
Allerdings hat auch der Sport als Spiegelbild der Ge-
sellschaft Probleme. Gewalt im Sport, Doping und Ma-
nipulation bedrohen das Fundament der Sportlandschaft
und bedürfen der konsequenten Bekämpfung. Allerdings
kann sich diese Bekämpfung nicht an den populistischen
Anträgen der Grünen orientieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20779
(C)
(D)
Klaus Riegert
Ihre Anträge zeugen vielmehr von pauschaler Diskrimi-
nierung zulasten des Sports. Als emotionale Antwort auf
positive Dopingproben bei den Profirennställen im Rad-
sport sind Mittelkürzungen pädagogisch nicht gerecht-
fertigt. Die Grünen wollten beim Radsport als Warn-
schuss für den gesamten Sport ein Exempel statuieren.
Für Mittelstreichungen oder -sperrungen braucht es aber
ein konkretes schwerwiegendes Fehlverhalten eines Ver-
bandes und klare Bedingungen für die Zukunft.
Dazu kam von Ihnen gar nichts.
Ihr neuer Antrag ist auch nicht besser. Ich frage mich,
wo Ihre tollen Vorschläge waren, als Sie sieben Jahre an
der Regierung beteiligt waren. Vielleicht haben Sie auch
nur in der Opposition schlaue Einfälle. Dann sollte Ihre
Fraktion möglichst lange in dieser Funktion bleiben.
Da ich gerade dabei bin, lieber Detlef Parr:
Der Antrag der FDP stimmt in weiten Teilen inhaltlich
mit dem Koalitionsantrag überein. Also hätte sich die
FDP einen Ruck geben und unseren Antrag direkt unter-
stützen können.
Menschen, die Sport treiben, tun das oft in Vereinen.
So unterstützt der Sport etwas, das in den vor uns liegen-
den Jahrzehnten für unsere Gesellschaft von grundlegen-
der Bedeutung sein wird: den Zusammenschluss und das
Zusammenwirken von Menschen. Die Gesellschaft muss
noch stärker als bisher auf den Individuen, den Bürgern
und den von ihnen gebildeten Vereinigungen, Verbänden
und Stiftungen ruhen. Für den Sport heißt das: Wir brau-
chen einen starken und unabhängigen DOSB mit seinen
Landessportbünden und Fachverbänden. Auch wenn
sich manche in der Politik damit schwertun: Dafür
braucht man die Autonomie des Sports. Diese darf nicht
angetastet werden.
Lassen Sie mich noch einige Schlaglichter setzen.
Sportvereine sind wohnortnah, kostengünstig und bun-
desweit flächendeckend. Der organisierte Sport sorgt für
Spiel- und Wettkampfbetrieb insbesondere bei Kindern
und Jugendlichen. Das macht den Unterschied zu freiem
oder kommerzialisiertem Sport aus. Die älter werdende
Gesellschaft verbindet Sport und Bewegung mit eigenen
Wünschen und Erwartungen und benötigt entsprechend
neue Sporträume. Intakte Sportstätten und eine Sport-
infrastruktur, die die Vielfalt der Sportarten ermögli-
chen, sind unabdingbare Voraussetzungen für ein reges
Sporttreiben in der Breite und in der Spitze.
Wir sagen Ja zu Behindertensport in Breite und
Spitze.
Die Möglichkeiten und Anreize für Menschen mit Be-
hinderungen, Sport zu treiben, müssen erweitert werden.
Der ungehinderte und barrierefreie Zugang zu Sportstät-
ten und deren Nutzung müssen gewährleistet sein. Sport-
vereine sollen sich für die Integration behinderter Sport-
ler verstärkt öffnen.
Wir sehen diese Debatte als Auftakt und Unterstüt-
zung der DOSB-Mitgliederversammlung, die am Wo-
chenende in Rostock stattfindet. Wir achten die Autono-
mie des Sports und wollen mit den Sportorganisationen
auch weiterhin partnerschaftlich und gut zusammenar-
beiten.
Danke schön.
Als Nächster redet der Kollege Detlef Parr für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es sollte eine längere Generaldebatte unter Beteiligung
der Fraktionsspitzen in der Kernzeit werden. Wir, die
FDP – auch unser Fraktionsvorsitzender Guido
Westerwelle –, waren dazu bereit.
Von der Kernzeit sind wir weit entfernt. Das Thema
Sport ist wieder „unter ferner liefen“ gelandet. Das wird
über 27 Millionen Mitgliedern in unseren Sportvereinen
und Millionen ungebundener Freizeitsportler nicht ge-
recht, genauso wenig wie die öffentlich hochgezogene
Skandalisierung von Missständen im Sport, die niemand
schönreden sollte, die aber das Wesen des Sports in sei-
ner Gesamtheit und Vielfalt mehr und mehr diskreditiert.
Gerade deshalb ist es gut, liebe Dagmar, dass das Parla-
ment heute die gesellschaftliche Bedeutung des Sports,
seinen Stellenwert in der Gesellschaft und seine Auswir-
kungen öffentlich würdigt.
Was ist Sport? Sport ist Freude an der Bewegung.
Sport ist Freude an einer individuellen Leistung, ob im
Spitzen- oder im Breitensport. Sport ist Freude am Wett-
bewerb, am vergleichenden, fairen Messen der Kräfte
und der Geschicklichkeit. Sport ist Freude an der Teil-
habe und der Gestaltung des Vereinslebens. Sport fördert
die Mitmenschlichkeit und den Gemeinsinn.
20780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Detlef Parr
Wenn ich den Antrag der Grünen lese, dann wird mir
eines klar: Die Grünen stehen für eine freudlose Gesell-
schaft.
Verkniffen stellen Sie in allen Bereichen des Sports Ver-
säumnisse fest: fehlende Effizienz, falsche Weichenstel-
lungen, kaum Akzente. Richtungweisende Beiträge zu
einer nachhaltigen Sportentwicklung sind nach Ihrer
Meinung nicht erkennbar. Klaus Riegert hat schon auf
die sieben Jahre Regierungsverantwortung in der Ver-
gangenheit hingewiesen. In Ihrem Antrag – Fehlanzeige.
Eine Erfolgsbilanz können Sie, lieber Kollege Hermann,
nicht vorlegen. Dir grünen Kassandrarufe bemerkt der
Alltagssportler nicht. Millionen erlauben es sich, weiter-
hin Freude an Sport, Spiel und Bewegung zu haben.
Das ist die Grundstimmung in der Sportfamilie. Die-
ser Stimmung sollten wir Sportpolitiker Rechnung tra-
gen, zum Beispiel durch die Anerkennung des Sports als
Staatsziel.
Wenn er in 15 Bundesländern Verfassungsrang hat, dann
gehört er auch ins Grundgesetz.
Die FDP-Fraktion hat einen Gesetzentwurf erarbeitet
und beschlossen. Ich freue mich, dass auch die Koali-
tionsfraktionen in ihrem Antrag eine Absichtserklärung
abgeben. Das lässt für die Zukunft hoffen.
Ich freue mich auch, dass entgegen mancher öffentli-
chen Auseinandersetzung Union und SPD jetzt geschlos-
sen die Leistungen des unter dem Dach des DOSB ver-
einten organisierten Sports ausdrücklich anerkennen.
Wie oft ist die FDP als Handlanger der Sportorganisatio-
nen beschimpft worden!
Es tut gut, dass wir wieder gemeinsam für die Autono-
mie des Sports eintreten und den Schulterschluss zeigen,
der in früheren Legislaturperioden für die Sportpolitiker
in diesem Hause selbstverständlich war.
Die FDP unterstützt das damit verbundene Bekennt-
nis zum Subsidiaritätsprinzip nachdrücklich. Wir teilen
auch die im Antrag der Großen Koalition zum Ausdruck
kommende Sorge um die Stabilität der Sportförderung.
Es wird zu Recht dazu aufgerufen, durch Kooperation
von Bund, Ländern und Gemeinden mit Wirtschaft und
Medien ergänzende Finanzierungsquellen zu erschlie-
ßen.
Fast verschämt wird im europäischen Zusammenhang
auch die Frage der Finanzierungssicherung des Spitzen-
und Breitensports durch Einnahmen aus Lotterien und
Glücksspielen angesprochen.
An dieser Stelle muss ich sehr viel deutlicher werden,
lieber Herr Kollege Danckert: Der neue Glücksspiel-
staatsvertrag ist eine Missgeburt. Wenn man sieht, dass
Günther Jauchs SKL-Show wegen Suchtgefährdung aus
dem Fernsehprogramm gestrichen wird und die Umsätze
des Landes Sachsen – um nur dieses Beispiel zu bringen –
allein im ersten Quartal 2008 bei den Spielbanken um
40 Prozent, bei Oddset und bei schnellen Spielen wie
Keno und Plus 5 um 44 Prozent und beim klassischen
Lottospiel um 14 Prozent gesunken sind, dann erweist
sich dieser Vertrag als riesiges Verlustgeschäft, das
durch den geringen Gewinn bei der Suchtbekämpfung
nicht annähernd aufgewogen wird.
Die Rechnung bezahlen die Sportvereine und Sport-
verbände sowie andere dem Gemeinwohl verbundene
Organisationen wie Günther Jauchs Klassenlotterie, die
Aktion Mensch oder die Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung. Der DOSB
macht bereits ein strukturelles Defizit in Höhe von
1,5 Millionen bis 2 Millionen Euro aus.
Deshalb müssen wir diese tickende Zeitbombe dringend
entschärfen. Die nach vier Jahren ohnehin vertraglich
festgelegte Evaluation muss bereits nach den Erfahrun-
gen des ersten Jahres Anfang 2009 erfolgen und zu einer
Neuordnung führen, gemeinsam mit den Unternehmen
des Deutschen Lotto- und Totoblocks, den Bundeslän-
dern, den Sportvereinen und -verbänden sowie den Un-
ternehmen aus der Sportwettenbranche.
Die Grenzen der Fördermöglichkeiten der öffentli-
chen Hand, die die Große Koalition in ihrem Antrag an-
spricht, machen das privatwirtschaftliche Engagement
im Sport unabdingbar. Ohne Sponsoring wäre vieles im
Sport nicht möglich. Private Sponsoren unterstützen den
Breiten- und Leistungssport mit 2,7 Milliarden Euro im
laufenden Jahr. Diese Summe ist kein Pappenstiel. Ge-
rade deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Privat-
wirtschaft auch in Zukunft Rahmenbedingungen vorfin-
det, um dieses einmalige Engagement ungeschmälert
aufrechterhalten zu können.
Mit Sorge beobachte ich dabei die aktuellen Diskus-
sionen. Wir scheinen nach der Diskussion über das Rauch-
verbot langsam in eine Verbots- und Gebotsrepublik hi-
neinzuschliddern. Staatliche Überreglementierung sowie
die Diskussionen über Werbeverbote in den Medien, den
Internetzugang und Verkaufsverbote prägen die Debatte.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Ak-
tionspläne zur Tabak- und Alkoholprävention der Dro-
genbeauftragten der Bundesregierung. Einen Staat als
Super Nanny brauchen wir nicht. Er darf die Menschen
nicht in ihrem Privatbereich bevormunden und ihre
Wahlfreiheiten und ihren Lebensstil einschränken. Auf-
klärung in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und ziel-
gruppenspezifische Prävention erreichen viel mehr. Dies
umfasst auch Selbstverpflichtungen im Bereich des Kin-
der- und Jugendschutzes. Allein ein solcher Weg sichert
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20781
(C)
(D)
Detlef Parr
die Möglichkeiten des Sponsorings und damit die Förde-
rung des Sports.
Eines hat mich bei der Lektüre der Anträge der ande-
ren Fraktionen fast vom Stuhl gehauen. Den Sport für
Menschen mit Behinderung sucht man vergebens. Er
taucht nur kurz in den Forderungskatalogen auf.
Sie verweisen gerne auf internationale Vereinbarungen.
Warum dann nicht auf die UN-Konvention für Men-
schen mit Behinderung 2006, über die wir gestern im
Sportausschuss gesprochen haben? Dort ist der Sport als
wichtiges Medium von Integration und Teilhabe defi-
niert, Sport als zentraler Baustein im Leben von Men-
schen mit Behinderung. Er ist damit zentraler Baustein
der allgemeinen Sportentwicklung in unserem Land. Das
haben auch unsere Medien erkannt. Von den Paralym-
pics ist noch nie so viel berichtet worden. Bewunderns-
wert positive Vorbilder für den Umgang mit körperli-
chen Handicaps haben eine breite Öffentlichkeit erreicht.
Der deutsche Behindertensport hat den Weg in die Mitte
unserer Gesellschaft gefunden, genauso wie der Sport
von Menschen mit geistiger Behinderung.
Als Vizepräsident von Special Olympics Deutschland
habe ich oft erlebt, wie diese Sportlerinnen und Sportler
gestärkt aus Sportveranstaltungen herausgehen, auch aus
gemeinsamen Wettkämpfen mit nichtbehinderten Sport-
lerinnen und Sportlern. Ich möchte hier die Deutsche
Behinderten-Sportjugend besonders herausstellen. Ihr ist
zu wünschen, dass ihre jahrelangen Bemühungen um ge-
meinsame Bundesjugendspiele endlich zum Erfolg füh-
ren, als weiteres Beispiel für die Integrationskraft des
Sports.
Ich komme zum Schluss. Lieber Klaus Riegert, die
Anträge gehen jetzt zur Beratung in die Ausschüsse. Die
FDP möchte gern den Versuch machen, die Anträge zu
einem Antrag zusammenzuführen, und damit verdeutli-
chen: Der Bundestag vertritt geschlossen das Ziel, ver-
lässlicher und zugleich kritischer Partner des Sports zu
sein. Ich freue mich und hoffe auf einen konstruktiven
Dialog und die Bereitschaft, einen gemeinsamen Antrag
in der zweiten Lesung in diesem Hohen Hause zu verab-
schieden.
Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Peter Danckert spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ich freue mich, vor Ihnen reden zu
dürfen, da Sie stellvertretendes Mitglied unseres Sport-
ausschusses sind und uns damit in besonderer Weise ver-
bunden sind.
Es ist in der Tat so, dass die Debatte über die gesell-
schaftliche Bedeutung des Sports überfällig war. Ich
stimme ausnahmsweise Detlef Parr zu:
Wir alle hätten uns gewünscht, dass das Thema in der
Kernzeit behandelt wird. Wir müssen aber mit Respekt
zur Kenntnis nehmen, dass es in diesen Tagen in
Deutschland und in Europa wichtigere Sachen gibt.
Dann muss man auch einmal bereit sein, zurückzuste-
cken. Ich glaube, die Regierungserklärung der Frau Bun-
deskanzlerin war heute wichtiger, als zur Kernzeit eine
Debatte über den Sport zu führen.
Wir werden unsere Aufgabe wahrnehmen, und ich
sage an dieser Stelle: Ich freue mich sehr, dass das Präsi-
dium des Deutschen Olympischen Sportbundes seine
Präsidiumssitzung von Rostock-Warnemünde nach Ber-
lin verlegt hat. Es hat heute getagt und eine Pressekonfe-
renz abgehalten, wie ich gerade gehört habe. Nun er-
weist es uns hier Reverenz, wenn ich das einmal so
überzeichnet ausdrücken darf. Ich denke, das ist ein be-
deutsamer Vorgang. Ich kann mich nicht daran erinnern,
dass ein Präsidium in dieser stattlichen Zahl jemals eine
Sportdebatte im Deutschen Bundestag verfolgt hat. Ich
glaube, wir sind da auf einem guten Wege.
Detlef Parr hat es so ausgedrückt: Wir sind solidari-
scher und kritischer Partner des Sports. – Wir sind ein
solidarischer Partner – das versteht sich eigentlich von
selbst –, weil wir alle im Interesse des Sports agieren,
und zwar jeder an seiner Stelle. Deshalb ist es notwen-
dig, dass der DOSB, der häufig in der Kritik von diesen
oder jenen steht, weiß, dass wir ein verlässlicher Partner
sind. Wir erkennen die Rolle des DOSB an. Deshalb darf
ich auch, bezogen auf den schriftlichen Bericht des
DOSB, der jetzt allen vorliegt und den ich fleißig stu-
diert habe, sagen, dass ich mich sehr darüber gefreut
habe, dass der DOSB in diesem Bericht in allen Passa-
gen die Rolle des deutschen Parlaments, insbesondere
des Sportausschusses, so eingehend gewürdigt hat. Das
sehe ich als ein gutes, positives Zeichen an, weil wir da-
durch das Gefühl haben, dass die Arbeit, die wir hier im
Interesse des Sports machen, auch von den Sportfunktio-
nären anerkannt wird.
Es sei mir allerdings erlaubt, an dieser Stelle einen
kleinen Hinweis zu geben. Es findet sich eine Passage
zur Novellierung des Arzneimittelgesetzes in dem Be-
richt. Wenn dort zu lesen ist, dass diese auf Anregung
des DOSB erfolgt ist, dann ist das, mit Verlaub gesagt,
eine Verkennung der historischen Entwicklung.
Es ist das Verdienst von Klaus Riegert und seinen Man-
nen in der AG Sport der CDU/CSU und von Dagmar
Freitag, die sich zusammengefunden haben und die zum
Teil gegen den Widerstand des einen oder anderen von
der Regierung einen vernünftigen Beschluss zustande
gebracht haben, der dann umgesetzt worden ist und den
ich als guten Kompromiss bezeichne, wenn er aus mei-
20782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Peter Danckert
ner Sicht auch nicht weit genug gegangen ist; aber Kom-
promisse haben es an sich, dass nicht alle Wünsche er-
füllt werden. Aber dass dies auf Anregung des DOSB
geschehen sei, der eigentlich, wenn ich das richtig in Er-
innerung habe, bis weit über Mitternacht hinaus an die-
sem Tag versucht hat, diesen Kompromiss noch zu ver-
hindern, ist nicht richtig. Wir sollten in dieser Beziehung
fair miteinander umgehen. Das gehört zu dem Regel-
werk im beiderseitigen Umgang.
Eine Initiative unseres Ausschusses war erfolgreich.
Alles das, was im Bereich des Sports, jedenfalls des
Spitzensports – dafür sind wir ja zuständig –, passiert –
Herr Staatssekretär Bergner, Sie haben das inzwischen
total verinnerlicht; darüber bin ich sehr froh –, geschieht
aufgrund eines Beschlusses des Parlaments. In Vollzug
des Beschlusses des Haushaltsausschusses hat das Parla-
ment beschlossen, dass bei jeder Förderung, also auch
bei der Sportförderung, angemerkt werden muss, dass
sie aufgrund eines Beschlusses des Parlaments erfolgt.
Ich darf den Berichtsverfassern Dank sagen, dass aus-
drücklich hervorgehoben worden ist, dass dem DOSB
und seinen Gliederungen immerhin fast 230 Millionen
Euro aufgrund eines Beschlusses des Parlaments zur
Verfügung gestellt werden. Ich finde gut, dass das er-
wähnt worden ist; denn das zeigt, wo die Verantwortlich-
keiten an dieser Stelle sind.
Die Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft
– da hat Detlef Parr ganz recht: auch für Menschen mit
einer Behinderung, etwa mit einer geistigen Behinde-
rung – haben wir inzwischen auch dank der Verdienste
von Klaus Riegert, meinem Vorvorgänger Friedhelm Ju-
lius Beucher und vielen anderen so verinnerlicht,
dass wir sie nicht bei jeder Gelegenheit ausdrücklich be-
tonen müssen; im Forderungsteil dieses Antrags wird sie
beschrieben. An dieser Stelle gibt es – das ist allen
bekannt – übergreifende Verpflichtungen, die sich aus
der Rolle des Sports ergeben. Das ist gut und richtig so.
Auch was das Thema Gesundheit angeht, haben wir in-
zwischen begriffen, dass Sport eine ganz wesentliche
Rolle bei der Bekämpfung von Kosten im Gesundheits-
wesen spielt.
Ich komme jetzt auf den Spitzensport zu sprechen. Es
wäre im Sinne eines fairen Umgangs miteinander rich-
tig, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Meine per-
sönliche Kritik an der Bewertung der Ergebnisse von
Peking ist, dass ich nicht erkennen kann, dass wir wegen
zwei Goldmedaillen mehr in der Medaillenbilanz ein
vernünftiges Ziel erreicht haben. Ja, es ist gesagt wor-
den: Wir wollen mehr Goldmedaillen; wir wollen unse-
ren Platz in der Nationenwertung verbessern. – Diese
Bewertung geht aber nicht in die Tiefe, sondern be-
schränkt sich darauf, eine Zahl zu vergleichen. Ich finde,
wir müssen so miteinander umgehen, dass erkennbar ist,
dass die Probleme gesehen werden.
Im Sportausschuss sind gestern zwei sehr interessante
Bemerkungen gemacht worden. Die eine Bemerkung
war von Herrn Professor Mester, der gesagt hat – das
sind jetzt meine Worte –: Die Bilanz seit den Olympi-
schen Spielen in Barcelona ist desaströs, weil wir von
Mal zu Mal weniger Medaillen gewinnen. Wir haben in
Barcelona 82 Medaillen gewonnen und in Peking 41.
Darin kann man keinen positiven Trend sehen; auch die
Umkehrung eines Trends ist nicht erkennbar. Es war sehr
bemerkenswert, dass der für den Leistungssport zustän-
dige Sportdirektor das in der Debatte gestern bestätigt
hat. Er hat nämlich ausdrücklich gesagt: Es ist in der Tat
so, dass wir seit Barcelona einen Abwärtstrend zu ver-
zeichnen haben, den wir auch in Peking nicht haben auf-
halten können.
Auf diesen Feststellungen aufbauend, muss sich un-
sere Gesellschaft fragen, was für einen Spitzensport wir
eigentlich wollen. Meine Antwort darauf – übrigens
auch die der Bundeskanzlerin – lautet: Wir wollen einen
internationalen Spitzensport, der im Wettbewerb der füh-
renden Nationen der Welt bestehen kann. Das heißt für
uns Parlamentarier, dass wir bereit sein müssen, die Mit-
tel für den Spitzensport zu erhöhen. Das haben wir, das
Parlament, in den letzten Jahren getan. Ich füge an dieser
Stelle hinzu: Das ist zum Teil mit Unterstützung des Mi-
nisteriums geschehen. Es hat die Grundlagen gelegt, und
der Haushaltsausschuss, der Sportausschuss und das Par-
lament insgesamt haben noch etwas draufgesattelt. Die
Antwort, die wir geben müssen, lautet: Wir sind bereit,
mehr zu tun, ich sage: noch mehr zu tun.
Aber nun ist es auch an den Fachverbänden, sich um
ihre Hausarbeiten zu kümmern. Ich sehe an dieser Stelle
wenig Bewegung. Es kann nicht nur um Personalspiele
gehen, etwa darum, einen Bundestrainer zum Sportdi-
rektor zu machen; vielmehr müssen sich die Strukturen
im Sport verändern, damit wir in London bestehen kön-
nen. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. An dieser
Stelle haben einige noch sehr viel zu tun. Wir sind
bereit – das gilt auch für die nächsten Haushaltsjahre –,
alles zu tun, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Ein letztes Wort zu etwas, was mir ebenfalls am Her-
zen liegt. Die Entscheidung des Ad-hoc-Schiedsgerich-
tes, das sich zu dem Fall Busch konstituiert hat, ist wirk-
lich ein Trauerspiel. Es geht mir dabei nicht um die
Frage, ob Busch hätte gesperrt werden müssen oder
nicht. Er hatte es verdient, auch wenn es vielleicht nur
eine törichte Geschichte war. Aber dass die Übernahme
des NADA-Codes in das Regelwerk des Deutschen Eis-
hockey-Bundes nicht erfolgt ist und deshalb eine Sank-
tionierung des Verhaltens von Herrn Busch nicht erfol-
gen konnte, ist ein schlimmer Vorgang, zumal wir nach
dem Abschlussbericht der Taskforce „Doping“ seit dem
19. Dezember von diesen Mängeln wissen. Was ist ei-
gentlich an dieser Stelle geschehen? Ich möchte wissen,
wo die Versäumnisse liegen. Sie liegen sicherlich nicht
nur beim DOSB.
Ein allerletztes Wort zum Thema Doping. Es ist auch
eine Aufgabe des IOC, dafür zu sorgen, dass wir hier
weltweit einheitliche Standards haben. Es ist schön, dass
wir in Deutschland inzwischen ein sehr hohes Niveau im
Kampf gegen Doping erreicht haben. Das ist dem
DOSB, der NADA und diesem Haus zu verdanken, das
zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt hat. Aber das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20783
(C)
(D)
Dr. Peter Danckert
IOC muss darauf achten, dass es nicht immer wieder
Länder gibt, die sich diesem Reglement unterziehen und
nichts tun. Jamaika ist an dieser Stelle ein trauriges Bei-
spiel. – Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das
IOC kann sehr wohl etwas tun. Es könnte diejenigen
Länder von der Teilnahme an den Olympischen Spielen
ausschließen, die sich diesem Regelwerk und den ein-
deutigen WADA- und NADA-Codes entziehen. So wer-
den Sportler weltweit unterschiedlich behandelt; das be-
trifft auch unsere Sportler. Das IOC ist in der Lage und
hat auch die Macht dazu, entsprechend zu handeln. Des-
halb meine herzliche Bitte an jemanden, der hier anwe-
send ist und der an dieser Stelle Einfluss hat, etwas dafür
zu tun, dass es für die Sportler weltweit vergleichbare
Bedingungen gibt.
Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Als haushalts-
politische Sprecherin und – das sage ich an Ihre Adresse,
Herr Parr – stellvertretende Fraktionsvorsitzende der
Linken vertrete ich gern meine erkrankte Kollegin
Katrin Kunert. Mit Frau Dr. Sitte haben wir noch eine
zweite Stellvertreterin im Saal.
Ich habe die Anträge der Koalition, der FDP und der
Grünen sehr genau gelesen und war doch etwas irritiert,
dass in keinem der Anträge auch nur mit einem Neben-
satz auf die dramatischen Entwicklungen in der Welt und
in unserem Land eingegangen wurde. Wir erleben eine
Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, deren Auswirkungen
noch nicht abzuschätzen sind. Die Wirtschaftskrise be-
droht die Realwirtschaft. Viele Autokonzerne haben
schon Kurzarbeit angekündigt. Diese gravierende Krise
wird auch Auswirkungen auf das gesamte Leben der
Menschen haben, auch auf den Sport in unserem Land.
Darauf muss die Bundesregierung doch mit einem Maß-
nahmenpaket zur Sicherung des Leistungs- und Breiten-
sports reagieren.
Das Bankenrettungspaket hat Herr Ackermann ge-
schrieben. Doch wo, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, ist die Person, die jetzt ein Maßnah-
menpaket für den Sport formuliert? – Augenscheinlich
weder in der CDU/CSU noch in der SPD-Fraktion. Die
Koalition schreibt in ihrem Antrag:
Durch Kooperation mit Wirtschaft und Medien sol-
len ergänzende Finanzierungsquellen zur Förde-
rung von Breiten- und Spitzensport
erschlossen werden. – Ich weiß nicht, ob zum Beispiel
der notleidende Autobauer Opel im Augenblick für ein
solches Anliegen besonders aufgeschlossen ist.
Solche weltfremden Forderungen müssen doch jedem
ehrlichen Sportfunktionär die Zornesröte ins Gesicht
treiben.
Es ist doch völlig klar, dass die Hauptsponsoren des
Sports ihre Budgets zusammenstreichen werden. Welche
Angebote macht also die Regierung den Sportlern in An-
betracht dieser völlig neuen Situation? – Ich habe keine
entdeckt.
Wir Linke haben ein 50-Milliarden-Euro-Konjunktur-
programm von der Bundesregierung und von den Län-
dern und Kommunen gefordert. Ein solches Programm
muss auch Geld für Investitionen in die Sportinfrastruk-
tur bereitstellen.
Aber noch wichtiger ist, dass die Menschen, die Sport
treiben wollen, es sich aber finanziell nicht leisten kön-
nen, unterstützt werden müssen. Kein Antrag – nicht der
der Koalition, der FDP oder der Grünen – geht auf das
Spannungsverhältnis von Armut und Sport ein. Die so-
ziale Frage haben alle Antragsteller ausgeklammert.
Vorhin gab es den Zwischenruf, wo denn unser An-
trag sei. Wir als Linke haben bereits zu Beginn dieses
Jahres ein Sportförderungsgesetz gefordert. Der erste
Halbsatz unseres Antrages lautete: „Sport ist kein
Luxusgut …“ Ich darf Ihnen verraten, wie Sie abge-
stimmt haben. Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, haben unseren Antrag abgelehnt.
Ich weiß nicht, ob das eine Großtat im Sinne des Sportes
war. Ich glaube, es war umgekehrt.
Schauen wir uns einmal die soziale Herkunft von
Spitzensportlern an. Weniger als 10 Prozent sind Arbei-
terkinder, mehr als die Hälfte Kinder von Angestellten,
davon die meisten von hochqualifizierten Angestellten.
Es werden also nicht nur Hartz-IV-Kinder vom Leis-
tungssport abgekoppelt, sondern auch Kinder von Mini-
jobbern, schlecht bezahlten Leiharbeitern, Verkäuferin-
nen und Eltern, die anderen Berufsgruppen angehören.
Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds,
Thomas Bach, wies auf dem Integrationsgipfel der
Kanzlerin Anfang November – da waren Sie alle nicht
dabei; da durften ja nur wenige Vertreter der Fraktionen
teilnehmen – darauf hin, dass immer mehr Menschen ih-
ren Vereinsbeitrag nicht zahlen können.
20784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Dr. Gesine Lötzsch
– Dass ich nicht Mitglied des Ausschusses bin, habe ich
gesagt, Kollege.
Ich habe auch gesagt, dass ich die erkrankte Kollegin
vertrete. Wenn Sie meinen, dass im Plenum nur Aus-
schussmitglieder sprechen dürfen, dann haben Sie den
Sinn des Plenums nicht verstanden. Plenarsitzungen sind
keine erweiterten Ausschusssitzungen.
Meine Damen und Herren, ich finde die Entwicklung,
dass viele ihre Vereinsbeiträge nicht mehr bezahlen kön-
nen, bedrückend. Aber mit dem Beitrag allein – das wis-
sen wir alle – ist es nicht getan. Die Sportler brauchen
Ausrüstungen und müssen Fahrten zu Wettkämpfen be-
zahlen. Diese Kosten können Hartz-IV-Empfänger, aber
auch Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, nicht
mehr aufbringen. Auch deshalb fordert die Linke die
Anhebung des Arbeitslosengeldes II und die Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohnes.
Das sind Maßnahmen, mit denen der Rezession schnell
und wirksam begegnet und dem Sport in unserem Land
geholfen werden kann.
Übrigens: Unser Exkollege Täve Schur, den Sie si-
cherlich alle noch kennen, hatte vier Geschwister; sein
Vater war Tankwart und seine Mutter Hausfrau. Er hätte
heute wohl kaum eine Chance, Radrennweltmeister zu
werden. Das wäre ein großer Verlust.
Eine Bemerkung, die sich an die Sportfunktionäre
und die Regierung richtet: Nur einer von 50 Spitzenver-
bänden des Sports sitzt in Ostdeutschland. Dieser Ver-
band bekommt 60 000 Euro im Jahr. Das ist etwa so viel
wie die jährlichen Reisekosten der Abteilung Sport im
Innenministerium, die für die Reisen zwischen den
Dienstorten Berlin und Bonn anfallen. Ich denke, es ist
an der Zeit, dass das Innenministerium endlich auch die
Sportbeamten nach Berlin holt, Herr Staatssekretär,
damit sie sich einmal in Ostdeutschland umschauen kön-
nen.
Da meine Kurzintervention vorhin leider nicht mehr
angenommen wurde, möchte ich noch eine kurze Be-
merkung zu der vorhergehenden Debatte machen.
Es ist ja viel über Berlin geredet worden. Kollegin
Fischbach, wir haben in Berlin Bewegungskitas, Sport-
kitas – das würden Sie sich in anderen Ländern vielleicht
wünschen –, und vor allen Dingen haben wir in Berlin
für jedes Kind, dessen Eltern das wünschen, einen Kin-
dertagesstättenplatz. Das sollte man uns in anderen Bun-
desländern erst einmal nachmachen.
– Liebe Kollegin Freitag, eine Sportkita oder eine Bewe-
gungskita hat nichts mit Sport zu tun? Da staune ich
aber.
Vielleicht diskutieren Sie das erst einmal in Ihrer Frak-
tion.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, jetzt
schnell Maßnahmen zu ergreifen, um die Finanzierung
des Breitensports und des Leistungssports in Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise abzusichern. Es ist höchste
Zeit. Weitere Fehlstarts der Bundesregierung können wir
uns alle nicht leisten.
Vielen Dank für die erregte Aufmerksamkeit.
Winfried Hermann hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Parr, sitzen Sie auf-
recht, stellen Sie das Lachen ein, ein Grüner spricht!
Sie hätten einmal Ihre freundliche Miene bei Ihrer eige-
nen Rede sehen sollen. Ich habe noch nie so eine traurige
Rede zum Sport gehört wie Ihre.
Aber Spaß beiseite. Mir geht es heute um eine ernst-
hafte Debatte. Ich habe mich gerade wirklich sehr über
die Reaktionen bei der Rede von Frau Lötzsch geärgert.
Man kann zwar in der Sache sehr unterschiedlicher Mei-
nung sein, und man kann auch Aussagen für Blödsinn
halten;
aber völlig unangemessen finde ich die dauernden Zwi-
schenrufe. Selbst wenn jemand beim Thema Sport ge-
sellschaftliche Themen, Kitas usw. erwähnt, finde ich es
daneben, wenn dazwischengerufen wird, was das mit der
Sache zu tun habe. Wenn wir als Sportpolitiker von den
anderen ernst genommen werden wollen, dann müssen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20785
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Winfried Hermann
wir akzeptieren, dass andere sich an der Debatte beteili-
gen. Nur wenn die Debatte erweitert wird, wird sie auch
ernst genommen.
Eine Sportdebatte, bei der wir uns gegenseitig auf die
Schultern klopfen und uns erzählen, dass wir tolle Sport-
politiker sind, dass die Regierung toll ist, dass die Oppo-
sition toll ist, dass der DOSB und auch alle anderen toll
sind und dass alles gut wird, wird niemandem helfen.
– Doch; aber Sie haben gleichzeitig jede Kritik von uns
und den Linken verspottet.
Jetzt habe ich schon ziemlich viel Redezeit dafür ver-
wendet,
aber mir war es wichtig, das auch einmal deutlich zu ma-
chen. Eine Debatte macht nur Sinn, wenn man auch kri-
tische Punkte ansprechen kann. Sie haben genügend ge-
lobt; dem kann ich mich anschließen. Das will ich nicht
weiter ausführen.
Ich will aber deutlich machen, was in den letzten Jah-
ren geschehen ist und was Sie als Koalition gemacht ha-
ben: Sie haben den Spitzensport systematisch verbessert
und die Förderung erhöht. Parallel dazu hat der DOSB
ein strategisches Förderkonzept entwickelt, was ich rich-
tig finde. Das ist wirklich ein Fortschritt. Wir kritisieren
aber, dass nicht parallel dazu genauso strategisch auch
ein Gesamtkonzept für den gesamten Sport – für den
Breitensport, für den Jugendsport, für den Freizeitsport,
für den Behindertensport – entwickelt wurde. Dann wür-
den wir weiter vorankommen.
Das ist unser Vorschlag: Wir wollen einen Zukunfts-
plan Sport 2020. Es reicht nicht aus, zu sagen: 2012 ist
wichtig – Olympische Spiele –, 2016 ist wichtig, 2018
ist wichtig. Nein, wir brauchen insgesamt eine Perspek-
tive für den Sport.
Es gibt eine Reihe von Fragen, die Sie bei den Reden
vorhin übrigens mit der Frage abgetan haben, was das
mit Sport zu tun hat.
Natürlich hat der demografische Wandel etwas mit
Sport zu tun, weil sich Sportvereine umstellen müssen
und weil wir andere Sportstätten brauchen. Natürlich hat
der Klimawandel etwas mit Sport zu tun, weil ganze Re-
gionen vielleicht keine Skiregionen mehr sein können
und sich hinsichtlich der Sportarten dann umstellen müs-
sen. Natürlich hat der Sport auch mehr als das, was bis-
her gesagt wurde, mit Integration zu tun.
Es gibt doch offenkundig das Problem, dass durch
den Sport viele Menschen integriert werden, viele aber
eben auch nicht. Sozial wirklich Schwache gibt es in
Sportvereinen nicht. Das ist einfach auch die Wahrheit.
Nichtdeutsche, Migrantenkinder sind in manchen Berei-
chen – zum Beispiel beim Fußball – ganz gut vertreten,
in vielen Sportarten aber eben nicht. Also funktioniert
auch dort die Integration noch nicht.
– Da Sie so direkt fragen, Herr Kollege: zum Beispiel
beim Reiten. Ich kenne kaum Migranten in Reiterverei-
nen.
Zur Finanzierung. Sie haben es abgelehnt, dass wir
über die soziale und die wirtschaftliche Krise sprechen.
Es ist aber doch völlig klar, dass der Sport, der sich in
den letzten Jahren im Wesentlichen auch auf das Spon-
soring gestützt hat, in den nächsten Jahren Probleme be-
kommen wird. Man muss doch darüber nachdenken, wie
man diese Ausfälle auffangen kann. All dies sind Fra-
gen, die durch einen solchen Zukunftsplan Sport 2020
beantwortet werden müssen.
Zu den Konzepten des Bundes gehören beispiels-
weise das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ und
der „Masterplan FahrRad“. Das alles sind Konzepte, bei
denen man vergeblich sucht, wie etwa die Vorstellung
von mehr Bewegung und mehr Sport im Alltag realisiert
werden soll.
– Nein, das steht dort eben nicht, sondern das wird als
Verkehrskonzept und nicht als Bewegungskonzept gese-
hen. Das ist unsere Kritik.
Zur internationalen Politik, Außenpolitik. Mühselig
haben wir in diesem Bereich die Förderung ein bisschen
erhöht. Gleichzeitig sind die Mittel im Bereich der Ent-
wicklungszusammenarbeit aber reduziert worden.
– Gerade kam ein Zwischenruf des Kollegen Riegert,
den ich jetzt doch gerne beantworten möchte. Sie sind
jetzt seit drei Jahren in der Großen Koalition. Das ein-
zige Argument, das Sie regelmäßig bringen, wenn wir
einen Vorschlag machen oder eine Kritik anführen, ist
Ihre Frage, was wir in sieben Jahren Regierung getan ha-
ben.
Erstens erinnere ich daran, dass Sie schon seit drei
Jahren in der Regierung sind, und zweitens waren wir
sieben Jahre lang nicht alleine. Sie als großer Brocken
20786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Winfried Hermann
können den anderen großen Brocken eigentlich besser
schieben. Warum haben Sie das nicht getan?
Ich finde, diese Ausrede zählt nicht mehr.
Kommen wir zum Thema Doping. Es ist keine Frage,
dass auch in diesem Bereich in den letzten Jahren viel
geschehen ist – auch dank der neuen Führung im DOSB.
Das will ich ausdrücklich anerkennen. Vieles ist aber
noch nicht so gut, wie behauptet wird – übrigens auch in
der Regierungspolitik nicht.
Als erstes Beispiel nenne ich nur einmal den Jahres-
dopingbericht. Zu Beginn des Jahres hat Herr Bergner
im Sportausschuss gesagt: Bis zum 31. März 2008 müs-
sen die Sportberichte vorliegen. Der DOSB sammelt sie
bei Fachverbänden ein; und dann werden sie öffentlich
gemacht, sodass wir darüber diskutieren können. – Bis
zum heutigen Tag liegt dieser Jahresdopingbericht nicht
vor. Wo ist er denn? Man hört nur, dass es zahlreiche
Verfehlungen gebe, weswegen er so lange im Ministe-
rium herumliegt. Das ist doch erstaunlich, wenn Sie sa-
gen, dass er eigentlich schon im März vorliegen muss
und dass Sie alles ganz schnell tun und vorne dabei sind.
Das sehe ich nicht.
Zweites Beispiel. Kollege Peter Danckert hat den Fall
Busch und den Deutschen Eishockey-Bund angespro-
chen. Das Ärgerliche ist doch, dass einer, der offensicht-
lich ein Dopingprobenflüchtling ist und nach dem allge-
meinen internationalen Reglement eigentlich bestraft
werden müsste, freigesprochen werden muss, weil sein
Verband die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht ge-
schaffen hat, da der NADA-Code nicht umgesetzt
wurde.
Dann frage ich mich: Wie kann es eigentlich sein, dass
weiterhin gefördert wird? Herr Bergner hat immer ge-
sagt: Wenn sie unsere Regeln nicht erfüllen, fördern wir
sie nicht. Das machen wir nicht im Voraus, sondern im
Nachhinein. – Erst hat er gesagt: Wir machen es anders-
rum.
Jetzt hätten Sie die Gelegenheit. Warum machen Sie
es nicht? Warum bekommt dieser Verband immer noch
Geld? Meines Wissens sind es 500 000 Euro für das
Jahr 2008. Wie viel nehmen Sie davon zurück? Das
müssen Sie doch tun, wenn Sie Ihren eigenen Ansprü-
chen gerecht werden wollen.
Beispiel drei betrifft den BDR. Sie haben ihn sozusa-
gen rein gesprochen und waren von Scharpings Darstel-
lung begeistert. Sie haben vieles nicht zur Kenntnis ge-
nommen.
Als Sie aus dem Ausschuss herauskamen, konnten Sie
nachlesen, dass es vier weitere Dopingfälle gab. Dabei
handelte es sich nicht um Profis, sondern im weitesten
Sinne um Amateure. Diese Fälle waren damals schon
bekannt. Sie haben gesagt: Es ist doch alles in Ordnung.
– Ich habe darauf bestanden, einmal genau hinzu-
schauen. Ihr habt es nicht getan. Jetzt gibt es diese Fälle.
Wo ist die Konsequenz? Ihr habt immer gesagt: Wenn
die Fälle vorliegen, handeln wir. – Ihr habt sie noch nicht
einmal richtig zur Kenntnis genommen.
Ich möchte an diesen Beispielen zeigen: Im Sport ist
nicht alles so, wie Sie sagen. Bei der Dopingbekämpfung
in der Politik ist nicht alles gut. Wir glauben, dass hier
nach wie vor viel zu tun ist. Die Mittel für die Prävention
im Doping beispielsweise sind noch immer niedrig.
Sie waren schon unter Rot-Grün niedrig. Sie lagen da-
mals bei 400 000 Euro, jetzt liegen sie bei 300 000 Euro
pro Jahr. Das ist alles nicht wirklich gut. Wir sagen: Das
muss besser werden.
Sport tut Deutschland gut; das war einmal eine Mar-
ketingkampagne. Sauberer Sport tut auch den Menschen
gut. Gute Sportpolitik tut somit auch dem Sport gut.
Machen wir etwas, schaffen wir einen Zukunftsplan, da-
mit der Sport auch in Zukunft den Menschen guttut!
Vielen Dank.
Der Kollege Stephan Mayer hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig und gut, dass
wir uns und damit auch der Öffentlichkeit mit der heuti-
gen Debatte vergegenwärtigen, welche gesellschaftliche
Bedeutung der Sport in Deutschland hat. Man sagt so
schön: Sport ist die schönste Nebensache der Welt; das
ist anerkennend gemeint. Sport ist aber mehr als nur eine
Nebensache. Sport ist integraler und zentraler Bestand-
teil unseres Lebens in der deutschen Gesellschaft.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20787
(C)
(D)
Stephan Mayer
Sport ist in Deutschland so vielfältig, wie die Gesell-
schaft hier vielfältig und mannigfaltig ist. Sport dient in
exzellenter Weise der Integration von Minderheiten, von
sozial Schwachen – ganz im Gegensatz zu der Behaup-
tung der Kollegin Lötzsch –, von Migrantinnen und Mi-
granten und insbesondere von Menschen mit Behinde-
rung in die deutsche Gesellschaft.
Grundlegende Werte unserer Zivilgesellschaft werden
durch sportliche Betätigung und durch Engagement in
Sportvereinen vermittelt. Fairness, Verlässlichkeit, Zu-
rechenbarkeit, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Tole-
ranz und Respekt gegenüber anderen – all dies sind
Werte, die man Kindern, Jugendlichen, aber auch Er-
wachsenen in herausragender und bemerkenswerter Art
und Weise durch sportliche Betätigung angedeihen lässt.
Sie lernen mit Niederlagen umzugehen. Sie lernen aber
auch, Erfolge zu verarbeiten. Kinder und Jugendliche er-
lernen in einzigartiger Weise soziale Kompetenzen, die
ihnen in vielen anderen Lebensbereichen, insbesondere
im Berufsleben, viele Vorteile bringen werden.
Auch wenn mittlerweile 5,25 Millionen Bundesbür-
ger Sport in Fitnessstudios betreiben – ich möchte dies
in keiner Weise diskreditieren, es ist natürlich eine Er-
scheinung unserer modernen Berufswelt –, so ist die
zentrale und entscheidende Plattform sportlicher Betäti-
gung in Deutschland nach wie vor das Engagement in
Sportvereinen; das wird auch in Zukunft so bleiben. In
knapp 93 000 Sportvereinen in Deutschland treiben sage
und schreibe 27 Millionen Bundesbürger Sport. Das
heißt: Von zehn Bundesbürgern sind drei Bundesbürger
in einem Sportverein engagiert.
Es gilt, dieses Engagement seitens der Politik zu un-
terstützen. An dieser Stelle ist die Bundespolitik gefor-
dert. Dies gilt natürlich auch für die Landespolitik und
insbesondere für die Kommunen. Es müssen geeignete
Sportstätten zur Verfügung gestellt werden.
Der DOSB ist eine Plattform für insgesamt
60 Sportarten. Auch dies ist meines Erachtens ein außer-
ordentlich charmanter und bunter Blumenstrauß, der
zeigt, wie bunt die Sportlandschaft in Deutschland mitt-
lerweile ist.
Der entscheidende Bereich, mit dem der Sport nach
außen tritt, ist natürlich der Spitzensport. Das ist der Be-
reich, für den wir als Bundespolitiker vornehmlich zu-
ständig sind. Wir waren die Nummer 1 in der Nationen-
wertung bei den Olympischen Winterspielen in Turin
und haben den Platz 5 in der Nationenwertung bei den
Olympischen Sommerspielen in Peking erreicht. Mein
lieber Kollege Dr. Danckert, auch wenn dort mit Sicher-
heit nicht alles so lief, wie wir es uns gewünscht hätten
und wie es sich auch die deutsche Öffentlichkeit ge-
wünscht hätte,
so ist dies doch anerkennenswert. Man muss nämlich
auch sehen, dass die Welt im Bereich des Spitzensportes
und insbesondere bei den Sommersportarten zusammen-
gewachsen ist.
– Ich erkenne durchaus an, dass es in manchen Sportar-
ten Defizite gab und dass manche Sportler und sogar
manche Sportarten hinter den Erwartungen und den vor-
gegebenen Zielen zurückgeblieben sind. Aber wir tun
auch gut daran, anzuerkennen, dass sich der DOSB die-
ses Problems angenommen hat, indem er den Fachver-
bänden für London Zielvereinbarungen gesetzt hat. Dies
ist, progressiv gedacht, der richtige Weg, auf dem der
DOSB die in manchen Fachsportarten unstreitig vorhan-
denen Probleme eliminieren kann.
Es ist mir ein weiteres Anliegen, im Zusammenhang
mit dem Spitzensport den Behindertensport anzuspre-
chen. Auch Behindertensport ist Leistungs- und Spitzen-
sport, und auch er gehört durch die Bundespolitik ent-
sprechend gefördert und unterstützt.
Der Bund gibt pro Jahr sage und schreibe 220 Millio-
nen Euro in die Sportförderung, verteilt auf verschiedene
Etats.
Der Großteil ist beim Bundesinnenministerium angesie-
delt. Aber auch das Auswärtige Amt und das Bundes-
kanzleramt unterstützen den Spitzensport in Deutsch-
land. So herausragende Sportler wie Michael Greis,
Britta Steffen oder wie die Herrennationalmannschaft im
Hockey sind natürlich auch Galionsfiguren, Vorbilder,
an denen sich Millionen von Kindern und Jugendlichen
ausrichten. Deswegen darf der Bund in seiner Spitzen-
sportförderung nicht nachlassen. So wird in nur wenigen
Minuten die Damenhandballnationalmannschaft bei der
EM in Mazedonien gegen Serbien antreten. Wir sollten
ihr von hier aus die Daumen drücken; das erste Spiel ge-
gen Mazedonien wurde ja gewonnen. Man sieht also:
Fast täglich, fast zu jeder Stunde sind deutsche Spitzen-
sportler die besten Botschafter, die Deutschland im Aus-
land hat, sei es bei Europameisterschaften, bei Weltmeis-
terschaften oder anderen internationalen Wettkämpfen.
Ich danke insbesondere der Bundeswehr, dem Zoll
und der Bundespolizei, weil ohne deren Unterstützung
das hohe Niveau des Spitzensportes in Deutschland nicht
gewährleistet wäre.
An dieser Stelle sage ich ganz kritisch: An diesem Enga-
gement könnten sich manche Bundesländer noch positiv
ausrichten, was zum Beispiel die Schaffung eigener
Kontingente in den jeweiligen Landespolizeien anbe-
20788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Stephan Mayer
langt. Der Bund ist hier vorbildlich, aber die Länder
könnten hier durchaus noch mehr machen.
Herr Kollege Mayer, Herr Kollege Danckert möchte
eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich gebührt dem Vorsitzenden diese
Frage.
Herr Kollege Mayer, mir ist bei Ihrer Rede aufgefal-
len, dass Sie sich heute noch nicht zur Olympiabewer-
bung geäußert haben. Ich gebe Ihnen Gelegenheit, uns
zu sagen, ob Sie Ihre Meinung in dieser Frage geändert
haben oder ob diese Bewerbung nach wie vor ein ge-
meinsames Anliegen unserer Koalition ist.
Sehr verehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Kollege
Danckert, ich danke Ihnen, dass Sie meiner Rede vor-
greifen. Ich werde Ihnen im Nachhinein meinen Stich-
wortzettel zeigen; dann werden Sie sehen, dass dieses
Thema jetzt unmittelbar von mir angesprochen worden
wäre. Aber Sie verlängern dadurch natürlich meine Re-
dezeit. Ich weiß, dass ich Sie außerordentlich enttäuscht
hätte, wenn ich die Olympiabewerbung für 2018 nicht
angesprochen hätte.
Ich komme also zu meinem nächsten Punkt, den
sportlichen Großereignissen. Natürlich ist Deutschland
auch Austragungsort für herausragende Großereignisse.
Im nächsten Jahr wird hier in der Bundeshauptstadt die
Leichtathletikweltmeisterschaft stattfinden, im Jahr 2011
die Ski-alpin-WM in Garmisch-Partenkirchen. Es ist un-
ser aller Ziel – ich hoffe, ich habe Sie alle mit im Boot –,
die schon gestartete Bewerbung Münchens zusammen
mit Garmisch-Partenkirchen für die Olympischen Win-
terspiele 2018 zu befördern. Wir sind auf einem guten
Weg. Auch der Sportausschuss tut gut daran, diese Be-
werbung tatkräftig und nachdrücklich zu unterstützen.
Nicht nur das Austragen von Spitzensportereignissen
in Deutschland ist ein guter Werbeträger für unser Land,
sondern auch die auswärtige Bildungs- und Kulturpoli-
tik. Auch auf diesem Gebiet ist in den letzten Jahren
Gott sei Dank einiges erreicht worden: Trainingslager
werden mitfinanziert und Trainer unterstützt, insbeson-
dere in afrikanischen Ländern. Insoweit trägt die Sport-
förderung des Bundes auch zu Frieden und Völkerver-
ständigung bei.
Sportpolitik vollzieht sich nicht nur auf Landes- und
Bundesebene, Sportpolitik vollzieht sich auch auf euro-
päischer Ebene. Die EU-Kommission hat das Weißbuch
„Sport“ am 10. Juli des letzten Jahres verabschiedet. Das
Weißbuch „Sport“ ist grundsätzlich zu begrüßen. Darin
wird klargemacht, dass dem Sport ein besonderer Stel-
lenwert zukommt. Ich denke, dass wir als Parlamentarier
gut beraten sind – das gilt insbesondere für die Bundes-
regierung –, immer wieder klarzumachen, dass bei der
Sportpolitik und der Sportförderung der hehre und wich-
tige Grundsatz der Subsidiarität und die Autonomie des
Sportes zu beachten sind. Ich hätte Bauchschmerzen – das
sage ich in aller Offenheit –, wenn wir, was die Sportpo-
litik anbelangt, sukzessive Kompetenzen von den Natio-
nalstaaten an die europäische Ebene abgeben würden.
Es ist gut, dass die EU-Kommission auf diesem Gebiet
koordinierend tätig ist; das ist keine Frage. Es ist auch zu
begrüßen, dass ein EU-Sportprogramm erarbeitet wer-
den soll. Als Parlamentarier sind wir gut beraten, uns
sehr frühzeitig in die Ausgestaltung dieses Sportpro-
gramms einzubringen. Insgesamt gesehen sollte es aber
bei dem Grundsatz bleiben: Die Sportpolitik ist auf kom-
munaler, Landes- und Bundesebene in bester Hand.
Ich danke dem Bundesinnenminister ganz herzlich
dafür, dass er das Programm „Sport und Wettbewerb“
initiiert hat. Es bringt meines Erachtens eine Besonder-
heit des Sports in herausragender Weise zum Ausdruck:
Wir haben einen freien Binnenmarkt in Europa; der ist
wichtig, und davon profitiert Deutschland in wirtschaft-
licher Hinsicht sehr stark. Wir müssen aber auch zur
Kenntnis nehmen, dass der Sport in vielerlei Hinsicht
Spezifika aufweist. Insbesondere was das Kartellrecht
anbelangt, was die Verwertung von Medienrechten und
Lizenzvergaberechten anbelangt, muss man berücksich-
tigen, dass es beim Sport gewisse Besonderheiten gibt.
Ich bin der FIFA sehr dankbar dafür, dass sie mit dem
Modell „6 plus 5“ eines ganz klar propagiert, nämlich
dass nationale Nachwuchskräfte trotz des Bosman-Ur-
teils die Chance haben müssen, in Spitzenvereinen, sei
es im Fußball, im Handball oder im Basketball, in den
deutschen Bundesligen zum Einsatz zu kommen. Das ist
ein wichtiger Ansatzpunkt. Ich glaube, wir sind gut bera-
ten, dieses Programm zu fördern.
Gesundheitsvorsorge spielt im Sport natürlich eine
große Rolle. Ich begrüße die Initiative „In Form“ der
Bundesregierung. Sportliche Betätigung ist die beste
Medizin gegen Adipositas, gegen bestimmte Herz-
Kreislauf-Erkrankungen und gegen Diabetes.
Entscheidend ist insbesondere, dass das in der deutschen
Gesellschaft um sich greifende Übergewicht am besten
durch sportliche Betätigung abgebaut werden kann.
Zum Abschluss möchte ich sagen: Sport ist ein he-
rausragendes Kulturgut,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20789
(C)
(D)
Stephan Mayer
und Deutschland ist Sportland. Deswegen sind wir als
Parlamentarier gut beraten – daran sollten wir uns aus-
richten –, alles dafür zu tun, die sportliche Betätigung
und ehrenamtliches Engagement in Deutschland zu un-
terstützen. Mit dem Gesetz zur weiteren Stärkung des
bürgerschaftlichen Engagements haben wir in dieser Le-
gislaturperiode einiges geschafft. Wir werden Weiteres
erreichen, zum Beispiel die Haftungsregelungen redu-
zieren.
Herr Kollege.
Ich komme gleich zum Ende, Frau Präsidentin. – Die
Haftungsregelungen werden in persönlichen Gesprächen
mit Sportfunktionären immer wieder als Hauptgrund an-
geführt, warum sich viele Bürger davor scheuen, sich in
Vorständen oder Verbänden zu engagieren.
Herr Kollege, jetzt ist gleich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Dagmar Freitag spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wie wichtig Sport ist, haben wir heute schon ge-
hört: Sport tut gut! Dem braucht man eigentlich nicht
viel hinzuzufügen. Ich will nur einige Stichpunkte auf-
greifen.
Ich denke, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es
Ziel aller im Sport Verantwortung Tragender sein muss,
die Menschen zu einem lebenslangen Sporttreiben zu be-
wegen. Das bedeutet natürlich auch, dass der Sport so
organisiert sein muss, dass möglichst alle gesellschaftli-
chen Gruppen ihren jeweiligen Bedürfnissen entspre-
chend angesprochen werden.
Dafür – ich glaube, das hat jeder verstanden – müssen
wir die Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten er-
reichen.
Eine solche Lebenswelt ist natürlich auch die Schule.
Der Schule kommt aus meiner Sicht nach wie vor eine
zentrale Bedeutung dabei zu, Kindern und Jugendlichen
klarzumachen, wie wichtig Sport ist.
In den Schulen erreichen wir – das ist bekannt – aus-
nahmslos alle Kinder, behinderte wie nichtbehinderte.
Die Erfahrungen, die Kinder im Sportunterricht und in
anderen schulischen Bewegungsangeboten machen, prä-
gen die weitere Entwicklung ganz maßgeblich. Dann
wird die Frage entschieden: Wird man Sport als unver-
zichtbaren Teil seines persönlichen Lebensstils akzeptie-
ren, oder wird man zum Bewegungsmuffel mit all den
gesundheitlichen Problemen, die angesprochen worden
sind?
Im Idealfall gelingt es, Kinder über attraktive Ange-
bote in den Schulen zum Verein zu bringen. In den Ver-
einen sind sie nämlich bestens aufgehoben.
Ich möchte hinzufügen: An dieser Stelle leisten unsere
Vereine einen unverzichtbaren gesellschaftspolitischen
Beitrag.
Lieber Kollege Mayer, Sie haben auf die gesundheit-
lichen Segnungen des Sporttreibens hingewiesen. Ich
teile allerdings die Enttäuschung des Deutschen Olympi-
schen Sportbundes darüber, dass es uns bislang nicht ge-
lungen ist, uns mit Ihnen, also unserem Koalitionspart-
ner, auf ein Präventionsgesetz zu einigen.
– Das Umverteilen hatten wir doch schon, lieber Kollege
Parr. Damit waren wir doch für heute fertig.
Lassen Sie mich stattdessen einen Blick über die Lan-
desgrenzen hinaus werfen. Für meine Fraktion haben die
Maßnahmen des Auswärtigen Amtes – ich denke bei-
spielhaft an die Kurz- und Langzeitprojekte in Ländern
der Dritten Welt – eine ganz enorme Bedeutung. Durch
die Arbeit unserer Experten werden grundlegende
Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt. Wie groß die
Wertschätzung und die Erfolge dieser Arbeit sind, wird
an zwei Beispielen deutlich.
So erklärte der Präsident des Olympischen Komitees
von Vietnam Deutschland ausdrücklich zum Vorbild sei-
nes Landes auf dem Gebiet der Sportorganisation. Au-
ßerdem machten die Gespräche die Bedeutung der vom
Auswärtigen Amt finanziell unterstützten Trainerschule
in Mainz deutlich. So sind in Indonesien zwei Vizepräsi-
denten des dortigen Leichtathletikverbandes und ein Vi-
zepräsident des NOK Absolventen der Trainerschule in
Mainz.
Das heißt, in den Spitzenpositionen des organisierten
Sports in diesen Ländern finden wir in Deutschland aus-
gebildete Fachleute. Ich denke, das ist gut investiertes
Geld.
Herr Kollege Hermann, anders als in Ihrem Antrag
behauptet, gehen diese Maßnahmen also weit über reine
Sympathiewerbung für Deutschland hinaus. Gestatten
Sie mir die Anmerkung: Sie betrachten das Ganze etwas
eindimensional.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben viel über
die positiven Wirkungen des Sports gesprochen. Wir
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Dagmar Freitag
müssen an dieser Stelle aber auch über die Schattensei-
ten reden. Wettskandale, gewalttätige Ausschreitungen
und natürlich auch die Dopingproblematik erschüttern
den Sport in seinen Grundfesten.
Wir müssen feststellen, dass Teile des organisierten
Sports auch im Jahr 2008 noch nicht begriffen haben,
dass sie verpflichtet sind – und dass dies kein Hobby ist –,
den Kampf gegen Doping ernst zu nehmen.
Der Fall Busch ist mehrfach angesprochen worden.
Gestern hat das Schiedsgericht des Deutschen Olympi-
schen Sportbundes den Schiedsspruch gesprochen:
Keine Sperre! Keine Sperre für einen Sportler, der nach
dem NADA-Code wegen der vorsätzlichen Verweige-
rung einer Dopingkontrolle mit einer zweijährigen
Sperre hätte sanktioniert werden müssen. Der Grund da-
für ist ein Formfehler.
Der Deutsche Eishockey-Bund war noch zu Beginn
des Jahres 2008 nicht in der Lage oder – was wahr-
scheinlicher ist – sah keine Notwendigkeit, den NADA-
Code in seine Satzung aufzunehmen und entsprechende
Vereinbarungen mit den Spielern zu treffen. Nur zur Er-
innerung: Der derzeit gültige NADA-Code existiert be-
reits seit dem Jahr 2006. Das sollte man sich auf der
Zunge zergehen lassen.
Wenn wir solch ein Verhalten eines Verbandes sozu-
sagen als Blaupause für andere Verbände durchgehen
lassen, können wir mit der Dopingbekämpfung Schluss
machen.
Herr Dr. Bergner, ich fordere das BMI auf, unverzüglich
die Urteilsbegründung einer rechtlichen Würdigung zu
unterziehen und den Sportausschuss über die Konse-
quenzen für den Deutschen Eishockey-Bund zu unter-
richten.
– Bleiben Sie ganz entspannt, Herr Kollege Hermann, zu
Ihnen komme ich nämlich noch.
Wenn zutrifft, Herr Kollege Bergner, was heute in den
Medien zu lesen ist, muss es bei der verfügten Sperre der
Gelder bleiben und – ich ergänze das einmal – vielleicht
auch geprüft werden, ob eine weitere Rückzahlung von
bereits ausgezahlten Geldern angezeigt ist. Klare Ver-
stöße erfordern klare Konsequenzen.
– Ich habe doch gesagt, dass ich gleich zu Ihnen komme. –
Wir meinen es nämlich ernst damit.
Jetzt zum Kollegen Hermann: Wir sind keine Umfal-
ler und erst recht keine Fensterredner, Herr Kollege
Hermann.
Gestern meinten Sie, uns schon wieder der Fensterreden
bezichtigen zu müssen, nämlich im Handelsblatt. Nun
ist es schön, wenn man schlaue Kollegen im Parlament
hat, die alles schon einen Tag vorher wissen.
Ich sage Ihnen nur eines dazu: Das sagt genau der Rich-
tige. Ich begründe meine Aussage gerne.
Sie wollten dem Bund Deutscher Radfahrer Mittel für
2009 vorsorglich erst streichen; in einem späteren An-
trag forderten Sie, diese lieber nur zu sperren.
Wann aber, Herr Kollege, erreichten Ihre Anträge die an-
deren Fraktionen? Jeweils kurz vor der Sportausschuss-
sitzung und kommentarlos.
Wer ernsthaft – das betone ich an dieser Stelle –
Mehrheiten für seine Anträge organisieren will, zumal
wenn er der kleinsten Oppositionsfraktion angehört,
muss doch wohl anders vorgehen. Zum Beispiel sollte er
einmal mit denen reden, die die Mehrheit haben.
Fehlanzeige, Herr Kollege. Das nennt man dann wohl zu
Recht Schaufensterpolitik.
Zurück zum Formfehler des Deutschen Eishockey-
Bundes. In den Zuwendungsbescheiden des BMI heißt
es wörtlich:
Die Bundesförderung setzt die uneingeschränkte
aktive Mitwirkung des Bundessportfachverbandes
voraus. Hierzu gehören insbesondere die Anerken-
nung und Umsetzung des NADA-Codes und die
uneingeschränkte Teilnahme am Anti-Doping-Kon-
trollsystem.
Mein Kollege Danckert hat bereits darauf hingewiesen;
Kollege Hermann auch.
Wie kann es sein, dass ein Verband offensichtlich
nicht im Traum daran gedacht hat, den unmissverständli-
chen Forderungen im Zuwendungsbescheid nachzukom-
men, und dennoch davon ausgeht, anstandslos Bundes-
mittel zu erhalten?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20791
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Dagmar Freitag
Warum lassen NADA, DOSB und BMI weiterhin die
Ausflüchte von Verbänden gelten, man würde ja gerne
alles Notwendige erledigen, müsse hierfür aber leider
den nächsten Verbandstag abwarten? Das muss man
nämlich nicht.
Die Verbände wissen seit Jahren, dass hinsichtlich der
Anti-Doping-Regelungen ständige Aktualisierungen
vonnöten sind. Es gibt Verbände, die schon vor Jahren
die Kompetenz für diese Entscheidungen einem anderen
Verbandsgremium übertragen haben, das zum Beispiel
mehrfach im Jahr tagt und keine Zusatzkosten verur-
sacht. Milde und Nachsicht, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, sind an dieser Stelle wirklich nicht angebracht.
Meine Fraktion ist jedenfalls sehr an einer Übersicht
über den aktuellen Stand der Umsetzungen des NADA-
Codes in den Verbandssatzungen interessiert. Daher
habe ich heute eine entsprechende Anfrage an das Bun-
desinnenministerium gerichtet. Auf die Antwort bin ver-
mutlich nicht nur ich gespannt.
Ich danke Ihnen.
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich bedanke mich sehr herzlich für den Besuch des
Präsidiums des Deutschen Olympischen Sportbundes
hier im Hause: Herrn Vesper, Herrn Bach und der ganzen
Delegation herzlichen Dank.
Wir kommen zur Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/11217 und 16/11174 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse. Die Vorlage auf
Drucksache 16/11199 zu Zusatzpunkt 4 soll an dieselben
Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/11217
und zusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen wer-
den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensicht-
lich der Fall. Dann verfahren wir so.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Priska Hinz ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hochschulpakt in gesamtstaatlicher Koopera-
tion zu einem wirksamen Pakt für mehr und
bessere Studienplätze entwickeln
– Drucksache 16/10881 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Volker Schneider ,
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulpakt II für mehr Qualität, soziale
Öffnung und zur Ausfinanzierung des deut-
schen Hochschulsystems vereinbaren
– Drucksache 16/11178 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Als Erster hat der Kollege Kai Gehring für Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind in einer sehr
erfreulichen Situation, die endlich als Chance begriffen
und genutzt werden muss.
Erstens. Wir haben auf unabsehbare Zeit das letzte
Mal geburtenstarke Jahrgänge und aufgrund der Schul-
zeitverkürzung in verschiedenen Bundesländern zu-
gleich doppelte Abiturjahrgänge zu verzeichnen.
Zweitens. Immer mehr Jugendliche erwerben das
Abitur oder die Fachhochschulreife. Das Studierenden-
hoch scheint an Universitäten und Fachhochschulen
langsam einzusetzen. Im Jahre 2008 kamen 385 500 Stu-
dienanfänger an Deutschlands Hochschulen. Das freut
uns. Zu Jubel und großkoalitionärem Schulterklopfen
besteht aber kein Anlass.
Denn einerseits ist die Zahl der Abiturienten stärker ge-
stiegen als die Zahl der Studienanfänger; es ist also so,
dass immer noch viel zu viele Studienberechtigte auf ein
Studium verzichten.
Andererseits müssen aus Anfängern erst einmal Absol-
venten werden. Noch immer verlässt jeder fünfte Studi-
enanfänger die Hochschule ohne Abschluss.
Die Gründe für einen Studienabbruch sind vielfältig.
Zu nennen sind vor allem Finanzierungsengpässe wäh-
rend des Studiums, mangelhafte Studienbedingungen,
eine unzureichende Lehrqualität und schlechte Betreu-
ung. Das muss sich ändern. Wir, die Grünen, wollen ei-
nen Hochschulpakt. Wir wollen, dass Bund und Länder
einen echten Pakt für mehr Studierende, höhere Qualität
20792 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Kai Gehring
und eine soziale Öffnung der Hochschulen verabreden
und gemeinsam schmieden.
Ohne den eklatanten Studienplatzmangel und ohne
Zugangshürden zum Campus wie den flächendeckenden
Numerus clausus, die unsozialen und abschreckenden
Studiengebühren in vielen Bundesländern sowie das
bundesweite Zulassungswirrwarr gäbe es viel mehr Stu-
dienanfänger, als heute von der Großen Koalition gefei-
ert werden. Daran wird deutlich, dass der allseits
beklagte Akademikermangel größtenteils ein hausge-
machtes Problem ist. Er ist Folge einer verfehlten Hoch-
schulpolitik der Länder und der Großen Koalition. Die
Hürden müssen dringend gesenkt werden, damit eine so-
ziale Öffnung der Hochschulen gelingen kann. Es ist
nach wie vor skandalös, dass Arbeiterkinder und Mi-
grantenkinder auf dem Campus immer mehr zu Exoten
werden. Dieses Verschleudern von Chancen und Poten-
zialen muss endlich aufhören.
– Ja, die Regierungsbank ist erstaunlich leer.
Ich freue mich dennoch über alle, die gekommen sind.
Das hat damit zu tun, dass Herr Storm, der sich aus-
drücklich entschuldigt hat, im Stau steht. Er wird gleich
hier sein.
Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den nächs-
ten Jahren dürften rund 700 000 Studierende zusätzlich
an die Hochschulen strömen. Damit diese Prognosen tat-
sächlich Realität werden, müssen Bund und Länder die
Weichen richtig stellen. Der Hochschulpakt II, der jetzt
vereinbart werden soll, muss das leisten, woran sein Vor-
gänger offenkundig zu scheitern droht: einen verlässli-
chen und bedarfsgerechten Ausbau qualitativ hochwerti-
ger Studienplätze. Dieses zentrale hochschulpolitische
Anliegen muss der Kern und die Priorität des
Hochschulpaketes II sein. Nur so wird aus ihm ein grü-
ner Pakt für die Studierenden.
Der Hochschulpakt I muss – das ist aus unserer Sicht
offenkundig – repariert werden. Wenn man sich die
Kennzahlen ansieht, stellt man fest, dass er zu scheitern
droht. Das Ziel, die Zahl der Studienplätze im Jahr 2007
auszubauen, ist klar verfehlt worden. Insbesondere in
mehreren unionsregierten Bundesländern wurden Stu-
dienplätze ab- statt aufgebaut. Damit alle Studieninteres-
sierten tatsächlich einen Studienplatz bekommen kön-
nen, brauchen wir allein in den Jahren 2009 und 2010
rund 2,4 Milliarden Euro mehr. Frau Schavan – sie ist
heute nicht da – und Herrn Storm – er ist noch nicht da –
möchte ich auffordern: Werden Sie in der Bundesregie-
rung dieser hochschulpolitischen und gesamtstaatlichen
Verantwortung endlich gerecht!
– Herzlich willkommen!
Kernbestandteil eines solchen neuen Pakts für die
Studierenden muss im Übrigen ein Hochschulpaktfonds
von Bund und Ländern werden. Jedes Bundesland kann
dann aus diesem Fonds Mittel für neu geschaffene Stu-
dienplätze abrufen. Wir wollen, dass ein Teil der Grund-
finanzierung der Hochschulen nach dem Prinzip „Geld
folgt Studierenden“ erfolgt.
– Ja, das ist sicherlich eine gemeinsame Idee. Es ist er-
freulich, dass es, nach dem Antrag der FDP, im Deut-
schen Bundestag längst eine parlamentarische Mehrheit
gibt, die das Grundprinzip „Geld folgt Studierenden“ un-
terstützt.
Das sollten Sie einmal Herrn Oettinger aus Baden-
Württemberg mitteilen, damit er seinen Widerstand auf-
gibt und damit nicht länger einige Länder für die Ausbil-
dung bezahlen, während andere Länder die Akademiker
absahnen.
Da muss es einen gerechten Ausgleich zwischen den ein-
zelnen Bundesländern geben. Für einen solchen Be-
schluss gibt es hier offensichtlich eine parlamentarische
Mehrheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen Masse
und Klasse für die Hochschulen. Der neue Hochschul-
pakt muss endlich erheblich mehr ausfinanzierte Stu-
dienplätze bringen sowie bessere Studien- und Lehrbe-
dingungen garantieren. Die bisher von Bund und
Ländern vorgesehenen Mittel von jährlich 5 500 Euro
pro zusätzlichem Studienanfänger und pro Jahr reichen
aber bei weitem nicht aus. Damit bleiben wir dramatisch
unter dem OECD-Durchschnitt von 10 600 Euro. Mit
solchen Kleckerbeträgen lassen sich nur Billigstudien-
plätze schaffen. Kostenintensivere Fächergruppen oder
auch betreuungsintensivere Bachelor- und Masterstudi-
engänge bleiben dabei unberücksichtigt. Liebe Großko-
alitionäre, Sie sollten klotzen statt kleckern. Die Unterfi-
nanzierung der deutschen Hochschulen muss umgehend
beseitigt werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20793
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(D)
Kai Gehring
Der Bildungsgipfel bot dazu sicherlich eine Gelegen-
heit. Da muss man schon sagen: Nachdem milliarden-
schwere Rettungspakete für die Banken und für die Au-
tomobilindustrie geschnürt worden waren,
fielen in Dresden für Kitas, Schulen und Hochschulen
offensichtlich nur Notgroschen ab. Dieser Bildungsgip-
fel war insgesamt ein Jammertal. Die Chance für einen
neuen Aufbruch bei der Bildung, gerade auch im Hoch-
schulbereich, ist dort leider vertan worden.
Nun hat die Große Koalition mit einem blinden und
ziellosen Konjunkturprogramm binnen kürzester Zeit
auch noch die zweite Gelegenheit verpasst, die Unter-
finanzierung in unserem Hochschulsystem zu überwin-
den. Anstatt wie die Große Koalition auch die Sprit-
schlucker unter den Autos zu subventionieren oder über
nutzlose Konsumgutscheine zu diskutieren, schlagen wir
mit unserem grünen New Deal ein nachhaltig wirkendes
Investitionsprogramm vor, das gegen drängende Pro-
bleme wie die Klimakatastrophe, die Bildungsmisere
und die soziale Ungerechtigkeit ankämpft. Wir sind da-
von überzeugt: Eine Wirtschaftskrise ist nur mit mehr
Investitionen in Bildung und Hochschulen zu meistern
bzw. zu bekämpfen. Das fehlt jedoch bei Ihnen völlig.
Sie haben es versäumt, den qualitativen Ausbau in Ihr
Konjunkturprogramm aufzunehmen. Offensichtlich hat
Ministerin Schavan das Ganze am Kabinettstisch ver-
schlafen. Schnarchend kommen wir allerdings sicherlich
nicht im Zeitalter der Wissensgesellschaft an.
Ich kann ein weiteres Beispiel nennen – darüber ist
Herr Tauss bestimmt froh und glücklich –: Das 40-Pro-
zent-Ziel, das Sie sich auf dem Bildungsgipfel gesetzt
haben, hatten wir unter Rot-Grün eigentlich längst er-
reicht. In den letzten Jahren gab es dagegen Rückgang
bzw. Stagnation. Im OECD-Durchschnitt nehmen schon
längst 56 Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium auf.
Das wäre doch einmal – neben einem Pakt für die Stu-
dierenden – ein ambitioniertes Ziel für die bundesweite
Hochschulpolitik. Das wäre ein ambitioniertes Zukunfts-
projekt. Darum sollte man sich auch mit dem
Hochschulpakt II dringend kümmern.
Die Kollegin Professor Monika Grütters hat jetzt das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Gehring, Sie haben Ihren Antrag verlesen
und dabei unterschlagen, dass in dieser Woche das Sta-
tistische Bundesamt seine neuesten Zahlen mitgeteilt
hat.
– Das haben Sie nicht gesagt. – Danach sind zum ersten
Mal seit fünf Jahren wieder mehr als 2 Millionen Studie-
rende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Das ist
ein klarer Erfolg der Hochschulpolitik von Bund und
Ländern.
Von allein, meine Herrschaften von den Linken, passiert
das nicht. Auch in den Bundesländern, in denen Sie ver-
treten sind, ist das nicht der Fall.
– Es ist schön, dass Sie dabei wenigstens wach werden.
Einen Grund zum Nörgeln jedenfalls haben weder Sie
von den Linken noch Sie, Herr Gehring. Laut Schnell-
meldung des Statistischen Bundesamts haben im Stu-
dienjahr 2008 immerhin 30 000 Studenten mehr als 2005
ein Studium aufgenommen. Mit 39,3 Prozent eines Jahr-
gangs sind wir fast am Ziel, nämlich 40 Prozent eines
Jahrgangs studieren zu lassen.
Damit liegt der Hochschulpakt genau im Plan – und das
schon 18 Monate, nachdem er beschlossen wurde.
Völlig unabhängig davon, Herr Gehring und meine
Damen und Herren von den Linken, haben wir einen Zu-
wachs in allen Bundesländern, auch in solchen, in denen
Studiengebühren erhoben werden.
Wir haben mit dem Hochschulpakt einerseits die Stu-
dienanfängerquote und andererseits mit der Overhead-
Finanzierung die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Forschung im Blick. Auch das haben Sie
bei Ihrer Kritik am Hochschulpakt unterschlagen. Dabei
20794 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Monika Grütters
ist das ganz wesentlich für die Zukunftssicherung in
Deutschland.
Die jüngsten Zahlen für das Studienjahr 2008 machen
deutlich, liebe Oppositionelle: Allen Unkenrufen derje-
nigen zum Trotz, die gar nicht abwarten konnten und lie-
ber das Scheitern des Hochschulpakts herbeireden, ehe
überhaupt die ersten Zahlen vorliegen – wir müssen Sie
enttäuschen –: Der Hochschulpakt wirkt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle mit einem zweiten
von Ihnen gern verbreiteten Missverständnis aufräumen.
Auch wenn die Länder vom Bund eine Vorauszahlung
erhalten, so wird am Ende doch spitz abgerechnet. Das
Land unter den Ausbauländern, das mehr Studienanfän-
ger aufnimmt, wird dafür belohnt.
Noch eines: Die Zugewinne gerade in den Fächern
Maschinenbau, Informatik und Elektrotechnik, die das
Statistische Bundesamt vermeldet hat, sind toll.
Schließlich sind das die Bereiche, in denen es um die
Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft geht und in
denen der Fachkräftemangel besonders groß ist.
Herr Kollege Gehring, Sie haben es verdient, dass ich
auf einige Ihrer Kritikpunkte am Hochschulpakt in Ih-
rem Antrag konkret eingehe.
Sie behaupten, dass die Studierquote zurückgeht. Eine
Veränderung in dieser Form lässt sich für 2008 noch gar
nicht belegen. Dass es bei wachsender Zahl von Studien-
berechtigten hier einen gewissen Rückgang gibt, ist un-
vermeidlich. Dass die Studienanfängerquote steigt, ist
jedenfalls erfreulich.
Sie behaupten dann, die Studiengebühren seien ein
Grund für Studienverzicht. Vorsicht mit derartigen Be-
hauptungen, kann ich nur sagen. Gerade vorgestern hat
das Statistische Bundesamt die Zahlen vorgelegt. Da-
nach gibt es im Saarland, also einem Land mit Studien-
gebühren – das sage ich auch nach links gerichtet –,
15 Prozent mehr Studierende,
während in einem Bundesland ohne Studiengebühren
wie Sachsen die Anfängerzahl um 2 Prozent gesunken
ist.
Noch eines: Es gibt keine nennenswerten Wande-
rungsbewegungen zwischen Bundesländern mit und sol-
chen ohne Studiengebühren. Wäre dieser Punkt relevant,
müssten gerade in den östlichen Bundesländern die Stu-
dienanfängerquoten erheblich steigen.
Frau Kollegin Grütters, möchten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Gehring zulassen?
Gerne. Bitte.
Bitte schön.
Frau Kollegin, stimmen Sie mir darin zu, dass nach
der von der Regierung in Auftrag gegebenen Studie von
HIS im Jahr 2006 bis zu 18 000 junge Menschen allein
aufgrund der Studiengebühren von einem Studium abge-
schreckt worden sind, und stimmen Sie mir auch darin
zu, dass insbesondere in Hessen, wo Studiengebühren
abgeschafft worden sind, nun besonders viele Studienan-
fänger zu verzeichnen sind? Stimmen Sie mir des Weite-
ren zu, dass Ihr Parteikollege Roland Koch jetzt wohl of-
fensichtlich nicht noch einmal den gleichen Fehler
machen will – zu dem Ergebnis kommt man, wenn man
ins Wahlprogramm schaut –, nämlich in Hessen Studien-
gebühren einzuführen?
Herr Kollege, ich kann die Zahlen nicht anders dar-
stellen, als sie sind. Das kann ich genauso wenig, wie Sie
es können. Die Studienanfängerzahlen sind so, wie sie
sind. Ob sie wegen der Studiengebühren so sind oder
nicht, können wir noch gar nicht berechnen.
Außerdem frage ich Sie zurück: Warum gehen die
Studierenden nicht in die Bundesländer, in denen es
keine Studiengebühren gibt und die freie Studienkapazi-
täten haben, zumal ein Bundesland vom Hochschulpakt
sogar Geld bekäme, wenn die Studierenden genau dort
studieren würden? Es gibt aber keine nennenswerten
Wanderungsbewegungen. Im Übrigen bin ich deshalb
dafür, dass wir nachlaufende Studiengebühren wie im
schwarz-grün regierten Bundesland Hamburg einführen,
wo nachweislich keine negativen Auswirkungen da-
durch zu verzeichnen sind. Auch im Saarland ist das
nach wie vor nicht der Fall.
Aber ich möchte jetzt fortfahren. Sie behaupten auch,
der Hochschulpakt I habe Konstruktionsfehler. Diese
Behauptung hat sich jetzt, 18 Monate nachdem er aufge-
legt worden ist, erledigt. Denn wie wir schon nach
18 Monaten sehen: Er wirkt.
Die nächste Behauptung, der Hochschulpakt sei un-
terfinanziert, wurde schon im zweiten Jahr der Laufzeit
widerlegt. Der Hochschulpakt wirkt. Die Entwicklung
liegt innerhalb der Prognose, und die Mittel pro Kopf
entsprechen dem Durchschnitt der Hochschulfinanzie-
rung. Es ist auch, wie ich finde, unsinnig, teure Studien-
plätze zum Maßstab zu machen, statt von den etwas bil-
ligeren auszugehen. Die Länder haben im Übrigen sehr
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20795
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Monika Grütters
wohl einen Spielraum – das wissen Sie auch –, die Stu-
dienfächer adäquat unterschiedlich zu bedienen.
Sie haben weiter behauptet, der Hochschulpakt sei
kurzsichtig angelegt. Der Hochschulpakt ist auf die Ab-
arbeitung des Studentenberges bis 2020 angelegt. Die
Vereinbarung, die die erste Phase im Detail regelt, sieht
eine rechtzeitige Fortschreibung vor. Ich bin froh, wenn
sich das Parlament mit allen Fraktionen einer solchen
Fortschreibung nicht verschließt.
Die Behauptung, es würden starre Ausbauziele für die
einzelnen Länder vorgegeben, ist völlig falsch. Die Vo-
rauszahlungen richten sich zwar nach der Annahme über
die Verteilung des Aufwuchses; die endgültige Mitfinan-
zierung erfolgt aber auf der Grundlage der tatsächlichen
Zahl der Studienanfänger. Das heißt, Herr Gehring: Geld
folgt Studierenden. Das gilt zumindest für das Bundes-
geld.
Davon, dass der Hochschulpakt gescheitert sei, kann
meines Erachtens keine Rede sein. Wir sind im Plan.
Dann wollen Sie einen Fonds zum Finanzausgleich
der Ist-Entwicklung gegenüber dem Soll. Wir bleiben
bundesseitig bei dem Prinzip, dass das Bundesgeld den
tatsächlichen Studierendenzahlen folgt. Von unserer
Seite fordern wir auch keinen zusätzlichen horizontalen
Länderfinanzausgleich. Im Übrigen haben Sie schon sel-
ber auf die hier bestehenden verfassungsrechtlichen Be-
denken hingewiesen.
Eine weitere Forderung ist die bessere Finanzierung
pro Kopf Studierender. Wir sind sehr wohl bereit, noch
einmal über die Anpassung dieser Pro-Kopf-Zahlen
nachzudenken. Der Bund ist aber unseres Erachtens kei-
neswegs berufen, gleichsam die Grundfinanzierung, die
ja bei den Ländern liegt, über eine Bundesmitfinanzie-
rung des Studentenwerkes auf den Kopf zu stellen. Au-
ßerdem wird beim OECD-Durchschnitt sicherlich nicht
berücksichtigt, dass in Deutschland überdurchschnittlich
lange studiert wird. Das heißt, dass pro Kopf der Studie-
renden zwar geringere Jahresausgaben anfallen, die
deutschen Studenten aber in der Gesamtsumme teurer
sind.
Sie fordern weiterhin, die Studienanfängerprognose
jeweils zu aktualisieren. Wir folgen selbstverständlich,
ebenso wie die Bundesregierung, den jeweils jüngsten
und aktuellen KMK-Zahlen.
Die Forderung nach zusätzlichen Lehrkapazitäten
durch Frauen- und Nachwuchsförderung ist zwar eine
wunderbare Idee, aber ich weiß nicht, was Sie für ein
Verständnis von Föderalismus haben. Die Frauenförde-
rung ist als Selbstverpflichtung der Länder in den Pakt
aufgenommen worden. Das kann der Bund schlechter-
dings nicht verordnen.
Sie wollen ein zentrales Zulassungsverfahren. Über
eine neue ZVS und die entsprechende Stiftung reden wir
schon lange. Ich würde aber gerne mit Ihnen über Ihr
Verständnis von der Autonomie und Eigenverantwor-
tung der Hochschulen diskutieren. Ich gebe zu beden-
ken: Wenn wir jetzt alle zwingen, daran teilzunehmen,
dann bedeutet das, dass wir ihnen Möglichkeiten, Eigen-
verantwortung wahrzunehmen, zum Beispiel, indem
mündliche Auswahlverfahren durchgeführt werden,
wegnehmen.
Die gesamtstaatlichen Anstrengungen von Bund und
Ländern sollen belastbar und ausfinanziert sein, fordern
Sie im letzten Punkt Ihres Antrags. Dazu kann ich nur
feststellen: Das ist eine gute Idee.
Die Erfolge von heute sollten aber, finde ich, nicht
den Blick auf die Herausforderungen von morgen ver-
stellen. Auch damit haben Sie recht. Da die Zahl der Stu-
dieninteressierten voraussichtlich noch wesentlich stär-
ker ansteigt, haben wir auf dem Bildungsgipfel die
richtige Antwort gegeben. Dazu haben Sie eine kleine,
höhnische Bemerkung gemacht. Wir denken allerdings,
dass es sehr gut war, den Hochschulpakt bedarfsgerecht
fortzuführen.
Außerdem haben wir beschlossen, das Potenzial an zu-
sätzlichen Studienanfängern und -anfängerinnen auszu-
schöpfen. Immerhin geht es um 275 000 zusätzliche Stu-
dierende bis 2015.
Neben der Zusage, den Pakt bis 2020 fortzuführen,
haben wir uns vorgenommen, das Qualitätsargument bei
der weiteren Ausgestaltung des Paktes angemessen zu
berücksichtigen. Wir wollen über die durchschnittlichen
Beträge pro zusätzlichem Studienanfänger gerne noch
einmal diskutieren und die Kostenentwicklung anpassen.
Die Vorauszahlung mit danach erfolgender spitzer Ab-
rechnung nach tatsächlicher Studienanfängerzahl und
die Fortsetzung der Overhead-Finanzierung werden bei-
behalten.
Über die Mechanik können wir gerne noch einmal re-
den; das ist richtig. Die Ausgestaltung der Pauschalen
für die neuen Bundesländer und Stadtstaaten ist zum
Beispiel einer der Punkte, die im Zusammenhang mit der
Fortführung diskutiert werden. Das Qualitätsargument
schenken wir Ihnen nicht, sondern es ist uns allen zu ei-
gen.
Herr Gehring, in meiner Heimatstadt Münster gibt es
einen Spruch, der da lautet: Der Mensch muss auch
jönne könne.
Gönnen Sie uns, den Regierungsfraktionen, aber vor al-
len Dingen den Hochschulen doch auch einmal einen Er-
folg, nämlich den ersten Erfolg des Hochschulpaktes.
Ich danke Ihnen.
20796 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Die Kollegin Cornelia Pieper hat jetzt das Wort für
die Fraktion der FDP.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Gehring, der zweite Teil Ihrer Rede, in
dem Sie von einer nachfrageorientierten Hochschulpoli-
tik gesprochen haben, hat mir viel besser gefallen als der
erste Teil. Ich halte es in diesem Zusammenhang mit
Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten der
Bundesrepublik Deutschland – bekannterweise ein Li-
beraler –,
der einmal gesagt hat: Der einzige Mist, auf dem nichts
wächst, ist der Pessimist.
Ich finde, dass wir angesichts der neuen Studienanfän-
gerzahlen keinen Grund haben, in Pessimismus zu ver-
fallen. Das gehört zu einer Politik dazu, die sich an den
Realitäten orientiert. Das will ich ausdrücklich sagen.
Der Antrag der Grünen wie auch der Antrag der Lin-
ken fallen nach alter Leierkastenmanier natürlich wieder
auf alte, ideologisch eingefärbte Positionen zurück. Das
kann keine Politik sein, die auf die Zukunft von Hoch-
schulen und deren Studierenden setzt.
Mir ist es unverständlich – es scheint auch absurd –,
dass im Antrag der Grünen beklagt wird, dass die Zahl
der Immatrikulationen hinter den Erwartungen zurück-
bleibt. Sie nennen insbesondere die Länder Nordrhein-
Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und das Saar-
land, die Sie als miserabel abstempeln.
Nun sind das gerade die Länder – Frau Kollegin Grütters
hat das eben zu Recht festgestellt –, die ihre Studienan-
fängerquote enorm steigern konnten. Das ist, denke ich,
positiv für diejenigen, die um die gesamtstaatliche Ver-
antwortung von Bildungspolitik streiten.
Es scheint im Bildungsausschuss ein gemeinsames
Ziel zu sein, dass wir angesichts der rückläufigen Ent-
wicklung bei den Bildungsausgaben wieder mehr in Bil-
dung investieren müssen. Wir liegen dabei unter dem
OECD-Durchschnitt. Natürlich müssen wir auch mehr in
die Hochschulen investieren. Wir müssen die Qualität
der Lehre verbessern. Es geht hier nicht nur um Masse,
sondern auch um Klasse. Deswegen verlangt die FDP
ein Mehr an Bildungsinvestitionen, insbesondere eine
Neuauflage des Hochschulpaktes und eine bessere Stu-
dienplatzfinanzierung, bei der jeder Studienplatz 25 Pro-
zent höher ausfinanziert werden sollte, als das bisher der
Fall ist.
Ich glaube, dass in diesem Zusammenhang auch das
Handeln der Regierungskoalition gefordert ist. In diesem
Zusammenhang möchte ich eindeutig sagen: Für uns war
der Bildungsgipfel an dieser Stelle enttäuschend. Ange-
sichts der Forderungen der Hochschulrektorenkonferenz
und des Wissenschaftsrats, der darauf aufmerksam ge-
macht hat, dass wir mindestens 1 Milliarde Euro mehr
für die Hochschulen benötigen, damit die Studienplätze
gut ausfinanziert sind, hätten Sie jetzt handeln müssen,
statt eine Arbeitsgruppe aus Vertretern von Bund und
Ländern einzusetzen, die bis Oktober nächsten Jahres
Vorschläge zur Finanzierung machen soll. Wir wissen
doch, welche Bildungsinvestitionen im Hochschulbe-
reich notwendig sind. Deswegen fordere ich die Große
Koalition nochmals auf, zu handeln.
Ich will noch einmal beim positiven, optimistischen
Ausblick – also bei Theodor Heuss – bleiben: Im Ver-
gleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Erstimmatrikulier-
ten immerhin um 7 Prozent. An den Universitäten betrug
die Zunahme 3 Prozent, an den Fachhochschulen sogar
knapp 13 Prozent. Ich kann auch bestätigen, was meine
Kollegin von der Union vorhin gesagt hat: Interessanter-
weise steigen die Zahlen der Studienanfänger auch in
solchen Ländern, in denen die FDP mitregiert.
Darauf will ich ausdrücklich verweisen. In Sachsen sind
die Zahlen der Studienanfänger dagegen rückläufig.
Auch im rot-grün regierten Bremen, Herr Gehring, sind
die Zahlen der Studienanfänger rückläufig. Man sollte
also nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glas-
haus sitzt.
Für mich ist es sehr wichtig, dass wir hier im Hause
begreifen: Wenn wir diesen Kraftakt von mehr Bildungs-
investitionen – es geht um Milliardenbeträge – bewälti-
gen bzw. realisieren wollen, dann bedarf es dazu unserer
gemeinsamen Anstrengung.
Die schlechte Nachricht habe ich bereits erwähnt. Der
Studentenberg stellt eine große Herausforderung für
Bund und Länder dar und zwingt uns zur Neujustierung
der öffentlichen Hochschulfinanzierung. Wir brauchen
dringend zusätzliche Studienplatzkapazitäten. Die Hoch-
schulen platzen schon jetzt aus allen Nähten. Wir können
nicht noch mehr Studenten in sie hineinpressen. Zusätz-
liche Mittel sind daher wichtig. Wir haben schon vor ei-
nigen Wochen in einem Antrag darauf aufmerksam ge-
macht, dass wir mehr Mittel für die Hochschulen und
insbesondere für die Studienplätze brauchen. Der Wis-
senschaftsrat hat darauf hingewiesen, dass das Lehran-
gebot bei der Einführung von Bachelor und Master ei-
gentlich um 15 bis 20 Prozent gesteigert werden muss
und dass dies Auswirkungen auf die Kalkulation hat; das
muss man berücksichtigen. Der Wissenschaftsrat hat zu-
dem mehrfach die unzumutbare Betreuungsrelation an
deutschen Hochschulen beklagt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20797
(C)
(D)
Cornelia Pieper
All das sind Punkte, die uns handeln lassen müssen.
Ich will ausdrücklich sagen, dass Studiengebühren oder
Studienbeiträge letztlich nicht zu weniger Studierenden
führen. Wir haben auch beim Statistischen Bundesamt
nachgefragt. Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
und der Linken, Sie verbreiten eine Mär. Hier gibt es
keinen kausalen Zusammenhang. Wenn es denn Ängste
bei Abiturienten und Schülern gibt, dann muss man dem
entgegenwirken. Wir haben vorgeschlagen, frühzeitig
mit der Bildungs- und Finanzierungsberatung von Schü-
lerinnen und Schülern zu beginnen und ihnen Wege auf-
zuzeigen, damit sie ein Studium aufnehmen können.
Es gibt viele intelligente Lösungen. Wichtig ist, fest-
zuhalten: Wir brauchen die Autonomie der Hochschulen
im globalen Wettbewerb. Wir Liberale wollen diese Au-
tonomie im Grundgesetz verankert wissen. Wir wollen
den internationalen Wettbewerb der Hochschulen ge-
währleisten. Wir müssen endlich mit der kontingentier-
ten Planwirtschaft samt der leidigen Kapazitätsverord-
nung Schluss machen. Das ist den Herausforderungen
des internationalen Wettbewerbs nicht angemessen.
Echte Hochschulautonomie setzt auf Wahlfreiheit. Diese
setzt eine Wettbewerbsorientierung voraus. Gerade des-
wegen verlangt die FDP eine öffentliche Hochschulfi-
nanzierung über Studiengutscheine. Nur so lässt sich das
Prinzip „Geld und Student“ verwirklichen.
Frau Pieper, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gehring zulassen?
Gerne.
– Das passt jetzt gut.
Bitte, Herr Gehring.
Eine kurze Frage: Sie haben die Abschaffung der Ka-
pazitätsverordnung gefordert. Teilen Sie meine Auffas-
sung, dass eine ersatzlose Abschaffung der KapVO zu
einer Konterkarierung des Ziels des Studienplatzausbaus
führen wird und dass viele Hochschulen diese Abschaf-
fung nicht zum Anlass nehmen werden, mehr Studien-
plätze aufzubauen? Darüber, dass sich die Betreuungs-
verhältnisse bessern müssen, haben wir Konsens.
Nein, ich glaube nicht, dass das durch die Abschaf-
fung der Kapazitätsverordnung passieren wird. Im Ge-
genteil: Wenn wir einen echten Wettbewerb – auch mit
Studiengutscheinen – initiieren, sodass die Hochschulen,
die mehr Studenten haben, mehr Geld bekommen, wer-
den die Hochschulen dafür sorgen, dass es neue Studien-
platzkapazitäten gibt. Wir werden dann eine bessere Fi-
nanzierung der Studienplätze und der Lehre haben. Hier
bin ich vollkommen anderer Meinung als Sie.
Man muss über die Ländergrenzen hinwegschauen.
Kapazitätsverordnungen sind im internationalen Ver-
gleich unüblich. Wir werden damit den Herausforderun-
gen des globalen Wettbewerbs unter den Hochschulen
nicht gerecht. Wir müssen für mehr Freiheit und Autono-
mie in der Hochschulpolitik sorgen; das fordern Sie
selbst. Dafür müssen aber bürokratische Barrieren und
Schranken fallen. Das wollen wir Liberale.
Vielen Dank.
Der Kollege Ernst Dieter Rossmann spricht jetzt für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen haben mit ihrem Antrag das Thema Hoch-
schulpakt auf die Tagesordnung gebracht. Wir von der
sozialdemokratischen Seite sagen: Die Idee, über den
Pakt für die Studierenden als Zentralaufgabe deutscher
Bildungspolitik immer wieder zu debattieren, teilen wir
ausdrücklich.
Es ist allerdings überfällig, dass dieser Pakt für die
Studierenden eine differenzierte Betrachtung erfährt.
Das soll die erste Bemerkung sein. Alleine auf die Zah-
len zu schauen, wird wahrlich der Studienwirklichkeit an
den Hochschulen nicht gerecht. Viele möchten studieren,
aber sie möchten auch gut studieren.
Deshalb sollten wir zusammen, auch Frau Grütters, beto-
nen, dass es uns um ein gutes Studium geht.
Darin, dass es ein Erfolg ist, dass wir vom Bund mit
dem Hochschulpakt I in Vorlage gegangen sind und die
Länder dafür gewinnen konnten, stimme ich mit unse-
rem Koalitionspartner überein. Diesen wichtigen Schritt
lassen wir uns auch nicht kleinreden.
Dass es nach der Verfassung überhaupt wieder möglich
ist, dass Bund und Länder bei einer für viele junge Men-
schen und für die Wirtschaft so zentralen Frage in der
Zukunft zusammenwirken können, ist etwas gewesen,
wofür wir lange gekämpft haben. Dass wir dieses Instru-
ment nicht liegen lassen, sondern nutzen wollen, wollen
wir positiv festhalten.
Wir sollten auch positiv festhalten, dass es keine
Stimmen mehr gibt, die behaupten, wir hätten zu viele
Studierende in Deutschland. Wir können uns vielmehr
20798 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
zusammen darüber freuen, dass es jetzt wieder über
2 Millionen geworden sind. Das möchte ich deutlich he-
rausstellen, weil das ein Signal an die jungen Menschen
ist, dass sie an den Hochschulen willkommen sind.
Ich will differenzierend hinzufügen: Wir hatten schon
einmal mehr als die 2,1 Millionen Studierenden, die wir
jetzt haben,
nämlich 2,2 Millionen. Genauso wie man das damals
nicht nur als Ergebnis der Hochschulpolitik hätte darstel-
len können, sollten wir uns auch jetzt nicht dümmer stel-
len, als wir in Wirklichkeit sind. Wir wissen, dass das et-
was mit der Hochschulausstattung, aber auch mit den
Geburtenjahrgängen und damit zu tun hat, dass jetzt teil-
weise doppelte Jahrgänge hinzukommen. Das hat auch
etwas mit wirtschaftlichen Erwartungen, Geldverdienen
und damit zu tun, dass man anstelle einer beruflichen
Ausbildung lieber eine Hochschulausbildung absolviert.
Mit der Differenzierung tun wir uns alle einen Gefal-
len; denn diese Differenzierung führt auch dazu, dass
wir die Potenziale stärker wahrnehmen. Wir müssen ehr-
lich bekennen: Die anwachsende Kluft zwischen denje-
nigen, die studieren könnten, und denjenigen, die studie-
ren, ist noch nicht geschlossen. Wir müssen sie aber
schließen, wenn wir die Zahl des akademisch ausgebil-
deten Personals, die wir angesichts von Pensionierungen
und Fachkräftebedarfen auf mittlere Sicht brauchen, ver-
größern wollen.
Deshalb noch einmal: Der Hochschulpakt I war ein
guter Einstieg, aber daraus folgt, dass wir erst recht ei-
nen guten zweiten Hochschulpakt brauchen. Dass die
Bereitschaft dazu vorhanden ist, hat sich bei dem Bil-
dungsgipfel in Dresden gezeigt. Eine der wichtigen Ver-
abredungen bestand darin, dass es zu einem Hochschul-
pakt II kommt. Das ist etwas. Er muss allerdings – das
sagen wir aus sozialdemokratischer Sicht – besser wer-
den, und zwar in vielerlei Hinsicht.
Der Bund gibt viel Geld, 560 Millionen Euro, und es
besteht die Erwartung, dass auch die Länder Zug um
Zug Geld zur Verfügung stellen und dieses Geld dazu
genutzt wird, um bessere Studienbedingungen herzustel-
len. Wir haben diesbezüglich unsere Zweifel. Man wird
überprüfen müssen, ob auch die Länder wirklich Zug um
Zug dafür Geld bereitstellen. Damit sie es tun, wird man
nach unseren Vorstellungen die Abrechnungsformen, die
Verpflichtungen und die wechselseitigen Zusagen präzi-
ser fassen müssen, als es beim ersten Hochschulpakt der
Fall war.
Man wird auch die Zeiträume, in denen Leistungen zu
erbringen sind, klarer fassen müssen, und es muss struk-
turell sichergestellt werden, dass alle Länder gleicherma-
ßen ihren Beitrag leisten. Was dies in Bezug auf die
Steuerungsinstrumente bedeutet, wird uns der Kollege
Swen Schulz sagen, und was das für die Qualitätskrite-
rien in Bezug auf diejenigen, die wir für die Hochschu-
len gewinnen wollen, und für die strukturellen Bedin-
gungen bedeutet, unter denen das Personal an den
Hochschulen lehren kann, wird Kollege Jörg Tauss be-
schreiben.
Ich will gerne drei allgemeine Aspekte betonen. Ers-
tens. Zunächst haben wir gelernt, dass der Gipfel an
Studierendenzahlen 2014/2015 erreicht sein soll. Aber
da-runter stellt man sich vor, dass die Zahl danach dra-
matisch zurückgehen wird. Wir erwarten aber eher, dass
sich die Zahlen – wenn es auch von Land zu Land ver-
schieden sein wird – über eine gewisse Zeit auf einem
hohen Niveau bewegen werden.
Deshalb sollten wir uns nicht nur dahin gehend ausrich-
ten, den Gipfel 2015 zu erreichen, sondern auch, in der
Perspektive bis 2020 leistungsfähig zu bleiben. Das
sollte schon allein deswegen geschehen, weil der Zufluss
aus den Ländern durchaus unterschiedlich ist.
Zweitens. Wir werden begreifen müssen, dass es mitt-
lerweile nicht nur um Plätze für Studienanfänger geht,
sondern auch um eine gute Lehre. Für uns ist ausgespro-
chen hilfreich gewesen, was der Wissenschaftsrat und
die Hochschulrektorenkonferenz dazu entwickelt haben
und was Professor Strohschneider im Ausschuss vorge-
stellt hat. Daraus folgt aber auch etwas: Es geht nicht nur
um die Finanzierung von zusätzlichen Plätzen für Stu-
dienanfänger, sondern auch um die finanzielle Aufwer-
tung der Art, wie man studieren kann, damit die gute
Lehre auch Platz greifen kann. Dies muss relativ schnell
geschehen. Die Vorschläge liegen auf der Hand, was die
Personalstruktur, die Mehrausstattung mit Personal, die
Qualifizierung von Hochschullehrern für gute Lehre,
was das Management, was die Organisierung guter
Lehre an Hochschulen bis hin zur Fachberatung angeht.
Wir dürfen die Zeithorizonte nicht bis zum Sankt-Nim-
merleins-Tag verschieben. Wir müssen das jetzt in An-
griff nehmen.
Dabei geht es um über 1 Milliarde Euro. Zusammen
mit der Fortschreibung des Hochschulpaktes I geht es
dann um 1 Milliarde Euro plus 6 Milliarden Euro. Ich
sage das, damit der Öffentlichkeit und all den Kollegin-
nen und Kollegen hier, die nicht so hochschulbegeistert
sein sollten, klar wird: Wir erwarten, dass das in Solida-
rität mit der jungen Generation finanziert wird,
und zwar von Bund und Ländern.
Es wird nicht bei diesem Modell „1 Milliarde Euro
für gute Lehre plus 6 Milliarden Euro für den Hoch-
schulpakt II“ bleiben: Dazu kommen natürlich BAföG
und Gebäudeinvestitionen. Allein mit mehr Personal
kann man der zusätzlichen Zahl an Studienanfängern in
den Hochschulen nicht gerecht werden.
In Dresden war von über 275 000 die Rede. Man braucht
also mehr Platz, etwa neue Räume, und eine moderne
Ausstattung.
Drittens. An dieser Stelle möchten wir deshalb für ei-
nes nachdrücklich werben. Bei dem, was der Kollege
Gehring von den Grünen sagte, klang an, dass man sich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20799
(C)
(D)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
natürlich schon fragt, ob wir wirklich nur in Stromnet-
zen, Telekommunikationsnetzen und Verkehrswegen
denken sollten, wenn wir jetzt eine vernünftige Kon-
junkturpolitik mit einer langfristigen Strukturpolitik ver-
binden wollen. Oder kann es eine Mobilisierung geben,
Investitionen in die Hochschulen so aufzubereiten, dass
man den einen Nutzen, nämlich konjunkturellen Auf-
schwung, mit dem anderen Nutzen, nämlich langfristige
Verbesserung von Infrastruktur, zwecks Weiterentwick-
lung der Schlüsselbereiche an den Hochschulen – For-
schung und Ausbildung – verbinden kann?
Wir haben darauf Hinweise bekommen. Noch einmal,
Professor Strohschneider, der Vorsitzende des Wissen-
schaftsrates, hat uns im Bildungsausschuss gesagt: An
den Hochschulen gibt es einen Sanierungsbedarf mit ei-
nem Volumen von 15 Milliarden Euro. Ich hoffe, wir
schaffen es, dafür zu sorgen, dass die Länder dem Bund
sagen: Wir möchten etwas in die Hand nehmen, und
wenn der Bund uns dabei stützen kann, dann sollten wir
ein gemeinsames Projekt daraus machen, etwa ein Bil-
dungsinvestitionsprogramm, ein Hochschulsanierungs-
programm, das dann doppelten Nutzen hätte. Dafür
möchten wir werben.
Es gibt nicht nur die Aussagen von Professor
Strohschneider; wir haben darüber hinaus bei großen
Bundesländern erste Rückfragen gestellt. Man kann nach-
lesen, wie sich Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-
Württemberg – diese Länder setzen fast 50 Prozent des
Hochschulbauvolumens um – nicht nur im Hinblick auf
Sanierungsbedarf, sondern auch im Hinblick auf Erwei-
terungsbedarf äußern.
Meine Bitte ist: Lassen Sie uns dem Beispiel folgen,
das unser SPD-Kollege Hagemann und seine Haushalts-
partner von der CDU bei den Haushaltsberatungen auf-
gezeigt haben: Sie haben klargemacht, dass für die Stär-
kung der konjunkturellen Nachfrage und der Stärkung
von Forschung und Wissenschaft die Bereitstellung von
zusätzlichen 200 Millionen Euro für die Anschaffung
von Forschungsgeräten vorgezogen wurde. Vielleicht
schaffen wir Ähnliches an anderer Stelle: etwas vorzu-
ziehen, etwas zu mobilisieren, dem Hochschulpakt II
eine materielle – auch bauliche – Grundlage zu verschaf-
fen, sodass die zusätzlichen Studierenden wirklich gut
studieren können. Dies ist unsere Devise.
Ihr werden nur Bund und Länder gemeinsam folgen
können. Es darf nicht immer nur streng nach Zuständig-
keiten gehandelt werden; denn die Erfordernisse verlan-
gen, dass man anpackt, und nicht, dass man nur in die
Gesetze schaut, dass man mobilisiert und nicht abwehrt.
Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, jetzt eine gute
Hochschulpakt-II-Initiative zu entwickeln, durch die
eine gute Baulichkeit, eine gute Personalausstattung und
eine gute Lehre so verbunden werden, dass der Pakt für
Studierende ein Pakt für ein gutes und erfolgreiches Stu-
dium wird.
Danke schön.
Jetzt spricht Cornelia Hirsch für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Versprechen der Bundesregierung beim ersten
Hochschulpakt war, mehr jungen Menschen ein Studium
zu ermöglichen. Aus Sicht der Linken darf man sich bei
aller berechtigten Freude über den Anstieg der Studien-
anfängerzahlen noch lange nicht zurücklehnen und sich
selbst auf die Schulter klopfen.
Denn dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht.
Wir sagen, es ist höchste Zeit für einen zweiten Hoch-
schulpakt. Und: Es ist entscheidend, dass beim zweiten
Hochschulpakt die Konstruktionsfehler des ersten Hoch-
schulpaktes nicht wiederholt werden. Wenn wir einen
zweiten Hochschulpakt auf den Weg bringen, dann heißt
das für die Linke, für einen Dreiklang aus mehr Studien-
plätzen, besseren Studienplätzen und einem Beitrag zur
sozialen Öffnung der Hochschulen zu sorgen. Davon ha-
ben wir bisher noch nicht sehr viel gehört.
Ich beginne mit dem ersten Punkt: mehr Studien-
plätze. Da gab es klare Fehler beim ersten Hochschul-
pakt; das sollte hier nicht verschwiegen werden. Man
kann nicht auf der einen Seite mehr Studienplätze ver-
sprechen und auf der anderen Seite beim Hochschulpakt
lediglich von Studienanfängerzahlen reden. Wenn Stu-
dierende an die Hochschulen kommen, muss gesichert
sein, dass das gesamte Studium ausfinanziert ist. Das ist
die erste notwendige Änderung.
Die zweite Änderung ist, dass wir im zweiten Hoch-
schulpakt zu verbindlichen Vereinbarungen mit den Län-
dern kommen müssen. Wenn wir uns die Bilanz des ers-
ten Hochschulpakts ansehen, dann erkennen wir, was die
Länder teilweise gemacht haben, um auf die gewünsch-
ten Zahlen zu kommen, ohne viel Geld beisteuern zu
müssen. Sachsen-Anhalt dreht an Kapazitätsregelungen
herum, um möglichst günstig dazustehen. In Baden-
Württemberg gibt es die Situation, dass die Berufsakade-
mien mit eingerechnet werden, um auf die entsprechen-
den Zahlen zu kommen. All das sind keine Beiträge zu
ernsthaften Bemühungen um mehr Studienplätze.
Wir können uns drittens auch nicht nur darüber freuen
– Frau Grütters, damit möchte ich auf Ihren Beitrag ein-
gehen –, dass es mehr Studienanfängerinnen und Stu-
dienanfänger gibt. Man muss auch darauf achten, wie
sich die Studierendenquote entwickelt. Sie haben recht,
wenn Sie sagen, dass diese Quote gestiegen ist. Wenn
man sich jedoch anschaut, wie sich die Zahl der Studien-
berechtigten entwickelt hat, dann erkennt man eine Li-
nie, die steil nach oben geht. Bei der Studierendenquote
hingegen erkennen wir eine Linie, die sich schlangenför-
20800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Cornelia Hirsch
mig nur leicht nach oben bewegt. Das ist längst nicht ge-
nug. Deswegen der erste Punkt: mehr Studienplätze.
Der zweite Punkt: mehr Qualität. Da ist es entschei-
dend – das wurde im Rahmen des ersten Hochschulpak-
tes nicht getan –, sich anzuschauen, vor welchen Heraus-
forderungen die Hochschulen mit der Umstellung auf die
neuen Studiengänge Bachelor und Master stehen. Wenn
man sich heute mit Studierenden unterhält, dann be-
kommt man überwiegend die Antwort: Durch das, was
gemacht worden ist, ist mein Studiengang schlicht un-
studierbar geworden; ich habe unglaublich hohe Prä-
senzzeiten, und es wird mir unglaublich viel abverlangt;
aber es passt alles überhaupt nicht mehr zusammen, und
die Betreuungsrelationen sind einfach eine Katastrophe. –
Man muss daher sagen: Wenn es wirklich mehr Qualität
geben soll, dann muss diese Umstellung auf Bachelor-
und Masterstudiengänge mit berücksichtigt werden. Das
heißt dann natürlich mehr Geld.
Mehr Qualität bedeutet für uns auch, dass in diesem
zweiten Hochschulpakt Kriterien für eine geschlechter-
gerechte Wissenschaft mit verankert werden müssen.
Frau Grütters, wenn Sie sagen, das gehöre nicht hierher,
dann muss man sich natürlich die Frage stellen, wie
wichtig einem solche Kriterien für eine geschlechterge-
rechte Wissenschaft sind. Für die Linke gehört das unab-
dingbar für mehr Qualität an den Hochschulen dazu.
Wenn man das nicht will, kann man es natürlich herun-
terfallen lassen. Wir sagen: Für mehr Qualität brauchen
wir solche Kriterien.
Damit komme ich zum dritten Punkt: soziale Öffnung
der Hochschulen. Der Fehler beim Hochschulpakt I war,
dass, obwohl das Studentenwerk massiv darauf hinge-
wiesen hat, folgender Punkt nicht beachtet wurde: Wenn
wir fordern, dass mehr Studierende an die Hochschulen
kommen, dann brauchen wir mehr Plätze in Wohnhei-
men, mehr Sitzplätze in der Mensa und mehr Betreu-
ungseinrichtungen. Es ist aber keine Investition in die
soziale Infrastruktur erfolgt. Es ist dringend erforderlich,
dass diese Punkte beim zweiten Hochschulpakt berück-
sichtigt werden.
Darüber hinaus müssen wir uns im Rahmen der sozia-
len Öffnung der Hochschulen auch anschauen, welche
sonstigen Prozesse im Hochschulbereich laufen. Da
steht an allererster Stelle die Exzellenzinitiative, die von
den verschiedensten Seiten hoch gelobt wird. Es wird
immer gesagt, beides gehöre zusammen: Der Hoch-
schulpakt schafft Qualität in der Breite, und die Exzel-
lenzinitiative sorgt für optimale Förderung in der Spitze.
Das Problem dabei ist aber, dass die Förderung in der
Spitze die Qualität in der Breite verhindert. Durch die
Prozesse, die an der Hochschule im Rahmen der Exzel-
lenzinitiative ablaufen – die Vorbereitung auf die An-
träge, der Versuch, bei der Drittmittelforschung mög-
lichst gut dazustehen und möglichst viel in PR-
Maßnahmen und Ähnliches zu investieren –, wird die
Erfüllung des eigentlichen Auftrages, nämlich der Aus-
bau der Studienplatzkapazitäten, zurückgeschraubt. Des-
halb fordert die Linke, dass nicht das Hauptaugenmerk
auf die Exzellenzinitiative gelegt wird und der Hoch-
schulpakt nur nebenbei läuft. Vielmehr muss die Exzel-
lenzinitiative auslaufen, und die Gelder, die bisher für
die Exzellenzinitiative bereitgestellt worden sind, müs-
sen in den zweiten Hochschulpakt fließen.
Im Zusammenhang mit der sozialen Öffnung spielen
auch die Studiengebühren eine Rolle. Immerhin haben
wir es inzwischen geschafft, dass die Bundesregierung
endlich die Studie zu den Studiengebühren veröffentlicht
hat und sie nicht mehr länger geheim hält. In dieser Stu-
die wird regierungsamtlich bestätigt, dass Studiengebüh-
ren vom Studium abschrecken. Da kann auch Frau
Grütters hier keine anderslautende Argumentation mehr
vertreten.
Deshalb kann man es nicht akzeptieren, wenn die Bun-
desregierung das Thema Studiengebühren im Rahmen
des Hochschulpaktes vollkommen außen vor lässt. Man
kann nicht einerseits die Hochschulen ausbauen wollen,
aber andererseits nichts dagegen tun, dass die Länder
diesen Ausbau durch die Einführung von Studiengebüh-
ren versperren.
Deshalb muss zumindest – das ist eine Forderung der
Linken – dafür gesorgt werden, dass die Länder, die Stu-
diengebühren erheben, die daraus fließenden Einnahmen
von den Mitteln abgezogen bekommen, die der Bund im
Rahmen des zweiten Hochschulpaktes bereitstellt.
Das wäre ein ernsthafter Beitrag zu mehr Studienplätzen
und zu mehr sozialer Öffnung an den Hochschulen.
Besten Dank.
Jetzt spricht Marion Seib für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heute hier zur Diskussion stehenden Anträge der
Grünen vom November 2008 und der Linken vom De-
zember 2008 laufen eigentlich der Situation hinterher;
denn wir haben seit Juni 2007 durch eine Verwaltungs-
vereinbarung zwischen Bund und Ländern einiges erle-
digt. Ihre Anträge bringen – das hat die Frau Kollegin
Grütters ausreichend dargelegt – weder Neues noch Er-
strebenswertes.
Frau Kollegin Hirsch, wir sollten uns einmal genau
anschauen, was mit dem Hochschulpakt bewirkt werden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20801
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Marion Seib
soll. Die Hochschulen sind ein wesentlicher Ankerpunkt
– darüber sind wir uns einig – für die deutsche For-
schungslandschaft. Dennoch müssen die Hochschulen
eine Einheit zwischen Forschung und Lehre herstellen
und die Qualität hoch halten. Deshalb ist auch die Betei-
ligung des Nachwuchses an der Forschung ein wesentli-
cher Eckpfeiler für die Zukunftsfähigkeit unseres Lan-
des. Das bedeutet für uns Hochschulpolitiker, dass wir
alles dafür tun müssen, die Leistungsfähigkeit der Hoch-
schulen zu sichern und die Hochschulen für die erhöhte
Zahl von Studienanfängern offen zu halten.
Deshalb hat der Hochschulpakt zwei Bausteine. Der
erste Baustein, die Programmlinie Lehre, besteht im We-
sentlichen darin, dass die Länder sich verpflichten, bis
2010 insgesamt mehr als 90 000, nämlich 91 370, zu-
sätzliche Studienanfänger an den Hochschulen aufzu-
nehmen.
Der Bund stellt hierfür 565 Millionen Euro zur Verfü-
gung. Selbstverständlich werden in dieser Vereinbarung
auch die Besonderheiten einzelner Länder berücksich-
tigt. Herr Kollege Rossmann hat recht: Wir müssen die
Länder im Auge behalten.
Aber der Grundsatz lautet: Wer mehr Studierende auf-
nimmt, bekommt auch mehr Geld vom Bund. Dieses
Modell – Geld folgt Studierenden – ist die beste Motiva-
tion, um den Weg für mehr Studierwillige frei zu ma-
chen.
Weil die Forschung auch die Aufgabe hat, sich im in-
ternationalen Wettbewerb zu profilieren, dürfen For-
schungsintensität und Forschungsexzellenz nicht unter
einem weiteren Anstieg der Studierendenzahlen leiden.
Deshalb besteht der zweite Baustein darin, eine Vollkos-
tenfinanzierung von Forschungsprojekten sicherzustel-
len. Durch diese Finanzierung von Programmpauschalen
werden eben die notwendigen Zusatzkosten bei den von
der DFG geförderten Projekten gedeckt, und zwar in
Sonderforschungsbereichen ebenso wie in Forschungs-
zentren und Graduiertenkollegs. Frau Kollegin Hirsch,
es wäre natürlich sehr schön gewesen, wenn Sie den
Hochschulpakt an dieser Stelle etwas genauer gelesen
hätten.
Selbstverständlich sind mit dem Hochschulpakt auch
weitere Zielsetzungen verbunden. Wir erwarten – ich
denke, darin sind wir alle hier im Raum uns einig –, dass
der Anteil von Frauen bei der Besetzung von Professu-
ren und Stellen weiter erhöht werden muss.
Zwar ist für die Jahre 2005 und 2006 ein positiver Trend
erkennbar, aber dieser Trend muss wesentlich mehr
Schwung erhalten.
Die Hochschulen werden ihren Aufgaben auf Dauer
nur gerecht werden, wenn sie auch mehr Frauen in For-
schung und in Lehre einbinden.
Dass hierfür natürlich die Voraussetzung ist, dass erst
einmal Stellen da sein müssen, versteht sich ja von
selbst. Deshalb ist der notwendige Stellenaufbau eine
weitere Zielsetzung dieses Hochschulpaktes.
Nach den Zahlen der Gemeinsamen Wissenschafts-
konferenz vom Oktober dieses Jahres gibt es geringe
Schwankungen bei den Studienanfängerzahlen an den
Universitäten. An den Fachhochschulen haben wir über
das gesamte Bundesgebiet im Mittel eine Steigerung der
Studienanfängerzahlen von 8,6 Prozent zu verzeichnen.
Die Länder, die sich rechtzeitig um den Ausbau ihrer
Fachhochschulen gekümmert haben, verzeichnen eine
Steigerung im zweistelligen Bereich, zum Beispiel Bay-
ern mit 12 Prozent.
Dies bedeutet, dass wir mit dem Hochschulpakt 2020
die akademische Ausbildung an den Fachhochschulen
weiter verstärken müssen, zumal dort die MINT-Fächer
erheblich gefragt sind. So gibt es auch im Bereich Ma-
schinenbau und Bauingenieurwesen eine Steigerung von
11 Prozent. Das ist ganz respektabel.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Ziel ist
hoch, und die Fakten sind erfreulich. Bei einer Studien-
anfängerquote pro Altersjahrgang von 39,3 Prozent und
einem Ziel von 40 Prozent befinden wir uns auf der Ziel-
geraden.
Wir müssen dieses Niveau anschließend auch halten.
Ausruhen ist deshalb nicht angesagt. Der doppelte
Abiturjahrgang 2011 wird von den Hochschulen ebenso
bewältigt werden müssen wie der Ausbau und die Mo-
dernisierung des gesamten Hochschulbaus. Kollege
Rossmann, Sie haben vorhin ja zutreffend darauf hinge-
wiesen, wie schwierig diese Aufgabe sein wird.
Die wichtigste Aufgabe der Landes- und Bundespoli-
tik in den nächsten Jahren wird aber sein, die Rahmenbe-
dingungen so zu verändern, dass möglichst viele Schul-
abgänger in den Genuss einer akademischen Ausbildung
kommen.
Die soziale Herkunft und das Alter dürfen hierbei natür-
lich keine Rolle spielen.
20802 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Marion Seib
Um mehr junge Menschen ins Studium zu bringen,
darf die Förderung nicht erst bei Studienbeginn begin-
nen, sondern sie muss so früh wie möglich einsetzen.
Daher müssen wir alle fördern, und zwar beginnend mit
den Kleinsten über die Grundschule und die Schulkinder
in der Sekundarstufe I bis hin zu den Schülern in der
gymnasialen Oberstufe.
Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir die Leistung
von Arbeitgebern bei der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf fördern, die sie beispielsweise durch die Unter-
bringung und Betreuung von Kindern ihrer Beschäftig-
ten bis zum vollendeten 14. Lebensjahr erbringen. Dazu
gehört aber auch, dass wir auch die Familien fördern,
die, ohne Hartz-IV-Empfänger zu sein, ein niedriges
Einkommen haben und ihren Kindern eine gute Bildung
finanzieren und zukommen lassen wollen.
An dieser Stelle möchte ich den Kollegen der Arbeits-
gruppe Bildung und Forschung der CDU/CSU-Fraktion
recht herzlich dafür danken, dass sie diese Leistungsträ-
ger – ich benutze dieses Wort an dieser Stelle ganz be-
wusst – im Blick behalten. Den Kollegen Marcus
Weinberg und Carsten Müller gilt mein ganz besonderer
Dank. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass die mit der
Bildung der Kinder zusammenhängenden Belastungen
in den Blickpunkt gerückt wurden. In diesem Zusam-
menhang müssen wir die Förderung der Kinder, die sich
in Ausbildung befinden – nicht nur in akademischer
Ausbildung –, besser unterstützen, und zwar bis zum
Ende der Ausbildung.
Um unser Ziel einer hohen Akademikerquote zu er-
reichen, geht es auch darum, außerhalb der materiellen
Verpflichtungen und Möglichkeiten maximale und vor
allem innovative Anstrengungen zu unternehmen. Es ist
von enormer Wichtigkeit, dass alle Verantwortlichen in
Bildung und Lehrbetrieb ihr Innovationspotenzial aus-
schöpfen. Dies hat zum Beispiel die TU München mit
Bravour vorgeführt. Mit großer Freude habe ich gelesen,
dass sie mit einem radikalen Umbau der Lehrerausbil-
dung begonnen hat. Ich begrüße dies außerordentlich. Es
kommt der Bildung der nächsten Generationen zugute,
wenn das intergenerationale Lernen aufgrund neuer Er-
kenntnisse in der Wissensvermittlung massiv gefördert
wird. Die gleichberechtigte Förderung von akademi-
scher und nichtakademischer Bildung ist dabei von
ebenso großer Bedeutung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen alle
Durchgangswege zu den Hochschulen offenhalten. Dann
können die Universitäten und die Fachhochschulen aus
einem ungeheuren Potenzial an jungen Männern und
Frauen schöpfen. Wir haben unser Ziel erst erreicht,
wenn jeder, der wirklich lernen will, dies auch tun kann.
Besten Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Swen
Schulz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute disku-
tieren wir zwei Anträge von Oppositionsfraktionen, der
Linksfraktion und dem Bündnis 90/Die Grünen. Sie ent-
halten beide eine wesentliche Aussage. Es wird gesagt:
Es ist alles ganz schlimm, und es wird noch viel schlim-
mer. Daran kann man sehen, wie verfehlt die Regie-
rungspolitik ist.
Das Dumme für die Opposition und ihre Argumenta-
tion ist an dieser Stelle,
dass das Statistische Bundesamt vor wenigen Tagen das
Gegenteil festgestellt hat. Die Studienanfängerquote hat
einen neuen Höchststand erreicht. Wir können mit unse-
rer Regierungspolitik also nicht ganz falsch liegen, wenn
wir solche Erfolge zeitigen. Das kann man an dieser
Stelle einmal ganz selbstbewusst festhalten.
So sehr die Regierungspolitik auch greift und so sehr
wir auch Erfolge verzeichnen, gibt es natürlich keinen
Anlass, sich jetzt zurückzulehnen und sich auf dem Er-
folg auszuruhen. Wir haben bei Weitem noch nicht alles
erreicht. Grüne und Linke weisen zu Recht auf Heraus-
forderungen der Zukunft hin. Wir wollen mehr. Eine Stu-
dienanfängerquote von 39 Prozent ist gut, aber es kann
und muss mehr sein.
Das sieht man schon an den Zulassungsbeschränkun-
gen im ganzen Land. Fast die Hälfte der Studiengänge
ist nicht für all diejenigen offen, die an die Hochschulen
wollen. Künftig werden wesentlich mehr Studieninteres-
sierte erwartet. Das bedeutet, dass wir einen erheblichen
Ausbau des Studienplatzangebotes
und einen noch stärkeren, noch besseren Hochschulpakt II
brauchen.
Das ist eine Frage der volkswirtschaftlichen Vernunft;
denn wir leben von dem, was die Menschen wissen und
was die Menschen können. Es ist auch eine Frage der so-
zialen Verantwortung; denn nur mit Bildung können die
Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen, es frei
gestalten und an der Gesellschaft teilhaben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20803
(C)
(D)
Swen Schulz
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sa-
gen, dass jeder Mensch ein Recht auf Bildung hat.
Das klingt zunächst einmal möglicherweise banal. Wenn
man es aber tatsächlich umsetzen will, ist es in der prak-
tischen Politik von Relevanz. Wir glauben, dass ein An-
gebot an Studienplätzen durch den Staat nicht so etwas
wie eine freiwillige Leistung oder eine großzügige Gabe
ist, die gewährt werden kann und die man gegebenen-
falls wieder zurücknehmen kann, wenn man es sich an-
ders überlegt hat oder das mit den Finanzen nicht so
klappt. Nein. Wir glauben, dass jeder Bürger, der willens
und in der Lage ist, zu studieren, die Möglichkeit dazu
bekommen muss. Das ist eine Bringpflicht des Staates.
Ich füge hinzu, dass dies auch für unser Land gut ist.
Studierende sind nicht etwa eine schwere Last oder eine
allzu teure Angelegenheit. Ganz im Gegenteil: Sie sind
eine tolle Chance. Sie bringen uns voran. Deswegen
müssen wir etwas dafür tun.
Deshalb wollen wir Zulassungsbeschränkungen abbauen
und Kapazitäten aufbauen. Liebe Kollegin Pieper, wir
wollen die Kapazitätsverordnung nicht einfach so ab-
schaffen. Das hätte nämlich den Effekt, dass die Hoch-
schulen ihre Tore vor den Studierenden wieder schließen
können. Genau das Gegenteil wollen wir erreichen: Wir
wollen die Tore öffnen.
Wir wollen den Hochschulzugang für beruflich Quali-
fizierte deutlich erleichtern und erweitern. Bislang wird
hier in Deutschland viel zu wenig gemacht. Wir wollen
die Studienplatzvergabe bundesweit besser organisie-
ren. Hier herrscht teilweise Chaos, und es werden wich-
tige Ressourcen verschleudert. Wir wollen die Studien-
gebührenfreiheit.
Sie können so viel herumreden, wie Sie wollen, es ist die
alltägliche Erfahrung und wissenschaftlich bewiesen,
dass insbesondere Einkommensschwache durch Studien-
gebühren belastet und so vom Studium abgeschreckt
werden. Das ist genau der falsche Weg.
Darum haben wir das BAföG erhöht und wollen es
weiter verbessern. Was ist das für eine Welt, meine sehr
verehrten Damen und Herren, in der der Zugang zum
Studium nur mit viel Geld oder mit einem guten Anwalt
möglich ist?
Nein, wir wollen im Gegenteil gute Lehre für alle und
darum einen ordentlichen Hochschulpakt II.
Angesichts der aktuellen Weltfinanz- und -wirt-
schaftskrise, über die wir ständig diskutieren, ist es umso
klarer, dass Investitionen in Bildung dringender denn je
nötig sind.
Wir könnten – das ist bereits angesprochen worden –
ganz schnell und konjunkturwirksam die nötigen Investi-
tionen in die Infrastruktur, in Gebäude, in Ausstattung,
in Mensen, in Wohnheime usw., vornehmen. Das kann
sofort starten. Der Bedarf ist da, und die Pläne liegen in
den Schubläden.
Deswegen meine herzliche Bitte an die Bundesregie-
rung – Herr Storm, vielleicht richten Sie dies auch Frau
Schavan aus –: Gehen Sie auf die Länder zu, versuchen
Sie, mit den Ländern zusammen eine Einigung darüber
zu erlangen, was vordringliche Maßnahmen sind, und
beginnen Sie noch vor dem Hochschulpakt II zu inves-
tieren. Das wäre sozusagen ein „Hochschulpakt Spe-
zial“, eine richtig gute Maßnahme, die uns voranbrächte.
Auf dieser Basis kann und muss dann der Hoch-
schulpakt II folgen, der das Studienplatzangebot auswei-
tet, die Hochschulen öffnet, die Qualität der Lehre ver-
bessert und somit wahrhaft ein Pakt für die Studierenden
wird.
Herzlichen Dank.
Ebenfalls für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege
Jörg Tauss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe es gesehen, Herr Dobrindt, vielen Dank.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Gestern Abend hatte ich eine Schulklasse aus mei-
nem Wahlkreis zu Besuch. Von den jungen Menschen
wird immer wieder der Eindruck geäußert, es gebe keine
Unterschiede zwischen den Parteien. Wir brauchen uns
hier nicht länger über das Thema Studiengebühren zu
unterhalten – leider sind die Länder dafür zuständig –;
aber in dieser Frage gibt es in der Tat klare Unterschiede:
Die SPD ist gegen Studiengebühren, egal, ob vor- oder
nachgelagerte, und andere sind dafür.
20804 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Jörg Tauss
Das ist zunächst einmal noch kein Problem, wenn man
politische Mehrheiten hat. Aber dieser klare Unterschied
muss benannt werden.
– Das ist ja nicht schlimm, Herr Dobrindt. Sie müssen
sich ja irgendwie von mir unterscheiden; ansonsten er-
kennt man Sie ja gar nicht. In der Studiengebührenfrage
sind wir also unterschiedlicher Auffassung.
Dann wurde von Frau Pieper gesagt, es gebe keinen
Beleg dafür, dass jemand wegen der Studiengebühren
nicht studiert.
– Ich lade Sie herzlich gern zu einem Kaffee in mein
Büro ein. Dort können Sie einen Auszubildenden unse-
rer Landesgruppe Baden-Württemberg kennenlernen, ei-
nen tüchtigen jungen Mann mit Abitur, Klassenbester
übrigens, bester Berufsschüler; das liegt ja am Ausbil-
der; man freut sich ja dann. Ich habe ihn gefragt, warum
er einen Ausbildungsplatz bei mir haben wolle.
– Das fragt sich auch Herr Dobrindt. – Zum einen hat er
gesagt, er finde die Stelle interessant; der Mann ist ein-
fach klug. Zum anderen hat er klar gesagt, er bzw. seine
Eltern könnten sich ein Studium nicht leisten.
– Das hat doch gar nichts mit Bayern zu tun. In meinem
Bekanntenkreis haben Leute aus dem Mittelstand, den
Sie, Frau Pieper, entlasten wollen, drei Töchter, die un-
gefähr gleichzeitig in das studierfähige Alter kommen,
aber nicht BAföG-berechtigt sind. Da ist es halt ein Un-
terschied, ob man pro Jahr 3 000 Euro mehr an Studien-
gebühren zahlen muss. Die Entscheidungen, die hier ge-
troffen werden müssen, reichen darüber hinaus bis zur
Frage von Lehrbüchern und Ähnlichem; diesbezüglich
müssen auch Eltern von Schulkindern rechnen. Hierzu
sagt die SPD: Vom Geld der Eltern darf weder ein Stu-
dium noch ein Schulbesuch abhängen. Dies kennzeich-
net unsere Bildungspolitik grundsätzlich über viele Jahre
hinweg.
Die Kollegen Schulz und Rossmann haben schon Vie-
les gesagt. Zum Schulterklopfen gibt es in der Tat – das
ist vonseiten der Opposition mehrfach gesagt worden –
keinen Anlass. Der Kollege Schulz hat aber auch deut-
lich zum Ausdruck gebracht, dass wir den Hoch-
schulpakt I jetzt auch nicht in Sack und Asche zu reden
brauchen. Er hatte nämlich auch positive Wirkungen.
Freuen wir uns doch darüber.
Herr Kollege Tauss, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Pieper?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wäre mir sogar sehr recht, liebe Kollegin Pieper,
weil ich nur noch 2 Minuten und 15 Sekunden Redezeit,
aber noch ganz viele Seiten Manuskript vor mir habe.
Vielleicht bekomme ich das eine oder andere davon in
der Antwort auf Ihre Frage unter. Seien Sie so lieb.
Bevor Sie noch weitere Falschmeldungen, insbeson-
dere über die FDP verbreiten,
und mich noch einmal zu einer Tasse Kaffee einladen
– darum geht es ja nicht, Herr Tauss –, frage ich Sie:
Würden Sie mir und damit dem Statistischen Bundes-
amt, das das nachgewiesen hat, recht geben, dass die
Studienanfängerquote gerade in den Ländern gestiegen
ist, in denen die Hochschulen Studienbeiträge nehmen?
Zwischen Studienanfängerquote und Studiengebühren
besteht kein Zusammenhang. Wir sind uns dahin gehend
einig, dass die Aufnahme eines Studiums nicht vom
Geldbeutel der Eltern abhängig sein darf. Würden Sie
bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass Bayern die Gebüh-
ren ab dem dritten Kind, wenn Kindergeld gezahlt wird,
erlässt? Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Frau Kollegin Pieper, ich bin ja froh darüber,
dass wir gemeinsam der Auffassung sind – der erste Teil
Ihrer Frage war das Positive an Ihrer Aussage –, dass
Geld in Deutschland keine entscheidende Rolle spielen
darf, wenn es um Bildungserfolg oder grundsätzlich um
den Zugang zu Bildung geht. Also verbindet uns schon
einmal etwas. Ich frage mich aber, woher Ihre Logik
kommt. Sie sagen: Wenn ich Studiengebühren erhebe,
hat das mit dem Geldbeutel der Eltern nichts zu tun.
Diese Logik erschließt sich mir tatsächlich nicht. Daher
würde ich vorschlagen, dass wir die weitere Entwick-
lung betrachten.
Im Ausschuss haben wir über die HIS-Studie disku-
tiert. Die Verfasser der HIS-Studie haben klar ausgesagt:
Einfache Zusammenhänge sind nicht in irgendeiner
Form herstellbar. Das ist die eine Seite der Medaille.
– Ich bin immer noch dabei. – So ungern ich der Kolle-
gin Hirsch an einigen Stellen recht gebe, weil sie gele-
gentlich so furchtbar überzeichnet – manchmal wäre es
besser, wenn sie das nicht täte –, in einem Punkt hat sie
trotzdem recht, und das ist die zweite Seite der Medaille:
Die Zahl der Abiturienten, die Zahl der Zugangsberech-
tigten ist gestiegen – diese Zahlen sind belegbar –, die
Zahl der Studierenden steigt aber nicht in vergleichba-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20805
(C)
(D)
Jörg Tauss
rem Maße. Zu der Gruppe der Studienberechtigten, die
kein Studium aufnehmen, zählt auch mein Auszubilden-
der, über den ich eben gesprochen habe. Auch er sagt:
Wir können uns das nicht leisten. – Das wollen wir ver-
hindern, liebe Frau Kollegin Pieper.
Stichworte, die man mit einer Verbesserung des
Hochschulpaktes in Verbindung bringen kann, gibt es
genug. Ich mache jetzt einfach einmal weiter. Ich bin für
jede weitere Zwischenfrage dankbar, da ich nur noch
1 Minute und 37 Sekunden Redezeit habe.
Bis 2010 finanzieren wir den Overhead mit über
700 Millionen Euro. Das ist eine Menge Geld. Der Kol-
lege Hagemann, unser Haushälter, schaut gerade, wo er
die 700 Millionen Euro für das nächste Jahr herbekom-
men kann. Lieber Klaus, das müssen wir über den Hoch-
schulpakt regeln, weil das ausschließlich Geld des Bun-
des ist. Hier wollen wir die Länder aber mit im Boot
haben, was richtig ist. Ich glaube, wir können es schaf-
fen, erheblich höhere Beträge für den Hochschulpakt
einzuwerben, wenn wir mit den Ländern noch einmal
verhandeln.
Ein weiterer Stichpunkt: Das Geld folgt den Studie-
renden. Frau Kollegin Seib, ich bin sehr dankbar dafür.
Wie man das Ding am Ende nennt, ist mir wurscht; we-
gen meiner kann man es auch Gutscheinmodell nennen.
Der Gedanke ist das Wesentliche.
Es darf keine Belastung für die Hochschulen und Uni-
versitäten sein, wenn junge Leute zu ihnen kommen.
Eine Universität muss davon profitieren, dass sie lukra-
tiv ist und viele hingehen wollen. Die Länder und wir
müssen es honorieren, dass sich eine Universität um
diese Leute kümmert, dass sie für junge Menschen lu-
krativ ist. Die jungen Menschen dürfen nicht als Belas-
tung, sondern müssen als Bereicherung empfunden wer-
den.
Was die Investitionen in die Unterhaltung der Einrich-
tungen angeht, sind wir uns alle einig. Ich muss sagen:
Ich war bei den Debatten über das, was wir für die Kon-
junktur tun – „Konjunkturprogramm“ dürfen wir ja nicht
sagen –, überrascht darüber, dass wir keinen Überblick
über die Projekte der Länder haben. Das unterscheidet
uns, Herr Kollege Storm, vom Verkehrsbereich. Wir wis-
sen über jedes einzelne Straßenprojekt, das planungsreif
in irgendeiner Schublade liegt, genau Bescheid. Wir
könnten sie alle morgen im Rahmen eines Konjunktur-
programms beginnen. Das gibt es bei den Universitäten
nicht. Das halte ich für skandalös. Das ist ein Punkt, um
den wir uns kümmern müssen. Ich hoffe, dass wir das
gemeinsam tun können.
Ansonsten werbe ich mit Verve dafür, dass wir das
Erfolgsmodell der Juniorprofessur – das sollte eigentlich
der Hauptteil meiner Ausführungen sein – vorantreiben.
Wir müssen qualitative Forderungen stellen. Ein Frauen-
anteil in Höhe von 30 Prozent ist ein toller Erfolg. Damit
können wir auch die Lehre verbessern. Das muss ein
wichtiger Teil des Hochschulpaktes II sein.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Tauss, die gute Nachricht ist, dass wir
diese Vorlagen an die Ausschüsse überweisen wollen.
Das heißt, all die anderen Seiten können Sie noch zur
Geltung bringen. Dann werden noch eine zweite und
eine dritte Lesung stattfinden.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/10881 und 16/11178 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b so-
wie Zusatzpunkt 5:
9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst-
Reinhard Beck , Kristina Köhler
, Günter Baumann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Gabriele Fograscher, Dieter
Grasedieck, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Zur Lage der politischen Bildung in Deutsch-
land
– Drucksache 16/9766 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian
Ahrendt, Christoph Waitz, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Politische Bildung zur Bekämpfung von Rechts-
und Linksextremismus effektiver fördern und
nutzen
– Drucksache 16/10312 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Priska Hinz , Katrin Göring-
20806 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra Pau
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Politische Bildung zur Stärkung der Demokra-
tie und Bekämpfung des Rechtsextremismus
weiterentwickeln
– Drucksache 16/11201 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kol-
lege Ernst-Reinhard Beck für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Demokratie ist kein Selbstläufer. Demokratie ist
keine sich selbst erneuernde Ressource. Wir selbst sind
Träger der Demokratie. Sie lebt nur, wenn wir die richti-
gen Voraussetzungen schaffen, sie erhalten und stetig er-
neuern. Jeder, der sich in die Demokratie einbringt,
braucht das nötige Rüstzeug, um einen qualifizierten
Beitrag leisten zu können. Dafür ist die politische Bil-
dung ein unabdingbares Instrument.
Die Demokratie ist eine Regierungsform, die nicht
gerade darauf angelegt ist, das Herz zu erwärmen. Sie ist
formal und manchmal nüchtern und aufwendig.
Die politische Bildung vermittelt die Einsichten, ohne
die die Demokratie blutleer und saft- und kraftlos bliebe
und manchmal auch nur schwer verständlich. Politische
Bildung wirkt dem entgegen. Demokratie erfordert – das
ist eine Binsenweisheit – stetige Mitarbeit. Dazu regt po-
litische Bildung an.
Durch sie können die Menschen Zusammenhänge
verstehen und erkennen. Sie stellt den Menschen und
seine Würde in den Mittelpunkt. Meine sehr geehrten
Damen und Herren, politische Bildung ist eine zentrale
Aufgabe unserer Politik und unserer demokratischen
Parteien. Ich verweise auf das Parteiengesetz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es gelungen, eine de-
mokratisch geprägte politische Kultur aufzubauen. Seit
der Wiedervereinigung gilt dies auch für die neuen Bun-
desländer. Dies ist auch ein Erfolg politischer Bildung.
Wenn wir auf die Anfänge unserer Bundesrepublik
zurückblicken, so war es das einzig Richtige und ein
wichtiger Schritt, für eine demokratische Zukunft Ein-
richtungen der politischen Bildung zu schaffen. Diese
haben sich über Jahrzehnte bewährt. Dies gilt vor allem
für Einrichtungen, die in öffentlichem Auftrag arbeiten
wie die Bundeszentrale für politische Bildung, die Lan-
deszentralen für politische Bildung sowie die Stiftungen
der Parteien, aber auch für die Einrichtungen freier Trä-
ger wie etwa den Bundesausschuss für Politische Bil-
dung.
Die Investitionen in politische Bildung haben sich ge-
lohnt und lohnen sich weiterhin, Pfennig für Pfennig,
Cent für Cent, Euro für Euro.
Meiner Meinung nach besteht Konsens darüber, dass
politische Bildung immer wichtiger wird. Bei aller Ge-
nugtuung darüber, dass uns der Aufbau einer demokrati-
schen Gesellschaft gelungen ist, dürfen wir die deutli-
chen Warnzeichen der heutigen Zeit nicht übersehen.
Geht nicht allenthalben die Wahlbeteiligung zurück? Ha-
ben nicht alle Parteien Nachwuchsprobleme? Wird nicht
zunehmend mit der Politik und mit Politikern heftig ins
Gericht gegangen, über sie gemeckert und gelästert?
Demokratie, Politiker und Politikverdrossenheit sind
nicht nur wissenschaftliche Begriffe. Im politischen All-
tag werden wir immer deutlicher mit diesen Phänome-
nen und deren Konsequenzen konfrontiert. Die Bürger
verlieren das Vertrauen in die Demokratie und in die Po-
litik, wenn wir hier nicht höllisch Acht geben.
Ein wichtiger Grund für den Vertrauensschwund vie-
ler Menschen ist meiner Meinung nach das mangelnde
Verständnis für die ablaufenden politischen Prozesse.
Nationale Politik, die oft gescholtene europäische Politik
wie auch die global verlaufenden Prozesse sind mitunter
so kompliziert, dass sie ohne einen Grundstock an politi-
scher Bildung nicht verstanden werden können. Frust
und Abwendung sind die Folgen. Was man nicht ver-
steht, kann kein Vertrauen schaffen. Deshalb kann man
mit Recht behaupten: Die schwierigen politischen He-
rausforderungen, denen wir gegenüberstehen, können
nur erfolgreich gemeistert werden, wenn es möglichst
viele politisch gebildete Bürgerinnen und Bürger in un-
serem Lande gibt.
Wir müssen uns hierbei vor allem den neuen Heraus-
forderungen stellen, denen sich die politische Bildung
ausgesetzt sieht. Wir müssen verstärkt auf Migranten
und ebenso auf bildungsferne und politikferne Zielgrup-
pen zugehen. Es muss der politischen Bildung dabei ge-
lingen, sich neuer Methoden, neuer Formate und neuer
Medien erfolgreich zu bedienen. Nur so können wir alle
Schichten unserer Bevölkerung wirksam und zielgrup-
pengerecht erreichen. Die bisherigen Ansätze in dieser
Richtung sind lobenswert, aber durchaus verbesserungs-
fähig. Hier sind vielleicht ein ganzes Stück mehr Mut
und ein Schuss mehr Kreativität angebracht.
Den Zulauf zu extremistischen Parteien, irrlichternden
Populisten und politischen Scharlatanen sehe ich als eine
besorgniserregende Entwicklung an, der wir entschlos-
sen und geschlossen begegnen müssen. Wir müssen die
Anstrengungen im Kampf gegen Extremismus und
Fremdenfeindlichkeit auf dem Feld der politischen Bil-
dung verstärken. Die Auseinandersetzung mit Extremis-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20807
(C)
(D)
Ernst-Reinhard Beck
mus jeglicher Ausprägung, insbesondere die Auseinan-
dersetzung mit Rechtsextremismus, Linksextremismus
und religiösem Fanatismus, gehört zu den dauernden
Aufgaben der politischen Bildung. Hier ist der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen – ich muss es so sagen –, so
gut er ansonsten ist, leider auf dem linken Auge blind,
liebe Frau Kollegin Lazar.
Von enormer Bedeutung sind auch die breite Aufar-
beitung der Schreckensherrschaft des Nationalsozialis-
mus und die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur.
Diese Aufarbeitung muss weiter vorangetrieben werden.
Das bestätigen aktuelle Studien. Ich bin sehr froh, dass
der Antrag der FDP genau in diese Richtung zielt. Jede
Investition in Prävention ist wesentlich nachhaltiger und
kostengünstiger als aufwendige Folgeprogramme, die
sich mit dem Aufräumen der Konsequenzen verfehlter
politischer Bildung beschäftigen müssen.
Wir können und müssen es schaffen, dass den politik-
verdrossenen und apolitischen Menschen, die sich von
der Politik abwenden, durch politische Bildung wieder
ein Werkzeug in die Hand gegeben wird, das es ihnen er-
möglicht, sich als Demokraten ihres eigenen Verstandes
zu bedienen, sich in ihre eigene Sache einzumischen,
und sie davon abhält, politischen Scharlatanen nachzu-
laufen. Die Aufgabe politischer Bildung ist niemals erle-
digt. Politische Bildung ist Daueraufgabe. Sie ist ein
ganz wesentlicher Baustein im Konzept des lebenslan-
gen Lernens, das in unserer schnelllebigen Zeit immer
stärker propagiert und gefordert wird und an dessen Um-
setzung es trotzdem oftmals hapert. Politisch gebildete
Bürger bilden die Basis einer stabilen Demokratie. Des-
halb müssen wir die politische Bildung nicht nur bewah-
ren, sondern ausbauen. Dies fordern wir in unserem An-
trag.
Wir brauchen eine Allianz über Parteigrenzen hin-
weg. Ich sage das in aller Klarheit und Deutlichkeit. Das,
was uns allen wert und teuer ist, die Grundsätze unserer
Verfassung, der freiheitliche Rechts- und Sozialstaat, das
Leitbild der Menschenwürde, der Sinn für das, was un-
sere Gesellschaft bei allem, das uns trennt, zusammen-
hält, braucht Pflege. Diese Pflege sollte vor allen Dingen
durch die Einrichtungen politischer Bildung sowie durch
einen verbesserten Sozialkundeunterricht an unseren
Schulen erfolgen.
Der unter Bildungspolitikern und Experten überall
akzeptierte Beutelsbacher Konsens stellt das Gemein-
same heraus. Ich erläutere es vielleicht einmal für die
Nichtfachleute der politischen Bildung. Es gibt hier zwei
Grundsätze.
Erstens orientiert sich die politische Bildung daran,
das, was in der Realität umstritten ist, auch in der politi-
schen Bildung umstritten und kontrovers darzustellen.
Das Zweite ist: Wir haben eine Verantwortung gegen-
über denen, die wir politisch bilden. Wir dürfen sie nicht
überwältigen. Dies unterscheidet politische Bildung üb-
rigens von Wahlkampf und politischer Werbung; das sei
an dieser Stelle erwähnt.
Der Beutelsbacher Konsens, der das Gemeinsame he-
rausstreicht, ist eine wichtige Leitschnur. Er ist Garant
für eine erfolgreiche politische Bildung. Die Zeit der
fruchtlosen Grabenkämpfe in der politischen Bildung ist,
wie ich meine, Gott sei Dank längst überwunden. Lassen
wir diese Pflanze, die politische Bildung, nicht aufgrund
mangelnder Beachtung und ungenügender Ausstattung
verkümmern! Sie ist international anerkannt. Sie stärkt
unsere Demokratie und kann uns Politikern den Weg eb-
nen. Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
bitte ich Sie alle um eine breite Unterstützung der politi-
schen Bildung und all ihrer Einrichtungen in unserem
Land und um Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Christian Ahrendt.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Ich möchte mich dem Thema politische Bildung
mit einem Zitat von Oscar Wilde nähern:
Bildung ist etwas Wunderbares. Doch sollte man
sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wirklich
Wissenswertes nicht gelernt werden kann.
Als Jurist und Innenpolitiker habe ich mir überlegt,
wie ich mich diesem Thema auf dieser Basis nähern
kann. Man kann politische Bildung in einen objektiven
und einen subjektiven Tatbestand zerlegen. Der objek-
tive Teil ist gelerntes Wissen, der subjektive Teil ist die
Vermittlung von Werten.
Was den objektiven Tatbestand betrifft, liegen auch
konkrete Messergebnisse vor. Wir können Menschen fra-
gen, ob sie wissen, was am 9. November 1989 geschah.
Der Stern hat dies vor kurzem im Rahmen einer umfang-
reichen Studie getan. Nur jeder dritte Deutsche wusste,
dass an diesem Tag die Berliner Mauer fiel. Aus dersel-
ben Umfrage erfahren wir auch, dass nur jeder dritte
Deutsche weiß, wann die Bundesrepublik Deutschland
gegründet worden ist und wann die DDR gegründet wor-
den ist. Im Umkehrschluss heißt das, dass 70 Prozent der
Deutschen nicht wissen, wann die Mauer gefallen ist und
wann die Bundesrepublik gegründet wurde.
Auch den Einbürgerungstest hat man unseren Mitbür-
gern testweise vorgelegt. Auch hier war als Ergebnis
festzustellen, dass das politische und geschichtliche All-
gemeinwissen nicht besonders gut ausgeprägt sind.
Welches Fazit können wir daraus ziehen? Um die po-
litische Bildung der Menschen ist es nicht sehr gut be-
stellt, wenn 70 Prozent der Deutschen die bedeutendsten
Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte nicht ken-
20808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Christian Ahrendt
nen. Die Konsequenz lautet, dass man sich die Lehrpläne
vornehmen muss. Wir brauchen einen anderen, einen
besseren Geschichtsunterricht. Wir brauchen eine an-
dere, eine bessere Erwachsenenbildung. Es ließen sich,
wenn man diese Kette fortsetzen wollte, noch weitere
Beispiele anführen, zum Beispiel Fragen im Hinblick
auf das Funktionieren unserer Demokratie.
Hierbei geht es – jetzt komme ich ein Stück weit auf
das eingangs erwähnte Zitat zurück – nur um objektives
Wissen, um Kenntnisse historischer oder politischer Er-
eignisse. Dieses Wissen ist zweifellos wichtig. Es zu be-
sitzen heißt aber noch lange nicht, dass man tatsächlich
über politische Bildung verfügt. Allgemeine Geschichts-
und Wissensvermittlung allein reicht heute nicht mehr
aus, um politische Bildung zu betreiben.
An dieser Stelle komme ich zum subjektiven Tatbe-
stand politischer Bildung – er ist eigentlich ein Kern-
anliegen –: Politische Bildung soll in erster Linie de-
mokratische Spielregeln vermitteln, bzw. – etwas
anspruchsvoller formuliert – politische Bildung soll im
Bewusstsein der Bürger ein demokratisches Verständnis
verankern.
Demokratisches Bewusstsein unterscheidet sich von
erlernbarem Wissen in erster Linie dadurch, dass es hier-
bei um ein Demokratieverständnis geht, das nicht durch
bloßes Sachwissen verinnerlicht werden kann. Dass sich
dieses Bewusstsein nicht von selbst bildet, zeigen zahl-
reiche Forschungsergebnisse, die zumindest hellhörig
machen sollten.
So hat eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stif-
tung, die jüngst vorgelegt worden ist, ergeben, dass es
eine starke Tendenz zu rechten Ansichten gibt. So wurde
den Teilnehmern die Aussage vorgelegt:
Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige
starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt
verkörpert.
Dieser Aussage haben 22,2 Prozent der Befragten zuge-
stimmt. Bei den Befragten aus den neuen Bundesländern
lag die Zustimmung bei 29,3 Prozent. In den alten Bun-
desländern stimmten 20,4 Prozent dieser Aussage zu.
Dabei handelt es sich nicht um ein Signal, das die alten
Bundesländer erleichtern kann.
Es gibt weitere Ergebnisse dieser Studie. Ein Ergebnis
macht beispielsweise deutlich, dass Antisemitismus in
den alten Bundesländern stärker verbreitet ist als in den
neuen Bundesländern. An der Spitze liegt hier Bayern,
gefolgt von Thüringen in den neuen Bundesländern. Bei
der Verharmlosung des Nationalsozialismus liegt Baden-
Württemberg laut dieser Umfrage vor Mecklenburg-Vor-
pommern an der Spitze.
Das heißt, dass man nicht vorschnell sagen kann, es
handele sich um eine Ost-West-Thematik oder um eine
Nord-Süd-Thematik. Vielmehr ist es ein Problem, das
die Bundesrepublik in ihrer Gesamtheit berührt. Es zeigt
zugleich, dass diese antidemokratischen Einstellungen
trotz politischer Bildung in den letzten Jahren nicht ver-
schwunden sind, sondern eher zugenommen haben.
Das drückt sich nicht unbedingt in Wahlergebnissen
aus. Wichtiger als Wahlergebnisse sind manchmal Ein-
stellungen der Menschen. Einstellungen sind latent vor-
handen. Was latent vorhanden ist, kann immer angespro-
chen werden. Was unterschwellig vorhanden ist, kann
sich verändern, wenn andere Bindungskräfte wichtiger
werden. Diese Studie bezeichnet wirtschaftlichen Wohl-
stand als sogenannte „Plombe“. Wenn sich diese Plombe
löst, werden Einstellungen sichtbar, die man sonst nicht
wahrgenommen hat. Diese Diagnose führt zwangsläufig
zu weiteren Fragen, die man sich stellen muss: Was pas-
siert, wenn die Plombe herausfällt?
Wie sieht es unter der Plombe aus? Genügt es, sich nur
um einen Klebstoff zu kümmern, der Plombe und Zahn
so fest verbindet, dass keine Karies mehr entstehen
kann?
Heute ist es die Kernaufgabe der politischen Bildung,
diese Fragen zu beantworten. Demokratisches Bewusst-
sein ist nicht einfach automatisch vorhanden, sondern
bildet sich in einem fortwährenden Prozess. Vor allem
Kinder und Jugendliche nehmen Denkformen und Ver-
haltensweisen ihrer Umwelt auf. Umso mehr brauchen
sie eine entgegenkommende Umgebung, die Anlässe,
Anstöße, Gelegenheiten und Mitwirkungsmöglichkeiten
schafft. Dadurch erlernen vor allem Jugendliche und
Kinder demokratische Spielregeln. Es ist zuerst Auftrag
der Politik, nicht unbedingt der politischen Bildung, eine
solche gesellschaftliche Umgebung zu schaffen.
Man muss innovative Antworten auf die Herausforde-
rungen finden, vor denen die politische Bildung heute
steht. Allein die Vermittlung von Geschichtswissen
reicht nicht mehr aus. Geschichtsvermittlung wird ohne
Zeitzeugen immer schwieriger; wir haben keine Men-
schen mehr, die geschichtliche Erlebnisse aus länger zu-
rückliegenden Zeiten hautnah schildern können.
Das Schulmuseum in Leipzig ist ein Beispiel für die
innovative Vermittlung von Geschichtswissen. Dort er-
fahren Schüler unter der Anleitung von Historikern und
Pädagogen in Rollenspielen, wie es sich anfühlt, ausge-
grenzt zu sein. Dort wird beispielsweise in Projektarbei-
ten der Frage nachgegangen, wie sich Schüler in der
DDR oder in der NS-Diktatur, die Repressalien ausge-
setzt waren, den Zwängen widersetzt haben und wie sich
das in ihren Lebensläufen niedergeschlagen hat.
Solche Projekte kosten Zeit. Zeit ist in der Schule und
in der politischen Bildung ein knappes Gut; sie wird aber
gebraucht, damit nachhaltiges Wissen vermittelt werden
kann. Politische Bildung braucht an dieser Stelle vor al-
lem mehr Zeit, um neben der reinen Wissensvermittlung
im Rahmen von Projekten auch eine Geschichtsvermitt-
lung zu betreiben, die Geschichte, auch wenn es nur über
Rollenspiele geschieht, ein Stück weit erlebbar macht.
Der Weg, den das Leipziger Schulmuseum an dieser
Stelle gegangen ist, ist ein vielversprechender Weg. In
der politischen Bildung ist das leider nur ein Trampel-
pfad. Unsere Aufgabe ist es, einen Beitrag dazu zu leis-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20809
(C)
(D)
Christian Ahrendt
ten, dass dieser Trampelpfad zu einer Hauptstraße ausge-
baut wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Fograscher.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Demokratie braucht politische Bildung, und politi-
sche Bildung braucht Demokratie im Sinne von Vielfalt
an Angeboten, Methoden und Trägern.
Wir haben in der letzten Zeit im Bundestag einige An-
träge dazu beraten und verabschiedet, zum Beispiel zum
Antisemitismus oder zur Bekämpfung von Extremismus.
In all diesen Anträgen haben wir bessere und mehr poli-
tische Bildung gefordert. Deshalb ist es gut, wenn wir
uns heute einmal schwerpunktmäßig mit der politischen
Bildung beschäftigen.
Alle Fraktionen – bis auf die Linke – haben sich mit
dem Thema auseinandergesetzt und Anträge vorgelegt.
Darin wird deutlich: Die Erwartungen an die politische
Bildung sind hoch. Sie soll Demokratie stärken, Extre-
mismus bekämpfen, Integration unterstützen, Wissen
vermitteln, Historisches und Aktuelles aufarbeiten, Teil-
habe fördern, Politik verständlich machen und – Herr
Beck, Sie haben darauf hingewiesen – mehr Akzeptanz
für die parlamentarische Demokratie schaffen.
Politische Bildung ist deshalb eine gesamtstaatliche
und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb ist
es nicht damit getan, Herr Ahrendt, wie Sie im FDP-An-
trag fordern, dass sich die Kultusminister mit der politi-
schen Bildung beschäftigen. Es ist natürlich auch eine
Bundesaufgabe, der wir uns gestellt haben und auch wei-
ter stellen.
Die Bundeszentrale für politische Bildung wird aus
dem Haushalt des BMI finanziert. In den Haushaltsbera-
tungen ist es uns gelungen, mehr Geld für die Bundes-
zentrale einzustellen.
Ich erwarte, dass der Wille des Parlaments beachtet wird
und das BMI beim Erbringen seiner globalen Minder-
ausgabe nicht die Bundeszentrale für politische Bildung
zu Einsparungen zwingt.
Die Bundeszentrale hat bereits ein Konzept für Vorha-
ben vorgelegt, die aus den zusätzlichen Mitteln realisiert
werden können. Dabei will sie auch neue methodische
Ansätze erproben. Dazu gehören zum Beispiel die Akti-
vierung von Erstwählern aus sogenannten politikfernen
Zielgruppen oder die Ausbildung von jungen Erwachse-
nen vor der Europawahl mit dem Ziel, dass diese nach
dem Schneeballprinzip versuchen, Gleichaltrige für
diese Wahl zu interessieren und zu ermutigen, an der
Wahl teilzunehmen.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat zusam-
men mit Kooperationspartnern das Thema „Neue Me-
dien“ aufgenommen. Im Zeitalter des Internets genügt es
eben nicht mehr, nur Broschüren zu verbreiten. Die In-
ternetseite jugendschutz.net informiert, klärt auf und er-
läutert Hintergründe.
Die Bundeszentrale hat schwerpunktmäßig in Bran-
denburg, Hamburg und Bremen ein Projekt realisiert,
das sich „Abschied von Hass und Gewalt“ nennt und
sehr erfolgreich ist. Dabei wird in Jugendgefängnissen
gezielt mit rechtsextremistischen Straftätern gearbeitet.
Nach der Entlassung werden sie weiterhin betreut. Die
Bilanz für 2006 in Brandenburg ist eine eher ermuti-
gende: Von 40 betreuten gewalttätigen Rechtsextremen
wurden nur vier wieder rückfällig.
Ebenfalls aus Mitteln des BMI wird das „Bündnis für
Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Ge-
walt“ finanziert. Es hat die Aufgabe, zivilgesellschaftli-
che Initiativen und Projekte zu vernetzen, in ihrer Arbeit
zu unterstützen und mit Veranstaltungen zum Verfas-
sungstag, dem 23. Mai, politisches Bewusstsein zu för-
dern. Allerdings braucht das Bündnis für seine vielfälti-
gen Aufgaben auch eine angemessene personelle
Ausstattung.
Die politischen Stiftungen, ebenfalls unterstützt aus
Mitteln des BMI, leisten eine wertvolle politische Ar-
beit. So geht zum Beispiel die Friedrich-Ebert-Stiftung
neue Wege, indem sie sogenannte Bürgerkonferenzen
organisiert, zu denen Bürgerinnen und Bürger eingela-
den werden, damit sie sich zu bestimmten Themen wie
Rechtsextremismus Wissen verschaffen und direkt For-
derungen an die Politik stellen können. Dieses Projekt
fördert Partizipation.
Ein weiterer Ansatz ist zum Beispiel die Zukunfts-
konferenz, die die Friedrich-Ebert-Stiftung in Rheins-
berg durchgeführt hat. Sie bringt gesellschaftliche, wirt-
schaftliche und kommunale Vertreter in einer Stadt oder
Gemeinde zusammen, um die Frage zu klären, wie wir in
Zukunft leben wollen und wie wir gemeinsam an der
Entwicklung unserer Kommune mitwirken können.
Es gibt also viele Möglichkeiten und Wege, demokra-
tische Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln.
340 Träger der politischen Bildung und zahlreiche ge-
20810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Gabriele Fograscher
sellschaftliche Akteure tragen dazu bei, die aktuellen
Veränderungsprozesse zu erklären, zu aktiver politischer
Teilhabe zu ermutigen und damit zur Gestaltung des Ge-
meinwesens beizutragen.
Herr Ahrendt, Sie haben vorhin auf die neueste Studie
– die Folgestudie – der Friedrich-Ebert-Stiftung hinge-
wiesen. Leider erreichen wir nicht alle Menschen und
Zielgruppen mit politischer Arbeit. Es gibt eine relativ
konstante Schicht in der Bevölkerung, die antisemiti-
sche, fremdenfeindliche und rechtsextremistische An-
sichten hat.
Es ist wahr: Besonders auffällig ist die Ausländer-
feindlichkeit in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern.
Die Zustimmung zum Antisemitismus beträgt in Bayern
16,6 Prozent und in Baden-Württemberg 13,3 Prozent.
Es gibt also keinen Grund, sich zurückzulehnen. Im
Gegenteil: Wir müssen die politische Bildung verstärken
und weiterentwickeln. Das ist nicht nur Bundesaufgabe,
sondern auch Länderaufgabe. In Niedersachsen wurde
die Landeszentrale für politische Bildung abgeschafft.
Weil die FDP dort mitregiert, kann sie sich dafür einset-
zen, dass die Landeszentrale wieder eröffnet wird.
Ich will noch auf die vielen zivilgesellschaftlichen
Träger – dazu gehören zum Beispiel Vereine wie „Gegen
Vergessen – Für Demokratie“ oder „Gesicht zeigen!“ –
hinweisen, die ehrenamtlich arbeiten und kreative Wege
der politischen Bildung gehen. Sie leisten einen unver-
zichtbaren Beitrag zur politischen Bildung und für un-
sere Demokratie. Ihnen möchte ich zum Schluss meiner
Rede ganz besonders danken.
Ich glaube, in den Beratungen werden wir gute An-
sätze aller Parteien aufgreifen und dieses Thema weiter
diskutieren.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich danke zunächst den Kolleginnen und Kollegen der
Großen Koalition, die sich darum bemüht haben, dieses
Thema an einer exponierteren Stelle diskutieren zu kön-
nen. Ich weiß, dass Sie es nicht zu verantworten haben,
dass der Tagesordnungspunkt wieder abgesetzt worden
ist und dass wir dieses wichtige Thema heute praktisch
unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutieren.
Daran merken wir auch, dass wir uns an der Stelle als
Fachpolitiker hinsichtlich der Frage der Wertigkeit von
politischer Bildung und der Notwendigkeit der Förde-
rung vielleicht sehr viel schneller einig sind als in unse-
ren Fraktionen. Dort haben wir bestimmt noch einiges an
Werbung zu betreiben.
So wird es Sie auch nicht überraschen, dass wir in
zentralen Fragen gar nicht so uneinig mit Ihnen sind,
was die Inhalte Ihres Antrags anbelangt. Ja, auch wir als
Linke sehen es als Ziel der politischen Bildung an, die
aktive Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte in unse-
rem demokratischen Rechtsstaat zu fördern. Ja, auch wir
als Linke sehen es als Aufgabe der politischen Bildung,
das bürgerschaftliche Engagement in diesem Bereich zu
fördern und zu stärken. Schließlich ist für uns auch
wichtig, zeitgemäße Formate politischer Bildung für po-
litik- und bildungsferne Zielgruppen zu entwickeln.
Bei aller grundsätzlichen Zustimmung haben wir
auch noch eine Reihe von Fragen im Detail. Das werden
wir in den Ausschüssen noch vertiefen können. Ich will
nur einige Punkte ansprechen.
Auch wir sehen die Notwendigkeit, Migranten stärker
als Zielgruppe für politische Bildung zu begreifen. Sie
schreiben, dass gerade Zugewanderten die Grundzüge
unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu
vermitteln sind, um Integration auch politisch im demo-
kratischen Sinne gelingen zu lassen. Ich muss Ihnen
dazu sagen: Das darf keine Einbahnstraße sein. Vielmehr
wird es nur dann funktionieren, wenn Sie auch die Ver-
mittlung von interkulturellen Kompetenzen für die hier
lebenden Menschen ohne Migrationshintergrund im
Blick behalten.
Sobald Sie außerschulische Jugendbildung anspre-
chen, habe ich Probleme, das mit den erheblichen Kür-
zungen im Bereich der Jugendhilfe – auch wenn diese
von den Ländern und Kommunen vorgenommen worden
sind – in Einklang zu bringen. Dramatisch wird es doch
dort, wo Jugendklubs geschlossen werden und NPD oder
andere Rechtsradikale als Nachmieter einziehen.
Sie sprechen sich dafür aus, dass die wissenschaftli-
chen Grundlagen der politischen Bildung und insbeson-
dere die Forschung über Voraussetzungen, Methoden
und Wirksamkeit des politischen Lernens stärker geför-
dert werden sollen. Das kann ich nur schwer in Einklang
bringen mit dem, was wir zuletzt in vielen politikwissen-
schaftlichen Fachbereichen an Universitäten bezüglich
der Berufung bzw. eher Abberufung von Professoren er-
lebt haben.
Wer Ihren Antrag liest, könnte meinen, dass mit der
Politik grundsätzlich alles in Ordnung sei und dass dies
den Betroffenen nur besser und intensiver vermittelt
werden müsse. Etwas mehr Selbstkritik in Bezug auf Po-
litikverdrossenheit stünde uns als Abgeordneten durch-
aus an.
Politisches und bürgerschaftliches Engagement ist nicht
nur eine Frage von persönlicher Bereitschaft, sondern
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20811
(C)
(D)
Volker Schneider
hängt auch mit der Schaffung von realen Möglichkeiten
zusammen.
Ein letzter Einzelkritikpunkt leitet über zu dem An-
trag der FDP. Wer allzu leicht daherredet und NS-Terror-
herrschaft und SED-Diktatur in einem Atemzug nennt,
leugnet die historische Einmaligkeit der Naziverbrechen
und verharmlost den Nationalsozialismus.
Während das im Antrag der Koalitionsfraktionen ledig-
lich eine Nebenbemerkung darstellt, ist es der einzige In-
halt des FDP-Antrags. Ich muss Ihnen sagen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der FDP: Ihr Antrag ist
weder modern noch liberal, sondern einfach nur grotten-
schlecht. Ich will das an zwei Punkten deutlich machen.
Ich finde es interessant, wie Sie dem Extremismus
durch verstärkte ökonomische Bildung begegnen wol-
len. Man könnte meinen, dass Jugendliche deshalb so ra-
dikal reagieren, weil sie die ökonomischen Zusammen-
hänge und Notwendigkeiten einfach nicht verstanden
haben. Diese Jugendlichen sind aber nicht fiktiv, sondern
ganz real die Verlierer eines völlig falsch verstandenen
Marktradikalismus, wie Sie ihn schon im Lambsdorff-
Papier von 1982 gefordert haben. Da muss man Politik
nicht verstehen; da muss man Politik verändern.
Herzallerliebst ist Ihre Behauptung, dass linksextreme
Gruppierungen das Verblassen der konkreten Erinnerung
an die DDR oder Nostalgie nutzen würden, um Jugendli-
che zu beeinflussen. Das mag in Ihren Albträumen so
sein. Es hat aber mit der Realität wenig zu tun. Die
Gruppierungen, die tatsächlich existieren und einem ver-
quasten DDR-Bild huldigen, haben als Jüngste „Jugend-
liche“ von 60 Jahren in ihren Reihen. Sie spielen weder
quantitativ noch qualitativ irgendeine Rolle im Vergleich
zu der Vielzahl rechtsextremer Gruppierungen.
Was die Aufarbeitung anbelangt, hat eine andere Par-
tei in diesem Hause schon die Erfahrung machen müs-
sen, dass das auf einen zurückfallen kann. Ich darf Sie
daran erinnern, dass Sie gleich zwei Blockparteien über-
nommen haben – darüber haben Sie bis heute noch nie
geredet – und dass Sie noch nicht einmal auf Teile des
Vermögens verzichtet haben, wie das die CDU getan hat.
Ich darf Sie daran erinnern, dass man in der letzten
Volkskammer festgestellt hat, dass von diesen beiden
Blockparteien in der Volkskammer sitzende Liberale zu
50 Prozent IMs der Stasi waren.
– Es ist mir schon klar, dass es darüber Aufregung gibt,
weil die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergan-
genheit nur dann angenehm ist, wenn man glaubt, auf
der richtigen Seite zu sein. Ich bin übrigens Saarländer.
Mir werden Sie eine SED-Vergangenheit ganz schlecht
anhängen können.
Von unserer Seite gibt es große Zustimmung zum An-
trag der Grünen – trotz einiger Schwächen im Forde-
rungsteil –, insbesondere zu der Aussage, dass die De-
mokratie von der Mitwirkung jedes einzelnen Mitglieds
der Gesellschaft lebt. Dazu muss der Staat aber auch ent-
sprechende Gesetze und Strukturen schaffen. Wir stim-
men mit den Grünen auch hinsichtlich der Bewertung
des Rechtsextremismus überein. Das hat nichts mit der
Frage zu tun, ob man auf dem linken Auge blind ist, son-
dern das hat etwas mit der Quantität und Qualität solcher
Gruppierungen zu tun. Daher verweisen die Grünen völ-
lig zu Recht auf den Extremismus der Mitte und erheben
die Forderung, die politische Bildung im Kampf gegen
Rechtsextremisten besser zu nutzen.
Wir sind vor allen Dingen mit den Grünen an dem Punkt
einverstanden, an dem es heißt: Man muss sich auch mit
der eigenen Politik kritischer auseinandersetzen, wenn
man mehr Engagement in der Politik fordert. – In diesem
Sinne hoffe ich auf noch viele fruchtbare Diskussionen,
auch wenn wir uns an manchen Stellen sicherlich heftig
streiten können.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Monika Lazar das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Demokratie hat ihren Namen erst verdient, wenn
sich die Bürgerinnen und Bürger aktiv an ihr beteiligen.
Das geschieht in Deutschland leider nicht ausreichend.
Viele Menschen sind mit den demokratischen Parteien
und ihren Repräsentantinnen und Repräsentanten unzu-
frieden. Nur 39 Prozent der Bundesbürgerinnen und
Bundesbürger bezeichnen sich als rundum zufriedene
Demokraten, wie eine aktuelle Befragung von Forsa-In-
stitut und FU Berlin ergab. 14 Prozent halten die Demo-
kratie sogar für die falsche Staatsform. Die teilweise alar-
mierend hohen Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien
spiegeln diesen Vertrauensverlust wider. Bedenklich sind
auch die oft niedrigen Wahlbeteiligungen. Politische Bil-
dung muss der Demokratiemüdigkeit entgegenwirken,
indem sie Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen
erklärt und Beteiligungsformen aufzeigt. Nur wer weiß,
wie unsere Demokratie funktioniert, kann sie aktiv mit-
gestalten.
Erst fundierte Informationen ermöglichen ein Ver-
ständnis von Demokratie im Gegensatz zur Diktatur.
Heute fühlen sich viele Menschen angesichts der großen
wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen frus-
triert und resignieren. Dort setzen neonazistische Orga-
nisationen gezielt an. Sie greifen Frustrationen auf und
bringen Sündenbocktheorien und Scheinlösungen unter
das Volk. Der Vertrauensverlust in unserer Demokratie
20812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Monika Lazar
sowie ein Gefühl von Macht- und Perspektivlosigkeit
treiben so bundesweit Menschen in die Fänge der
Rechtsextremisten. Neonazistische Ideologien stellen
aktuell die größte Gefahr für unsere Demokratie dar.
Wenn in unserem Einwanderungsland ein gutes Fünf-
tel der Bevölkerung ausländerfeindlich ist, gefährdet
dies das friedliche Zusammenleben. Aggressiv-nationa-
listische Haltungen bei 15 Prozent bieten einen Nährbo-
den für weitere rechtsextreme Wahlerfolge. Auch Anti-
semitismus ist noch immer verbreitet; die Zahlen wurden
von meinen Vorrednern bzw. Vorrednerinnen schon ge-
nannt. Die Ergebnisse der aktuellen Studie von Brähler
und Decker im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zei-
gen: Rechtsextremismus ist kein Randphänomen. Er ist
vielmehr von der Mitte der Gesellschaft durchdrungen.
Auch im Bereich des Wissens über die DDR besteht
Nachholbedarf. Die DDR war eine Diktatur; daran be-
steht kein Zweifel. Ich selbst komme aus Ostdeutschland
und kenne die Geschichte ganz gut. Viele Menschen
wurden Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Re-
pressalien. Aufarbeitung und politische Bildung zur
SED-Herrschaft sind daher unerlässlich.
Das gilt besonders für junge Menschen, die oft leider
sehr wenig über die DDR wissen. Das kann ich aufgrund
meiner Besuche in den Schulen nur bestätigen. Ange-
sprochen werden müssen aber auch ältere Menschen, die
nachhaltig von der DDR geprägt wurden. Diese erinnern
sich häufig nur einseitig an die positiven Dinge, die es
natürlich auch gab.
Demokratie ist kein Selbstläufer. Wir müssen aktiv
daran weiterarbeiten. Gerade beim bevorstehenden
20-jährigen Jahrestag der friedlichen Revolution im
nächsten Jahr sollte uns das bewusst sein. Wir müssen
aktiv um den Erhalt unserer Demokratie kämpfen.
Demokratiemüdigkeit oder sogar Demokratiefeindlich-
keit in erheblichen Teilen der Bevölkerung machen
deutlich: Wir müssen politische Bildung als gesamtge-
sellschaftliche Herausforderung im Rahmen der Demo-
kratieentwicklung begreifen. Meine Bundestagsfraktion
fordert daher von der Bundesregierung, sich dieser Dau-
eraufgabe zu stellen. Dabei müssen die Bundesländer
einbezogen werden. Das unrühmliche Beispiel Nieder-
sachsen unter der schwarz-gelben Landesregierung
wurde bereits angesprochen. 2004 wurde die Landeszen-
trale für politische Bildung in Niedersachsen aufgelöst.
Diese Entscheidung ist grundfalsch. Ich hoffe, dass das
bald geändert wird.
Stattdessen brauchen wir mehr didaktische Angebote
auch für politik- und bildungsferne Gruppen sowie für
Migrantinnen und Migranten. Kinder müssen bereits in
der frühesten Erziehungsphase in Kindergärten und
Grundschulen mit demokratischen Grundwerten vertraut
gemacht werden. Es gibt teilweise schon sehr gute prak-
tische Beispiele, die unter anderem aus dem Bundespro-
gramm gegen Rechtsextremismus finanziert werden.
Das muss noch viel mehr Schule machen.
Schülerinnen und Schüler müssen erfahren, dass in
der Demokratie ihre Stimme zählt. Doch die Realität
sieht anders aus. 70 Prozent der Zehnjährigen durften
noch nie über die Gestaltung zum Beispiel ihres Klas-
senzimmers mitbestimmen. Das klingt vielleicht banal,
aber gerade solche alltäglichen Erfahrungen prägen das
Demokratiebild junger Menschen nachhaltig.
Schon Kinder brauchen aktive Teilhabe und Gestal-
tungsmacht. Sie müssen lernen, für etwas einzutreten,
Mehrheiten zu organisieren, aber auch einmal verlieren
zu können.
So wachsen sie mit einem gesunden Selbstvertrauen he-
ran. Dieser Erziehungsauftrag wurde bei all den Erwach-
senen von heute verfehlt, die fälschlicherweise meinen,
ohne Mitbestimmungschance den Entscheidungen einer
vermeintlichen Politikelite ausgeliefert zu sein. Wir de-
mokratischen Politikerinnen und Politiker müssen das
Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen. Doch wie
sollen sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
von den demokratischen Organen gut vertreten fühlen,
wenn ihnen von diesen in bestimmten Bereichen auch
viel Misstrauen entgegengebracht wird? Die Bundesre-
gierung macht es den Menschen in manchen Punkten
schwer: Vorratsdatenspeicherung, staatliches Online-
hacking und willkürliche Telefonüberwachung sind nur
einige Stichworte.
Wer sich vom Staat so ausspioniert fühlt, wird wohl
kaum auf dessen demokratische Prinzipien vertrauen
können. Wenn sich immer mehr Menschen nicht mit un-
serer Demokratie identifizieren, sollte uns das alarmie-
ren. Die Bundesregierung muss die Zeichen der Zeit er-
kennen und endlich aktiver werden. Klassische
Wissensvermittlung genügt nicht. Lust auf Demokratie
wecken, ihre Vorzüge anschaulich verdeutlichen und
konkret erlebbar zu machen – so lautet unser aktueller
Auftrag an eine umfassende politische Bildung.
Schönen Dank.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20813
(C)
(D)
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Alois Karl.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die größte Gefahr für unsere Demokratie geht
nicht von den wenigen Extremisten aus, sondern von der
Lauheit und von der Interesselosigkeit ganz vieler unse-
rer Staatsbürger.
Das hat neulich der scheidende Präsident des Bayeri-
schen Landtages, Alois Glück, formuliert. Ich glaube, er
hat recht. Es ist mehr als ein Körnchen Wahrheit in die-
ser Aussage, und darüber müssen wir uns unterhalten.
Die Problematik verstärkt sich, weil der Staat keinen
Zwang ausüben kann, um Bildung durchzusetzen; an-
sonsten würde er selbst Züge des totalitären Staates an-
nehmen. Dem freiheitlich-demokratischen Staat bleibt
also gar nichts anderes übrig, als die Angebote zu ver-
stärken und attraktiver zu gestalten. Das ist meines Er-
achtens – der Kollege Beck hat das angesprochen – mehr
als eine politische Aufgabe; es ist eine allgemeine Auf-
gabe unserer Gesellschaft. Wir brauchen ein Gesamtkon-
zept, das die Jungen wie die Alten, die Einheimischen
wie die Migranten einschließt. Es geht darum, nicht bloß
Zeitgeschichte zu vermitteln, sondern auch die Grundla-
gen und die Zusammenhänge. Dazu gehört, die Ge-
schichte der nationalsozialistischen Vergangenheit ge-
nauso wie das Unrecht des SED-Staates darzustellen. Es
ist menschlich, allzu menschlich, dass man das Nega-
tive, das Böse verdrängt und dass man Geschichte ver-
blassen lassen möchte. Doch ist es ein Skandal, so meine
ich, wenn sich heute frühere Stasiangehörige zusammen-
tun, um an exponierter Stelle SED-Opfer zu verhöhnen,
sei es in Hohenschönhausen oder an anderen histori-
schen Plätzen.
Solche Provokation ruft nicht nach dem Staatsanwalt,
sondern eigentlich mehr nach politischer Aufklärungsar-
beit. Es geht um die historische Wahrheit und um Auf-
klärung.
Gewiss, der Schmerz ist gerade dort am stärksten, wo
wir ihn hautnah empfinden und wo wir am liebsten das
Vergessen sich breitmachen ließen. Es war auch bei uns
ein Fehler in den 50er-Jahren, dass wir das noch frische
Naziunrecht verdrängt und nicht aufgearbeitet haben. Es
war ein Fehler bei uns, die Gräueltaten des Dritten Rei-
ches nicht schonungslos aufzuarbeiten.
Ich persönlich unterstütze den Antrag nachhaltig, weil
ich mich an meine eigene Schulzeit erinnere: Die Zeit
des Dritten Reiches lag erst 30 Jahre zurück, und sie war
in frischer Erinnerung, auch bei manchem Lehrer. Den-
noch haben wir über diese Zeit im Unterricht wenig ge-
hört. Bis zum Abitur haben wir die Punischen Kriege
dreimal und die napoleonischen Kriege zweimal durch-
genommen. Sogar vom Aufstand der Hottentotten haben
wir mehr gehört als von der nationalsozialistischen Zeit.
Ich glaube, das war ein großer Fehler in unserer Schul-
zeit.
Daraus müssen wir lernen, wie wichtig es ist, politi-
sche Bildungsarbeit heute mutig auf unsere Tagesord-
nung zu setzen. Das ist auch Aufgabe der Medien. Es
gibt viele gute Beispiele. Ich nenne stellvertretend die
Serie ZDF-History von Professor Knopp, eine Bildungs-
arbeit, die sich auch an Nichtfachleute wendet und deren
einziges Manko für mich die späte Sendezeit ist. Zu ei-
ner guten Sendezeit würde sie sehr viel mehr erreichen.
Wir erschrecken heute über die Ergebnisse der PISA-
Studien. Gewiss, die Kompetenzen, die nachgefragt wer-
den, sind oft mangelhaft. Besonders schmerzlich ist das,
weil wir in diesen Tagen auch den 60. Jahrestag der All-
gemeinen Erklärung der Menschenrechte begehen.
Hierin sind ebenfalls Kompetenzen und Rechte formu-
liert, auch das Grundrecht auf Teilhabe an Bildung. Die-
sem Grundrecht entspricht die Grundpflicht, Bildungs-
angebote anzunehmen.
Die Demokratie ist zweifellos die schwierigste Staats-
form. Sie ist angewiesen auf das Mitleben, auf das Mit-
machen und auf das Mittun. Die Demokratie lebt vom
Einsatz der aktiven Bürger. Aus diesem Grunde ist es er-
schreckend, dass 70 Prozent der Schüler von der DDR
im Unterricht nichts hören, dass sie glauben, die SED sei
keine Partei in einem Unrechtsstaat, in einer Diktatur ge-
wesen oder Konrad Adenauer sei ein Politiker der SED
gewesen. Diese Beispiele könnte man fortführen; heute
haben wir etliches gehört. Wenn wir hier nicht gegen-
steuern – da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Beck, recht –,
müsste man alsbald sagen: Deutschland ist ein Entwick-
lungsland auf diesem Gebiet.
Wir müssen auch die Integrationspolitik ansprechen.
Wer in diesem Lande dauerhaft lebt, muss seine Grund-
lagen kennen. Ich bin dankbar, dass wir die Haushaltsan-
sätze deutlich erhöht haben. Ich bin auch dankbar, wenn
wir selber mit gutem Beispiel vorangehen, wenn wir po-
litische Bildung europäisch verstehen, wenn wir darauf
hinwirken, dass die EU nicht bloß als ein bürokratischer
Moloch erscheint, dass sie vielmehr ein Garant für Frie-
den, eine friedenstiftende Einrichtung auf diesem Konti-
nent ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies zu ver-
mitteln, ist unsere Aufgabe. So gesehen bringt politische
Bildung Rendite für die Zukunft, und die gibt es nicht
zum Nulltarif. Ich bin zuversichtlich, dass politische Bil-
dungsarbeit die Werte unserer rechtsstaatlichen Demo-
kratie vermitteln kann. Daraus erwächst für uns alle ein
Mehrwert. Politisch gebildete junge Leute sind resistent
gegenüber Extremisten ganz gleich welcher Art, ganz
gleich, ob von der linken oder der rechten Seite. Das so
investierte Geld ist gut angelegt, nämlich in die Bildung
20814 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Alois Karl
unserer demokratischen Staatsform und in deren Wehr-
haftigkeit.
Kollege Karl, achten Sie bitte auf die Redezeit. Sie
haben sie schon weit überschritten.
Ich bin fertig, liebe Frau Präsidentin. – Ich möchte ab-
schließend sagen, dass dem Antrag der Union der Antrag
der FDP nahekommt, in dem die linken als auch die
rechten Aspekte erwähnt werden. Zum Antrag der Grü-
nen fällt mir nicht sehr viel ein.
Vielen herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dieter
Grasedieck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Deutschland braucht mehr politische Bildung.
Das ist die Botschaft unserer heutigen Diskussion. Ernst-
Reinhard Beck sagte vorhin: „Wir brauchen eine Allianz
über Parteigrenzen hinweg.“ Ich kann das nur unterstrei-
chen.
Wir brauchen eine Allianz, weil sehr viele Probleme auf-
tauchen. Unter anderem sinkt die Wahlbeteiligung. Da-
rauf wurde vorhin schon mehrfach hingewiesen.
Wir müssen die extremen Parteien beobachten; denn
sie haben Konjunktur. Unsere Demokratie braucht mehr
Unterstützung und mehr Hilfe. Denn lange ist es noch
nicht her: 75 Jahre sind vergangen, seit im Sommer 1933
die Demokratie abgeschafft worden ist. Millionen Män-
ner und Frauen sind in den KZs gestorben; Millionen
sind im Zweiten Weltkrieg gefallen. Wie konnte das in
unserem Land, dem Land der vielen Erfinder und der
hervorragenden Dichter, geschehen? Sicherlich war ein
Grund, dass 1933 die Demokratie einfach noch nicht
verwurzelt war. An dieser Stelle müssen wir helfen. Die
Bundeszentrale für politische Bildung und die Landes-
zentralen für politische Bildung sind aufgerufen, das De-
mokratiebewusstsein ständig zu stärken. Aber eine Mah-
nung bleibt immer: Wehret den Anfängen!
Wenn man sich die politische Landschaft in der Bun-
desrepublik Deutschland einmal ansieht, dann erkennt
man, dass in vielen Landtagen, in vielen Stadtparlamen-
ten und in vielen Kommunalparlamenten die Nazis als
Abgeordnete sitzen. Wir müssen dagegensteuern. Wer da
wegsieht, versündigt sich.
In den letzten Jahren konnte man tatsächlich beobach-
ten, dass Nazis die Gefängnisse aufsuchten und versuch-
ten, dort Nachwuchs zu gewinnen. Sie sprachen die jun-
gen Gefangenen an; Gabi Fograscher hat das vorhin
schon angesprochen. Auch bei den Migranten und in
vielen anderen Bereichen war das der Fall; das muss ge-
sehen werden. Diese Gefahr hat die Bundeszentrale er-
kannt und dort Hilfen angeboten. Sozialpädagogen und
Pädagogen arbeiten eng zusammen und versuchen, in
Berlin und in vielen Teilen der Bundesrepublik zu hel-
fen. Sie sind wirklich erfolgreich. Diese erfolgreiche Ar-
beit muss in der nächsten Zeit fortgesetzt werden. Wir
dürfen da nicht nachlassen; denn jede Generation muss
die Werte der Demokratie neu erlernen.
Seit 1950 arbeitet unsere Bundeszentrale intensiv und
engagiert im Rahmen von Lehrgängen und Kursen. Es
gibt unter anderem Jugendaustauschprogramme. Außer-
dem werden, wie man heute so schön sagt, große Events
durchgeführt. Das ist wichtig, gerade wenn man die Ju-
gend ansprechen will.
Unsere politische Bildung veränderte an dieser Stelle
sicherlich auch Europa. Man muss sich einmal überle-
gen: Tausende von Schulklassen sind nach Frankreich
hinübergefahren. Viele Schulklassen sind von Frank-
reich nach Deutschland gereist. Diese Reisen wurden
von der Bundeszentrale für politische Bildung begleitet.
Die Jugendlichen haben bei dieser Gelegenheit auch
über Politik diskutiert. An dieser Stelle ist aber nicht nur
das Wissen über Institutionen wichtig. Es sind auch
Freundschaften geschlossen worden. So entsteht eine
Verbindung zwischen Politik und geschichtlichem Wis-
sen auf der einen Seite und Gefühl und Herz auf der an-
deren Seite. Das war ein ganz entscheidender Punkt für
unsere geschichtliche Entwicklung. Daran war die Bun-
deszentrale entscheidend beteiligt.
Das Ziel der politischen Bildung ist natürlich stets der
mündige Bürger. Deshalb müssen wir alle Bürger unse-
res Landes ansprechen. Die Migranten gehören ebenso
dazu wie die Kinder. Wir müssen dafür sorgen, dass es
ein Angebot für Schüler, für Studenten und auch für Er-
wachsene gibt. Von der Bundeszentrale für politische
Bildung und auch von vielen Landeszentralen für politi-
sche Bildung gibt es gute Angebote. Ich nenne beispiels-
weise die Comic-Reihe „HanisauLand“ für Kinder, he-
rausgegeben von der Bundeszentrale. In dieser Tierwelt
unterhalten sich die Tiere über die Demokratie. Sie wäh-
len einen Bürgermeister und diskutieren über Wahlver-
fahren. Die Bundeszentrale geht da einen richtigen Weg.
Ich nenne weiterhin die interessante Filmreihe „Politi-
bongo“, die für den Bundestag erstellt worden ist.
Gnome kommen von einem anderen Planeten zu uns mit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20815
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Dieter Grasedieck
einer Superrakete herübergeflogen und landen auf der
Reichstagskuppel. Sie laufen durch die Räume und be-
obachten uns und die Minister bei der Arbeit. Das ist su-
perinteressant und informativ. Sie sollten sich das einmal
ansehen. Dieser Film sagt vieles aus und ist sehr witzig.
Die Bundeszentrale und die Landeszentralen bieten
den Jugendlichen und den Erwachsenen natürlich auch
wichtige Werte und Inhalte durch Bücher und Zeitschrif-
ten. Dabei setzt man Schwerpunkte wie zum Beispiel die
Globalisierung und China. Diese wichtigen Arbeiten un-
serer Zentralen werden immer von der Allianz der Par-
teien unterstützt. Das sieht man auch im Kuratorium sehr
deutlich.
Die Bundeszentrale bietet auf ihrer Internetplattform
unter anderem eine europäische Presseschau. Dort wer-
den Probleme deutlich dargestellt, zum Beispiel die mo-
mentane Finanzkrise am Beispiel von England, Frank-
reich und verschiedenen anderen europäischen Staaten.
Damit ist eine Botschaft verbunden: Wir haben ähnliche
Sorgen und Ängste. Wir sitzen bei vielen Fragen in ei-
nem Boot.
Die politische Bildung darf nicht nur für Eliten da
sein. Dafür zu sorgen, ist die Aufgabe unserer Bundes-
zentrale und unserer Landeszentralen.
Politik muss – das ist wichtig – für jeden Bürger greifbar
sein. Unsere Bundesregierung und unsere Koalition un-
terstützen deshalb die vorbildliche Arbeit dieser Institu-
tionen.
Gerade in der Zukunft braucht Deutschland mehr po-
litische Bildung. An dieser Stelle darf nicht gespart wer-
den. In der Parteiallianz müssen wir genau das umsetzen.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Ingo
Wellenreuther.
Das ist wahr. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in der heutigen
Zeit ein zentrales Zukunftsthema für unser Land. Des-
halb hat die Bundeskanzlerin eine Bildungsoffensive ge-
startet und im Oktober zu einem Bildungsgipfel eingela-
den. Dort hat sie sich mit den Ländern auf das Ziel
verständigt, bis 2015 10 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts in Bildung und Forschung zu investieren.
Die Große Koalition hat sich ebenfalls in besonderem
Maße der Bildungspolitik angenommen. Sichtbar wurde
dies an dem Bundeshaushalt für das Jahr 2009, den wir
letzte Woche verabschiedet haben. Danach werden dem
Bundesministerium für Bildung und Forschung im
nächsten Jahr über 10 Milliarden Euro zur Verfügung
gestellt; das ist ein Anstieg von mehr als 9 Prozent.
Aber nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen und eine
schulische bzw. universitäre Ausbildung sind wichtig,
damit jeder seinen Platz in der Gesellschaft finden und
aus eigener Kraft sein Leben meistern kann. Daneben
spielt politische Bildung für jeden Einzelnen, aber auch
für die Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen
Ordnung eine wichtige Rolle. Bernhard Vogel, der Vor-
sitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, hat einmal ge-
sagt:
Die politische Bildung muss Zukunftswissen ver-
mitteln, Orientierung geben, Blockaden aufbrechen,
Mitwirkung einüben, die geistige Bereitschaft we-
cken, sich mit den Grundfragen des gesellschaftli-
chen Zusammenlebens auseinander zu setzen …
Sie muss sich darüber hinaus
– so Bernhard Vogel –
zwei gravierenden Problemen stellen: dem be-
trächtlichen Vertrauensverlust der Bürgerinnen und
Bürger in die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit
von Politik und der Verunsicherung der Menschen
in einer Welt, die sich schnell und fundamental
wandelt.
Damit hat Bernhard Vogel zutreffend beschrieben,
welche Aufgaben die politische Bildung hat und wel-
chen Stellenwert wir ihr einräumen müssen.
Gerade deshalb halte ich unseren Antrag an die Bun-
desregierung, in dem wir fordern, verstärkt Aktivitäten
auf dem Feld der politischen Bildung zu entfalten, für
enorm wichtig, insbesondere deshalb, weil damit eine
bessere Identifikation mit unserer parlamentarischen De-
mokratie möglich wird. Ich halte es für das Beste, was
unserem demokratischen Rechtsstaat passieren kann,
wenn es gelingt, die Menschen für politische Themen zu
interessieren und zu begeistern.
Man kann sicherlich fragen: Ist das denn überhaupt
notwendig? Ich meine Ja, weil genau damit dem allge-
mein zu beobachtenden Politikverdruss entgegengewirkt
werden kann. Ich meine ebenfalls Ja, weil damit die
Werte unserer föderalen Demokratie, wie Freiheit, Men-
schenwürde, Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft, Plura-
lität, repräsentative Demokratie und Achtung vor dem
Andersdenkenden, vermittelt werden. Ich meine auch Ja,
weil wir dadurch den Demagogen und den politischen
Hetzern nicht das Feld überlassen.
Die Geschichte hat gerade uns Deutschen gezeigt,
dass besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
Menschen zu autoritären Lösungen neigen und die poli-
20816 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Ingo Wellenreuther
tischen Ränder Zulauf erhalten, die sich vor allem mehr
oder weniger offen für die Abschaffung des demokrati-
schen Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ein-
setzen. Weimar hat uns gezeigt, wozu eine ablehnende
Haltung gegenüber einer parlamentarischen Demokratie
durch große Teile der Bevölkerung führen kann.
Natürlich ist politische Bildung wichtig für alle Men-
schen: für Erwachsene, für Migranten und gerade für bil-
dungsfernere Schichten. Aber ich halte sie für überra-
gend wichtig für Kinder und Jugendliche.
Diese müssen schon in jungen Jahren lernen, wie unser
Staat aufgebaut ist, was föderale Struktur, Gewaltentei-
lung und Wahlrecht bedeuten, wie Gesetze entstehen,
welche Aufgaben Parlament, Regierung, Verwaltung
und Justiz haben und was es für ein zu bewahrendes
Glück bedeutet, in einem solchen demokratisch verfass-
ten Rechtsstaat zu leben, insbesondere im Vergleich zu
anderen Staatsformen.
Dabei ist gerade den Jugendlichen auch bewusst zu
machen, welchen Gefahren unsere Demokratie ausge-
setzt ist, insbesondere durch Rechts-, Links- und religiö-
sen Extremismus sowie Antisemitismus und Ausländer-
feindlichkeit. Sie müssen Kenntnisse der jüngeren
deutschen Geschichte mit Naziterrorherrschaft und SED-
Diktatur vermittelt bekommen, um gegen dumpfe Paro-
len gewappnet zu sein.
Wenn dies alles zusammen gelingen sollte, dann wäre
die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich der Ein-
zelne in unserer Gesellschaft wiederfindet, sich einbrin-
gen und sich für politische Fragestellungen interessieren
kann. Dies schafft aber nur derjenige, der die Zusam-
menhänge von Staat und Gesellschaft kennt und ver-
steht. So kann sogar eigenes politisches Engagement im
persönlichen sozialen Umfeld entstehen, zum Beispiel in
Bürgervereinen oder in kommunalen Parlamenten.
Kollege Wellenreuther, achten Sie bitte auf das Signal
vor Ihnen.
Ich achte darauf, und ich weiß auch, dass es keine
Gleichheit im Unrecht gibt, wie beim Kollegen Karl. Ich
komme aber bald zum Ende.
Sie sind wirklich weit über die Redezeit.
Ja, okay. – Meine Damen und Herren, ich weiß sehr
wohl, unser Antrag richtet sich an die Bundesregierung.
Die Bundeszentrale für politische Bildung, die im Ver-
antwortungsbereich des Innenministeriums angesiedelt
ist, leistet in Bezug auf die politische Bildung schon bis-
her ganz hervorragende Arbeit. Natürlich kommt ihr bei
all den Aufgaben weiterhin eine überragende Bedeutung
zu.
Die Aufforderung, einen Beitrag zur politischen Bil-
dung in unserem Land zu leisten, möchte ich aber aus-
drücklich auch an die öffentlich-rechtlichen Medien, die
vielen Lehrerinnen und Lehrer und die Erzieherinnen
und Erzieher richten.
Kollege Wellenreuther, zwingen Sie mich bitte nicht
zur Premiere, dass ich das Privileg, das Mikrofon auszu-
schalten, hier auch nutze. Ich bitte Sie wirklich um den
letzten Satz.
Ein letzter Satz. – Ich möchte mich genau an eine
ganz besondere Gruppe wenden, nämlich an uns, an die
Politiker. Gerade wir sind es, die aufklären müssen, die
in die Schulen gehen müssen, die den Schülern sagen
müssen, wie Demokratie und Rechtsstaat funktionieren,
und die vor allem auf eines hinweisen müssen, dass es
nämlich beides nicht automatisch gibt, sondern dass bei-
des täglich von uns verteidigt werden muss.
Ich bedanke mich fürs Zuhören.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Hans-
Peter Bartels.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Demokratie vererbt sich nicht von selbst. Demokratie ist
nicht selbstverständlich. Sie ist nicht sowieso da. Sie
kann verloren gehen. Wir wissen das in Deutschland.
Demokratie ist eine Kulturtechnik, die man wie Le-
sen, Schreiben und Rechnen lernen kann. Jede neue Ge-
neration muss die demokratischen Werte und Verfah-
rensweisen neu kennenlernen, einüben, ausprobieren
und sich aneignen. Von selbst passiert das nicht, und es
passiert in Deutschland zu wenig.
Deshalb lohnt es, den Antrag, den wir heute beraten,
ernst zu nehmen. Er ist so dramatisch gemeint, wie er
sich am Anfang liest:
Eine Demokratie, die sich nicht um die Förderung
der demokratischen Kenntnisse und Fähigkeiten
kümmert, wird aufhören, Demokratie zu sein.
Deshalb brauchen wir nicht weniger, sondern mehr An-
strengungen zur politischen Bildung.
Im letzten Punkt unseres Antrages fordern wir die
Forschung über die Grundlagen der politischen Bildung.
Das hört sich banal an, ist aber ein absoluter Mangelbe-
reich in unserer Wissenslandschaft. Deshalb bin ich froh,
dass das Land Berlin und die Bundesforschungsministe-
rin im Gespräch darüber sind, hier einen hoffentlich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20817
(C)
(D)
Dr. Hans-Peter Bartels
kräftigen Anschub zu geben. Es geht um so etwas wie
ein Institut für die Didaktik der Demokratie.
Wer ist für die praktische Demokratieerziehung zu-
ständig? Die Elternhäuser? Kindergärten? Schulen? Ver-
bände und Parteien? Die Bundeswehr, Herr Minister?
Die klassische Erwachsenenbildung? Die Medien? Sie
alle sind zuständig. Sehr viel mehr könnte etwa in den
Schulen getan werden. Ganz grundlegende Erfahrungen
wären hier zu vermitteln, dass nämlich Demokratie kein
Verfahren zur Vermeidung von Streit ist – das hat der
Herr Bundestagspräsident richtig gesagt –, sondern dass
strittige Diskussionen bessere Ergebnisse bringen und es
Spaß macht, kontrovers zu diskutieren.
Warum gibt es nicht an allen Schulen Debattierzirkel
– Debating Societies –, Rhetorikübungen, parlamentari-
sche Rollenspiele, politische Schülergruppen und kon-
kurrierende Schülerzeitungen? Demokratie kann in der
Schule anfangen. Sich darin zu üben, ist ganz bestimmt
nicht weniger interessant und aufregend, als den Zitro-
nensäurezyklus zu lernen. Die Schule ist die Schule der
Demokratie.
Ein Wort zur vornehmen „vierten Gewalt“. In den
Medien ist es Mode geworden, von „der Politik“ zu spre-
chen, wenn etwas Politisches kritisiert wird: Es werden
immer alle in einen Sack gesteckt, als sei alles gleich
und als gebe es keinen Unterschied. Gleichzeitig kriti-
siert man gern das sogenannte Parteiengezänk. Kompro-
misse am Ende eines Streits sind auch von Übel und da-
her – das kennt man schon – faule Kompromisse. Wo ist
die Medienkritik in den Medien? Wenn politisch Han-
delnde einmal bestimmte Haltungen in Presse und Funk
kritisieren, so wie ich das jetzt mache, heißt es immer
schnell: Billige Medienschelte. Ihr könnt wohl keine
Kritik ab, was? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-
von dürfen wir uns nicht mehr beeindrucken lassen.
Auch Abgeordnete sollten sich bemühen, nicht selbst
in den Jargon der landläufigen Politikverachtung zu ver-
fallen. Der frühere Direktor beim Deutschen Bundestag
Wolfgang Zeh hat einmal einige solcher Floskeln zusam-
mengestellt – ich zitiere –:
Sagt niemals, es sei ja nur parteipolitisch, was der
politische Gegner vorbringt!
Schlagt niemals vor, man möge ein bestimmtes
Thema aus dem Wahlkampf heraushalten!
Hört auf damit, jede Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts als schallende Ohrfeige für die im
Rechtsstreit unterlegene Seite zu bezeichnen!
Missbraucht die Befürchtung, etwas fördere die
Parteienverdrossenheit, nicht in der politischen
Auseinandersetzung!
Erzählt auch nicht zu oft die Sage, früher sei es im
Bundestag viel besser gewesen, es habe gewaltigere
Redner, bedeutendere Persönlichkeiten und knorri-
gere Charaktere gegeben! Es ist nur eine Alterser-
scheinung, so zu reden.
Zum Schluss:
Argumentiert und werbt ein wenig in der Öffent-
lichkeit für eine verständige und verstehbare Dar-
stellung der Grundlagen und Bedingungen unseres
politischen Lebens!
Das sagte Professor Dr. Wolfgang Zeh, und er hat recht.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9766, 16/10312 und 16/11201 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, Hartfrid Wolff ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sicherheitsregeln für Flüssigkeiten im Hand-
gepäck von Flugreisenden auf den Prüfstand
stellen
– Drucksachen 16/6641, 16/9139 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Gerold Reichenbach
Gisela Piltz
Jan Korte
Wolfgang Wieland
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Clemens Binninger und Ingo Schmitt für die CDU/CSU-
Fraktion, Gerold Reichenbach für die SPD-Fraktion,
Gisela Piltz für die FDP-Fraktion, Jan Korte für die
Fraktion Die Linke und Wolfgang Wieland für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/9139, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/6641 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion
1) Anlage 10
20818 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra Pau
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragten
Jahresbericht 2007
– Drucksachen 16/8200, 16/10990 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer
Hedi Wegener
Elke Hoff
Paul Schäfer
Winfried Nachtwei
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe-
auftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Vorweg bedanke ich mich bereits an
dieser Stelle ganz herzlich bei allen, die mich bei meiner
Arbeit im zurückliegenden Jahr unterstützt haben: beim
Verteidigungsausschuss dieses Hohen Hauses, beim Prä-
sidium, beim Minister und seinen Mitarbeitern, bei der
Truppe und nicht zuletzt bei all meinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern.
Vor etwa neun Monaten habe ich dem Parlament den
Jahresbericht für das Berichtsjahr 2007 vorgelegt. Nun
könnte man meinen, neun Monate seien lang und die
Mängel, die der Bericht anspricht, längst aufgearbeitet.
Aber das ist leider nicht der Fall. Deshalb greife ich hier
einige wichtige Punkte noch einmal auf:
In meinem Bericht habe ich erneut auf Defizite im
Bereich der Ausrüstung und Ausstattung unserer Solda-
tinnen und Soldaten im Einsatz hingewiesen. Das zen-
trale Problem der Ausstattung sind fehlende Fahrzeuge.
Nach wie vor fehlt es an bestimmten geschützten Fahr-
zeugen, um die einsatzvorbereitende Fahrausbildung be-
reits im Inland sicherstellen zu können. Ich nenne hier
nur beispielhaft den Wolf vom Typ „SSA“, einen beson-
ders geschützten Geländewagen.
Darüber hinaus hat sich auch mit Blick auf die Bereit-
stellung eines geeigneten Pistolenholsters und einer ad-
äquaten Schutzbrille noch nichts getan. Insoweit besteht
weiterhin Handlungsbedarf. Bemerkenswert ist die Tat-
sache, dass die neuen Pistolenholster bereits Anfang des
Jahres geliefert, aber noch nicht an die Soldaten ausge-
händigt wurden, aus welchen Gründen auch immer.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit zuneh-
mender Sorge erfüllen mich die anhaltenden Klagen der
Soldatinnen und Soldaten, nach denen der Dienst in den
Streitkräften erheblich an Attraktivität verloren habe.
Kritikpunkte sind vor dem Hintergrund ständig steigen-
der Anforderungen vor allem eine fortschreitende Ein-
buße an Wertschätzung und die Verschlechterung der
dienstlichen Rahmenbedingungen. Diese Klagen höre
ich praktisch auf jedem meiner Truppenbesuche. Ich
teile diese Einschätzung der Soldaten. Deshalb mache
ich mir angesichts der demografischen Entwicklung Sor-
gen um die mittel- und langfristige Personalrekrutierung.
Ein anderer Punkt, der ebenfalls die Attraktivität des
Dienstes betrifft, ist die mangelhafte finanzielle Ausstat-
tung für eine wirksame Umsetzung der Teilkonzeption
„Familie und Dienst“, die zunächst einmal nicht mehr
als bedrucktes Papier ist. Ich frage an dieser Stelle: Wo
ist die Verbesserung der Kinderbetreuung? Wo sind die
Teilzeit- und die Telearbeitsplätze? Wo sind konkrete
Punkte, die zeigen, dass der Dienstherr es hier wirklich
ernst meint? Auf diesem Gebiet sollte, müsste und
könnte die Bundeswehr geradezu ein Vorbild für unsere
Gesellschaft sein. Anderenfalls werden wir nicht mehr
die Besten für die Bundeswehr, für unsere Streitkräfte
gewinnen können. Attraktivität vermisse ich auch im
Bereich der Infrastruktur. Vor allem die Unterbringung
in den Kasernen ist nach wie vor ein großes Problem. Es
fehlt an Ausweichquartieren für sanierungsbedürftige
Unterkünfte, und es fehlt an Pendlerwohnungen. An die-
ser Stelle drückt die Soldaten nach wie vor der Schuh,
und zwar gewaltig.
Ein weiteres Problem bereitet mir allergrößte Sorgen:
Es geht um die zunehmende Abwanderung von Fachärz-
ten und Piloten der Bundeswehr in den zivilen Arbeits-
markt. Allein in diesem Jahr haben 76 Ärzte die Bundes-
wehr verlassen. Sie haben gekündigt und sind zu einem
zivilen Arbeitgeber abgewandert. 2007 waren es elf
Ärzte, die ihre berufliche Zukunft fernab der Truppe fan-
den. Dieser sprunghafte Anstieg bei der Abwanderung
hochqualifizierter Mediziner innerhalb eines Jahres
muss uns alle in Alarmstimmung versetzen. Auch bei
den Piloten und anderen Experten sieht die Situation
kaum besser aus.
Aus meiner Sicht kommen hier zwei Dinge zusam-
men: die hohe dienstliche Belastung bei durchschnittli-
cher Vergütung und die lukrativen Angebote aus der pri-
vaten Wirtschaft. Auch die Art der Personalführung wird
von vielen Soldaten als unzeitgemäß empfunden. Die
jetzt beschlossene monatliche Zulage für einen Teil der
Ärzte und Piloten empfinden viele betroffene Soldaten
als – ich zitiere wörtlich – „unüberlegten Schnell-
schuss“. Mir liegen dazu bereits die ersten Eingaben vor.
Aus meiner Sicht sind grundlegende strukturelle Verän-
derungen nötig, um die dienstliche und zeitliche Belas-
tung unserer Soldatinnen und Soldaten deutlich zu redu-
zieren. Dies ist ohne Wenn und Aber zwingend
erforderlich.
Fakt ist: Die Bundeswehr kann in diesen speziellen
Bereichen nicht mit den Verdienstmöglichkeiten in der
freien Wirtschaft konkurrieren. Deshalb bedarf es mei-
nes Erachtens eines Gesamtpaketes aus Besoldung,
Laufbahnperspektive, Fürsorge, Betreuung und dienstli-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20819
(C)
(D)
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
cher Entlastung. Erst dann kann von einer Verbesserung
der Attraktivität gesprochen werden.
Innerhalb der letzten zehn Monate haben drei deut-
sche Soldaten bei Selbstmordanschlägen ihr Leben ver-
loren, fast 20 wurden zum Teil schwer verletzt. Dennoch
ist die Einsatzbereitschaft der Truppe insgesamt nach
wie vor sehr hoch. Allerdings erwarten die Soldatinnen
und Soldaten, dass das, was sie in Afghanistan in einem
zunehmend gefährlicher werdenden Einsatz leisten, von
unserer Gesellschaft endlich angemessen wahrgenom-
men wird. Insofern ist es wichtig, dass bei den im Ein-
satz getöteten Soldaten tatsächlich von „gefallenen Sol-
daten“ gesprochen wird. Verletzte Soldaten sind
„verwundete Soldaten“. In diesen Begrifflichkeiten spie-
gelt sich wider, was das Soldatensein im Kern ausmacht,
nämlich die Bereitschaft, wenn nötig, auch das eigene
Leben für deutsche Interessen einzusetzen.
Unser Bundespräsident sagte vor wenigen Tagen, es
sei mit Blick auf die Einsätze der Bundeswehr eine
„Sisyphusarbeit des Aufklärens und Überzeugens“ nö-
tig, um das „freundliche Desinteresse“ – ein anderes
Wort von ihm – der Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes zu überwinden. Diese Sisyphusarbeit müssen wir
alle zusammen leisten:
Politik, militärische Führung, Gewerkschaften, Kirchen
und nicht zuletzt auch die Medien.
Das sind wir alle den Soldatinnen und Soldaten schuldig.
Wir alle schulden ihnen Dank für ihren schweren Ein-
satz. Wir grüßen von dieser Stelle aus – ich glaube, das
darf ich in der heutigen Debatte im Namen aller Anwe-
senden sagen – alle Soldatinnen und Soldaten in allen
Einsatzgebieten und selbstverständlich auch an allen
Heimatstandorten.
Bei der Trauerfeier für die beiden in Kunduz gefalle-
nen Soldaten, Patrick Behlke und Roman Schmidt, er-
lebte ich ein Beispiel für praktizierte Solidarität. Als die
Trauergemeinde die Kirche verließ, standen Hunderte
Bürgerinnen und Bürger aus Zweibrücken mit brennen-
den Kerzen in den Händen vor dem Gotteshaus. Für die
Familien und die Kameraden waren diese Kerzen eine
stille Demonstration der Verbundenheit, offen bezeugte
Solidarität; andere würden es Nächstenliebe nennen.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin
Anita Schäfer.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!
Meine Fraktion, die CDU/CSU, und ich danken Ihnen
und Ihren Mitarbeitern für Ihre geleistete Arbeit. Sie ha-
ben in Ihrem Bericht für 2007 erneut umfassend aufge-
führt, was die Soldaten unserer Bundeswehr bewegt. An
vieles davon sind wir im laufenden Jahr erinnert worden,
besonders was die Bedingungen im Einsatz angeht.
In diesem Jahr haben wir alle schmerzhafte Verluste
erlitten. Ich erinnere an die beiden Soldaten, die im Juni
beim Absturz eines Hubschraubers in Bosnien ums Le-
ben kamen. Ich erinnere an die drei Fallschirmjäger, die
bei Anschlägen in Afghanistan gefallen sind. Ich erin-
nere an die Soldaten, die bei diesen und anderen An-
schlägen verwundet wurden, einige davon schwer.
Alle gefallenen und tödlich verunglückten Männer
und viele der Verwundeten stammen aus demselben
Standort, aus der Niederauerbach-Kaserne in Zweibrü-
cken, die sich in meinem Wahlkreis befindet. Ich über-
lasse es jedem selbst, sich die Wirkung auf die dortige
Militärgemeinde vorzustellen.
Trotz aller Opfer und persönlicher Härten erfüllen die
Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag professionell
und engagiert, den Auftrag, den wir, der Deutsche Bun-
destag, ihnen erteilt haben. Sie tun das übrigens auch,
obwohl sich viele von ihnen in der öffentlichen Debatte
darüber nicht wiederfinden können. Das ist mir kürzlich
bei der Reise des Verteidigungsausschusses nach Afgha-
nistan wieder deutlich geworden, wie übrigens einige
andere Sachverhalte aus dem Bericht des Wehrbeauf-
tragten auch.
Meine Damen und Herren, fahren Sie einmal mit ei-
ner Patrouille rund um Kunduz. Dann wird Ihnen die ei-
gentliche Problematik bei den geschützten Fahrzeugen
klar. Der Verteidigungsminister hat in diesem Zusam-
menhang zu Recht festgestellt, dass sich die Ausstattung
fortlaufend verbessert hat. Es kommt aber nicht nur auf
die Zahl an. Es kommt auch darauf an, dass für jede Mis-
sion das jeweils am besten geeignete Fahrzeug zur Ver-
fügung steht; denn nicht jeder Weg ist mit einem Dingo
befahrbar. Herr Minister Jung, deshalb war ich beson-
ders froh, als ich Sie vor kurzem zur Übernahme des ers-
ten Eagle IV nach Kaiserslautern begleiten konnte; denn
der Eagle schließt eine wichtige Lücke bei den kleineren
Fahrzeugen.
Wir müssen aber auch endlich einen echten Nachfol-
ger für den geschützten leichten Geländewagen Wolf be-
kommen; denn die leichteste Klasse kann letztlich auch
am meisten eingesetzt werden. Dabei ist klar, dass es
keinen absoluten Schutz gibt. Unsere Soldaten müssen
sich aber auf zweierlei verlassen können:
Erstens. Wir müssen ihnen klar sagen, was die jewei-
ligen Einsatzziele sind. Wir müssen ihnen sagen, warum
sie die Stabilisierung Afghanistans absichern müssen.
Wir müssen ihnen sagen, warum sie auf dem Balkan für
20820 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Anita Schäfer
Frieden und Sicherheit sorgen müssen. Wir müssen ih-
nen sagen, warum sie gegen Piraten vorgehen müssen.
Der Grund ist, dass die Stabilisierung Afghanistans, der
Friede auf dem Balkan und die Sicherheit der Seewege
unseren Interessen entsprechen.
Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Sol-
daten bei der Erfüllung ihres Auftrags optimal ausgebil-
det, ausgerüstet und geschützt sind und dass sie im Falle
des Falles bestens versorgt sind, zum Beispiel bei einer
Verwundung im Einsatz.
Dabei will ich die seelischen Verwundungen nicht
vergessen. Wir alle sind uns des Problems der posttrau-
matischen Belastungsstörungen bewusst. Hierzu wird
die Koalition in der nächsten Sitzungswoche einen An-
trag einbringen, der sich eingehend mit den notwendigen
Betreuungsmöglichkeiten befassen wird.
In diesem Zusammenhang finde ich die Aussage im
Bericht des Wehrbeauftragten zum Sanitätsdienst sehr
beunruhigend. Wegen der als unattraktiv empfundenen
Dienstbedingungen haben zahlreiche Ärzte die Bundes-
wehr verlassen. Im Laufe dieses Jahres sind es bereits
76, wie der Wehrbeauftragte ausgeführt hat. Viele wech-
selten in ein Beamtenverhältnis im Landesdienst.
Mit dem gerade beschlossenen Dienstrechtsneuord-
nungsgesetz wird dies nun von der Zustimmung des
Dienstherrn abhängig gemacht. Nur den Wechsel zu ver-
bieten, kann allerdings keine Lösung sein. Wichtiger ist
es, die Dienstbedingungen attraktiver zu gestalten. Das
hat die Koalition mit dem Dienstrechtsneuordnungsge-
setz getan. Die darin enthaltenen Stellenzulagen für
Fachärzte sind ein erster Schritt, um die größte Härte ab-
zufedern. Die gleiche Regelung gilt für die Komman-
danten von Transportflugzeugen. Zudem ist die höchste
Stufe des Auslandsverwendungszuschlags nun auf
110 Euro pro Tag angehoben worden. Unabhängig da-
von haben wir bereits Anfang dieses Jahres den Sold der
Wehrpflichtigen um 2 Euro pro Tag erhöht. Denn natür-
lich dürfen die Bemühungen um bessere Bedingungen
nicht beim Sanitätsdienst aufhören. Die Attraktivität des
Dienstes bei der Bundeswehr insgesamt ist der Schlüssel
dafür, dass sie bleibt, was sie ist: eine hochqualifizierte
und motivierte Truppe.
Nach wie vor wird dies vor allem von drei Faktoren
bestimmt: von der Einsatzbelastung, von der Besoldung
sowie von der Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Für
viele Spezialisten lässt sich die angestrebte Pause von
16 Monaten zwischen zwei Einsätzen nicht realisieren.
Ich nenne als Beispiel die Heeresflieger. Nur durch at-
traktive Dienstbedingungen werden wir weiterhin in aus-
reichender Zahl Soldaten gewinnen können, die den
vielfältigen Herausforderungen der heutigen Einsätze
gewachsen sind.
Nur eine ausreichende Personallage kann die Einsatz-
belastung in Grenzen halten. Die Soldaten, die ich bei ih-
ren Auslandseinsätzen getroffen habe, sind von großem
Pflichtbewusstsein erfüllt. Sie vertreten die Sicherheits-
interessen Deutschlands unter teilweise erheblichen Be-
drohungslagen, und zwar in vollem Bewusstsein der
möglichen Gefahren, die sie mit ihrem Dienst in der
Bundeswehr auf sich nehmen. Dabei muss das Funda-
ment stimmen. Wir müssen für bestmögliche Dienstbe-
dingungen sorgen. Wir müssen für bestmögliche Ein-
satzbedingungen sorgen. Wir, die Politik, und die
Gesellschaft müssen den Soldaten bei der Bewältigung
der Aufgaben, die sie für uns erfüllen, Rückhalt geben.
Zum Schluss möchte ich die Gelegenheit nutzen, al-
len Angehörigen der Bundeswehr eine frohe Adventszeit
zu wünschen. Dabei will ich daran erinnern, dass für ei-
nige Familien die Festtage im Schatten des Verlustes ge-
liebter Menschen, die im Einsatz ihr Leben verloren ha-
ben, stehen werden. Meine Bitte lautet, dass wir, die
Gesellschaft, sie nicht alleine lassen. Ich denke auch be-
sonders an die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, die
Weihnachten und Neujahr getrennt von ihren Familien
verbringen werden, und an alle anderen Männer und
Frauen in Uniform und Zivil, die in der Bundeswehr
Dienst für uns leisten. Ihnen allen und ihren Familien
wünsche ich, dass sie heil und gesund in das Jahr 2009
kommen.
Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich möchte auch im Namen der FDP-Fraktion Ihnen,
Herr Robbe, Ihren Mitarbeitern und vor allen Dingen
auch unseren Soldatinnen und Soldaten in der Heimat
und in den Auslandseinsätzen recht herzlich danken. Mit
dem diesjährigen 49. Jahresbericht des Wehrbeauftrag-
ten haben Sie uns wieder ein ungeschminktes Bild der
Truppe, ihrer Befindlichkeiten und Probleme gegeben.
Es ist gut, sehr geehrter Herr Robbe, dass Sie zusätz-
lich zu Ihren Berichten immer wieder einzelne Themen
aufgreifen, die unsere Soldatinnen und Soldaten beson-
ders angehen. Dass Sie gemeinsam mit dem Parlament
etwas bewegen können, wird daran deutlich, dass der
Verteidigungsminister nach unserer gemeinsamen Kritik
an vorhandenen Ausrüstungs- und Ausbildungsmängeln
bei der Bundeswehr eine Untersuchung angeordnet hat.
Ich denke, dass wir alle auf die Ergebnisse dieser Unter-
suchung gespannt sein können.
Ich bin Kollegin Schäfer sehr dankbar, dass Sie sehr
deutlich auf diesen Bereich hingewiesen hat. Denn noch
vor einem Jahr hatte der Minister in seiner Rede anläss-
lich der Generaldebatte zum Bundeshaushalt ausgeführt,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20821
(C)
(D)
Elke Hoff
dass den Soldaten immer eine optimale Ausbildung ge-
währt und eine optimale Ausrüstung in die Auslandsein-
sätze mitgegeben werde und dass die damals vorgetra-
gene Kritik nicht der Realität entspreche. Inzwischen ist
der Minister offensichtlich in der Wirklichkeit angekom-
men. Er spricht heute nur noch von einer guten Ausrüs-
tung und einer guten Ausbildung.
Selbst in dem von Ihnen als vorbildlich beschriebenen
Bereich der geschützten Fahrzeuge ist Ihr Eigenlob, das
in der letzten Woche im Tagesspiegel zu lesen war, bes-
tenfalls die halbe Wahrheit.
Der Minister rechnet die Zahl der geschützten Fahrzeuge
schön, indem er auch Fahrzeuge des Typs Wolf MSS in
seine Rechnung einbezieht, obwohl diese Fahrzeuge
selbst nach Einschätzung der Bundesregierung nicht das
geforderte Schutzniveau erreichen.
Die Bundesregierung musste sogar einräumen, dass die
Besatzungen dieser Fahrzeuge in Afghanistan zusätzlich
Schutzwesten und Helme anlegen müssen, um ein Mini-
mum an Schutz zu erhalten. Leider sind gerade diese
Fahrzeuge des Typs Wolf meist die einzigen, die derzeit
in Afghanistan angesichts der schwierigen Geländever-
hältnisse eingesetzt werden können.
Der Einsatz des Eagle IV, der im kommenden Jahr in
der nächsthöheren Schutzklasse 2 der Bundeswehr end-
lich zur Verfügung stehen wird, wurde aufgrund partei-
politischer Spielchen leider monatelang aufgehalten, ob-
wohl ihn die deutschen Kontingentführer immer wieder
dringend angefordert haben.
Häufig sehen sich die Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz dazu gezwungen, durch Notbehelfe und Eigen-
konstruktionen gegen bestehende Dienstvorschriften zu
verstoßen, um den Mangel bei der Ausstattung proviso-
risch wettzumachen. Der Einsatz von privat beschaffter
Ausrüstung bei den deutschen Soldaten sollte die Verant-
wortlichen sehr nachdenklich machen. Von den gefalle-
nen Soldaten, die wir in Zweibrücken vor einiger Zeit
auf ihrem letzten Weg gemeinsam begleitet haben, war
bereits die Rede. Dass der Vater eines gefallenen Solda-
ten – sicherlich auch, um seine eigene Betroffenheit und
Trauer ein Stück weit zu verarbeiten – uns allen in aller
Öffentlichkeit gesagt hat, dass dies bei den Soldatinnen
und Soldaten ein Thema ist, sollte das, was ich gerade
ausgeführt habe, unterstreichen.
Wenn der Minister über die medizinische Versorgung
der Bundeswehr im Auslandseinsatz und im Inland
schreibt und spricht, könnte man den Eindruck gewin-
nen, dass er die schriftlichen Sachstände seines eigenen
Hauses nicht kennt und dass die Welt völlig in Ordnung
ist. Spätestens seit dem letzten Sachstandsbericht aus
dem eigenen Hause sollten Sie, lieber Herr Jung, aber
alarmiert sein.
Darin wird von einem sprunghaften Anstieg der Zahl
der Kündigungen in diesem Jahr berichtet. Bis Oktober
dieses Jahres haben 68 Mediziner ihren Dienst vorzeitig
quittiert, und mehr als 200 der rund 800 Stellen für Kli-
nikfachärzte sind derzeit nicht besetzt. Außerdem räumt
das Ministerium im letzten Sachstandsbericht endlich
ein, dass in den nächsten zehn Jahren keine Entspannung
der Situation in Sicht ist.
Dieser Bericht dokumentiert einen großen Einbruch
bei den Bewerberzahlen – und dies nicht nur für den
Arztberuf, sondern auch beim Hilfs- und Pflegepersonal.
Bereits derzeit fehlt ein Viertel der Operationsassistenten
und Krankenpfleger. Allerdings hat der Minister noch in
der letzten Woche, wiederum im Tagesspiegel, den Ein-
druck erweckt, alles sei in bester Ordnung. Sehr geehrter
Herr Jung, die Verlautbarungen Ihres Hauses von dieser
Woche lassen die Hoffnung aufkeimen, dass die schwer-
wiegenden Probleme des Sanitätsdienstes endlich er-
kannt wurden und ihre Lösung nun von Ihnen in Angriff
genommen wird.
Ein weiteres gemeinsames Anliegen von Soldaten,
Parlament und Wehrbeauftragtem ist die Verbesserung
der medizinischen Versorgung von traumatisierten Sol-
datinnen und Soldaten. Die Vermeidung und Behandlung
posttraumatischer Belastungsstörungen wird zukünftig
einen wichtigen Bereich der medizinischen Versorgung
unserer Soldatinnen und Soldaten darstellen.
Die FDP hat sich für eine Verbesserung der Behand-
lungsmöglichkeiten und für die Schaffung eines Kompe-
tenzzentrums eingesetzt. Unser Antrag ist jedoch von
den Regierungsfraktionen abgelehnt worden, weil die
betroffenen Soldaten durch die Schaffung eines Kompe-
tenzzentrums angeblich stigmatisiert würden und weil
die Regierungsfraktionen bald einen eigenen Antrag vor-
legen würden, in dem sie sich mit den eingeräumten Pro-
blemen befassen. Ich bin der Meinung, dass hier wieder
einmal wertvolle Zeit verloren geht, und das nur, weil
ein vernünftiger Antrag der Opposition abgelehnt wurde.
– Das wird sich zeigen, Kollege.
Mangelnder Mut und fehlende Konzepte befürchte ich
auch bei konkreten Maßnahmen zur Vereinbarkeit von
Dienst und Familie. Dass solche Maßnahmen dringend
notwendig sind, belegen die dramatisch einbrechenden
Bewerberzahlen und die Erhebungen des Deutschen
BundeswehrVerbandes zur Berufszufriedenheit. Ohne at-
traktive Rahmenbedingungen und strukturelle Reformen
wird die Bundeswehr die demografischen Herausforde-
rungen in den nächsten Jahren nicht bewältigen können.
Die Bundeswehr der Zukunft muss in einem Maße at-
traktiv sein, dass sich leistungsstarke junge Menschen in
ausreichender Zahl freiwillig für den Dienst in den Streit-
kräften entscheiden.
Dazu bedarf es auch eines Besoldungsrechts, das in
der Breite eine spürbare Verbesserung für die Soldaten
bedeutet.
20822 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Elke Hoff
Attraktivität wird man aber nicht allein durch eine
bessere Bezahlung erreichen können. Bessere Arbeitsbe-
dingungen – menschenwürdige Unterkünfte, Kinderbe-
treuungsmöglichkeiten, moderne Ausrüstung, qualitative
Ausbildung und ein nachvollziehbarer Auftrag – sind
Grundvoraussetzungen dafür. Um diese zu erfüllen, fehlt
es aber nach wie vor an einem weitsichtigen Zukunfts-
konzept.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Hedi
Wegener.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Liebe Gäste auf der Tribüne, Sie vertreten
sozusagen die Öffentlichkeit. Tragen Sie hinaus, wo-
rüber wir hier reden!
Meine Kollegin Anita Schäfer hat schon das Weih-
nachtsfest erwähnt. Wir können sagen: Alle Jahre wieder
sprechen wir über den Bericht des Wehrbeauftragten.
Mir fällt dazu noch ein: Mühsam ernährt sich das Eich-
hörnchen. Wir haben ganz schön dicke Bretter zu boh-
ren; der Wehrbeauftragte greift immer wieder ähnliche
Themen auf, weil sie an ihn herangetragen werden.
Dazu gehört der Auslandseinsatz. Wir haben in die-
sem Sommer den 250 000. Soldaten in den Auslandsein-
satz geschickt. Das ist doch eine Menge. Da ist es doch
ganz klar, dass das Thema Auslandseinsätze und all das,
was damit zusammenhängt, im Bericht des Wehrbeauf-
tragten einen breiten Raum einnehmen.
In vielen der anderen Eingaben werden die bereits seit
langem bekannten Probleme angesprochen. Gebetsmüh-
lenartig fordern wir hier im Parlament Abhilfe und Ver-
besserung. In diesem Jahr sind das Kasernensanierungs-
programm West und die Wehrsolderhöhung Thema
gewesen. Der vielleicht wichtigste Schritt in diesem Jahr
war die Steigerung der Mittel für den Verteidigungshaus-
halt für 2009 um 1,7 Milliarden Euro. Allein 600 Millio-
nen Euro stehen zusätzlich für militärische Beschaffun-
gen zur Verfügung. Für das Sonderprogramm „Sanierung
Kasernen West“ stehen von 2009 bis 2011 542 Millionen
Euro zur Verfügung. Aber was nutzt es, wenn der Bun-
destag all diese Veränderungen und Steigerungen be-
schließt, wenn, wie ich höre, in einigen Wehrbereichen
die Mittel nur schleppend abgerufen werden?
Wir erwarten von unseren Soldatinnen und Soldaten
höchste Motivation und größtmöglichen Einsatz. Das
können wir aber nur tun, wenn wir ihre Anliegen und
Sorgen ernst nehmen und uns darum kümmern. Wir im
Ausschuss tun das; das kann ich eigentlich für alle Frak-
tionen sagen. Wie immer gibt uns der Bericht des Wehr-
beauftragten ein gutes Bild von der Stimmung im Inne-
ren der Bundeswehr. Herr Robbe, auch von uns ganz
herzlichen Dank an Sie und Ihr Team!
Wir entnehmen Ihrem Bericht, dass viele Dinge viel
zu lange dauern. Das zeigt: Geld ist nicht alles. Die Vor-
sitzende des Verteidigungsausschusses hat letzte Woche
in der Haushaltsdebatte gesagt, dass „Sprachkenntnisse,
interkulturelle und soziale Kompetenz, Innovationsfä-
higkeit, technisches Verständnis, Leistungs- und Einsatz-
bereitschaft, psychische und physische Belastbarkeit“
wichtige Voraussetzungen seien, die die Soldatinnen und
Soldaten erfüllen müssten. Das unterschreibe ich sofort.
Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass sich
diese Anforderungen anhören, als suchten wir eine Spit-
zenkraft für ein global agierendes Unternehmen. Wenn
die Bundeswehr das ist und auf dem Markt um die bes-
ten Köpfe konkurrieren muss, dann muss sie auch etwas
anbieten können.
Mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz haben wir
kleine Erfolge erzielt. So wird beispielsweise dem Kom-
mando Spezialkräfte eine Prämie gezahlt. Besonders
wichtig ist die vorgesehene Erhöhung des Auslandsver-
wendungszuschlages. Angesichts der Gefahrenlage ist
dies aus unserer Sicht durchaus gerechtfertigt.
– Danke schön, Herr Kollege Beck. – Das alles soll aber
nur ein erster Schritt sein.
Die Zulage von 600 Euro für Ärzte und Piloten der
Bundeswehr ist für die Betroffenen positiv – der Wehr-
beauftragte hat es schon gesagt –; sie führt aber zu einer
Ungleichbehandlung. Diese Ungleichbehandlung kann
zur Unzufriedenheit in der Truppe beitragen. Ich wage
ganz einfach die Prognose, dass wir im nächsten oder
übernächsten Bericht von Ihnen, Herr Robbe, dazu etwas
finden werden.
Außerdem löst dieses Heftpflaster nicht die struktu-
rellen Probleme, zum Beispiel im Sanitätsdienst; meine
Vorrednerinnen haben das angesprochen. Uns lag zur
letzten Sitzung ein Bericht vor, der auch nicht gerade
Mut macht. Die Situation im Sanitätsdienst wird nämlich
schlechter und nicht besser. Nach jüngsten Zahlen sind
noch immer 300 der 3 100 Dienstposten für Sanitätsoffi-
ziere nicht besetzt. Nach Einschätzung des Inspekteurs
wird es auch in Zukunft nicht möglich sein, die Zielvor-
gabe zu erreichen.
Eine leichte Verbesserung im Vergleich zum vorange-
gangenen Berichtsjahr können wir beim Assistenz-,
Pflege- und Rettungspersonal verzeichnen; etwa 80 Pro-
zent der Dienstposten sind besetzt. Das Problem bleibt
aber. Gewährleistung der bestmöglichen Versorgung der
im Ausland befindlichen Truppen bei gleichzeitiger Auf-
rechterhaltung der Versorgung der Soldatinnen und Sol-
daten im Inland, das ist unser Anspruch.
Meine Herren und Damen, die Bundeswehr wird sich
noch einiges einfallen lassen müssen, um in Zukunft ge-
nügend Menschen davon zu überzeugen, in der Bundes-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20823
(C)
(D)
Hedi Wegener
wehr Dienst zu tun. Das kann nicht alles über Geld lau-
fen; dazu gehören die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf – das ist schon genannt worden – sowie eine ange-
messene Unterbringung und Ausstattung.
Ich möchte ganz am Schluss noch einen Punkt erwäh-
nen. Der Wehrbeauftragte hat die Fitness der Soldaten
bemängelt. Das ist umso besorgniserregender, als von
der körperlichen Verfassung die Sicherheit im Einsatz
abhängt. Das Problem von Unsportlichkeit und Überge-
wicht geht mit der Entwicklung in der Gesellschaft ein-
her, ist aber auch auf den Ausfall von Sporteinheiten
während der Dienstzeit zurückzuführen. Der Sport
kommt oft zu kurz. Es reicht nicht, theoretisch ausrei-
chend Sportausbilder und Trainingsanlagen zu haben,
wenn der Dienstplan letzten Endes dafür nichts hergibt.
Aber auch die Bundeswehr ist ein Spiegel der Bevölke-
rung, genau wie es die Abgeordneten sind, und da gibt es
sone und sone.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Dr. Hakki Keskin das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Der Wehrbeauftragte, Herr Robbe, präsentiert in
seinem Jahresbericht eine differenzierte und zugleich
recht kritische Situationsbeschreibung der Bundeswehr.
Ihre Arbeit, Herr Robbe, hat sich in der Vergangenheit
sehr bewährt. Dies nimmt die Linke zum Anlass, Sie
ausdrücklich zu ermutigen, Ihre parlamentarische Kon-
trollfunktion voll auszuschöpfen.
Dazu gehört, dass Sie mit konkreten Eigeninitiativen
stärker zur Lösung struktureller Probleme beitragen kön-
nen. Dies betrifft beispielsweise die Wehrdisziplinarord-
nung und die Innere Führung.
Der Wehrbeauftragte kommt bereits in seinem Vor-
wort zu dem Fazit, dass – ich zitiere – „sich an den grund-
sätzlichen und strukturellen Problemen der Bundeswehr
nur wenig zum Positiven hin geändert“ hat. Allein schon
diese einleitende Feststellung sollte für die Bundesregie-
rung eigentlich Grund genug sein, die aufgeführten Miss-
stände endlich zu beseitigen. Grob umrissen, betrifft dies
vor allem die Ausstattung und Unterbringung der Solda-
tinnen und Soldaten bei Bundeswehreinsätzen im Aus-
land.
Des Weiteren befinden sich im Inland zahlreiche Bun-
deswehrkasernen in einem erschreckenden Zustand. Die
Wohnunterkünfte sind zum Teil dramatisch überbelegt
und oft sanierungsbedürftig. Auch bei der Inneren Füh-
rung macht der Bericht zum wiederholten Male deutlich,
dass das Bewusstsein mancher Vorgesetzter und Solda-
ten für die Menschenwürde weiter geschärft werden
muss.
Als zunehmend problematisch wird die Qualität der
sanitären und medizinischen Versorgung beschrieben.
Insbesondere gilt dies für den Bereich „posttraumatische
Belastungsstörungen nach Auslandseinsätzen“. Der Wehr-
beauftragte geht von einer vielfach höheren Dunkelziffer
von Krankheitsfällen aus. Diese Entwicklung muss uns
Anlass zu großer Sorge geben, die nicht auf dem Rücken
der Betroffenen abgeladen werden darf.
Die Linke hat hierzu einen eigenen Antrag vorgelegt und
fordert die Bundesregierung auf, den erkrankten Solda-
tinnen und Soldaten die bestmögliche Behandlung zu-
kommen zu lassen. Feststeht, dass Kampfeinsätze im
Ausland oftmals langfristige psychische Schäden hinter-
lassen. Laut Bericht des Wehrbeauftragten stellen sich
auch immer mehr Soldatinnen und Soldaten die Frage
nach dem Sinn ihrer Einsätze. Es ist schon auffällig, wie
die Bundesregierung gebetsmühlenartig die Notwendig-
keit von Auslandseinsätzen betont, wenn gleichzeitig
diejenigen, die diese Einsätze durchführen müssen, zu-
nehmend Zweifel äußern.
Abgesehen davon, dass für uns Krieg kein Mittel zur
Konfliktlösung ist, sieht sich die Linke in ihrer grund-
sätzlichen Kritik an militärischen Kampfeinsätzen der
Bundeswehr im Ausland bestätigt und fordert die Bun-
desregierung auf, von dieser verhängnisvollen Politik
abzurücken. Die Linke ruft die Bundesregierung auf,
Konflikte im internationalen Staatensystem mithilfe des
Völkerrechts und seiner Gremien friedlich zu lösen.
Die militärischen Kampfeinsätze im Ausland müssen
schnellstmöglich beendet werden. Die Bundesregierung
würde damit die Voraussetzungen dafür schaffen, dass
sich die Bundeswehr wieder um ihre eigentliche Auf-
gabe kümmert. Dazu gehört nach dem Verständnis der
linken Fraktion die unmittelbare Verteidigung der Lan-
desgrenzen der Bundesrepublik Deutschland.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei, Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
gestatten, dass ich jetzt nicht die vielen einzelnen
Punkte, die im Zusammenhang mit dem Mängelbericht
des Wehrbeauftragten genannt wurden, wiederhole, son-
dern einige ergänzende Punkte anspreche.
20824 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Winfried Nachtwei
Aufgabe des Wehrbeauftragten ist es, den Schutz der
Grundrechte der Soldaten und die parlamentarische
Kontrolle der Streitkräfte zu unterstützen. In diesem
Amt laufen das Grundverständnis von Streitkräften im
demokratischen Rechtsstaat zum einen und Parlaments-
armee zum anderen zusammen. Vor diesem Hintergrund
stellt sich meines Erachtens inzwischen die Frage, ob
nicht angesichts erheblich anderer Aufträge der Bundes-
wehr und einer anderen Bundeswehrrealität Ergänzun-
gen der bisherigen Befugnisse, die immerhin schon 1982
gesetzlich festgelegt wurden, zu diskutieren wären. Ich
denke dabei an die Zunahme von geheimhaltungsbedürf-
tigen Einsätzen, bei denen bekanntermaßen die parla-
mentarische Kontrolle, gelinde ausgedrückt, minimal ist;
bei solchen Spezialeinsätzen ist auch die Innere Führung
stärker unter Druck. Zu diskutieren ist, ob nicht in dem
Zusammenhang andere Befugnisse des Wehrbeauftrag-
ten angebracht wären oder ob diese, was langfristige
Trends in den Streitkräften angeht, nicht sozusagen
durch einzelne Mängelfeststellungen identifiziert wer-
den können. Ich denke zum Beispiel an das Recht, beim
Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr ent-
sprechende Untersuchungen in Auftrag zu geben. Da-
rüber sollten wir einmal sprechen.
Im Bericht des Wehrbeauftragten hat ein Problem ei-
nen ganz besonderen Stellenwert, das in der medialen
Berichterstattung fast gar nicht beachtet wird. Das ist das
Führungsverhalten. Führungsverhalten fängt selbstver-
ständlich ganz oben an, so etwa bei der Rechtsklarheit
von Aufträgen und Aufgaben.
Ich erinnere mich noch an die erste Lesung des Be-
richts des Wehrbeauftragten am 19. Juni. Damals habe
ich Sie, Herr Minister, auf folgenden Sachverhalt hinge-
wiesen: In der Taschenkarte „Humanitäres Völkerrecht
in bewaffneten Konflikten“ der Bundeswehr sind für
Bundeswehrsoldaten verbotene Kampfmittel eindeutig
festgestellt. Dies sind neben Antipersonenminen auch
atomare Waffen. Gleichzeitig wissen wir alle, dass der
Einsatz von Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teil-
habe weiterhin geübt wird, dass dafür Tornado-Besat-
zungen vorgehalten werden. Herr Minister, ich habe die
Erfahrung gemacht, dass das Ministerium auf diesen
Vorhalt taub und stumm reagiert hat. Inzwischen hatten
Sie sechs Monate Bedenkzeit, um sich eine Antwort da-
rauf zu überlegen. Ich erwarte, dass Sie diesen Wider-
spruch gleich in Ihrer Rede aufklären.
Der Wehrbeauftragte stellt in seinem Bericht zuneh-
mend Defizite im Führungsverhalten von Vorgesetzten
fest, und zwar – das ist eine wichtige Ergänzung dazu –
nicht in Einzelfällen. Außerdem stellen Sie eine wachsende
Tendenz anonymer Eingaben fest, insbesondere wenn es
um Kritik an höhergestellten Vorgesetzten geht. Dies ist
– da kann man Ihrer Bewertung nur zustimmen – in der
Tat ein beunruhigender Trend. Da reicht es ganz und gar
nicht, dass das Ministerium in der Stellungnahme zu Ih-
rem Bericht darauf nur grundsätzlich eingeht. Das geht
so nicht.
Zu einem richtigen Führungsverhalten gehört schließ-
lich auch, dass höhergestellte Vorgesetzte kritische Ent-
wicklungen offen und ehrlich benennen und weitermel-
den. Hierzu ist immer wieder festzustellen, dass
stattdessen auf den verschiedenen Ebenen der Hierarchie
Beschönigungsfilter greifen. Vorhin ist bereits von meh-
reren Kolleginnen und Kollegen ein Extrembeispiel ge-
nannt worden, nämlich die enorme Abwanderung von
Bundeswehrärzten. Da haben einzelne Kolleginnen und
Kollegen, zum Beispiel die Kollegin Hoff, früh Alarm
geschlagen. Auch der Wehrbeauftragte und andere haben
früh Alarm geschlagen. Aber der Inspekteur des Sani-
tätsdienstes – das sage ich ganz deutlich – hat erst ein-
mal den Schleier darüber gehalten. Inzwischen hat es
auch der Minister als Problem erkannt. Aber so etwas zu
beschönigen, ist mit dem zu fordernden Führungsverhal-
ten nicht vereinbar.
Herr Wehrbeauftragter, wenn wir Ihnen und Ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Ihre Arbeit dan-
ken, dann ist das, obwohl es sich immer wiederholt, ganz
und gar kein Ritual. Es ist jedes Mal ehrlich gemeint.
Das geht den anderen auch so.
Im Zusammenhang mit der Realität und der Praxis
der Inneren Führung möchte ich noch einen Aspekt an-
sprechen. Gestern ist der Bundesvorsitzende des Deut-
schen BundeswehrVerbandes verabschiedet worden, von
dem man wirklich sagen kann, dass er in seinen 15 Jah-
ren zu so etwas wie einer Verkörperung des Staatsbür-
gers in Uniform geworden ist. Natürlich hat er auch im-
mer mal wieder gestört; aber das gehört zu seiner
Aufgabe. Ich möchte ausdrücklich betonen: Bernhard
Gertz hat sich für die Streitkräfte in der Demokratie, um
eine Bundeswehr im Friedensauftrag des Grundgesetzes
und nicht zuletzt um seine Kameradinnen und Kamera-
den verdient gemacht.
Danke schön.
Das Wort hat nun Bundesminister Franz Josef Jung.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Wehrbeauftragte unterstützt den Deutschen
Bundestag bei seiner parlamentarischen Kontrolle. Herr
Kollege Nachtwei, Sie haben dies angesprochen.
Art. 45 b des Grundgesetzes sieht den Wehrbeauftragten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20825
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
zum Schutz der Grundrechte vor. Dass diesbezüglich
kein Verstoß vorgetragen worden ist, ist ein positives Er-
gebnis dieses Berichts.
Unsere Soldaten sind – das füge ich hinzu, Frau Kol-
legin Hoff – gut ausgebildet, gut ausgerüstet, gut moti-
viert und leistungs- und einsatzfähig. Das hindert uns
aber nicht daran, immer wieder die aktuellen Entwick-
lungen zu beobachten und Verbesserungen vorzuneh-
men. Wer nicht immer besser werden will, hat aufgehört,
gut zu sein. Deshalb ist es richtig, dass wir die Punkte,
die angesprochen worden sind, durchaus kritisch be-
leuchten und prüfen, inwiefern die eine oder andere Ver-
besserung umgesetzt werden kann.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass un-
sere Soldatinnen und Soldaten in einer besonderen
Weise gefordert sind. In diesem Jahr wurde bereits der
250 000. Soldat im Ausland eingesetzt. Über 7 000 Sol-
daten befinden sich derzeit im Auslandseinsatz, sei es in
Afghanistan, auf dem Balkan, im Libanon, am Horn von
Afrika, im Sudan oder in Georgien. Ich glaube, daran
wird deutlich, in welcher Art und Weise unsere Soldatin-
nen und Soldaten gefordert sind. Es ist deshalb gut und
richtig, wenn wir in einer solchen Debatte immer wieder
deutlich machen, dass sie diese riskanten Auslandsein-
sätze in einer, wie ich finde, hervorragenden Art und
Weise bewältigen und dass sie beispielhaft das Ansehen
der Bundesrepublik Deutschland steigern. Deshalb ha-
ben sie unseren Dank und unsere Anerkennung verdient.
Zum Thema Ausrüstung muss man darauf hinweisen
dürfen, dass es, als sich die Sicherheitslage in Afghanis-
tan verschärft hat, unsere Entscheidung war, nur noch
geschützte Fahrzeuge einzusetzen. Frau Kollegin Hoff,
wir haben derzeit rund 700 geschützte Fahrzeuge in Af-
ghanistan im Einsatz. Wir haben derzeit in Afghanistan
mehr als 120 moderne Allschutztransportfahrzeuge vom
Typ Dingo 1 und Dingo 2 im Einsatz. Jetzt kommt der
Eagle hinzu, der eine zusätzliche Schutzkomponente
darstellt. Ich denke, dass wir auch im Vergleich zu ande-
ren Nationen in einer Art und Weise ausgerüstet sind,
dass unsere Soldaten ihren Auftrag mit der notwendigen
Schutzkomponente entsprechend durchführen können.
Es wurde ein weiterer Punkt angesprochen. Es geht
um die Frage – der Wehrbeauftragte ist darauf eingegan-
gen – der Attraktivität und der sozialen Rahmenbedin-
gungen. Ich finde, dass wir ein Stück weitergekommen
sind, indem wir in diesem Jahr den Tarifvertrag umset-
zen konnten, damit es eine Perspektive nach oben gibt,
und indem wir für die Angleichung der Besoldung Ost
an die Besoldung West gesorgt haben. Zum Glück haben
wir eine Armee der Einheit, die im Einsatz für den Frie-
den ist. Deshalb halte ich die Angleichung der Besol-
dung für richtig.
Der Wehrsold wurde um 2 Euro pro Tag erhöht. Auch
der Auslandsverwendungszuschlag ist zu Recht ange-
sprochen worden.
Es stellt sich aber auch die Frage – das hat der Wehr-
beauftragte deutlich gemacht –, wie wir mit der Abwer-
bung von Piloten und Ärzten umgehen. Im Rahmen der
Dienstrechtsneuordnung haben wir eine befristete Stel-
lenzulage vorgesehen. Natürlich kann das nicht die allei-
nige Antwort sein. Ich habe die Inspekteure der Luftwaffe
und des Sanitätsdienstes gebeten, eine Gesamtkonzeption
zu entwickeln, um wirkungsvoll gegensteuern zu können;
denn wir brauchen qualifizierte Soldatinnen und Soldaten
auch und gerade in diesem Bereich. Deshalb müssen wir
hier noch weiter nachsteuern.
Wichtig ist auch die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst. Dieses Thema spielt nicht nur in der ZDv „In-
nere Führung“ eine Rolle. Wenn ich das erwähnen darf:
Betreuung, Eltern-Kind-Zimmer, Telearbeitsplätze und
Teilzeitarbeitsplätze sind Themen, bei denen wir erheb-
lich weitergekommen sind. Wir werden die Debatte noch
im Rahmen dieser Plenarsitzung führen. Darin wird
deutlich werden, wie wir im Hinblick auf die Vereinbar-
keit von Familie und Dienst vorgehen.
Lassen Sie mich noch eines sagen. Wir dürfen unsere
Soldatinnen und Soldaten in schwierigen Situationen
nicht allein lassen. Wir haben in diesem Jahr in Afgha-
nistan eine tragische Situation erlebt. Deshalb will ich
auch von dieser Stelle deutlich machen, dass wir an der
Seite unserer Soldatinnen und Soldaten stehen und des-
halb schnell entschieden haben, den Rechtsschutz für
unsere Soldatinnen und Soldaten zu verbessern. Ich
hielte es für richtig, wenn wir in Zukunft eine Schwer-
punktstaatsanwaltschaft für diesen Bereich bilden wür-
den; denn unsere Soldaten haben auch in dieser Hinsicht
die Unterstützung von unserer Seite verdient.
Auch die Frage der gesellschaftlichen Anerkennung
möchte ich ansprechen. Aufgrund der Kürze der Zeit
kann ich das nur schlagwortartig tun. Ich nenne als
Stichworte das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, die
Tapferkeitsmedaille, die der Bundespräsident dankens-
werterweise genehmigt hat – auch das ist eine Anerken-
nung für einen herausragenden Dienst –,
und das Ehrenmal, über das diskutiert worden ist und für
das wir jetzt den Grundstein legen konnten. Auch das ist
ein wichtiger Punkt. Die Soldatinnen und Soldaten sind
die einzige Berufsgruppe, die schwört, das Recht und die
Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, und
die letztlich bis zum Einsatz ihres Lebens gefordert ist,
wenn dieses Recht und die Freiheit tatsächlich verteidigt
werden müssen. Deshalb haben sie eine Würdigung ver-
dient, wenn sie im Einsatz gefallen sind oder sonst im
Dienst für die Bundeswehr ums Leben gekommen sind.
20826 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
Auch diese Form der Anerkennung gehört meines Er-
achtens dazu. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass wir
dieses Ehrenmal für unsere Soldatinnen und Soldaten er-
richten können.
Ich denke, dass wir die Punkte, die hier angesprochen
worden sind, aufnehmen und prüfen, in welchen Berei-
chen wir weitere Verbesserungen herbeiführen können.
Ich möchte mich von dieser Stelle aus beim Wehrbeauf-
tragten und bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
für die Zusammenarbeit bedanken. Es ist unser gemein-
sames Ziel, alle Anstrengungen zu unternehmen, um un-
sere Soldatinnen und Soldaten zu unterstützen. Wir müs-
sen die Rahmenbedingungen schaffen, damit sie ihren
Auftrag weiterhin zur Wahrung von Frieden, Recht und
Freiheit und im Interesse der Sicherheit unserer Bürge-
rinnen und Bürger gut erfüllen können.
Besten Dank.
Das Wort als letzter Redner zu diesem Debattenpunkt
hat Kollege Jörn Thießen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
jetzt vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten zeigt,
verehrter Herr Robbe: Es ist nicht nur gut, dass wir einen
Wehrbeauftragten haben, sondern es ist auch gut, dass
wir diesen Wehrbeauftragten haben. Vielen Dank für
das, was Sie tun. Das ist ein Lob, das ich sicherlich von
allen Seiten des Hauses ausrichten kann.
Ich finde es richtig, Kollege Nachtwei, dass die ver-
änderten Rahmenbedingungen, unter denen Soldatinnen
und Soldaten ihren Dienst in dieser Republik und auch
im Ausland tun, auch eine veränderte Rolle des Wehrbe-
auftragten nach sich ziehen. Es ist ganz richtig, dass wir
versuchen, diese Rolle so umfassend auszulegen, dass
am Ende auch eigene Instrumente der Untersuchung
oder der Analyse für den Wehrbeauftragten geschaffen
werden können. Also, Herr Minister, ein Appell an Sie:
Öffnen Sie doch auch das Sozialwissenschaftliche Insti-
tut der Bundeswehr und seine wirklich großartige Exper-
tise gelegentlich für die Aufgaben des Wehrbeauftragten.
Es tut uns allen gut, wenn wir ihm diese Expertise zur
Verfügung stellen.
Sie haben in diesem Jahr wieder darauf hingewiesen,
dass wir Mängel bei der Ausrüstung haben, dass wir bei
den Auslandseinsätzen Schwierigkeiten mit den Ausstat-
tungen haben. Es ist unser gemeinsames Ziel – das gilt
für viele in diesem Hohen Hause –, es zu genau diesen
Mängeln nicht kommen zu lassen bzw. diese Mängel so
schnell wie möglich zu beheben.
Mehr als das, was Sie dazu aufgeschrieben haben, be-
wegt mich die Frage nach der oftmals fehlenden oder
mangelnden Einsicht in den Sinn und Zweck der Ein-
sätze der Streitkräfte im Ausland. Dabei geht es nicht
nur um die Frage, wie wir unsere Soldatinnen und Solda-
ten vorbereiten, sondern vor allem darum, wie politische
Bildung, über die wir vorhin in diesem Hause gespro-
chen haben, in der Bundeswehr lebendig gehalten wird.
Die Fragen „Warum sind wir in den Einsätzen?“ und
„Warum ist es wichtig, Streitkräfte der Demokratie zu
haben?“ dürfen nicht nur im Ausland eine Rolle spielen,
sondern müssen in den Heimatstandorten lebendig dis-
kutiert werden.
Die neue ZDv 12/1 „Politische Bildung in der Bundes-
wehr“ darf eben nicht Papier sein und bleiben, sondern
muss in der Tat strittig diskutiert, umgesetzt und gelebt
werden. Ich hoffe sehr, dass die zuständigen Vorgesetz-
ten die nötige Zeit haben, dies in der Bundeswehr umzu-
setzen.
Sie haben in der Frage der Ausbildung Ihren Fokus
auf die Ausbildungsreihe der Offiziere im Heer gelegt.
In manchen sogenannten Offiziersanwärter-Ausbil-
dungsbataillonen erleben die Soldaten eine heile Ausbil-
dungswelt, die mit dem späteren Truppenalltag zu wenig
Berührungspunkte hat. In den drei Monaten Truppen-
praktikum werden sie – sollten sie die Möglichkeit zu ei-
nem solchen Praktikum überhaupt haben – zum Teil nur
als willkommene Urlaubsvertretung gesehen und oft-
mals ohne angemessene Begleitung von erfahrenen Aus-
bildern eingesetzt. Diese ersten Gehversuche gehören
aber zu den am stärksten prägenden Erfahrungen ihrer
Laufbahn. Deswegen müssen wir darauf achten, dass
möglichst alltagsnah und von erfahrenen Ausbildern
ausgebildet wird. Im schlimmsten Falle kommt ein jun-
ger Heeresoffizier erst nach 79 Monaten zum ersten Mal
mit sogenannten normalen Soldaten in Berührung und
soll sie dann führen können. Das ist ein großes Problem.
Sie weisen darauf hin, dass die infrastrukturelle Um-
gebung der Bundeswehr verbesserungswürdig ist. Herr
Bundesminister, wenn wir schon dabei sind, große Kon-
junkturprogramme zu verabschieden: Melden Sie sich
doch bitte noch einmal beim Kollegen Steinbrück, um
herauszubekommen, ob im Konjunkturprogramm ein
Euro für das Sonderprogramm „Kasernensanierung
West“ übrig ist.
Vielleicht ist er Ihnen gegenüber einsichtig und aufge-
schlossen.
Was nicht funktionieren kann, ist, dass aufgrund einer
mangelnden Anzahl an Pendlerwohnungen Soldatinnen
und Soldaten in Wohnwagen oder auf Feldbetten in ih-
rem eigenen Dienstzimmer übernachten müssen. Das
würden wir noch nicht einmal auf der Hardthöhe tun und
auch nicht in anderen Kasernen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das neue
Beurteilungssystem, das seit dem 1. Januar 2007 ange-
wendet wird, wird in vielen Bereichen nicht als größere
Gerechtigkeit angesehen. Nur 20 Prozent dürfen wirk-
lich gut sein, was am Ende dazu führt, dass sich viel-
leicht mehr als 20 Prozent ungerecht beurteilt fühlen.
Dies führt nicht dazu, dass die Einsatzmotivation im In-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20827
(C)
(D)
Jörn Thießen
land gesteigert wird. Ich bin mir nicht sicher, ob wir bei
diesem Beurteilungssystem bleiben können. Der Wehr-
beauftragte hat dazu richtige Dinge gesagt.
Die neueste Studie des Sozialwissenschaftlichen In-
stituts der Bundeswehr zum Meinungsklima lässt uns
deutlich spüren, was wir auch als Politikerinnen und Po-
litiker unterstützen: Es gibt eine spürbare Zustimmung
zu den Einsätzen der Bundeswehr. Auch ist die Bundes-
wehr getragen von vielen Menschen und von der großen
Mehrheit in unserer Bundesrepublik Deutschland. Was
uns aber gemeinsam große Sorgen machen muss, sind
die erheblichen Informationsdefizite bis weit in unsere
Schulen und auch in die höhere Bildung hinein. Nur
wenn wir wissen, was die Streitkräfte tun, nur wenn wir
wissen, wie sie aufgestellt sind, wie ihre Verfassungs-
wirklichkeit und ihre Arbeitswirklichkeit funktionieren,
nur dann werden wir auf die Dauer von dieser Demokra-
tie getragene Streitkräfte haben – und das muss unser
größtes Ziel sein in diesem Deutschen Bundestag und
darüber hinaus.
Es ist also die Aufgabe der Soldatinnen und Soldaten,
es ist die Aufgabe einer aufgeklärten und kritischen Bil-
dung, und es ist die Aufgabe dieses Hauses, darüber zu
sprechen und auch darüber zu streiten, warum wir Streit-
kräfte haben und wofür wir sie einsetzen. Ja, wir haben
bisher 250 000 Soldatinnen und Soldaten im Ausland
eingesetzt, weil die Weltlage dies erfordert. Aber das
heißt nicht automatisch, dass wir darauf stolz sein müs-
sen. Nach außen ist das Gesicht der Bundesrepublik eher
nichtmilitärisch geprägt. Es gibt immer eine Balance
zwischen unserem zivilen und unserem militärischen
Gesicht, getragen von den Werten unseres Grundgeset-
zes.
Das Amt des Wehrbeauftragten ist im Grundgesetz
verankert. Sie, Herr Wehrbeauftragter, erfüllen Ihre Auf-
gabe. Wir wünschen Ihnen, dass Sie die Streitkräfte wei-
terhin kritisch begleiten und dass Sie stets die nötige
Handbreit Wasser unter dem norddeutschen Kiel haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zum Jahresbericht 2007 des Wehr-
beauftragten. Das sind die Drucksachen 16/8200 und
16/10990. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-
Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Europäische Nachbarschaftspolitik zur Förde-
rung von Frieden und Stabilität im Südkauka-
sus nutzen
– Drucksachen 16/8186, 16/9712 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Löning, Michael Link , Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Freiheit und Demokratie im Südkaukasus –
Für freie und faire Wahlen 2008
– Drucksachen 16/7864, 16/9713 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle und insbesondere die Region, über die wir hier re-
den, haben bei dem Fünftagekrieg in den Abgrund ge-
blickt und erkannt: Das darf so nicht weitergehen. –
Nach diesen fünf Tagen ist es durch die Aktionen des
EU-Präsidenten gelungen – wie auch immer man Herrn
Sarkozy und seine spontanen Reaktionen und sein spon-
tanes Handeln bewerten mag –, einen Waffenstillstand
zu erreichen. Allein das macht schon deutlich, dass die
Europäische Union in dieser Region ein wichtiger Spie-
ler sein kann, wenn sie es denn will.
Daraus möchte ich den Schluss ziehen, dass die Europäi-
sche Union das, was sie bei der Kriseneindämmung ge-
zeigt hat, auch bei der Krisenlösung zeigen muss. Sie
muss mithelfen, dass der südliche Kaukasus zu einer an-
deren Region wird als die, die sie gegenwärtig ist. Man
muss weg vom sich gegenseitig aufwiegelnden Nationa-
lismus und hin zu einer inneren Kooperation kommen,
20828 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Gert Weisskirchen
damit das, was wir in diesem Fünftagekrieg gesehen ha-
ben, der Vergangenheit angehört.
Im südlichen Kaukasus stecken viele Potenziale.
Diese Region sollte nun zu ihrer eigentlichen Bestim-
mung zurückfinden, nämlich eine Region zu sein, in der
die Menschen zueinanderfinden und versuchen, nicht
nur die historischen Verbindungen, sondern auch die ge-
genwärtig bestehenden Verbindungen zu beleben. Ich er-
innere in diesem Zusammenhang an die Energielieferun-
gen, die von Baku in Aserbaidschan durch die südliche
Kaukasusregion über Rumänien in die Türkei gehen.
Dies ist sozusagen eine Klammer. Die Europäische
Union kann mithelfen, dass diese Klammer fester hält.
Wenn man über diese Situation nachdenkt, fallen ei-
nem sofort die folgenden Fragen ein: Warum geschieht
das nicht? Warum ist es nicht möglich, dass die in dieser
Region vorhandenen Potenziale von den Menschen dort
genutzt werden? An den positiven Ereignissen wie bei-
spielsweise der Rosenrevolution in Georgien hat man
gesehen, dass es in dieser Region durchaus demokrati-
sche Potenziale gibt. Aber bei keiner dieser Revolutio-
nen konnte man erkennen, dass es eine mögliche Ent-
gleisung geben könnte. Man muss einmal mit den
entscheidenden Personen sprechen. Als Beispiel nenne
ich nur – ich denke, dass man das kritisch und offen sa-
gen darf – Präsident Saakaschwili. Wenn man mit ihm
über bestimmte Vorgänge debattiert, stellt man fest, dass
er manche Realitäten einfach ausblendet, zum Beispiel –
der Wunsch danach ist in der Region durchaus vorhan-
den – dass die Kooperation zwischen Georgien, Arme-
nien und Aserbaidschan Politiker braucht, die in der
Lage sind, eine Basis dafür zu schaffen.
Leider blendet er das aus. Wir müssen erkennen: Auch
gewählte Präsidenten können in ein Fahrwasser abrut-
schen, das am Ende sogar dem eigenen Lande schaden
könnte.
Wenn man sich die Potenziale Georgiens anschaut,
stellt man fest, dass Georgien ein Land mit einer guten
Substanz an Kultur und Offenheit gegenüber anderen ist.
Wenn diese Substanz richtig genutzt würde, könnte bei-
spielsweise das, was wir mit Blick auf Aserbaidschan,
Georgien und Armenien an Gefahren erkennen, im Fall
einer Kooperation so verwandelt werden, dass im südli-
chen Kaukasus fast so etwas wie eine Boomregion ent-
steht.
Das wäre eine Zukunftsvision für diese Region.
Aber ich darf hinzufügen: Es gibt in der politischen
Klasse Georgiens durchaus auch vernünftige, rationale
Politiker. Seit vielen Wochen kommen einige etwas näher
zu uns, als das vorher der Fall war. Nino Burjanadze bei-
spielsweise, die wir seit vielen Jahren kennen, etwa aus
der OSZE-Parlamentarierversammlung oder auch aus an-
deren Zusammenhängen – der Kollege Lamers freut sich;
er kennt sie sicherlich auch –,
ist eine sehr kluge Frau. An solchen Politikern bzw. Poli-
tikerinnen erkennt man, wo die Lösung des Problems
liegt, nämlich darin, dass man auch gegenüber dem gro-
ßen, schwierigen, manchmal aggressiven – wie wir bei
dem Fünftagekrieg gesehen haben – Partner oder Gegner
im Norden, nämlich Russland, versuchen muss, ein
neues, kooperatives Verhalten aufzubauen. Ich glaube,
dass das einer der Schlüssel ist, die in die Hand genom-
men werden müssen, um aus dieser Krise herauszukom-
men.
Dabei bleibt unabdingbar klar: Die Annexion, wenn
man es so nennen will, die dort stattgefunden hat – Süd-
ossetien und Abchasien –, kann und darf von uns nicht
prämiert werden. Das ist aus unserer Sicht ein – man
darf es wohl zu Recht so nennen – völkerrechtswidriges
Verhalten.
Aber wir sollten auch ehrlich uns selbst gegenüber
sein, zumal zu so später Stunde außer uns niemand mehr
da ist.
– Ich meine, außer uns, die wir an dieser Debatte teilneh-
men. – Wir müssen vermeiden, bei solchen Konflikten
mit einem Doppelstandard zu operieren. Ich darf das
ganz offen und kritisch fürs Protokoll sagen; diejenigen,
die im Ausschuss sind, haben das schon mitbekommen.
Wenn wir über die Entwicklung im Kosovo noch einmal
neu nachgedacht hätten, hätten wir es vielleicht vermei-
den können, Russland die Chance zu geben, sich, wenn
auch – das will ich hier noch einmal deutlich betonen –
mit dem falschen Argument und am falschen Platz,
strukturell oder jedenfalls formal auf Kosovo zurückzu-
ziehen. Mit welchem Argument ist das gegenüber Russ-
land anders zu bewerten, wenn dieser Vorwurf geäußert
wird?
Ich glaube – das will ich damit sagen –, dass gerade
wir als Europäische Union künftig vor all diesen Kon-
flikten – man nennt sie Frozen Conflicts; wie wir sehen,
sind sie nicht frozen, sondern lodernd, gefährlich, und
sie können jederzeit ausbrechen – dafür sorgen und mit-
helfen müssen, dass jene Frozen Conflicts, die in Wahr-
heit lodernde, gefährliche Konflikte sind, eben nicht aus-
brechen.
– Kollege Stinner, ich darf den Gedanken noch zu Ende
führen.
Gerade in diesem Zusammenhang möchte ich darauf
verweisen, dass ich es gut finde – wenn der Hinterge-
danke in Moskau vielleicht auch ein anderer ist –, dass
es Anfang November zumindest eine gemeinsame Erklä-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20829
(C)
(D)
Gert Weisskirchen
rung zwischen Moskau, Baku und Eriwan gegeben hat,
um vielleicht einen anderen Weg zur Lösung des Berg-
Karabach-Konflikts zu gehen. Ich glaube, hier ergibt
sich vielleicht eine neue Chance. Das kann aber nur ge-
hen, wenn alle Beteiligten in dieser Region damit aufhö-
ren, Nationalismus zu propagieren und den anderen als
einen Feind zu bezeichnen. Wenn das nämlich geschieht,
dann wird der südliche Kaukasus niemals den Weg zu ei-
ner Zone des Friedens und der wirklichen Kooperation
finden können.
Kollege Weisskirchen, gestatten Sie keine Zwischen-
frage, sondern eine Nachfrage des Kollegen Stinner, weil
Ihre Redezeit ja schon vorüber ist?
Aber gerne. Ich versuche, sie knapp zu beantworten.
Vielen Dank, lieber Herr Weisskirchen. – Sehr geehr-
ter Herr Präsident! Lieber Herr Weisskirchen, Sie haben
für mich kryptisch gesprochen. Deshalb frage ich Sie
ganz konkret: War nach Ihrer Einschätzung des Kosovo
der Ahtisaari-Prozess falsch, war der Troika-Prozess
falsch, und was hätten wir im Lichte der Erfahrung, die
wir jetzt mit Georgien gemacht haben, im Kosovo an-
ders machen sollen?
Das möchte ich Ihnen gerne beantworten. – Das war
gar nicht kryptisch. Wenn Sie zu dem entsprechenden
Zeitpunkt im Ausschuss gewesen wären, dann wüssten
Sie – der Kollege Hoyer weiß das –, was ich gesagt
habe, auch zu Dan Fried, mit dem ich an diesem Punkt
eine offene und harte Kontroverse ausgetragen habe.
Warum haben wir nicht die Chance genutzt, die
Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats wenigstens
noch etwas länger als präsent wirken zu lassen? Warum
kann man nicht mehr auf Zeit spielen und Zeit gewin-
nen, wenn es darauf ankommt, um dadurch vielleicht
dazu beizutragen, Konflikte nicht explodieren zu lassen?
Lieber Herr Stinner, ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin
dafür, lieber Zeit zu gewinnen und damit die Probleme
möglicherweise nicht wirklich zu lösen; das gebe ich ja
zu.
Ist denn das Problem Kosovo gelöst? Schauen Sie
sich doch einmal an, wie im Kosovo gegenwärtig gegen
EULEX demonstriert wird.
– Liebe Kollegin Beck, ich halte es geradezu für absurd,
dass man sich innerhalb des Kosovo gegen die Friedens-
bemühungen auflehnt, die die Europäische Union in der
Region unternimmt.
Lieber Kollege Stinner, das soll ja nur heißen: Man
kann sich manchmal auch überlegen, unvollkommene
Prozesse etwas länger laufen zu lassen, wenn damit ver-
mieden wird, dass man von Russland an diesem Punkt
möglicherweise kritisiert werden kann. Ich glaube nicht,
dass Russland in diesem Punkt recht hat; das habe ich
auch gesagt. Leider gibt es aber in Russland solche
Kräfte, die das tun. Ich halte das für falsch und hoffe,
dass wir aus solchen Konflikten für künftige Entschei-
dungen besser lernen können.
– Bitte schön.
Der Kollege Michael Link von der FDP-Fraktion hat
seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Damit erteile ich Kollegen Hakki Keskin, Fraktion
Die Linke, das Wort.
Danke. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Leider debattieren wir erst zu dieser späteren
Stunde das Thema Frieden im Südkaukasus, dem wir in
den letzten Jahren nicht genügend Aufmerksamkeit ge-
schenkt haben.
Der Krieg zwischen Georgien und Russland hat uns
sicherlich alle tief geschockt. Die kriegerische Eskala-
tion hatte sich allerdings schon seit Längerem angekün-
digt. Die Bundesregierung hätte als Koordinatorin der
Freundschaftsgruppe des UN-Generalsekretärs nicht erst
fünf Minuten vor zwölf aktiv werden dürfen, sondern
bereits in den zurückliegenden Jahren mehr zu den Ver-
mittlungsbemühungen von UNO und OSZE beitragen
müssen.
Nachdem die Waffen nun hoffentlich für immer
schweigen, müssen wir uns damit auseinandersetzen,
wie die Konflikte im Südkaukasus friedlich beigelegt
werden können. Ich teile die Einschätzung meines Kol-
legen Weisskirchen: Die Anerkennung der Unabhängig-
keit der abtrünnigen Provinzen ist völkerrechtswidrig.
Dennoch müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass
sich Südossetien und Abchasien spätestens seit der An-
erkennung der Unabhängigkeit durch Russland im Zu-
stand einer De-facto-Unabhängigkeit befinden.
Meiner Meinung nach hat die vor allem von der US-
Regierung betriebene Politik der Einkreisung Russlands
die Region destabilisiert und zur Eskalation beigetragen.
Diese Politik muss schnellstens beendet werden.
Die Alternativen lauten: radikale Abrüstungsschritte auf
allen Seiten, der Verzicht auf die Aufnahme Georgiens
in die NATO und der Aufbau eines neuen regionalen Si-
cherheitssystems, auch unter Einbeziehung Russlands.
1) Anlage 11
20830 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Hakki Keskin
Die Friedensinitiativen im weiter schwelenden Kon-
flikt in Berg-Karabach müssen intensiviert werden. Der
Konflikt zwischen den beiden Kulturnationen Armenien
und Aserbaidschan dauert nun schon 20 Jahre an. Die
Linke schlägt in ihrem Antrag daher die Möglichkeit
einer weitreichenden Autonomie für Berg-Karabach in-
nerhalb der territorialen Integrität Aserbaidschans vor.
Insbesondere die besetzten Gebiete außerhalb Berg-Ka-
rabachs sollten schnellstmöglich an Aserbaidschan zu-
rückgegeben werden.
Der Großteil der Flüchtlinge stammt aus diesen Ge-
bieten. Ihre Rückkehr würde eine Situation schaffen, in
der die endgültige Statusfrage Berg-Karabachs in Frie-
den und auf demokratische Weise entschieden werden
kann. Die Situation der Flüchtlinge übt einen sehr gro-
ßen sozialen und innenpolitischen Druck auf Aserbai-
dschan aus. Ebenso wird sich die schwierige wirtschaftli-
che Lage Armeniens ohne eine friedliche Konfliktlösung
nicht wesentlich verbessern.
Die EU-Nachbarschaftspolitik muss einen stärkeren
Beitrag für Frieden und nachhaltige Entwicklung leisten.
Diese Politik ist stärker an sozialen Kriterien auszurich-
ten: an Armutsbekämpfung, an der Förderung von Bil-
dung, Gesundheit und Ökologie sowie an der Entwick-
lung der Wirtschaft in der Region.
Ich komme zum Schluss: Die Fraktion Die Linke ruft
die Bundesregierung auf, in ihrer Außenpolitik eine ak-
tive friedliche Konfliktlösungsstrategie zu verfolgen.
Dies wäre ein geeigneter Beitrag zur Förderung von
Frieden und Stabilität im Südkaukasus.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der Kollege Manfred Grund, CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Wir debattieren zwei Anträge von der FDP und von
der Linksfraktion nicht nur zu einer späten Tageszeit,
sondern auch zu einem Zeitpunkt im Jahr, zu dem die In-
tention beider Anträge durch Zeitablauf fast überholt ist.
In dem Antrag der FDP geht es um freie faire Wahlen im
Jahre 2008, und die Linksfraktion nimmt die europäi-
sche Nachbarschaftspolitik zum Anlass, um Stabilität
und Frieden in der Region anzumahnen. Beides ist durch
Ereignisse in der Region, aber auch durch Zeitablauf ein
wenig überholt.
Anfang des Jahres fanden in Armenien Präsident-
schaftswahlen statt, die weitestgehend frei abgelaufen
sind. Trotzdem hat es dort im Anschluss an diese Wahlen
Ausschreitungen mit mehreren Toten und innenpoliti-
sche Instabilitäten gegeben. Auch in Aserbaidschan fan-
den Präsidentschaftswahlen statt, die allerdings nicht
den Kriterien der OSZE bzw. von ODIHR genügten; ins-
besondere deshalb, weil es überhaupt keine Alternative
zum Präsidenten Alijew gab, war eine freie Wahl nicht
möglich. Bei den Parlamentswahlen in Georgien am
5. Januar dieses Jahres und den Präsidentschaftswahlen
im Mai konnten OSZE und ODIHR Fortschritte im Ver-
gleich zu den anderen Wahlen feststellen. Trotzdem hat
es aufgrund massiver Kritik und von Fälschungsvorwür-
fen der Opposition, aufgrund der vorausgegangenen Re-
pressalien – Verbot des einzigen oppositionellen Fern-
sehsenders – und der Unruhen im Herbst 2007 und
aufgrund eines möglicherweise erfolgten Stimmen- und
Wählerkaufs, was für uns OSZE-Beobachter nicht im-
mer zu verifizieren war, auch dort Probleme gegeben.
Insofern sind alle drei Regierungen, alle drei Länder in
dieser Region politisch als eher instabil zu bezeichnen.
Wir stehen vor einer Situation, die sich in den nächsten
Monaten und Jahren wahrscheinlich in negativer Weise
weiterentwickeln wird.
Beim Antrag der Linken geht es eigentlich gar nicht
um die europäische Nachbarschaftspolitik, wie sie ange-
legt ist, sondern um deren Neuausrichtung, eine Umjus-
tierung. Der Ansatz der Linken lautet: Durch die neoli-
berale Politik, die in dieser Region gemacht worden ist,
und durch eine drohende Militarisierung der Region
auch seitens Europas entstehen Konflikte, die nur zu lö-
sen sind, wenn man, wie es Kollege Keskin ausgeführt
hat, die sozialen Spannungen abbaut und eine andere
Wirtschaftspolitik einführt.
Dies kann nicht Intention unserer Nachbarschaftspolitik
sein und gehört auch nicht zu unseren Möglichkeiten. In-
soweit können wir auch diesem Antrag überhaupt nicht
folgen.
Viele Ansätze im Antrag der FDP sind inhaltlich
durchaus richtig. Aber ich bedauere es – das sagte ich
auch schon in meiner ersten Rede zu diesem Antrag –,
dass zu sehr pauschalisiert und gleichgesetzt wird; kleine,
durchaus vorhandene Fortschritte werden zu wenig gese-
hen. Noch einmal zurück zu Georgien: Bei allen Frage-
zeichen, die an den Wahlen in Georgien anzubringen
sind, stellten die Parlaments- und Präsidentschaftswah-
len einen Fortschritt gegenüber dem dar, was es in Geor-
gien vorher gegeben hatte. Dies sollte man durchaus an-
erkennen; dies gilt auch für andere Bereiche wie etwa
den Menschenrechtsdialog. Hier wäre also etwas mehr
Differenzierung angebracht gewesen.
Wir behandeln diese beiden Anträge heute abschlie-
ßend. Vielleicht könnten wir zu Beginn des nächsten
Jahres mit einem neuen Antrag auf viel breiterer Basis
– nicht nur der Koalition, sondern möglicherweise auch
der anderen Fraktionen – das Thema Südkaukasus neu
debattieren. Dabei geht es nicht nur um den Krieg um
Südossetien und die Fakten, die danach geschaffen wur-
den. Vielmehr erkennen wir eine Annäherung zwischen
Russland und Aserbaidschan. Gazprom hat Aserbai-
dschan angeboten, die in diesem Lande geförderten En-
ergieträger aufzukaufen und auf dem Weltmarkt weiter-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20831
(C)
(D)
Manfred Grund
zuverkaufen und damit Aserbaidschan Zugänge zu
bisher nicht erreichten Märkten zu eröffnen. Armenien,
das keine Rohstoffe hat, spürt, dass dies möglicherweise
zu seinen Lasten geht, weil es sich in seiner Not an Russ-
land angelehnt hat und dieses fragile Gleichgewicht in
eine Unwucht hineingeraten könnte. Am Ende könnte es
in dieser Region zu Aufrüstung und Militarisierung
kommen. Schon heute gehen Teile des Erlöses aus Ener-
gieverkäufen in Aserbaidschan in Waffenkäufe und eine
Aufrüstung des Militärs. Von daher könnte uns hier dro-
hen, dass aus Frozen Conflicts heiße Konflikte werden,
wie wir es Anfang August in Georgien gesehen haben.
Die Kollegen Weisskirchen und Stinner haben noch
einmal die Frage aufgeworfen, ob nicht die Anerken-
nung des Kosovo durch etliche Länder der westlichen
Welt ein Präjudiz für eine Anerkennung von Südossetien
und Abchasien durch Russland war und ob man nicht
länger hätte zuwarten sollen. Vielleicht hätten wir noch
länger warten können; aber die Kosovaren machten, wie
ich vor Ort selbst erfahren habe, überhaupt nicht den An-
schein, noch länger warten zu wollen. Möglicherweise
wäre mit einer einseitigen, von westlichen Ländern nicht
unterstützten Unabhängigkeitserklärung ein Teil dessen,
was später in diesen Prozess hineinverhandelt worden ist
und was wir jetzt mit EULEX dort implementieren kön-
nen, gar nicht mehr möglich gewesen.
Ich glaube nicht, dass die Anerkennung des Kosovo
der eigentliche Sündenfall gewesen ist. Ich denke, der
Sündenfall war 1999/2000, als die Abtrennung des Ko-
sovo vom damaligen Serbien eingeleitet worden ist,
ohne mit Russland zu reden und vor allem gegen Russ-
land. Ich glaube, das war der eigentliche Fehler. Das ist
ein Fehler, der sich fortsetzt; wie bei einer Jacke, die
man falsch zuknöpft. Alles was danach kam, vergrößerte
das Elend und unsere Unzufriedenheit mit der ganzen
Angelegenheit.
Wir werden dem FDP-Antrag aufgrund seiner ver-
kürzten Intention leider nicht zustimmen können. Wir
bekommen aber Gelegenheit, darüber neu zu diskutie-
ren. Das sollten wir dringend tun, und zwar nicht nur
wegen Georgien, Aserbaidschan und Armenien, sondern
auch, weil der Nordkaukasus ein Hort der Instabilität
wird: Inguschetien, Nordossetien und Tschetschenien.
Das wird uns in den ersten Wochen des nächsten Jahres
wahrscheinlich viel stärker beschäftigen. Das muss zu-
sammen betrachtet werden. Wir müssen zusehen, dass
wir eine einheitliche Strategie hinbekommen. Wir müs-
sen mithelfen, ohne uns zu überheben. Wir müssen ver-
suchen, auf die Region einzuwirken, damit es zu einer
Abkühlung der Überhitzung und einer Normalisierung in
der Region kommt.
Ich hoffe und wünsche, dass wir in dieser Gemein-
samkeit im nächsten Jahr weiterarbeiten können.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Rainder Steenblock, Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
würde gerne mit einem Zitat beginnen:
Beide Seiten haben den politischen Willen, die Be-
ziehungen zu normalisieren.
Das ist kein Zitat, das uns aufgrund der diplomati-
schen Sprachgewohnheiten normalerweise vom Hocker
reißen würde. Da dieser Satz, „Beide Seiten haben den
politischen Willen, die Beziehungen zu normalisieren“,
vor wenigen Wochen in Istanbul vom türkischen Außen-
minister gesagt worden ist, nachdem er sich mit seinem
armenischen Kollegen getroffen hat, ist das eine der bes-
ten Nachrichten, die aus dieser Region in den letzten
Jahren gekommen sind.
Wir haben heute schon eine Debatte über den Sport
geführt. Das, was an Fußballdiplomatie zwischen Arme-
nien und der Türkei nach dem Fußballspiel stattgefunden
hat, ist aber wirklich bemerkenswert. Die Türkei hat sich
aus meiner Sicht in sehr positiver Weise als Regional-
macht in diesen Konflikt eingemischt. Die Türkei hat ge-
sagt: Im Konflikt zwischen Aserbaidschan – einem be-
freundeten Turkvolk – und Armenien – einem Volk, mit
dem die Türkei eine ganz schwierige Geschichte verbin-
det – wollen wir jetzt vorankommen, und wir Türken
übernehmen die Mitverantwortung für diesen Prozess.
Das ist etwas, was wir sehr deutlich unterstützen müs-
sen, weil das ein ganz wichtiger Schritt auf dem Weg zu
einer Lösung ist.
Auch die Einladung der beiden Staatschefs aus Arme-
nien und Aserbaidschan durch den russischen Präsiden-
ten – Gert Weisskirchen und Manfred Grund haben da-
rauf hingewiesen – sowie die gemeinsame Erklärung
und die Tatsache, dass dieses Thema auf dem OSZE-
Gipfel noch einmal angesprochen werden soll, sind Aus-
druck dieser positiven Entwicklung. Ich habe mich sehr
darüber gefreut, dass Medwedew aus dem Desaster in
Georgien – insbesondere für die russische Außenpolitik
war das ein Desaster – gelernt hat. Diese Regionalmacht
hat sich mit der völkerrechtswidrigen Anerkennung von
Südossetien und Abchasien regelrecht ins Aus manö-
vriert. Kein GUS-Staat, kein Land der Schanghai-Ko-
operation, niemand sonst hat diese Anerkennung vollzo-
gen. Die Russen haben sich mit der Anerkennung aus
der internationalen Gemeinschaft herauskatapultiert. Die
Reaktion von Medwedew zeigt mir, dass es Leute gibt,
die daraus gelernt haben und in die internationale Ko-
operation zurückwollen. Auch das sollten wir unterstüt-
20832 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Rainder Steenblock
zen. Wir können kein Interesse daran haben, Russland zu
isolieren.
Wir müssen vielmehr sehr klar sagen: Das war zwar
eine völkerrechtswidrige Anerkennung, aber wir brau-
chen einen veränderten Blick Russlands auf die Politik.
Natürlich werden die Russen nicht sofort sagen, dass das
falsch war; das können sie auch nicht tun. Wir sollten ei-
nen anderen Politikweg Russlands aber unterstützen.
Ein gutes Zeichen war, dass das armenische Parla-
ment, das aserbaidschanische Parlament und das georgi-
sche Parlament mit einer gemeinsamen Parlamentarier-
delegation Deutschland besucht und Gespräche geführt
haben. Auch das ist als ein sehr positiver Schritt zu wer-
ten.
Die europäische Nachbarschaftspolitik, die wir in al-
len drei Ländern zum gleichen Zeitpunkt gemeinsam mit
den Aktionsplänen implementiert haben, ist etwas völlig
anderes, Herr Keskin, als das, was Sie in Ihrem Antrag
beschrieben haben. Zu sagen, die europäische Nachbar-
schaftspolitik diene der Militarisierung und Aufrüstung
in diesen Ländern, ist völliger Quatsch.
Natürlich findet dort eine Militarisierung statt. Die
Aufrüstung Georgiens durch die Amerikaner ist aus mei-
ner Sicht falsch. Das, was die Aseris mit ihren Ölgeldern
tun, ist falsch. Dass die Russen aus Georgien ihre Solda-
ten nach Armenien geschickt haben und dort auch eine
Aufrüstung betreiben, ist auch falsch. In allen drei Län-
dern sind Fehler passiert.
Ich gebe Herrn Keskin recht in der Behauptung, dass
wir uns zu spät gekümmert haben. Das ist richtig. Es war
absehbar, dass dieser Konflikt nicht kalt bleibt, sondern
heiß läuft. Das war im vergangenen Jahr immer mehr der
Fall.
Die Verantwortung der Europäer ist jetzt deutlich ge-
worden. Die Nachbarschaftspolitik ist das Instrument,
mit dem wir das machen können. Wir sollten aber auf-
passen, dass das viele Geld, das wir mit Blick auf unsere
Nachbarschaftspolitik in diese Region investieren wol-
len, nicht ohne Konditionen investiert wird, dass wir
Kriterien setzen, dass wir dafür sorgen, dass nicht krimi-
nelle und korrupte Strukturen in diesen Ländern durch
unsere Gelder gestärkt werden, dass nicht Inflation ge-
stärkt wird, sondern dass Infrastruktur ausgebaut wird,
dass den Menschen mit unserem Geld geholfen wird.
Auch das gehört zu unserer Verantwortung, und dabei
müssen wir aufpassen. Das heißt, wir müssen in diese
Region fahren und schauen, was dort passiert, und mit
den Leuten reden.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Europäische Nachbarschaftspolitik zur
Förderung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus
nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/9712, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8186 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der vier Fraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der FDP mit
dem Titel „Freiheit und Demokratie im Südkaukasus –
Für freie und faire Wahlen 2008“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/9713, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksa-
che 16/7864 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der FDP bei Stimmenhaltung
der Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Verteidigungsausschusses als 1. Unter-
suchungsausschuss gemäß Artikel 45 a Abs. 2
des Grundgesetzes
zu dem auf Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD am 25. Oktober 2006 ge-
fassten Beschluss des Verteidigungsausschus-
ses, sich zum Misshandlungsvorwurf des ehe-
maligen Guantánamo-Häftlings Murat
Kurnaz gegenüber Angehörigen des Komman-
dos Spezialkräfte im US-Gefangenenlager
Kandahar, Afghanistan, als Untersuchungs-
ausschuss gemäß Artikel 45 a Abs. 2 des
Grundgesetzes zu konstituieren
– Drucksache 16/10650 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Siebert
Rainer Arnold
Elke Hoff
Paul Schäfer
Winfried Nachtwei
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20833
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Karl Lamers für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Oktober 2006 berichtete Murat Kurnaz in einem Inter-
view erstmals öffentlich über eine Misshandlung durch
zwei deutsche Soldaten des Kommandos der Spezial-
kräfte. Diese Tat, so Herr Kurnaz, hätte Anfang 2002 in
einem US-Gefangenenlager in Kandahar in Afghanistan
stattgefunden.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eine
Parlamentsarmee. Das führt auf der einen Seite zu einem
Informationsanspruch des Deutschen Bundestages. Auf
der anderen Seite hat das Parlament gerade aus diesem
Grund jedoch auch eine besondere Verantwortung ge-
genüber den Streitkräften.
Als Abgeordnete war es daher unsere Pflicht, uns der
Vorwürfe gegen deutsche Soldaten anzunehmen. „Un-
sere Pflichten, das sind die Rechte anderer auf uns“, sagt
Friedrich Nietzsche.
Der Verteidigungsausschuss war daher gehalten, den
Misshandlungsvorwürfen nachzugehen. Er hat sich des-
halb als Untersuchungsausschuss konstituiert. Worum
geht es dabei? Aufgabe und Befugnis eines Parlamenta-
rischen Untersuchungsausschusses ist es nicht, ein straf-
rechtliches Verfahren einzuleiten. Das ist Aufgabe der
Staatsanwaltschaft. Unsere Aufgabe bestand vielmehr in
der politischen Aufarbeitung und Bewertung der Ge-
schehnisse.
Jetzt, nach Abschluss der Untersuchungen, haben das
KSK und alle anderen Truppenteile der Bundeswehr ei-
nen Anspruch auf die Mitteilung des Ergebnisses an die
Öffentlichkeit. Wir dürfen schließlich nicht vergessen,
dass auch die Anschuldigungen öffentlich erhoben wur-
den. Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, bin
ich sehr froh darüber, dass ich Ihnen als Vorsitzender des
Untersuchungsausschusses heute gemeinsam mit meinen
Kolleginnen und Kollegen den Abschlussbericht vorstel-
len kann. Dieser Bericht ist in seiner Gesamtheit der Öf-
fentlichkeit zugänglich.
Der Untersuchungsausschuss „Murat Kurnaz“ hat
insgesamt 22 Monate, vom 8. November 2006 bis zum
18. September 2008, am Untersuchungsauftrag gearbei-
tet. Wir haben 24-mal getagt, 17 Beweisaufnahmen fan-
den statt, insgesamt wurden 49 Zeugen befragt und ge-
hört. Allein die Befragungen dauerten circa 74 Stunden.
Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses haben
45 Aktenordner mit rund 23 000 Seiten Beweismaterial
durchgearbeitet, das als „geheim“ eingestuft war. Hinzu
kamen weitere 40 Aktenordner mit circa 20 400 Blatt
nicht geheimen Materials.
Unabhängig von diesen statistischen Fakten stellt der
Bericht jedoch in anderer Hinsicht eine Besonderheit
dar. Im Gegensatz zu allen bisherigen Untersuchungs-
ausschüssen vergangener Legislaturperioden erfolgte
erstmals die gesamte Beweisaufnahme in nichtöffentli-
cher Sitzung. Die Vernehmung von Zeugen fand aus-
nahmslos nichtöffentlich statt und war darüber hinaus
vielfach als „Geheim“ eingestuft. Ich freue mich, dass es
uns dennoch gelungen ist, den ganzen Schlussbericht der
Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Ich be-
danke mich bei allen, die dies möglich gemacht haben.
Dies alles diente dazu, zwei Aufgaben zu erfüllen.
Zum Ersten ging es um die Vorwürfe der Misshandlung
Murat Kurnaź durch deutsche KSK-Soldaten im Gefan-
genenlager in Kandahar im Jahre 2002. Zum Zweiten
ging es darum, den Einsatz des KSK in Afghanistan im
Ganzen zu untersuchen.
Zu welchen Ergebnissen sind wir gelangt? Die Mehr-
heit des Ausschusses hat festgestellt, dass der von Murat
Kurnaz behauptete Tathergang nicht bewiesen werden
konnte. Ebenso wenig wurde aber auch der Nachweis für
das Gegenteil geführt. Fest steht, dass letztlich der Be-
weis für eine Misshandlung von Murat Kurnaz nicht er-
bracht werden konnte.
An dieser Stelle möchte ich ergänzen, dass die Staats-
anwaltschaft das Verfahren im Mai dieses Jahres endgül-
tig eingestellt hat, da keine ausreichenden Beweise vor-
lagen.
Bezüglich des zweiten Teils des Untersuchungsauftra-
ges ist die Mehrheit des Ausschusses der Ansicht, dass
die Entsendung des KSK nach Afghanistan die politisch
richtige Entscheidung war. Der Einsatz dieses Truppen-
teils war erfolgreich, und er war – das möchte ich beson-
ders betonen – völkerrechtskonform.
Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat eines
deutlich gemacht. Es gibt ein Spannungsfeld: hier das
Recht auf Schutz durch Geheimhaltung, dort das Recht
auf Information. Zur Lösung dieser Problematik liegt Ih-
nen heute ein Entschließungsantrag der Koalitionsfrak-
tionen vor.
Absolut unstrittig war während des gesamten Untersu-
chungszeitraumes, dass es zwei unantastbare Kernberei-
che gibt, für die absolute Geheimhaltung bestehen muss:
erstens den Identitätsschutz der KSK-Soldaten und zwei-
tens laufende militärische Operationen des KSK, die
nicht gefährdet werden dürfen.
Andererseits: Die Bundeswehr als Parlamentsarmee
begründet einen Informationsanspruch des Deutschen
Bundestages. Mehr Transparenz und Akzeptanz nutzen
sowohl dem Parlament als auch den Soldaten.
Der vorliegende Entschließungsantrag der Koalitions-
fraktionen schafft eine institutionalisierte Unterrichtung,
aufbauend auf der bisherigen Praxis, berücksichtigt aber
gleichzeitig die schutzwürdigen Interessen unserer Sol-
daten.
20834 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Karl A. Lamers
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Oppositions-
fraktionen haben vielfach und mit Nachdruck ihre Min-
derheitenrechte geltend gemacht; das ist ganz in Ord-
nung. Der Ausschuss ist aber zu keinem Zeitpunkt,
weder von der Mehrheit der Koalitionsfraktionen noch
von der qualifizierten Oppositionsminderheit, als politi-
sches Kampfinstrument missbraucht worden. Dieser Un-
tersuchungsausschuss ist deshalb wohl auch einer der
wenigen Untersuchungsausschüsse, dessen Arbeit nicht
durch eine gerichtliche Streitigkeit belastet wurde.
Die Berichterstatter des Ausschusses waren stets um
eine sachorientierte und konstruktive Arbeit bemüht.
Dies spiegelte sich auch in den Ausschusssitzungen und
den Zeugenvernehmungen wider. Meine Arbeit als Vor-
sitzender wurde hierdurch wesentlich erleichtert. Für
ihre engagierte, sachliche und stets am Ziel orientierte
Arbeit möchte ich an dieser Stelle allen Kolleginnen und
Kollegen ein herzliches Dankeschön aussprechen.
Ganz besonders herzlich möchte ich den Damen und
Herren des Sekretariats des Untersuchungsausschusses
danken, allen voran Herrn Hilgers und Herrn Meyer
sowie Frau Dr. Hasenjäger, der Leiterin des Sekretariats
des Verteidigungsausschusses. Ich bedanke mich auch
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktio-
nen, die zum Gelingen dieses Ausschusses entscheidend
beigetragen haben.
Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem Bun-
desministerium der Verteidigung, das unseren Untersu-
chungsausschuss und seine Arbeit sehr unterstützt hat
und sehr kooperativ war; das Gleiche gilt auch für das
Bundeskanzleramt.
Zum Schluss möchte ich allen Soldatinnen und Solda-
ten der deutschen Bundeswehr danken, die sich in den
Dienst unserer Sicherheit stellen und so einen wichtigen
Beitrag leisten, Frieden und Freiheit zu schützen und zu
erhalten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Als Berichterstatterin der FDP-Frak-
tion möchte ich die Gelegenheit nutzen, dir, lieber Karl
Lamers, sehr herzlich für den Vorsitz und für die kon-
struktive und sehr zielorientierte Leitung des Ausschus-
ses zu danken.
Ich denke, es ist deutlich geworden, dass es das Parla-
ment unter Ihrem Vorsitz letztendlich weitestgehend ge-
schafft hat, sich gegen zahlreiche Versuche, die Arbeit
zu erschweren – auch vonseiten der Bundesregierung –,
durchzusetzen.
Wir beraten heute nach über zwei Jahren Arbeit zu
nachtschlafender Zeit den Abschlussbericht des Untersu-
chungsausschusses im Verteidigungsausschuss, der sich
mit den Misshandlungsvorwürfen des ehemaligen Gu-
antánamo-Häftlings Murat Kurnaz gegenüber den Ange-
hörigen des Kommandos Spezialkräfte im US-Gefange-
nenlager Kandahar im Jahre 2002 befasst hat.
Die FDP bedauert heute ausdrücklich, dass der Aus-
schuss die Anschuldigungen gegenüber den KSK-Ange-
hörigen weder zweifelsfrei bestätigen noch umfassend
entkräften konnte. Obwohl die Fraktionen der Großen
Koalition die Einsetzung des Untersuchungsausschusses
beantragt hatten, war bei der jetzigen Bundesregierung
nicht immer der Wille zur aktiven Aufklärung zu erken-
nen.
So wurden seitens der Bundesregierung immer wieder
Informationen zurückgehalten und erst auf massiven
Druck des Parlaments zur Verfügung gestellt, oder sie
galten sogar für einen gewissen Zeitraum als zerstört.
Die geringe Achtung vor der engagierten Arbeit des
Ausschusses und des Parlamentes drückt sich leider auch
in der Terminierung der heutigen Plenardebatte aus.
Sie findet heute zum Abschluss des Plenums faktisch un-
ter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Trotz dieser Defizite konnte der Untersuchungsaus-
schuss aber belegen, dass die rot-grüne Bundesregierung
im Wahljahr 2002 zwar auf der einen Seite Deutschland
medienwirksam als werteorientierte Friedensmacht prä-
sentierte, auf der anderen Seite aber tatsächlich eng in
die Informationsstränge der US-Administration einge-
bunden war und sich operativ an der Durchsetzung des
amerikanischen Sonderweges bei der Behandlung von
Gefangenen in Kandahar beteiligt hat. Diese Beteiligung
entsprach in keiner Weise den rechtsstaatlichen Stan-
dards der Bundesrepublik Deutschland. Es kann daher
nur als Heuchelei bezeichnet werden, wenn der damalige
Außenminister Fischer öffentlich darauf hinwies, dass
die inhaftierten Beschuldigten in Guantánamo unabhän-
gig von einer späteren Statusdefinition wie Kriegsgefan-
gene zu behandeln seien, während die damalige Bundes-
regierung zur gleichen Zeit Gefangene in Kandahar
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20835
(C)
(D)
Elke Hoff
bewachen ließ und tatenlos zusah, wenn diese nach Gu-
antánamo transportiert wurden.
Bereits im Januar 2002 hatte die damalige rot-grüne
Bundesregierung Kenntnis vom Beginn der Verlegung
gefangener Personen nach Guantánamo. Die Funktion
des Gefangenenlagers Kandahar als Durchgangsstation
auf dem Weg nach Guantánamo war also von Beginn der
Operation an bekannt. Das KSK wirkte damals im Rah-
men seines Auftrages an Operationen der OEF-Kräfte
mit, bei denen Gefangene gemacht wurden, die anschlie-
ßend über Kandahar nach Guantánamo gebracht wurden.
Bezeichnend für diese Doppelbödigkeit ist auch, dass
die rot-grüne Bundesregierung einen erheblichen Auf-
wand betrieben hat, um die offenkundigen Meinungsver-
schiedenheiten innerhalb der damaligen Bundesregie-
rung hinsichtlich der Zulässigkeit dieser militärischen
Beiträge zu verheimlichen.
So wurden Fragen von Abgeordneten und des damaligen
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages systema-
tisch nicht beantwortet bzw. ihre Beantwortung über den
Termin der anstehenden Bundestagswahl 2002 hinaus
verzögert. Unter keinen Umständen sollte publik wer-
den, dass es innerhalb der damaligen Bundesregierung
auch die Auffassung gab, dass die geleistete Unterstüt-
zung für die USA in Kandahar eine deutsche Mitverant-
wortung für Menschenrechtsverletzungen begründen
könnte.
Auch sollte verschwiegen werden, dass die damalige
Bundesregierung den Soldaten klare rechtliche Grundla-
gen und Regeln für ihren Einsatz verweigerte. Schon vor
der Verlegung des Kontingentes machte die KSK-Füh-
rung darauf aufmerksam, dass Weisungen, die lediglich
auf die Regeln des humanitären Völkerrechts verweisen,
als Handlungsgrundlage für den konkreten und schwieri-
gen Einsatz in Afghanistan nicht ausreichend seien. Es
wurden vonseiten des KSK immer wieder eindeutige Re-
gelungen gefordert, die die Kommandosoldaten nicht
der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzten.
Die Bundesverteidigungsminister Scharping und Struck
haben es seinerzeit klar versäumt, innerhalb der Bundes-
regierung auf eine rechtlich eindeutige Positionierung
hinzuwirken.
Dieser unhaltbare Zustand besteht nach unserer Auffas-
sung heute nach wie vor fort.
Auch die zurzeit gültigen Regelungen für Gefangen-
nahmen waren und sind nicht praktikabel. Trotz Anerken-
nung der anfänglichen Schwierigkeiten bei der Schaffung
einer praktikablen Rechtsgrundlage kann es nicht sein,
dass auch nach sieben Jahren des Einsatzes der Bundes-
wehr in Afghanistan immer noch keine handhabbaren Re-
gelungen für die Soldatinnen und Soldaten vorliegen. Die
im April 2007 erteilte Anordnung löst die Probleme nicht,
weil nicht sichergestellt ist, dass die Festgenommenen
nach ihrer Übergabe an die afghanische Justiz rechts-
staatskonform behandelt werden.
Für die Fraktion der FDP steht außer Zweifel, dass
endlich und in vollem Umfang die Möglichkeit der par-
lamentarischen Kontrolle des KSK realisiert werden
muss.
Diesem Anspruch werden weder der Entschließungsan-
trag der Koalitionsfraktionen noch der der Grünen ge-
recht. Wir fordern bereits seit 2002 die Einrichtung eines
Ausschusses für besondere Auslandseinsätze.
Dieser Lösungsansatz ist auch in wissenschaftlichen Pu-
blikationen vielfach unterstützt worden. Selbst der Ge-
neralsekretär der CDU, Pofalla, stellte bereits 2004 fest:
Der FDP-Entwurf sieht richtigerweise einen „Aus-
schuss für besondere Auslandseinsätze“ vor …
Daher möchte ich heute das Parlament und die Bun-
desregierung dazu auffordern – das entspricht dem we-
sentlichen Ergebnis des Untersuchungsausschusses –,
unserem bereits vorliegenden Antrag endlich zu folgen
und ihn auch zügig umzusetzen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kollege Rainer Arnold, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Traditionell ist ein Untersuchungsausschuss ein Instru-
ment der Opposition. Nachdem man die Kollegin Hoff
reden gehört hat, weiß man auch, warum. Sie hat über
Dinge gesprochen, die eigentlich gar nicht im Zentrum
des Auftrags des Untersuchungsausschusses waren, also
über Dinge, die sie gerne hineininterpretiert.
Ich denke, es war richtig, dass wir die Einsetzung die-
ses Ausschusses beantragt haben, weil wir so sichtbar
gemacht haben, Frau Hoff, dass es bei uns – wenn Sie
ehrlich mit uns diskutieren, müssen Sie das auch einräu-
men – durchaus ein hohes gemeinsames Interesse gab,
die Vorwürfe des Herrn Kurnaz gegenüber dem KSK se-
riös aufzuklären, und ein hohes Interesse, ein bisschen
mehr in dieses erste Kontingent der KSK-Soldaten hi-
neinzuleuchten, mit dessen Einsatz die Bundesrepublik
noch keine Erfahrungen hatte. Das war nun einmal das
erste Mal. Weil das KSK schon ein Stück weit das Aus-
hängeschild der Bundeswehr ist und die Öffentlichkeit
ganz besonders darauf achtet, wäre es auch falsch gewe-
20836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Rainer Arnold
sen, die Vorwürfe von Herrn Kurnaz einfach so im Raum
stehen zu lassen, ohne den Versuch zu unternehmen, sie
aufzuklären.
Wir reden jetzt über das Ergebnis. Es wurde schon ge-
sagt: Die Vorwürfe, die Herr Kurnaz erhoben hat, konn-
ten nicht aufgeklärt werden. Mein Empfinden war im-
mer: Herr Kurnaz ist glaubwürdig. Es gab keinen Grund
für die Feststellung, dass dort getrickst wird. Ich hatte
aber auch das Gefühl: Die KSK-Soldaten, die wir ange-
hört haben, sind ebenso glaubwürdig. Es war also defini-
tiv nicht aufzuklären, und dann gilt das alte Rechtsprin-
zip: Im Zweifel für den Beschuldigten.
Frau Hoff, weiterhin haben Sie den Umgang mit den
Gefangenen angesprochen. Liebe Kollegin, wir machen
es uns einfach, wenn wir den Einsatz wenige Wochen
oder Monate nach den Anschlägen in New York – ohne
Erfahrung, alles zum ersten Mal, ohne viel
Informationen – mit dem Wissen aus dem Jahr 2007 be-
urteilen. Das ist nicht fair.
Wir müssen ihn mit dem Kenntnisstand von damals be-
leuchten. Vor diesem Hintergrund trifft der Vorwurf, den
Sie erhoben haben, die Deutschen hätten zum damaligen
Zeitpunkt alles gewusst und hätten mitgeholfen, nicht
zu. Zur Jahreswende 2001/2002 hat niemand von uns
über ein Straflager auf Kuba Bescheid gewusst oder gar
darüber gesprochen.
All diese Dinge sind erst in der Folgezeit auf den Tisch
gekommen.
Sie sagen, es sei heute immer noch nicht geregelt, wie
KSK-Soldaten oder die Bundeswehr in Afghanistan mit
Gefangenen umgehen sollen. Ja, vielleicht müssen wir
akzeptieren, dass für den Einsatz in einem Land, das
nicht nach den rechtsstaatlichen Prinzipien der Schweiz
oder Deutschlands arbeitet, nicht alles bis ins letzte De-
tail rechtlich vorgeklärt werden kann und dass es Situa-
tionen gibt, in denen möglicherweise Entscheidungen
getroffen werden müssen. Wenn wir die Erwartung ha-
ben: „Dies kann man eins zu eins von Deutschland auf
Afghanistan übertragen“, dann werden wir noch viel Ge-
duld brauchen. Es wird dauern, bis es in Afghanistan
eine Justiz gibt, der wir Gefangene einfach so übergeben
können. Das will im Augenblick niemand von uns. Des-
halb wird es immer auf den Einzelfall ankommen. Droht
dort jemandem die Todesstrafe, wird ein deutscher Sol-
dat ihn nicht ausliefern, und das finden wir gut.
Es mag möglicherweise andere Entscheidungen geben,
falls ein seriöses Strafverfahren in Afghanistan möglich
ist.
Wir haben allerdings in der Tat festgestellt, dass in
dem ersten KSK-Kontingent schon ein Stück weit etwas
aus dem Ruder gelaufen ist. Die Anschuldigungen, die
hier im Raum und in der Öffentlichkeit in Bezug auf Al-
koholkonsum, auch Alkoholmissbrauch, erhoben wur-
den, treffen leider zu. Es sind Verfehlungen Einzelner.
Es gibt hierfür keine kollektive Verantwortung des KSK.
Diesen Dingen musste man aber nachgehen. Ich füge
hinzu: Es wäre besser gewesen, wenn die militärische
Führung, die die Verantwortung für das KSK-Kontin-
gent getragen hat, diesen Vorgängen damals entschlosse-
ner und konsequenter nachgegangen wäre. Das ist eine
Erkenntnis, die wir aus dem Untersuchungsausschuss
mitnehmen.
Als Letztes nehme ich für mich aus dem Untersu-
chungsausschuss Folgendes mit: Wir haben damals, im
November/Dezember 2001 bzw. im Januar 2002, unter
den hochemotionalen Eindrücken der Anschläge in den
Vereinigten Staaten miteinander diskutiert und mögli-
cherweise gehandelt. Unter Umständen war dies einer
der Gründe dafür, dass der damalige Verteidigungsmi-
nister gesagt hat: Man weiß ja gar nicht, was auf einen
zukommt. Deshalb schickt er – einfach aus Vorsicht –
das Höchstwertige, das er bieten kann, in diesen Einsatz.
Unsere Erkenntnis muss sein: Sollte es zu solchen
traumatischen Ereignissen kommen, dann ist die Politik
sicherlich gut beraten, nicht zu emotional zu reagieren,
sondern in jeder Situation besonnen zu bleiben. Ich
glaube, das ist eine sehr wichtige Lehre, die wir aus die-
sem Ausschuss mitnehmen können.
Wenn wir die Versäumnisse, die wir beim KSK er-
kannt haben, allerdings aus heutiger Sicht betrachten,
dann können wir wirklich feststellen, dass die Regierung
die Probleme aufgenommen und in den Folgejahren
richtig gehandelt hat.
Die Schwachstellen bezüglich der Arbeitsabläufe wur-
den abgestellt. Es wurde ein spezifisches Stabselement
für Spezialoperationen beim Einsatzführungskom-
mando eingerichtet. Ich glaube auch, das, was Minister
Jung gemacht hat – den Einsatzführungsstab in Berlin
einzurichten und damit die politische Verantwortung und
die Verantwortung des Generalinspekteurs zu stärken –,
ist eine richtige Antwort auf unsere Erkenntnisse. Denn
eines ist klar: Gerade KSK-Soldaten müssen von politi-
scher Seite direkt kontrolliert werden. Das mögen andere
Länder anders handhaben, aber unserer militärischen
Kultur entspricht genau dieser Weg.
Damit ist klar: KSK-Soldaten sind zwar ein spezifi-
scher Teil der Truppe, aber sie sind Teil der Bundeswehr
und unterliegen der parlamentarischen Kontrolle. Ich
glaube, dies ist eine sehr wichtige Erkenntnis, die wir
daraus ziehen müssen.
Wir wissen auch – Kollege Karl Lamers hat es bereits
angesprochen; auch von unserer Seite übrigens noch-
mals schönen Dank für diese verantwortungsvolle und
nicht immer einfache Aufgabe, diesen Untersuchungs-
ausschuss zu leiten –,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20837
(C)
(D)
Rainer Arnold
dass wir in einem Spannungsfeld stehen: Zum einen
wollen wir die KSK-Soldaten, deren Operationen und
Familien schützen. Zum anderen erheben wir auch den
Anspruch, das Parlament und die Öffentlichkeit so zu in-
formieren, wie es unserer demokratischen Kultur ent-
spricht.
Meine Beobachtung während der Untersuchungsaus-
schusssitzungen war, dass eine überzogene Geheimhal-
tung, die es auch beim KSK gegeben hat,
möglicherweise nicht einmal im Interesse des KSK liegt,
sondern diesen Soldaten vielmehr schadet und zu My-
thenbildungen führen kann. Geheimhaltung führt im
Grunde genommen also nicht nur zu dem notwendigen
positiven Zusammengehörigkeitsgefühl der KSK-Solda-
ten, sondern verführt manche von ihnen auch zur Ab-
schottung, wenn die Geheimhaltung zu weit geht.
Deshalb haben wir, glaube ich, mit unserem Antrag
den richtigen Weg eingeschlagen.
Wir sagen eindeutig, Kollege Nachtwei, dass wir nicht
mehr auf den guten Willen der Minister angewiesen sein
wollen – Peter Struck und Minister Jung haben diesen
guten Willen immer gehabt und uns informiert –, son-
dern einen Anspruch erheben. Das heißt, neben dem be-
währten System der Obleuteinformation soll nach dem
neuen Prinzip auch der gesamte Verteidigungsausschuss
einen Anspruch darauf haben, nach Abschluss von KSK-
Operationen in sinnvollen und regelmäßigen Berichten
Einblick und Informationen zu erhalten. Das ist neu, und
wir halten es für richtig.
Alles in allem – damit komme ich zum Schluss –
glaube ich, dass wir, wenn wir unseren Kommandosol-
daten mit der entsprechenden Offenheit begegnen, trotz
einigen Versäumnissen überhaupt keinen Grund haben,
den Frauen und Männern, die in Calw ihren Dienst tun,
zu misstrauen. Wir haben vielmehr allen Grund, diesen
Soldaten, die gelegentlich eine herausragend schwierige
und gefährliche Arbeit in unserem parlamentarischen
Auftrag durchführen müssen, zunächst einmal großes
Vertrauen entgegenzubringen. Auf dieser Basis des gro-
ßen Vertrauens können wir dann in Calw und Berlin gute
Diskussionen über weitere Entwicklungen und Verände-
rungen führen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Paul Schäfer für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Uns, der Linken, ging es
nicht so sehr darum, das Fehlverhalten einzelner Solda-
ten zu untersuchen, sondern darum, ob sich staatliche
Stellen der Bundesrepublik jederzeit strikt an Recht und
Gesetz gehalten und an der Menschenwürde orientiert
haben oder ob man unter dem Vorzeichen des Kampfes
gegen den Terrorismus Abstriche davon gemacht und
dagegen verstoßen hat. Das hätte vom Untersuchungsge-
genstand her sicherlich auch in den anderen Untersu-
chungsausschuss, der noch tagt, gepasst. Das wäre auch
unser Wunsch gewesen, um zu vermeiden, dass man
strikt hinter verschlossenen Türen tagt, was bekanntlich
dazu führt, dass das Interesse der Öffentlichkeit schnell
erlahmt. Die Mehrheit hat das damals anders gesehen.
Ich sage aus heutiger Sicht: Die Einsetzung dieses
Untersuchungsausschusses war von Nutzen. Wir haben
durchaus Dinge zutage gefördert, die es wert sind – das
kann man der Öffentlichkeit nur anempfehlen –, sich da-
mit zu beschäftigen. Wir haben das sicherlich dank der
fairen Verhandlungsführung des Vorsitzenden des Unter-
suchungsausschusses, aber auch dank der Beharrlichkeit
der Abgeordneten der Fraktionen gegenüber der manch-
mal sperrigen Regierung erreicht.
Was ist zu den Ergebnissen zu sagen?
Erstens. Dass im Fall Murat Kurnaz versus KSK Aus-
sage gegen Aussage stehen würde, war von vornherein
klar. Also konnte es für uns nur darum gehen, die Glaub-
würdigkeit der Zeugen zu bewerten und Indizien dafür
zusammenzutragen, wessen Erzählung stimmt. Dass es
darüber eine unterschiedliche Bewertung geben würde,
war eigentlich auch klar. Wir sind jedenfalls zu dem
Schluss gekommen, dass nahezu alles dafür spricht, dass
die von Murat Kurnaz vorgetragenen Vorwürfe stichhal-
tig sind.
Zugleich hatten wir doch stark den Eindruck, dass sich
die andere Seite hinter Schutzbehauptungen verschanzt
hat. Das ist kein Strafprozessurteil; das ist klar. Der Vor-
sitzende hat gesagt, das ist eine Bewertung, die wir an-
hand der Untersuchungen vornehmen.
Zweitens. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass
sich die KSK-Soldaten im Frühjahr 2002 auf Dinge ein-
gelassen haben, auf die man sich als Bundeswehrsoldat
nicht einlassen darf. Der Vorwurf lautet: Man hat nichts
dagegen unternommen, dass die Behandlung der Gefan-
genen der US-Streitkräfte damals in Afghanistan den
Vorgaben des humanitären Völkerrechts widersprach,
und man war, wenn auch nur sehr kurz und vorüberge-
hend, sogar daran beteiligt. Dieser Vorwurf geht nicht
isoliert an die soldatische Adresse, sondern insbesondere
an die Adresse der Politik;
20838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Paul Schäfer
denn es geht hier darum, wie die Soldaten vorbereitet
wurden, wie sie von der politischen und militärischen
Führung begleitet wurden, wie dieser Vorgang parlamen-
tarisch kontrolliert wurde, und auch darum, ob man sie
überhaupt in einen solchen Einsatz schicken sollte.
Drittens. Dass es diese Verfehlungen gegeben hat, hat
nach meiner Überzeugung zentral mit dem sogenannten
Krieg gegen den Terror zu tun. Manches an den Erklä-
rungen erscheint sehr stimmig. Ja, es war der erste Ein-
satz dieser Art, und man war in großer Hektik. Aber
wenn Dinge aus dem Ruder gelaufen sind – der Kollege
Arnold hat es gesagt –, dann wird man um die Klärung
eines Punktes nicht umhinkönnen: Die damaligen Hand-
lungen standen allesamt unter dem Vorsatz der uneinge-
schränkten Solidarität mit den USA.
Das ist der eigentliche Sündenfall. Das ist der interes-
sante Punkt, dass die Kommandosoldaten immer darauf
verwiesen haben: Das war doch ein Akt der Solidarität,
und damit war das Thema tabu. Damit hat man sozusa-
gen alles gerechtfertigt, was man getan hat. Das ist der
Punkt, an dem man innehalten muss. Wenn Menschen
systematisch am Schlaf gehindert werden und brutaler
Kälte ausgesetzt sind, dann ist das Folter, und dann muss
man dagegen aufstehen.
Roland Claus, der damalige Fraktionsvorsitzende der
PDS, hat in der Bundestagsdebatte vom 19. September
2001 gesagt – ich darf zitieren –:
Der Terror darf keine Gewalt über uns gewinnen.
Jetzt muss sich erweisen, wie zivilisiert die zivili-
sierte Welt ist.
Ich glaube, das war sehr weitsichtig.
Leider haben wir ja unter der Regentschaft von
Mr. Bush den globalisierten Krieg gegen den Terroris-
mus erlebt, vor dem damals gewarnt wurde, mit all den
Folgen, die der Fall Murat Kurnaz beispielhaft gezeigt
hat: Ein junger Mann sitzt fünf Jahre in der Hölle, ob-
wohl keiner Straftat überführt, von keinem Gericht ver-
urteilt. Die Verantwortlichen in seinem Land, Deutsch-
land, sind eher erleichtert, wenn er dort bleibt, bzw. sie
haben Angst, wenn er wieder hier aufgenommen werden
muss. So etwas, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf
sich nicht wiederholen.
Das ist der Punkt, um den es geht, nämlich dass
Schlussfolgerungen aus dieser Geschichte gezogen wer-
den müssen. Das heißt, die parlamentarische Kontrolle
über die Bundeswehr, aber vor allem über die Spezial-
kräfte, muss gestärkt werden. Der Antrag der Regie-
rungsfraktionen geht an der Kernfrage vorbei. Es muss
nämlich die Unterrichtung des Parlaments verbessert
werden und nicht die Unterrichtung ausgewählter Mit-
glieder des Parlaments.
Der Antrag der Grünen geht da sehr viel weiter, und wir
werden ihn unterstützen.
Mit unseren Vorstellungen wird sich dieses Haus ja
noch einmal beschäftigen müssen, hoffentlich dann zu
einer anderen Uhrzeit. Dabei geht es darum, die bislang
geübte restriktive Geheimhaltungspraxis aufzugeben,
die Informationspflicht der Regierung gegenüber dem
Bundestag konsequent umzusetzen, und zwar gegenüber
allen Mitgliedern des Hauses, und regelmäßig einen Be-
richt, auch über den Einsatz der Spezialkräfte, zu erhal-
ten.
Die Debatte über diese Vorschläge ist mit dem Ab-
schlussbericht nicht beendet, sondern gerade erst eröff-
net worden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Winfried Nachtwei für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass wir diese Debatte zu einem Zeitpunkt jenseits der
öffentlichen Wahrnehmung führen, ist der Sache völlig
unangemessen.
– Ich nehme mit Dankbarkeit zur Kenntnis, dass auch
einzelne Mitglieder der Großen Koalition verhalten ge-
klatscht haben.
Unabhängig davon möchte ich ausdrücklich dem Vor-
sitzenden des Untersuchungsausschusses, dem Kollegen
Karl Lamers, für seine ausgesprochen souveräne und
parlamentsfreundliche Leitung des Ausschusses dan-
ken. Diesem Dank möchte ich den für die vorzügliche,
verlässliche Arbeit des Sekretariats unter Herrn Hilgers
anfügen.
Es wurde mehrfach ausgeführt, dass die Misshand-
lungsvorwürfe von Herrn Kurnaz nicht aufgeklärt wer-
den konnten. Es stand Aussage gegen Aussage. Ich
glaube aber, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gege-
ben hat, zu meinen, dass es diese Misshandlungsakte
nicht gegeben hätte. Die Staatsanwaltschaft Tübingen
hat etwas zur Glaubwürdigkeit einzelner Kommandosol-
daten ausgeführt.
Murat Kurnaz erlitt in Kandahar und vor allem in
Guantánamo in US-Haft ein regelrechtes Martyrium. Zu
dieser langen Dauer haben die mangelnde Aufmerksam-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20839
(C)
(D)
Winfried Nachtwei
keit und das unzureichende Engagement der damaligen
Bundesregierung beigetragen. Das muss man, finde ich,
eindeutig kritisieren. Es ist an der Zeit, dass sich die
Bundesregierung – man steht ja immer sozusagen in Ver-
antwortungskontinuität – bei Herrn Kurnaz ausdrücklich
entschuldigt.
Der andere Auftrag des Untersuchungsausschusses
war, fünf Jahre nach der Entsendung des Kommandos
Spezialkräfte nach Afghanistan diesen Einsatz im Rah-
men der parlamentarischen Kontrolle zu überprüfen. Die
wesentlichen Ergebnisse dieser Aufklärung waren, dass
die Startbedingungen – es ging regelrecht in den Nebel
hinein – für die Soldaten äußerst strapaziös waren. Au-
ßerdem bewegten sich alle Einsätze im Bereich der soge-
nannten Spezialaufklärung und der Durchsuchung von
verdächtigen Objekten. Im Einsatz selbst – Kollegin
Hoff hat darauf hingewiesen – waren die Eingriffsrechte
ungeklärt und blieben es auch die ganze Zeit, was zur
Folge hatte, dass der Auftrag, den die Soldaten hatten,
nur sozusagen auf der unteren Ebene durchgeführt wer-
den konnte.
Bei diesen Einsätzen gab es keine Gefechte, es gab
keine Toten oder Verwundeten. Die Befürchtungen, die
viele von uns damals im Parlament und in der Gesell-
schaft hatten, dass wir unter Rot-Grün sozusagen in eine
Art Vietnamkrieg hineinrutschen würden, haben sich
Gott sei Dank nicht bewahrheitet. Wir mussten auch ei-
nes, was damals von Kanzler Schröder sehr vollmundig
angekündigt wurde, nicht unter Beweis stellen, nämlich
uneingeschränkte Solidarität. Nein, dieses Beispiel zeigt,
dass es eine sehr bewusst eingegrenzte Solidarität war.
Es stellte sich heraus, dass die KSK-Soldaten im
Grunde schon nach einigen Monaten von der amerikani-
schen Führung von Enduring Freedom nicht mehr benö-
tigt wurden. Trotzdem wurden sie mit mehreren Kontin-
genten über Jahre hinweg dort belassen. Ich habe bereits
festgestellt und wiederhole es wieder: Soldaten nur aus
symbolpolitischen Gründen in einen hochriskanten Ein-
satz zu schicken, ist gegenüber den Soldaten nicht zu
verantworten.
Die Konsequenzen: Im Laufe der Jahre hat es – das
haben gerade die Obleute im Verteidigungsausschuss
mitbekommen – eine gewisse Weiterentwicklung der
Unterrichtung über geheimhaltungsbedürftige Einsätze
gegeben. Insgesamt aber ist die jetzige Unterrichtungs-
weise noch unzureichend. Der Schutz von Personen und
Operationen wird von niemandem infrage gestellt. Aber
deshalb – so habe ich bisher den Antrag der Koalition
gelesen – die Totalgeheimhaltung über KSK-Einsätze
für das Parlament insgesamt und für die Öffentlichkeit
insgesamt aufrechtzuerhalten, halte ich nicht nur für un-
nötig und lächerlich, sondern ausdrücklich für kontra-
produktiv, weil nämlich dadurch Gerüchte und Dämoni-
sierungen gefördert werden.
Was die Unterrichtung der Obleute im Verteidigungs-
ausschuss und im Auswärtigen Ausschuss betrifft, so
sind wir bis zum heutigen Tag auf den Goodwill der
Minister angewiesen. Hier sind verbriefte, direkte Kon-
trollrechte notwendig, wie wir diese in unserem Antrag
angeführt haben. Wir müssen überlegen, ob eine Anpas-
sung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes notwendig ist.
Um das klar zum Schluss zu sagen: Es geht nicht nur um
einige Kontrollrechte mehr des Parlaments; vielmehr ist
dieses Mehr an Kontrollrechten des Parlaments ganz
zentral im Interesse der Spezialsoldaten, zum Beispiel
der des Kommandos Spezialkräfte; denn von ihnen wer-
den extrem hohe Leistungen erwartet. Sie müssen über
diese Leistungen schweigen wie ein Grab, sogar gegen-
über der eigenen Frau. Umso mehr müssen solche Solda-
ten sicher sein können, dass ihre Einsätze wirklich dring-
lich und verantwortbar sind.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, das ist genau in Sicht.
Aber hoffentlich in kurzer Sicht.
Dafür bietet die parlamentarische Kontrolle die beste
Gewähr.
Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Herrmann, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Endlich, nachdem wir viel darüber diskutiert
und uns ausgetauscht haben, liegt der Abschlussbericht
über den Untersuchungsausschuss hinsichtlich der mög-
lichen Misshandlungen von Herrn Kurnaz vor. Wir er-
halten darin einen umfassenden Überblick über circa ein
Jahr Einsatzgeschehen in Afghanistan im Raum Kanda-
har. Der zeitliche Aufwand, dem wir uns als Parlamenta-
rier unterzogen haben, war sicherlich enorm. Wir haben
sehr viele Stunden damit verbracht, die Wahrheit ans
Licht zu bringen. Ich werde hier einige Argumente brin-
20840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Jürgen Herrmann
gen können, die ganz deutlich aufzeigen, dass es keiner-
lei Misshandlungen von Murat Kurnaz gegeben hat.
Der circa 250-seitige Abschlussbericht wird hier öf-
fentlich gemacht. Er steht der Öffentlichkeit zur Verfü-
gung, und das ist auch gut so. Es gibt zwar einige Ein-
schränkungen – wir durften nicht alles sagen –, weil der
Ausschuss sehr oft geheim getagt hat, aber die Gründe
dafür sind eben schon genannt worden. Was mich in die-
sem Zusammenhang besonders verwundert hat, war,
dass wir so vernünftig miteinander diskutiert haben. Es
gab sicherlich die eine oder andere Situation, in der die
Opposition gebremst werden musste, wenn sie über den
eigentlichen Untersuchungsauftrag hinausging. Aber
man darf doch feststellen, dass wir weitestgehend sehr
gut zusammengearbeitet haben. Ich glaube, das war der
Sache sehr dienlich.
Wir hatten mehr oder minder zwei Untersuchungsauf-
träge, und zwar einmal die mögliche Misshandlung von
Herrn Kurnaz durch Soldaten des KSK, zum anderen
aber auch den Ablauf des Einsatzes der KSK in Kanda-
har. Wir haben in diesem Zusammenhang – auch das ist
dargestellt worden – sehr wichtige Erkenntnisse gesam-
melt, die allerdings auch nicht der Öffentlichkeit be-
kanntgegeben werden, da sie geheim sind.
Mein Schwerpunkt heute soll die Behauptung von
Herrn Kurnaz sein, dass er in Kandahar durch KSK-Sol-
daten misshandelt worden ist. Wir bewerten dies poli-
tisch, nicht aus Sicht der Staatsanwaltschaft. Wir haben
uns zum Ziel gesetzt, restlos aufzuklären, ob Herr
Kurnaź misshandelt wurde, ja oder nein. Mein persönli-
cher Eindruck – ich denke, das spiegelt auch Ihre Ein-
drücke wider – ist: Wer Herrn Kurnaz bei uns im Aus-
schuss gesehen hat, hat festgestellt, dass er ein
gebrochener Mann ist. Ihm ist in Guantánamo sicherlich
Schreckliches widerfahren; das möchte ich nicht ver-
schweigen. Das konnte er auch glaubhaft vermitteln.
Aber mich interessiert natürlich, warum er damals im
Stern nur beiläufig über die Misshandlung berichtete,
dass nämlich KSK-Soldaten ihn dort verprügelt hätten.
Er ist sich im Übrigen auch nicht hundertprozentig si-
cher, die auf Bildkarten abgebildeten Soldaten wiederzu-
erkennen. Wir als Regierungskoalition haben – das hat
auch Kollege Arnold gesagt – diesen Untersuchungsaus-
schuss beantragt und durchgesetzt. Die Ergänzungsan-
träge der Opposition haben sicherlich dazu beigetragen,
dass der Untersuchungsauftrag erweitert worden ist.
Es ist aber auch festzustellen – schließlich wurde Kri-
tik an der Bundesregierung geäußert –: Bereits bevor wir
den Untersuchungsausschuss eingesetzt haben, hat die
Bundeswehr interne Ermittlungsverfahren eingeleitet,
um diesen Sachverhalt aufzuklären. Das hat im Übrigen
auch die Staatsanwaltschaft in Tübingen getan. Es ist für
mich schon verwunderlich – da spreche ich die Opposi-
tionsfraktionen einmal direkt an, Frau Hoff, Herrn
Nachtwei und auch Herrn Schäfer –: Es kann doch nicht
wahr sein, dass Sie – wenn Sie über rechtsstaatliche
Dinge sprechen – hier an dieser Stelle behaupten, es
gebe keinerlei Hinweise darauf, dass man absolut davon
ausgehen muss, dass Herr Kurnaz durch deutsche Solda-
ten nicht misshandelt worden ist.
– Frau Hoff, Sie haben doch eben – –
– Ja. Aber in unserem Rechtswesen gibt es immer noch
die Unschuldsvermutung, und die muss auch in diesem
Fall für die Soldaten gelten, die vor Ort waren. Daran
darf man auch nicht rütteln.
Das gilt insbesondere, wenn man behauptet – das ist von
Ihnen, von der Opposition, oftmals vorgetragen worden –,
dass Soldaten sich nur deshalb so geäußert haben, weil
sie Schutzbehauptungen aufstellen wollten. Man hat ge-
sagt: Was sollten sie denn anderes machen, wenn sie dort
vor Ort sind? Auch nach der Befragung durch den Unter-
suchungsausschuss mussten sie Angst vor Repressalien
haben. – Das kann so nicht stehen gelassen werden. Ich
glaube, es gibt genug Dinge, die man hier anführen
kann.
Es ist wichtig, noch einmal festzustellen, dass in die-
sem Bereich ganz differenziert dargestellt worden ist,
dass es Probleme im Einsatzland gegeben hat – es ist
eben angesprochen worden –: möglicherweise Alkohol-
probleme, bei denen man gegensteuern musste; letztend-
lich Führungsqualitäten der Vorgesetzten. Aber es wurde
auch deutlich gesagt, wie kritisch man mit den US-Sol-
daten umgegangen ist, wenn es dort zu Verletzungen ge-
kommen ist, zum Beispiel beim Hochreißen von Gefan-
genen. Man hat auch deutlich dargestellt, dass man dort
völlig unterschiedliche Aufgaben wahrzunehmen hatte.
Bewachung war nicht mit dem gleichzusetzen, was US-
Soldaten dort gemacht haben. Man ist in diesem Com-
pound lediglich Streife gegangen. Das hat dazu beigetra-
gen, dass es zu keinerlei Kontakt kommen konnte.
Es ist sicherlich wichtig, dass man im Zusammenhang
damit noch einmal erwähnt, dass die ausgeschiedenen
Soldaten, die wir ebenfalls vernehmen konnten, in keiner
Weise irgendwelche Anschuldigungen unterstrichen ha-
ben. Sie hätten gar keinen Grund mehr, zu lügen; sie wä-
ren keinen Repressalien ausgesetzt. Das muss man an
dieser Stelle sagen. Auch einer der Mitgefangenen von
Herrn Kurnaz, Ruhal Ahmed, kann die Vorfälle nicht be-
stätigen. Er war mit ihm nachher lange Zeit in
Guantánamo zusammen. Niemals ist ihm gegenüber da-
rüber berichtet worden, dass es zu diesen Misshandlun-
gen gekommen ist. Das sollte uns nachdenklich machen.
Daher komme auch ich ganz eindeutig zu dem Ergeb-
nis – die Ausschussmehrheit hat das so bestätigt; das war
auch nicht anders zu erwarten –, dass Herr Kurnaz nicht
misshandelt worden ist. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Er
ist nicht misshandelt worden. Die Einstellung des Straf-
verfahrens durch die Staatsanwaltschaft bestätigt dies
ganz eindeutig.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20841
(C)
(D)
Jürgen Herrmann
Bei Würdigung aller Umstände darf ich an dieser
Stelle noch einmal sagen, dass das KSK dort vor Ort her-
vorragende Arbeit geleistet hat. Dieser Dank gilt also
insbesondere denjenigen, die in diesem Land über ein
Jahr verbracht haben, um unsere Interessen dort wahrzu-
nehmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Gerd Höfer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vieles ist schon gesagt worden. Daher verzichte
ich auf den Dank, der üblicherweise schon abgestattet
worden ist, und zwar zu Recht.
Der Untersuchungsausschuss, dem auch ich angehört
habe, war von denen, in denen ich bisher Mitglied gewe-
sen bin, einer der seltsamsten; denn die Hauptanschuldi-
gungen von Herrn Kurnaz im Stern-Bericht beruhen nur
auf Hörensagen, auf nicht mehr und nicht weniger. Eine
Wahrheitsfeststellung, die Hintergrund für eine politi-
sche Bewertung sein müsste, war in diesem Fall nicht
möglich.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es ein Zufall
war, dass deutsche Soldaten in dem Lager waren. Die
Amerikaner hatten nämlich für eine Nacht um Amtshilfe
gebeten. Mehr gab es dort nicht.
Dieses Hörensagen führt mich zu einer anderen Er-
kenntnis dieses Untersuchungsausschusses. Wir müssen
uns einmal im Verteidigungsausschuss mit dem Selbst-
verständnis und mit dem inneren Gefüge des KSK be-
schäftigen. Was wir dort zu hören bekommen haben
– ich kann es nur pauschal sagen, weil ich einzelne Per-
sonen nicht nennen will –, ging nicht nur um die Frage,
ob Alkohol getrunken worden ist. Es ging auch darum,
dass es ab der Ausbildung bis zum Einsatz eine Verein-
samung dieser KSK-Soldaten gibt. Das heißt, dass sie
kein soziales Gefüge mehr haben außer dem, was in
Calw und später in den Einsätzen geschaffen wird.
Wir haben uns aus dem Grunde erkundigt, wie die
Sondereinsatzkommandos der Polizei geführt werden.
Dort ist mit Sicherheit ein soziales Umfeld gewährleis-
tet. Die spannende Frage ist nun, ob man nicht in der
Bundeswehr und speziell im Heer darüber nachdenken
sollte, wie diesen Soldatinnen und Soldaten ein erweiter-
tes soziales Gefüge gegeben werden kann, damit sie ihre
Einsätze durchstehen und sich nicht selbst abkapseln.
Eine weitere Erschwernis ist, dass sie in ihren Familien
nicht darüber berichten können, wohin sie gehen und
was sie tun. Das ist bei den Sondereinsatzkommandos
der Polizei teilweise etwas anders.
Was die Soldatinnen und Soldaten bei ihrem Einsatz
erleben, ist auch ein Grund dafür, warum es bei dem
KSK Nachwuchsprobleme gibt. Man kann viele Male
eine Zulage erhöhen. Wenn diese Grundprobleme nicht
auf einer anderen Art und Weise gelöst werden, nutzt die
gewährte Zulage überhaupt nicht. Die KSK-Soldaten
müssen nach bestandener Ausbildung aus ihrer fast tota-
len Isolation geführt werden. Dann gibt es auch eine hö-
here Bereitschaft, diesen Dienst abzuleisten.
Es mutete schon seltsam an, wie die Soldaten aus ih-
rem eigenen Selbstverständnis berichtet haben, dass sie
nicht hochwertig genug eingesetzt worden sind, dass
man ihre Fähigkeiten überhaupt nicht besonders wahrge-
nommen hat und dass die Frage, wann sie ihre Fähigkei-
ten in Einsätzen unter Beweis stellen können, nicht be-
antwortet wurde. Eine ähnliche Klage war von einem
ehemaligen GSG-9-Kommandeur zu hören. Er sagte,
dass sie sich im Wesentlichen nicht bewähren konnten.
Man muss deswegen die Soldatinnen und Soldaten da-
rauf vorbereiten, dass nicht jeden Tag ein solcher hoch-
wertiger Einsatz möglich ist. Denn nicht jeden Tag
brennt irgendwo das Haus. Man muss also in der Zwi-
schenzeit eine andere sinnvolle Beschäftigung finden.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Bundeswehr
und die Gesellschaft das KSK brauchen. Es soll rechts-
staatlich eingesetzt werden und wird rechtsstaatlich ein-
gesetzt. Man denke nur an die Rules of Engagement. Die
Soldaten werden gebraucht wie die Sondereinsatzkom-
mandos. Sie sind die Speerspitze bei bestimmten Aufträ-
gen. Dass sie innerhalb der Bundeswehr eine gewisse
Elite darstellen, ist klar. Aber lassen wir sie nicht zu stil-
len Helden verkommen. Das ist eine der Aussagen ge-
wesen, die die Soldatinnen und Soldaten in den Verneh-
mungen gemacht haben.
Auf den Verteidigungsausschuss – das ist für mich die
dritte Erkenntnis – kommt die Aufgabe zu, sich mit den
Rahmenbedingungen, unter denen die Soldaten des KSK
ausgebildet und geführt und unter denen sie eingesetzt
werden, zu beschäftigen. Die Lage sollte auch auf die-
sem Gebiet und nicht nur im finanziellen Bereich ver-
bessert werden.
Ich bitte das Bundesministerium der Verteidigung,
uns in diesem Punkt nachhaltig zu unterstützen; denn es
ist eine Fürsorgepflicht, die wir gegenüber diesen Solda-
tinnen und Soldaten haben. Packen wir es also an und
lassen es nicht liegen!
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Verteidigungsausschusses als Untersu-
chungsausschuss. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10650, den
Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Unter-
suchungsausschuss zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksa-
20842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
che 16/11230? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppo-
sitionsfraktionen angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11208? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-
lehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommt ein
Marathon. Mehr als 20 Tagesordnungspunkte werden zu
Protokoll gegeben. Ich habe das alles vorzulesen. Ich
bitte Sie, mich gelegentlich durch Ermunterungen, Bei-
fall oder Sonstiges zu unterstützen, damit ich das
schaffe.
Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Zulassung von gentechnisch veränderten Or-
ganismen – Verflechtung zwischen den Behör-
den und der Agro-Gentechnik-Industrie been-
den und wissenschaftliche Grundlagen
verbessern
– Drucksachen 16/9314, 16/11163 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gentechnikfreie Regionen stärken – Bundes-
regierung soll Forderungen aus Bayern auf-
nehmen und weiterentwickeln
– Drucksachen 16/10202, 16/11164 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es
handelt sich um folgende Kollegen: Max Lehmer, Elvira
Drobinski-Weiß, Christel Happach-Kasan, Kirsten
Tackmann, Ulrike Höfken.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Zulassung von gentechnisch ver-
änderten Organismen – Verflechtung zwischen den Be-
hörden und der Agro-Gentechnik-Industrie beenden und
wissenschaftliche Grundlagen verbessern“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Gentechnikfreie Regionen
stärken – Bundesregierung soll Forderungen aus Bayern
aufnehmen und weiterentwickeln“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine.
Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit
wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkte 15 a und b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetzes
– Drucksache 16/10996 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz , Kai Gehring, Krista Sager, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Förderung des lebenslangen Lernens unver-
züglich entscheidend voranbringen
– Drucksache 16/11202 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
1) Anlage 12
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20843
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Folgende Redner haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Alexander Dobrindt, Ernst Dieter Rossmann,
Patrick Meinhardt, Volker Schneider, Priska Hinz, Par-
lamentarischer Staatssekretär Andreas Storm.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-
Joachim Otto , Gudrun Kopp,
Christoph Waitz, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Telemediengeset-
– Drucksache 16/11173 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Martina Krogmann, Martin Dörmann, Hans-
Joachim Otto, Lothar Bisky, Grietje Staffelt.
Vor etwas mehr als einem halben Jahr haben wir hier
unter starker rhetorischer Beteiligung der FDP über die
Weiterentwicklung des Telemedienrechts gesprochen.
Das Telemedienrecht ist das zentrale Gesetz für die Inter-
netwirtschaft in Deutschland, setzt den Rechtsrahmen für
Wirtschaft und Veröffentlichungen im Internet. Dieser
Rechtsrahmen muss den sich verändernden Rahmenbe-
dingungen – auch einer nicht immer unseren Absichten
entsprechenden Rechtsprechung – angepasst werden.
Die wichtigsten Bereiche sind meiner Meinung nach
die Haftungsregeln und Verantwortlichkeiten im Internet.
Es muss im Telemediengesetz klar und eindeutig geregelt
werden, welche Pflichten die Akteure haben. Zu nennen
sind in diesem Zusammenhang vor allem die Internet-
serviceprovider, Internetauktionshäuser, Suchmaschi-
nenbetreiber und Verwender von Hyperlinks.
Es ist richtig, dass wir derzeit eine wenig zufrieden-
stellende Rechtslage haben. Ebenfalls zutreffend ist, dass
wir möglichst schnell eine möglichst große Rechtssicher-
heit für die Unternehmen herstellen müssen. Schließlich
dürften wir uns auch einig darüber sein, dass Unterneh-
men und Privatleute durch überbordende Kontrollpflich-
ten nicht drangsaliert werden dürfen.
Unerfüllbare, unpraktikable und unverhältnismäßige
Regeln für die Verantwortlichkeit für Inhalte, die Dritte in
Foren, Blogs oder auf kommerziellen Seiten eingestellt
haben, lehnen wir ebenso wie die Initiatoren des Entwurfs
ab. Dies gilt auch für die Verantwortlichkeit der Verwen-
der von Hyperlinks und der Betreiber von Suchmaschi-
1) Anlage 13
nen. Hier gibt es Übereinstimmung mit dem Gesetzent-
wurf der FDP. Insgesamt enthält der Entwurf jedoch ganz
erhebliche Mängel.
Ein Beispiel: Wenn das im letzten Mai apostrophierte
Rolex-Imitat bei einem Internetauktionshaus angeboten
wird, soll der Rechteinhaber keinen direkten Anspruch
gegen das Auktionshaus auf Entfernung dieser Auktion
haben. Nein, er soll erst einmal den bösen Buben, der das
Imitat eingestellt hat, auf Rücknahme der Auktion verkla-
gen. Nur dann, wenn der Titel gegen den Missetäter vor-
liegt, soll der Verletzte einen Anspruch auf Entfernung
der Auktion gegen das Auktionshaus haben.
Diese sogenannte Subsidiarität der Störerhaftung ent-
stammt dem öffentlichen Recht und ist dem Zivilrecht
– und nur um dieses geht es hier – völlig fremd. Es hilft
niemandem, am wenigsten der auf Rechtssicherheit ange-
wiesenen Internetwirtschaft, wenn ein inhaltlich hanebü-
chener, rechtssystematisch nicht haltbarer Gedanke Ge-
setz wird.
Gekrönt wird dies noch dadurch, dass gleichzeitig ge-
nauso entschieden gefordert wird, dass der Anspruch auf
Entfernung der Auktion auch in den Fällen sich direkt ge-
gen das Auktionshaus richten soll, in denen ein Titel ge-
gen den eigentlichen Rechteverletzer nicht erreicht wer-
den kann. Ja, wie denn nun?
Das eigentliche Problem, die Begrenzung der Kon-
troll- und Überwachungspflichten der Diensteanbieter,
wird durch die vorliegende Initiative nicht gelöst. Es
bleibt nicht etwa alles beim – unbefriedigenden – Alten.
Die Lage der Beteiligten wird sogar noch erheblich ver-
schlimmert. Das braucht so niemand.
Eine Prise Datenschutz und Bürgernähe scheint aus
dem Verlangen zu sprechen, die Kontaktdaten des be-
trieblichen Datenschutzbeauftragten zu veröffentlichen.
Der betriebliche Datenschutzbeauftragte wirkt im Innen-
verhältnis eines Unternehmens und nicht im Außenver-
hältnis gegenüber Kunden oder Nutzern. Insofern vermag
ich trotz des Hinweises in der Begründung, dass manche
Unternehmen so schlecht organisiert seien, dass ein
solcher Hinweis die Fehleranfälligkeit der internen Un-
ternehmensorganisation reduziere, eine Pflicht zur Ver-
öffentlichung nicht nachzuvollziehen. Wenn die Unter-
nehmen so erratisch organisiert sind, wie die FDP meint,
müssten noch viel mehr Funktionsträger öffentlichge-
macht werden. Wenn die Unternehmen so organisiert
sind, wie die Union sie erlebt, braucht das keiner.
Völlig unklar bleibt auch, wie die Landesregierungen
durch Rechtsverordnungen Schwerpunktgerichte für Te-
lemediendienststreitsachen schaffen sollen. Der Ge-
richtsstand ist einerseits in § 32 ZPO, einem Bundesge-
setz, geregelt, andererseits besteht nach Aussagen der
Marktteilnehmer kein Bedarf für dergleichen Sonderge-
richte in Zivilsachen. Ob mit einem solchen Eingriff der
Herausbildung einer unliebsamen Rechtsprechung vor-
gebeugt werden kann, ist zweifelhaft. Unzweifelhaft scha-
den aber solche Überlegungen der Unabhängigkeit der
Justiz, deshalb lehnen wir solche Überlegungen entschie-
den ab.
(C)
(D)
Dr. Martina Krogmann
Wir sollten den Mantel des gnädigen Schweigens über
diesen Gesetzentwurf decken und uns den eigentlichen
Problemen zuwenden.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat mit einer der
Sache angemessenen Akribie Tatsachenforschung betrie-
ben und die Rechtslage in extenso geprüft. Für die Sorg-
fältigkeit des Vorgehens der Beamten dort spricht auch,
dass sie nicht nur die Urteilsbegründungen zu Leitent-
scheidungen abgewartet und in ihre Überlegungen haben
einfließen lassen, sondern sich auch noch im Gespräch
mit Richterpersönlichkeiten die Expertise der Jurisdik-
tion verschafft haben. Das ist – mir fällt da wirklich kein
geringeres Lob ein – mustergültig. Insofern können wir
ganz sicher sein, dass die Rechtsprechung dahin gehend
reflektiert worden ist, „dass der Rahmen für die allgemei-
nen Informationspflichten sachgerecht gezogen worden
ist.“
Auch die Anwendung des „Notice and take down“-
Verfahrens“ ist bereits hinreichend reflektiert worden.
Hier gibt es zu verkünden, dass die Marktteilnehmer kei-
nen Wert auf diesen Fremdkörper im deutschen Recht le-
gen.
Auch im Kampf gegen Spam, der als Herzensanliegen
vorsichtigerweise nur in der Begründung auftaucht, ha-
ben wir einen hohen Reflexionsgrad erlangt: Keine Bun-
desregierung hat die „wegweisenden kooperativen Maß-
nahmen von Industrie, Verbraucherzentralen und
Verbänden“ mehr unterstützt als die jetzige. Dabei wird
es bleiben.
Sie sehen, mehr Reflexion war nie. Was fehlt, sind Er-
gebnisse, die Wirtschaft und Privatpersonen gleicherma-
ßen das gewähren, was sie am meisten ersehnen: Rechts-
sicherheit.
Nach den sehr intensiven Vorarbeiten des Bundeswirt-
schaftsministeriums vernimmt man aus dem Bundesmi-
nisterium der Justiz, dass es keinen Änderungsbedarf
mehr sehe. Der Wirtschaftsminister, der genau weiß, wel-
che Sorgen die Unternehmen haben, drückt aufs Tempo,
und das wirtschaftsferne Justizministerium bezweifelt
nun auf einmal den legislatorischen Klarstellungsbedarf.
So geht es nicht.
Ressortegoismen eines nicht federführenden Ministe-
riums dürfen nicht dazu führen, dass Wirtschaft und Bür-
gern ein adäquater, praktikabler Rechtsrahmen verwei-
gert wird. Wir werden eine schnelle und sachgerechte
Lösung in nächster Zukunft herbeiführen. Alle Vorarbei-
ten sind geleistet. Jetzt kann gehandelt werden.
Anfang 2007 haben wir mit dem neuen Telemedienge-
setz erstmals einen einheitlichen, entwicklungsoffenen
Rechtsrahmen im Bereich der Tele- und Mediendienste
geschaffen. Frühere Abgrenzungsprobleme sind entfal-
len. Gegenüber dem alten Rechtszustand wurde eine
deutliche Verbesserung erzielt. Damit haben wir einen
wirksamen Beitrag zur Fortentwicklung des Internets ge-
leistet, für das das Telemediengesetz von besonderer Be-
deutung ist.
Zu Protokoll
Bereits bei der damaligen Verabschiedung haben die
Koalitionsfraktionen in Aussicht gestellt, noch in dieser
Legislaturperiode eine Überarbeitung vorzunehmen.
Denn damals mussten wir das Gesetz zügig verabschie-
den, um ein zeitgleiches Inkrafttreten mit dem neunten
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien zum 1. März
2007 zu ermöglichen. Beide Regelwerke ergänzen sich
und haben die bisherigen Bestimmungen abgelöst.
Zuletzt hat der Bundestag im Mai 2008 eine ausführ-
liche Debatte über möglichen Änderungsbedarf geführt.
Grundsätzlich gibt es in diesem Hause keine Fraktion, die
einen solchen Bedarf nicht sehen würde, wenn auch je-
weils mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Aus Sicht der Koalitionsfraktionen geht es hierbei in
erster Linie um die weitere Verbesserung der Rechts-
sicherheit im Bereich der Internethaftung. Das betrifft die
Klärung der Störerhaftung sowie Fragen, die von den
Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce-
Richtlinie nicht erfasst werden und die auch in Deutsch-
land vor diesem Hintergrund ausdrücklich nicht geregelt
wurden, insbesondere Suchmaschinen und Hyperlinks.
Insofern haben wir es nämlich mit einer Rechtsprechung
zu tun, die in der Internetbranche für Unsicherheiten ge-
sorgt hat, die es möglichst zu beseitigen gilt.
Konkret geht es etwa um die Fragestellung, inwieweit
ein Diensteanbieter für Inhalte haftet, die er nicht selbst
eingestellt hat. Dass Rechteverletzungen beseitigt werden
müssen, steht dabei außer Frage. Probleme bereitet aller-
dings die zukünftige Verhinderung einer Rechteverlet-
zung insbesondere dann, wenn eine Rechteverletzung
festgestellt wurde und die Anwendung auf analoge Fälle
zu übertragen ist. Und wer auf seiner Homepage Links
auf andere Seiten eingestellt hat, kann diese nicht ständig
kontrollieren.
Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit Dienste-
anbieter beispielsweise im Rahmen einer Störerhaftung
reguläre Überwachungspflichten übernehmen müssen
oder nicht. Die Rechtsprechung hat hier die Unterlas-
sungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kernglei-
che Rechteverletzungen ausgedehnt. Dies hat zu großer
Verunsicherung geführt, weil eine weite Auslegung der
Kerngleichheit zu einer fast uferlosen Haftung führen
könnte. Auf der anderen Seite würde eine zu enge Ausle-
gung möglicherweise zu einer Verkürzung der betroffenen
Rechteinhaber führen. Insgesamt geht es daher vor allem
um eine gerechte und praktikable Lösung, die die unter-
schiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Verbrau-
chern und Internetunternehmen zu einem vernünftigen
Ausgleich bringt.
Diesen goldenen Mittelweg zu finden und mit allen Be-
teiligten einvernehmlich abzustimmen, hat sich in den
vergangenen Monaten als besonders schwierig erwiesen.
Die Koalitionsfraktionen haben erwartet, dass die Bun-
desregierung wie angekündigt noch im Jahr 2008 einen
Gesetzentwurf vorlegt, in dem die problematisierten Ge-
sichtspunkte berücksichtigt werden. Das Wirtschaftsmi-
nisterium war auch keineswegs untätig, sondern hat zahl-
reiche Gespräche mit vielen Beteiligten geführt, um eine
möglichst von allen getragene Lösung abzustimmen. Eine
besondere Schwierigkeit ist dabei, dass die Rechtspre-
20844 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Martin Dörmann
chung auch weiterhin in der Entwicklung ist. Wichtige
Entscheidungen, die in diesem Jahr ergangen sind, müs-
sen bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Dies al-
les hat zu einer Zeitverzögerung geführt, die wir als Ko-
alitionsfraktionen bedauern. Wir wären hier gerne
schneller vorangeschritten.
Die Große Koalition prüft derzeit, wie wir mit der The-
matik des Telemediengesetzes weiter vorgehen. Wie Sie
wissen, gibt es aktuell Überlegungen des Familienminis-
teriums zur Einführung einer Sperrungsverpflichtung zur
Bekämpfung der Kinderpornografie. Hier ist zu klären,
inwieweit sich zusätzlicher Regelungsbedarf beim Tele-
mediengesetz oder beim Jugendmedienschutzstaatsver-
trag ergibt. Dabei wird man zu berücksichtigen haben,
dass die deutsche Internetwirtschaft bei der Bekämpfung
illegaler und gefährlicher Inhalte, insbesondere auch der
Kinderpornografie, durchaus aktiv und engagiert ist. In-
soweit wird zu prüfen sein, wie man das gemeinsame Ziel,
Kinderpornografie den Garaus zu machen, effektiv und
angemessen erreichen kann, sei es durch zusätzliche Re-
gelungen oder eine Ausweitung der Selbstverpflichtung
der Internetwirtschaft.
Zudem steht für Anfang 2009 ohnehin das Vorhaben
zur teilweisen Umsetzung der europäischen Audio-
Visuelle-Mediendienste-Richtlinie an. Hierzu wird das
Wirtschaftsministerium Anfang des Jahres einen ersten
Entwurf zur Änderung des Telemediendienstes vorlegen.
Es spricht einiges dafür, die zu klärenden Fragen ge-
meinsam in einem Gesetzentwurf zur Änderung des Tele-
mediendienstes anzugehen. Die Große Koalition wird
sich hierzu möglichst schnell auf das weitere Verfahren
verständigen.
Die FDP-Fraktion hat nun einen eigenen Gesetzent-
wurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorgelegt. Er
greift insbesondere die Frage der Störerhaftung auf. Die
von der FDP vorgetragenen Änderungsvorschläge wer-
den wir eingehend prüfen. Bei den Regelungen zu Such-
maschinen und Hyperlinks erscheint mir die Zielrichtung
grundsätzlich durchaus unterstützendswert.
Andererseits enthält der FDP-Entwurf allerdings auch
eine Reihe von Widersprüchlichkeiten und fragwürdigen
Regelungsvorschlägen. So soll der Internetvermittler nur
dann als Störer haften, wenn der eigentliche Verursacher
nicht greifbar ist, andererseits aber auch nur dann, wenn
gegen den eigentlichen Störer ein vollstreckbarer Titel er-
wirkt wurde. Hierdurch würde die Verhinderung einer
Rechteverletzung beim Vermittler sehr weitgehend er-
schwert.
An manchen Stellen macht es sich die FDP in ihrem
Antrag deshalb bezüglich der Abwägung der unter-
schiedlichen Interessenlagen zu einfach angesichts der
komplexen Problemlagen. Daher kann der Gesetzentwurf
aus Sicht der Koalitionsfraktionen insgesamt keine geeig-
nete Grundlage für eine Novellierung des Telemedienge-
setzes sein. Bei allen Unterschieden im Detail hoffe ich
dennoch, wir können im Sinne des durchaus konstruk-
tiven Dialogs, den wir in dieser Sache pflegen, am Ende
zu Lösungen kommen, die von möglichst vielen Fraktio-
nen gemeinsam getragen werden.
Zu Protokoll
In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Dis-
kussionen hierzu im nächsten Jahr.
Eingangs möchte ich Ihnen kurz die Genese des gel-
tenden Telemediengesetzes und dieses Gesetzentwurfs
der FDP in Erinnerung rufen. Im Oktober 2006 hat die
Bundesregierung einen – sagen wir einmal – mittelpräch-
tigen Entwurf eines TMG vorgelegt. Im Dezember 2006
haben wir im Wirtschaftsausschuss eine große Anhörung
dazu durchgeführt, bei der von allen Seiten noch erhebli-
cher Nachbesserungsbedarf am Gesetz angemeldet
wurde. Dennoch hat die Große Koalition unter Hinweis
auf einen angeblich großen Zeitdruck das TMG im Fe-
bruar 2007 weitgehend unverändert beschlossen, sodass
es am 1. März 2007 gemeinsam mit dem neuen Staatsver-
trag für Rundfunk und Telemedien in Kraft trat. Die FDP
hat damals nur nach der ausdrücklichen Zusage zuge-
stimmt, dass die Bundesregierung unverzüglich tätig und
eine Novelle zum TMG vorlegen werden wird.
Ic
„Ich glaube, uns allen ist klar,
dass wir auch mit diesem Gesetz nicht am Ende des Weges
angelangt sind.“ Die Erkenntnis war also vorhanden, ge-
schehen ist dann allerdings seit langer Zeit gar nichts.
Noch im Jahre 2007 sah sich die FDP veranlasst, die
Bundesregierung an ihr Reformversprechen zu erinnern.
Der Antrag, den wir daraufhin zum TMG eingebracht ha-
ben, wurde viele Monate verschleppt und schließlich im
Februar 2008 abgelehnt. Begründung der Koalitions-
fraktionen – ich zitiere den Kollegen Klaus Barthel –: Wir
werden „Ihre Anträge ablehnen müssen, damit wir ge-
meinsam zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Das
wird sicherlich noch in diesem Jahr sein. Der Zeitdruck
ist uns durchaus klar.“ Heute ist der 4. Dezember. Dieses
Jahr ist fast vorüber. Wo bleibt denn nun Ihre Novelle?
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch darauf
hinweisen, dass Sie den Oppositionsfraktionen zuge-
sichert hatten, diese konstruktiv an der Erarbeitung der
TMG-Novelle zu beteiligen. Wir warten.
Da die Bundesregierung es in zwei Jahren nicht ge-
schafft hat, einen Gesetzentwurf vorzulegen, musste die
FDP nun initiativ werden. Immerhin enthält das TMG
zentrale Normen für die Internetwirtschaft. Weiteres
Zögern ist im Hinblick auf die durch zahlreiche divergie-
rende Urteile immer weiter zunehmende Rechtsun-
sicherheit bei der Telekommunikationsbranche, bei Tele-
medienanbietern und nicht zuletzt auch bei den Bürgern
dieses Landes nicht hinnehmbar. Die derzeitige Rechts-
lage behindert Investitionen und kostet Arbeitsplätze in
einer der dynamischsten Zukunftsbranchen. Es drohen
Verlagerungen ins Ausland, ganz zu schweigen von der
drohenden strukturellen Beschneidung der Presse- und
Meinungsfreiheit. Daher hoffe ich, dass Sie, sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen,
dieses Gesetzesvorhaben unterstützen. Konstruktive Ver-
besserungsvorschläge nehmen wir dabei jederzeit gerne
entgegen, denn ich will nicht ausschließen, dass auch un-
ser Entwurf noch Verbesserungspotenzial besitzt. Leider
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20845
gegebene Reden
(C)
(D)
Hans-Joachim Otto
können wir ja noch nicht – anders als die Koalitionsfrak-
tionen – auf die Ressourcen mehrerer Bundesministerien
zurückgreifen.
Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf stellt noch ein-
mal die grundsätzliche Nichtverantwortlichkeit für In-
halte Dritter heraus. Dennoch können Anbietern von Te-
lemedien Sorgfaltspflichten auferlegt werden, um
Rechtsverletzungen zu beenden oder zu verhindern. Die-
ses Verfahren wird durch den Entwurf formalisiert und
präzisiert, was Rechteinhaber und in ihren Rechten Ver-
letzte stärkt. Mit den gesetzlichen Klarstellungen werden
demnach bestehende Defizite im Telemedienrecht korri-
giert. Die Neuregelungen begründen ein formalisiertes
Verfahren zur Durchsetzung von Rechtsgütern durch Ent-
fernung oder Sperrung der Nutzung von Inhalten durch
Diensteanbieter.
Das Verursacherprinzip wird im haftungsrechtlichen
Kontext gestärkt. Bestehende Rechtslücken im Bereich
der Suchmaschinen und Hyperlinks werden geschlossen.
Beide müssen als unverzichtbare und grundlegende Me-
chanismen für eine sinnvolle Nutzung der unübersehba-
ren Informationsfülle im Internet angesehen werden und
dürfen daher haftungsrechtlich nicht schlechter gestellt
werden als andere Dienste. Mit der Gesetzesänderung
würde somit diesen unverzichtbaren Diensten eine haf-
tungsrechtliche Absicherung zukommen, die sie benöti-
gen, um den freien Zugang zu Informationen und Meinun-
gen zu gewährleisten.
Die Option zur Schaffung von Schwerpunktgerichten
dient der sachgerechten Weiterentwicklung des Rechts.
Die Regelungen ermöglichen die Konzentration des im
Telemedienbereich unverzichtbaren Sachverstands bei
gleichzeitigem Ausschluss negativer Begleiterscheinun-
gen eines sogenannten fliegenden Gerichtsstands.
Der Datenschutz wird mit unserem Entwurf, insbeson-
dere durch die erweiterten Transparenzvorschriften so-
wie die Pflicht zur Angabe der Erreichbarkeit des gege-
benenfalls bestellten Datenschutzbeauftragten als
Grundvoraussetzung für die effektive Durchführung ein-
schlägiger Aufgaben, ebenfalls gestärkt.
Schließlich wird die bisher exzessive Ermächtigung
zur Weitergabe sensibler Nutzerdaten in rechtsstaatlich
notwendiger und wirtschaftlich vertretbarer Weise einge-
schränkt. Die Kompensationspflicht bei Bestandsdaten-
abfragen stellt nämlich sicher, dass Diensteanbieter in ei-
nem angemessenen Umfang für Auskünfte gegenüber
berechtigten Behörden entschädigt werden. Ein sinnvol-
ler Nebeneffekt ist der ökonomische Anreiz, das Instru-
ment Bestandsdatenauskunft seitens des Staates nicht zu
exzessiv zu nutzen. Ein solcher Anreiz wirkt regulierend
und ist rechtsstaatlich geboten.
Alles in allem bin ich der Auffassung, dass die FDP ei-
nen tragfähigen und ausgewogenen Entwurf vorgelegt
hat. Ich appelliere an Sie, unseren Entwurf zu unterstüt-
zen, um ein modernes und zukunftssicheres Internetrecht
zu schaffen.
Zu Protokoll
Heute geht es wieder einmal um die dringend notwen-
dige Novellierung des Telemediengesetzes . Das
TMG gibt es erst seit Februar 2007. Da der Gesetzgeber
aber an vielen Stellen geschlampt hat, besteht nach wie
vor dringender Nachbesserungsbedarf. Bereits im Mai
dieses Jahres haben wir über die Anträge der Grünen und
meiner Fraktion zur Verbesserung des TMG beraten. Die
Probleme sind allen bekannt. Lassen Sie es mich sehr
deutlich sagen: Dass wir bis heute keine Novellierung des
Gesetzes haben, ist nicht nachvollziehbar und ein Ar-
mutszeugnis für die Regierungskoalition.
Das TMG ist im übertragenen Sinne das deutsche Stra-
ßenverkehrsgesetz des Internets. Allerdings ist im aktuel-
len Gesetz nicht geregelt, wer die Pflicht zur Haftung
trägt oder unter welchen Voraussetzungen Informationen
über Autofahrerinnen und Autofahrer gespeichert oder
gelöscht werden. Das aktuelle TMG ist nichts weiter als
niedergeschriebene Rechtsunsicherheit. Nun liegt ein
erster Gesetzesentwurf mit Änderungswünschen von der
FDP vor. Wesentliche Aspekte insbesondere hinsichtlich
der ungeklärten Frage der Haftung von Inhalteanbietern
und Providern sieht der Entwurf vor, allerdings fehlen aus
Sicht der Linken etliche Gesichtspunkte.
Gerne nenne ich Ihnen noch einmal unsere wichtigsten
Forderungen. Es fehlt eine ausdrückliche Definition des
Begriffes „Telemedien“. Es ist deswegen auch ungeklärt,
wie digitale Inhalte in der Folge klassifiziert werden – je
nachdem gelten unterschiedliche gesetzliche Vorschrif-
ten – und wer beispielsweise für die Aufsicht der Inhalte
zuständig ist, wenn es um Fragen des Jugendschutzes
geht.
Auch der Schutz von persönlichen Daten ist durch das
aktuell gültige Gesetz nicht gewährleistet. Wir brauchen
einen bürgerfreundlichen Datenschutz, der die Belange
der Nutzerinnen und Nutzer schützt. Deswegen fordern
wir Linken klare und eindeutige Regelungen. So sollten
Nutzerprofile nur bei ausdrücklicher Einwilligung der
Betroffenen erstellt werden dürfen. Wir halten auch nach
wie vor ein Kopplungsverbot zwischen der zwangsweisen
Erhebung einer Vielzahl von Daten als Voraussetzung für
die Nutzung von Systemen für ein sinnvolles Instrument
zur Sicherung von Datensparsamkeit. Gerade die aktuel-
len Datenschutzskandale zeigen: Hier sind klare Regeln
notwendig. Datenschutz ist ein Bürgerrecht, das nicht mit
Füßen getreten oder beiläufig abgehandelt werden darf.
Der hier debattierte Gesetzesentwurf der FDP legt ei-
nen Schwerpunkt auf die Frage der Haftung. Dies ist
richtig, da sowohl die technischen Provider als auch die
Inhalteanbieter wissen müssen, was erlaubt und was ver-
boten ist. In den vergangenen 13 Monaten nach Inkraft-
treten des TMG haben viele Gerichte in Deutschland in
ähnlichen bzw. teilweise gleichen Fragen völlig unter-
schiedlich entschieden. Hier muss eine gesetzliche Klar-
stellung erfolgen, damit beispielsweise Inhalteanbieter
und Webseitenbetreiber in der Zukunft keinen präventi-
ven Überwachungspflichten für fremde Inhalte ausgesetzt
sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es
wird Zeit, dass Sie aus Ihrer Erstarrung erwachen und die
20846 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Lothar Bisky
Belange der digitalen Welt ernst nehmen. Wenn Sie das
machen, wird die Linke Sie gern unterstützen.
Leider beraten wir heute nicht den von uns seit langem
geforderten überarbeiteten Gesetzentwurf der Regierung
zum Telemediengesestz, sondern einen der FDP. Bereits
im Februar 2007, also vor fast zwei Jahren, hat die Ko-
alition das Gesetz mit dem schönen Namen „Elektroni-
scher-Geschäftsverkehr-Vereinheitlichungsgesetz“ ver-
abschiedet. Aber schon damals hieß es: Wir müssen das
Gesetz bald wieder aufschnüren, weil wichtige Fragen
wie zum Beispiel die Haftungsregeln für Diensteanbieter
nicht geklärt sind und die Anpassung an die neue EU-
Fernsehrichtlinie verpasst wurde. So hat die Koalition
uns nun schon zweimal hängen lassen: Erst verabschie-
det sie ein Gesetz, das sie selbst nicht für gut hält, dann
bleibt die versprochene Nachbesserung einfach aus.
Vorschläge für ein funktionierendes Telemediengesetz
aber liegen längst auf dem Tisch. So haben wir Grünen
bereits zwei Anträge in den Bundestag eingebracht mit
ganz klaren Forderungen, was im Telemediengesetz wie
geregelt werden sollte. Dazu gehören auch Vorschläge
zur Anbieterhaftung. Für uns ist klar: Es muss eindeutige
Haftungsregeln für Diensteanbieter geben. Zugangspro-
vider dürfen nicht dazu verpflichtet werden, die von ihnen
zugänglich gemachten oder transportierten Inhalte zu
überwachen oder gar vorab nach rechtswidrigen Inhal-
ten zu suchen. Das kann man von keinem Diensteanbieter
ernsthaft verlangen. Das ist so, als würde man die Post
verpflichten, die von ihr transportierten Briefe zu öffnen,
um nachzuschauen, ob die Sendungen legal sind, und sie
dann noch dafür haftbar zu machen, wenn ein Inhalt
rechtswidrig war. Das kann natürlich nicht sein. Deshalb
unterstützen wir hier die Vorschläge der FDP ganz ein-
deutig.
Eines aber muss gelten – und so sieht das ja auch der
Großteil der aktuellen Rechtsprechung – Diensteanbieter
sollen rechtswidrige Links und Inhalte entfernen, sobald
sie davon Kenntnis erlangt haben und es ihnen technisch
zumutbar ist. Mit dem sogenannten Notice-and-take-
down-Verfahren kann, wer zum Beispiel ein rechtswidri-
ges Video auf YouTube findet, dies dem Betreiber melden.
Der prüft es dann und muss es gegebenenfalls von der
Seite entfernen.
Eines müssen Sie sich klarmachen: Vorabkontrollen
und -entfernungen durch die Diensteanbieter sind im In-
ternet schlichtweg anachronistisch. Es ist ein Armuts-
zeugnis der Bundesregierung, dass sie dies nicht von An-
fang an klar ins Gesetz geschrieben hat. Das zeigt wieder
einmal, wie wenig Glos und Co im Internetzeitalter ange-
kommen sind. Das ganze Web 2.0 wäre mit Vorabkontrol-
len überhaupt nicht mehr möglich, denn es lebt doch da-
von, dass Diensteanbieter eine Onlineplattform oder den
Zugang hierzu zur Verfügung stellen, die die Nutzerinnen
und Nutzer mit Inhalt und damit auch mit Leben füllen.
Ganze Geschäftsmodelle von Ebay über YouTube bis Stu-
diVZ leben von dieser Technologie.
Deshalb muss gesetzlich festgehalten werden, dass
Diensteanbieter zwar nicht für fremde Inhalte haftbar zu
Zu Protokoll
machen sind, diese aber entfernen müssen, sofern ihnen
das zumutbar ist. Solche Regelungen müssen auch auf
Suchmaschinenanbieter ausgeweitet werden. Sie sind
ebenso Zugangsdienstleister, die selbst keine Inhalte pro-
duzieren.
Es muss zudem endlich klar definiert werden, wie ei-
gentlich Blogs und Foren behandelt werden sollen. Auch
sie bieten letztendlich eine Plattform für fremde Meinun-
gen an. Das ist ja gerade ihr Charakteristikum. Wenn nun
aber Blog- oder Forenbetreiber genötigt werden, jede Se-
kunde die Beiträge auf ihren Seiten auf mögliche rechts-
widrige Inhalte zu prüfen, dann machen wir damit eine
Szene kaputt, die für Vielfalt in der öffentlichen Debatte
sorgt und eine Alternative zum Mainstreamjournalismus
darstellt. Unzumutbare inhaltliche Kontrollen bedrohen
hier ganz klar die Meinungsvielfalt, die das Netz ermög-
licht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Vorschläge,
die Spamming härter bestrafen und die Verfolgung von
Spam möglich machen, sind mitnichten Symbolpolitik.
Die von uns Grünen seit langem unterbreiteten Lösungen
können mit Sicherheit zu einer effektiven Bekämpfung von
Spam beitragen. Den Verbraucherinnen und Verbrau-
chern wäre schon viel gedient, wenn unerwünschte Wer-
bemails in ihrem Postfach mit einem „W“ gekennzeichnet
würden. Dann wüsste so manche und so mancher, dass es
sich hier oft um bloße Abzocke handelt, die man getrost
ignorieren sollte. Außerdem muss in Sachen Werbemails
ein generelles Opt-in-Verfahren her. Das heißt, nur wer
der Zusendung von Werbung vorher ausdrücklich zuge-
stimmt hat, darf ebensolche erhalten. Jede Zusendung un-
erwünschter Werbung muss als Ordnungswidrigkeit ge-
ahndet und mit hohem Bußgeld belegt werden. Sie muss
außerdem durch die Bundesnetzagentur verfolgt werden.
Nur wenn es hier spürbare Sanktionen gegen die Versen-
der gibt, kann Spam effektiv eingedämmt werden.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt Lö-
sungen, die einfach und effektiv sind. Aber Verbraucher-
schutz scheint weder das Thema der Koalition noch der
FDP zu sein.
Das Telemediengesetz hat noch unzählige weitere
Baustellen, die es endlich zu beheben gilt. Bis heute ist
unklar, welche Angebote nun unter Telemedien und wel-
che unter Rundfunk fallen. Das schafft keine Rechts-
sicherheit und führt zu eklatanten Regelungslücken.
Genauso unzumutbar ist die verwirrende Gerichtszustän-
digkeit. Außerdem bedarf es einer dringenden Anpassung
des Telemediengesetzes an die europäische Richtlinie für
audiovisuelle Mediendienste und die dort festgelegte ab-
gestufte Regelung zwischen linearen und nonlinearen In-
halten.
Nicht zuletzt entspricht das TMG keinesfalls unseren
Vorstellungen in Sachen Datenschutz. Um nur ein Bei-
spiel zu nennen: Die Zugriffsmöglichkeiten auf persönli-
che Daten für die Gefahrenabwehr im Bereich der poli-
zeilichen Vorbeugung stellt aus grüner Sicht eine uferlose
Zweckentfremdung personenbezogener Daten dar.
Anstatt sich dieser Fragen anzunehmen, wird nun über
den populistischen Schnellschuss von der Leyens, Kin-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20847
gegebene Reden
20848 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Grietje Staffelt
derpornografie zu sperren, zwischen den Ministerien dis-
kutiert. Auch wir finden, dass nicht genug gegen Kin-
derpornografie getan werden kann. Allerdings, wer
Sperrungsmöglichkeiten für Provider im TMG implantie-
ren möchte, sollte vorher geprüft haben, ob und wie sol-
che Sperrungen technisch und rechtlich durchführbar
sind und ob dadurch auch nur ein einziges Kind geschützt
wird. Ebenso sollten Sie sich klarmachen, liebe Bundes-
regierung, was es bedeutet, solche Aufgaben dem BKA zu
überlassen: Damit würden wir uns in Richtung Polizei-
staat bewegen und würden die Provider, statt sie zu ent-
lasten, als dessen Komplizen installieren.
Mir bleibt der traurige Schluss: Die Bundesregierung
ist immer noch nicht im Internetzeitalter angekommen.
Das Telemediengesetz ist wieder einmal ein Beweis.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 17 a und b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolf
Bauer, Dr. Christian Ruck, Ingrid Fischbach, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe,
Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hunger und Armut in Entwicklungsländern
durch die Förderung von ländlicher Entwick-
lung nachhaltig bekämpfen
– Drucksache 16/11053 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Die Ursachen des Hungers beseitigen – Die
ländliche Entwicklung fördern
– Drucksache 16/11203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Wolf Bauer, Sascha Raabe, Marianne Schieder,
Karl Addicks, Hüseyin-Kenan Aydin, Thilo Hoppe.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
– Ja, bitte.
Tagesordnungspunkt 18:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie zu dem Antrag der Abge-
ordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel,
Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudamm-
projekt zurückziehen
– Drucksachen 16/9308, 16/9838 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Erich G. Fritz, Rolf Hempelmann, Gabriele
Groneberg, Gudrun Kopp, Hüseyin-Kenan Aydin und
Ute Koczy.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen von
Grünen und Die Linke angenommen. Die Fraktion der
FDP ist nicht mehr anwesend. Ich bitte, das im Protokoll
festzuhalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
– Drucksache 16/10571 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien
– Drucksache 16/11117 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Börnsen
1) Anlage 14
2) Anlage 15
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20849
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Markus Meckel
Hans-Joachim Otto
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katrin Göring-Eckardt
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Wolfgang Börnsen, Markus Meckel, Hans-
Joachim Otto, Lukrezia Jochimsen, Katrin Göring-
Eckardt und Staatsminister Bernd Neumann.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Alexander Bonde, Ulrike Höfken, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes zur
Gemeinschaftsaufgabe Entwicklung der länd-
lichen Räume ausbauen
– Drucksachen 16/5503, 16/9164 Nr. 2 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Gerhard Botz
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Marlene Mortler, Holger Ortel, Hans-Michael
Goldmann, Kirsten Tackmann, Cornelia Behm2).
2) Anlage 17
CDU/CSU: Wir sollten ins Protokoll aufneh-
men, dass die FDP wieder anwesend ist!)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz.
Der unter Nr. 1 der Beschlussempfehlung aufgeführte
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD soll
einer späteren Beschlussfassung vorbehalten werden.
Daher stimmen wir heute nur über Nr. 2 der Be-
schlussempfehlung ab. Der Ausschuss empfiehlt die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit dem bereits genannten Titel. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion
Die Linke gegen die Stimmen der Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl-
Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von
Klaeden, Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Andreas Weigel, Dr. Rolf Mützenich,
Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Konvention zum Verbot jeglicher Streumuni-
tion zügig ratifizieren und in internationales
Völkerrecht überführen
– Drucksache 16/11216 –
Folgende Redner haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Eduard Lintner, Andreas Weigel, Florian Toncar,
Inge Höger, Winfried Nachtwei.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
des übrigen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 und Zusatz-
punkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern
wirksam durchsetzen
– Drucksache 16/11192 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
3) Anlage 18
20850 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – Für
eine tatsächliche Chancengleichheit von
Frauen und Männern
– Drucksache 16/11175 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Folgende Redner haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Eva Möllring, Renate Gradistanac, Ina Lenke,
Kirsten Tackmann, Irmingard Schewe-Gerigk.
Frauen verdienen in Deutschland 23 Prozent weniger
als Männer. Diese Zahl ist schon oft genannt worden,
aber sie ist trotzdem immer wieder schockierend. Das
Problem ist nicht neu, und so manche Wissenschaftlerin,
Politikerin und Gewerkschafterin beißt sich seit Jahren
vergeblich die Zähne aus, um die Situation zu ändern.
Deutschland ist mit seiner Lohndifferenz so ziemlich am
Ende der europäischen Skala, aber im Grunde sieht es in-
ternational nicht viel besser aus. Denn was nützt es, wenn
der Lohnabstand in Malta zwar geringer ist, dafür aber
die Lohnhöhe mit unserer nicht mithalten kann? Was kön-
nen wir also als Gesetzgeber tun, um endlich frischen
Wind in diese Misere zu bringen?
Es ist nicht so, dass wir die Ursachen für die Lohn-
unterschiede nicht kennen würden. Vielmehr gibt es eine
Reihe von Studien, die weitgehend zu übereinstimmenden
Ergebnissen kommen. Ich möchte die wichtigsten Gründe
nennen: Wenn Frauen die gut bezahlten, erfolgverspre-
chenden Berufe wählen würden, wenn sie sich nicht um
ihre Familie kümmern, sondern sich auf ihre Karriere
konzentrieren würden, wenn Frauen hohe Gehälter und
Nebenzahlungen einfordern würden, wenn auf der ande-
ren Seite die Tarifparteien die Arbeit von Frauen und die
Arbeit von Männern gleich bewerten würden, wenn es
Chefsache wäre, Frauen in leitende Positionen zu brin-
gen, und wenn Betriebe und Arbeitsvermittlung Frauen
auch während Berufsunterbrechungen zielführend wei-
terbilden würden, dann würden Frauen sicherlich fast ge-
nauso viel verdienen wie Männer.
Aus der Analyse ergeben sich die Handlungsfelder.
Zwei Entwicklungen sprechen dafür, dass sich die Situa-
tion jetzt tatsächlich langsam verbessert. Viele junge
Frauen sind beruflich ehrgeiziger als ihre Mütter und
Großmütter. Sie werden in Zukunft durch das Elterngeld
und den Ausbau der Kinderbetreuung in dieser Einstel-
lung gut unterstützt. Die Betriebe spüren den Mangel an
Fachkräften, und zwar besonders die großen Unterneh-
men, wo schon heute 56,4 Prozent über einen Engpass
von technischen Fachkräften klagen, und selbst in den
mittelgroßen technischen Firmen sind es fast 40 Prozent.
Da zeigen sich wirklich eine Bewegung und großes Inte-
resse, Frauen für diese Berufe zu begeistern und in die
Verantwortung zu bringen.
Aber es geht nicht schnell genug. Vielleicht für die Ge-
neration, die heute am Beginn ihres Berufslebens steht,
aber nicht für die vielen Frauen, die heute schon am Ar-
beitsplatz sitzen, die schlechter bezahlt werden als andere
und die nicht die Stelle bekommen, die sie ausfüllen könn-
ten. Trotz der zunehmenden Anzahl von Gleichstellungs-
programmen am Arbeitsplatz klagen in Deutschland
45 Prozent der weiblichen Angestellten darüber, dass sie
trotz gleicher Qualifikation und Fähigkeiten ein geringe-
res Gehalt bekommen als ihre männlichen Kollegen. In
England und Spanien sind es nur 30 Prozent und in den
Niederlanden 28 Prozent. Gleichzeitig geben bei uns
40 Prozent der Frauen an, weniger Aufstiegschancen zu
haben als ihre männlichen Kollegen. Zwar sind es in Spa-
nien sogar 50 Prozent, aber in England sind es
24 Prozent und in den Niederlanden 20 Prozent. Deshalb
müssen wir jetzt für diese Frauen handeln. Ich glaube,
wir sind uns alle einig, dass die Politik für das Thema eine
Verantwortung trägt.
Ich nenne dazu sechs entscheidende Punkte. Wir müs-
sen uns dahinterklemmen, dass die Bundesregierung die
freiwillige Vereinbarung mit der Wirtschaft ausbaut und
die Ziele und Methoden, die schon drinstehen, konse-
quent umgesetzt werden. Dazu sollten wir einen Wettbe-
werb zwischen Firmen und Behörden installieren, wer die
meisten Frauen in Führungspositionen bringt. In den
Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmen be-
trägt der Anteil von Frauen 1,2 Prozent. Da müssen wirk-
lich noch Berge versetzt werden. Eine angemessene
Quote liegt in diesem Bereich in weiter Ferne, weil ja in
der Ebene darunter auch nicht viel mehr Frauen arbeiten
und wir ohne eine konsequente durchgängige Förderung
gar keine Frauen haben, die für diese höchste Ebene das
berufspraktische Wissen und die Erfahrung erlernt ha-
ben. Diese Förderung muss deshalb von den Spitzenver-
bänden der Wirtschaft und von der Bundesregierung auch
kontrolliert und konstruktiv begleitet werden. Die Tätig-
keitsbeschreibungen für die Tarifverträge müssen fair, ge-
recht und diskriminierungsfrei sein. Dazu sind die Tarif-
parteien schon aufgrund der EU-Richtlinien verpflichtet.
Wir brauchen deshalb keine weitere gesetzliche Auflage.
Es geht vor allem darum, dass sich die Regierung die Be-
schreibungen auch anschaut und geprüft wird, ob die Be-
schreibungen die Tätigkeiten von Frauen und Männern
korrekt bewerten. Das passiert bisher nur ansatzweise bei
den Tarifpartnern. Und wenn überhaupt Beschreibungen
erneuert werden, dann ist das ein jahrelanger Prozess.
Deshalb muss sich die Politik klar und unmissverständ-
lich dafür einsetzen.
Wir schlagen vor, einen freiwilligen Lohntest zu ent-
werfen und einzuführen, wie er in der Schweiz seit 2001
mit viel Erfolg angeboten wird.
Es muss mehr zielführende Weiterbildung durch Be-
triebe – gerade in den Zeiten der Berufsunterbrechung –
angeboten werden, und die Mütter und Väter müssen da-
für eine ausreichende finanzielle Unterstützung erhalten.
Haushaltskräfte sind unentbehrliche Hilfen, wenn man
mit Familie im Beruf erfolgreich sein will. Es gibt keinen
Grund, dass betriebliche Mitarbeiter steuerlich besser
abgesetzt werden als die Mitarbeiter, die zwischenzeitlich
die Arbeit im Haus erledigen.
Die Länder müssen die naturwissenschaftliche Bil-
dung von Mädchen konsequent fördern, damit sie aus der
(C)
(D)
Dr. Eva Möllring
gesellschaftlichen Rollenerwartung heraustreten und
ihre Interessen und Fähigkeiten optimal entfalten können.
Diese Punkte haben sich aus zahlreichen Fachgesprä-
chen ergeben, die ich seit Beginn der Legislaturperiode
geführt habe. Die CDU/CSU-Fraktion hat daraufhin ge-
meinsam mit der SPD zu diesen Punkten bereits am
7. März 2007 einen Antrag eingebracht. Wir werden die-
sen Antrag in Kürze konkretisieren.
Noch ein Wort zum Mindestlohn, den ja die Linke als
Königsweg zur Bekämpfung des Lohngefälles heute wie-
der proklamiert. Gerade im Niedriglohnbereich sind die
Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern äu-
ßerst gering. Trotzdem ist es natürlich wünschenswert,
dass Frauen und Männer, die in diesen Berufen arbeiten,
mehr Lohn für ihre Arbeit erhalten. Mit einem flächende-
ckenden Mindestlohn von 8,71 Euro würden wir aller-
dings nach verschiedenen Berechnungen zwischen
160 000 und 600 000 Stellen in den unteren Lohnberei-
chen aufs Spiel setzen. Ich habe dazu in einer Besucher-
gruppe ein sehr bewegendes Erlebnis gehabt. Da hat sich
ein Schüler gemeldet und mich inständig gebeten, gegen
einen Mindestlohn zu votieren, weil seine Mutter als Fri-
seurin arbeitet und sonst ihre Stelle verlieren würde. Des-
halb müssen wir sehr aufpassen, dass wir den Menschen
hier nicht Steine statt Brot geben.
An dieser Stelle sollten wir auch die Erfahrungen in
unseren Nachbarländern einbeziehen. In Frankreich
wurde 1950 ein Mindestlohn eingeführt. Inzwischen wer-
den 15,6 Prozent der Arbeitnehmer zu diesem Mindest-
lohn beschäftigt. Man spricht bereits seit Jahren von
einer Niedriglohnfalle und versucht, diese wieder zu lö-
sen – ohne Erfolg. Stattdessen hat sich der Anteil der Ar-
beitnehmer, die Niedriglohn beziehen, in den zehn Jahren
seit 1994 nochmals verdoppelt. So stellt man keine Ent-
geltgleichheit zwischen den Geschlechtern her. Das kann
nicht die Lösung des Problems sein.
90 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts sind
Frauen in den Parlamenten immer noch unterrepräsen-
tiert. Unterrepräsentiert sind Frauen aber nicht nur in
der Politik. 50 Jahre nach Inkrafttreten des Gleich-
berechtigungsgesetzes gibt es für eine tatsächliche
Gleichberechtigung auf allen Ebenen noch viel zu tun.
Frauen sind heute gut ausgebildet, ihr Anteil unter den
Studierenden ist deutlich angestiegen, und die Abschlüsse
von Frauen sind nicht selten besser als die von Männern.
Aber auch bei guten Startchancen im Beruf ist es für
Frauen nach wie vor wesentlich schwieriger, bei gleicher
Tätigkeit auch die gleiche Bezahlung wie ihre männlichen
Kollegen zu erhalten oder in Führungspositionen aufzu-
steigen. Frauen sind häufiger als Männer von Arbeitslo-
sigkeit und Altersarmut betroffen.
Die höheren Männerverdienste können schon lange
nicht mehr mit besseren Qualifikationen erklärt werden.
Führungspositionen werden vornehmlich von Männern
wahrgenommen, obwohl keine großen Unterschiede beim
Bildungsabschluss festzustellen sind. Nach einer Studie
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung lassen
Zu Protokoll
sich nur 38 Prozent der Lohndifferenz unter vollbeschäf-
tigten Frauen und Männern durch Ursachen wie Teilzeit-
arbeit, Kinder, Berufserfahrung oder den sinkenden
Frauenanteil bei steigenden Hierarchiestufen erklären.
Die restlichen 62 Prozent können rational nicht erklärt
werden. Ursachen hierfür sind nach Ansicht der Forsche-
rinnen unter anderem institutionelle und kulturelle Rah-
menbedingungen, die sich diskriminierend auswirken.
Dass die Verbesserung der Rahmenbedingungen auf dem
Arbeitsmarkt auch Aufgabe der Politik ist, spiegelt sich in
den beiden Anträgen der Linken und der FDP wider, über
die wir heute diskutieren.
EU-Kommissar Spidla hat das europäische Lohnge-
fälle zwischen Männern und Frauen gerade eben erst er-
neut kritisiert. Ich zitiere: „Eine Differenz von 15 Prozent
ist inakzeptabel, besonders wenn man bedenkt, dass
60 Prozent der neu geschaffenen Stellen von Frauen be-
setzt werden.“ Das Statistische Bundesamt hat den Ver-
dienstabstand für das Jahr 2006 erstmals auf einer erwei-
terten Datenbasis erhoben. Der Bruttostundenverdienst
von Frauen lag sowohl im Jahr 2006 als auch im Jahr
2007 um 23 Prozent unter dem der Männer. Das deutsche
Lohngefälle zwischen Männern und Frauen ist erst recht
inakzeptabel.
Differenziert man den Verdienstabstand nach unter-
schiedlichen Branchen, so zeigt sich, dass es keinen Wirt-
schaftszweig gibt, in dem Frauen mehr verdienen als
Männer. Der Verdienstabstand variiert je nach Wirt-
schaftszweig erheblich. Am größten ist er mit 30 Prozent
im Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen und
beim Kredit- und Versicherungsgewerbe mit 29 Prozent.
Auch bei der Berufswahl gibt es erhebliche Unter-
schiede zwischen den Geschlechtern. Während gut be-
zahlte Berufe immer noch Männersache sind, arbeiten
Frauen überwiegend in schlecht bezahlten Berufen. So
sind 81,5 Prozent der Stellen als Geschäftsführer und Ge-
schäftsbereichsleiter in unserem Land mit Männern be-
setzt. Bei einem Bruttojahresverdienst von 91 180 Euro
beträgt der Frauenanteil in dieser Berufsgruppe gerade
einmal 18,5 Prozent. Der Bruttojahresverdienst von Fri-
seuren liegt bei 15 787 Euro, bei einem Frauenanteil von
90,8 Prozent und einem Männeranteil von nur
9,2 Prozent.
An geringsten ist der Verdienstabstand noch beim Ein-
stieg in das Berufsleben. Im Jahr 2006 lag er bei den
25- bis 29-Jährigen bei 8 Prozent. Bei den 35- bis 39-Jäh-
rigen springt der Verdienstabstand auf 21 Prozent. Am
größten ist er bei den 60-Jährigen mit 30 Prozent. Warum
der Verdienstabstand auf einmal um mehr als das 2,5-Fa-
che ansteigt, erklärt sich, wenn man das Alter von Frauen
bei der Geburt ihres ersten Kindes berücksichtigt. Dieses
liegt im Durchschnitt bei knapp 30 Jahren. Der Anschluss
an die Verdienstentwicklung der Männer wird also auch
durch Erwerbsunterbrechungen und Kindererziehungs-
zeiten verpasst.
Erziehungsbedingte Erwerbsunterbrechungen scha-
den aber nicht nur den Karrierechancen von Frauen.
Gravierend wirkt sich auch aus, dass eine Rückkehr in
den Beruf für viele Frauen einen Wechsel von der Voll-
zeit- in die Teilzeitbeschäftigung oder einen Minijob be-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20851
gegebene Reden
(C)
(D)
Renate Gradistanac
deutet. Während die Zahl der vollzeitbeschäftigten
Frauen mit zunehmendem Alter abnimmt, bleibt die Zahl
der vollzeitbeschäftigten Männer nahezu konstant.
Teilzeitbeschäftigung ist mit finanziellen Nachteilen
verbunden. So hat sich zwar bundesweit der Anteil be-
rufstätiger Frauen erhöht. Im Zeitraum von 2001 bis
2006 stieg er von 58,7 auf 61,5 Prozent und liegt damit
über dem europäischen Mittel. Umgerechnet auf Vollzeit-
stellen stagniert der Anteil aber mit 26,5 Prozent seit Jah-
ren und liegt unter dem EU-Durchschnitt von
48,8 Prozent. Die von Frauen insgesamt geleistete Wo-
chenarbeitszeit sank gleichzeitig von durchschnittlich
31,5 auf 30,2 Stunden. Im Europavergleich handelt es
sich um die zweitkürzesten Frauenarbeitszeiten nach den
Niederlanden. Ursächlich hierfür ist der starke Anstieg
der Beschäftigung von Frauen in Teilzeit- oder Minijobs.
Frauen bleiben somit finanziell von ihren Partnern ab-
hängig. Die traditionelle Rollenverteilung bleibt erhal-
ten, denn der Frauenverdienst hat nur den Charakter ei-
nes „Hinzuverdienstes“. Von einer gleichberechtigten
Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern sind wir
also noch immer weit entfernt. Dies zeigt sich auch darin,
dass die durchschnittliche Arbeitszeit von Müttern mit je-
dem Kind sinkt. Was ist aber mit den Ehemännern und Vä-
tern? Sie machen trotz oder, wie Studien belegen, gerade
weil sie Familie haben erfolgreich Karriere. Bei den
Männern ist es genau umgekehrt wie bei den Frauen: Je
mehr Kinder ein Mann hat, desto länger sind seine Ar-
beitszeiten.
In kaum einem anderen EU-Land sind traditionelle
Rollenbilder so zementiert wie in Deutschland. Dies be-
stätigt auch die größte Singlestudie Deutschlands. Sie
kommt aktuell zu dem Ergebnis, dass sich heterosexuelle
Männer eine intelligente Partnerin wünschen, die eigen-
ständig ist und mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren kann.
Karriereorientiert und gut verdienend soll sie aber nicht
sein. Nur jeder vierte Mann wünscht sich eine Frau, die
Erfolg im Berufsleben hat. Die Versorgung von Kindern
ist für die meisten Männer immer noch vorrangig Frau-
enarbeit.
Ich kann nur hoffen, dass das Elterngeld mit den Vä-
termonaten hier langfristig zu einer Veränderung tradi-
tioneller Rollenbilder und konservativer Einstellungen
führt. Solange aber die Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf vor allem als Problem der Mütter wahrgenommen
wird, ist der zügige Ausbau der Kinderbetreuung mit dem
von der SPD durchgesetzten Rechtsanspruch ab eins von
großer Bedeutung.
Unser Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz wirkt.
Zum ersten Mal hat eine Frau in Deutschland einen Pro-
zess bezüglich ihrer Nichtbeförderung anhand eines ma-
thematischen Gutachtens gewonnen. Der statistische
Nachweis für die Diskriminierung ist eigentlich ganz ein-
fach: Im Unternehmen liegt der Frauenanteil bei
85 Prozent. Es gibt keine Frau in der obersten Führungs-
ebene. Die Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass dies
aus reinem Zufall so ist, liegt unter 1 Prozent. Wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten freuen uns sehr
über dieses Urteil. Es ist ein wegweisender Schritt in die
Zu Protokoll
richtige Richtung. Es ist wünschenswert, dass mehr
Frauen diesen Schritt wagen.
Vor kurzem hat das Europäische Parlament die Kom-
mission aufgefordert, konkrete Vorschläge zur Überwin-
dung des Lohngefälles vorzulegen. Kritisiert wurde, dass
das Ziel der Entgeltgleichheit von den meisten Mitglied-
staaten nicht energisch genug verfolgt werde. Wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten teilen diese Mei-
nung. Wir fordern deshalb mehr Transparenz bei den
Löhnen und Gehältern. Das Lohntestmodell der Schweiz
kann als Grundlage für die Entwicklung eines Lohntests
in Deutschland dienen. Hier ist die Bundesregierung ge-
fordert. Wir wollen ein diskriminierungsfreies Steuer-
recht. Das Ehegattensplitting und die Steuerklassen müs-
sen umgestaltet werden, denn sie befördern traditionelle
Rollenbilder. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten fordern die Einführung flächendeckender Min-
destlöhne. Vor allem für Frauen bringt das Vorteile. Denn
viele von ihnen arbeiten heute noch zu Niedriglöhnen.
Dem würde ein Mindestlohn einen Riegel vorschieben.
Wir brauchen ein Gesetz zur Gleichstellung in der Privat-
wirtschaft, denn die freiwillige Vereinbarung zwischen
Wirtschaft und Bundesregierung ist nicht einmal halbher-
zig umgesetzt worden. Norwegen mit seiner quotierten
Besetzung von Aufsichtsratsposten mit Frauen zeigt uns,
wie man Führungspositionen konsequent mit Frauen be-
setzen kann – wenn man es ernsthaft will.
Gleiche und gleichwertige Arbeit muss endlich gleich
bezahlt werden, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU-Fraktion. Sorgen sie dafür, dass wir nach langer
Diskussion endlich auch einen gemeinsamen Antrag in
den Bundestag einbringen können! Lassen Sie ihre Be-
richterstatterin und ihren frauenpolitischen Sprecher
nicht im Regen stehen, die am 30. Mai 2008 in einer Pres-
semitteilung verkündet haben – ich zitiere –: „Endlich
werden erste Schritte erkennbar, um die gravierenden
Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern zu be-
kämpfen. Der rechtlichen Gleichstellung von Frauen im
Berufsleben muss die tatsächliche Gleichstellung bei Ent-
gelt und Aufstiegschancen folgen.“ Lassen Sie Worten
endlich Taten folgen!
Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit ei-
nem Entgeltunterschied zwischen Männern und Frauen
auf dem viertletzten Platz. Gerade in Berufen, in denen
Frauen überproportional vertreten sind, zum Beispiel bei
haushaltsnahen Dienstleistungen und im Gesundheitswe-
sen, ist der Abstand der Gehälter besonders groß. Fak-
toren, die das Lohngefälle stark beeinflussen, sind
Bildungsstand, Branchenzugehörigkeit, Alter der er-
werbstätigen Frauen, das Verhältnis von Vollzeit zu Teil-
zeit sowie die immer noch verbreitete öffentliche Mei-
nung, dass die Kindererziehung und -betreuung
Hauptaufgabe von Frauen sei.
Gerade bei alleinerziehenden Frauen ist die Arbeitslo-
sigkeit immer noch zu hoch. Das wird sich hoffentlich än-
dern, wenn auch in den alten Bundesländern Betreuung
zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr von Kommu-
nen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und endlich auch zu
20852 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Ina Lenke
gleichen Bedingungen von privatwirtschaftlichen Trä-
gern bereitgestellt wird.
Im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen – ge-
rade in Privathaushalten – ist Schwarzarbeit auf beiden
Seiten zu finden: bei den Arbeitgeberinnen und denen, die
diese Arbeit ausführen, und das sind auf beiden Seiten in
der Mehrzahl Frauen. Hier ist politische Aufklärungsar-
beit zu leisten: Keine Altersversorgung ohne Rentenver-
sicherungsbeiträge und mangelnde Absicherung bei Un-
fällen sind unter anderem die negativen Folgen.
In Deutschland ist die Erwerbstätigenquote weiter an-
gestiegen, die weibliche Teilzeitquote aber auch. Im öf-
fentlichen Dienst hat die starke politische Unterstützung
der Teilzeit, die doch gerade Männer zu mehr Teilzeit für
Familienarbeit animieren sollte, zum gegenteiligen Effekt
geführt: Die Teilzeitquote der Frauen im öffentlichen
Dienst hat sich erhöht! Hier wird deutlich, dass gut ge-
meint nicht gleich gut gemacht ist.
Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände sieht
die Lohnungleichheit in der häufigen Berufsunterbre-
chung von Frauen wegen familiärer Verpflichtungen. Das
ist interessant. Denn das europäische Förderprogramm
für mehr Betreuungsplätze in Betriebskitas ist von der
Wirtschaft nicht angenommen worden. Das ist meines Er-
achtens ein Versäumnis der Wirtschaftsverbände, die si-
cher im Vorfeld die Chance hatten, ein praktikables,
nachhaltiges Konzept mit in dieses Förderprogramm ein-
zubringen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „Millionen, die
keiner will.“ 150 Millionen Euro sind im Fördertopf.
15 000 Betreuungsplätze können mit diesem Geld
geschaffen werden. Aber nur 13 Unternehmen erhielten
bisher staatliche Mittel. Über tausend Firmen haben sich
danach erkundigt, aber nur 13 Unternehmen nutzten das
Förderprogramm. Bislang haben die Arbeitgeber und
Arbeitgeberinnen aus nicht bekannten Gründen die
Chance nicht ergriffen, ihr Unternehmen mit einer
Betriebskita familienfreundlicher zu gestalten. Hier hät-
ten Frauen die familienbedingte Lücke, die von den
Unternehmerverbänden so bedauert wird, schließen kön-
nen.
Die FDP fordert in ihrem Antrag die Bundesregierung
unter anderem auf, das Elterngeldgesetz zu überprüfen,
um gemeinsame Teilzeit-Elternzeit 14 Monate zuzulas-
sen, mit der Wirtschaft Modelle für den familienfreundli-
cheren Arbeitsalltag zu erarbeiten, mit den Sozialpart-
nern in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst sich für
eine Verdienststrukturerhebung und Überprüfung von
Stellenbeschreibungen ein- und dies dann auch umzuset-
zen. Es müssen endlich Verfahren der Arbeitsbewertung
mit Blick auf die Auswirkungen auf Entgeltgleichheit
überprüft werden. Vorhandene Studien zur Entgeltgleich-
heit sollen ausgewertet, die Ergebnisse zusammengeführt
und die Ursachen der Lohnungleichheit erfasst werden,
um breite Analysestrategien zur Beseitigung der Lohn-
ungleichheit zu ermitteln. Dazu erhalten Sie von der FDP
Unterstützung.
Zu Protokoll
Bereits 1957 hat sich die Bundesrepublik mit dem EG-
Vertrag verpflichtet, die Anwendung des Grundsatzes des
gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher
oder gleichwertiger Arbeit sicherzustellen. Diese rechtli-
che Garantie in Deutschland steht noch immer und sogar
wieder zunehmend einer Realität gegenüber, die durch
eine extreme Lohndiskriminierung von Frauen geprägt
ist. Der Bruttostundenverdienst von Frauen lag nach den
Ergebnissen der Verdienststrukturerhebung 2006 um
24 Prozent unter dem der Männer. In ländlichen Räumen
bekommen Frauen laut einer aktuellen Studie des Deut-
schen Instituts für Wirtschaftsforschung sogar bei glei-
cher Qualifikation 33 Prozent weniger Lohn als Männer.
Es ist aber nicht so, dass wir über dieses Phänomen zu
wenig wüssten. Analysen zur Situation und zu Ursachen
der Entgeltdiskriminierung liegen vor. Auch neue diskri-
minierungsfreie Arbeitsbewertungssysteme wurden und
werden entwickelt. Aber diese Erfahrungen finden in
Deutschland kaum Anwendung. Es ist wie leider so oft: In
der grundsätzlichen Bewertung sind sich alle einig, wenn
vielleicht auch nur scheinbar, doch es unterscheiden sich
die politischen Antworten auf die eigentlich wichtige
Frage: Welche Wege sind wir bereit zu gehen, um die Ent-
geltgleichheit durchzusetzen?
Die Bundesregierung hat mit dem am 29. Oktober
2008 beschlossenen Fortschrittsbericht 2008 zur Natio-
nalen Nachhaltigkeitsstrategie ihr Ziel bekräftigt, den
Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern bis
2010 auf 15 Prozent und bis 2015 auf 10 Prozent zu redu-
zieren. Wer will dagegen auch was sagen? Aber konkrete
Maßnahmen zum Erreichen dieses Ziels werden im Be-
richt nicht genannt. Mit Absichtserklärungen allein kom-
men wir aber nachweislich nicht weiter. In der Realität
spitzt sich die Situation durch politische Entscheidungen
der vergangenen Jahre nämlich noch zu. Nur ein Bei-
spiel: Der von den Bundesregierungen im vergangenen
Jahrzehnt massiv ausgebaute und geförderte Niedrig-
lohnsektor ist überwiegend weiblich und hat dadurch die
Entgeltungleichheit zwischen den Geschlechtern ver-
stärkt. Korrigieren können wir als Gesetzgeber diesen Ef-
fekt, zum Beispiel mit einem flächendeckenden, gesetzli-
chen Mindestlohn von 8,71 Euro pro Stunde, der zügig auf
10 Euro angehoben wird.
Doch das alleine wird nicht reichen. Besonders wich-
tig sind uns zwei weitere Punkte zur Verringerung mittel-
barer Diskriminierungen. Die individuellen und kollekti-
ven Klagemöglichkeiten müssen verbessert werden. Die
Tarifpartnerinnen und -partner müssen gesetzlich zu dis-
kriminierungsfreier Entgeltbewertung verpflichtet wer-
den. Denn Entgeltgleichheit kann selbst in Tarifverträgen
in Deutschland zurzeit nur auf zwei Wegen durchgesetzt
werden: durch Klagen der Betroffenen im Einzelfall und
durch Tarifpolitik. Individualklagen einzelner diskrimi-
nierter Personen sind nicht imstande, den Grundsatz der
Entgeltgleichheit flächendeckend durchzusetzen. Es be-
stehen hohe Zugangsbarrieren und Risiken bei der recht-
zeitigen Inanspruchnahme von gesetzlich garantierten
Rechten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20853
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Kirsten Tackmann
Zum Klagerecht: Aufgrund des ausschließlich indivi-
duell bestehenden Klagerechts gelingt es derzeit nur ein-
zelnen Frauen und auch nur ausnahmsweise, diskriminie-
rende Entgeltsysteme oder Bewertungsverfahren durch
Klagen zu Fall zu bringen. Auf diesem Weg löst sich das
grundsätzliche Problem nicht. Das soll die kleinen Er-
folge von mutigen Frauen, die das individuelle Klage-
recht nutzen und diesen teils mit Mobbing begleiteten
Prozess auch durchstehen, überhaupt nicht schmälern.
Im Gegenteil: So gab es in dieser Woche ein sehr bemer-
kenswertes gerichtliches Urteil. Das Landesarbeitsge-
richt in Berlin hat zum Beweis der Diskriminierung einer
Frau am Arbeitsplatz erstmalig in Deutschland einen sta-
tistischen Beweis zugelassen. Das heißt, die hohe Wahr-
scheinlichkeit einer Diskriminierung wurde als ausrei-
chender Beweis zugelassen. Und zusätzlich wurde die
Klägerin aufgrund von Mobbing entschädigt. Dies ist ein
ermutigendes und deutliches Zeichen an alle Frauen, sich
gegen Diskriminierungen zur Wehr zu setzen. Derzeit
wird der Rechtsweg viel zu selten beschritten, weil es
Frauen zum Beispiel unnötig schwer gemacht wird, die
Einleitung eines Verfahrens wegen Diskriminierung zu
begründen, da sie jegliche Fakten und Sachverhalte voll-
ständig beibringen müssen, die ihre Klage unterstützen.
Zu den Tarifverträgen: Wir schlagen proaktive Verfah-
ren vor, die in einem eigenen Gesetz zur Durchsetzung der
Entgeltgleichheit in Kollektivverträgen geregelt werden
sollten. Dies gilt dann als Leitfaden für die Privatwirt-
schaft und den öffentlichen Dienst zur Durchsetzung des
Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher und
gleichwertiger Arbeit. Zweitens schlagen wir vor, den Ta-
rifpartnern starke und unabhängige Institutionen mit ei-
genen Beratungs- und Untersuchungskompetenzen zur
Seite zu stellen.
Es ist unser aller Aufgabe, endlich den Weg zur Ent-
geltgleichheit konsequent zu gehen. Ohne diese notwen-
digen politischen Maßnahmen und proaktiver Gesetzes-
regelung werden wir den gesellschaftlichen Skandal der
Lohndiskriminierung von Frauen nicht beenden. Übri-
gens, Gleichstellungspolitik ist eine Querschnittsauf-
gabe. Sie darf weder der Familienpolitik untergeordnet
noch auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf redu-
ziert werden. Frauen wollen und haben das Recht auf fair
bezahlte und sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gungsverhältnisse. Sie brauchen sie zur Sicherung ihrer
Existenz und zum Aufbau einer eigenständigen Altersver-
sorgung. Darum hat die Linke einen eigenen Antrag ein-
gebracht.
Das Statistische Bundesamt hat uns im November die
Zahlen vorgelegt: In Deutschland besteht zwischen
Frauen und Männern ein durchschnittlicher Lohnunter-
schied von 23 Prozent. Dass die Differenz nicht noch hö-
her ausfällt, haben wir den neuen Ländern zu verdanken,
denn da liegt der Verdienstabstand lediglich bei 6 Pro-
zent. Dass sich an diesem Zustand seit Jahren nichts än-
dert, ist ein Skandal.
Zu Protokoll
Bereits im April dieses Jahres haben wir Grünen einen
Antrag vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass wir uns mit
dem Stillstand der Gleichberechtigung beim Lohn nicht
zufrieden geben. Wir haben im Ausschuss eine Anhörung
zu unserem Antrag beantragt, die Ende Januar 2009
stattfinden wird. Nun haben auch Linke und FDP in die-
ser Woche ihre Anträge formuliert.
Beim Antrag der Linken gibt es hinsichtlich unserer
Forderungen eine Reihe von Übereinstimmungen. Auch
wir Grünen sehen in der Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns eine Möglichkeit zur Verringerung des
Lohngefälles zwischen Frauen und Männern, auch wenn
wir mit dem von Ihnen genannten Betrag nicht überein-
stimmen. Immerhin würde jede vierte Frau davon profi-
tieren. Während Frauen derzeit nur 35 Prozent aller Voll-
zeitbeschäftigten ausmachen, stellen sie fast 60 Prozent
der vollzeitbeschäftigten Geringverdiener. Aktuelle Stu-
dien zeigen, dass vor allem Frauen der Aufstieg in besser
bezahlte Tätigkeiten selten gelingt.
Die Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung ver-
stärkt die Probleme bei der Entgeltgleichheit. Minijobs
sind nicht existenzsichernd, können allenfalls als ein Zu-
verdienst gesehen werden. Darum müssen sie einge-
schränkt und langfristig abgeschafft werden. Wir Grüne
haben ein Progressivmodell entwickelt, das kleinere Ein-
kommen ohne Abstriche bei der sozialen Sicherung ent-
lastet und Anreize für mehr Jobs setzt.
Die Eingruppierungskriterien in die Tarifverträge
müssen auf direkte und vor allem indirekte Diskriminie-
rung hin geprüft werden. Hier sollte der öffentliche
Dienst eine Vorreiterrolle einnehmen. Wir stehen zur Ta-
rifautonomie, aber so kann es nicht weitergehen. Sowohl
Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften müssen diese
Aufgabe endlich ernst nehmen. Gleichstellung auf dem
Arbeitsmarkt kann nur durch die Mitarbeit aller Verant-
wortlichen erreicht werden.
Wir fordern die Einführung eines Verbandsklagerechts
für Vereinigungen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG und für
Verbände, die sich für die Gleichstellung der Geschlech-
ter einsetzen. Dies hätte zur Folge, dass die Arbeitnehme-
rinnen gegen kollektive Lohndiskriminierungen nicht im-
mer individuell klagen müssten.
Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
ist derzeit intransparent und nicht besonders effektiv. Wir
wollen auch, dass den schönen Worten endlich mehr Ta-
ten folgen. Doch eine Entkopplung vom Bundesministe-
rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend würde
nicht viel bringen. Vielmehr sind deutlich mehr finan-
zielle Mittel und ein engagierteres Auftreten für Diskrimi-
nierte erforderlich. Wir fordern ein Gutachten, das die
Ursachen direkter Diskriminierung aufgrund des Ge-
schlechts aufzeigt. Daran muss eine umfassende Kampa-
gne anschließen, die in den Unternehmen für diskriminie-
rungsfreie Entlohnung wirbt.
Gemeinsam mit den Tarifparteien wollen wir prüfen,
ob wir von der Schweiz lernen können. Wir müssen ja
nicht alles neu erfinden, sondern können bei guten Ideen
auch einmal bei den Nachbarn abschauen. Die Lohnstruk-
turerhebung des schweizerischen Bundesamtes für Statis-
20854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20855
(C)
(D)
Irmingard Schewe-Gerigk
tik könnte auch für uns ein sinnvolles Instrument zur Fest-
stellung von geschlechtspezifischen Lohnunterschieden
sein.
Lassen sich mich abschließend sagen: Auch die FDP
hat es geschafft, eine gute Analyse zur Entgeltdiskrimi-
nierung vorzunehmen. Aber dann traut sie sich wieder
nicht, diese Ergebnisse in Forderungen auch umzusetzen.
Ihre Appelle sind ja kaum ernst zu nehmen. „Vorhandene
Studien zur Entgeltgleichheit auswerten und zusammen-
zuführen“ – das ist ihre wichtigste Forderung, aber Sie
schaffen das doch sogar schon in ihrem Antrag nicht.
Wir haben genug Zahlen. Nun gilt es endlich zu han-
deln und der Lohndiskriminierung etwas entgegenzuset-
zen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 23 a und b:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Verabschiedunj Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Über-
einkommen der Vereinten Nationen vom
13. Dezember 2006 über die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen sowie zu dem Fakul-
tativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum
Übereinkommen der Vereinten Nationen über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen
– Drucksachen 16/10808, 16/11197 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 16/11234 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Beschlussfassung Ausschusses für Ar-
beit und Soziales zu dem Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin
Andreae, Marieluise Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Historische Chance des VN-Übereinkommens
über die Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen nutzen
– Drucksachen 16/10841, 16/11234 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie ein
Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.
Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind
zu Protokoll gegeben: Herbert Huppe, Karin Evers-
Meyer, Silvia Schmidt, Erwin Lotter, Ilja Seifert und
Markus Kurth.1)
Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst zu Ta-
gesordnungspunkt 23 a. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Nr. l seiner Beschlussempfeh-
lung, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen sowie zum Fakulta-
tivprotokoll zu diesem Übereinkommen anzunehmen.
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstim-
men. Wer stimmt für den Änderungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs-
antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-
gen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthal-
tung der FDP abgelehnt.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Er ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der FDP-
Fraktion angenommen.
Wir stimmen nun über die Entschließungsanträge
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ab.
Zunächst stimmen wir über den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP ab. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der FDP und der Linken bei
Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke? – Wer stimmt dagegen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen
abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23 b. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussemp-
fehlung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Historische Chance des VN-Überein-
kommens über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen nutzen“ abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Grünen und der Linken bei Enthaltung der FDP an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
derr Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
1) Anlage 19
20856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abge-
ordnetei und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Aktives Wahlalter bei Bundestagswahlen auf
16 Jahre absenken
– Drucksachen 16/6647, 16/10977 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer
Klaus Uwe Benneter
Christian Ahrendt
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen
sind zu Protokoll gegeben: Stephan Mayer, Klaus Uwe
Benneter, Gisela Piltz, Petra Pau und Kai Gehring.
Ohne jeden Zweifel handelt es sich beim Wahlrecht um
das wichtigste Teilhaberecht der Bürgerinnen und Bürger
in der demokratischen Verfassungsordnung. Es ist des-
halb richtig, wenn wir über Fragen des Wahlalters mit be-
sonderer Sorgfalt diskutieren. Bündnis 90/Die Grünen
haben weder in dem Antrag selbst noch in der parlamen-
tarischen Behandlung überzeugende Argumente für eine
Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf
16 Jahre liefern können. Die Anknüpfung des aktiven
Wahlalters für die Bundestagswahl an die Volljährigkeit
ist aus meiner Sicht richtig. Erst mit Volljährigkeit ist man
zivilrechtlich voll geschäftsfähig und damit für die Folgen
seines Tuns verantwortlich. Die Volljährigkeit ist damit
die entscheidende zeitliche Zäsur, wenn es darum geht,
dass Menschen für die Konsequenzen ihres Handelns die
Verantwortung übernehmen.
Unsere Rechtsordnung baut also auf dem Gleichklang
zwischen der Entscheidungsmacht und der Verantwort-
lichkeit des Einzelnen auf. Dieser Gleichklang ist aber
nicht nur im Zivilrecht überzeugend, sondern umso mehr
auch bei den Fragen, die das Gemeinwesen betreffen.
Das Wahlrecht ist nun aber das zentrale Recht der demo-
kratischen Teilhabe, gewissermaßen das zentrale „politi-
sche Grundrecht“ des Staatsbürgers in der Demokratie.
Wenn jemand schon im persönlichen, privaten Bereich
erst mit Volljährigkeit für die Folgen seines Handelns ein-
stehen muss, dann halte ich es für richtig, wenn dies auch
mit Blick auf die Folgen der Ausübung des zentralen de-
mokratischen Teilhaberechts gilt. Wahlen sind eben nicht
nur irgendein Randphänomen, sondern Kernbestandteil
der Demokratie. Der Wähler übernimmt durch seine
Wahlentscheidung unmittelbar Mitverantwortung für das
Gemeinwesen. Die Wahl als Kernbestandteil der Demo-
kratie setzt letztlich eine rationale Willensentscheidung
und damit auch eine hinreichende persönliche Reife vo-
raus. Wer das bestreitet, müsste den Anspruch der Staats-
form Demokratie infrage stellen, auf rationalen Willens-
entscheidungen zu beruhen.
Es ist deshalb richtig, wenn die mit der Ausübung des
Wahlrechts verbundene Verantwortung nicht zu einem
früheren Zeitpunkt einsetzt als die volle Verantwortlich-
keit im privatrechtlichen Bereich.
Ich habe auch nicht den Eindruck, dass Jugendliche in
ihrer überwältigenden oder auch nur in ihrer großen
Mehrheit darauf drängen, schon mit 16 Jahren an den
Wahlen zum Deutschen Bundestag teilnehmen zu wollen.
Die Meinungslage ist da viel differenzierter. Es gibt auch
sehr viele junge Menschen, die sich der hohen Verantwor-
tung, die mit der Ausübung des Wahlrechts verbunden ist,
sehr bewusst sind und aus diesem Grund mit der gelten-
den Altersgrenze einverstanden sind.
Wer die Absenkung des aktiven Wahlalters bei Bundes-
tagswahlen auf 16 Jahre fordert, muss sich fragen lassen,
mit welcher Begründung er nicht eine noch niedrigere Al-
tersgrenze festlegen will. Jede Abkopplung des aktiven
Wahlalters von der Volljährigkeit ist willkürlich. Warum
dann nicht die Grenze bei 14 oder bei 12 Jahren festle-
gen? Es gibt Stimmen, die sogar ein Wahlrecht von Ge-
burt an verleihen wollen. All diese Vorschläge sind „ge-
griffen“ und deshalb letztlich nicht überzeugend. Die mit
großem Abstand überzeugendste Lösung bleibt die An-
knüpfung an die Volljährigkeit.
Die Ansicht der Grünen, wonach junge Menschen
heute in einem wesentlich früheren Lebensalter erwach-
sen würden, als dies noch bei früheren Generationen der
Fall war, halte ich mitnichten für überzeugend. Dass
manche Jugendliche heute möglicherweise mehr als in
früheren Zeiten von ihren Eltern in familiäre Entschei-
dungsprozesse einbezogen werden, mag im Einzelfall so
sein. Auf der anderen Seite ist aber die Entwicklung zu be-
obachten, dass Menschen heute zu einem wesentlich spä-
teren Zeitpunkt ihre Ausbildung abschließen und eine
Familie gründen, als dies noch vorangegangene Genera-
tionen getan haben. Dies sind gerade aber die Fragen,
die für das Erwachsensein – im Sinne eines selbstverant-
wortlichen Lebens – von zentraler Bedeutung sind. Diese
Entwicklung spricht deshalb nach meiner Ansicht sogar
eher dafür, dass wichtige Bestandteile des Erwachsen-
seins heute bei vielen Menschen sogar erst in einem spä-
teren Lebensalter verwirklicht werden als noch bei vor-
angegangenen Generationen. Die bloße Behauptung der
Grünen, Jugendliche würden heutzutage früher erwach-
sen, bleibt deshalb eine Behauptung und kann als solche
für die Frage des Wahlalters keine Erkenntnisse liefern.
Es wird weiter darauf verwiesen, dass es auf kommu-
naler Ebene zum Teil niedrigere Wahlaltersgrenzen gibt.
Dieser Vergleich hinkt natürlich gewaltig, weil es auf
kommunaler Ebene um ganz andere politische Fragestel-
lungen geht und die Jugendlichen sich über die entspre-
chenden Sachverhalte selbst vor Ort unmittelbar infor-
mieren können. Persönlich halte ich aber auch auf
kommunaler Ebene eine Wahlaltersabsenkung aus den-
selben grundlegenden Überlegungen heraus nicht für die
sinnvollste Lösung. Vorbildcharakter für die Bundes-
ebene können derartige Modelle jedenfalls nicht haben.
Die Grünen behaupten, die Verleihung des Wahlrechts
würde das Interesse der Jugendlichen an politischen Zu-
sammenhängen stärken. Selbstverständlich gibt es viele
junge Menschen, die sich schon vor Volljährigkeit für po-
litische Themen interessieren. Auch in der Schule lernen
die Jugendlichen die Grundlagen unserer Rechts- und
Staatsordnung kennen und beschäftigen sich damit
(C)
(D)
Stephan Mayer
selbstverständlich auch mit politischen Zusammenhän-
gen. Das alles ist richtig und für die Bildung der eigenen
Urteilsfähigkeit der jungen Menschen von hoher Bedeu-
tung. Daraus ergibt sich aber kein überzeugendes Argu-
ment für eine abgesenkte Wahlaltersgrenze.
Natürlich müssen Anstrengungen unternommen wer-
den, um Politikverdrossenheit abzubauen und um junge
Menschen für politische Themen zu interessieren. Dafür
gibt es viele geeignete Wege und auch eine Reihe von gu-
ten Modellen wie beispielsweise Jugendbeiräte oder Ju-
gendparlamente auf kommunaler Ebene oder auch das
sogenannte Europäische Jugendparlament.
Aber auch der einzelne Politiker ist nach meiner Über-
zeugung hier in entscheidendem Maße gefordert. Gerade
wir als Abgeordnete sollten, wann immer es geht, den
Kontakt und das Gespräch mit jungen Menschen in den
Wahlkreisen und darüber hinaus suchen. Denn selbstver-
ständlich gibt es sehr viele Jugendliche, die sich für Po-
litik interessieren und politische Zusammenhänge auch
bewerten und diskutieren wollen. Wir als Abgeordnete
sollten den Jugendlichen im Gespräch so oft wie möglich
ein Forum für diese Diskussion geben. Das können wich-
tige Beiträge für die politische Bildung junger Menschen
in Deutschland sein.
Der Glaube, man könne junge Menschen nur oder im
Wesentlichen durch eine frühere Verleihung des aktiven
Wahlrechts für Politik interessieren, blendet diese ande-
ren vielfältigen Möglichkeiten aus. Wenn dieser Zusam-
menhang so einfach wäre, dann dürfte es im Übrigen ei-
gentlich keine Nichtwähler geben.
Es muss deshalb bei dem Satz bleiben: Wer Rechte ha-
ben will, muss auch Pflichten haben. Wer entscheiden
will, muss auch die Konsequenzen seiner Entscheidungen
tragen. Es ist deshalb überzeugend, wenn die Alters-
grenze für das aktive Wahlrecht bei Bundestagswahlen an
die Volljährigkeit geknüpft bleibt. Alles andere wäre letzt-
lich willkürlich und würde nach meiner festen Überzeu-
gung auch den jungen Menschen, um die es geht, keinen
Gefallen tun.
Wir diskutieren heute über ein Vorhaben, das schon
seit Jahren auf der politischen Agenda steht, anscheinend
aber nichts von seiner Aktualität verloren hat: die Absen-
kung des aktiven Wahlalters für Bundestagswahlen auf
16 Jahre.
Zunächst: Ich hege große Sympathie für die Motive der
Antragsteller, die mit ihrem Vorschlag zu mehr politischer
Partizipation von Jugendlichen beitragen wollen. Förde-
rung von politischer Teilhabe und Politikverständnis –
das sind zentrale Anliegen von uns Sozialdemokraten.
Ich sage aber heute ganz deutlich: Die Absenkung des
Wahlalters auf 16 Jahre ist der falsche Weg. So ehrenwert
das Anliegen auch ist – Symbolpolitik hilft uns hier nicht
weiter.
Im Zuge der mutigen Reformen Willy Brandts wurde
1970 das aktive Wahlrecht erstmals durch eine Grundge-
setzänderung von der Volljährigkeit abgekoppelt. Wählen
Zu Protokoll
konnte man nach dieser Änderung ab 18 Jahren, obwohl
man erst mit 21 Jahren volljährig war. Wenige Jahre spä-
ter wurde die Volljährigkeit auf 18 Jahre abgesenkt, so-
dass Volljährigkeit und Wahlrecht wieder zur gleichen
Zeit begannen. Ein junger Mann sollte zum Dienst in den
Streitkräften verpflichtet werden können, reif genug sein,
sein Leben für Deutschland einzusetzen, aber nicht wäh-
len dürfen? Dies war damals ein unhaltbarer Zustand.
Schon vor Monaten habe ich in meiner Rede anlässlich
der ersten Lesung hier gesagt: Mein Eindruck ist, dass
die heutige Regelung für das Wahlalter bei Bundestags-
wahlen von der ganz überwiegenden Mehrheit in der Be-
völkerung und auch von der ganz überwiegenden Mehr-
heit in der betroffenen Altersgruppe als angemessen und
richtig betrachtet wird. An mich ist jedenfalls noch kein
16-Jähriger herangetreten, der das Wahlrecht bei Bun-
destagswahlen für sich gewünscht hätte. Die Logik, dass
mit Volljährigkeit und Wehrpflicht auch das Wahlrecht
beginnt, überzeugt offenbar die Menschen. Jede Absen-
kung hätte deshalb nach meiner Meinung den Charakter
von Beliebigkeit und Willkür. Ich bleibe dabei: Mit 16 zu
wählen, aber keine Verträge allein verbindlich unter-
schreiben zu können: Das ist paradox.
Auch mit Generationengerechtigkeit hat dies alles
nichts zu tun. Warum ermöglicht man einen fairen Inte-
ressenausgleich zwischen Jung und Alt dadurch, dass ein
16-Jähriger statt eines 18-Jährigen wählen kann? Bei al-
lem Wohlwollen: Das leuchtet mir nicht ein.
Die Fakten sind uns allen bekannt: Deutschlands Be-
völkerung schrumpft. In gleichem Maße, wie immer we-
niger Menschen in unserem Land leben, nimmt auch der
Anteil der Jugendlichen in Deutschland ab.
Konrad Adenauer hat sich schwer geirrt, als er sagte:
„Kinder bekommen die Leute doch von alleine.“ Wir wis-
sen heute: Jede Generation ist immer wieder aufs Neue
gefragt, Antworten auf die Herausforderungen einer sich
wandelnden Arbeits- und Lebenswelt zu finden, damit das
Kinderkriegen kein Armutsrisiko ist und Kindsein keine
Zeit verlorener Chancen.
Willy Brandt hat unter gänzlich anderen Voraussetzun-
gen mit seinem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ der
noch jungen Bundesrepublik und seiner Regierungspoli-
tik eine kraftvolle Idee vorangestellt. Auch die Große Ko-
alition hat neue Antworten gefunden: mit der Einführung
des Elterngeldes, dem Ausbau der Kinderbetreuungsein-
richtungen und der Ganztagsschulen oder dem erhöhten
Kinderfreibetrag, um nur einige wichtige Stichworte zu
nennen. Schon unter der sozialdemokratisch geführten
rot-grünen Bundesregierung spielte zudem der Kampf ge-
gen den Rechtsextremismus eine zentrale Rolle: Es ist
und bleibt Aufgabe der gesamten demokratischen Gesell-
schaft und all ihrer Institutionen, dafür zu sorgen, dass
vor allem junge Menschen auch in für sie schwierigen
wirtschaftlichen Zeiten und in persönlich gefühlter sozia-
ler Unsicherheit nicht von verfassungsfeindlichen, men-
schenverachtenden und rassistischen Parolen beeinflusst
werden.
Lassen Sie uns also weiter an einer kinder-, jugend-
und familienfreundlicheren Gesellschaft arbeiten, mit In-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20857
gegebene Reden
(C)
(D)
Klaus Uwe Benneter
vestitionen in Schulen und Kindertagestätten, mit einer
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen,
für mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche, durch poli-
tische Bildung und einem durchlässigeren Schulsystem,
das mit dem Anspruch antritt, keinen jungen Menschen
auf der Strecke zu lassen.
Dies sind die Diskussionen, die wir gemeinsam führen
müssen. Dies sind die Antworten auf die Herausforderun-
gen unserer Zeit. Eine Absenkung des Wahlalters würde
den Blick auf diese wesentlichen Dinge nur verstellen.
Die Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich. Kritiker füh-
ren das auf unser Wahlsystem zurück, das sie als unver-
ständlich, intransparent und partizipationsfeindlich be-
zeichnen.
Vorschläge zur Verbesserung des Wahlsystems gibt es
viele. Bei den Vorschlägen orientiert man sich oft an an-
deren europäischen Ländern, wie zum Beispiel bei der
Forderung nach der Einführung eines Mehrheitswahl-
rechts, oder man schaut auf die Bundesländer und Kom-
munen. Daher kommt auch der Vorschlag, das Wahlalter
herabzusetzen; denn in vielen Kommunen gibt es bereits
ein aktives Kommunalwahlrecht ab 16 Jahren.
Die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre bei
Bundestagswahlen ist jedoch nicht zweckmäßig. Zwar be-
steht in diesem Alter bei Schülerinnen und Schülern ein
großes Interesse an Politik. Durch die Herabsetzung des
Wahlalters auf 16 Jahre bei Bundestagswahlen werden
die Politikverdrossenheit und das Desinteresse an der Po-
litik jedoch nicht beseitigt.
Die Senkung des Wahlalters ist auch in der Begrün-
dung nicht konsequent durchdacht. Sich an Entscheidun-
gen zu beteiligen heißt, auch die Konsequenzen für etwas
zu tragen und für die Folgen einzustehen. Konsequenzen
oder die volle Verantwortung werden in der Regel aber
erst mit der Volljährigkeit getragen. Erst dann kann man
alleine Kaufverträge abschließen oder für Schäden haf-
ten, ohne auf die Eltern zu verweisen.
Es ist richtig, dass auch Jugendliche in der Lage sind,
politische Zusammenhänge zu erfassen, zu durchschauen
und sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen.
Ebenso ist es richtig, dass es auch Erwachsene gibt, die
nicht alle politischen Zusammenhänge durchschauen.
Die Volljährigkeit ist aber Dreh- und Angelpunkt von
Rechten und Pflichten. Sie markiert den Zeitpunkt, wo ein
junger Mensch vollständig für sich Verantwortung über-
nimmt. Zu diesem Zeitpunkt ist man auch zivil- und straf-
rechtlich verantwortlich. Und auch das Wahlalter zum
Europäischen Parlament beträgt 18 Jahre. Volljährigkeit
und Wahlalter gehen Hand in Hand und gehören zusam-
men.
Um Jugendlichen politische Prozesse näherzubringen
und Politikverdrossenheit abzubauen, müssen andere, at-
traktivere Angebote gemacht und bestehende Angebote
verbessert werden. Alle Parteien verzeichnen einen Mit-
gliederschwund. Und trotz der Vielzahl an Jugendlichen,
die sich in Vereinen, in Verbänden oder bei Initiativen en-
gagieren, wäre eine noch höhere Beteiligung wünschens-
Zu Protokoll
wert. Die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten
auch auf Jugendliche ist ein richtiger Schritt. Wir Libe-
rale halten Jugendparlamente, die von den Schulen oder
der Stadt organisiert werden, für einen guten Weg, demo-
kratische Prozesse auch vor Erreichen der Volljährig-
keitsgrenze zu erlernen.
In Gesprächen mit Jugendlichen habe ich festgestellt,
dass nicht alle Jugendlichen von einer Senkung des Wahl-
alters begeistert sind. Wahlen sind nämlich Ausdruck der
politischen Verantwortung nicht nur für sich selbst, son-
dern vor allem für die Allgemeinheit. Gerade vor dieser
großen Verantwortung schrecken viele Jugendliche zu-
rück. Und es gibt nun einmal kein Wählen um des Wäh-
lens willen.
Die auf kommunaler Ebene teilweise abgesenkte
Wahlaltersgrenze kann für die Absenkung der Alters-
grenze bei Bundestagswahlen als Argument nicht herhal-
ten, da die Bundestagswahlen und die Kommunalwahlen
nur begrenzt vergleichbar sind.
Das aktive Wahlalter soll von bislang 18 Jahren auf
künftig 16 Jahre gesenkt werden. Das hat die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen beantragt. Die Linke stimmt dem
Anliegen grundsätzlich zu, auch wenn wir nicht alles aus
der Begründung des Antrages teilen.
Nun sind dieser Tage viele von uns unterwegs, um die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu würdigen,
die vor 60 Jahren beschlossen wurde. Ich empfehle da-
raus Art. 21 Abs. 1. Er gilt auch für 16-Jährige. Sie alle
können das mit ihrem Ja zu diesem Antrag bekräftigen.
Es ist uns ein zentrales demokratie- und jugendpoliti-
sches Anliegen, den 16- und 17-Jährigen das aktive Wahl-
recht bei Bundestagswahlen zu eröffnen. Mit der Mög-
lichkeit eines früheren Wählens könnten Jugendliche
endlich über die Zukunft unseres Landes, die auch ihre ei-
gene ist, mitentscheiden. Dafür sprechen aus unserer
Sicht insbesondere zwei Argumente: erstens die Auswir-
kungen der demografischen Entwicklung und zweitens
die vorhandene Urteilsfähigkeit der Jugendlichen.
Wer in einer älter werdenden Gesellschaft einen fairen
Interessenausgleich ermöglichen will, darf Jugendliche
nicht länger vom Wahlrecht ausschließen. Bereits im
übernächsten Jahr werden hierzulande erstmals weniger
Jugendliche unter 20 Jahren als ältere Menschen über
65 Jahre leben. 2050 werden es nur noch halb so viele
Jüngere wie Ältere sein. Junge Menschen werden somit
immer mehr zur gesellschaftlichen Minderheit. Warnrufe
vor einer „Rentner-Demokratie“ oder einem „Methusalem-
Komplott“ sind aus unserer Sicht zwar übertrieben und in
der Debatte um den demografischen Wandel eine unan-
gemessene Stimmungs- und Angstmache.
Andererseits darf die Zukunft der Jugendlichen bei ei-
ner völlig neuen Generationenschichtung in der Gesell-
schaft nicht auf der Strecke bleiben. Und deshalb ist es
notwendig, dass diese jungen Menschen demokratisch mit-
entscheiden können. Ihre Stimme muss Gewicht haben,
20858 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20859
(C)
(D)
Kai Gehring
um von Politik und Gesellschaft nicht weiter überhört zu
werden. Eine Missachtung von jüngeren Interessen zeigt
sich derzeit zum Beispiel in vielen schrumpfenden und al-
ternden Regionen, wenn dort an Angeboten und Infra-
strukturen der Kinder- und Jugendhilfe gespart wird.
Überprüfen Sie doch einmal selbstkritisch, ob wir den
Interessen junger Menschen bei unseren bundespoliti-
schen Entscheidungen stets gerecht werden. Es lassen
sich in allen Politikbereichen leider viel zu viele Beispiele
dafür finden, wo Generationengerechtigkeit verletzt statt
geschützt wird. Anstatt immer wieder Belastungen in die
Zukunft zu verschieben, müssen wir zu nachhaltigen und
generationengerechten Lösungen kommen.
Zur Frage der Urteilsfähigkeit: Sämtliche Studien der
Jugend- und Entwicklungsforschung belegen eindeutig,
dass 16- und 17-Jährige kompetent und entscheidungsfä-
hig genug sind, um an politischen Wahlen teilzunehmen.
Mit der Beteiligung Jugendlicher an Kommunalwahlen
wurden bislang überwiegend positive Erfahrungen ge-
sammelt – wieso sollte dies auf Landes- oder Bundes-
ebene anders sein? Hinzu kommt, dass Jugendliche zu-
nehmend selbstständig über ihren Lebensweg entscheiden,
vor allem über ihre persönliche Bildungsbiografie. Sie
sind zudem diejenige Generation mit der höchsten Enga-
gementbereitschaft: Viele übernehmen ehrenamtlich in
Initiativen, Vereinen und Verbänden Verantwortung, leis-
ten Freiwilligendienste oder setzen sich für Umwelt- und
Menschenrechtsfragen ein.
Der Redner der Union hat demgegenüber in der ersten
Lesung dieses Antrages mit „späteren Heiratswünschen“
zu begründen versucht, dass Jugendliche weniger verant-
wortungsbereit wären. Was muss eigentlich noch an an-
geblich „zwingenden Gründen“ herhalten, um Jugend-
lichen das Wahlrecht abzusprechen? Jugendliche sind
mündig statt unreif. Wir trauen ihnen etwas zu, anstatt ih-
nen zu misstrauen.
Bei der SPD, die eine Wahlaltersenkung in dieser Le-
gislaturperiode bisher zusammen mit Union und FDP ab-
gelehnt hat, zeichnet sich jüngst eine zum Teil offenere
und diskussionsbereite Haltung ab. Es wäre erfreulich,
wenn sich dies außer in blumigen Pressemitteilungen
auch bei konkreten Abstimmungen im Bundestag nieder-
schlagen würde. Schließlich haben Sie unsere Initiativen
zur Herabsetzung des Wahlalters bereits dreimal abge-
lehnt.
Die von uns geforderte Wahlaltersenkung auf 16 Jahre
begreifen wir als zentralen Baustein und Hebel einer
neuen Beteiligungskultur. Es ist deshalb unredlich, zu
versuchen, das Wahlalter gegen andere Formen der Par-
tizipation auszuspielen. Wir Grüne haben in einem
Antrag, der ebenfalls heute debattiert wird, ein Gesamt-
konzept für eine breitere und bessere Kinder- und Jugend-
beteiligung vorgelegt. Durch eine Beteiligungsoffensive
in Kindertagesstätten, Bildungs- und Jugendeinrichtun-
gen wollen wir erreichen, dass Demokratie früh gelernt,
erlebt und gelebt wird.
Wenn wir das Wahlalter absenken, ist das eine Chance,
unsere Demokratie insgesamt zu beleben. Wir gehen da-
von aus, dass infolge einer Wahlalterherabsetzung in El-
ternhaus, Freundeskreis und Schule eine frühere Ausein-
andersetzung mit Politik stattfände. Dies ist sicher kein
Selbstläufer. Daher muss die Erweiterung von Beteili-
gungsrechten einhergehen mit einer systematischen Auf-
wertung der politischen Bildung, wie wir sie ebenfalls
heute beantragt haben, und zu einem integralen Bestand-
teil unserer politischen Kultur werden.
Auch formaljuristische Vorbehalte gegen unseren Vor-
schlag können nicht überzeugen: Es ist nicht in Stein ge-
meißelt, das Wahlalter an die Volljährigkeit zu koppeln,
denn dies war auch bei der letzten Wahlaltersenkung von
21 auf 18 Jahre nicht der Fall. In Deutschland besteht ein
allgemeines und gleiches Wahlrecht, dessen Einschrän-
kungen begründungsbedürftig sind. Im Übrigen geht es
beim „Wahlalter 16“ um die Schaffung einer Wahlmög-
lichkeit – eine Wahlpflicht gibt es hierzulande schließlich
nicht.
Jugendliche brauchen weniger Bevormundung und
mehr demokratische Rechte, um eigenverantwortlich und
selbstwirksam ihre Zukunft mitgestalten zu können.
Nach unserem Vorschlag soll die Bundesregierung
unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Absenkung des ak-
tiven Wahlalters vorlegen. Lassen Sie uns heute die
parlamentarischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass
16- und 17-Jährige schon 2009 den Deutschen Bundestag
mitwählen können! Das wäre ein kleiner Schritt für den
Gesetzgeber, aber ein großer für unsere Demokratie.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
der Fraktion der Grünen abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grü-
nen und der Linken angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 25:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Zivildienstgesetzes und anderer
– Drucksache 16/10995 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen
sind zu Protokoll gegeben worden: Markus Grübel,
Sönke Rix, Ina Lenke, Elke Reinke und Kai Gehring.
Heute debattieren wir einen Gesetzentwurf, mit dem
wir das Erfolgsmodell Zivildienst fortentwickeln wollen.
Zudem möchten wir die jungen Menschen, die diesen
Dienst leisten, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und
beim Qualifikationserwerb unterstützen bzw. die fachli-
chen und persönlichen Kompetenzen der Zivildienstleis-
tenden weiter ausbauen und stärken.
(C)
(D)
Markus Grübel
Mein Dank gilt allen jungen Männern, die in den ver-
gangenen 47 Jahren einen Zivildienst absolviert haben
bzw. noch absolvieren. Erst vor kurzem konnte in meiner
Heimatregion Stuttgart der 2,5-millionste Zivildienstleis-
tende begrüßt werden. Ich finde, das ist eine beeindru-
ckende Zahl. Dass dies mit einer Feier und mit einer bun-
desweiten Berichterstattung verbunden wurde, ist zwar
selbstverständlich, zeigt aber auch, wie sich die Gesell-
schaft in fast 50 Jahren verändert hat. Galten Wehr-
dienstverweigerer in den 60er- und 70er-Jahren weithin
als Vaterlandsverräter und Drückeberger, so sind sie
heute gesellschaftlich voll anerkannt und respektiert.
Dass junge Männer heute nicht mehr geächtet, son-
dern geachtet werden, wenn sie sich für einen sozialen
Dienst entscheiden, hängt auch mit der demografischen
Entwicklung zusammen; denn die immer älter werdenden
Deutschen benötigen im Prinzip jede helfende Hand. Für
Familien mit kranken und pflegebedürftigen Angehöri-
gen sind die Zivildienstleistenden wertvolle Helfer und
eine wichtige Stütze. Ihre Arbeit ist hoch anerkannt und
aus vielen sozialen Einrichtungen kaum mehr wegzuden-
ken. So ist der Einsatz von Zivis beispielsweise in der Be-
treuung von Schwerstbehinderten, Erwachsenen wie Kin-
dern, kaum zu ersetzen.
Seit gut zwei Jahren können wir wieder einen Anstieg
der Einberufungen zum Zivildienst verzeichnen. Nach
83 000 Einberufungen im Jahr 2006 waren es letztes Jahr
schon 84 300 Einberufungen. In diesem Jahr wird mit
88 000 Einberufungen gerechnet. Aktuell leisten 73 457
Zivis ihren Dienst ab.
Der Zivildienst ist eindeutig ein Erfolgsmodell und für
jeden jungen Mann auch eine persönliche Bereicherung.
Zudem trägt der Zivildienst wesentlich zur Berufsfindung
und Berufsorientierung bei. Bei den Arbeitgebern sind
ehemalige Zivis besonders beliebt, da sie sich im Rahmen
ihrer Tätigkeit wertvolle Schlüsselqualifikationen wie
Teamfähigkeit, Belastbarkeit, Verantwortungsbewusst-
sein oder auch die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv aus-
zutragen, erworben haben.
Im Koalitionsvertrag vom November 2005 hat sich die
Große Koalition eindeutig zur allgemeinen Wehrpflicht
und damit auch zum Zivildienst bekannt. Aufgrund seiner
sozialpolitischen Bedeutung und aus jugendpolitischer
Sicht wurde der Zivildienst als unbedingt erhaltenswert
anerkannt. Zudem haben wir uns damals darauf verstän-
digt, den Zivildienst als Lerndienst weiterzuentwickeln.
Das bedeutet praxisbezogenes, staatsbürgerliches und
soziales Lernen sowie die Förderung der Persönlichkeits-
entwicklung der Zivildienstleistenden. Modellprojekte
gibt es hierzu bereits an den Zivildienstschulen und bei
den Wohlfahrtsverbänden.
Bereits in der letzten Legislaturperiode gab es eine in-
tensive Fachdiskussion zur Weiterentwicklung des Zivil-
dienstes. Ich erinnere an die Arbeitsgruppe „Impulse für
die Zivilgesellschaft“, deren Ergebnisse teilweise, wie
zum Beispiel die Angleichung der Dauer des Zivildienstes
an die Dauer des Grundwehrdienstes, noch in der 15. Le-
gislaturperiode umgesetzt werden konnten. Leider konn-
ten andere Ergebnisse des einstimmig verabschiedeten
und breit getragenen Abschlussberichts vom Januar 2004
Zu Protokoll
aus Zeitgründen nicht mehr realisiert werden. Zur Lösung
von Problemen, die sich aus der Verkürzung des Zivildiens-
tes auf neun Monate insbesondere bei der individuellen
Schwerstbehindertenbetreuung und der individuellen
Schwerstbehindertenbetreuung von Kindern ergeben
können, hat die Kommission empfohlen, die rechtlichen
Möglichkeiten einer freiwilligen Verlängerung des Zivil-
dienstes zu prüfen. Diese Prüfung ist zwischenzeitlich er-
folgt. Eine freiwillige Verlängerung des nur noch neun-
monatigen Zivildienstes entsprechend der freiwilligen
Verlängerung des Grundwehrdienstes wäre rechtlich zu-
lässig. Gleichwohl fehlen entsprechende Regelungen im
Gesetzentwurf der Bundesregierung. Weiterhin soll der
Zivildienst neun Monate dauern. Anerkannte Kriegs-
dienstverweigerer, die anstelle des Zivildienstes einen
Freiwilligendienst leisten, verpflichten sich demgegen-
über für mindestens zwölf Monate und bleiben in ihrem
Freiwilligenstatus weiterhin sozial abgesichert. Zivil-
dienstleistenden werden von den Dienststellen lediglich
„Verlängerungsmöglichkeiten“ in Form von Praktika,
Minijobs oder Ähnliches angeboten, die keine gleichwer-
tige soziale Absicherung wie der vorangegangene Zivil-
dienst bieten.
Im Vorfeld des Gesetzgebungsvorhabens haben wir mit
dem Koalitionspartner Gespräche zum Thema freiwillige
Verlängerung des Zivildienstes geführt. Aufgrund der ab-
lehnenden Haltung der SPD konnte dieses Vorhaben
nicht Teil des jetzigen Gesetzentwurfs werden, was ich
persönlich sehr bedaure. Hintergrund ist ein Vorschlag
des BMFSFJ von Beginn dieses Jahres, der jungen Zivil-
dienstleistenden die Möglichkeit bieten sollte, Zeiten zwi-
schen Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums
durch eine freiwillige Verlängerung des Zivildienstes um
höchstens sechs Monate sinnvoll zu nutzen. Außerdem
war der Vorschlag Teil der Bemühungen, den Zivildienst
schrittweise als Lerndienst auszubauen. Eine verlängerte
Dienstzeit sollte dem Zivildienstleistenden die Möglich-
keit bieten, Fortbildungsangebote in Anspruch zu neh-
men, um sich vermehrt Qualifikationen für das spätere
Berufsleben anzueignen. Die Verbände und die Betroffe-
nen selbst begrüßten den Vorschlag. Da die SPD von ih-
rer ablehnenden Haltung nicht abzubringen war, musste
auf einen entsprechenden Passus im Gesetzentwurf ver-
zichtet werden. Bleibt zu hoffen, dass die Anhörung am
15. Dezember und das anstehende Gesetzgebungsverfah-
ren vielleicht doch noch die Möglichkeit bieten, das
Thema wieder aufzugreifen. Bekanntlich kommt ja kein
Gesetz so aus dem Bundestag raus, wie es reingeht. Und
dies ist bekanntlich auch kein Zitat eines Unionspoliti-
kers, sondern des SPD-Fraktionsvorsitzenden.
Unabhängig von dieser Debatte gibt es seit längerem
einen konstruktiven und ausführlichen Diskurs zur Wei-
terentwicklung des Zivildienstes als Lerndienst. So wur-
den unter Einbindung der Wohlfahrtsverbände in zahlrei-
chen Gesprächen mit den Spitzenverbänden der Freien
Wohlfahrtspflege, Zivildienstleistenden und Dienststellen
und mit der Durchführung von Fachkongressen im
Herbst 2007 die „Eckpunkte“ vorgelegt, auf denen der
jetzige Gesetzentwurf im Wesentlichen basiert. Zentrales
Ziel des Gesetzentwurfs ist es, den Zivildienst als Lern-
dienst weiterzuentwickeln. Dazu gehört der Erwerb von
20860 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Markus Grübel
Schlüsselqualifikationen im Dienst selbst sowie die wei-
tere qualitative Verbesserung von Lehrgängen.
Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass jeder
Zivildienstleistende ein obligatorisches qualifiziertes
Dienstzeugnis erhalten soll, welches den Inhalt des
Dienstes, Tätigkeit und Leistung des Dienstleistenden so-
wie die während des Zivildienstes erworbenen Kompeten-
zen für den weiteren beruflichen Lebensweg umfasst.
Schon heute kann ein qualifiziertes Dienstzeugnis auf An-
trag des Dienstleistenden von den Dienststellen ausgestellt
werden. Es hat sich als Grundlage für die Anerkennung
des Zivildienstes als berufliche Qualifikationsvorausset-
zung bewährt.
Alle Dienstleistenden werden in ihrer Dienstzeit für die
ihnen übertragenen Aufgaben qualifiziert und fortgebildet.
Die Einführungslehrgänge an den staatlichen Zivildienst-
schulen und den Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände
werden flexibler strukturiert und zu dienstbegleitenden Se-
minaren weiterentwickelt bzw. durch neue Seminarange-
bote ergänzt. Kürzere und terminlich variable Seminare,
mehr Wahlmöglichkeiten, eine bessere Verbindung von
Theorie und Praxis sowie ein Angebot zur Reflexion sind
vorab in einigen Modellprojekten erprobt worden und bei
allen Beteiligten auf große Zustimmung gestoßen. Dem-
entsprechend orientiert sich die Neustrukturierung an
den dort gemachten Erfahrungen. Bewährtes wie die
fachliche Schulung insbesondere im Bereich der Pflege
und Betreuung Hilfebedürftiger, in der rund zwei Drittel
der Zivildienstleistenden tätig sind, werden beibehalten.
Ebenso die Seminare zur politischen Bildung.
Zu Beginn des Dienstes wird der Zivildienstleistende
künftig in einem neu entwickelten eintägigen Seminar
über seine Rechte und Pflichten sowie über die ihm zuste-
henden Geld- und Sachbezüge informiert. Dieses Semi-
nar ist genauso obligatorisch wie das viertägige Seminar
zur politischen Bildung, das bisher eine Woche umfasst.
Ziel der Flexibilisierung ist es, durch eine vergrößerte
Wahlfreiheit bei Zeitpunkt und Inhalt der Veranstaltungen
den vermittelten Lehrstoff und die seminarbedingten Ab-
wesenheitszeiten besser in den Dienstalltag zu integrie-
ren und die Motivation der Seminarteilnehmer zu stärken.
In einem neu konzipierten einwöchigen Seminar zur För-
derung sozialer Kompetenzen sollen die im Dienstalltag
erworbenen Fähigkeiten identifiziert, reflektiert und gesi-
chert werden.
Eine zusätzliche einsatzbezogene fachliche Schulung
im Bereich der Pflege und Betreuung von hilfebedürftigen
Menschen sowie im Umwelt- und Naturschutzbereich
wird, insofern erforderlich, weiterhin gewährt. Die mehr-
wöchigen fachlichen Lehrgänge sollen ebenso wie die zi-
vildienstspezifischen Einführungslehrgänge in mehrere
selbstständige Module aufteilbar und zeitlich flexibel be-
legbar sein. Die Teilnahme an einem Seminar zur Förde-
rung sozialer Kompetenzen sowie einem Reflexionssemi-
nar wird fakultativ angeboten.
Neben der Neustrukturierung der Bildungsmaßnah-
men sieht der Gesetzentwurf eine neue Berichtspflicht
des Zivildienstbeauftragten – analog zum Bericht des
Wehrbeauftragten – vor. Der Tätigkeitsbericht soll regel-
mäßig über die Lage und die Entwicklungen im Zivil-
Zu Protokoll
dienst informieren. Damit wird auch eine regelmäßige
Evaluierung des Gesetzes gewährleistet. Zudem wird ge-
setzlich abgesichert, dass sich die Dienstleistenden zu-
künftig mit Anregungen und Beschwerden direkt an den
Zivildienstbeauftragten wenden können, ohne dienstliche
Nachteile befürchten zu müssen. Bislang wurde nicht be-
kannt, zu welchen Ergebnissen dies geführt hat, da es im
Gegensatz zum Bericht des Wehrbeauftragten keine Ver-
öffentlichungspflicht gibt.
Die Zivildienstnovelle ist auch ein Baustein zur Förde-
rung von bürgerschaftlichem Engagement. Im Gegensatz
zu den Freiwilligendiensten, wie den Freiwilligen Sozia-
len Jahr oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr, ist der
Zivildienst ein Wehrersatzdienst und damit ein Pflicht-
dienst. Dennoch gibt es zwischen den beiden Dienstarten
eine Menge von Berührungspunkten und Gemeinsamkei-
ten, die im Bericht der Kommission „Impulse der Zivilge-
sellschaft“ ausführlich dargestellt werden. Die zentrale
Forderung des Berichts wird nun mit der Novelle umge-
setzt: die Ausgestaltung des Zivildienstes als Lerndienst.
Wir gehen nun in die Beratung; in wenigen Tagen ha-
ben wir die Anhörung zum Dritten Zivildienstgesetzände-
rungsgesetz. Die Ergebnisse sollten wir im weiteren Ge-
setzgebungsprozess berücksichtigen. Lassen Sie uns im
Interesse aller Zivildienstleistenden über den Gesetzent-
wurf konstruktiv diskutieren! Vielleicht gelingt uns an der
einen oder anderen Stelle noch eine Nachjustierung. Ich
denke hier an die Problematik des § 14 c Zivildienstge-
setz und die freiwillige Verlängerung des Zivildienstes.
Bereits im Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/
CSU wurde im November 2005 festgelegt, dass der Zivil-
dienst zu einem Lerndienst ausgebaut werden soll.
Grundlage dieser Vereinbarung war das einvernehmliche
Verständnis, dass der Zivildienst schon seit jeher ein
Lerndienst ist, ihm aber die Legitimation, die rechtliche
Sicherheit und vor allem die spätere Nachweisbarkeit des
Gelernten durch den Zivildienstleistenden fehlt. Im No-
vember 2006 fand unter dem Titel „Zivildienst als
Chance“ ein Fachkongress statt, auf dem in Arbeitsgrup-
pen die Schwerpunkte eines Zivildienstes als Lerndienst
entwickelt wurden. Trotzdem verging wieder ein Jahr, bis
das Ministerium im November 2007 einen ersten Pla-
nungsentwurf für das Dritte Zivildienstgesetzänderungs-
gesetz vorgelegt hat. Mittlerweile gab es bis heute drei
Neufassungen des Gesetzentwurfes, der dann in den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung vom 20. November
2008 mündete. Sie sehen, der November ist für den Zivil-
dienst in den vergangenen Jahren immer ein entscheiden-
der Monat gewesen.
Der Lernteil des Zivildienstes wird aktuell durch den
Einweisungsdienst – in der Regel vier Wochen in der Ein-
satzstelle – und den Einführungsdienst, bestehend aus
zwei Lehrgängen, ausgefüllt. Die Formulierungen des
neuen § 25 a Zivildienstgesetz haben sich zum alten
§ 25 b Zivildienstgesetz nicht verändert. Ich würde mich
allerdings freuen, wenn es uns gelänge, noch ein Instru-
mentarium einzufügen, das sicherstellt, dass der Einwei-
sungsdienst von vier Wochen auch wirklich vollständig
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20861
gegebene Reden
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Sönke Rix
durchgeführt wird und der Zivildienstleistende nicht be-
reits ab der ersten Woche seinen Dienst auf sich selbst ge-
stellt versieht.
Die aktuelle Gesetzeslage sieht in dem § 25 a Zivil-
dienstgesetz keine verbindliche Festlegung vor, wie lange
die einzelnen Lehrgänge dauern. Dies wird in einem Rah-
menvertrag zwischen dem Bundesamt für den Zivildienst
und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohl-
fahrtspflege vereinbart. Derzeit sind es zehn Tage unter
Führung der BAGFW für den Fachteil und fünf Tage für
den politischen und rechtlichen Teil durch das Bundesamt
für den Zivildienst. Der Rahmenvertrag gilt allerdings
nur für die verbandlich zugehörigen Zivildienstleisten-
den. Die nichtverbandlichen Zivildienstleistenden erhal-
ten die beiden Dienste unter der Leitung des Bundesamtes
für den Zivildienst.
Die Anzahl der Bildungstage liegt nach Vorstellung
der SPD allerdings bei 20 Tagen und in den ersten Eck-
punkten des Familienministeriums nur bei 15 Tagen, was
keine Änderung zur aktuellen Gesetzeslage bedeutet. Die
20 Tage sind ein rechnerischer Wert, der sich auf die An-
zahl der Bildungstage beim Freiwilligendienst bezieht.
Die aktuelle Zahl der Bildungstage wird im Rahmenver-
trag festgelegt. Der vorliegende Gesetzentwurf legt der-
zeit 13 Tage verbindlich fest und stellt weitere fünf Tage in
die Entscheidung von Bundesamt und Dienststelle des Zi-
vildienstleistenden.
Leider hat sich in den vergangenen Jahren die Quote
derer, die eine fachliche Einweisung erhalten, stetig zu-
rückentwickelt – das aber sowohl bei den verbandlichen
wie bei den anderen Zivildienstleistenden.
Aber kein Zivildienstleistender sollte seinen Dienst
ohne einen Lernteil beenden. Auch das Bundesamt für
den Zivildienst hat in seinen ersten Eckpunkten diesem
Gedanken Rechnung getragen. Im vorliegenden Gesetz-
entwurf ist davon leider nichts mehr zu finden. Damit hat
nicht jeder Zivildienstleistende Anspruch auf einen Lern-
dienstanteil.
Für uns in der SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Wir
begrüßen einen rechtlichen Anspruch auf noch mehr
Qualifizierung, Reflexion und Fortbildung. Jeder Zivil-
dienstleistende kann diese Bestandteile des Lerndienstes
einfordern.
Ausdrücklich begrüßen wir, dass jetzt vorgesehen ist,
formale Qualifikationsnachweise für die Zivildienst-
leistenden auszustellen. Sie können für die berufliche
Zukunft der Zivildienstleistenden genutzt werden und die
erworbenen Fähigkeiten der jungen Männer bei zukünf-
tigen Arbeitgebern verdeutlichen.
Letztlich muss man bei aller Verbindlichkeit allerdings
auch feststellen, dass kein Zivildienstleistender wirklich
zum Lernen gezwungen werden kann. Trotzdem ist es
sinnvoll, an der Verbindlichkeit festzuhalten, weil bei den
Lehrgängen für den Zivildienst nützliches Wissen vermit-
telt wird. Worüber man diskutieren kann, ist die Verbind-
lichkeit der Reflexionsveranstaltungen. Hier wird sich
der Zivildienstleistende auch freiwillig melden, wenn er
einen Bedarf erkennt. Erkennt er keinen, braucht er auch
kein Zwangsreflektieren.
Zu Protokoll
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Weiterent-
wicklung des Zivildienstes zu einem formalen Lerndienst
– informell war er das natürlich schon immer – nicht nur
den jungen Männern zugutekommt. Auch die Gesellschaft
profitiert von den Qualifikationen, die die Zivildienstleis-
tenden während ihres Dienstes erwerben. Auch vor die-
sem Hintergrund ist die Weiterentwicklung wichtig und
richtig.
Ein Wort zum Schluss noch zu der sogenannten freiwil-
ligen Verlängerung, über die in der letzten Zeit in der
Fachwelt diskutiert wurde. Ich begrüße ausdrücklich,
dass diese angedachte Regelung nicht im Gesetzentwurf
erwähnt wird. Wir haben nach Diskussionen als SPD
deutlich gemacht, dass wir dieses Instrument nicht wollen
und auch nicht brauchen. Zum einen würde diese Rege-
lung zu einer Konkurrenz zwischen Freiwilligem Sozialen
Jahr und Zivildienst führen. Zum anderen möchten wir
den Zivildienst durch eine freiwillige Verlängerung nicht
verstetigen. Und was viele vergessen: Die Kosten der frei-
willigen Verlängerung würden auf den Träger oder die
Einsatzstelle zukommen. Wenn ein Zivildienstleistender
jedoch Zeit zu überbrücken hat, weil sein Studium erst in
einigen Monaten beginnt, ist eine Verlängerung heute
schon möglich. Die Zivildienstleistenden werden dann
von ihrer Einsatzstelle für drei oder mehr Monate ange-
stellt.
Ich freue mich, dass wir zu diesem Gesetzentwurf noch
eine Anhörung durchführen. Im Gespräch mit den Fach-
leuten und denjenigen, die nach Beschlussfassung mit
diesem Gesetz arbeiten müssen, werden wir sicher noch
den einen oder anderen Änderungswunsch mit auf den
Weg bekommen. Die konkrete Ausgestaltung wird Zeit
und Arbeit in Anspruch nehmen, aber das Ziel – ein Ge-
setz, das den Zivildienstleistenden die Anerkennung ver-
schafft, die sie verdienen – ist es auf jeden Fall wert.
Das Beste an dem vorgelegten Gesetzentwurf sind die
Passagen, die er nicht enthält. Zu dem nun vorliegendem,
endgültigen Scheitern der von Ministerin von der Leyen
geplanten sogenannten freiwilligen Verlängerung des
Zivildienstes um bis zu sechs Monaten gratuliere ich Ih-
nen. Ich will hier ausdrücklich der SPD, besonders Herrn
Rix, danken, die diesen Unsinn verhindert hat. Den neun-
monatigen Zivildienst um bis zu sechs Monate zu verlän-
gern, hätte nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einer
Stärkung des Zivildienstes als Pflichtdienst geführt. Die
FDP begrüßt, dass dieser absurde Vorschlag, der außer-
dem zu einer subventionierten Konkurrenz auf dem Ar-
beitsmarkt geführt hätte, vom Tisch ist.
Der richtige Ansatz, die zeitliche Lücke zwischen dem
Ende des Zivildienstes und dem Beginn einer Ausbildung
überbrücken zu können, ist bereits heute möglich. Im
Zivildienstgesetz regelt der § 24 Abs. 2 die Möglichkeit
des abschnittsweisen Zivildiensts, wovon der erste Ab-
schnitt sechs Monate dauert. Diese weitgehend unbe-
kannte und auch von der Bundesregierung und dem Fa-
milienministerium nicht kommunizierte Vorschrift kann
immer genutzt werden, wenn sich Einsatzstelle und Zivil-
dienstleistender einig sind. So kann die Zivildienstzeit ge-
20862 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
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Ina Lenke
teilt werden und damit der zeitliche Leerlauf zum Ausbil-
dungsbeginn vermieden werden. Statt der falschen
„Verlängerungsoption“ sollte das Familienministerium
endlich für die bereits bestehende „Teilungsoption“ wer-
ben.
Es ist einfach nur traurig, wie wenig sich die Familien-
und Jugendministerin um die Belange von jungen Män-
nern kümmert, die einen Pflichtdienst absolvieren müs-
sen. Gerade in einer Situation, in der zum ersten Mal seit
Jahren im Frühjahr klar war, dass der Mittelstand und die
Industrie händeringend nach Auszubildenden suchen,
war die Antwort der Ministerin nicht etwa, die Zahl der
Zivildienstleistenden weiter zu reduzieren, sondern, die
Zahl für das Jahr 2009 zu erhöhen. Es ist einfach unan-
ständig, dass in diesem Land bereits eine Diskussion
stattfindet, junge Menschen nach Deutschland zu holen,
um Lehrstellen zu besetzen, während die jungen Männer,
die diese Lehrstellen besetzen könnten, einen überholten
Pflichtdienst absolvieren müssen. Täglich erreichen mich
verzweifelte Zuschriften junger Männer, denen mit dem
Zwangsdienst buchstäblich die berufliche Zukunft rui-
niert wird. Karrierechancen werden verbaut, weil die
Männer zum Zivildienst einberufen werden.
Was wird außerdem nicht geregelt im vorliegenden
Gesetz? Nach dem vor einigen Jahren ein Finanzamt und
in der Folge das Bundesministerium der Finanzen die
Auffassung vertrat, es handle sich beim Freiwilligen So-
zialen Jahr um eine Art Arbeitnehmerüberlassung, die ei-
nen umsatzsteuersteuerpflichtigen Leistungsaustausch
zwischen FSJ-Träger und der Einsatzstelle begründe,
vertritt das BMF nun die Rechtsauffassung, dass zukünf-
tig nur noch Verträge, die auf der Grundlage von § 11
Abs. 2 Jugendfreiwilligendienstegesetz abgeschlossen
werden, von der Umsatzsteuer befreit sind. Diese Ver-
tragsform ist aber auf der Basis des derzeitig gültigen
Zivildienstgesetzes nicht mit der Bezuschussung durch
das Bundesamt für den Zivildienst vereinbar, die das FSJ
gemäß § 14 c ZDG statt Zivildienst finanziell erst ermög-
licht. Warum regeln Sie im vorliegenden Gesetzentwurf
nicht endlich diese dringenden Fragen? Warum werden
die Träger immer vertröstet?
Besonders die Engagierten im Sport, wo besonders
viele Freiwillige gemäß § 14 c ZDG eingesetzt werden,
haben diese bürokratischen Probleme. Ich fordere Sie
hier nachdrücklich auf, endlich aktiv zu werden. Es ist
einfach nur noch peinlich, wie dieses Ministerium The-
men verschläft und mit Nichtbeachtung straft, wenn da-
mit nicht die Chance verbunden ist, zur Prime Time im
Fernsehen zu laufen.
Im Vorspann zum heute diskutierten Gesetz schreiben
Sie: „Aus dem Pflichtcharakter des Zivildienstes er-
wächst eine besondere staatliche Verantwortung gegen-
über den Dienstleistenden, die in Zukunft verstärkt in
Form einer verbesserten Ausrichtung des Zivildienstes
auf das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung und des Qua-
aber nicht die Lernelemente im Zivildienst, sondern rela-
tiviert sie gegenüber der heutigen Gesetzeslage. Das
Dritte Zivildienstgesetzänderungsgesetz wird wegen der
Zu Protokoll
„Kann“- und „Soweit dies erforderlich ist“-Regelungen
diesen Anforderungen nicht gerecht und an der unverant-
wortlichen Situation im heutigen Zivildienst nichts än-
dern. Zudem ist vorgesehen, dass alle Maßnahmen „im
Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“
abgewickelt werden, es also innerhalb des Zivildienst-
haushaltes keine Verschiebungen geben soll. Es soll – so
die Absicht des Bundesministeriums für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend – sogar eine Absenkung bei einer
Begleitung der Dienstleistenden von rund 40 Prozent auf
unter 35 Prozent erfolgen.
Der Bundeshaushalt 2009 sieht eine Absenkung der
Lehrgangskosten von 33,68 Millionen Euro auf
30,68 Millionen Euro vor. Gleichzeitig soll die
Zahl der Einberufungen von 85 000 auf 88 700 angeho-
ben werden. Mehr Einberufungen haben bei einer gleich-
bleibenden Seminarquote zwangsläufig ein Aufstocken
der Haushaltsmittel zur Folge. Tatsächlich wird der An-
teil der Zivildienstleistenden, die durch Lehrgänge auf
den Dienst vorbereitet werden, im nächsten Jahr abge-
senkt. Erklärungen, den Zivildienst zu einem Lerndienst
entwickeln zu wollen, verlieren vor diesem Hintergrund
ihre Glaubwürdigkeit.
Im Koalitionsvertrag von 2005 haben sich die Regie-
rungsparteien erstmals darauf verständigt, den Zivil-
dienst zu einem Lerndienst weiterzuentwickeln. Ziel war
und ist ein praxisbezogenes, staatsbürgerliches und so-
ziales Lernen sowie die Förderung der Persönlichkeits-
entwicklung und des Qualifikationserwerbs aller Zivil-
dienstleistenden. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob
dieses gut klingende Ziel auch mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zu erreichen ist.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass jeder Zivildienstleis-
tende ein obligatorisches qualifiziertes Dienstzeugnis er-
halten soll. Es soll Aufschluss über Tätigkeiten, Leistun-
gen und erworbene Kompetenzen geben. Natürlich
begrüßt es die Linke, dass ein solches Dienstzeugnis ohne
größeren bürokratischen Aufwand ausgestellt wird. Den-
noch bleibt nebelhaft, wie dieses Zeugnis exakt aussehen
soll. Es ist weiterhin ungeklärt, wer einen Lehrplan fest-
legt und welche exakten Inhalte die Zivildienstleistenden,
begleitend zu ihrer eigentlichen Tätigkeit, vermittelt be-
kommen sollen. Ebenso müssen Zeugnisse sowohl zwi-
schen verschiedenen Dienstbereichen – Krankenhaus,
Altenpflege etc. – als auch zwischen verschiedenen Städ-
ten bzw. Regionen vergleichbar sein. Wie soll das ge-
währleistet werden?
Wenn man eine Leistung beurteilt, muss es ja wie in je-
dem qualifizierten Arbeitszeugnis bestimmte Formulie-
rungen geben, die eine Benotung widerspiegeln. Möchte
die Bundesregierung etwa einen Konkurrenzkampf unter
Zivildienstleistenden anzetteln, wer die bessere Note hat
und folglich für den Arbeitsmarkt besser verwertbar ist?
Und wenn Arbeitgebern die erworbene Qualifikation
deutlich gemacht werden soll, besteht die Gefahr, durch
ein schlechtes Zivildienstzeugnis einen Arbeitsplatz nicht
zu bekommen. So entsteht für die eigene berufliche Zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20863
gegebene Reden
(C)
(D)
Elke Reinke
kunft eine große Abhängigkeit von den Zeugnisausstel-
lenden.
In diesem Zusammenhang müsste auch geklärt wer-
den, wer eigentlich das Zeugnis ausstellen darf. Im Bei-
spiel Krankenhaus: die direkte Vorgesetzte auf der Station
bzw. in der Abteilung oder die Pflegedienstleiterin des ge-
samten Krankenhauses?
Positiv steht die Linke einer Anrechnung der im Zivil-
dienst erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auf Aus-
bildungs- und Studienzeiten gegenüber. Warum soll ein
Zivildienstleistender bei der Caritas diese Zeit nicht auch
als Praktikum für sein Sozialarbeitsstudium angerechnet
bekommen?
Wichtig ist ebenfalls, dass sowohl die fachliche Schu-
lung im Bereich der Pflege und Betreuung Hilfebedürfti-
ger – in der rund zwei Drittel der Zivildienstleistenden
tätig sind – als auch im Umwelt- und Naturschutz beibe-
halten wird. Die Linke unterstützt diese wichtige fachli-
che Qualifizierung, erachtet aber darüber hinaus als be-
deutend, dass Zivildienstleistende einen gesetzlichen
Anspruch auf Informationsangebote und Schulungen er-
halten wie Freiwillige im Sozialen Jahr.
Es bereitet mir dennoch Sorge, dass mit besser quali-
fizierten Zivildienstleistenden sozialversicherungspflich-
tige, reguläre Arbeitsplätze leichter ersetzt werden kön-
nen und zum Teil schon ersetzt werden. Die Arbeit in der
Altenbetreuung, im Gesundheits- und Pflegebereich wol-
len wir anders organisieren. Hier werden vor allem gut
ausgebildete und qualifizierte, ordentlich bezahlte Fach-
kräfte gebraucht, nicht Zivildienstleistende als Nothilfs-
maßnahme, wie wir es gegenwärtig haben. Um es noch
einmal klar zu sagen: Die Linke will einen öffentlich fi-
nanzierten Beschäftigungssektor, aber keinen Zivildienst
zum Minimaltarif.
Insgesamt stellt sich mir die Frage, warum im
Einzelplan 17 gleichzeitig die Mittel für Lerndienstpro-
jekte von 750 000 2008 auf 350 000 Euro in 2009 mehr
als halbiert werden. Der Zivildienst soll durch diese Re-
form doch zum Lerndienst gemacht werden.Gerade hier
finde ich es unfassbar, dass in den letzten Jahren Zivil-
dienstschulen geschlossen wurden, obwohl diesen nun im
Rahmen eines „Lerndienstes“ doch eine große Rolle zu-
kommen soll. Die Linke wehrt sich seit langem gegen sol-
che Schließungen. Wir finden, das ist ein falscher Schritt,
weil die soziale und bildungspolitische Kompetenz dieser
Einrichtungen mehr denn je gefragt ist. Lassen Sie uns
doch diese Kompetenz nutzen und ausbauen! Das würde
der Sache gerecht werden.
Wenn wir über den Zivildienst sprechen, muss man
auch Folgendes beachten: Von sogenannter Wehr- und
Dienstgerechtigkeit kann seit Jahren keine Rede mehr
sein. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die
Benachteiligung von Wehrdienstverweigerern bei der
Einberufungspraxis unverzüglich beendet wird. Es soll-
ten nicht mehr Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienst
als Wehrdienstpflichtige zum Wehrdienst einberufen wer-
den. Die jungen Männer dürfen alles in allem nicht in ei-
nem Zustand der Ungewissheit gehalten und in ihrer Le-
bensgestaltung verunsichert werden, weil sie nicht
Zu Protokoll
wissen, ob der Staat mit der Wehrpflicht wieder zuschlägt.
Das ist nämlich staatliche Willkür pur.
Die Wehrpflicht als eine Art Zwangsdienst ist laut
Grundgesetz nur durch eine bestimmte Sicherheitslage zu
begründen: durch eine spezielle militärische Bedro-
hungs- und Gefährdungslage. Diese ist aber nicht mehr
gegeben. Die Wehrpflicht ist folglich nur noch ein erheb-
licher Eingriff in die individuellen Grundrechte und Le-
bensplanungen junger Männer. Sie ist ein Auslaufmodell.
Sie wird für die Landesverteidigung nicht gebraucht.
Die Wehrpflicht ist aber nicht nur aus friedenspoliti-
schen Gründen abzulehnen, sondern sie behindert auch
die Ausbildungs- und Berufschancen junger Männer. Mit
dem vorliegenden Gesetz werden für die Wehrpflichtigen
durch die Hintertür Nachteile auf dem Arbeitsmarkt ver-
festigt. Junge Menschen brauchen Ausbildungs- und Stu-
dienplätze. Frau von der Leyens Vorschlag, den Zwangs-
dienst freiwillig verlängern zu können, ist gegenüber
diesen Jugendlichen purer Zynismus. Die Bundesregie-
rung würde damit eine weitere Warteschleife schaffen, die
den Jugendlichen keine langfristige berufliche Perspek-
tive bietet. Geholfen ist damit nur der Statistik. Und wenn
die Bundesregierung in einem Bereich professionell ist,
dann im Bereich der Statistikverschönerungen!
Die Familienministerin sollte nicht die Jugendlichen
auffordern, Lücken in ihrem Lebenslauf zu schließen,
sondern sie sollte die Bundesregierung antreiben, endlich
Lücken auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu schließen.
Eine Verlängerung des Zivildienstes würde zudem regu-
läre Beschäftigung verdrängen und Jugendliche zu Billig-
arbeitskräften machen. Die Linke wird sich entschieden
dagegenstellen.
Ein Problem stellt in diesem Kontext Art. 5 Nr. 1 und 3
des Gesetzentwurfes dar. Die Linke glaubt nicht, dass
durch die vorgeschlagene Änderung des Arbeitsplatz-
schutzgesetzes folgende Problematik gelöst wird: Junge
Männer, die in befristeten Arbeitsverhältnissen tätig sind,
werden durch die Ableistung von Wehr- oder Zivildienst
in vielen Fällen praktisch direkt in die Arbeitslosigkeit
geführt. Viele Wehrpflichtige haben in der Vergangenheit
zu Recht darauf verwiesen, dass Arbeitgeber die Verlän-
gerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses oder die
Übernahme der Wehrpflichtigen ablehnen, wenn die Ab-
leistung des Wehr- oder Zivildienstes bevorsteht. Mit der
vorgeschlagenen Neuregelung kann die Bundesregierung
nun solche Eingaben auf Zurückstellung leichter mit dem
Verweis auf die Pflicht des Arbeitgebers abschmettern.
Dies kann die Linke nicht hinnehmen, und sie wird um
Verbesserungen kämpfen.
Aus friedens- und ausbildungspolitischer Sicht sagt
die Linke somit deutlich: Die Wehrpflicht muss weg.
Eines ist dabei klar: Der Zivildienst muss gleichfalls
umgewandelt werden. Er ist vom ursprünglich vorgesehe-
nen arbeitsmarktneutralen Ersatz- schon lange zum Re-
geldienst geworden. Es ist daher eine echte Offensive für
sozial abgesicherte, regulär bezahlte und mitbestim-
mungsrelevante Jugendfreiwilligendienste nötig, bei der
die Zahl der Freiwilligendienstplätze verdoppelt wird,
damit alle jungen Menschen, die einen Freiwilligendienst
20864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(D)
Elke Reinke
leisten wollen, das auch tun können. Die dadurch im
Einzelplan 17 eingesparten Mittel sind vorrangig für den
Ausbau der Jugendfreiwilligendienste im In- und Ausland
einzusetzen. Die Linke betont hier das Wort „freiwillig“,
denn wir sind nach wie vor für die Abschaffung aller
Zwangsdienste.
Es wäre wirklich im Sinne der Zivildienstleistenden,
praxisbezogenes und soziales Lernen sowie die Persön-
lichkeitsentwicklung und den Qualifikationserwerb zu
fördern. Diese Gesetzesnovelle belegt jedoch zum wie-
derholten Male, wie schwer sich die Regierung mit einer
Verbesserung des Zivildienstes tut. Ich bin zuversichtlich,
dass die Sachverständigen in der Anhörung zum Dritten
Zivildienstgesetzänderungsgesetz die Kritik der Linken
unterstützen werden. Ob allerdings die Regierung tat-
sächlich aufgrund dieser Kritik auch Nachbesserungen
zustande bringt, bleibt mehr als fraglich. Aber die Hoff-
nung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Der Entwurf des Zivildienständerungsgesetzes ver-
folgt kein zukunftsfähiges Konzept. Er ist im Gegenteil ein
weiteres Beispiel dafür, dass die zuständige Ministerin
von der Leyen auch beim Thema Zivildienst Jugendlichen
wenig zu bieten hat.
Wir Grüne haben dagegen eine ambitionierte Gesamt-
konzeption vorgelegt, um aus der Wehrpflicht auszu-
steigen, auf eine Freiwilligenarmee umzusteuern, den
Zivildienst umzuwandeln und die Anzahl der Jugendfrei-
willigendienstplätze zu verdoppeln.
Dieser Vierschritt wäre ein echter gesellschaftlicher
Fortschritt und würde zivilgesellschaftliches Engage-
ment junger Menschen endlich stärker fördern und wert-
schätzen. Sie dagegen halten mit dem von der Wehrpflicht
abgeleiteten Zivildienst an einem antiquierten Dogma
fest. Das ist mehr als bedauerlich, die Wehrpflicht ist
nichts anderes als ein konservativer „Ladenhüter“. Sie
immer weiter zu zementieren, ist gerade auch im europäi-
schen Vergleich absolut rückwärtsgewandt und sicher-
heitspolitisch überflüssig!
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie junge Menschen als
Bürgerinnen und Bürger ernst, anstatt sie mit Pflicht-
diensten zu gängeln! Hören Sie auf, Jahr für Jahr die
Wehrungerechtigkeit weiter zu verschärfen – das geht
klar zulasten der Ausbildungs-, Studien- und Berufschan-
cen junger Männer! Es ist unerhört, dass Sie im kommen-
den Jahr über 30 000 mehr Zivildienstleistende als Wehr-
pflichtige einberufen wollen. Damit diese jungen Männer
nicht benachteiligt werden, haben wir in den Haushalts-
beratungen Mittelkürzungen im Zivildiensthaushalt von
215 Millionen Euro beantragt. Damit wollen wir Um-
schichtungen zugunsten eines massiven Ausbaus der
Freiwilligendienste finanzieren. Denn hier gibt es eine
riesige Nachfrage und ein erfreuliches Potenzial von en-
gagementbereiten Jugendlichen: Drei bis vier Bewerbun-
gen kommen auf einen Freiwilligenplatz. Wir sind davon
überzeugt, dass viele der Tätigkeiten, die derzeit Zivil-
dienstleistende übernehmen, mindestens genauso gut von
Freiwilligen zum Beispiel im Rahmen eines Freiwilligen
Sozialen Jahres erfüllt werden könnten. Freiwillig statt
verpflichtet – das ist unsere Leitlinie. So weit unsere
Grundsatzkritik und unsere Alternativen zum bisherigen
großkoalitionären Kurs.
Solange wir für unsere weitreichende Strukturreform
noch keine parlamentarische Mehrheit haben, stehen wir
jeder Verbesserung des Zivildienstes offen gegenüber.
Denn den aktiven Zivildienstleistenden gebührt aller
Respekt und angemessene Unterstützung! Ihr Gesetzent-
wurf geht jedoch an den Realitäten dieser Dienstleisten-
den vorbei. Das schöne neue Label „Lerndienst“ wird
von Ihnen bereits dadurch ad absurdum geführt, dass Sie
gerade die Mittel für Vorhaben zur Ausgestaltung des Zi-
vildienstes als Lerndienst im Haushalt von 750 000 Euro
auf 350 000 Euro mehr als halbiert haben.
Im Vorfeld der Sachverständigenanhörung im Bundes-
tag haben bereits der Bundesrat und Fachverbände be-
rechtigte Kritik an Ihrem Entwurf geübt: Warum haben
Sie beispielsweise – wie unter anderem vom Bundesrat
vorgeschlagen – keine Änderung des § 14 c des Zivil-
dienstgesetzes vorgesehen, damit Freiwilligendienstleis-
tende nicht weiter benachteiligt werden? Die bisherigen
Regelungen widersprechen der Geschlechtergerechtig-
keit und sind zur Sicherstellung der angemessenen päda-
gogischen Begleitung ungeeignet. Auch die Möglich-
keiten zum Ersatz des Pflichtdienstes durch
Freiwilligendienste müssen dringend ausgeweitet wer-
den!
Die Regierungskoalition hat das Zivildienstgesetz
durch ihre Uneinigkeit verschleppt. Monatelang wurden
Antworten auf unsere Anfragen vom Ministerium verwei-
gert, weil Sie nicht sprechfähig waren. Die Gründe liegen
auf der Hand: Die Union will die optionale Dienstverlän-
gerung, um das System der Wehrpflicht zu zementieren; in
der SPD geistert weiterhin der paradoxe „freiwillige
Pflichtdienst“ herum. Erst auf unseren massiven Druck
haben Sie die unsinnige optionale Verlängerung des Zi-
vildienstes wieder aus ihrem Gesetzentwurf gestrichen.
Als Neuerung ist nun die Ausstellung eines qualifizier-
ten Zeugnisses übriggeblieben. Dies ist zwar fachlich
sinnvoll – als Ergebnis eines so langatmigen Gesetzge-
bungsverfahrens aber auch mehr als dürftig. Statt der
Selbstblockade der Großen Koalition brauchen wir den
Mut zu klaren Entscheidungen und richtigen Prioritäten-
setzungen. Die Zukunft gehört den Freiwilligendiensten.
Das haben außer Frau von der Leyen und der CDU/CSU
alle Fraktionen in diesem Hause erkannt. Wir brauchen
eine geordnete Konversion des Zivildienstes und keinen
völlig unzulänglichen Entwurf, wie Sie ihn hier und heute
vorgelegt haben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
– Danke schön.
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Katrin Kunert,
Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Sozialticket für die Deutsche Bahn AG
– Drucksachen 16/10264, 16/11105 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen
sind zu Protokoll gegeben: Enak Ferlemann, Uwe
Beckmeyer, Patrick Döring, Katrin Kunert und Markus
Kurth.
Der vorliegende Antrag der Linken ist unsystematisch,
undifferenziert, undurchdacht und damit ungeeignet,
mehr als ein populistischer Beitrag zu sein. Die Antrag-
steller beweisen einmal mehr, dass sie fern der Realität
leben und nicht wissen, wie Wirtschaft funktioniert. Sie
beweisen außerdem, dass sie das System unserer sozialen
Gesetzgebung nicht kennen. Schlimmer noch: Sie schät-
zen nicht wert, dass Deutschland über ein Sozialsystem
verfügt, um das andere Staaten uns beneiden. 50 Euro
soll die DB AG jährlich an Leistungsempfänger ver-
schenken. Bei Licht besehen ist genau das die Forderung
der Linken. Denn sie fordern eine Bahncard 25, die zu ei-
nem Normalpreis von 55 Euro verkauft wird, für 5 Euro
an Hartz-IV-Leistungsempfänger und andere Transfer-
leistungsbezieher abzugeben.
Unsystematisch ist der Antrag, weil die Antragsteller
außerhalb der Regelsätze für die Bezieherinnen und Be-
zieher von Transferleistungen zusätzliche Vergünstigun-
gen von anderer Stelle, nämlich von einem privaten Un-
ternehmen, beschaffen wollen. Sie möchten neben das
vorhandene staatliche System zur Finanzierung von Mo-
bilität ein zweites System für den Erhalt von Transferleis-
tungen in Form eines verbilligten Produktes von einem
privaten Unternehmen stellen. Was sie damit erreichen,
ist Intransparenz – und gerade die können wir dort nicht
brauchen, wo staatliche Unterstützung erfolgt.
Unsystematisch ist der Antrag aber auch deshalb, weil
nur ein Anbieter von Schienenverkehrsleistungen zur
Kasse gebeten werden soll. Dabei wissen die Antragstel-
ler, dass neben dem privaten Unternehmen DB AG über
350 weitere private Anbieter am deutschen Markt sind.
Mit der Öffnung der Grenzen in Europa für den Güter-
und Personenverkehr auf der Schiene werden das noch
mehr.
Mit welchem Recht – fragt man sich da – soll aus-
schließlich die DB AG Geschenke machen? Die Linken
können sich nicht damit abfinden, mit der DB AG ein pri-
vates Unternehmen und nicht mehr ein staatliches Unter-
nehmen zu haben; das macht der Antrag deutlich. Die An-
tragsteller wünschen sich ganz offensichtlich ein
volkseigenes Unternehmen zurück, in dem sie schalten
Zu Protokoll
und walten können, wie sie wollen. Ein Schelm, der da
denkt, den Antragstellern geht es nicht um die Menschen,
die im Antrag genannt sind, sondern um Macht, die sie
über das Unternehmen DB AG ausüben wollen. Es wäre
ein Fortschritt, würde auch die Linke endlich in der Ge-
genwart ankommen und in der DB AG einen Wettbewer-
ber sehen, der seine Produkte und Leistungen wie andere
Unternehmen anbietet, um Geld zu verdienen. Auch die
Linke sollte endlich ihren Frieden mit den Regeln der
Marktwirtschaft machen.
Zu diesen Regeln gehört nicht, dass ein Unternehmen
wie die DB AG Geschenke verteilt. Diese Geschenke
müssten entweder über die Preise von den anderen Fahr-
gästen erwirtschaftet oder aber vom Steuerzahler per Zu-
schuss an die DB AG gezahlt werden. Weder die Kunden
noch die Steuerzahler wären damit einverstanden. Denn
das führt zu Ungerechtigkeit, und das ist ganz und gar
nicht im Sinne des Solidarsystems, aufgrund dessen
Transferleistungen erbracht werden. Viele Menschen ste-
hen im Erwerbsleben, erzielen aber kleinere Einkommen
oder müssen mit einer kleineren Rente auskommen, ob-
wohl sie viele Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt
und ihr Leben lang gearbeitet haben. Sie wie auch allein-
erziehende Mütter mit Kindern und einem Einkommen,
das knapp über dem Hartz-IV-Satz liegt, kämen nicht in
den Genuss, mit einem Sozialticket auf Reisen gehen zu
können. All diese Menschen würden sich vollkommen zu
Recht mehr als ungerecht behandelt fühlen, wenn Trans-
ferleistungsempfänger besser behandelt würden als sie,
ja, sie sogar noch mitfinanzieren müssten. Ich kann den
Antragstellern nicht darin folgen, ein neues soziales Un-
gleichgewicht zu schaffen, und nichts anderes würden sie
mit ihrem Antrag bewirken. Ihr Antrag würde nicht zur
Solidarisierung, sondern zur Entsolidarisierung führen.
Undifferenziert und undurchdacht sind die Forderun-
gen der Linken aber auch in ihrer Pauschalität und Igno-
ranz. Denn es wird ausgeblendet, dass der Staat bereits
bei der Mobilität die besondere Lage bedürftiger Men-
schen berücksichtigt. Behinderte Menschen werden
schon seit langem unterstützt; denn sie zählen zu denen,
die ohne Zweifel auf solidarische Hilfe angewiesen sind.
Die kostenlose Benutzung des öffentlichen Personenver-
kehrs steht behinderten Menschen in Deutschland heute
schon zu. Für Menschen im Niedriglohnbereich werden
notwendige Kosten, zum Beispiel für die Monatskarte,
über ergänzende Hilfeleistungen berücksichtigt. In den
allermeisten Fällen werden Fahrtkosten für die Bürgerin-
nen und Bürger erstattet, denen Kosten für Fahrten zu Be-
werbungsgesprächen entstehen.
Damit komme ich zu dem Punkt, um den es eigentlich
uns allen – auch den Linken – gehen muss, wenn wir Mo-
bilität für alle wollen. Dieser zentrale Punkt ist, Men-
schen wieder in Arbeit zu bringen und aus dem Bezug von
Transferleistungen herauszuholen. Das eigene Einkom-
men ist die Basis dafür, am Leben in der Form teilzuha-
ben, wie wir es unserer Bevölkerung wünschen. Eigenes
Geld zur Verfügung zu haben, um damit Mobilität finan-
zieren zu können, das ist das Ziel. Sozialromantik hatte
noch nie die Befähigung, bei diesem Ziel Weggefährte zu
sein. Das Gleiche gilt für Heuchelei, die sich als Idealis-
mus verkleidet.
20866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Enak Ferlemann
Ich bin froh, dass wir in den letzten Jahren mit den
richtigen Arbeitsmarktinstrumenten sehr erfolgreich da-
rin waren, die Zahl der Erwerbstätigen auf über 40 Mil-
lionen zu steigern und wieder über 27 Millionen sozial-
versicherungspflichtige Beschäftigte zu haben. Mit einem
populistischen Antrag, der die Augen vor der Realität
schließt, schafft man das nicht. Wir haben durch die gute
Arbeit dieser Großen Koalition erreicht, dass die Arbeits-
losenzahlen in einem Maße gesunken sind, wie wir es
kaum zu hoffen gewagt haben, als wir die vielen Maßnah-
men beschlossen haben, die jetzt den Erfolg von unter
3 Millionen Arbeitslosen zeigen.
Für jeden Einzelnen, der sich auf diese Weise seine so-
ziale Zufriedenheit, seinen Selbstwert und die Anerken-
nung seiner Mitmenschen schaffen konnte, hat die Große
Koalition mehr getan, als die Antragsteller mit ihrem Ide-
albild von einem vom Staat abhängigen Menschen, der
als bedauernswertes Opfer eines marktwirtschaftlichen
Systems auf tröstende Geschenke angewiesen ist, je be-
wirken würden. Ich wünsche den Antragstellern, ihren
Tunnelblick aus vergangenen Zeiten um der Menschen in
diesem Lande willen abzulegen. Die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion lehnt diesen Antrag ab.
Wir haben bereits am 25. September 2008 eine Debatte
zu diesem Thema geführt. Ihre Argumente – und dies geht
an die Adresse der Fraktion Die Linke – werden aber
nicht dadurch besser, dass Sie diese ständig wiederholen.
Für die SPD-Bundestagsfraktion gilt nach wie vor: Der
Erhalt von Transferleistungen über private Unternehmen
in Form von verbilligten Produkten oder Leistungen ist
generell intransparent und kann damit zu großen Unge-
rechtigkeiten führen. Bezahlt werden müssen diese ohne-
hin durch die Steuerzahler, weil der Staat bzw. die öffent-
lichen Hände Zuschüsse an die entsprechenden
Unternehmen zu leisten haben.
Wenn man den vorliegenden Antrag in seinem substan-
ziellen Kern bewertet, muss man feststellen: Der Antrag
ist höchst problematisch, weil unsolidarisch und unge-
recht.
Was ist zum Beispiel mit einer alleinerziehenden Mut-
ter von zwei Kindern, die halbtags arbeitet und damit
zwar mehr als den Hartz-IV-Satz verdient, aber mit ihrem
Einkommen gerade über die Runden kommt? Was ist mit
dem Rentner, der 40 Jahre lang am Band gearbeitet hat,
aber heute nur eine bescheidende Rente bekommt? Auch
er wird nicht in den Genuss eines „Sozialtarifs“ kommen.
Die von Ihnen vorgenommene Beschränkung der An-
spruchsberechtigung grenzt viele Menschen aus. Jemand,
der nur über ein geringes Einkommen verfügt, das gerade
eben über dem Hartz-IV-Satz liegt, wird nicht in den Ge-
nuss eines sogenannten Sozialtickets kommen. Finden Sie
das fair?
Mit dem Inhalt dieses Antrages werden willkürlich
Grenzen gezogen, die fragwürdig sind. Das bestätigt nur
eines: Wer so Gerechtigkeit erzwingen will, schafft Unge-
rechtigkeit. Wer so Solidarität erzwingen will, schafft
Entsolidarisierung. Sie, meine Damen und Herren von
Zu Protokoll
der Fraktion Die Linke, sind zu häufig auf dem falschen
Dampfer. Sie spulen – ohne zu überlegen – Ihr Pro-
grammmaterial herunter, welches aber leider an den
Menschen vorbeigeht. Ziel muss es doch sein – und da
wiederhole ich mich gerne –, möglichst viele Menschen in
Arbeit zu bringen – und nicht, sie vom Sozialstaat abhän-
gig zu machen. Ziel muss es doch sein, als Arbeitnehmer
oder Arbeitnehmerin ein Mindesteinkommen für gute Ar-
beit zu erzielen, ein Einkommen, mit dem man sich und
seine Familie ernähren kann, anstatt mit ungerechten So-
zialtarifen die Welt verbessern zu wollen. Diese Konzepte,
meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
sind reines Flickwerk. Niemals gab es in Deutschland so
viele Beschäftigte wie heute: Fast 41 Millionen Erwerbs-
tätige und mittlerweile rund 28 Millionen sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigte sprechen eine eindeutige
Sprache. Diese Jobs sind das Ergebnis unserer Politik.
Die Arbeitslosenquote ist trotz Finanzkrise im Novem-
ber 2008 sogar auf 7,1 Prozent gefallen. Allein im ver-
gangenen Jahr haben mehr als eine halbe Million Men-
schen eine reguläre Beschäftigung gefunden.
Ich will nicht verhehlen, dass wir die Finanzkrise auch
auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekommen werden. Hier
den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen zu
streuen und eine heile Welt vorzugaukeln, wäre nicht
richtig. Aber wir handeln, um die negativen Wirkungen
möglichst gering zu halten:
Der Bundestag hat heute ein Maßnahmenpaket zur Si-
cherung von Wachstum und Beschäftigung beschlossen.
Wir handeln vorausschauend und schaffen damit eine
Perspektive für die rasche Überwindung der sich ab-
zeichnenden Konjunkturschwäche. Der Bundesminister
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat im Rahmen
dieses Maßnahmenpakets heute ein „Arbeitsplatzpro-
gramm Bauen und Verkehr“ aufgelegt. Mit ihm wird es
möglich, dringliche Verkehrsinvestitionen beschleunigt
umzusetzen. Das Paket umfasst konkrete Verkehrspro-
jekte und Maßnahmen mit einem Volumen von insgesamt
zwei Milliarden Euro für 2009 und 2010. Das sind Ant-
worten, die notwendig sind, wenn wir über die Sicherung
von Arbeitsplätzen in Deutschland sprechen.
Dabei gilt für uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten nach wie vor: Guter Lohn für gute Arbeit – das
ist unser Ziel. Wir setzen mit unserem Maßnahmenpaket
gezielte konjunkturelle, arbeitsplatzsichernde Impulse,
um dieses Ziel auch in wachstumsschwachen Zeiten zu er-
reichen.
Über die Forderung der Linken, die Deutsche
Bahn AG zu verpflichten, allen Transferleistungsempfän-
gern eine BahnCard 25 statt zum Preis von 50 Euro für
5 Euro anzubieten, haben wir bereits Ende September in
der ersten Lesung diskutiert.
Eigentlich ist zu dem Antrag der Linken bereits alles
gesagt. Es ist daher ein Stück weit bedauerlich, dass wir
angesichts der Krisenzeiten, vor denen unser Land steht,
Zeit damit verbringen, diesen populistischen Antrag, der
weder unter sozialen noch unter verkehrswirtschaftlichen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20867
gegebene Reden
(C)
(D)
Patrick Döring
Gesichtspunkten Sinn macht, noch mal hier zu diskutie-
ren. Wie zu erwarten war, haben die Ausschussberatun-
gen nicht dazu geführt, dass die grundsätzlichen Beden-
ken gegen die Forderung an sich, aber auch gegen die
Art, wie die Linke hier Politik macht, ausgeräumt worden
sind – im Gegenteil.
Nach wie vor spricht gegen dieses „Sozialticket“, dass
es nicht sozial ist, auf Kosten der anderen Kunden be-
stimmte Bevölkerungsgruppen gewisse Konsumvorteile
zu verschaffen – sei es beim Bahnfahren oder bei der Ver-
sorgung mit Lebensmitteln. Erforderlich ist, dass der
Staat Mindestbedingungen für ein eigenverantwortliches
Leben absichert – nicht mehr und nicht weniger. Das ge-
schieht mit dem Geld der Steuerzahler, und dafür arbeiten
viele Menschen hart. Die Allgemeinheit der Bahnfahrer
mit den Umverteilungswünschen der Linken noch mehr
zu belasten, ist und bleibt falsch.
Außerdem werden bereits heute mit den Sparpreisen
25 und 50 sowie mit Dauerspecials große Rabatte einge-
räumt, die für alle Kunden gelten. Auch bietet die Deut-
sche Bahn AG bereits heute BahnCards 25 für Partner
und Familien vergünstigt an. Für eine Spezialregelung
besteht daher gar kein Bedarf.
Das ist aber eine gute Gelegenheit, einmal darüber zu
reden, wie die Linke Politik macht. Sie überschreibt einen
Antrag mit einem Titel, der toll klingt: „Sozialticket für
die Deutsche Bahn AG“. Damit macht sie vielen Men-
schen, die über wenig Geld verfügen, Hoffnungen. Dann
die erste Enttäuschung: alles beschränkt auf Hartz-IV-
Empfänger – kein Wort über jene Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die durch hohe Sozialabgaben und Steuern
stark belastet sind und dennoch ihre Mobilität organisie-
ren und finanzieren müssen. Und diejenigen, die dann
noch nicht ausgestiegen sind, müssen erkennen, dass es
sich um populistische Forderungen handelt, die über-
haupt keinen wirksamen Gewinn bringen – weder für die
Menschen noch für das Verkehrssystem. Ich frage mich:
Wann kommt der Antrag für kostenloses Taxifahren und
Sozialtarife an der Zapfsäule? Oder vielleicht für Steuer-
senkungen?
Viel mehr brächte es beim Thema Kosten der Mobilität
auf der Schiene, endlich für Wettbewerb auf der Schiene
zu sorgen. Aber bei dem Thema verweigert sich die Linke
ja jeglicher konstruktiver Mitarbeit. Privatwirtschaft-
licher Wettbewerb auf einem vom Staat kontrollierten
Gleis, das zu fairen Bedingungen allen Bewerbern diskri-
minierungsfrei zur Verfügung stehen muss, würde zu mehr
Wettbewerb führen, zu mehr Service und sicher auch zu
günstigeren Preisen für alle. Aber anstatt die Privatisie-
rung des Bahnbetriebs – nicht des Netzes – konstruktiv zu
begleiten, legt uns die Linke solche Anträge wie diesen
vor.
Der Weg, den die Linke hier wieder einmal einschlägt,
besorgt mich. Mit Einzelanträgen wollen die Kollegen
immer wieder und in verschiedenen Bereichen Sonder-
regelungen für Hartz-IV-Empfänger festschreiben, an-
statt an Lösungen mitzuarbeiten, die für alle Menschen
Vorteile bringen. Hier steht die vermeintliche Begünsti-
gung bestimmter Gruppen im Vordergrund, von denen die
Antragsteller annehmen, diese aufgrund geringer Ein-
Zu Protokoll
künfte in immer größere Abhängigkeit vom Staat und sei-
nen Sonderregelungen bringen zu können.
Doch das ist der falsche Weg. Wie diese Art der Politik
eine ganze Gesellschaft in den Ruin treibt, haben wir er-
lebt. Und dass Sie es selbst nicht ernst meinen, sehen wir
daran, dass in Berlin trotz Regierungsbeteiligung der
Linken der Nahverkehr immer teurer wird.
Vielleicht wird die Linke irgendwann erkennen, dass
der Sozialismus gescheitert ist. Und Ihr Antrag – das
wage ich nun vorauszusagen – wird das historische
Schicksal des Sozialismus teilen.
Heute, am 4. Dezember 2008, beschreitet der Deutsche
Gewerkschaftsbund der Region Ruhr-Mark einen
ungewöhnlichen Weg, um seine Forderung nach Einfüh-
rung eines Sozialtickets zu unterstreichen. 20 „Schwarz-
fahrer“ werden sich unter die Fahrgäste der BOGESTRA
– das ist das Verkehrsunternehmen der Städte Bochum
und Gelsenkirchen – mischen. Mit dieser spektakulären
Aktion wollen die Gewerkschafter auf die Situation armer
Menschen aufmerksam machen, die sich Fahrkarten für
den öffentlichen Personennahverkehr nicht leisten kön-
nen. Der DGB hat bereits mehrfach die Forderung aufge-
stellt, ein Sozialticket für solche Menschen bereitzustel-
len, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze von
800 Euro liegt; Mobilität in der eigenen Stadt dürfe kein
Luxus sein.
Mittlerweile gibt es in vielen Städten und Landkreisen
Initiativen für die Einführung eines Sozialtickets bzw.
wurde das Sozialticket bereits eingeführt. Die Gründe da-
für liegen in erster Linie in bundespolitischen Entschei-
dungen. Die Hartz-IV-Gesetze führen dazu, dass immer
mehr Menschen von kulturellen, politischen und sozialen
Prozessen ausgeschlossen sind. Sie können nur noch sel-
ten in vollem Maße am gesellschaftlichen Leben in ihrer
Stadt oder Gemeinde teilnehmen. Deshalb bleibt die
Linke bei ihrer Forderung: „Hartz IV muss weg!“ Was
wir brauchen, ist eine armutsfeste, repressionsfreie so-
ziale Grundsicherung. Ein erster Schritt in diese Rich-
tung wäre eine sofortige Anhebung der Regelsätze auf
435 Euro.
Ein Sozialticket für die Deutsche Bahn AG wird uns
dieser Notwendigkeit nicht entheben. Aber ein Sozial-
ticket für die Deutsche Bahn könnte dazu beitragen, dass
für Menschen, die Transferleistungen beziehen, Mobilität
im Fernverkehr ermöglicht wird.
Da es in der ersten Lesung keine Möglichkeit gab, sich
mit den Argumenten der anderen Fraktionen zu unserem
Antrag direkt auseinanderzusetzen, da die Reden nur zu
Protokoll gegeben werden sollten, möchte ich nun die Ge-
legenheit nutzen, dies nachzuholen, und auf einige Argu-
mente insbesondere der Koalitionsfraktionen eingehen.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt unsere Feststellung,
dass Mobilität ein elementares Merkmal unserer heutigen
Gesellschaft ist. Was sie aber nicht tut, ist, dass sie daraus
Konsequenzen zieht und allen Menschen in diesem Land
ein Grundrecht auf Mobilität einräumt und zu dessen Ge-
währleistung die Voraussetzungen schafft. Auch den
20868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Katrin Kunert
Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind,
müssen Chancen eröffnet werden, das in Art. 11 des
Grundgesetzes verbriefte Grundrecht auf Freizügigkeit in
Anspruch zu nehmen. Das Sozialticket hilft den Betroffe-
nen, ihr Recht auf Mobilität wahrzunehmen.
Nun zu dem Argument der CDU/CSU, die Bahn sei eine
Aktiengesellschaft, AG, und der Bund könne demzufolge
auf die operative Geschäftsführung keinen Einfluss neh-
men, auch im Aufsichtsrat nicht: Wenn das wirklich so
wäre, warum hat Politik massiv Einfluss genommen, als es
um den Bedienzuschlag ging, den die Deutsche Bahn AG
einführen wollte? Letztendlich musste die Bahn AG diese
Entscheidung zurücknehmen. Damit hat sich Politik sehr
wohl in das operative Geschäft der Bahn eingemischt.
Ein weiteres Beispiel: Zwischen dem Bundestag und
der Deutschen Bahn AG gibt es eine Vereinbarung, dass
Abgeordnete des Deutschen Bundestages unentgeltlich
mit der Bahn erster Klasse fahren können. Dafür erhält
die Bahn AG einen jährlichen Zuschuss. Im Jahr 2008 be-
lief sich dieser Zuschuss auf 1,766 Millionen Euro; das
sind je Abgeordneten rund 240 Euro pro Monat. Um ein
Sozialticket für die Deutsche Bahn AG einzuführen,
könnte der Bund ebenfalls eine Vereinbarung mit der
Deutschen Bahn AG abschließen. Der Zuschuss würde
dann 700 Millionen Euro betragen müssen, wenn man da-
von ausgeht, dass es 14 Millionen Anspruchsberechtigte
dafür gibt. Finanzieren könnte man das Sozialticket ent-
weder durch Umschichtungen der Mittel, die die Deut-
sche Bahn AG aus dem Bundeshaushalt erhält – immer-
hin sind dies 9 Milliarden Euro –, oder aus dem
Überschuss der Bundesagentur für Arbeit, der im Jahr
2008 genau 700 Millionen Euro beträgt. Dies wäre keine
Einmischung in das operative Geschäft der Bahn AG,
man muss es nur politisch wollen.
Politisch gewollt war es zum Beispiel in Köln. Die Köl-
ner Verkehrs-Betriebe sind ebenfalls eine AG, und in Köln
gibt es ein Sozialticket. Die Stadt hat mit den Kölner Ver-
kehrs-Betrieben AG ein Sozialticket ausgehandelt und
zahlt dafür einen Ausgleichsbetrag an die Verkehrsbe-
triebe von rund 2,8 Millionen Euro für das Jahr 2008.
Im Übrigen ist die Linke der Auffassung, dass die Bahn
in öffentliche Hand gehört. Was wir brauchen, ist eine
Bürgerbahn, damit Nutzerinnen und Nutzer wieder Ein-
fluss nehmen können auf die Leistungen, die Qualität der
Leistungen und den Preis der Leistungen. Die Bahn muss
für alle da sein, auch für Menschen, die auf Transferleis-
tungen angewiesen sind; darin liegt ihr öffentlicher Auf-
trag.
Die Fraktion der SPD wirft uns vor, mit der Forderung
nach Einführung eines Sozialtickets für die Bahn AG die
Entsolidarisierung weiter voranzutreiben, weil Men-
schen mit geringem Einkommen von dieser Vergünsti-
gung nicht profitieren würden. Erinnert sei an dieser
Stelle daran, dass es die SPD war, die die Hartz-Gesetze
auf den Weg gebracht und beschlossen hat und damit die
Verfestigung und Ausweitung eines Niedriglohnsektors
forciert hat. Die SPD hat es politisch zu verantworten,
dass es immer mehr Menschen gibt, die von ihrem Ein-
kommen nicht leben können. Die Lösung hierfür kann nur
sein: die sofortige Einführung von Mindestlöhnen und
von einer armutsfesten, repressionsfreien sozialen
Zu Protokoll
Grundsicherung. Solange dies jedoch keine Mehrheiten
findet, wäre ein Sozialticket für die Bahn ein kleiner
Schritt, um Menschen eine Minimalteilhabe am gesell-
schaftlichen Leben zu ermöglichen.
Mobil sein ist in der heutigen Zeit besonders wichtig.
Mobilität ermöglicht uns Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben. Die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II –,
im SGB XII sowie im Asylbewerberleistungsgesetz vorge-
sehenen Anteile für Mobilitätskosten sind viel zu niedrig.
Für 2,99 Euro im Monat kann man nicht verreisen, es sei
denn vielleicht per Anhalter. Und auch der Eckregelsatz
von 11,04 Euro pro Monat für Mobilität mit öffentlichen
Verkehrsmitteln reicht gerade mal alle 14 Tage für einen
Ausflug am Wochenende. Ein Einzelfahrschein im inner-
städtischen öffentlichen Nahverkehr kostet in den meisten
Regionen über 2,00 Euro. Der Preis einer Monatskarte
oder einer Fahrkarte im Fernverkehr liegt deutlich über
diesem Betrag. Wenn wir uns verpflichten, jedem Men-
schen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu er-
möglichen, muss das vorrangige Ziel die Erhöhung des
ALG II sein.
Der Vorschlag, dass Anspruchsberechtigte eine Bahn-
card 25 der Deutsche Bahn AG für einen Preis von
5,00 Euro erhalten sollen, ist aus meiner Sicht eine Über-
legung wert. Da sich die Bahncard 25 mit dem Sparpreis
25 und dem Sparpreis 50 kombinieren lässt, kann bei
rechtzeitiger Buchung und Zugbindung ein Rabatt von
62,5 Prozent auf den Normalpreis erzielt werden. Fahren
mehrere Personen mit einer Bahncard 25 zusammen,
sinkt der Einzelpreis durch den Mitfahrerrabatt noch wei-
ter. Dadurch werden auf vielen Strecken selbst die ver-
meintlichen Preisbrecher wie das 29-Euro-Ticket der
Deutschen Bahn unterboten.
Auf kommunaler Ebene gibt es bereits erste Erfahrun-
gen mit Sozialtickets, mit denen man den lokalen oder re-
gionalen öffentlichen Nahverkehr kostengünstig nutzen
kann, beispielsweise in Berlin oder Dortmund. Das be-
grüße ich ausdrücklich. Solche lokalen Errungenschaften
eins zu eins auf die Bundesebene zu übertragen, halte ich
allerdings für problematisch.
Meiner Meinung nach sollte man sich auch nicht nur
auf das eine Unternehmen Deutsche Bahn AG fixieren. Es
gibt bereits heute andere Fernverkehrsanbieter auf der
Schiene, und es gibt andere Möglichkeiten, in Deutsch-
land zu reisen. Hier sehe ich eine weitere Schwierigkeit
mit dem Vorschlag der Linken. Es stellt sich die Frage:
Sollen beispielsweise auch Fernlinienbusse verpflichtet
werden, Sozialtickets anzubieten? Wie sieht es mit den an-
deren Bahnen aus, die im Fernverkehr fahren? Sollen
diese ebenfalls verpflichtet werden, Sozialtickets einzu-
führen? Eine umfassende gesetzliche Regelung für So-
zialtickets müsste alle Fernverkehrsanbieter umfassen.
Mir erscheint der Antrag der Linken noch unausgego-
ren. Dem Grundgedanken, dass die Politik sich dafür
stark machen soll und kann, dass öffentliche Dienstleis-
tungen auch wirklich von allen Menschen in Anspruch
genommen werden können, ist zwar zuzustimmen, doch
dieser Antrag ist noch nicht ausgereift. Daher wird sich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20869
gegebene Reden
20870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Markus Kurth
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Stimme enthal-
ten und bald eigene Vorschläge vorlegen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die
Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 27:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten: Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
entwicklung des Pfandbriefrechts
– Drucksachen 16/11130, 16/11195 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind
zu Protokoll gegeben: Leo Dautzenberg, Bernd
Scheelen, Carl-Ludwig Thiele, Axel Troost und Gerhard
Schick.
Die Finanzmarktkrise hält die Politik weiter in Atem.
Auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene
diskutieren wir über notwendige Konsequenzen. Die
Frage, die uns bewegt: Wie können wir derartige Krisen
künftig vermeiden? Viel ist da die Rede von mehr Trans-
parenz, mehr Rechenschaftspflicht, mehr Regulierung.
Für Teilbereiche der Finanzmärkte sind diese Forderun-
gen richtig und notwendig. Das gilt zum Beispiel für
Hedgefonds, Ratingagenturen, Zertifikate. Falsch wäre
es aber, den Eindruck zu erwecken, als sei der gesamte
Finanzmarkt ein unregulierter Raum. Das ist mitnichten
so.
Viele Finanzprodukte unterliegen bereits heute einer
umfassenden Regulierung und Aufsicht. Sie sind transpa-
rent, sicher und tragen in verlässlicher Weise zur Versor-
gung unserer Volkswirtschaft mit liquiden Mitteln bei.
Der deutsche Pfandbrief ist ein solch sicheres und für das
Funktionieren der deutschen Wirtschaft unerlässliches
Produkt. So haben Pfandbriefbanken zum Beispiel einen
Anteil von 50 Prozent an der gewerblichen und einen An-
teil von 25 Prozent an der privaten Immobilienfinanzie-
rung. Außerdem werden gut 50 Prozent aller Darlehen
von Gemeinden und Städten über Pfandbriefe gedeckt.
Der Grund für die Beliebtheit des deutschen Pfandbriefes
sind seine hohen Qualitätsstandards. Sie machen ihn so
sicher, wie es sonst nur deutsche Staatsanleihen sind.
Selbst bei der Insolvenz einer Pfandbriefbank sind die
Anleger abgesichert. Die hohen Deckungsmassen stehen
alleine den Pfandbriefgläubigern zur Befriedigung ihrer
Forderungen zur Verfügung.
Das erklärt, warum der Pfandbrief gerade in Zeiten
der Finanzkrise – zumindest bis zur Jahreshälfte – ein ge-
fragtes Produkt war. Im ersten Halbjahr 2008 setzten die
Pfandbriefemittenten Papiere im Volumen von 84 Milliar-
den Euro ab. Das waren 16 Milliarden Euro mehr als im
Vergleichszeitraum des Vorjahres. Vom tiefen Einbruch
an den Finanzmärkten seit der Insolvenz der US-Invest-
mentbank Lehman Brothers Mitte September blieb aller-
dings auch der deutsche Pfandbrief nicht verschont. Der
Absatz ist seitdem stark eingebrochen.
Umso wichtiger ist in dieser Zeit die Unterstützung der
Großen Koalition für den deutschen Pfandbrief. Für uns
ist klar – und das haben wir auch im Finanzmarktstabili-
sierungsgesetz noch einmal deutlich gemacht –: Der
deutsche Pfandbrief ist sicher und wird es auch in Zukunft
sein.
Ein noch deutlicherer Beweis für das Vertrauen der
Großen Koalition in die Stärke und Sicherheit des deut-
schen Pfandbriefes ist das Gesetz zur Fortentwicklung
des Pfandbriefrechts, das wir heute in erster Lesung be-
raten. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Pfand-
briefrechts soll der Erfolg des deutschen Pfandbriefs
auch für die Zukunft gesichert werden. Um das zu errei-
chen, verbessert das Gesetz – nach der Novelle im Jahr
2005 – erneut die Rahmenbedingungen des Pfandbriefs.
Dadurch wird der Pfandbrief für einen noch größeren
Kreis an Kreditinstituten als Refinanzierungsinstrument
attraktiv. Darüber hinaus stärkt das neue Gesetz durch
eine Produktinnovation die Wettbewerbsposition des
deutschen Pfandbriefmarktes im internationalen Kredit-
geschäft.
In Kürze seien an dieser Stelle die wichtigsten Ele-
mente des neuen Pfandbriefgesetzes erwähnt: Erstens.
Mit dem Flugzeugpfandbrief lässt das Gesetz ein neues
Produkt zu. Der Flugzeugpfandbrief genügt wie der
Schiffspfandbrief hohen Sicherheitsanforderungen. Seine
Zulassung ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil in
den nächsten fünf Jahren mit einem jährlichen Neuge-
schäftsvolumen in der Flugzeugfinanzierung von 44 Mil-
liarden Euro gerechnet wird.
Zweitens. Die Konsortialfinanzierung wird erleichtert.
Dazu wird eine Kollision des Deckungsregisters mit Refi-
nanzierungsgesetz beseitigt. Damit verbessern sich ins-
besondere die Möglichkeiten kleinerer Institute, Pfand-
briefe zu emittieren.
Drittens. Die Deckungsfähigkeit von Forderungen ge-
gen Drittstaaten und deren unterstaatliche Stellen mit Bo-
nitätsstufe 1 sowie gegen Zentralbanken wird hergestellt.
Damit wird der Gleichlauf zur neu gefassten Banken-
richtlinie vollzogen. Anders als in der neu gefassten Ban-
kenrichtlinie sollen zur Sicherung der Qualität und Si-
cherheit des deutschen Pfandbriefs allerdings nicht
sämtliche Drittstaaten und deren unterstaatliche Stellen
der Bonitätsstufe 1 für deckungsfähig erachtet werden,
sondern lediglich die bislang deckungsfähigen Länder
USA, Kanada, Schweiz sowie Japan.
Meine Fraktion begrüßt die Novelle des Pfandbrief-
rechts als einen Beitrag zur Stärkung des deutschen
Pfandbriefs und zur Förderung des deutschen Finanz-
platzes. Unser Ziel lautet: Wir wollen die Rahmenbedin-
gungen des deutschen Pfandbriefes verbessern, ohne
seine Qualität und Sicherheit zu beeinträchtigen. Dieses
(C)
(D)
Leo Dautzenberg
Ziel ist der Maßstab unserer parlamentarischen Beratun-
gen über die Einzelheiten des Gesetzes.
Neben den Änderungen des Pfandbriefrechts enthält
das Gesetz, das heute hier zur ersten Beratung ansteht,
Änderungen des Kreditwesengesetzes, KWG, sowie Ände-
rungen des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes, Fin-
DAG, und der Verordnung über die Erhebung von Gebüh-
ren und die Umlegung von Kosten nach dem FinDAG.
Zu den wichtigsten Änderungen im KWG gehört die
Einfügung der Anlageverwaltung als erlaubnispflichtiger
Tatbestand. Diese Ergänzung geht auf ein Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts im Fall GAMAG zurück. Sie
betrifft Anlageprodukte des sogenannten grauen Kapital-
marktes, die die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
aufsicht, BaFin, zum Schutz der Anleger effizient überwa-
chen und gegebenenfalls untersagen soll. Meine Fraktion
unterstützt es ausdrücklich, dass kritische Anlagemo-
delle, bei denen Anlegern der Totalverlust drohen kann,
einer strengeren Überwachung unterzogen werden. Wir
begrüßen daher, dass die Anlageverwaltung nunmehr als
erlaubnispflichtiger Tatbestand im KWG aufgeführt wird.
Wichtig ist uns allerdings, dass die Definition hinrei-
chend klar ist. Das heißt, etablierte Geschäftsmodelle der
bereits regulierten Finanzindustrie dürfen durch die neue
Regelung nicht übermäßig beeinträchtigt werden. Erste
Formulierungen zur Anlageverwaltung ließen dies be-
fürchten. Darauf hat meine Fraktion bereits frühzeitig
hingewiesen. Die mittlerweile im Regierungsentwurf ge-
fundene Formulierung scheint nun aber die von uns ge-
forderte Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu bieten.
Das wurde unter anderem dadurch erreicht, dass der Tat-
bestand der Anlageverwaltung als Finanzdienstleistung
und nicht, wie ursprünglich geplant, als Bankgeschäft
ausgestaltet wurde. Die Union wird im Laufe des Gesetz-
gebungsverfahrens prüfen, ob die nun gefundene Defini-
tion tatsächlich ausreichend trennscharf ist. Gegebenen-
falls werden wir uns für weitere Präzisierungen einsetzen.
Neben der Anlageverwaltung sind auch die Finanzhol-
dinggesellschaften Gegenstand der KWG-Änderungen
im Rahmen dieses Gesetzes. Der neu eingeführte § 2 d
Abs. 2 KWG berechtigt die BaFin zu direkten Eingriffs-
maßnahmen gegenüber den Leitungsorganen von
Finanzholdinggesellschaften und gemischten Finanz-
holdinggesellschaften, die als „übergeordnetes Unter-
nehmen“ bestimmt worden sind, um sicherzustellen, dass
die Einhaltung der Pflichten auf Gruppenebene, für die
das übergeordnete Unternehmen verantwortlich ist, nicht
durch die unzureichende Qualifikation der Geschäftsfüh-
rer gefährdet wird.
Das Finanzdienstleistungsgesetz, FinDAG, und die da-
zugehörigen Verordnungen müssen verändert werden,
weil sich wegen verschiedener gesetzlicher Neuregelun-
gen die Kostenstruktur bei der BaFin verändert hat. Da-
her müssen die Rechtsvorschriften zur Umlageerhebung
an die aktuellen Aufsichtstätigkeiten der BaFin angepasst
werden. Dabei wird die Kostenumlage gleichzeitig verur-
sachungsgerechter ausgestaltet. Meine Fraktion unter-
stützt in diesem Zusammenhang die Bitte des Bundesra-
tes. Der Bundesrat hat die Bundesregierung gebeten,
Zu Protokoll
anhand von Planungs- bzw. Prognoserechnungen darzu-
legen, welche wirtschaftlichen Auswirkungen sich durch
die Änderungen des FinDAG und seiner Verordnungen
insbesondere für die kleineren und mittleren Kreditinsti-
tute ergeben könnten. Mit dem Bundesrat sind wir uns ei-
nig: Die geplanten Änderungen dürfen nicht zu einer hö-
heren Kostenbelastung bei den kleinen und mittleren
Kreditinstituten führen.
Erlauben Sie mir abschließend eine vorläufige Ge-
samteinschätzung des heute zur ersten Lesung anstehen-
den Gesetzes. Das Gesetz leistet mit seinen verschiedenen
Elementen, vor allem mit der Fortentwicklung des Pfand-
briefrechtes, einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des
deutschen Finanzplatzes. Gerade in diesen Zeiten, in de-
nen die Politik die Finanzmärkte besonders unter die
Lupe nimmt, würde ich mich über eine fraktionsübergrei-
fend konstruktive Beratung des Gesetzes freuen.
Anfang 2005 haben wir das neue Pfandbriefgesetz be-
schlossen. Dies war ein großer Schritt voran. Die ver-
schiedenen gesetzlichen Grundlagen des deutschen
Pfandbriefrechts wurden vereinheitlicht. Durch das Ge-
setz wurde die Qualität des deutschen Pfandbriefes weiter
verbessert. Der Anlegerschutz wurde gestärkt. Der
Pfandbrief wurde noch attraktiver für einen breiteren
internationalen Anlegerkreis gemacht. So hat sich der
Absatz von Pfandbriefpapieren besonders in den vergan-
genen Monaten erheblich erhöht. Auch international
stößt der Pfandbrief auf großes Interesse und ist Vorbild
für zahlreiche gedeckte Schuldverschreibungen ausländi-
scher Rechtsordnungen.
Noch immer stellt der deutsche Pfandbrief das größte
Segment des europäischen und globalen Marktes gedeck-
ter Schuldverschreibungen dar. Doch aufgrund der neuen
ausländischen Produkte hat der Wettbewerb weiter er-
heblich zugenommen. Daher ist eine weitere Verbesse-
rung der Rahmenbedingungen erforderlich. Dies ist das
Ziel des vorgelegten Gesetzentwurfs, der im Mai 2009 in
Kraft treten soll. Die Qualität des deutschen Pfandbriefs,
die durch hohe Sicherheitsanforderungen an dieses Pro-
dukt erreicht wird, ist dabei der Maßstab. Verbesserte
Rahmenbedingungen dürfen nicht zu einer Verschlechte-
rung der Qualität führen.
Die auf eine lange deutsche Tradition zurückgehenden
Pfandbriefe sind durch Schiffs-, Staats- oder Hypotheken-
kredite mindestens in gleicher Höhe abgesichert. Im
Falle der Insolvenz einer Bank steht somit eine hohe De-
ckungsmasse zur Verfügung. Die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, beaufsichtigt das
Pfandbriefgeschäft nach dem Pfandbriefgesetz in beson-
derer Weise. Hierzu gehören die mindestens alle zwei
Jahre stattfindenden Deckungsprüfungen, bei denen die
Deckungsmassen der Pfandbriefe geprüft werden. Pfand-
briefe sind durch diese besonderen gesetzlichen Regelun-
gen in Deutschland sicher – in der über 200-jährigen Ge-
schichte des Produktes ist noch nie ein deutscher
Pfandbrief ausgefallen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20871
gegebene Reden
(C)
(D)
Bernd Scheelen
Der Pfandbriefmarkt ist auch von der Finanzmarkt-
krise beeinträchtigt. Dies ist aber nicht in dem Produkt
Pfandbrief begründet. Seine Bonität steht außer Frage.
Die derzeitige Krise der Kreditwirtschaft, die ihren Aus-
gang im Subprime-Marktbereich der Immobilienfinanzie-
rung in den USA nahm, nimmt den Pfandbriefmarkt sozu-
sagen in Sippenhaft. Doch mit diesen Formen der
Immobilienfinanzierung und deren Verbriefung hat der
deutsche Pfandbrief absolut nichts zu tun. Der Pfandbrief
macht eine der traditionellen Stärken des deutschen
Finanzsystems aus.
Mit dem Gesetzentwurf wird die Einführung eines
neuen sicheren Pfandbriefproduktes – des Flugzeug-
pfandbriefs – möglich gemacht. Der Flugzeugpfandbrief
wird durch Pfandrechte an Flugzeugen abgesichert.
Hierbei dient der Schiffspfandbrief, der durch Pfand-
rechte an Schiffen gesichert wird, als Vorbild. Die Rege-
lungen für diese neue Produktkategorie werden den
entsprechenden Regelungen des Schiffspfandbriefs nach-
gebildet. Somit erfüllen diese neuen Pfandbriefe die ho-
hen Qualitätsstandards des deutschen Pfandbriefes.
Außerdem werden mit der Gesetzesnovelle neue Mög-
lichkeiten der Pfandbriefemissionen für kleinere Institute
geschaffen, indem die Konsortialfinanzierung erleichtert
wird.
Das Pfandbriefgesetz soll im Hinblick auf die
Deckungsfähigkeit von Forderungen gegen öffentliche
Stellen an die im Jahr 2006 neu gefasste Bankenrichtlinie
angepasst werden. Forderungen, die sich nicht unmittel-
bar gegen Staaten, sondern gegen deren öffentliche Stel-
len richten, sollen auch dann uneingeschränkt deckungs-
fähig sein, wenn es sich um öffentliche Stellen der USA,
Kanadas, der Schweiz und Japan handelt. Bisher sind
diese Regelungen auf Staaten des EU/EWR-Raumes be-
schränkt.
Ich bin zuversichtlich, dass wir in den Beratungen zum
vorliegenden Gesetzentwurf gut vorankommen werden,
sodass das Gesetz im Februar verabschiedet werden
kann. Die Sicherheit des Anlageprodukts „Pfandbrief“,
der Anlegerschutz und die Stärkung des Pfandbriefes im
Wettbewerb werden für uns bei den Gesetzesberatungen
eine Leitlinie sein.
Die im Jahr 2005 erfolgte Neuordnung des Pfandbrief-
rechts war – da ist dem Vorblatt des Gesetzentwurfs zuzu-
stimmen – durchaus erfolgreich. Nicht umsonst wurde die
damalige Gesetzesänderung vom Deutschen Bundestag
einstimmig beschlossen. Wenn es heute um die Fortent-
wicklung des Pfandbriefrechts geht, geschieht dies vor
dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise. Diese hat
auch den deutschen Pfandbrief in Mitleidenschaft gezo-
gen. Zwar haben die deutschen Pfandbriefemittenten bis
zum Ende des dritten Quartals dieses Jahres mit 122 Mil-
liarden Euro ein Fünftel mehr Pfandbriefe herausgege-
ben als im gleichen Vorjahreszeitraum. Seit der Pleite der
Investmentbank Lehman Brothers ist aber der Pfand-
briefabsatz drastisch zurückgegangen. Im November
konnten die Pfandbriefbanken mit 6 Milliarden Euro nur
noch ein Drittel ihres sonst üblichen Absatzvolumens un-
Zu Protokoll
terbringen. Zu verantworten hat das aber nicht das Pro-
dukt „Pfandbrief“. Vielmehr ist der Pfandbrief, wie es
der Verband deutscher Pfandbriefbanken ausgedrückt
hat, „in Sippenhaft der allgemein schwierigen Entwick-
lung der Kreditwirtschaft genommen worden“. Er ist mit-
telbares Opfer der krisenhaften Entwicklung geworden.
Zu schaffen machen ihm vor allem in- und ausländische
Anleihen, die mit staatlichen Garantien ausgestattet sind.
Diese haben dem Pfandbrief einen Wettbewerbsnachteil
beschert.
Die deutschen Pfandbriefbanken sollten dennoch wei-
terhin der Versuchung widerstehen, auch für ihr Produkt
staatliche Garantien zu fordern. Angesichts seiner Qua-
litäten hat der „Pfandbrief“ dies nicht nötig. Eine Aus-
dehnung der Staatsgarantien auf den Pfandbrief würde
dem Image des Produkts „Pfandbrief“ sogar eher scha-
den. Der potenzielle Anleger würde vermuten, dass es mit
der Sicherheit des Pfandbriefs vielleicht doch nicht so
weit her sei. Der deutsche Pfandbrief wird auch die ge-
genwärtige Krise überstehen. Dazu ist er zu solide. Die-
ses Produkt, das seinen Ursprung in einer Kabinettsorder
des Alten Fritz aus dem Jahre 1769 hat, ist eine der si-
chersten Kapitalanlagen überhaupt.
Das entscheidende Qualitätsmerkmal des deutschen
Pfandbriefs ist dessen starke Absicherung. Als Erstes haf-
tet die Pfandbriefbank für die von ihr ausgegebenen
Pfandbriefe. Sollte diese Haftung nicht greifen und das
emittierende Institut zusammenbrechen, hat der Pfand-
briefbesitzer ein Insolvenzvorrecht. Dieses räumt ihm ei-
nen direkten Zugriff auf die gesetzlich vorgeschriebenen
Sicherheiten für die ausgegebenen Pfandbriefe, die De-
ckungsmasse, ein. Beim Hypothekenpfandbrief besteht
die Deckungsmasse aus den grundpfandrechtlich abgesi-
cherten Forderungen der Bank aus Immobiliendarlehen.
Bei den Schiffshypotheken sind es die durch Schiffshypo-
theken abgesicherten Schiffsdarlehen. Bei den öffentli-
chen Pfandbriefen sind es bestimmte Forderungen gegen-
über exakt festgelegten staatlichen Stellen. Der Begriff
„Pfandbrief“ ist also durchaus wörtlich zu nehmen, zu-
mal für die Deckungsmasse bei den Hypotheken- und
Schiffspfandbriefen nur 60 Prozent der ohnehin sehr vor-
sichtig ermittelten Beleihungswerte der betreffenden Im-
mobilien und Schiffe angesetzt werden.
Abstriche an der Qualität und an den grundlegenden
Merkmalen des Pfandbriefs, die gegenwärtige Banken-
krise zeigt dies überdeutlich, dürfen auch in Zukunft nicht
zugelassen werden. Dies muss auch das Motto des vorlie-
genden Gesetzesvorhabens sein: Fortentwicklung des
Pfandbriefs ja, aber nur dann, wenn der hohe Sicher-
heitsstandard dieses Produkts gewahrt wird.
Fragwürdige Versuchsballons zur Aufweichung des
Pfandbriefstandards hat es vor der Finanzkrise gegeben.
Eine unrühmliche Rolle auf diesem Gebiet hat die EU-
Kommission gespielt. In ihrem Grünbuch „Hypothekar-
kredite in der EU“ vom Juli 2005 hat die Kommission die
abenteuerliche These vertreten, dass es ein wesentlicher
Vorteil sei, „einer größeren Zahl von Kreditnehmern die
Aufnahme eines Kredits zu ermöglichen, einschließlich
solcher, die unter anderem aufgrund schlechter oder un-
vollständiger Ratings von vielen Hypothekarkreditmärk-
20872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Carl-Ludwig Thiele
ten der EU ausgeschlossen sind“. Pate gestanden bei die-
ser Behauptung hatte der EU-Kommission ein Gutachten
der Unternehmensberatung London Economics. Diese
Studie war zu dem Ergebnis gekommen, dass durch eine
Erhöhung der Beleihungswerte auf bis zu sage und
schreibe 120 Prozent erhebliche Wachstumspotenziale
freigesetzt werden könnten, da auf diesem Wege den Ver-
brauchern mehr Mittel für den Konsum zur Verfügung ge-
stellt würden. Der deutsche Hypothekenmarkt, urteilte
London Economics damals, sei durch mangelhafte Pro-
duktvielfalt und eine konservative Fixierung auf Festzins-
kredite gekennzeichnet. Als Schuldiger dieser Misere
wurde der Pfandbrief ausgemacht, der den Banken eine
konservative Kreditvergabe auferlege. Viele Grüße von
der Subprime-Krise schon damals!
Ähnlich zweifelhafte Überlegungen hat die Kommis-
sion auch in ihrem Weißbuch über die Integration der
EU-Hypothekarkreditmärkte vom Dezember 2007 ange-
stellt. Sie hatte sich vorgenommen, auch eine Regelung zu
prüfen, die dem Kreditnehmer einen gesetzlichen An-
spruch auf jederzeitige vorzeitige Rückzahlung seiner
Hypothekenschuld einräumt. Eine solche Regelung
würde die Axt an das Fundament des Pfandbriefs legen,
weil bei Einführung eines solchen Rechts die Fristenkon-
gruenz von Hypothekarkredit und Refinanzierung der
Pfandbriefbanken nicht mehr gewährleistet wäre. Was
dies bedeutet, zeigt das Beispiel der DEPFA, des irischen
Ablegers der Hypo Real Estate. Die DEPFA hat den
Grundsatz der Fristenkongruenz sträflich vernachlässigt.
Zu den von der Kommission am 14. Mai dieses Jahres im
Rat der Wirtschafts- und Finanzminister angekündigten
weiteren Untersuchungen zu dieser Frage kann man des-
halb nur eines fordern: Dauerhafte Einstellung dieser Ar-
beiten!
Einer der zentralen Punkte des vorliegenden Gesetz-
entwurfs, die Einführung des Flugzeugpfandbriefs, be-
darf im Lichte der Finanzmarktkrise einer besonders
gründlichen Diskussion. Dieser Vorschlag ist Ergebnis
eines Prüfauftrags, den der Finanzausschuss des Deut-
schen Bundestags der Bundesregierung bei der Neuord-
nung des Pfandbriefrechts im Jahr 2005 erteilt hat. Die
Bundesregierung hält ausweislich der Gesetzesbegrün-
dung ein solches Produkt für umsetzbar. Sie hat die dafür
vorgesehenen gesetzlichen Regelungen im Wesentlichen
den Regelungen zum 1935 eingeführten Schiffspfandbrief
nachgebildet.
Die Ausschussberatungen werden zu klären haben, ob
Darlehensforderungen, die durch Pfandrechte an Flug-
zeugen abgesichert sind, tatsächlich in gleicher Weise als
Deckungsmasse eines Pfandbriefs geeignet sind wie
durch Pfandrechte an Schiffen abgesicherte Forderun-
gen. Ein besonderes Gewicht wird dabei der Meinung
Sachverständiger zukommen, die in einer öffentlichen
Anhörung zu Wort kommen müssen. Der Markt für Flug-
zeugfinanzierungen ist riesig. Ein Flugzeugpfandbrief
würde deutschen Pfandbriefbanken ein zukunftsträchti-
ges neues Geschäftsfeld eröffnen. Realisiert werden kann
dieses Projekt aber nur dann, wenn ein solcher Pfand-
brief den hohen Sicherheitsstandard des deutschen
Pfandbriefs garantiert.
Zu Protokoll
Bis zum Sommer dieses Jahres mussten wir uns in die-
sem Hause immer wieder anhören, dass Kreditverbrie-
fungen für die deutsche Kreditwirtschaft genau das Rich-
tige sind, weil damit Risiken in alle Welt gestreut werden
können. Heute, kurz vor Jahresende, wissen wir immer
noch nicht, welche wichtigen Finanzkanäle in aller Welt
durch diese munter gestreuten Risiken noch verstopft
werden können. Um so mehr freut es mich, heute über den
deutschen Pfandbrief als ein Refinanzierungsinstrument
sprechen zu dürfen, das sich gerade deshalb bewährt hat,
weil die damit verbundenen Risiken nicht nur gering, son-
dern auch für alle Beteiligten relativ gut überschaubar
sind. Die von der Regierung vorgeschlagenen Änderun-
gen des Pfandbriefrechts sind dementsprechend darauf-
hin zu bewerten, ob dieser Qualitätsstandard auch tat-
sächlich erhöht wird und ob im Lichte der Weltfinanzkrise
die richtigen Lehren gezogen wurden.
Dabei will ich die Neuregelung, dass ausreichend
Liquidität für die innerhalb von drei Monaten fällig wer-
denden Pfandbriefe vorgehalten werden muss, durchaus
als Schritt in die richtige Richtung würdigen. Ebenfalls ist
erfreulich, dass für kleinere Banken die bessere Teilhabe
am Pfandbriefsystem durch die Erleichterung der Kon-
sortialfinanzierung ermöglicht werden soll. Nicht nur mit
Blick auf den Pfandbrief ist die Konsortialfinanzierung
eine sinnvolle Alternative zu der verheerenden Praxis der
Kreditverbriefung. Dies deshalb, weil sich alle an dem
Konsortium Beteiligten, wissend um die Risiken, an der
Finanzierung beteiligen, statt die Kreditrisiken in un-
durchschaubarer Weise, aber mit dem Gütesiegel der
Ratingagenturen versehen, über die ganze Welt zu streuen.
In Anbetracht des Tatbestandes, dass in der andauern-
den Finanzkrise die Unzulänglichkeiten der Ratingagen-
turen längst noch nicht ausreichend aufgearbeitet sind
und die Überlegungen zur Regulierung für diese in der
EU gerade erst begonnen haben, halte ich es aber für äu-
ßerst bedenklich, dass den Ratingagenturen nun eine
maßgebliche Rolle im Gesetz zugewiesen werden soll.
Von daher halte ich es für angebracht, dass deren Aufga-
ben, wie sie im Gesetzentwurf beschrieben sind, zumin-
dest bis auf Weiteres, von hoheitlichen Stellen zu erfüllen
sind.
Überhaupt kein Verständnis habe ich dafür, dass auch
weiterhin unbesehen öffentliche Pfandbriefe für den
isländischen Staat herausgegeben werden dürfen, wäh-
rend dies für Staaten, die in der gegenwärtigen Finanz-
krise deutlich besser dastehen, zum Teil gar nicht möglich
ist. Als zusätzliches Kriterium sollte hier wenigstens in
Betracht gezogen werden, in welchem Verhältnis der Fi-
nanzsektor eines Staates zur gesamten Wirtschaftleistung
steht. Denn je aufgeblähter der Finanzsektor eines Staa-
tes gegenüber seiner sonstigen gesamten Wirtschaftsleis-
tung ist, desto schwieriger wird es, im Krisenfall alle Ver-
bindlichkeiten bedienen zu können.
Was den Schiffs- und den neu zu schaffenden Flug-
zeugpfandbrief angeht, kann ich nicht sehen, dass aus der
Finanzkrise entsprechende Lehren gezogen und die Qua-
lität dieser Wertpapiere entsprechend verbessert werden
sollen. Während beim Hypothekenpfandbrief Derivatege-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20873
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Axel Troost
schäfte nur zu 12 Prozent zur Bedeckung herangezogen
werden dürfen, ist eine derartige Obergrenze für die bei-
den anderen Pfandbriefgattungen nicht vorgesehen. Dies
kritisieren wir.
Schließlich sollen mit diesem Gesetz auch die Regeln
zur Beaufsichtigung von Finanzholdings geändert wer-
den. Dabei ist offensichtlich, dass hier einem Wunsch der
entsprechenden Holdinggesellschaften, allen voran der
Hypo Real Estate, Rechnung getragen wird. Wir halten
die künftig auf Antrag mögliche Zusammenziehung der
notwendigen Maßnahmen zur Risikosteuerung auf der
Ebene der Holding an sich für unproblematisch. Im
Lichte des Prüfungschaos, das bei der HRE auch zu dem
Fiasko im September beigetragen hat, wäre es aber das
Mindeste gewesen, jedes Entgegenkommen in aufsichts-
rechtlichen Fragen an die Bedingung zu knüpfen, dass
sich eine Finanzholding vollumfänglich, also auch mit ih-
ren ausländischen Töchtern, der BaFin zur Prüfung aller
Risiken unterwirft. Es bleibt im Laufe des Gesetzgebungs-
verfahrens auch hier abzuwarten, ob die Koalition gewillt
ist, Lehren aus der Krise zu ziehen, oder ob sie sich wei-
terhin nur als Erfüllungsgehilfe der Finanzmagnaten ver-
steht.
Der Gesetzesentwurf zur Novellierung des Pfandbrief-
rechts sowie der angefügte Passus zum neuen Erlaubnis-
tatbestand der Anlageverwaltung transportieren zwei
wichtige Botschaften. Erstens. Die Kreditverbriefung
kann im Rahmen ordentlicher Gesetze ein sinnvolles
Finanzinstrument sein. Zweitens. Die Bundesregierung
hat endlich einen ersten zaghaften Schritt unternommen,
um der Missstände am grauen Kapitalmarkt Herr zu wer-
den.
Diese Botschaften decken sich mit den grünen Forde-
rungen nach stabilen Finanzmärkten und einer Stärkung
des Anlegerschutzes. Daher begrüßen wir die generelle
Stoßrichtung des Gesetzes. Gleichwohl haben wir bei den
vorgeschlagenen Regelungen inhaltliche Bedenken wie
auch Kritik an der konzeptionellen Vorgehensweise.
Lassen Sie mich zunächst auf den pfandbriefrechtli-
chen Teil zu sprechen kommen. Die Verbriefung von Kre-
diten ist durch die Finanzmarktkrise stark in die Kritik
geraten. Denn es ist unbestritten, dass etwa die hypothe-
kenbesicherten Anleihen, die in den USA begeben wur-
den, mit ursächlich für eine globale Finanzmarktkrise
sind, die mittlerweile zu einer ernsthaften Bedrohung für
das Weltwirtschaftssystem herangereift ist.
Das Problem liegt allerdings nicht beim Verbriefungs-
mechanismus als solchem. Verbriefungen sind und blei-
ben ein sinnvoller Weg, um Risiken auf mehrere Schultern
zu verteilen und über die Refinanzierungsmöglichkeit der
Banken Spielräume für neue Kreditvergabe zu eröffnen.
Dieser Vorgang ist auch ganz im Sinne eines konservati-
ven Kapitalmarktverständnisses, demgemäß solche Kon-
struktionen letztlich der Realwirtschaft zu dienen haben.
Notwendig sind allerdings Regeln, die für eine hohe Qua-
lität und Transparenz der Verbriefungsprodukte sorgen.
Diese Regeln fehlten in den USA. Wir haben sie aber in
Deutschland mit dem Pfandbriefgesetz, das insbesondere
Zu Protokoll
durch die Vorgabe restriktiver Beleihungswerte einen
Sicherheitspuffer schafft und dadurch Vertrauenswürdig-
keit und Stabilität des Anlagesegments garantiert.
Wenn nun in der Gesetzesbegründung der aktuellen
Novelle nachzulesen ist, die Änderungen des Pfandbrief-
rechts seien zuvorderst notwendig, um im Wettbewerb mit
anderen Ländern um die günstigsten Rahmenbedingun-
gen bestehen zu können, dann ist höchste Vorsicht gebo-
ten. Selbstverständlich ist bei einem Rechtsgebiet, dessen
Wurzeln aus dem 18. Jahrhundert herrühren, manche Re-
gelung überholt und als unnötig bürokratisch ersatzlos zu
streichen, wie es etwa beim Treuhändermitverschluss der
Fall ist. Solche verwaltungstechnischen Erleichterungen
steigern die Effizienz des Verbriefungsmechanismus und
machen den deutschen Pfandbrief wettbewerbsfähiger.
Andere Länder gewinnen allerdings insbesondere des-
halb an Emissionsvolumen, weil die Vorgaben über Belei-
hungswerte lockerer sind oder die Palette an Pfandbrief-
gattungen breiter ist. Ein solches Race to the Bottom darf
aber bei der Novellierung des Pfandbriefgesetzes keines-
falls im Vordergrund stehen. Wir werden im parlamenta-
rischen Verfahren sehr genau darauf achten, dass
vorgenommene Änderungen nicht trotz gegenteiliger Be-
teuerungen im Regierungsentwurf zu einer Aufweichung
der Qualität des deutschen Pfandbriefes und letztlich zu
einer Minderung des Anlegerschutzes führen.
Einen Punkt möchte ich vor dem Hintergrund aktueller
Entwicklungen der Finanzmarktkrise schließlich beson-
ders betonen: Gerade in Zeiten, in denen sich Banken ge-
genseitig nicht mehr vertrauen, der Interbankenmarkt
also tot ist und Refinanzierungsmöglichkeiten gering
sind, steigt die Bedeutung der hinreichend gedeckten
Pfandbriefe. Pfandbriefe konnten sich daher lange Zeit
als Krisengewinner behaupten, bis es schließlich im Sep-
tember zu Turbulenzen bei der Hypo Real Estate kam. Es
lässt sich gut argumentieren, dass selbst eine Insolvenz
des besagten Institutes die ausgegebenen Pfandbriefe
nicht hätte wertlos werden lassen. In der Theorie hätte die
getrennte Deckungsmasse ein Garant dafür sein müssen,
dass eine Insolvenz des begebenden Instituts weder Zins-
zahlung noch Rückzahlung des investierten Geldes der
Anlegerinnen und Anleger beeinträchtigen kann. Aller-
dings ist diese Handlungsfähigkeit trotz Insolvenz nur ge-
sichert, sofern vorübergehend ausreichend Liquidität
vorhanden ist.
Diese Frage, was bei kurzfristigen Engpässen, also
Fällen, in denen mehr Pfandbriefe als Kredite des Sicher-
heitenpools fällig werden, für Folgewirkungen entstehen
und wie dem begegnet werden kann, rückt den im Gesetz-
entwurf behandelten Aspekt des Liquiditätsrisikos ins
Rampenlicht. Aus diesem Grund ist es für uns Grüne im
weiteren Beratungsverlauf wesentlich, ob das Liquidi-
tätsrisiko insbesondere eindimensional ausgerichteter
Geschäftsmodelle wie jener der Immobilien- und Staats-
finanzierer in der Novelle angemessen geregelt wird. Wir
stehen der gegenwärtigen Regelung einer Liquiditätsre-
serve von lediglich 90 Tagen skeptisch gegenüber.
Lassen Sie mich ferner auf den zweiten Punkt zu spre-
chen kommen, der die Einführung eines neuen Erlaub-
nistatbestands der Anlageverwaltung im Kreditwesenge-
20874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20875
(C)
(D)
Dr. Gerhard Schick
setz betrifft. Der neue Erlaubnistatbestand der
Anlageverwaltung wird bestimmte kollektive Anlagemo-
delle, die bisher auch nicht vom Investmentgesetz erfasst
wurden, einer Regulierung zuführen. Unter Anlagever-
waltung fallen künftig auch gesellschaftsrechtliche Treu-
handkommanditstrukturen, wie sie insbesondere bei ge-
schlossenen Fonds vorzufinden sind. Allerdings scheint
der Anwendungsbereich durch zahlreiche Punkte einge-
schränkt zu sein, so etwa durch die Voraussetzung, dass
der Erlaubnistatbestand nur greift, wenn die Anlage in
bestimmte Finanzinstrumente erfolgt. Jedenfalls steht un-
ter dem Strich, dass für viele bisher ungeregelte Fonds-
konstruktionen Transparenz geschaffen wird und die
Organisations- und Wohlverhaltenspflichten des Wertpa-
pierhandelsgesetzes anwendbar sind. Das ist ein wichti-
ger erster Schritt.
Es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung hier
im Ansatz eine Forderung der Grünen umsetzt, die wir im
Zuge der Umsetzung der Finanzmarkt-Richtlinie einge-
bracht haben: geschlossene Fonds oder vergleichbare
Konstruktionen des grauen Kapitalmarktes an das Anle-
gerschutzniveau des geregelten Kapitalmarktes anzuglei-
chen. Vor einem Jahr wurde diese Forderung unter ideo-
logischem Klammern an das Dogma einer Eins-zu-eins-
Umsetzung europäischer Richtlinien ohne Debatte abge-
lehnt. Plötzlich ist es im vorliegenden Gesetz ohne Pro-
bleme und unter kurzem Hinweis auf fehlende Einschlä-
gigkeit der Finanzmarkt-Richtlinie möglich, den
Regelungsrahmen doch zugunsten der Anlegerinnen und
Anleger zu erweitern. Diesen Wandel begrüßen wir sehr.
Er folgt aber nicht etwa der inhaltlichen Überzeugung
der Koalition, dass hier dringend etwas zu tun wäre, son-
dern lediglich der Entscheidung des Bundesverwaltungs-
gerichts in der Sache GAMAG. Wir Grüne werden im par-
lamentarischen Verfahren dafür eintreten, dass bei dem
Gesetz mehr als lediglich eine zusammengestauchte Lex
GAMAG herauskommt. Die Bundesregierung schreibt in
der Gesetzesbegründung auf Seite 75: „… der Privatan-
leger wird regelmäßig durch eine Vielzahl an Gebühren
und Kosten belastet und da es sich nicht um Sonderver-
mögen im Sinne des Investmentgesetzes handelt, droht
den Privatanlegern das Risiko des Totalverlustes der ein-
gezahlten Gelder. Eine Freistellung dieser Modelle von
der Erlaubnispflicht nach dem Kreditwesengesetz und
von den Organisations- und Wohlverhaltenspflichten
nach dem Wertpapierhandelsgesetz würde gegenüber
vergleichsweise risikoarmen Tätigkeiten, die Kreditwe-
sengesetz und Wertpapierhandelsgesetz unterfallen, ei-
nen nicht hinnehmbaren Wertungswiderspruch darstel-
len.“ Wir würden uns wünschen, die Bundesregierung
nähme diesen Maßstab für ihre Anlegerschutzpolitik
ernst. Daraus folgte nämlich, dass man sich das umfas-
sende Problem „grauer Kapitalmarkt“ einmal konzep-
tionell vorknöpft.
Richtig und wichtig wäre es, eine Initiative durch Bund
und Länder anzustoßen, die die Ursachen der Intranspa-
renz und Anlagebetrugsfälle systematisch analysiert und
erfasst, materielle Anlegerschutzlücken gesetzlich behebt
und zugleich Fragen der Finanzaufsicht sowie der Aus-
stattung und Kompetenz der Gerichte und Staatsanwalt-
schaften berücksichtigt. Stattdessen wird im vorliegenden
Gesetz halbherzig ein Einzelaspekt beiläufig mit geregelt.
Das wird den Missständen am grauen Kapitalmarkt nicht
ansatzweise gerecht. Es ist aber für Anlegerinnen und An-
leger nicht hinnehmbar, dass sie – wie kürzlich im Fall
Göttinger Gruppe erneut geschehen – Schäden in Mil-
liardenhöhe erleiden, ohne dass sich der Gesetzgeber mit
diesem Problem angemessen beschäftigt. Überdies sind
solche Vorkommnisse wie bei der Göttinger Gruppe für
die Reputation des Finanzstandorts Deutschland schäd-
lich sowie volkswirtschaftlich eine sinnlose Fehlalloka-
tion in Milliardenhöhe.
Kurzum, wir sehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf
eine bedeutende Regelungsmaterie in stürmischen
Finanzmarktzeiten und damit eine Chance für klare ord-
nungspolitische Vorgaben. Hier sollten erste Erkennt-
nisse aus der Finanzmarktkrise Eingang finden und der
Finanzplatz Deutschland anlegerfreundlich weiterentwi-
ckelt werden sowie eine Stärkung der Integrität und Sta-
bilität erfahren. Dafür werden wir uns im parlamentari-
schen Verfahren einsetzen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Sie sind ganz offensichtlich
damit einverstanden. Also geschieht das so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksamen Schutz vor Glücksspielsucht ge-
währleisten
– Drucksache 16/10878 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den von Andreas G. Lämmel, Garrelt Duin, Detlef Parr,
Martina Bunge und Harald Terpe zu Protokoll genom-
men.
Wir beraten heute in erster Lesung den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Wirksamen Schutz vor
Glücksspielsucht gewährleisten“. Darin wird gefordert,
die Verordnung über Spielgeräte und andere Spiele mit
Gewinnmöglichkeit, kurz: Spielverordnung, zur Verbes-
serung des Spielerschutzes weiter zu verschärfen.
Im Einzelnen sollen die in der Spielverordnung festge-
legte Mindestspielzeit angehoben, die Einsatzbeträge und
der maximale Stundenverlust abgesenkt und der Einsatz
von Kunden- oder Kreditkarten an Geräten verboten wer-
den. Geldautomaten sollen in Spielhallen nicht aufgestellt
werden dürfen, und das Ausspionieren von Spielgewohn-
(C)
(D)
Andreas G. Lämmel
heiten einzelner Spielerinnen und Spieler soll verboten
werden. Für Spielerinnen und Spieler soll die Möglichkeit
geschaffen werden, sich sperren zu lassen. Schließlich
soll die Bundesregierung unter Beteiligung der Bundes-
länder eine Studie zur Glücksspielsucht, zum Abhängig-
keitspotenzial und zu den volkswirtschaftlichen Folgekos-
ten des Glücksspiels in Auftrag geben.
Für meine Fraktion möchte ich eingangs betonen, dass
der Spielerschutz auch für uns ein wichtiges Anliegen ist.
Ich halte aber nichts von einem Wettlauf der Verbote in ei-
ner freiheitlichen Gesellschaft, wenn diese aus wohl-
fahrtsökonomischen, sozialpolitischen oder sonstigen
wichtigen Gründen nicht unbedingt erforderlich sind. Die
Gefahren der Glücksspielsucht, insbesondere die dro-
hende Verschuldung der Betroffenen, sind unbestritten.
Allerdings dürfen wir uns bei gesetzlichen Beschränkun-
gen meiner Meinung nach nicht ausschließlich an den
denkbar schädlichsten Auswirkungen von angebotenen
Gütern und Dienstleistungen orientieren.
In diesem Fall heißt das: Nicht jeder, der das Automa-
tenspiel liebt, ist gleich süchtig danach, genau wie nicht
jeder, der hin und wieder einen guten Wein mag, alko-
holabhängig ist. Wir müssen deswegen bei Einschränkun-
gen und Verboten immer mit Augenmaß vorgehen. Dies
gilt nicht zuletzt auch in Anbetracht der Arbeitsplätze, die
mit der Herstellung, dem Aufstellen und dem Betrieb von
Glücksspielautomaten verbunden sind.
Der deutsche Glücksspielmarkt zeichnet sich aufgrund
unserer föderalen Struktur durch eine Zweiteiligkeit aus.
Der größte Teil der Glücksspiele, das heißt alle Glücks-
spiele, die in der Spielverordnung nicht erfasst werden,
unterliegen der Gesetzgebung und dem Vollzug der Län-
der. Der Bund regelt nur das gewerbliche Spiel, welches
im Jahr 2006 – neuere Zahlen liegen mir nicht vor –
21,5 Prozent des gesamten Glücksspielmarktes von rund
27 Milliarden Euro in der Bundesrepublik Deutschland
umfasste. Dieser Bereich wird auch als „kleines Spiel“
bezeichnet, weil er im Unterschied zu dem von den Län-
dern geregelten „großen Spiel“ bezüglich der zulässigen
Einsätze wie auch der möglichen Gewinne eng begrenzt
ist.
Zu dem vom Bund geregelten „kleinen Spiel“ gehören
zum Beispiel Unterhaltungsspielgeräte mit Geldgewinn-
möglichkeit, die in Spielhallen und Gastwirtschaften auf-
gestellt werden dürfen, sowie Losbuden, Schieberauto-
maten auf Volksfesten, Skatturniere und Ähnliches. Auf
den Bereich der Geldspielgeräte bezieht sich der vorlie-
gende Antrag.
Der Betrieb dieser Geräte unterliegt den – auch im in-
ternationalen Vergleich – sehr strengen Vorgaben der Ge-
werbeordnung und der Spielverordnung. Danach dürfen
allein solche Spielgeräte aufgestellt werden, die von der
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, PTB, zugelas-
sen sind. Die entsprechende Prüfplakette muss zum
Schutz vor Veränderungen am Gerät alle 24 Monate er-
neuert werden. Die Zulassung der Bauart eines Spielge-
rätes ist zu versagen, wenn die Gefahr besteht, dass der
Zu Protokoll
Spieler unangemessen hohe Verluste in kurzer Zeit erlei-
det.
Mit der letzten Novelle zur Spielverordnung im Jahr
2006 wurden dafür erstmalig auch detaillierte Höchst-
grenzen in Euro und Cent eingeführt. Die Grenzwerte lie-
gen demnach bei maximal 80 Euro Verlust und 500 Euro
Gewinn je Stunde. Eine weitere neue Restriktion ist die
fünfminütige Abschaltung des Spielgerätes nach einem
Spielbetrieb von einer Stunde. Diese Forderungen aus
dem Antrag sind also schon umgesetzt. Die Spielverord-
nung erhält darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Re-
striktionen, die eine Eindämmung der vom Automaten-
spiel ausgehenden Gefahren verfolgen.
Beispielsweise sind die Automatenaufsteller verpflich-
tet, die Spielregeln und den Gewinnplan deutlich sichtbar
am Gerät anzubringen sowie an den Geräten deutlich
sichtbar auf die Gefahren des übermäßigen Spielens und
auf den Jugendschutz sowie auf Beratungsmöglichkeiten
bei pathologischem Spielverhalten hinzuweisen. Der Auf-
steller darf dem Spieler keine Vergünstigungen, insbeson-
dere keine unentgeltlichen Spiele, Nachlässe des Einsat-
zes oder sonstige finanzielle Vergünstigungen einräumen.
Die Speicherung von Geldbeträgen in Einsatz- und Ge-
winnspeichern ist bei Geldannahme vom Spieler in der
Summe auf 25 Euro begrenzt. Ich möchte Sie an dieser
Stelle nicht langweilen und davon absehen, weitere Ein-
schränkungen zu nennen. Mir liegt aber viel daran aufzu-
zeigen, dass es sich bei dem Automatenspiel keineswegs
um einen rechtsfreien Bereich handelt.
Es ist allerdings richtig, dass die Mindestdauer für
einzelne Spiele mit der letzten Novelle, wie in dem Antrag
kritisiert, von zwölf auf fünf Sekunden herabgesetzt
wurde. Dafür gab es aber einen handfesten Grund. Insbe-
sondere junge Menschen, die schnellere Spielabläufe
durch Computerspiele gewohnt sind, haben sich in der
letzten Zeit verstärkt neueren, schnelleren, elektronischen
Spielen, sogenannten Fun Games, zugewandt. Aufgrund
der alten, längeren Mindestspieldauer, die noch auf me-
chanische Spielgeräte ausgelegt war, haben diese Spiele
bis 2006 zwangsweise in der Illegalität stattgefunden. Mit
der Herabsetzung der Mindestspieldauer haben wir diese
Fun Games in einen legalen und öffentlich-rechtlich kon-
trollierbaren Bereich überführt. Ich halte dies für richtig,
weil es, wie ich eingangs erwähnte, nutzlos ist, gut-
gemeinte Verbote aufzustellen, die dann das Gegenteil
von dem bewirken, was man eigentlich will.
Aus all diesen Gründen werden wir Ihrem Antrag, sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen der Bündnisgrünen-
Fraktion, nicht zustimmen. Die Umsetzung Ihrer Forde-
rungen würde zu einer neuerlichen Angebotsreduzierung
im legalen Bereich und zu einem verstärkten Ausweichen
in illegales Spiel mit all seinen negativen Konsequenzen
führen. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass mit der
Novelle im Jahr 2006 auch festgelegt wurde, die Auswir-
kungen der Novellierung vier Jahre nach Inkrafttreten,
also im Jahr 2010, in einem Bericht zu evaluieren. Ich
sehe keine Notwendigkeit für erneuerte Novellierung der
Spielverordnung zum jetzigen Zeitpunkt, bevor die Ergeb-
nisse dieser Evaluierung vorliegen.
20876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Der Betrieb von Spielgeräten mit Gewinnmöglichkeit
in Spielhallen und Gaststätten richtet sich nach den Be-
stimmungen der Gewerbeordnung, die in Verbindung mit
der Spielverordnung bereits das Ziel einer Eindämmung
der vom Automatenspiel ausgehenden Gefahren verfolgt.
Danach dürfen allein solche Spielgeräte aufgestellt wer-
den, die von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt
zugelassen wurden. Die Zulassungskriterien sind
streng auf den Spielerschutz ausgerichtet.
Mit der Novelle zur Spielverordnung im Jahr 2006
wurden die für den Spielerschutz entscheidenden Höchst-
grenzen für den Verlust und Gewinn je laufender Stunde
eingeführt. Eine weitere neue wesentliche Restriktion ist
die fünfminütige Abschaltung des Spielgerätes nach ei-
nem Spielbetrieb von einer Stunde. Damit ist die in dem
lung von mechanischen Spielgeräten auf elektronische
Geräte reagiert.
Die Novelle war auf die nicht ganz einfache Balance
hin ausgerichtet, einerseits das unkontrollierte illegale
Spiel mit den Fun Games – unter Einsatz von Weiterspiel-
marken, sogenannten Token – zu unterbinden und ande-
rerseits das von diesen Fun Games angebotene schnellere
Spiel in einen legalen und öffentlich-rechtlich kontrollier-
baren Bereich zu überführen. Dies ist im Großen und
Ganzen auch gelungen.
Eine neuerliche Angebotsreduzierung im legalen Be-
reich würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Aus-
weichen in illegales Spielen mit all seinen negativen
Konsequenzen führen. Unter dem Aspekt der Krimi-
nalitätsverhinderung wurde seinerzeit die Novelle zur
Spielverordnung ausdrücklich von den Landeskriminal-
ämtern unterstützt.
Nicht erwähnt wird in dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das von den Kasinos betriebene
Automatenspiel, bei dem unbeschränkt gespielt werden
darf. Offensichtlich wird in diesem Bereich allein die Mo-
nopolstellung als ausreichendes Mittel zur Eingrenzung
der Spielsuchtgefahren angesehen. Derzeit laufen in den
Kasinos die gefährlichsten Spielautomaten mit Verlust-
möglichkeiten von 200 Euro je Zwei-/Drei-Sekunden-
Spiel, während zugleich die Gewinnaussichten nach oben
hin unbegrenzt sind und zusätzlich durch Jackpots ange-
heizt werden. Diesbezüglich liegen keine Untersuchun-
gen vor, inwieweit hier angesichts der besonders hohen
Gewinnanreize eine besondere Suchtgefährdung anzu-
nehmen ist; ebenso gibt es keine Untersuchungen zu den
tatsächlichen Verlusten und Auswirkungen für die betrof-
fenen Spieler in diesem Bereich.
Mit der Novellierung der Spielverordnung in 2006 war
auch festgelegt worden, dass die Auswirkungen der No-
vellierung evaluiert werden und hierüber vier Jahre nach
Inkrafttreten der Novelle ein Bericht vorgelegt werden
soll. Dies wäre 2010 der Fall. Die Ergebnisse dieser Eva-
luation sollten abgewartet werden, bevor erneut über
eine Novellierung der Spielverordnung nachgedacht
wird.
Zu Protokoll
Glücksspiel und Glückspielsucht dürfen nicht zusam-
men in einen Topf geworfen werden. Nicht jeder Glücks-
spieler ist automatisch süchtig. Es gibt viele Menschen,
die Freude daran haben, hin und wieder zu spielen. Sie
sind weder abhängig noch süchtig.
Zu Recht wird in dem Antrag die Inkonsequenz des ak-
tuellen Glücksspielstaatsvertrages aufgegriffen. Auf die-
sen möchte ich im Folgenden näher eingehen. Der Ver-
trag stand von Anfang an auf wackligen Beinen und ist
nach wie vor umstritten. Wir alle kennen die wiederholten
eindeutigen Stellungnahmen der Europäischen Kommis-
sion zu diesem Staatsvertrag. Er widerspricht in wesent-
lichen Teilen Europarecht, er ist inkohärent und in der
jetzigen Form rechtlich nicht durchsetzbar. Ende Januar
hat Brüssel ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
Deutschland in Gang gesetzt, da weder die Bundesregie-
rung noch die Bundesländer die vielen Vorwürfe ausräu-
men konnten.
Nach einem Jahr Erfahrungen mit und Streit um den
Glücksspielstaatsvertrag ist dringend eine Evaluierung
erforderlich, damit dessen Wirkung klar ersichtlich wird.
Untersucht werden müssen vor allem drei Bereiche:
Suchtverhalten, Präventionsmaßnahmen und finanzielle
Auswirkungen auf gesellschaftliche Gemeinwohlbelange.
Gerade die finanziellen Auswirkungen sind nicht weg-
zureden. Die Umsatzverluste belaufen sich im ersten Jahr
des Inkrafttretens nach Aussagen des Präsidenten des
Verbandes Europäischer Wettunternehmer auf satte
2 Milliarden Euro – ich wiederhole: 2 Milliarden Euro –;
das ist kein Pappenstiel. So langsam sickern die Informa-
tionen über Konsequenzen des Staatsvertrages auch bei
den Betroffenen durch. Eine aktuelle Umfrage des Mei-
nungsforschungsinstituts TNS Emnid hat ergeben, dass
85 Prozent aller Befragten mit negativen Auswirkungen
auf die Erziehung von Kindern und Jugendlichen rech-
nen, wenn die staatlichen Förderbeträge im Sportbereich
wegbrechen. Parlamentarische Initiativen in den Län-
dern haben bewiesen, dass es dramatische Umsatzein-
brüche im Glücksspiel gibt.
Was aber noch schlimmer ist: Der Schwarzmarkt flo-
riert. Durch die maßlosen Verbote haben wir es dubiosen
Anbietern möglich gemacht, bei uns Fuß zu fassen. Und
in einem Schwarzmarkt spielen Jugendschutz und Spiel-
suchtbekämpfung bekanntlich keine Rolle.
Glücksspiel ist ein häufig negativ belegter Begriff. Al-
lerdings sollte man auch nicht vergessen, dass sich dahin-
ter ein großer Wirtschaftsfaktor mit zahlreichen Arbeits-
plätzen verbirgt. Die Unterhaltungsautomatenwirtschaft
beispielsweise sichert circa 65 000 Arbeitsplätze; seit
September 2008 gibt es spezifische Ausbildungsberufe für
diesen Bereich.
Und nicht zuletzt verdient auch der Staat am Glücks-
spiel über die Steuern jede Menge Geld, circa 1 Milliarde
Euro an Steuern und Sozialabgaben. Spielsucht ist nur
ein Feigenblatt. Heute hat dies Professor Dr. Bodo
Pieroth in einem Artikel in der „FAZ“ deutlich gemacht:
„Deshalb war auch der Begriff der Lottosucht unbe-
kannt, und über angeblich Lottosüchtige ist noch nichts
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20877
gegebene Reden
(C)
(D)
Detlef Parr
berichtet worden“. Den Staat hat es bis zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 nicht in-
teressiert, ob und wie Glücksspiel süchtig macht.
Es gilt, eine angemessene Lösung zu finden, einen Mit-
telweg zwischen Suchtprävention und unternehmerischer
Freiheit. Das Schaffen neuer Regelungen oder Verbote ist
nicht wünschenswert. Sinnvoller ist das parallele Be-
schreiten zweier Wege: das Einbeziehen der Betroffenen
in den Diskussionsprozess und das frühe, präventive Auf-
klären über die Gefahren und das Suchtpotenzial von
Glücksspielen.
Die Aufklärung über die Konsequenzen der möglichen
Folgen pathologischen Glücksspiels ist wichtig: Neben
totalem Kontrollverlust drohen sozialer Absturz und die
Schuldenfalle. Durch entsprechende Erziehung kann man
den jungen Menschen mit auf den Lebensweg geben, wie
sie vernünftig mit Abhängigkeitsgefahren umgehen und
sich selbst schützen können.
Im Übrigen haben wir kein Gesetzes-, sondern ein
Vollzugsdefizit. Das Jugendschutzgesetz verbietet unter
16-Jährigen das Spielen an Geldautomaten. Das wird lei-
der nicht immer konsequent durchgesetzt und eingehal-
ten. Bevor als billige Lösung neue Regelungen oder Ver-
bote geschaffen werden, gilt es zunächst dieses Defizit zu
beseitigen.
Natürlich sind Suchtfälle und pathologisches Glücks-
spiel eine Erscheinungsform in unserer Gesellschaft, die
sich leider nicht verhindern lässt. Wie in anderen Berei-
chen gibt es eine Minderheit, die von Suchterscheinungen
betroffen ist. Die epidemiologische Datenlage ist jedoch
nach wie vor dünn. Die Jahresstatistik der professionel-
len Suchtkrankenhilfe gibt für das Jahr 2007 die Zahl von
2,2 Prozent für pathologisches Glücksspiel an. Über die
letzten Jahre lag diese konstant bei circa 2 Prozent. Die
Dunkelziffer der Betroffenen ist jedoch weit höher, da hier
nur Fälle erfasst werden, die bereits eine Beratungsstelle
aufgesucht haben.
Wer nicht innerhalb des Suchthilfesystems behandelt
wird, wird auch nicht erfasst. Um gezielt Prävention zu
betreiben und auch Therapieformen anbieten zu können,
ist deshalb eine Verbesserung der Datenlage dringend
nötig. Sucht ist immer ein dringliches Thema, weil Einzel-
schicksale damit verknüpft sind. Schnellschüsse und das
Schaffen neuer Regulierungen sind jetzt jedoch nicht
sinnvoll. Sonst entstehen inkohärente Vertragsgebilde
wie der Glücksspielstaatsvertrag, die nicht weiterhelfen.
Gefordert sind auch die Automatenhersteller und Au-
tomatenaufsteller. Sie müssen Lösungen anbieten. Viele
sind bereits auf dem Weg. Im Zuge der Selbstverpflich-
tung wurden zum Beispiel schon Maßnahmen ergriffen,
wie das automatische Abschalten der Geldspielgeräte für
drei Minuten nach einer Stunde ununterbrochenen
Spielens, der Aufdruck von Altersbeschränkungen, die te-
lefonische Spielerberatung über eine zentrale Infotele-
fonnummer der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung, das Auslegen von Informationsflyern, die über
die Risiken des übermäßigen Spielens aufklären.
Eine Überprüfung der erst seit Anfang 2006 geltenden
verschärften Vorschriften der Spielverordnung belegt,
Zu Protokoll
dass die Absichten des Verordnungsgebers von den Un-
ternehmen umfassend und konsequent umgesetzt worden
sind.
Die Neuregelungen der Spielverordnung stellen einen
effektiven Spieler- und Jugendschutz sicher und dienen
auch der Kriminalitätsverhinderung. Unter diesem As-
pekt haben seinerzeit die Landeskriminalämter ausdrück-
lich die Novelle zur Spielverordnung unterstützt, um ei-
nem unkontrollierten illegalen Spiel Einhalt zu gebieten
und das gewerbliche Unterhaltungsautomatenspiel in ei-
nen legalen und öffentlich-rechtlich kontrollierbaren Be-
reich zu überführen.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch einmal
betonen: Die Forderung im vorliegenden Antrag, die
Spielverordnung neu zu überarbeiten, ist nicht sinnvoll.
Anfang 2006 wurde diese gerade reformiert unter Betei-
ligung aller Betroffenen. Warten wir doch zunächst ein-
mal die Ergebnisse in Ruhe ab! Eine Neuregelung ist für
die betroffenen Unternehmen Schikane und bedeutet auch
gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise eine große Pla-
nungsunsicherheit.
Mein abschließender Appell an Sie lautet deshalb:
Lassen Sie uns eine grundlegende Überprüfung des
Glücksspielstaatsvertrages anstreben. Dieser, der gegen
den Willen der Beteiligten entstanden und völlig inkohä-
rent ist, muss dringend reformiert werden. Lassen Sie uns
besonnen und gemeinsam mit allen Beteiligten eine trag-
fähige Lösung zur Bekämpfung der Glücksspielsucht da
erarbeiten, wo sie notwendig ist!
Die Glücksspielsucht in Deutschland ist ein großes,
wenn auch leider viel zu wenig beachtetes Problem. Be-
sondere Bedeutung kommt dabei den Glücksspielautoma-
ten zu. Genau bei diesen kommt der Bundesregierung mit
ihrer Änderung der Spielverordnung im Januar 2006 wie-
der einmal eine unrühmliche Rolle zu. Sie wollte die Au-
tomatenaufsteller wirtschaftlich unterstützen. So durften
diese ab 2006 wieder mehr Automaten in Gaststätten auf-
stellen, und der Spielverlust pro Stunde wurde erhöht. Ge-
winne der Aufsteller auf der einen Seite führen natürlich
zu Verlusten auf der anderen Seite.
Die Folgen der Spielsucht sind für die Betroffenen und
ihr Umfeld enorm. Sie reichen von Geldnot oder gar Ver-
schuldung bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes und Pro-
blemen in der Familie und Partnerschaft. Daher ist es
wichtig, dass diese Problematik nunmehr auf der Agenda
des Deutschen Bundestages ist.
Grundsätzlich fällt die Einordnung der Spielsucht
nicht immer leicht, ähnlich wie bei anderen stoffungebun-
denen Süchten wie Internetsucht, Mediensucht oder auch
Esssucht. Sie wird zu den sogenannten Verhaltenssüchten
gerechnet. Dennoch ist es sinnvoll – wie auch im Antrag
der Grünen vorgesehen –, strukturelle, verhältnisorien-
tierte Veränderungen herbeizuführen. Gesundheitsver-
halten genauso wie Spielverhalten finden nicht im luftlee-
ren Raum statt, sondern mitten in unserer Gesellschaft.
Spielsucht darf daher nicht unabhängig von der gesell-
schaftlichen Realität betrachtet werden. Es ist aber leider
20878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Martina Bunge
oft für die Gesellschaft am einfachsten, die Schuld dem
Einzelnen zuzuschreiben.
Es ist erwiesen: Zwischen der leichten Verfügbarkeit
und Griffnähe eines Spielangebots und einem verstärkten
Nachfrageverhalten besteht ein eindeutiger Zusammen-
hang. Da unterscheidet sich Glücksspiel übrigens nicht
von Tabak oder Alkohol. Und die Struktur der Zugäng-
lichkeit, die Dauer der Spieleinheiten oder die in Aussicht
gestellten Gewinnversprechen sind sicherlich ein wichti-
ger Zugang zu dieser Problematik, aber nur eine Seite der
Medaille. Nicht vergessen sollte man dabei, dass Spiel-
suchtkarrieren oft bereits bei Kindern und Jugendlichen
beginnen. Da darf es nicht sein, dass über 60 Prozent der
Jugendlichen unter 18 Jahren Zugang zu Glücksspielen
haben, die ihnen eigentlich erst volljährig zugänglich
sein sollten. Hier zu meinen, dass vieles darauf hindeutet,
dass der Jugendschutz so gut wie nicht umgesetzt werden
kann, erscheint mir sehr defensiv. Da müssen eben Rege-
lungen gefunden werden, dass der Jugendschutz gewähr-
leistet ist.
Die andere Seite der Medaille ist, dass leider hier ge-
nauso wie bei vielen anderen Erkrankungen und schlech-
ten Gesundheitsrisiken die sozial benachteiligten, bil-
dungsschwachen Bevölkerungsgruppen besonders stark
betroffen sind.
So sehr ich auf der einen Seite den vorliegenden An-
trag unterstützenswert finde, so sehr möchte ich darauf
hinweisen, dass es wenig Sinn ergibt, ein Symptom nach
dem anderen zu behandeln, anstatt tiefer zu den Ursachen
vorzudringen. Sonst verschieben wir die Problematik im-
mer nur von einem zum anderen Symptom. Wir brauchen
Perspektiven für die Menschen und nicht, dass sie ihr Le-
ben selbst als schlechtes Glücksspiel betrachten. Gerade
bei der Glücksspielsucht zeigt sich doch, worum es geht:
Man möchte auch einmal zu den Gewinnerinnen oder Ge-
winnern gehören. Daher gilt hier, was auch bei der Prä-
vention und Gesundheitsförderung grundsätzlich gilt:
Wir brauchen endlich eine Politik, die die Menschen wie-
der mitnimmt, eine Politik, die sozial gerecht ist, eine, die
den Menschen faire Chancen bietet, die höher sind als die
auf einen Lottogewinn.
Nichtsdestotrotz ist es wichtig, die Bundesregierung
aufzufordern, den unerlässlichen Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs
zur kohärenten und systematischen Bekämpfung der
Glücksspielsucht nachzukommen.
In nur wenigen Fragen der Drogen- und Suchtpolitik
war bislang so eindeutig klar wie bei Geldspielautoma-
ten, was getan werden musste. Suchtexperten und -ver-
bände sind sich einig, selbst die Drogenbeauftragte der
Bundesregierung sieht Handlungsbedarf, und dennoch
tut die Bundesregierung nichts. Ich frage mich, woran
das liegt.
Zwischen 250 000 und 400 000 Menschen sind in
Deutschland glücksspielsüchtig. 80 Prozent davon sind
abhängig von Geldspielautomaten. Diese Abhängigkeit
bedeutet einerseits ein großes Leid für die Betroffenen
Zu Protokoll
und ihre Familien. Sie sind häufig hoch verschuldet, die
Familien gehen kaputt, die Betroffenen sind häufig stark
suizidgefährdet oder werden kriminell, um sich Geld zu
beschaffen. Andererseits entstehen durch die Sucht auch
hohe volkswirtschaftliche Kosten, nach neuesten For-
schungen im zweistelligen Milliardenbereich.
Der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen
scheint all dies egal zu sein. Anders ist ihre Untätigkeit
nicht zu erklären. Dachte ich zumindest. Wie wir nun er-
fahren müssen, scheint es wohl nicht nur blankes Des-
interesse zu sein. Entgegen aller Usancen bei suchtpoliti-
schen Anträgen bemüht sich die Koalition bewusst
darum, unseren Antrag nicht federführend dort zu behan-
deln, wo er hingehört, nämlich im Gesundheitsausschuss.
Vielmehr soll er federführend im Wirtschaftsausschuss
behandelt werden mit der banalen Begründung, es han-
dele sich um eine Frage des Gewerberechts. Ich finde das
erstaunlich.
Gehört eine Initiative zur medizinischen Verwendung
von Cannabis in den Ausschuss für Landwirtschaft und
Ernährung, weil es sich bei Hanf um Pflanzen handelt?
Gehört eine Initiative zur Medikamentensucht in den
Wirtschaftsausschuss, nur weil Medikamente von der
pharmazeutischen Industrie hergestellt werden? Gehört
eine Initiative zum Schutz vor Passivrauchen in Gaststät-
ten in den Wirtschaftsausschuss, weil Gaststätten Ge-
werbe sind? Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen
aus dem Wirtschaftsausschuss nicht zu nahe treten, aber
die Beschäftigung mit suchtpolitischen Fragen gehört
nicht unbedingt zu ihren Kernkompetenzen. Die Intention
hinter dieser Überweisung durch die Koalitionsfraktio-
nen ist vermutlich eine andere: Sie wollen das Thema tot-
machen. Und sie wissen, dass Sie dies fachlich nicht kön-
nen, weil wissenschaftlich alles gegen sie spricht und
alles für die von unserer Fraktion vorgeschlagenen Maß-
nahmen.
Ich bin auch am Ende meiner ersten Legislaturperiode
immer wieder erschüttert darüber, wie stark der Einfluss
einer Lobby sein kann, wie sehr sie in der Lage ist, für die
Menschen dringend notwendige Maßnahmen zu verhin-
dern, und das, nachdem wir jahrelang erlebt haben, wie
die Zigarettenindustrie mit manipulierten Studien gear-
beitet hat, wie bezahlte Lobbyisten in Ministerien gear-
beitet haben, wie zuletzt noch die Automobilindustrie ver-
sucht hat, dringend erforderliche Maßnahmen in Sachen
Klimaschutz zu verhindern und wie im Falle des Automa-
tenspiels im Jahre 2006 auf Drängen der Automatenbran-
che eine Reform der Spielverordnung durchgeführt
wurde, die die suchtauslösenden Faktoren noch ver-
schärft hat.
Die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder hat die
Bundesregierung schon am 13. Dezember 2006 aufgefor-
dert, endlich für eine wirksame Suchtprävention auch mit
Blick auf Geldspielautomaten zu sorgen – etwas, was die
Länder leider nicht können, weil ihnen dafür die nötige
Gesetzgebungskompetenz fehlt. Wenn die Bundesregie-
rung schon unseren Antrag nicht unterstützen will, dann
sollte sie doch wenigstens auf ihre eigenen Parteikollegen
aus den Bundesländern hören, die sie aufgefordert haben,
die Spielverordnung den Zielen und Maßstäben des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20879
gegebene Reden
20880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Dr. Harald Terpe
Glücksspielstaatsvertrages anzupassen. Und hören Sie
auf Ihre eigene Drogenbeauftragte!
40 Prozent der Einnahmen der Automatenindustrie
kommen einer Untersuchung der Universität Bremen zu-
folge von Spielsüchtigen. Wollen Sie sich wirklich zum
Fürsprecher dieser Branche machen, und meinen Sie,
dass dies dem Willen der Bevölkerung entspricht? Ich
habe den Verdacht, dass Ihre bisherige Untätigkeit nicht
nur von fehlendem Problembewusstsein zeugt, sondern
von einem gnadenlosen Durchsetzen der Interessen einer
bestimmten Branche. Aber das ist nicht meine Vorstellung
von einer am Menschen orientierten Politik.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Frak-
tionen von CDU/CSU und SPD wünschen Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Gesundheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim
Ausschuss für Gesundheit, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, abstim-
men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Wer stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Axel E. Fischer
, Ilse Aigner, Katherina Reiche
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Andrea Wicklein, René Röspel, Jörg Tauss, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forschung und Entwicklung für die indus-
trielle stoffliche Nutzung nachwachsender
Rohstoffe in Deutschland bündeln und stärken
– Drucksachen 16/9757, 16/11152 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer
Andrea Wicklein
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Axel E. Fischer, Dieter Grasedieck, Andrea
Wicklein, Cornelia Pieper, Petra Sitte, Sylvia Kotting-
Uhl.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):
„Die industrielle Nutzung nachwachsender Rohstoffe
nimmt weltweit und in Deutschland Fahrt auf und erobert
neue Märkte. Gerade für Deutschland ist das erfreulich,
da es als eher rohstoffarmes Land vor dem Hintergrund
sich verknappender fossiler Ressourcen in besonderem
Maße auf alternative Rohstoffquellen angewiesen ist. Die
Frage, welche Rohstoffe wir wie und in welchem Maße
nutzen, berührt nicht nur unseren wirtschaftlichen Wohl-
stand, sondern auch den globalen Klimawandel“. Tref-
fender als unsere Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse
Aigner anlässlich des Symposiums „Nachwachsende
Rohstoffe für die Industrie“ am 27. November in Berlin
kann man es kaum ausdrücken.
Mit einer verstärkten industriellen Nutzung nach-
wachsender Rohstoffe können wir gleich mehrere Fliegen
mit einer Klappe schlagen: weniger Importe von Öl oder
Kohle, stattdessen höhere Wertschöpfung im eigenen
Land. Das schafft mehr Wohlstand, das kann unsere CO2-
Emissionen mindern und unsere Volkswirtschaft durch
Einsparungen beim Handel mit CO2-Zertifikaten entlas-
ten. Und nicht zuletzt schafft es größere Versorgungssi-
cherheit, denn die nachhaltige und effiziente Nutzung der
im eigenen Land vorhandenen Rohstoffe sichert die Ver-
sorgung auch in stürmischen und turbulenten Zeiten.
Die industrielle Nutzung heimischer Rohstoffe macht
uns nicht nur unabhängiger von Erschütterungen der
Weltmärkte für Rohstoffe, unabhängiger von politisch in-
stabilen Krisenregionen, sie trägt nicht nur langfristig
zur Stabilisierung unserer Wirtschaft bei und schützt vor
großen Sprüngen für Rohstoffpreise auf internationalen
Märkten, sondern sie kann uns auch zusätzlich helfen,
sinnvolle Antworten auf die Anforderungen des globalen
Klimaschutzes zu finden und zu verwirklichen. Eine er-
höhte Nachfrage nach Biomasse wird im Wesentlichen
über den Weltmarkt zu decken sein. Deutschlands Import-
abhängigkeit von fossilen Rohstoffen wird sich vermin-
dern, wenn die Energieimportländer diversifiziert werden
und die Importländer von Kohle, Öl und Gas teilweise er-
gänzen oder wenn wir erfolgreich die Preisführerschaft
beim Import von nachwachsenden Rohstoffen verteidi-
gen.
Deshalb brauchen wir weiterhin Erfolge bei der Erfor-
schung und Entwicklung von marktfähigen Produkten aus
nachwachsenden Rohstoffen. Denn wir sind nicht die
Einzigen, die in diesem globalen Wettlauf angetreten
sind. Auch andere Länder setzen alles daran, hier Durch-
brüche zu erzielen, Technologien zu entwickeln, Verfah-
ren und Produkte zu entwickeln, um nachwachsende Roh-
stoffe gewinnbringend als industrielle Rohstoffbasis in
nennenswertem Umfang zu nutzen.
Dabei ist insbesondere in dicht besiedelten Regionen
Mitteleuropas zu berücksichtigen, dass nachwachsende
Rohstoffe zwar prinzipiell regenerierbar sind, aber auf-
grund der Flächenknappheiten trotzdem eine begrenzte
Ressource. Andere Ziele, wie der Erhalt der Artenvielfalt
oder der Erhalt der Strukturen des ländlichen Raumes,
(C)
(D)
Axel E. Fischer
treten hier neben das CO2-Minderungsziel. Deshalb geht
es auch um eine möglichst effiziente Produktion und Ver-
wendung von Biomasse.
Bei der Kaskadennutzung zum Beispiel werden Roh-
stoffe zunächst stofflich, möglichst mehrfach und am
Ende des Zyklus energetisch und damit effizienter genutzt
als bei einer bloßen stofflichen oder energetischen Nut-
zung. Die in der Kaskadennutzung nachgeschaltete ener-
getische Nutzung kann den Gesamtwirkungsgrad der
Prozesse und damit die Wirtschaftlichkeit erhöhen. Ohne-
hin ist bei der Landnutzung auch auf möglicherweise be-
stehende Konkurrenzverhältnisse bzw. Nutzungskonflikte,
zum Beispiel zur Nahrungsmittelproduktion, zu achten,
die einer Ausweitung von Anbauflächen entgegenstehen
können.
Die Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist ein Quer-
schnittsthema. Nicht nur die Landwirtschaft mit dem For-
schungsbereich der Grünen Biotechnologie, auch die
Weiße Biotechnologie und vielfältige andere Forschungs-
bereiche müssen einbezogen werden, um geeignete inno-
vative Verfahren und Methoden für die stoffliche Nutzung
nachwachsender Rohstoffe zu entwickeln. Für einen
nachhaltigen Einsatz ist nicht nur die Umweltverträglich-
keit von wesentlicher Bedeutung. Hier tut sich ein weites
Feld auf für die Erforschung der Biodiversität, der Bo-
denfruchtbarkeit, der Effektivität möglicher Kaskaden-
nutzung und ökologischer Bewertungen.
Aber auch die Wirtschaftlichkeit muss für einen dauer-
haften großtechnischen Einsatz gegeben sein. Nicht zu-
letzt gilt es, komplexe ethische Fragen wie etwa bei der
Abwägung zwischen der Verwendung der Rohstoffe als
Ausgangsmaterial für die Nahrungsmittelproduktion in
Konkurrenz zur industriellen stofflichen Produktion zu
beantworten. Die Diskussion um die Vor- und Nachteile
von Biokraftstoffen und die Kontroversen um das aktuelle
Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats Globale Um-
weltveränderungen“ der Bundesregierung, der das
Thema vor allem im Kontext globaler Umwelt- und Ent-
wicklungspolitik aufgegriffen hat, geben einen Eindruck
von der Komplexität dieses Forschungsbereichs.
Deshalb kommt es heute mehr denn je darauf an, For-
schung und Entwicklung zu bündeln und integrierte Nut-
zungskonzepte beispielsweise von Biomasse zu entwi-
ckeln und voranzutreiben. Von Fortschritten bei der
integrierten Biomassenutzung in Bioraffinerien zum Bei-
spiel erwarten viele Experten dauerhafte Entwicklungs-
perspektiven für die ländlichen Räume in unserem Land,
Perspektiven für die Regionen, die im Zuge der Entwick-
lung unserer heutigen Wachstumskerne abgekoppelt wur-
den und wo den Menschen heute Perspektiven fehlen.
Ebenso können sich mit entsprechenden Nutzungskonzep-
ten Perspektiven für weniger entwickelte Regionen auf
der Welt eröffnen, wobei die gesellschaftlichen, humanen
und wirtschaftlichen Auswirkungen vor dem Einbringen
solcher spezifischer Technologien in fremde Gesellschaf-
ten und Kulturkreise besonders intensiv zu prüfen und zu
bewerten sind. Nicht nur bei der Produktion im Inland,
auch beim Import von Biomasse gilt es, die Einhaltung
von Nachhaltigkeitsstandards bei der Produktion zu be-
rücksichtigen.
Zu Protokoll
Wir haben in Deutschland ein umfangreiches Poten-
zial in Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, wenn es
um nachwachsende Rohstoffe und deren Nutzung geht.
Wir haben qualifizierte und engagierte Wissenschaftler,
kreative Köpfe und innovative Unternehmen. Wir müssen
sie jetzt zur kritischen Masse zusammenbringen aus den
verschiedensten Bereichen: aus der Landwirtschaft, aus
der Industrie, aus unseren Forschungseinrichtungen der
Helmholtz-Gesellschaft oder der Fraunhofer-Gesell-
schaft, aus groß- und mittelständischen Unternehmen,
von der Hochschule wie von der Werkbank. Wir müssen
– nach meiner Überzeugung werden wir das auch – diese
Forschungs- und Entwicklungsaufgaben meistern und
insbesondere das in Hochschulen vorhandene Wissen in-
terdisziplinär verdichten. Angereichert mit der notwendi-
gen unternehmerischen Initiative und Tatkraft steht einer
erfolgreichen Entwicklung nachwachsender Rohstoffe
dann nichts mehr im Wege. Hier muss die Bundesregie-
rung voranschreiten und eine Strategie entwickeln, mit
der ressortübergreifend Wege gewiesen werden für eine
erfolgreiche stoffliche Nutzung nachwachsender Roh-
stoffe. Das geht natürlich nicht, wenn man nur trommelt
und ruft, es möge etwas passieren. Nein, es bedarf eines
Impulses mit konkreten Zielvorgaben und Schwerpunkten
für die weitere Forschungsförderung. Es bedarf eines
staatlichen Anschubs für Forschung und Entwicklung.
Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis nehmen dür-
fen, dass die Bundesregierung mit dem Aktionsplan stoff-
liche Nutzung bereits begonnen hat, ein entsprechendes
Gesamtkonzept für Deutschland zu entwickeln. Das
macht mich dankbar, besonders vor dem Hintergrund,
dass im Rahmen eines solchen Konzeptes nicht nur die
ökologische Grundlagenforschung vorangetrieben wird.
Gleichzeitig legt die Bundesregierung die wichtige
Grundlage für ein Bioraffinerieforschungsnetzwerk, in
dem die Kompetenzen und Aktivitäten in Forschung, Ent-
wicklung und Demonstrationsanlagen gebündelt sind.
Denn anstelle einer jeweils isolierten Betrachtung der
verschiedenen Nutzungspfade, sei es die stoffliche, treib-
stoffliche oder energetische Nutzung, ist ein sektorüber-
greifender Gesamtaktionsplan notwendig.
Ziel der Forschung und Entwicklung biobasierter Pro-
dukte ist es, echte und ehrliche Alternativen zu den her-
kömmlichen Produkten bzw. Produktionsverfahren zu
entwickeln. Wesentlich ist, dass die Bundesregierung ne-
ben der beschriebenen Förderung über die vielfältigen
Anwendungsmöglichkeiten aufklärt und gegebenenfalls
Hindernisse für den stofflichen Einsatz nachwachsender
Rohstoffe beseitigt, insbesondere wenn diese den interna-
tionalen Wettbewerb zulasten deutscher Unternehmen
oder Forscher verzerren.
Theoretisch ist jeder Stoff aus nachwachsenden Roh-
stoffen herstellbar. Das Problem ist der Preis. Es gibt Mo-
leküle, die man mit etwa gleichem Aufwand aus Biomasse
oder aus Erdöl herstellen kann. Die Bandbreite der Pro-
dukte von Bioraffinerien ist allerdings sehr breit. Bio-
masse ist ein Gemisch hochkomplexer Moleküle zum Bei-
spiel Kohlehydrate, Proteine, Öle, Fette. Es bedarf
anspruchsvoller Verfahren, bevor diese Produkte für de-
finierte Verwendungszwecke aufgeschlüsselt werden kön-
nen. Forschung und Entwicklung müssen sich hier auf ei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20881
gegebene Reden
(C)
(D)
Axel E. Fischer
nen möglichst hohen Wirkungsgrad konzentrieren. Es ist
schon schwieriger, die Herstellung von Kraftstoffen aus
Biomasse wettbewerbsfähig zu machen. Am schwierigs-
ten wird es sein, die Rohstoffbasis für jeden einzelnen von
Zehntausenden chemischen Stoffen zu ersetzen.
In jüngster Zeit sind die Preise für nachwachsende
Rohstoffe deutlich angestiegen. Die Gründe sind vielfäl-
tig; unter anderem spielen ein deutlich angestiegener Be-
darf an Nahrungs- und Futtermitteln und schlechte Ern-
ten eine Rolle. Jedoch werden in diesem Zusammenhang
auch staatliche Eingriffe wirksam, zum Beispiel durch
Subventionierungen beim Einsatz biogener Treibstoffe
oder bei der Energieerzeugung.
Nachwachsende Rohstoffe müssen sich als Alternati-
ven aus eigener Kraft am Markt behaupten. Bei Markt-
einführungen müssen Wettbewerbsverzerrungen und di-
rekte Eingriffe mit Blick auf den Bestand produktiver Ar-
beitsplätze und positiver Nettowertschöpfung in Deutsch-
land nach Möglichkeit unterbleiben. Wir brauchen
marktkonforme und sozial verträgliche Nutzungskon-
zepte, die das technisch Machbare mit dem wirtschaftlich,
ökologisch und sozial Gewünschten in Übereinstimmung
bringen.
Da der einheitliche europäische Binnenmarkt seit Jah-
ren eine günstige Versorgung mit Gütern und Diensten si-
cherstellt, sollte die Bundesregierung das Ihrige dazu tun,
sich an der Erstellung und Umsetzung des europäischen
Aktionsplans für biobasierte Produkte zu beteiligen. Ein
europaweit abgestimmter Handlungsrahmen mit entspre-
chenden Harmonisierungen könnte die deutschen An-
strengungen für die erfolgreiche Nutzung nachwachsen-
der Rohstoffe positiv befördern. Deshalb begrüße ich es
außerordentlich, dass die Bundesregierung auch auf eu-
ropäischer Ebene überaus aktiv ist und die europäische
Arbeit in Brüssel und Straßburg nicht nur bei den Bio-
kraftstoffen intensiv begleitet.
Vor wenigen Wochen hat die Internationale Energie-
Agentur ihren jährlichen Energieausblick präsentiert.
Ihre Prognosen für die Energiemärkte brachte sie mit fol-
gendem Satz auf den Punkt:
„Das Weltenergiesystem steht an einem Scheide-
weg.“
Die Suche nach Energiekonzepten für die Zukunft
bleibt damit eine der größten Herausforderungen des
neuen Jahrhunderts. Die drei wesentlichen Ansprüche an
eine nachhaltige Energiepolitik sind uns allen klar:
Erstens müssen wir die Energieversorgung in
Deutschland trotz aller globalen Risiken langfristig ab-
sichern. Unser Land darf nicht in Abhängigkeiten gera-
ten, sondern muss seinen Energiebedarf, so gut es geht,
selbst stillen können.
Zweitens müssen wir schwindende, fossile Energieträ-
ger mehr und mehr durch neue, regenerative Energie-
quellen ersetzen.
Zu Protokoll
Drittens müssen wir mit Blick auf den Klimawandel
den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid weiter
reduzieren.
Der Antrag, über den wir heute debattieren, zeigt Wege
auf, wie wir diesen Herausforderungen mit Erfolg begeg-
nen können. Indem wir die industrielle Nutzung nach-
wachsender Rohstoffe weiter erforschen und entwickeln,
schaffen wir die beste Basis für eine zukunftsfähige Ener-
gieversorgung.
Meine Fraktion unterstützt mit Nachdruck folgende
Forderungen: Wir brauchen ein bundesweites Netzwerk,
um die weitere Erforschung von Biomasse für unsere In-
dustrien möglichst effizient und effektiv ausgestalten zu
können. Wir benötigen für die kommenden Jahre und
Jahrzehnte klare Zielvorgaben, um die Forschungsförde-
rung als Bestandteil einer integrierten Biomassestrategie
passgenau aufzubauen. Und nicht zuletzt müssen wir die
wissenschaftliche Grundlagenforschung in diesem Be-
reich stärker als bisher auch in der Lehre an unseren
Hochschulen verankern.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
sieht im Konzept der Bioraffinerien und der Förderung
der Weißen Biotechnologien ein hohes Innovationspoten-
zial für den Wissenschafts- und den Wirtschaftsstandort
Deutschland. Auch im vorliegenden Antrag wird ent-
schieden diese Position vertreten. Besonders für die
450 000 Beschäftigten der chemischen Industrie ist die
geforderte Forschungsstrategie von immenser Bedeu-
tung. Schon jetzt beträgt der Anteil der nachwachsenden
Rohstoffe in der chemischen Industrie gut 10 Prozent.
Dieser Anteil wird in Zukunft weiter wachsen; denn die
bisher genutzten fossilen Energieträger werden knapper.
Nachwachsende Rohstoffe sind vor diesem Hinter-
grund eine Alternative, auf die wir nicht verzichten kön-
nen und dürfen. Jetzt kommt es darauf an, durch gebün-
delte, bundesweite Forschungsanstrengungen die neuen
Energiequellen der nachwachsenden Rohstoffe zu er-
schließen. Mit Spannung erwartet meine Fraktion den
nationalen Biomasseaktionsplan, den das Bundesminis-
terium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz federführend erarbeitet. Voraussichtlich Mitte
2009 soll dieser Aktionsplan auch im europäischen Kon-
text Perspektiven aufzeigen, wie wir Energietechnologien
fördern, wie wir Marktanreizprogramme schaffen und
sinnvolle Rahmenbedingungen für die gesteigerte Nut-
zung von Biomasse gestalten können.
Ich bin hocherfreut, dass sich viele der Forderungen
unseres Antrages in diesem Aktionsplan wiederfinden
lassen. Dazu gehören an erster Stelle Forderungen nach
einer ressortübergreifenden Forschungsstrategie, die
wichtige Fragen von Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit
und Energieeffizienz in einem starken Konzept vereint.
Dazu gehören auch Forderungen für präzise Nachhaltig-
keitskriterien bei importierter Biomasse, die in meinen
Augen eine sinnvolle finanzielle Förderung von Biokraft-
stoffen erst ermöglichen.
Wir alle wissen: Deutschland befindet sich in einem in-
ternationalen Wettbewerb um die besten Energietechno-
logien. Mit dem Aufbau eines Forschungsnetzwerkes zur
20882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
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Dieter Grasedieck
industriellen Nutzung von Biomasse können wir die Bun-
desrepublik langfristig an der Spitze dieses Wettbewerbs
positionieren. Das Ministerium für Bildung und For-
schung hat angekündigt, die Erforschung der Weißen
Biotechnologien an Hochschulen und außeruniversitären
Einrichtungen in den kommenden Jahren mit 100 Millio-
nen Euro unterstützen zu wollen. In großer Übereinstim-
mung mit den Forderungen der Regierungsfraktionen von
SPD und CDU/CSU hat die Bundesregierung außerdem
ressortübergreifend ein Cluster zur Förderung der Bio-
raffinerie in Mitteldeutschland erarbeitet. Nun bleibt zu
hoffen, dass dieses Konzept im Rahmen der Klimaschutz-
initiative des Umweltministeriums realisiert wird.
All diese Teilerfolge machen deutlich: Es bewegt sich
vieles in Deutschland, um den Herausforderungen in der
Energiepolitik gewachsen zu bleiben. Noch sind viele
Fragen offen, wenn wir über eine verstärkt industrielle
Nutzung nachwachsender Rohstoffe sprechen. Das sind
vor allem Fragen nach möglichen Konflikten des Biomas-
seausbaus mit der Nahrungsmittelproduktion und Fragen
nach möglichen Konflikten zwischen Biomasse und be-
währten Energieträgern. Diese Fragen sollten uns erst
recht ermuntern, die Erforschung von Biomasse gerade
an unseren Hochschulen strategisch voranzubringen.
In unserem Antrag wird besonderer Wert auf eine ver-
stärkt wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den
flankierenden Themen Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit
und Wirkungsgrad von Biomasse gelegt. Auch in diesen
Punkten gibt es zahlreiche Übereinstimmungen mit den
Förderprogrammen der Bundesregierung. Dieser Kon-
sens ist Grundlage für einen verantwortungsvollen poli-
tischen Umgang mit den Energieträgern der Zukunft.
Lassen Sie uns daher in diesen Bereichen die For-
schung intensiver fördern! Lassen Sie uns die notwendi-
gen Rahmenbedingungen für eine verstärkt industrielle
Nutzung von Biomasse schaffen, und lassen Sie uns auch
weiterhin gemeinsam überlegen, wie wir vorhandene
Forschungskompetenzen strategisch aufeinander abstim-
men können. Dann ist Deutschland auf den globalen
Wandel in der Energiepolitik bestens vorbereitet.
Warum die Biomasse nur in Wärme, Energie oder
Kraftstoffe umwandeln, wenn daraus auch hochwertige
Biokunststoffe hergestellt werden können? Ist es nicht viel
sinnvoller, den Rohstoff Pflanze mehrfach zu nutzen, für
die Chemie und als Energieträger? Und warum befinden
sich in den Regalen unserer Supermärkte bisher kaum
Verpackungen, die aus Pflanzen hergestellt sind?
Diese Fragen beschäftigen mich, seit ich in meinem
Wahlkreis ein Forschungsinstitut besucht habe, dass sich
mit der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe
beschäftigt. Dort und auch an vielen anderen Orten in
Deutschland findet Grundlagenforschung statt. Dort
werden Verfahren entwickelt, den Rohstoff Biomasse in
einer Bioraffinerie für die Chemie nutzbar zu machen –
übrigens lange Zeit ohne staatliche Förderung, ohne
staatliche Zielvorgaben und klare Strategien.
Zu Protokoll
Ich bin deshalb sehr froh, dass in den letzten Jahren
sowohl in der chemischen Industrie als auch in der Politik
ein Umdenken erfolgt ist. Die Chancen und Potenziale
der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe wer-
den inzwischen erkannt. Dafür sprechen das Verbund-
vorhaben „Bioraffinerie“ des Bundeslandwirtschafts-
ministeriums, das Programm „BioEnergie 2021“ des
Bundesforschungsministeriums, der Bioraffineriekon-
gress, unterstützt durch das Bundesumweltministerium,
oder die enormen Forschungsanstrengungen der chemi-
schen Industrie selbst. Das zeigt, dass wir bereits ein gro-
ßes Stück vorangekommen sind.
Jetzt muss es aber darum gehen – und das ist auch
Kern des vorliegenden Koalitionsantrages –, die beste-
henden Forschungs- und Entwicklungspotenziale auf na-
tionaler und europäischer Ebene zu bündeln und in ein
Gesamtkonzept zur Biomassenutzung einzubetten. Wie
kann das geschehen? Zunächst brauchen wir schnellst-
möglich eine ressortübergreifende Biomassestrategie des
Bundes. Diese muss im nationalen Biomasseaktionsplan
des zuständigen Bundeslandwirtschaftsministeriums ent-
halten sein. Daraus müssen konkrete Zielvorgaben und
Schwerpunkte für die weitere Forschungsförderung ab-
geleitet werden.
Darüber hinaus muss zügig ein Bioraffineriecluster
mit Sitz in Ostdeutschland aufgebaut werden, das länder-
übergreifend die vielfältigen Kompetenzen im Bereich der
Bioraffineriesystemtechnik bündelt. Im Osten deshalb,
weil hier seit über einem Jahrzehnt Forschung und Ent-
wicklung zum Thema „industrielle stoffliche Verwertung
nachwachsender Rohstoffe“ stattfindet, die Institute be-
reits in engem Verbund mit Hochschulen und Unterneh-
men zusammenarbeiten und auch das Deutsche Bio-
masse-Forschungszentrum hier beheimatet ist.
Schließlich müssen wir die Ergebnisse des Sach-
standsberichts des Büros für Technikfolgenabschätzung
ernst nehmen, in dem enormer Entwicklungsbedarf bei
der technischen Umsetzung festgestellt worden ist. Kon-
kret bedeutet das, dass wir ganz gezielt mit Pilot- und De-
monstrationsanlagen die bestehenden Verfahren prüfen
und deren Machbarkeit untersuchen müssen.
Um es deutlich zu sagen: Für den Technologie- und
Forschungsstandort Deutschland wird ganz entschei-
dend sein, wie wir diesen Innovationsprozess gestalten.
Deutschland ist in Europa der Chemiestandort Nummer
eins. Wir müssen darauf achten, dass dies auch in den
Zeiten des Rohstoffwandels hin zu den nachwachsenden
Rohstoffen so bleibt. Dafür müssen wir schon jetzt die
Weichen richtig stellen, übrigens auch in Ausbildung und
Lehre an Schule und Universitäten, um die Fachkräfte
von morgen schon heute für das Thema Chemie aus Bio-
masse zu begeistern.
Uns muss klar sein: Im Energiebereich gibt es mit der
Sonnenenergie, der Windkraft oder der Geothermie
durchaus Alternativen zur Biomasse. Im Chemiebereich,
dessen erdölbasierte Produkte unseren Alltag heute mehr
denn je bestimmen, ist Biomasse die einzige Alternative
zum Erdöl. Deshalb ist es wichtig, nach den effizientesten
Nutzungsmöglichkeiten und Nutzungsfolgen der nach-
wachsenden Rohstoffe zu suchen und dafür politisch die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20883
gegebene Reden
(C)
(D)
Andrea Wicklein
richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Ich bin sicher,
dass uns dies im Rahmen eines integrierten Biomassege-
samtkonzeptes und der zügigen Finanzierung eines Bio-
raffinerieclusters gelingen kann.
Der sogenannte Tortilla-Krieg, mit dem die brasiliani-
sche Bevölkerung auf eine sich zuspitzende Nutzungskon-
kurrenz von Nahrungspflanzen aufmerksam machte,
führte dazu, dass die Weltöffentlichkeit ein Paradoxon
wahrnahm, das sich in dieser Schärfe so bislang noch
nicht zeigte. Nach wie vor hungern in Teilen dieser Welt
Millionen von Menschen, allein nur darum, weil ihre
landwirtschaftlich nutzbaren Flächen versteppen und zu
Wüsten werden.
In anderen Weltteilen ist Nahrung im Überfluss vor-
handen. Durch eine hochproduktive moderne Landwirt-
schaft werden die Erträge ständig gesteigert, und die
Menschen fangen an, Getreide in heimischen Heizungs-
anlagen direkt zu verbrennen, stellen daraus Biosprit zum
Antrieb ihrer Autos her oder vergasen ihre unvorstellbar
großen Mengen an Nahrungsabfällen in Biogasanlagen.
Zugegeben, das sind Extreme, die uns aber zeigen: Wir
befinden uns in einem Dilemma!
Und eben genau das führt uns in dieser Woche Gerald
Traufetter in seinem Artikel „Raubbau fürs Klima“ in der
aktuellen Ausgabe des „Spiegel“ sehr treffend am Bei-
spiel der Nutzung unserer Wälder vor Augen. Die Men-
schen entdecken einen alten Brennstoff wieder neu, das
Holz! Was über Jahre hinweg ein Zuschussgeschäft war,
von Bund und Ländern mit viel Geld am Leben erhalten
und zum schutzwürdigen Gut erklärt wurde, entwickelt
sich zu einem echten „Renner“, die vollständige Nutzung
des Holzes für die Energiegewinnung.
Die Folge: Zusammenhängende Waldflächen sind
heute in Deutschland nur noch selten zu bekommen, und
wenn überhaupt, dann zu deutlich gestiegenen Preisen.
Das hat auch der Kapitalmarkt erkannt. Große Holzfonds
kaufen, was der Markt noch hergibt. Und es ist noch gar
nicht lange her, als ich in einer deutschen Tageszeitung
las, dass zum Beispiel das Bundesland Brandenburg rund
um Berlin herum weitere neue Bioheizkraftwerke bauen
wird. Deren ungestillter Hunger nach dem Rohstoff Holz
führt bereits heute zu einer Nachfrage, die andere Holz
verarbeitende Branchen schmerzhaft spüren. Nicht nur
die deutsche Papier- und Zellstoffindustrie weiß ein Lied
davon zu singen.
Sehen Sie mir nach, dass ich heute nicht alle Argu-
mente pro oder contra Biomassenutzung erneut aufzeige.
Das habe ich bereits in meiner Rede am 26. Juni 2008
ausführlich getan. Interessant ist übrigens die Tatsache,
dass es den Autoren des Antrages weder in der ersten Le-
sung am 26. Juni 2008 noch heute gelungen ist, ihr Anlie-
gen in öffentlicher Debatte vorzutragen. Offensichtlich
sind die Widersprüche zwischen den auf diesem Gebiet
agierenden Fachministerien für Forschung, Umwelt und
Landwirtschaft zu groß, um heute und hier im Plenum ein
abgestimmtes Konzept vorzustellen. Es wäre doch über-
aus interessant zu hören, was die Bundesregierung zu die-
sem Thema zu sagen hat, zumal der Wissenschaftliche
Zu Protokoll
Beirat Globale Umweltveränderungen, WBGU, gestern
Frau Dr. Schavan und Herrn Gabriel eine Studie „Zu-
kunftsfähige Bioenergie und nachhaltige Landnutzung“
vorgelegt hat.
Die zunehmende Kritik an einer massiven energeti-
schen Nutzung von Biomasse ist doch die Folge einer er-
kennbar sich verschärfenden Nutzungskonkurrenz, insbe-
sondere hinsichtlich der land- und forstwirtschaftlichen
Produktionsflächen. Abgesehen von steigenden Preisen
für diese Flächen sowie für Futter- und Nahrungsmittel
wachsen auch die ökologischenBedenken: Stichworte
sind ein gewaltiger Flächenbedarf beim Anbau von Bio-
masse, Verlust ökologisch wertvoller Wälder durch Kom-
plettrodungen und Nutzung der gesamten Biomasse, zu-
nehmender Einsatz von Pestiziden und Stickstoffdünger,
energieintensive Herstellungsverfahren – insbesondere
von Ethanol aus Mais – und nicht zuletzt: Methanemissio-
nen großflächiger Rapskulturen – Methan ist um ein Viel-
hundertfaches klimaschädlicher als CO2.
Unterdessen warnt das Stockholm International Water
Institute bereits vor massiver Wasserverknappung durch
die Massenproduktion von Biobrennstoffen: Für eine ein-
zige Tankfüllung reines Ethanol brauche man soviel Ge-
treide, wie ein Mensch während eines Jahres zum Leben
benötige. China hat die Herstellung von Biokraftstoffen
mittlerweile bis auf Weiteres stark eingeschränkt: Bis
2010 werden keine neuen Projekte mehr genehmigt, noch
nicht laufende Projekte werden gestoppt, ausländische
Investitionen in chinesische Biokraftstoffanlagen sind bis
auf Weiteres untersagt.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie kennen mich als ei-
nen Befürworter der energetischen Nutzung von Biomas-
sen, aber nicht um jeden Preis! Jeder Nutzung muss eine
breit angelegte Forschung und Technikfolgenabschät-
zung vorausgehen.
Daher habe ich diesem Hohen Haus bereits mehrere
Anträge zum Thema vorgelegt. Einen möchte ich beson-
ders hervorheben. Er ist Ihnen sicherlich noch in guter
Erinnerung: „Gründung eines Deutschen Biomassefor-
schungszentrums vorantreiben“ auf Bundestagsdrucksa-
che 16/3838. Doch im vorliegenden Antrag ist kein Wort
über das Deutsche Biomasseforschungszentrum in Leip-
zig zu lesen. Hier stellen sich die Verfasser des Antrages
ein Armutszeugnis aus. Oder glauben sie selbst nicht
mehr an das Gelingen dieses Projekts? Viele Ihrer Forde-
rungen sollten doch eben durch dieses Forschungszen-
trum umgesetzt werden.
Im Antrag der Koalition wird auf den hohen Importbe-
darf an fossilen Rohstoffen aufmerksam gemacht. Mine-
ralöl werde zu 97 Prozent, Erdgas zu 83 Prozent und
Steinkohle immerhin zu 61 Prozent aus dem Ausland ein-
geführt. Deutschland ist damit in seinem Rohstoff- und
Energiehunger abhängig von anderen erdöl- oder gasför-
dernden Staaten. Dabei unterliegt es Preisschwankungen
und Versorgungsunsicherheiten. Aus Sicht der Industrie
ist es verständlich, dass man sich nach günstigeren und
vor allem sicheren Alternativen umsieht. Und so hat die
EU eine „Leitmarkt“-Initiative aufgelegt, um die Ent-
20884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Petra Sitte
wicklung von Technologien für die Nutzung nachwach-
sender Rohstoffe zu forcieren. Auch die Bundesregierung
will einen Aktionsplan in diese Richtung vorlegen. Eu-
ropa soll, so die Vorstellung, Vorreiter bei der Entwick-
lung biobasierter Produkte werden. Hier sollen die
Märkte geschaffen werden, die die Innovationen heraus-
fordern. Diese sollen dann in naher Zukunft einmal auch
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sichern und auf Ex-
portmärkten Erfolge zeitigen.
Die Frage ist jedoch: Wie sieht es mit der Nachhaltig-
keit aus? Alle Prognosen deuten darauf hin, dass Bio-
masse wie Holz und andere Nutzpflanzen demnächst
Mangelwaren werden wie bereits jetzt Erdöl oder Erdgas.
Bereits heute werden Naturressourcen überwiegend im-
portiert, etwa 100 Prozent der Baumwolle oder des hier
verbrauchten Naturkautschuk sowie 90 Prozent der Arz-
neipflanzen. Die OECD schätzt, dass das Preisniveau von
Agrargütern in den kommenden zehn Jahren nominal um
35 bis 60 Prozent steigen wird. Erst gestern hat es, wie
der Spiegel berichtet, einen Disput zwischen den sozial-
demokratisch geführten Ministerien für Umwelt sowie für
Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit gege-
ben. Minister Gabriel hat sich demnach auch mit dem
wissenschaftlichen Beirat für Umwelt gestritten. Der
Konflikt ist einfach dargestellt: Sowohl das Entwick-
lungsministerium wie auch der Beirat warnen vor den
ökologischen und sozialen Folgen einer ausgeweiteten
Biomasseproduktion in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern. Der große Treiber dabei ist allerdings nicht die
stoffliche Nutzung, die bisher wenig verbreitet ist, son-
dern die von Gabriel forcierte Sprit-, Wärme- und Strom-
produktion auf Biobasis. Wenn nun in Ausweitung der
Biomassenutzung weitere Anwendungen dazukommen,
verschärft sich das Problem der Flächenkonkurrenz. Die
massive Förderung von Biokraftstoffen und Biomasse-
kraftwerken war das Gegenteil von nachhaltiger Politik.
Chancen und Risiken wurden eben nicht gegeneinander
abgewogen, Langzeitfolgen nicht bedacht. Das Beispiel
Solarenergie zeigt, wie durchschlagend staatliche Nach-
fragesteuerung eine bestimmte Technologie in den Markt
bringen kann. Im Unterschied zur Sonne stehen nach-
wachsende Rohstoffe jedoch nur begrenzt zur Verfügung
und fallen zudem nicht einfach an Ort und Stelle vom
Himmel.
Es reicht also nicht, so wie die Koalition es mit diesem
Antrag wieder versucht, vor allem Partikularinteressen
zu bedienen und die systemischen Effekte auszublenden.
Wer nachwachsende Rohstoffe umwelt- und sozialver-
träglich einsetzen will, muss schon die Komplexität des
gesamten Produktions- und Reproduktionssystems in den
Blick nehmen. Bei der stofflichen wie der energetischen
Verarbeitung von Biomasse verzahnen sich ökologische,
biologische, wirtschaftliche, soziale und technologische
Fragestellungen. Weder die chemische Industrie, die bil-
lige und sichere Rohstoffe möchte, noch die Land- und
Forstwirte, denen kein Abnahmepreis hoch genug sein
kann, dürfen alleinige Ratgeber der Regierungspolitik
sein. Vielmehr müssen hier ressortübergreifend und wis-
senschaftsgestützt Potenziale, aber eben auch Grenzen
der Nutzung beschrieben und politisch umgesetzt werden.
Es ist der schmale Grat zu treffen, auf dem der Einsatz von
Zu Protokoll
Biorohstoffen mehr nutzt als schadet. Und natürlich – da
gehen wir mit dem Antrag der Großen Koalition mit –
hängt dieser massiv vom Wirkungsgrad der eingesetzten
Technologien ab.
Die Politik muss hier die Entscheidungsinstanz sein,
die die Fragen nach Öko-, Energie- und CO2-Bilanzen
beantworten, soziale Folgen der verschiedenen Nut-
zungsmöglichkeiten einrechnen und erst danach eine ab-
gestimmte Forschungs- und Förderstrategie umsetzen
muss. Es steht nicht nur die Antwort aus, wo und welche
Biorohstoffe in welcher Höhe eingesetzt werden, sondern
auch, wo dies, in Abwägung der Risiken, nicht geschehen
soll. Wir finden es daher gut, dass die Koalition im Antrag
einen Forschungsschwerpunkt bei der ökologischen Ver-
träglichkeit setzen will, allerdings wird den sozialen Pro-
blemen keine ähnliche Wichtigkeit zugemessen. Nötig
wäre eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Struktur-
wandels, der durch die Expansion der Rohstoffproduktion
in Entwicklungs- und Schwellenländer ausgelöst wurde.
Nur so kann gesichert werden, dass etwa der wissen-
schaftliche Beirat für Umwelt oder auch das Ministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht als
„Gutmenschen“ – O-Ton Gabriel – abgewatscht werden,
sondern auf fundierter Grundlage zur Gesamtstrategie
beitragen können.
Als Grüne begrüßen wir die längst überfällige Schaf-
fung der notwendigen Rahmenbedingungen für die indus-
trielle stoffliche Nutzung von nachwachsenden Rohstof-
fen. Nachdem ich keine Gelegenheit ausgelassen habe,
für die Förderung und Implementierung von Bioraffine-
rien zu werben, ist die große Koalition nun ebenfalls
langsam auf dem richtigen Weg. Die industrielle Verwen-
dung von Biomasse soll angesichts des Klimawandels
endlich ausgebaut werden. Selbst die Novelle zur Ver-
packungsverordnung haben wir genutzt, um unter dem
Motto „Weg vom Öl“ diese Technologie zu unterstützen
und mit Biokunststoffen echte Kreisläufe zu schließen;
Drucksache 16/3140.
Bei der Herstellung chemischer Produkte beträgt der
Anteil nachwachsender Rohstoffe bisher nur 10 Prozent.
Dabei könnte sogar selbst nach Aussagen von den über-
kritischen Regierungsberatern des PIK 10 Prozent des
gesamten Weltenergiebedarfs durch nachwachsende
Rohstoffe gedeckt werden. Bevor man aber Öle für die
Stromgewinne produziert und das auch noch für Dritt-
weltländer propagiert, wo die Sonne kostenlos und kräf-
tig das ganze Jahr scheint, sollte man hier das Nahelie-
gende auf den Weg bringen: wenigstens die 10 Prozent
des Erdölverbrauchs, die in die chemische Industrie flie-
ßen, durch heimische Rohstoffe, und zwar durch nach-
wachsende, zu ersetzen. Die Verstetigung der Forschung
und die Bündelung zu einer ressortübergreifenden Ent-
wicklungsstrategie für nachwachsende Rohstoffe kann
dabei nur ein erster Schritt sein.
Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltverän-
derungen hat in seinem Gutachten, der inzwischen von
Gabriel selbst kritisierten, gestern erschienenen WGBU-
Studie, wohl ebenfalls vor den Argumenten der Autolobby
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20885
gegebene Reden
20886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Sylvia Kotting-Uhl
kapituliert wie der EU-Ministerrat beim zulässigen CO2-
Ausstoß für 2015.
Das gegenwärtige Abflauen der Weltmarktpreise für
Rohstoffe ist nur vorübergehend. Langfristig wird die
Konkurrenz um die begrenzten Rohstoffressourcen an
Schärfe zunehmen. Auch die jüngste UN-Klimastudie
macht fossile Brennstoffe für den weiter wachsenden
CO2-Ausstoß und die daraus resultierenden Klima- und
Umweltprobleme verantwortlich. Keine Erfindung ist
aber so nachhaltig wie die Verwendung von durch die Fo-
tosynthese der Pflanzen entstandene Biomasse.
Unlängst haben der Exumweltminister Klaus Töpfer
und auch Volker Hauf vom Nationalen Nachhaltigkeitsrat
die „Erfindung“ der Fotosynthese eingefordert. Gerne
würde die Menschheit den entscheidenden Prozess nach-
machen können, der aus Sonnenlicht, Kohlenstoff und
Wasser Biomasse, also Rohstoffe herstellt. Die Natur
kann das seit Jahrmillionen. Nicht nur ineffiziente Risiko-
technologien wie die CCS-Abscheidung wären dann un-
nütz, auch der CO2-Gehalt in der Atmosphäre ließe sich
dann ganz natürlich in nutzbare Masse verwandeln. An-
statt auf die künstliche Fotosynthese zu hoffen, können
wir uns angesichts der Klimakatastrophe Pflanzen im
Kampf gegen einen steigenden CO2-Gehalt zunutze ma-
chen.
Besonders wenn entsprechend nachhaltige Anbaume-
thoden angewandt werden, kann die stoffliche Nutzung
der Rohstoffe auch gleichzeitig zum Erhalt der biologi-
schen Vielfalt beitragen. Eine landschaftsgerechte, am
besten ökologische Land- und Forstwirtschaft bereichert
unsere Kulturlandschaft. Gleichzeitig wird mit der heimi-
schen Biomasseproduktion die Abhängigkeit vom Erdöl
verringert und der Kreislauf aus Umweltzerstörung und
Verteilungskonflikten durchbrochen. Studien, die zur
„Teller oder Tank“-Debatte vom Heidelberger IFEU vor-
gelegt wurden zeigen, dass zum Beispiel bei der Herstel-
lung von Bioethanol aus Zuckerrüben gleichzeitig Futter
für Nutztiere mit produziert wird. Glaubt man den Ver-
lautbarungen des Bundes Deutscher Bioethanolwirt-
schaft, BDBe, wird damit sogar der Import von zum Bei-
spiel Sojamehl und Mais aus Drittländern für unsere
Tiermast überflüssig. Für die Biodiversität wertvolle Flä-
chen könnten dann als Kulturlandschaft für den ange-
passten Nahrungsmittelanbau oder den Erhalt von Na-
turlandschaften genutzt werden.
Entscheidend für den Erfolg der Biomasse sind aller-
dings verpflichtende Nachhaltigkeitsstandards, die so-
wohl national als auch international vereinbart werden
müssen. Darin sind wir uns hoffentlich alle einig: Ener-
gieerzeugung darf nicht auf Kosten der Nahrungsmittel-
versorgung und des Naturschutzes gehen.
Schon seit Jahren fordere ich allerdings, die nach-
wachsenden Rohstoffe durch die „unmittelbare“ stoffli-
che Nutzung als grünes Konjunkturprogramm zu fördern.
Schließlich trägt die Einführung von dezentralen Bioraf-
finerien als neue Produktionsstätten für chemische
Grundstoffe auch dazu bei, dass in den ländlichen Gebie-
ten Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden.
Der heimischen Land- und Forstwirtschaft werden damit
ebenfalls Produktions- und Einkommensalternativen ge-
boten. Der Neubau umstrittener Ethanolpipelines, für die
in Bayern extra ein neues Enteignungsgesetz geschaffen
wurde, wäre dann ebenfalls obsolet. Ein grünes Konjunk-
turprogramm par excellence.
Bei dem vorgelegten Antrag der Regierungskoalition,
der in der Zielrichtung stimmt, leider aber nicht weit ge-
nug geht, werden wir uns entsprechend enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
der Fraktionen von CDU/CSU und SPD anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen an-
genommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Katja Kipping, Klaus Ernst, Karin Binder, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die eigenständige Existenzsicherung von Stief-
kindern sicherstellen – § 9 Abs. 2 Satz 2
SGB II reformieren
– Drucksachen 16/9490, 16/11232 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz-Peter Haustein
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll gegeben worden, und zwar von den
Kollegen Karl Schiewerling, Angelika Krüger-Leißner,
Heinz-Peter Haustein, Katja Kipping und Markus Kurth.
In der heutigen Debatte geht es um die Einstands-
pflicht innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft für nicht-
leibliche Kinder. Hierzu gab es eine Regelung vor und
eine nach dem Fortentwicklungsgesetz.
Bevor das Fortentwicklungsgesetz in Kraft trat, ergab
sich aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht
eindeutig, dass das Einkommen des Partners innerhalb
einer Bedarfsgemeinschaft auch bei nichtleiblichen Kin-
dern zu berücksichtigen ist. Dies hatte zur Folge, dass bei
unverheirateten Partnern das Einkommen des nichtleib-
lichen Elternteils nicht auf den Bedarf des Stiefkindes
angerechnet wurde, im Gegensatz zu verheirateten Part-
nern. In diesem Falle entstand nämlich zu dem nichtleib-
lichen Kind eine Schwägerschaft, sodass entsprechend
der Regelung des § 9 Abs. 5 SGB II vermutet wurde, dass
das nichtleibliche Kind vom Stiefelternteil Leistungen er-
hält. Nach damaligem Rechtsstand wurden somit verhei-
ratete Partner gegenüber unverheirateten Partnern
schlechtergestellt. Mit der Änderung wurde klargestellt,
dass das Einkommen auch auf den Bedarf nichtleiblicher
Kinder anzurechnen ist. Damit wurde die Schlechterstel-
(C)
(D)
Karl Schiewerling
lung von Ehen gegenüber nichtehelichen Partnerschaften
aufgelöst.
Das bedeutet heute, dass das Einkommen von Mitglie-
dern der Bedarfsgemeinschaft für alle anderen Mitglie-
der dieser Bedarfsgemeinschaft mit einzusetzen ist, also
auch des Partners für das Kind des anderen Partners.
Diese Konstellation kann allerdings nur in den Fällen
eintreten, in denen der leibliche Vater a) nicht in der Be-
darfsgemeinschaft lebt und b) nicht leistungsfähig und
damit nicht in der Lage ist, Unterhalt zu zahlen. Denn zu-
nächst ist bei einem minderjährigen, unverheirateten
Kind das Kindergeld als Einkommen des Kindes zu be-
rücksichtigen. Darüber hinaus ist davon auszugehen,
dass ein Kind, dessen Eltern getrennt leben, regelmäßig
Unterhalt erhält. Wenn der Elternteil nicht greifbar, aber
leistungsfähig ist, hat der Träger der Grundsicherung für
Arbeitsuchende die Möglichkeit, den Anspruch gemäß
§ 33 SGB II überzuleiten.
Wenn wir eine Gleichstellung von Stiefkindern mit
leiblichen Kindern haben wollen, dann nicht nur im
Steuer- und Kindergeldrecht, wo es bereits der Fall ist.
Sondern auch im Sozialrecht. Und genau das haben wir
mit dem Fortentwicklungsgesetz gemacht. Da kann das
Sozialgericht Berlin viel bewerten. Eines kann es nicht:
Ob die Stiefkinderregelung verfassungswidrig ist oder
nicht, entscheidet letztendlich immer noch das Bundes-
verfassungsgericht. Und wenn sich das Sozialgericht
Berlin seiner Sache so sicher ist, frage ich mich, warum
es dann keine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht
eingereicht hat.
Auch das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil
vom 13. November 2008 – Aktenzeichen B 14 AS 2/08 R –
festgestellt, dass bei der Wahl eines Partners mit fremden
Kindern die Kosten dieser Kinder nicht von der Allge-
meinheit zu tragen sind, wenn innerhalb einer Bedarfsge-
meinschaft durch den neuen Partner mit bedarfsdecken-
dem Einkommen ausreichende Mittel zur Verfügung
stehen.
Letztlich sieht das Gericht auch den Rechtsanspruch
des Kindes auf Gewährung des Existenzminimums gegen
den Staat – Art. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG –
als hinreichend gewährt. Unerheblich ist hierbei, dass
das Kind keinen einklagbaren Unterhaltsanspruch gegen
den Stiefvater hat, da der Anspruch auf Unterhalt des
Kindes gegen die Mutter auch ohne Berücksichtigung ei-
ner Selbstbehaltsgrenze gemäß § 1603 Abs. 2 Bürgerli-
ches Gesetzbuch zu erfüllen ist; sogenannte Notgemein-
schaft.
Vor allem, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion: Das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist so ein
bisschen wie Medizin. Sie wird Ihnen nicht schmecken,
aber ich hoffe, sie hilft.
Das Bundessozialgericht hat am 13. November ent-
schieden und Klarheit in der von Ihnen aufgeworfenen
Frage geschaffen. Anders als von Ihnen behauptet, wird
mit der Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 im SGB II kei-
neswegs eine Unterhaltspflicht gegenüber Stiefkindern
Zu Protokoll
geschaffen. Denn Vater oder Mutter sind unabhängig von
der faktischen Einkommenssituation der Kinder weiter-
hin zur Unterhaltszahlung verpflichtet. Es ist lediglich
klargestellt worden, dass Einkommen und Vermögen von
Lebenspartnern bei der Bedarfsermittlung aller zur Be-
darfsgemeinschaft zählenden Kinder berücksichtigt wer-
den müssen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um
gemeinsame Kinder handelt oder ob die Partner mit-
einander verheiratet sind.
Damit ist eine Ungleichbehandlung von verheirateten
und unverheirateten Paaren abgeschafft worden. Kinder,
deren leibliche Elternteil verheiratet ist, leben in einer
Haushaltsgemeinschaft im Sinne des § 9 Abs. 5 SGB II
und haben bei ausreichendem Einkommen keinen An-
spruch auf Leistungen nach dem SGB II. Kinder, deren
leibliche Elternteil in einer „eheähnlichen Gemein-
schaft“ lebt und nicht in einer Haushaltsgemeinschaft
nach dem SGB II, hätten den Vorteil, weiterhin Grundsi-
cherungsleistungen auf Kosten der Allgemeinheit zu er-
halten. Das halte ich für unangemessen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen – und das sage ich
jetzt besonders in Richtung der Fraktion Die Linke –, das
SGB II ist kein Selbstbedienungsladen, wo man mal hier
und da Leistungen abgreifen kann. Nein, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Linksfraktion, es handelt sich bei
der Grundsicherung für Arbeitsuchende um ein staatli-
ches Fürsorgesystem, bei dem der Nachranggrundsatz
gilt. Das bedeutet nichts anderes als dass Hilfesuchende
nur Unterstützung erhalten, wenn sie auch wirklich hilfe-
bedürftig sind. Dazu zählt, dass Einkommen und Vermö-
gen bei der Berechnung des Leistungsbezuges im SGB II
Berücksichtigung finden. Es ist für mich eine Frage der
Gerechtigkeit, dass bei Bezug von steuerfinanzierten
staatlichen Hilfen die eigene Leistungsfähigkeit die
Grundlage bildet. Willkür ist hier nicht geboten.
Sie führen in Ihrem Antrag aus, dass das Sozialgericht
Berlin die Stiefkindregelung des SGB II als verfassungs-
widrig bewertet. Nach meinem – ich gebe zu: durchaus
laienhaften – Rechtsverständnis obliegt es allein dem
Bundesverfassungsgericht, über die Verfassungswidrig-
keit von Gesetzen zu befinden. Lediglich verfassungs-
rechtliche Bedenken können angemerkt werden. Diese
wurden auch in der Rechtsprechung der Instanzen geäu-
ßert. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Urteilen, zum
Beispiel der Landessozialgerichte Bayern und Berlin und
der Sozialgerichte Dortmund und Reutlingen, die keine
verfassungsrechtlichen Bedenken sehen.
Letztendlich sieht der Senat des Bundessozialgerichts
mit seiner Entscheidung vom 13. November 2008 die ver-
fassungsrechtlichen Bedenken für nicht durchgreifend.
Das Gericht hat konstatiert, dass, sofern innerhalb der
Bedarfsgemeinschaft bedarfsdeckendes Einkommen zur
Verfügung steht, die Kosten der Kinder nicht auf die All-
gemeinheit zu übertragen sind. Damit erfolgt eine strikte
Trennung zwischen dem zivilrechtlichen Unterhaltsrecht
und dem fürsorglichen Konstrukt der Bedarfsgemein-
schaft im SGB II. Letztendlich wird so das SGB II als letz-
tes soziales Auffangnetz etabliert.
Ich hatte schon in meiner ersten Rede zu diesem An-
trag darauf hingewiesen: Kinder haben in unserer Ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20887
gegebene Reden
(C)
(D)
Angelika Krüger-Leißner
sellschaft einen herausragenden Stellenwert. Sie sind die
Zukunft unseres Landes, und wir sollten alles tun, um sie
in Ihrer Entwicklung, sei es im Kindergarten, in der
Schule, beim Sport oder später bei der Berufsausbildung,
zu unterstützen. Wir sollten ihnen Chancen auf eine ver-
nünftige Zukunft eröffnen und verbessern. Wir Politiker,
im Bund, im Land, in den Landkreisen sowie in den Städ-
ten und Gemeinden, sind es, die über die Rahmenbedin-
gungen entscheiden. Die Vermeidung von Kinderarmut
sollte dabei eines unserer wichtigsten Anliegen sein. Wir
brauchen Chancengerechtigkeit in der Bildung und der
gesellschaftlichen Teilhabe. Dazu müssen wir investieren
in Betreuung, Erziehung und Bildung – mehr als bisher.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis
nennen. Eine Kommune stellt fast 85 000 Euro in den
Haushalt ein, um jedem Kind zwischen drei und sechs
Jahren einmal für ein Jahr die Teilnahme an einem Kurs
zu ermöglichen. Das kann Musik, Kunst, Mathematik
oder Sport sein, je nachdem, welche Vorlieben das Kind
hat. Ich bin überzeugt, dass genau das der richtige Weg
ist. Vorsorge ist besser als Nachsorge.
Aber wir müssen noch mehr tun. Und wir haben auch
schon mehr getan. Mit dem Ganztagsschulprojekt ist uns
noch zu Zeiten der rot-grünen Regierung ein gutes Pro-
gramm gelungen. Das Elterngeld hat zur besseren Verein-
barkeit von Familie und Beruf beigetragen. Und nach ei-
nem Jahr können wir sagen: Es kommt gut an. Mit dem
Kinderzuschlag und der Erhöhung des Wohngeldes ha-
ben wir weitere Leistungen beschlossen, die zur Überwin-
dung der Hilfebedürftigkeit und zur Existenzsicherung
beitragen werden. Auch das kürzlich verabschiedete Kin-
derförderungsgesetz macht unsere Verantwortung gegen-
über unseren Kindern deutlich. Mit dem Rechtsanspruch
ab eins haben wir den entscheidenden Schritt zur früh-
kindlichen Bildung und Betreuung unserer Kinder ge-
schafft. Damit erhalten Eltern in Deutschland die Garan-
tie, tatsächlich einen Betreuungsplatz für ihr Kind zu
bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,
dem Kinderförderungsgesetz verweigerten Sie Ihre Zu-
stimmung. Da wir ja fast Weihnachten haben, würde ich
mir von Ihnen mehr Engagement bei ganzheitlichen An-
sätzen wünschen, statt Ihre Energie in solche Anträge zu
stecken, die nichts weiter sind als purer Aktionismus.
Denn das bedeutet, Verantwortung in diesem Staat zu
übernehmen.
Die Linke fordert in dem hier zur Debatte stehenden
Antrag, eine mit dem SGB-II-Fortentwicklungsgesetz im
Jahr 2006 von der großen Koalition vorgenommene Ge-
setzesänderung zurückzunehmen. Die seit dem 1. August
2006 geltende Regelung des § 9 Satz 2 SGB II sieht
vor, dass das Vermögen und Einkommen des nicht leibli-
chen Elternteiles Berücksichtigung finden muss bei der
Leistungsberechnung des mit in der Bedarfsgemeinschaft
lebenden Kindes des Partners. Bis zum SGB-II-Fortent-
wicklungsgesetz waren Einkommen und Vermögen des
neuen Partners von Kindesmutter oder -vater unerheb-
lich für die Bedarfsberechnung des Kindes.
Zu Protokoll
Die Linke führt aus, es bestehe mit der Regelung aus
dem Jahr 2006 eine neue Unterhaltspflicht, die im bür-
gerlichen Recht so nicht vorgesehen sei. Als problema-
tisch wird gesehen, dass hier ein Einkommenszufluss zum
Kind angerechnet werde, ohne dass darauf Rücksicht ge-
nommen werde, ob und inwieweit der Vermögenszufluss
tatsächlich stattfindet. Falls dem nicht leiblichen Kind
die Unterstützung verweigert würde, habe dieses keiner-
lei Möglichkeit, seinen Bedarf zu decken; denn zivilrecht-
liche Ansprüche bestünden nicht.
Die Erweiterung des § 9 Satz 2 SGB II um den Pas-
sus „und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Part-
ners“, begründete die Koalition 2006 wie folgt:
Der bisherige Wortlaut … macht nicht hinreichend
deutlich, dass Einkommen innerhalb einer Bedarfs-
gemeinschaft auch auf den Bedarf nicht leiblicher
Kinder anzurechnen ist. Dies hat zur Folge, dass
bei nicht miteinander verheirateten Partnern das
Einkommen des nicht leiblichen Elternteils nicht
auf den Bedarf eines nicht leiblichen Kindes ange-
rechnet wird. Bei verheirateten Paaren entsteht da-
gegen zum nicht leiblichen Kind eine Schwäger-
schaft, so dass entsprechend der Regelung des § 9
Abs. 5 vermutet wird, dass das nicht leibliche Kind
vom Stiefelternteil Leistungen erhält. Nach derzeiti-
gem Rechtsstand werden daher verheiratete Part-
ner gegenüber unverheirateten Partnern schlech-
ter gestellt. Mit der Änderung wird daher
klargestellt, dass – auch entsprechend der ur-
sprünglichen Absicht des Gesetzgebers – Einkom-
men innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft in beiden
Fallgestaltungen auf den Bedarf eines nicht leibli-
chen Kindes anzurechnen ist und damit die Schlech-
terstellung von Ehen gegenüber nichtehelichen
Partnerschaften aufgelöst.
Schwarz-Rot begründete die Neuregelung also mit der
erforderlichen Gleichstellung von Ehen mit nichteheli-
chen Partnerschaften. Die zunächst mit der Überprüfung
der Verfassungsgemäßheit der Neuregelung befassten So-
zialgerichte kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Teilweise wurde dabei die in der Begründung des Antrags
der Fraktion Die Linke angeführte Behauptung, es han-
dele sich bei der Neuregelung des Fortentwicklungsge-
setzes um eine verfassungswidrige Regelung, durchaus
richterlich bestätigt.
Am 13. November jedoch kam nun jüngst das Bundes-
sozialgericht zu einer gegenteiligen Beurteilung. Das Ge-
richt hat die Revision einer 15-jährigen Klägerin zurück-
gewiesen. Die Klägerin war im November 2005 mit der
Mutter zum neuen Partner der Mutter und dessen Kind
gezogen und hatte ab 1. August 2006 entsprechend der
Neuregelung des § 9 Satz 2 SGB II keine Leistungen
mehr erhalten, da das Einkommen des neuen Partners der
Mutter ausreichend hoch war, um den Lebensunterhalt
der vierköpfigen Bedarfsgemeinschaft zu decken.
Das Bundessozialgericht führt in der Urteilsbegrün-
dung aus, man halte die auf dem Instanzenweg geäußer-
ten verfassungsrechtlichen Bedenken zwar für „beach-
tenswert, letztlich aber nicht durchgreifend“. Dabei
verwies der 14. Senat des Bundessozialgerichtes wie die
20888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Heinz-Peter Haustein
Regierung auf die gebotene Gleichstellung von Ehe und
eheähnlicher Partnerschaft und erklärte unter Verweis
auf die Freiheit bei Eheschließung und Partnerwahl nach
Art. 2 GG, „es besteht kein schützenswertes Interesse,
dass bei der Wahl eines Partners mit Kindern
die Kosten dieser Kinder auf die Allgemeinheit abgewälzt
werden können, wenn innerhalb der Bedarfsgemeinschaft
… ausreichende Mittel zur Verfügung stehen“. Der
Rechtsanspruch des Kindes auf Gewährung des Existenz-
minimums, so führte das Bundessozialgericht weiter aus,
sei hinreichend gesichert. Zwar habe das Kind tatsäch-
lich keinen Rechtsanspruch auf Unterhalt vom neuen
Partner der Mutter. Aber es habe einen Anspruch gegen
die Mutter. Und die Mutter habe sich mit ihrem neuen
Partner in einer eheähnlichen Gemeinschaft der gegen-
seitigen Unterstützung versichert. Die Mutter müsse das
ihr von ihrem Partner Zugewandte zuallererst ihrem Kind
zuwenden, sonst sei dies eine Sorgerechtsverletzung, ar-
gumentiert das Gericht.
Ich möchte jedoch neben diesen Ausführungen auch
auf meine Rede im Rahmen der ersten Lesung verweisen.
Auf unsere Fragen an die Bundesregierung im November
2007 erhielten wir leider keine dienliche Antwort. Man
wisse nichts, war die lapidare Auskunft des Ministeriums
damals. Dabei muss doch zuallererst einmal festgestellt
werden: In wie vielen Fällen kommt es überhaupt dazu,
dass der neue Lebenspartner in Anspruch genommen
wird? Denn dazu kommt es ja nur, wenn der getrennt vom
Kind lebende leibliche Elternteil seiner Unterhaltsver-
pflichtung nicht nachkommt oder nicht nachkommen
kann.
Ich bleibe dabei: Die Bundesregierung müsste hier
erst einmal Fakten präsentieren. Wie viele Kinder sind
überhaupt betroffen? Das muss doch wissen, wer sich mit
einer Gesetzesänderung befasst. Das Urteil des Bundes-
sozialgerichtes jedoch macht die von den Linken ange-
strebte Korrektur nicht wahrscheinlicher, wischt es doch
das Hauptargument weg.
Das Bundessozialgericht hat zum Thema Stiefkinder-
unterhalt entschieden: Verfassungsrechtlich sei es zwar
„beachtenswert bedenklich“, dass nicht mit der Mutter
verheiratete Stiefväter entgegen dem Bürgerlichen Ge-
setzbuch zum Unterhalt gegenüber den Stiefkindern im
gemeinsamen Haushalt sozialrechtlich unterhaltsver-
pflichtet seien. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken
seien „letztlich aber nicht durchgreifend“. Man höre: Es
bricht also angeblich kein Verfassungsrecht, wenn das
BGB durch das Sozialgesetzbuch II, also Hartz IV, ausge-
hebelt wird. Dieses seltsame Rechtsverständnis wird vom
Bundessozialgericht voll erkannt. Zitat: „Das SGB II hat
sich mit dem fürsorgerechtlichen Konstrukt der Bedarfs-
gemeinschaft insgesamt vom zivilrechtlichen Unterhalts-
recht gelöst …“ Es wird anerkannt, dass das mit Hartz IV
verschärfte Fürsorgerecht also noch mehr als bisher das
Zivilrecht aushebelt.
Auch wird der sogar gegenüber eigenen Kindern ge-
botene zivilrechtliche Selbstbehalt des Unterhaltsver-
pflichteten einfach über Bord geworfen. Denn ein solcher
Zu Protokoll
Selbstbehalt wird dem nunmehr sozialrechtlich unter-
haltsverpflichteten Stiefvater bei einer Bedarfsgemein-
schaftskonstruktion nach Hartz IV nicht anerkannt. Das
hat im konkreten Fall die Folge, dass das, was nach dem
BGB für eigene Kinder unterhaltsrechtlich gilt, im „für-
sorglichen“ SGB II für nichtleibliche Kinder nicht gilt,
obwohl ebenfalls eine Unterhaltsverpflichtung konstru-
iert wird.
Das Bundessozialgericht musste sich also schon sehr
verbiegen, um ja nicht die Fürsorgelogik von Hartz IV als
verfassungsrechtlich „nicht durchgreifend bedenklich“
zu deklarieren. Interessanterweise wird dies auch noch
damit begründet, dass das SGB II vom Gesetzgeber als
letztes soziales Auffangnetz etabliert wurde. Diese Be-
hauptung wird im selben Urteil gleich wieder zurückge-
nommen. Sollte nämlich der Stiefvater der ihm nicht an-
zulastenden Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem
sogenannten Stiefkind, also dem Kind in der Patchwork-
familie, nicht nachkommen, müsse die Mutter dem Kind
in „Notgemeinschaft“ zur Seite stehen und einen Anteil
von ihrem Bedarf zur Sicherung ihres Existenzminimums
an das Kind abzweigen – sofern man im SGB II von exis-
tenzsichernder Bedarfsdeckung überhaupt sprechen
kann. Sollte sie es nicht tun, so die Richter, müsse die Ju-
gendhilfe eben eine „Sorgerechtsverletzung“ feststellen
und entsprechend handeln. Damit ist in der richterlichen
Logik eben doch nicht das SGB II, sondern das SGB VIII
das letzte, die Mutter sogar als Rechtsverletzerin krimi-
nalisierende „soziale Auffangnetz“. Und dies, obwohl
das SGB VIII gar nicht die Aufgabe hat, existenzsi-
chernde Leistungen bereitzustellen und die Jugendhilfe
nicht unbedingt von sozialen Problemen Kenntnis be-
kommt. Das Bundessozialgericht zieht sich zurück auf
eine Vermutung: Das Kindeswohl wird schon irgendwie
gesichert werden, auch wenn das SGB II mit der Stiefkin-
derregelung geradezu soziale Sicherungslücken für Kin-
der per Gesetz etabliert.
Das Bundessozialgericht hat Mühe und verstrickt sich
in Widersprüche, um eine verfassungsrechtlich hochbe-
denkliche Gesetzgebung zu legitimieren. Ich hoffe, dass
das Bundesverfassungsgericht diesem „fürsorglichen“
Spuk der Bundesregierung ein Ende setzen und den Auf-
fassungen zum Beispiel des Sozialgerichts Berlin folgen
wird.
Fakt ist: Das Hartz-IV-Gesetz legitimiert soziale Si-
cherungslücken und schiebt dafür den Betroffenen den
Schwarzen Peter zu. Das ist für uns nicht akzeptabel. Die
Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, nach der Ein-
kommen und Vermögen der Stiefeltern bei der Bedarfsbe-
rechnung des Kindes zu berücksichtigen sind, muss daher
so schnell wie möglich zurückgenommen werden. Statt-
dessen gilt es, eine eigenständige Existenzsicherung von
Stiefkindern, darüber hinaus für alle Kinder, zu etablieren
und aus der rückwärtsgewandten Fürsorgelogik, die dia-
metral einer Auffassung vom demokratischen Sozialstaat
gegenübersteht, auszubrechen.
Im Jahre 2006 hat die Große Koalition mit dem soge-
nannten SGB-I-Fortentwicklungsgesetz eine Stiefkind-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20889
gegebene Reden
20890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Markus Kurth
Regelung eingeführt, die unverheiratete Partner und
Stiefelternteile faktisch zur Unterhaltspflicht der Kinder
ihrer Partner heranzieht. Ich halte diese Regelung heute
für nicht mehr zeitgemäß. Außerdem stigmatisiert sie die
betroffenen Kinder. Mit dem Wort „Stiefkind“ assoziiert
man ein Leben im Schatten der Familie und Gesellschaft.
Dabei sollte das Schicksal eines Aschenputtel in einer
modernen Gesellschaft, in der Patchwork-Familien keine
Seltenheit mehr sind, der Vergangenheit angehören. Die
Große Koalition macht diese Kinder und jungen Erwach-
senen bis zum Alter von 25 Jahren über das Sozialrecht
zum Bittsteller beim Stiefelternteil oder gar beim nicht-
ehelichen Partner. Diese sozialrechtliche Sonderrege-
lung widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz und
ist für mich nicht nachzuvollziehen.
Nun hat das Bundessozialgericht – Aktenzeichen B 14
AS 2/08 R – am 13. November 2008 entschieden, dass
kein Anspruch des Stiefkindes auf Leistungen nach dem
SGB II, Hartz IV, bei ausreichendem Einkommen des
neuen Partners der Mutter in einer Patchwork-Familie
besteht. Der Senat hält zwar die im Schrifttum und in der
Rechtsprechung der Instanzen geäußerten verfassungs-
rechtlichen Bedenken gegen § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II für
beachtenswert, letztlich aber nicht für durchgreifend. Der
Gesetzgeber hat die Neuregelung damit gerechtfertigt,
dass diese erforderlich sei zum Schutz der Ehe gemäß
Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz. Das SGB II hat sich insgesamt
vom zivilrechtlichen Unterhaltsrecht gelöst, mit dem Ziel,
das SGB II als letztes soziales Auffangnetz zu etablieren,
so die Richter. Hiermit wäre es nicht vereinbar, wenn Be-
darfsgemeinschaften wie die vorliegende – trotz ausrei-
chenden Einkommens – weiterhin Grundsicherungsleis-
tungen nach dem SGB II erhalten würden.
Trotz bzw. gerade wegen des Urteils fordern wir nach
wie vor, dass in eheähnlichen Gemeinschaften Lebensge-
fährtinnen und Lebensgefährten nicht gezwungen werden
dürfen, ihr Einkommen für den Bedarf der Kinder von
Partnerinnen und Partnern einzusetzen, wenn es nicht die
gemeinsamen sind bzw. die Kinder nicht adoptiert wur-
den. Ansonsten verhindern wir, dass einkommensschwa-
che Partner mit Kindern zusammenziehen, wenn Ansprü-
che auf Sozialleistungen bestehen. Dabei können sie
gemeinsam auch für den Sozialleistungsträger kosten-
günstiger haushalten.
Wir haben diese Regelung schon zum Zeitpunkt ihrer
Einführung durch die Große Koalition in unserem Antrag
vom 4. April 2006 „Hartz IV weiterentwickeln – Existenz-
sichernd, individuell, passgenau“, Drucksache 16/1124,
kritisiert. Wir bleiben dabei: Auch wenn ein Ehepartner
Kinder in eine Ehe einbringt, darf dies nicht zu einem so-
zialrechtlichen Unterhaltsanspruch führen, der über den
zivilrechtlichen Anspruch hinausgeht. Daher stimmen
wir dem Antrag der Fraktion Die Linke zu.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung
der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung der Förderung von Biokraftstoffen
– Drucksache 16/11131 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Folgende Reden wurden zu Protokoll gegeben: von
den Kollegen: Andreas Jung, Marko Mühlstein, Michael
Kauch, Hans-Kurt Hill und Hans-Josef Fell. 1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Wie ich Sie kenne, sind Sie da-
mit einverstanden. – Also ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 sowie den
Zusatzpunkt 7 auf:
32 Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mitbestimmungsrechte von Kindern und Ju-
gendlichen erweitern – Partizipation umfas-
send sichern
– Drucksache 16/7110 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
trag der Abgeordneten Kai Gehring, Grietje
Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partizipation von Kindern und Jugendlichen
stärken – Mehr Kinder- und Jugendfreund-
lichkeit durch eine neue Beteiligungskultur
– Drucksachen 16/3543, 16/6074 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Katharina Landgraf
Marlene Rupprecht
Miriam Gruß
Diana Golze
Kai Gehring
1) Anlage 20
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Die Reden folgender Kollegen sind zu Protokoll ge-
geben worden: Katharina Landgraf, Sönke Rix, Miriam
Gruß, Diana Golze und Kai Gehring.
Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einem sehr
bedeutenden Thema, allerdings in einer sehr beliebigen
Art und Weise. Er enthält ein Sammelsurium an Forde-
rungen, die scheinbar wahllos unter den Oberbegriff
„Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen“ gefasst
wurden, frei nach dem Motto: Was nicht passt, wird pas-
send gemacht. Da werden in einem Atemzug unter ande-
rem die Übernahme der Kosten der Schülerbeförderung,
die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behin-
derungen, die Verbesserung des Jugendschutzes, die
Rücknahme der Kindergeldkürzungen, verbunden mit ei-
ner gleichzeitigen Erhöhung des Kindergeldes und Kin-
derzuschlags, und die Rücknahme der Einschnitte für
unter 25-Jährige im Zweiten SGB-II-Änderungsgesetz
verlangt. Alles unter dem Deckmantel einer scheinbaren
Sicherung der Mitbestimmung von Kindern und Jugend-
lichen. Gleichzeitig sollen Schülerinnen- und Schülerver-
tretungen, Jugend- und Ausbildungsvertretungen, Ju-
gendgemeinderäte und Jugendparlamente ausgebaut und
rechtlich garantiert werden, obwohl dies eindeutig Län-
dersache ist.
Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von der
Linksfraktion: Ordnen Sie erst mal Ihre Gedanken und
sortieren Ihre Forderungen nach Themenbereichen, bevor
Sie einfach alles in einen Antrag packen! Von der Finan-
zierbarkeit möchte ich gar nicht erst reden. Die Forderung
nach einem 100-Millionen-Euro-Förderprogramm des
Bundes zur Wiederbelebung der außerschulischen Kin-
der- und Jugendarbeit spricht Bände.
Ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung sagen, was sich
Kinder und Jugendliche in Bezug auf ihre Mitbestim-
mungsrechte wünschen. Sie wünschen sich nicht so sehr
eine generelle, sondern eine spezifische und eher projekt-
bezogene Mitsprache bei vorwiegend kommunalen The-
men: Was passiert mit meinem Jugendklub um die Ecke
oder dem Spielplatz auf der Grünanlage? Wie kann ich
mich in meiner Stadt für den Umweltschutz engagieren?
Das sind Fragen, bei denen es um die konkrete Mitbestim-
mung und Mitgestaltung des eigenen Lebensbereiches
geht, und genau da wollen und sollen die Kinder und Ju-
gendlichen mitbestimmen. Jugendparlamente sind für die
Jugendlichen nur dann interessant, wenn sie wirklich
ernst genommen und an Entscheidungen auch beteiligt
werden. Sonst handelt es sich nur um reine Planspiele, für
die kaum jemand bereit ist, seine Freizeit zu opfern.
Es gibt übrigens schon etliche gute Projekte und Maß-
nahmen zur Förderung von mehr Mitbestimmungsrechten
für Kinder und Jugendliche. Die Aktivitäten zur Partizi-
pation werden dabei gemeinsam mit den Jugendverbän-
den und der Bundeszentrale für politische Bildung stän-
dig weiterentwickelt. Außerdem soll die Bedeutung der
Kinderrechte stärker in das Bewusstsein der Öffentlich-
keit dringen. Dazu müssen aber auch Eltern, Lehr- und
pädagogische Fachkräfte informiert werden. Wir wollen
Zu Protokoll
auf gute Beispiele aufmerksam machen und das Thema
auch auf der Ebene des Bundes dauerhaft verankern.
Im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes
Deutschland 2005 bis 2010“ ist das Thema Beteiligung
von Kindern und Jugendlichen auch fester Bestandteil.
Am Kinder- und Jugendreport anlässlich des ersten Zwi-
schenberichts des Nationalen Aktionsplans haben sich
2006 mehrere Hundert Jugendliche beteiligt und neben
Anregungen für die Weiterentwicklung des Nationalen
Aktionsplans auch eigene Visionen und Wege zu einem
kindergerechteren Deutschland formuliert.
Mit einem Beteiligungsprojekt im Auftrag des Bundes-
familienministeriums setzen der Deutsche Bundesjugend-
ring und die Servicestelle Jugendbeteiligung die Kultur
der Beteiligung fort: Seit April 2008 werden Kinder und
Jugendliche angeregt, sich mit den Inhalten und Themen-
feldern des Nationalen Aktionsplans auseinanderzuset-
zen, Aktionen durchzuführen und eigene Forderungen zu
formulieren. Dazu entwickeln die Projektpartner Arbeits-
materialien und initiieren Projekte vor Ort. Mit einer
Vielfalt methodischer Ansätze sollen Kinder und Jugend-
liche mit unterschiedlichen Erfahrungen und Engage-
mentniveaus erreicht werden. Ideen und Anliegen fließen
direkt in den Umsetzungsprozess des Nationalen Aktions-
plans ein.
Die Beteiligung an politischen Entscheidungen funk-
tioniert aber nur, wenn Kinder und Jugendliche ihre
Rechte kennen und nutzen. Es bestehen darum verschie-
dene Initiativen, um sie über Beteiligungsmöglichkeiten
zu informieren. Die Broschüre des Bundesfamilienministe-
riums „Die Rechte der Kinder – von Logo einfach erklärt“
gibt einen kindgemäßen Überblick über die UN-Kinder-
rechtskonvention. Der „Koffer voller Kinderrechte“ bein-
haltet eine umfangreiche Materialiensammlung in Form
von Broschüren, Büchern und Filmen. Bis Ende 2008 er-
stellt das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend eine erweiterte Onlineversion des Kof-
fers, die auf dem Internetportal des Nationalen Aktions-
plans für ein kindergerechtes Deutschland zur Verfügung
stehen wird. Unter www.kindergerechtes-deutschland.de
wächst zudem eine Projektdatenbank mit Beteiligungsbei-
spielen aus verschiedenen Lebensbereichen. Auf der
Webseite www.du-machst.de entsteht eine Plattform für
junge, politisch engagierte Menschen. Hier können sie
Projektideen und Erfahrungen austauschen und sich ver-
netzen. Die Seite wird komplett von einer Jugendredak-
tion betreut, die tagesaktuell über junges politisches En-
gagement in Deutschland berichtet.
Wirklich ernst gemeinte Kinder- und Jugendarbeit
kann aber nur von echter Beteiligung leben. Unter dem
Motto „Nur wer was macht, kann auch verändern!“ för-
dert das Aktionsprogramm des Bundesfamilienministe-
riums bis 2009 Initiativen und Projekte, in denen Kinder
und Jugendliche von sechs bis 27 Jahren maßgeblich in
Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Das Ge-
meinschaftsprojekt der Bundeszentrale für politische Bil-
dung und des Deutschen Bundesjugendrings richtet sich
an verbandlich organisierte und nicht organisierte Kin-
der und Jugendliche. Darüber hinaus sollen auch er-
wachsene Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungs-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20891
gegebene Reden
(C)
(D)
Katharina Landgraf
träger für die Belange von Jugendlichen sensibilisiert
werden.
Der Projektbaustein „Come in Contact“ hilft Kindern
und Jugendlichen, über ihre Wünsche und Vorstellungen
mit Verantwortlichen aus Politik und Gesellschaft zu ver-
handeln und verbindliche Vereinbarungen zu schließen.
In Ideenwettbewerben werden innovative Projekte beson-
ders gefördert. 2008 steht hier die Beteiligung junger Mi-
grantinnen und Migranten im Mittelpunkt. Daneben kön-
nen Jugendliche eigene Themen bestimmen und Projekte
initiieren. Das Festival „Berlin 08 – Festival für junge
Politik“ war ein Höhepunkt des Aktionsprogramms: Drei
Tage wurde Politik in Verbindung mit Kultur, Sport und
Unterhaltung erlebt und gelebt. Engagierte Jugendliche
haben das Festival geplant und gute Ideen in Regional-
konferenzen entwickelt. Durch dieses Engagement konnte
das Festival im Juni 2008 mit rund 11 000 jungen Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern zu einem großen Erfolg
werden.
Eine weitere wichtige Initiative ist „YOUrope07“,
welches Beteiligungsprojekte fördert, die sich mit dem
Thema Europa beschäftigen. Die Inhalte variierten von
Kinderrechten über Naturschutz bis hin zur europäischen
Verfassung. Aus den Ergebnissen werden derzeit Aktio-
nen zur Europawahl 2009 entwickelt.
Wir lehnen den Antrag der Linken nicht nur aus den
anfangs genannten Gründen ab, sondern auch, weil er
von falschen Aussagen und Unterstellungen getragen ist.
Ich nehme hier nur beispielhaft die angebliche Forcie-
rung der Privatisierung der Sozialversicherungssysteme
heraus.
Wie ich ausgeführt habe, bestehen schon eine Fülle
von Projekten und Programmen, die Mitbestimmungs-
rechte von Kindern und Jugendlichen fördern und si-
chern; diese werden ständig weiterentwickelt. Wir neh-
men die Wünsche und berechtigten Forderungen der
Kinder und Jugendlichen nach mehr Teilnahme ernst und
ruhen uns nicht auf alten Erfolgen aus. Daher sind wir
auf einem guten Weg zu mehr und vor allem konkreterer
Beteiligung. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam mit
den Kindern und Jugendlichen gehen!
Auch die Linke hat nun endlich das von der SPD schon
lang diskutierte Thema Partizipation von Kindern und
Jugendlichen entdeckt. Die Kollegen aus der Fraktion
Die Linke unternehmen jedoch in ihrem Antrag nur einen
Rundumschlag zum Thema Kinder- und Familienpolitik.
Viel Differenziertes zur Mitbestimmung und zur politi-
schen Partizipation kann ich dort nicht erkennen. Sie for-
dern – natürlich – eine finanzielle Aufstockung in allen
Bereichen, die in irgendeiner Art und Weise mit Jugend-
lichen und Kindern zu tun haben – von einem sozialen
Recht auf eine gebührenfreie Ganztagskinderbetreuung
bis hin zur Erhöhung des Kindergeldes, Kinderzuschlags
und zum Ausbau einer Kindergrundsicherung.
Sie erklären in ihrem Antrag auch, warum genau diese
Fragen mit Mitbestimmung und Partizipation zu tun ha-
ben: Weil Kinder und Jugendliche materiell abgesichert
Zu Protokoll
sein müssen, um zu partizipieren. Das ist richtig. Vor al-
lem müssen die ALG-Leistungen für Kinder dringend
überprüft werden. Darauf dränge auch ich. Ich glaube
aber, dass wir auch ohne Änderungen im Bereich der fi-
nanziellen Leistungen für mehr Partizipation von Kin-
dern und Jugendlichen sorgen können. Klar, wünschen
können wir uns immer viel, vor allem mehr Geld für Kin-
der und Jugendliche. Doch die Haushaltsberatungen sind
gerade abgeschlossen, und wir alle wissen, unter welchen
Vorzeichen die diesjährigen Verhandlungen stattgefun-
den haben. Wir sind zu vernünftigen Ergebnissen gekom-
men und haben keine Luftschlösser gebaut, so wie Sie es
regelmäßig tun.
Dass wir Jugendliche und Kinder stärker beteiligen
müssen, ist für mich klar. Vier gute Gründe gibt es für
diese Meinung: Erstens. Jugendliche müssen mit den Ent-
scheidungen, die wir heute treffen, später leben.
Zweitens. Es ist wichtig, dass Jugendliche Demokratie
positiv und aktiv erleben, damit sie sehen, dass es etwas
bringt, wenn sie ihre Interessen formulieren. So kann die
Demokratiefähigkeit gefördert werden. Zusätzlich wird
damit auch das Vertrauen in die Politik wieder gestärkt.
Drittens. Wir brauchen den Sachverstand von Jugend-
lichen. Zu vielen Themen haben wir doch gar keinen Be-
zug mehr. Hier müssen wir sie fragen.
Viertens. Jugendliche können politisches Gestalten
besser nachvollziehen und akzeptieren, wenn sie bei den
Diskussionen dabei sind. Auch falsche oder unbeliebte
Entscheidungen bleiben für sie greifbar. „Transparenz
durch Beteiligung“ lautet hier das Motto.
Außerdem brauchen wir eine breite Diskussion über
eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre bei Land-
tags-, Bundestags- und Europawahlen. Auf kommunaler
Ebene gibt es gute Erfahrungen mit dem aktiven Wahl-
recht ab 16 Jahren. Jugendliche sind in der Lage, sich
eine umfassende politische Meinung zu bilden, sich in Po-
litik und Gesellschaft zu engagieren sowie politische Ent-
scheidungen zu treffen. Warum sollten sie also nicht auch
bei den Bundestagswahlen ab 16 wählen dürfen? Denn
nicht nur die Entscheidungen vor Ort betreffen die Ju-
gendlichen. Im Landtag wird unter anderem über den
Ausbau und die zukünftige Gestaltung der Schulen be-
schlossen. Im Bundestag sind die jugendpolitischen The-
men mannigfaltig: Ausbildungsplatzinitiativen, Freiwilli-
gendienste, Zivildienst und der Jugendmedienschutz sind
nur einige der Themen, über die die Bundestagsabgeord-
neten entscheiden. Sie haben auf die Welt von Jugendli-
chen direkten Einfluss.
Aber wer mitentscheidet, muss auch wissen, wie De-
mokratie funktioniert. Das gilt im Übrigen nicht nur für
Jugendliche, sondern auch für viele Erwachsene. Voraus-
setzung dafür ist selbstverständlich eine gute politische
Bildung. Der Politikunterricht bekommt eine andere Be-
deutung, wenn politische Bildung wieder in den Fokus
rückt. Hier sind wiederum die Länder gefordert. Wir
könnten noch weiter gehen und, wie von meinem Kollegen
Hans-Peter Bartels in seinen Überlegungen beschrieben,
das Schulfach Demokratie einführen. Viele Jugendliche
aus meinem Wahlkreis beschweren sich darüber, dass in
20892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Sönke Rix
dem Schulfach WiPo – das steht für Wirtschaft und Poli-
tik – die Wirtschaft so sehr im Vordergrund steht, dass die
Politik auf der Strecke bleibt. Womöglich wäre ein neues
Unterrichtsfach, das sich mit der Geschichte der Demo-
kratie, unterschiedlichen Demokratiesystemen und vor
allem mit den Rechten und Pflichten der Bürger beschäf-
tigt, somit durchaus sinnvoll. Und klar: Vor Wahlen soll-
ten sich die Schülerinnen und Schüler ein Bild machen
können von den Parteien, den Kandidaten und ihren Pro-
grammen.
Was ich damit sagen will: Wir können nicht erwarten,
dass Jugendliche von Anfang an Demokratie können und
verantwortlich politisch handeln oder wählen, wenn wir
ihnen nicht das entsprechende Rüstzeug mit auf den Weg
geben. Das ist das Wichtigste. Auf keinen Fall sollte dies
erst vermittelt werden, wenn die Schüler schon 16 sind
und vor ihrer ersten Bundestagswahl stehen.
Natürlich ist dieser Punkt auch Ländersache und viel-
leicht auch Zukunftsmusik. Auf jeden Fall sind es keine
Wolkenkuckucksheime, wie sie zuhauf in Ihrem Antrag
beschrieben sind.
Die stärkere Partizipation von Kindern und Jugendli-
chen muss ein Schwerpunkt in der Kinder- und Jugend-
politik sein. Darin stimmen wir alle überein. Einmal da-
von abgesehen, dass Sie, liebe Fraktionsmitglieder der
Grünen, mit keinem Wort erwähnen, wie Sie Ihr ehren-
wertes Engagement überhaupt finanzieren wollen: Wir
hätten in Ihrem Antrag an vielen Stellen gerne genauer
gewusst, was Sie überhaupt meinen.
Ich fange mal mit dem Konkretesten an, was ich in Ih-
rem Papier finden konnte. Sie fordern die Herabsetzung
des Wahlalters auf 16 Jahre bei Kommunal-, Landtags-,
Bundestags- und Europawahlen. Ich lehne diesen Vor-
schlag nicht prinzipiell ab. Man kann darüber reden. Ich
denke nur, dass dieser Vorschlag zum jetzigen Zeitpunkt
ohne weitere Vorbereitungen zu weit geht. Wir sollten
dann auch dafür sorgen, dass unsere Jugendlichen darauf
vorbereitet sind, wählen zu gehen. Denn wir alle wissen,
wohin Desinteresse und Desillusionierung führen kön-
nen. Erst gestern habe ich an dieser Stelle zum Thema
Rassismus gesprochen.
Wie schaffen wir es, dass Jugendliche vernünftig mit
ihrer Stimme umgehen und sie weder missbrauchen noch
verfallen lassen? Indem sie etwas „abbekommen von
dem, was andere haben“, nämlich Wissen und Erfahrung.
In dieser Hinsicht hat der Duden recht. Wissensvermitt-
lung geschieht erstens durch Bildung: im Kindesalter
noch spielerisch, später, in der Schule und in der Ausbil-
dung, durch Theorie und Praxis. Die Praxis ist dabei be-
sonders wichtig; denn Erfolgserlebnisse sind der beste
Motivationsschub. In Kinder- und Jugendforen, Ver-
sammlungen von Jugendlichen oder Schülervertretungen
kann der Erfolg, aber auch der Umgang mit Niederlagen
geprobt werden.
Dazu möchte ich Ihnen in kurzes Beispiel geben: Ein
Schüler, den ich hier im Haus bei „Jugend und Parla-
ment“ kennengelernt hatte, bat mich, in seinen Unterricht
Zu Protokoll
zu kommen und von meinem Job als Politikerin zu berich-
ten. Ich hätte dies gerne gemacht, aber der Sozialkunde-
lehrer lehnte ab. Politiker gehören anscheinend nicht in
den Lehrplan. Was mich allerdings mehr gestört hat: Das
Engagement eines jungen Menschen wurde hier abgewie-
gelt. Das ist meiner Meinung nach ein falsches Signal an
die Jugend. Wenn Bemühungen nicht belohnt werden,
müssen wir uns über mangelnden Einsatz nicht wundern.
Um Erfahrungen zu sammeln, bewährt sich zweitens
immer noch die Redewendung: Learning by Doing. Ju-
gendparlamente oder die Mitarbeit in Jugendorganisa-
tionen sind die richtigen Foren, um erlerntes Wissen an-
zuwenden und sich neue Erkenntnisse zu verschaffen. Wir
Liberale schlagen beispielsweise Jugendwahlen vor, die
parallel zu den richtigen Wahlen entweder von der Stadt
oder den Schulen organisiert werden. Dadurch können
junge Menschen Demokratie lernen und, wie sie selbst
daran teilhaben können.
Mir schweben zudem konkrete Projekte wie der Quali-
pass aus Baden-Württemberg vor. Der Qualipass richtet
sich an Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren und
dokumentiert die Praxiserfahrungen und Kompetenzge-
winne, die Jugendliche durch Praktika, Vereinsmitarbeit,
Schülerinitiativen, Auslandsaufenthalte, Nachbarchafts-
hilfe oder vergleichbare Tätigkeiten erworben haben. Sie
bekommen damit ein Zeugnis über ihr Engagement.
Für die FDP ist die aktive Einbeziehung und politische
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ein Leitziel,
das nur erfolgreich erreicht werden kann, wenn drei Be-
dingungen erfüllt sind:
Erstens. Jugendliche müssen ernst genommen werden
und echte Gestaltungs- und Mitentscheidungschancen er-
halten.
Zweitens. Ihr Engagement darf sich nicht in einmali-
gen Aktionen erschöpfen, sondern muss kontinuierlich
gefördert werden.
Drittens. Es darf nicht zu Scheinpartizipationen kom-
men; denn die demotivieren nur.
Jeder von uns kann sich selbst überprüfen, ob er in sei-
nem Wahlkreis und in seiner täglichen Arbeit mit Kindern
und Jugendlichen diese drei Grundvoraussetzungen er-
füllt. Wenn das so ist, dann sind wir auf dem richtigen
Weg. Denn Kinder und Jugendliche haben nicht erst mit
18 Jahren ein Recht darauf, diese Gesellschaft mitzuge-
stalten.
Die Wichtigkeit der Mitbestimmung von Kindern und
Jugendlichen ist ein gern und immer wieder strapaziertes
Thema, das auch bei den Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen häufig bemüht wird, oft auch vor
dem Hintergrund, dass es wichtig sei, junge Menschen in
die Debatten und das politische Geschehen in der Bun-
desrepublik miteinzubeziehen. Man will damit Politikver-
drossenheit bekämpfen oder demokratische Prozesse nä-
her an die Kinder und Jugendlichen heranbringen. Und
ich bin sehr gespannt, ob wir diesen Antrag noch bis zur
Beschlussfassung bekommen. Die Debatte um die Rück-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20893
gegebene Reden
(C)
(D)
Diana Golze
nahme der Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention,
die Teile des Hauses immer weiter vor sich herschieben,
um sich vor einem Votum zu drücken, lässt mich wenig
hoffen.
Auch die Partizipation von Kindern ist ein Teil der
Kinderrechtskonvention, mit der ihnen Recht auf Schutz,
Grundversorgung und Beteiligung zugesprochen wird.
Der Zwischenbericht zum „Nationalen Aktionsplan für
ein kindgerechtes Deutschland“ ist uns allen in den ver-
gangenen Tagen zugänglich gemacht worden. Ich teile
ausdrücklich die Kritik des Deutschen Bundesjugendrin-
ges, dass dies ein reiner Ministeriumsbericht ist. Es sollte
nicht Ziel sein, über die Beteiligung von Jugendlichen zu
diskutieren; es muss unser Ziel sein, Jugendliche direkt
und bei allen Verfahren zu beteiligen und mit ihnen über
Möglichkeiten der Partizipation zu verhandeln. Alles an-
dere ist halbseiden und verschärft den Eindruck bei den
Betroffenen, im entscheidenden Moment wieder draußen
zu bleiben.
Die Bundesregierung hat sich mit dem Aktionsplan
„Für ein kindergerechtes Deutschland“ hehre Ziele ge-
setzt. Allein die Politik der Bundesregierung straft sie
selbst Lügen. Die Ungleichbehandlung der Kinder von
Erwerbslosen im heute beschlossenen Familienleistungs-
gesetz ist der jüngste Beweis. Bildung ist Beteiligung. Wa-
rum aber wird dann das Schulbedarfspaket nur bis zum
10. Schuljahr an Kinder in Bedarfsgemeinschaften ge-
zahlt und nicht auch für die Abiturstufe? Finanzielle Aus-
grenzung durch die Anrechnungspraxis beim Kindergeld
auf den ALG-II-Regelsatz ist eine schreiende Ungerech-
tigkeit. Die Tatsache, dass Kinder im Sozialgeldbezug
keine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Leistungen er-
halten, ist alles andere als kindgerecht. Die Bundesregie-
rung weiß dies und hält die Oppositionsfraktionen seit
zweieinhalb Jahren hin. Drei Millionen Kinder in Armut
heißt auch drei Millionen Kinder, die weniger Teilhabe-
möglichkeiten haben und dadurch in ihren Partizipations-
rechten eingeschränkt werden.
In drei Jahren schwarz-roter Politik ist eine ganze
Gruppe von Jugendlichen in ihrer Selbstbestimmung
massiv eingeschränkt worden. Durch die Verschärfung
der Hartz-IV-Regelung für unter 25-Jährige fehlt dieser
Gruppe nicht nur das Geld, das Sie ihnen durch die Kür-
zung des Regelsatzes nicht mehr zugestehen. Sie haben
auch das Recht verloren, – obgleich volljährig – allein
über ihr Leben zu bestimmen. 19-, 20-, 21-Jährige, die
nicht zu Hause ausziehen dürfen, weil sie ALG II
beziehen – das ist die Politik der Bundesrepublik. Be-
gründet wird dies allzu gern mit dem demografischen
Wandel und damit, dass die kommenden Generationen
durch Neuverschuldung des Staates nicht der Zukunft be-
raubt werden dürfen. Sie missbrauchen den Begriff der
Generationengerechtigkeit. Mit ihrer Politik verschärft
die Bundesregierung nicht nur einen heraufbeschwore-
nen Konflikt zwischen Jung und Alt – der sich so in der
Wirklichkeit gar nicht widerspiegelt –, nein, sie ver-
schärft den Konflikt zwischen Arm und Reich. Diese „Ge-
nerationengerechtigkeit“ ist darum kein Ersatz für soziale
Gerechtigkeit. Durch eine fortschreitende Privatisierung
der Sozialversicherungssysteme wird die Belastung für
Zu Protokoll
die kommenden Generationen durch Sozialabbau und
Rentenkürzungen größer und nicht kleiner.
Auch hier gilt für die Linke: ohne Teilhabe keine wirk-
liche Beteiligung. Ein wichtiger Punkt ist hierbei die Stär-
kung der bewährten Strukturen der Kinder- und Jugend-
hilfe; denn das sind die Orte, wo Kinder und Jugendliche
oft ihre ersten Erfahrungen mit demokratischen Abläufen
machen. Kinder- und Jugendbeteiligung ohne die zahlrei-
chen Verbände und Vereine ist nicht denkbar. Die regie-
rende Politik hat aber in unvernünftigster Art und Weise
in den vergangenen Jahren genau an dieser Stelle den
Rotstift angesetzt. Diese Entwicklung ist zum Teil nicht
mehr umkehrbar; denn vielerorts sind diese Strukturen
schon zerstört. Eine gut funktionierende Kinder- und Ju-
gendhilfe ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wer sich da-
rauf verlässt, dass dies die Kommunen allein stemmen
können, hat nicht begriffen, dass eine gesamtgesellschaft-
liche Aufgabe auch gesamtgesellschaftlich bei den Kos-
ten angegangen werden muss. Der Bundeshaushalt
spricht nach wie vor eine andere Sprache.
Auch bei anderen Gesetzesinitiativen bleibt fraglich,
wie ernst es in der Bundesrepublik mit der Beteiligung
von Kindern und Jugendlichen ist, wenn sie anderen In-
teressen entgegensteht. Nicht umsonst findet sich in unse-
rem Antrag die Stärkung der Schüler- und Schülerinnen-
vertretungen und der Auszubildendenvertretungen wieder.
Hier findet direkte Beteiligung statt. Sicher, Ersteres
müsste mit den Ländern diskutiert werden. Aber nur weil
es dort angesiedelt ist, heißt es nicht, dass sich der Bund
dafür nicht starkmachen kann. Bei den Jugend- und Aus-
zubildendenvertretungen hat der Bund die Kompetenz.
Hier können Sie etwas für die Stärkung der direkten Be-
teiligung von Jugendlichen tun, indem sie dies im Be-
triebsverfassungsgesetz verankern.
Ich könnte noch eine ganze Liste von Maßnahmen auf-
zählen, die unterlegen, warum die Menschen in der Bun-
desrepublik finden, dass Deutschland nicht kinderfreund-
lich ist. Kinderbeteiligung – ich sagte es bereits
eingangs – ist ein Kinderrecht. Die Stärkung der Mitbe-
stimmung von Kindern und Jugendlichen bedeutet – und
das ist mir völlig klar – immer auch ein Abgeben von
Macht. Aber ohne die Bereitschaft des Abgebens werden
sich die Kinder und Jugendlichen nicht ernst genommen
fühlen. Dies aber ist die Grundvoraussetzung für ein dau-
erhaftes Interesse der nachwachsenden Generation an
den gesellschaftspolitischen Prozessen. Wenn wir es nicht
schaffen, klare Strukturen der Mitbestimmung zu schaffen
und verbindliche Spielregeln für alle Beteiligten zu ver-
abreden, brauchen wir uns über Politikverdrossenheit,
zurückgehende Wahlbeteiligung und im schlimmsten Fall
über das Ablehnen der demokratischen Werte unserer
Gesellschaft nicht zu wundern. Auch wir auf der Bundes-
ebene haben entscheidende Instrumente in der Hand; wir
sind der Bundesgesetzgeber. Lassen Sie uns die Instru-
mente nutzen und nicht voreilig aus der Hand legen.
Die demokratischen Beteiligungsrechte von Kindern
und Jugendlichen müssen in der gesellschaftlichen Rea-
lität endlich besser eingelöst werden. Es ist eine wichtige
20894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20895
(C)
(D)
Kai Gehring
politische Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen, Zivil-
gesellschaft und Organisationen, diese Rechte in der Pra-
xis wirklich zu gewährleisten und altersgerechte Beteili-
gungsmöglichkeiten auszubauen.
Wir wissen alle, dass gerade qualitativ hochwertige
Beteiligungsprojekte und -verfahren die Erfahrung von
Selbstwirksamkeit ermöglichen. Sie fördern damit die
Persönlichkeitsentwicklung und die ohnehin hohe Bereit-
schaft junger Menschen zur Verantwortungsübernahme.
In unserem grünen Antrag haben wir deshalb ein Maß-
nahmenpaket vorgeschlagen, damit Kinder- und Jugend-
beteiligung besser gelingt. Notwendig ist eine neue Betei-
ligungskultur auf allen politischen Ebenen, die bereits in
den Kindertagesstätten und in den Schulen beginnt. Kin-
der und Jugendliche müssen ihr Lebensumfeld aktiv mit-
gestalten können – sei es bei dem Bau und der Gestaltung
von Spielplätzen, Schulhöfen und Jugendeinrichtungen
oder bei Verkehrsplanungen. Kinder und Jugendliche
können somit als Expertinnen und Experten in eigener
Sache zu guten und generationengerechten Lösungen für
alle Mitglieder der Gesellschaft beitragen.
Gerade arme Kinder und Jugendliche werden von be-
stehenden Beteiligungsangeboten allerdings viel zu we-
nig erreicht. Hiergegen braucht es besondere Anstren-
gungen, damit niemand aufgrund seiner sozialen und
ethnischen Herkunft ausgegrenzt wird und weniger Teil-
habechancen innehat. Wir Grüne haben deshalb umfas-
sende Vorschläge sowohl zur Betreuungs- und Bildungsin-
frastruktur als auch zugunsten von höheren Regelsätzen
für Kinder und Jugendliche gemacht. Bereits im Ent-
schließungsantrag zu unserer Großen Anfrage „Jugend-
liche in Deutschland: Perspektiven durch Zugänge, Teil-
habe und Generationengerechtigkeit“ haben wir diese
zentralen Aufgaben benannt und Lösungen aufgezeigt.
Der hier vorliegende Antrag der Linken ist dagegen eine
lückenhafte Ansammlung von Forderungen ohne Ge-
wichtung und Gesamtkonzept.
Ein elementarer Teil der von uns vorgeschlagenen
Strategie ist die Absenkung des Wahlalters. Uns geht es
wohlgemerkt um das selbst ausgeübte Wahlrecht und
nicht um ein Stellvertreterwahlrecht für Eltern, wie Sie es
wollen, Frau Landgraf. Ein solches Eltern- bzw. Fami-
lienwahlrecht verhindert Jugendpartizipation, bricht mit
elementaren Grundprinzipien wie „one man one vote“,
ist verfassungsrechtlich bedenklich, benachteiligt Kin-
derlose und ist praktisch kaum umsetzbar. Dass die Links-
fraktion das Thema „Herabsenkung des Wahlalters“ mit
keinem Wort erwähnt, ist eine besonders große Schwäche
ihres Antrags. Ein aktives Wahlrecht ab 16 Jahre auch bei
Bundestagswahlen ist jedoch ein zentraler Bestandteil ei-
ner wirkungsvollen Gesamtstrategie für mehr Beteili-
gung.
Diese Ignoranz unterscheidet sich nicht von der Hal-
tung der Bundesregierung. Deren Partizipationsmaßnah-
men verfolgen keine Gesamtstrategie und sind nicht
nachhaltig: Bei der Entwicklung, Durchführung und Eva-
luation dürfen Kinder und Jugendliche bisher kaum mit-
wirken. Die Ergebnisse und Forderungen der isolierten
Veranstaltungen werden kaum gesichert, geschweige
denn zielstrebig weiterverfolgt. Wir fordern deshalb, ge-
meinsam mit Nichtregierungsorganisationen verbindli-
che Qualitätsstandards zu entwickeln.
Wir brauchen zudem einen besseren europäischen und
internationalen Austausch über qualitativ hochwertige
Kinder- und Jugendbeteiligung. Diese Chance auf wirk-
lich nachhaltige Programme hat die Bundesregierung
leider auch im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft
verpasst. Insofern ist unser Antrag – leider – auch an die-
sem Punkt weiter aktuell.
Lassen Sie mich einen anderen essenziellen Bereich
ansprechen. Wir sind der festen Überzeugung, dass Kin-
derrechte nicht nur in Sonntagsreden vorkommen dürfen.
Bei der überfälligen Stärkung von Kinderrechten in der
Verfassung formuliert die Linke jedoch in ihrem Antrag
noch vorsichtiger als die Bundesregierung. Sie sagen
dort wörtlich, dass „der Gedanke an die Aufnahme von
Kinderrechten ins Grundgesetz erwägenswert“ sei. In
diesem Punkt wurden Sie verbal sogar von Kanzlerin
Merkel und Ministerin von der Leyen überholt. Passiert
ist unter dieser Bundesregierung aber leider nichts. Of-
fenbar knicken die Fachpolitiker der Koalitionsfraktio-
nen immer wieder vor ihren eigenen Rechtspolitikern ein,
anstatt endlich breite Bündnisse im Interesse der Kinder
zu schmieden und deren Rechte im Grundgesetz zu stär-
ken.
Diese Bundesregierung produziert bei der Kinder- und
Jugendpartizipation jedoch nicht nur Sprechblasen.
Manchmal handelt sie sogar – zulasten demokratischer
Beteiligung. Bei der Föderalismusreform I wurden demo-
kratische Standards im Kinder- und Jugendhilfegesetz
aufgeweicht. Das Land Niedersachsen hat mit der Ab-
schaffung des Jugendhilfeausschusses und des Landesju-
gendamts davon bereits eifrig Gebrauch gemacht. Auch
Baden-Württemberg öffnet jetzt dem Abbau dieser be-
währten demokratischen Beteiligungsinstrumente Tür
und Tor. Das ist ein Fehler und ein beteiligungspoliti-
scher Rückschritt.
Festzustellen bleibt: Für echte Beteiligung, für Lust
auf Demokratie und damit gegen Politikverdrossenheit
wird hierzulande viel zu wenig getan. Pseudobeteiligung
schreckt ab, konsequente Kinder- und Jugendbeteiligung
ermuntert und würde unsere Demokratie beleben. Lassen
Sie uns endlich mit einer klaren Partizipationsstrategie
Kinder und Jugendliche als „Nachwuchs für die Demo-
kratie“ gewinnen und fördern. Unser parlamentarisch-
demokratisches System braucht eine „Frischzellenkur“.
Packen wir es an!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.
Zusatzpunkt 7: Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem
Antrag der Fraktion die Grünen mit dem bereits genann-
ten Titel. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
20896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion der Grünen bei Enthaltung der
Fraktionen der FDP und der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch
– Drucksache 16/10811 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 16/11231 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 16/11263 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Carsten Schneider
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Die Reden folgender Kollegen sind zu Protokoll ge-
nommen: Karl Schiewerling, Angelika Krüger-Leißner,
Heinz-Peter Haustein, Katrin Kunert, Britta Haßelmann
und Parlamentarischer Staatssekretär Klaus Brandner.
Mit dem vorliegenden Regierungsentwurf setzen wir
die Beteiligung des Bundes an den kommunalen Leistun-
gen für Unterkunft und Heizung für das Jahr 2009 neu
fest. Das geschieht auf der Grundlage des SGB II. Der
Bund beteiligt sich nach § 46 Abs. 5 des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch, SGB II, zweckgebunden an den Leis-
tungen der kommunalen Träger für Unterkunft und Hei-
zung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsu-
chende. Damit wird sichergestellt, dass die Kommunen
durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt – unter Berücksichtigung der sich aus die-
sem Gesetz ergebenden Einsparungen der Länder – um
jährlich 2,5 Milliarden Euro entlastet werden, und das
aus guten Grund; denn die Kommunen sollen dieses Geld
für den Ausbau der Kinderbetreuung aufwenden. Um die
Entlastung der Kommunen um jährlich 2,5 Milliarden
Euro sicherzustellen, wurde im Rahmen des Ersten Geset-
zes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
für die Jahre 2005 und 2006 ein Bundesbeteiligungssatz
von 29,1 Prozent festgeschrieben.
Da sich das Verfahren regelmäßiger Anpassungen der
Höhe der Bundesbeteiligung auf der Grundlage einer
jährlichen Be- und Entlastungsrechnung für die Kommu-
nen als nicht zweckmäßig erwiesen hatte, gleichwohl
aber nicht auf eine jährliche Anpassung der erforderli-
chen Höhe der Bundesbeteiligung verzichtet werden
sollte, wurde im Einvernehmen mit den Ländern durch
das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
setzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes bestimmt,
dass die Höhe der Beteiligung des Bundes an den Leis-
tungen für Unterkunft und Heizung gemäß der gesetzlich
verankerten Anpassungsformel zu bestimmen ist. Inner-
halb der Anpassungsformel spielt die Entwicklung der
Zahl der Bedarfsgemeinschaften eine wesentliche Rolle.
Um es kurz zu fassen: Mehr Bedarfsgemeinschaften be-
deuten mehr Bundeszuschuss. Weniger Bedarfsgemein-
schaften bedeuten weniger Bundeszuschuss.
Für das Jahr 2008 hatte das folgende Konsequenz: Da
sich die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfsgemein-
schaften im maßgeblichen Zeitraum – von Juli 2005 bis
Juni 2006 im Vergleich zu dem Zeitraum von Juli 2006 bis
Juni 2007 – um mehr als 0,5 Prozent verändert hatte, sie
war um 3,7 Prozent gesunken, musste laut Anpassungs-
gesetz die Bundesbeteiligung für das Jahr 2008 um
2,6 Prozent auf bundesdurchschnittliche 29,2 Prozent ge-
senkt werden. An den Leistungen für Unterkunft und Hei-
zung in Baden-Württemberg beteiligt sich der Bund für
das Jahr 2008 mit 32,6 Prozent, in Rheinland-Pfalz mit
38,6 Prozent und in den übrigen 14 Ländern mit
28,6 Prozent.
Auch für das Jahr 2009 muss die Höhe der Bundesbe-
teiligung erneut angepasst werden. Die jahresdurch-
schnittliche Zahl der Bedarfsgemeinschaften hat sich im
Zeitraum von Juli 2006 bis Juni 2007 im Vergleich zu dem
Zeitraum von Juli 2007 bis Juni 2008 von 3 827 934 auf
3 653 757 verringert. Das entspricht 4,6 Prozent. In der
Anpassungsformel heißt es, dass bei einer Veränderung
der Bedarfsgemeinschaften um plus oder minus 1 Prozent
eine Anpassung des Beteiligungssatzes um plus oder mi-
nus 0,7 Prozentpunkte zu erfolgen hat.
Dementsprechend verringert sich die Bundesbeteili-
gung um 3,2 Prozentpunkte; 4,6 mal 0,7 ergeben 3,22.
Hieraus ergibt sich eine Bundesbeteiligung in Höhe von
bundesweiten 26,0 Prozent. Die Sonderquoten für Baden-
Württemberg werden folglich auf 29,4 Prozent, die für
Rheinland-Pfalz auf 35,4 Prozent und für die übrigen
Länder auf jeweils 25,4 Prozent festgelegt.
Die teilweise von kommunaler Seite beanstandete an-
gebliche Benachteiligung an dem Anpassungsgesetz ist
nicht nachvollziehbar. Schließlich wurde die Anpas-
sungsformel nach langen Verhandlungen mit den Län-
dern vereinbart und im Bundesrat einmütig beschlossen.
Auch in seiner Sitzung am 7. November 2008 hat der Bun-
desrat beschlossen, keine Einwendungen gegen den Ge-
setzentwurf zu erheben. Es sollte daher davon auszuge-
hen sein, dass die Anpassungsformel im Bundesrat nicht
grundsätzlich infrage gestellt wird.
Wir beraten heute abschließend über einen Gesetzent-
wurf, dessen Inhalt in der Vergangenheit zu großen Dis-
krepanzen zwischen dem Bund und den Ländern und na-
türlich den Kommunen geführt hat. Regelmäßig führte
die Festsetzung des Anteils der Bundesbeteiligung an den
Kosten für Heizung und Unterkunft zu Auseinan-
dersetzungen zwischen Ländern, Kommunen und den
(C)
(D)
Angelika Krüger-Leißner
kommunalen Spitzenverbänden. Das scheint der Vergan-
genheit anzugehören.
Der Bund beteiligt sich gemäß § 46 Abs. 5 SGB II an
den Unterkunftskosten von Arbeitslosengeld-II-Bezie-
hern, um die Kommunen insgesamt um 2,5 Milliarden
Euro zu entlasten. Das war eine wichtige Festlegung mit
der Einführung der Hartz-IV-Gesetze. Bundesrat und
Bundestag haben dies im Vermittlungsausschuss verabre-
det. Dennoch gab es in der Folgezeit nicht wenige Ausei-
nandersetzungen über die Berechnungsgrundlage der
Höhe der Bundesbeteiligung. Insofern bin ich froh, dass
wir nach jahrelangem Hin und Her endlich einen Auto-
matismus gefunden haben, nach dem die Bundesbeteili-
gung an den Kosten der Unterkunft berechnet wird. Denn
bisher war es so, dass mit einer aufwendigen Berech-
nungsmethode jährlich die Anpassung neu ermittelt wer-
den musste. Das war intransparent und für niemanden
nachzuvollziehen. Insofern stand der Bund auch immer
im Verdacht, sich nicht an die verabredeten Vereinbarun-
gen zu halten.
Ende letzten Jahres hat das BMAS eine Methode ent-
wickelt, nach der sich die Bundesbeteiligung anhand der
Anzahl der Bedarfsgemeinschaften errechnet. Diese An-
passungsformel ist klar und verständlich und für jeden
nachvollziehbar. Denn anhand der statistischen Daten
lässt sich die Bundesbeteiligung auch ohne große mathe-
matische Fähigkeiten errechnen. Das schafft Transpa-
renz und vermeidet Willkür.
Trotz bereits verabredeter Übereinkunft zwischen dem
Bundesrat und dem Bundestag kam es bei der Beratung
des Gesetzes zu heftigen Protesten. Grund war: Die Län-
der und Kommunen sowie ihre Spitzenverbände wollten
die gestiegenen Energiekosten berücksichtigt sehen. In
der dazu eigens einberufenen Anhörung konnten die
Sachverständigen die aktuellen Kostensteigerungen je-
doch nicht seriös nachweisen. Und in einem zweiten, ganz
wichtigen Punkt konnte auch nicht dargestellt werden, ob
und wie die Länder ihre Einsparungen beim Wohngeld an
die Kommunen weitergegeben haben.
Letztendlich blieb es bei der verabredeten Anpas-
sungsformel. Die schreibt vor, dass zur Bestimmung der
Höhe der Bundesbeteiligung an den Leistungen für Hei-
zung und Unterkunft im Jahr 2009 die jahresdurch-
schnittliche Anzahl der Bedarfsgemeinschaften von Jah-
resmitte 2007 bis Jahresmitte 2008 in das Verhältnis zu
der jahresdurchschnittlichen Anzahl der Bedarfsgemein-
schaften von Jahresmitte 2006 bis Jahresmitte 2007 ge-
setzt wird. Die sich daraus ergebende Veränderung, mul-
tipliziert mit dem Faktor 0,7, ergibt die Veränderung der
Bundesbeteiligung in Prozentpunkten.
Wenn man die Entwicklung der Bedarfsgemeinschaf-
ten verfolgt, so ist festzustellen, dass es einen kontinuier-
lichen Rückgang – auch bedingt durch gesetzliche Ände-
rungen – gibt. Der Bundesanteil in 2008 an den KdU hat
sich folgerichtig gegenüber 2007 erheblich verringert.
Das ist auch dadurch bedingt, dass der Bund in 2007 ei-
nen höheren Anteil ausgegeben hat, als seiner Auffassung
nach nötig gewesen wäre.
Zu Protokoll
Für 2008 sind Gesamtkosten für Heizung und Unter-
kunft von 13,4 Milliarden Euro vorgesehen. Davon entfal-
len gemäß der Beteiligung des Bundes von durchschnitt-
lich 29,2 Prozent 3,9 Milliarden Euro auf den Bund und
9,5 Milliarden Euro auf die Kommunen. Für 2008 sind
zum jetzigen Zeitpunkt bereits 83,5 Prozent der bereitge-
stellten Mittel abgerufen. Es ist also anzunehmen, dass
die geplanten Kosten auch den tatsächlichen entspre-
chen.
Für das Jahr 2009 ergibt sich auf dieser Basis für Ba-
den-Württemberg eine Bundesbeteiligung in Höhe von
29,4 Prozent, für Rheinland-Pfalz in Höhe von 35,4 Pro-
zent und für die übrigen Bundesländer in Höhe von
25,4 Prozent. Bundesdurchschnittlich entspricht dies ei-
ner Bundesbeteiligung in Höhe von 26 Prozent.
Insgesamt werden die Gesamtkosten für Unterkunft
und Heizung für 2009 auf 12,3 Milliarden Euro veran-
schlagt. Bei einer Beteiligung von durchschnittlich
26 Prozent des Bundes sind das Ausgaben in Höhe von
rund 3,2 Milliarden Euro. Damit ergibt sich eine Entlas-
tung gegenüber dem Vorjahr von rund 0,7 Milliarden
Euro. Die Kommunen tragen gemäß ihrem Anteil rund
9,1 Milliarden Euro. Das entspricht einer Entlastung von
0,4 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr. Der Rück-
gang der Langzeitarbeitslosigkeit zahlt sich eben auf al-
len Ebenen aus.
Ich halte die Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften
als Berechnungsgrundlage nach wie vor für richtig. Denn
das primäre Ziel im SGB II ist es, durch Eingliederung in
den Arbeitsmarkt, durch Angebote zur Beschäftigung die
Zahl der Hilfebedürftigen und damit die Anzahl der Be-
darfsgemeinschaften zu reduzieren. Somit geht das Ziel
Senkung der Bedarfsgemeinschaften einher mit der Ver-
ringerung der Kosten für Unterkunft. Für die Kommunen
besteht somit ein Anreiz, durch ein verstärktes Vermitt-
lungsangebot, durch die Prüfung und Anwendung aller
arbeitsmarktpolitischen Instrumente Einfluss auf ihre
Kostenbeteiligung zu nehmen.
Lassen Sie uns gemeinsam auf dieser Grundlage wei-
terarbeiten, und stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu!
Ein Gesetzentwurf wird nicht dadurch besser, dass
man ihn öfter debattiert. Das galt in den letzten Jahren,
wenn jeweils über die Lastenverteilung zwischen Bund
und Kommunen bei den Kosten der Unterkunft gespro-
chen wurde. Und das gilt jetzt wieder. Denn seit der ersten
Lesung des Gesetzentwurfs ist es grundsätzlich zu keiner
neuen Sachlage gekommen. Unsere Kritik steht noch im-
mer im Raum. Ich kann also nur meine Ausführungen aus
der ersten Lesung des Gesetzentwurfs wiederholen. Da-
für lobe ich aber ausdrücklich das Umweltbewusstsein
unserer Regierung: Sie erlaubt einem, sein Redeskript
mehrfach zu verwenden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll – entspre-
chend den Regelungen der Vorjahre – die Höhe der Bun-
desbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung
für das kommende Jahr angepasst werden. Damit soll die
Zusage erfüllt werden, die den Kommunen im Rahmen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20897
gegebene Reden
(C)
(D)
Heinz-Peter Haustein
der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial-
hilfe gemacht worden ist. Es geht um eine Entlastung der
Kommunen in einer Größenordnung von 2,5 Milliarden
Euro. Von Anfang an war das entscheidende Ziel: die Ent-
lastung der Kommunen. Das muss man im Kopf behalten.
Die FDP hat bereits in vergangenen Jahren auf den
Konstruktionsfehler hingewiesen, den Bundeszuschuss
ausschließlich nach der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
zu bemessen. Wir haben das Ziel unterstützt, im Interesse
der Kommunen eine gewisse Planungssicherheit zu
schaffen. Doch die Ausrichtung an der Zahl der Bedarfs-
gemeinschaften hielten wir für falsch. Und wir halten es
nach wie vor für falsch. Daran hat sich nach den Jahren
nichts geändert. Denn die Bedarfsgemeinschaften sind
als Bezugsgröße ungeeignet, die tatsächlichen Verhält-
nisse abzubilden. Ein Singlehaushalt verursacht gerin-
gere Miet- und Heizkosten als eine Großfamilie. Arbeitet
man hier mit einem Mittelwert über alle Größen von Be-
darfsgemeinschaften hinweg, dann sind automatisch
diejenigen Kommunen benachteiligt, in denen struktu-
rell bedingt mehr kinderreiche Familien leben. Die Bal-
lungsräume mit der Vielzahl an Singlehaushalten werden
dann begünstigt. Die Kommunen im ländlichen Raum mit
einer strukturell bedingt höheren Zahl an Bedarfsgemein-
schaften mit mehreren Personen haben das Nachsehen.
Das ist nicht im Sinne einer gerechten Entlastung aller
Kommunen.
Welche Auswirkungen die Praxis der Lastenverteilung
tatsächlich mit sich bringt, wird deutlich, wenn man sich
die Kommunen anschaut. Für meine Heimat, den Erzge-
birgskreis, eine ländlich geprägte und sogenannte struk-
turschwache Region, bedeutet die Absenkung des Bun-
desanteils an der Finanzierung der Kosten der
Unterkunft von 28,6 auf 25,4 Prozent, wie es vorgesehen
ist, Mindereinnahmen für den Kreishaushalt von
2 112 000 Euro. Was verglichen mit dem Bundeshaushalt
keine große Summe ist, ist für eine Kommune viel Geld.
Da die Kosten ja unabhängig mit den Mittelzuflüssen wei-
terhin auflaufen, fehlt das Geld an anderer Stelle. Das
wird dann auch vor Ort deutlich, wenn die Kindertages-
stättengebühren erhöht werden müssen oder das Geld für
die Sanierung des Spielplatzes nicht mehr zur Verfügung
steht. Das darf nicht sein.
Die FDP hat immer deutlich gemacht, dass hier nur
ein Weg richtig sein kann: Wir müssen wegkommen von
der Bezugsgröße der Bedarfsgemeinschaften. Wir müssen
dahin kommen, dass die tatsächlich entstandenen Kosten
der Maßstab für die Bundesbeteiligung sind. Anders wer-
den wir die Angelegenheit nicht lösen können. Planungs-
sicherheit und finanzielle Entlastung für die Kommunen
sind ja schön und gut; aber dann auch bitte entsprechend
den tatsächlich entstandenen Kosten. Der Bund hat den
Kommunen die Aufgabe übertragen. Also muss er auch
für die Kosten geradestehen und kann die Kommunen
nicht alleine lassen.
Heute soll in zweiter und dritter Beratung – mitten in
der Nacht – der von der Bundesregierung eingebrachte
Gesetzentwurf zur Änderung des SGB II – Zweites Buch
Zu Protokoll
Sozialgesetzbuch – beschlossen und damit eine weitere
Absenkung des Bundesanteils an der Finanzierung der
Leistungen für Unterkunft und Heizung für Hartz-IV-Be-
ziehende vorgenommen werden.
Die Debatten in der letzten Plenarsitzung und in den
Ausschüssen haben gezeigt, dass die Große Koalition
keine Ahnung hat von dem, was sich in den Kommunen
wirklich abspielt, und dies auch gar nicht wissen will.
Dies zeigte sich in solchen Äußerungen der Abgeordneten
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD wie, der Bund
habe zurzeit die größten Schwierigkeiten und die meisten
Schulden. Aber die Kommunen würden aufgrund von
Mehreinnahmen ihre Schulden weiter abbauen können.
Insofern seien für sie auch die Mehrbelastungen im Be-
reich Kosten der Unterkunft verkraftbar. Außerdem
würde es auch bei einer weiteren Reduzierung des Bun-
desanteils zu einer Entlastung der Kommunen von
2,5 Milliarden Euro kommen. Insofern sei die teilweise
von kommunaler Seite beanstandete angebliche Benach-
teiligung durch die zwischen Bund und Ländern verein-
barte gesetzliche Anpassungsformel nicht nachvollzieh-
bar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD damit es für Sie etwas nachvollziehbarer wird,
möchte ich an dieser Stelle aus einem Brief eines Land-
rats aus meinem Wahlkreis zitieren.
Er schreibt:
Wie bereits durch das Schreiben der kommunalen
Spitzenverbände vom 06.11.2008 gegenüber Herrn
Staatssekretär Scheele festgestellt wurde, bestehen
erhebliche Zweifel an der Methode, sich an der
Zahl der Bedarfsgemeinschaften und nicht mehr an
den tatsächlichen Ausgaben der Kosten der Unter-
kunft zu orientieren. So ist die weitere Absenkung
des Bundesanteils lediglich die logische Folge der
Berechnungsformel nach § 46 Abs. 7 und 8 SGB II.
Entscheidend ist jedoch – und das muss weiterhin
Schwerpunkt sein –, dass nach § 46 Abs. 5 SGB H
eine Entlastung der Kommunen um 2,5 Mrd. € si-
chergestellt werden sollte. Dies war der Ausgangs-
punkt aller weiteren Überlegungen. Dieses Ziel
wird mit einer Bundesbeteiligung von bundesdurch-
schnittlich 26 % bzw. 25,4 % nicht gewährleistet.
Kommt es dazu, dass sich der Indikator ,Bedarfsge-
meinschaft‘ diametral zu den tatsächlichen Kosten
der Unterkunft entwickelt, wächst den Kommunen
im Zeitverlauf eine weiterhin steigende Last zu.
In vielen anderen Städten und Landkreisen führt die
Absenkung zu Mindereinnahmen, die aufgrund der ohne-
hin schwierigen Finanzlage eine weitere Mehrbelastung
und damit Kürzungen in anderen Bereichen zur Folge ha-
ben wird. Beschlossene Konsolidierungsprogramme in
den Landkreisen und kreisfreien Städten werden so zur
Makulatur. Die Schere zwischen armen und reichen Kom-
munen wird dadurch immer größer.
Ich hatte in meiner ersten Rede bereits darauf verwie-
sen. Nach der zweiten Beratung erreichten uns weitere
Beispiele, die ich an dieser Stelle anführen möchte. In fol-
genden Kommunen kommt es zu Mehrbelastungen: Pots-
20898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
gegebene Reden
(C)
(D)
Katrin Kunert
dam rund 1,0 Millionen Euro; Landkreis Harz rund
1,7 Millionen Euro; Landkreis Prignitz rund 0,668 Mil-
lionen Euro; Wetteraukreis rund 1,0 Millionen Euro; Bo-
chum rund 2,65 Millionen Euro; Salzlandkreis rund
1,83 Millionen Euro; Landkreis Anhalt-Bitterfeld rund
1,4 Millionen Euro; Erlangen rund 0,4 Millionen Euro;
Landkreis Stormarn rund 0,546 Millionen Euro.
Zum Schluss ein Wort zur Behauptung der Fraktion
der SPD, die kommunalen Verbände seien seinerzeit in
die Gespräche einbezogen gewesen. Tragfähige Alterna-
tiven zur Berechnung des Bundesanteils seien nicht er-
kennbar gewesen. Zum einen wurden die kommunalen
Spitzenverbände im entscheidenden Moment – das heißt
als im Vermittlungsausschuss die abschließende Ent-
scheidung getroffen wurde – nicht beteiligt. Im Vermitt-
lungsausschuss haben Bund und Länder allein entschie-
den. Wir wissen, dass sich der Bund die Zustimmung der
Länder durch die Zusage erkauft hat, er werde die ge-
plante Reduzierung des Bundesanteils zur Finanzierung
der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbslosigkeit
zurücknehmen. Zum anderen gab es sehr wohl alternative
Vorschläge zur Art und Weise der Berechnung des Bun-
desanteils.
Mein Fazit: Die Reduzierung des Bundesanteils im Be-
reich der Kosten der Unterkunft zeigt: Der Bund entzieht
sich zunehmend seiner Verantwortung, Aufgaben zu fi-
nanzieren, die auf Bundesebene beschlossen wurden, und
dies zulasten der Kommunen. Ich meine, dieser Trend
muss gestoppt werden, und es muss hier eine Korrektur
erfolgen. Der Bundesanteil muss erhöht werden. Grund-
lage für die Berechnung müssen die realen Kosten für Un-
terkunft und Heizung sein.
Mit dem vorliegenden Gesetz zur Absenkung der Bun-
desbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung
für Arbeitslosengeld-II-Beziehende werden die Kommu-
nen, die den wesentlichen Teil dieser Kosten zahlen, über
den Tisch gezogen. Wir kritisieren – wie auch die kommu-
nalen Spitzenverbände – die Absenkung des Bundesan-
teils an den Kosten der Unterkunft von ursprünglich
29,1 Prozent auf 26 Prozent. Für das Haushaltsjahr 2009
entlastet sich der Bund um 700 Millionen Euro auf Kosten
der Kommunen. Union und SPD verabschieden heute mit
Unterstützung der Bundesländer ein Gesetz, das gerade
die Ebene finanziell schwächt, auf deren Investitionskraft
es in den vor uns liegenden schwierigen wirtschaftlichen
Zeiten ankommt: die Städte und Gemeinden. Hauptsäch-
lich betroffen sind wieder einmal die strukturschwachen
Regionen, die besonders viele Langzeitarbeitslose zu ver-
zeichnen haben. Durch dieses Gesetz wird die Schere zwi-
schen armen und reichen Kommunen weiter auseinander-
gehen.
Die Kommunen sind Opfer eines Kuhhandels zwischen
Bund und Ländern geworden. Denn im Zuge der Ver-
handlungen zur Wohngeldnovelle wurde im Juni dieses
Jahres die von uns und den kommunalen Spitzenverbän-
den kritisierte Berechnungsformel für die Anpassung des
Bundesanteils an den Unterkunftskosten festgeschrieben.
Diese Anpassungsformel orientiert sich jedoch nicht an
Zu Protokoll
den tatsächlich aufgewendeten Kosten für Unterkunft und
Heizung, die gestiegen sind, sondern ausschließlich an
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften, die konjunkturell
bedingt vorübergehend rückläufig war. Der im Gegenzug
vereinbarte Bundesanteil an den ebenfalls von den Kom-
munen zu tragenden Kosten der Grundsicherung im Alter
ist nur ein schwacher Trost für die Städte und Gemeinden.
Denn auch dieser Bundesanteil, der 2009 von 13 Prozent
im Jahr auf einen Anteil von 16 Prozent im Jahr aufge-
stockt werden soll, ist nicht geeignet, die finanzielle
Mehrbelastung der Kommunen aufgrund der deutlich ge-
stiegenen Altersarmut abzufedern. Seit Einführung der
Grundsicherung im Alter stiegen die Ausgaben der Kom-
munen hierfür kontinuierlich, zuletzt im Jahr 2007 um
7,4 Prozent. Schon jetzt ist absehbar, dass diese Kosten in
Zukunft weiter deutlich steigen werden, weil die Bundes-
regierung bei der Bekämpfung von Armut trotz Arbeit
kläglich versagt. Niedrigverdienende warten vergebens
auf den Durchbruch beim Mindestlohn und die von
Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagene Entlastung bei
den Sozialabgaben. Die heute zunehmende Zahl der Men-
schen mit niedrigem Einkommen findet sich morgen in
der Altersarmut wieder.
Die deutliche Zunahme des Niedriglohnsektors auf
mehr als 20 Prozent führt auch bei den Kosten der Kom-
munen für die hier zur Debatte stehenden Unterkunfts-
kosten für Arbeitslosengeld-II-Beziehende zu einem er-
höhten Kostenaufwand. Denn trotz des konjunkturellen
Aufschwunges stieg die Zahl der sogenannten Aufstocker,
das heißt der Niedrigeinkommen, die ergänzend das Ar-
beitslosengeld II in Anspruch nehmen müssen, kontinu-
ierlich. Da deren Einkommen zuerst auf die vom Bund fi-
nanzierte Regelleistung angerechnet wird, stocken
oftmals allein die Kommunen über die Unterkunftskosten
die Niedrigeinkommen auf.
Die finanzielle Belastung der Kommunen wird durch
die in den vergangenen Jahren drastisch gestiegenen
Energiepreise zusätzlich verschärft. Die Heizkosten sind
im Vergleich zum Vorjahr um 60 Prozent gestiegen. Die
von Bund und Ländern nunmehr festgeschriebene Anpas-
sungsformel für den Bundesanteil an den Kosten für Un-
terkunft und Heizung berücksichtigt diese Preissteigerun-
gen nicht, da in der Formel ausschließlich auf die Zahl
der Bedarfsgemeinschaften, nicht jedoch auf die tatsäch-
lich entstehenden Kosten abgestellt wird. In diesem Jahr
drohen den Kommunen nach Schätzungen des Deutschen
Städtetages zusätzliche Mehrausgaben von 1 Milliarde
Euro aufgrund gestiegener Heizkosten, sodass trotz der
rückläufigen Zahl von Bedarfsgemeinschaften die Unter-
kunftskosten nicht zurückgehen werden. Dieser Trend
wird sich fortsetzen. Hieran werden auch die aktuell sin-
kenden Energiepreise im Zuge der konjunkturellen Krise
nichts ändern. Denn der Preisverfall ist nach Einschät-
zung von Energieexperten eher ein kurzfristiges Phäno-
men. Mittel- bis langfristig werden die Energiepreise wie-
der steigen, und zwar noch deutlicher als zuvor. Aufgrund
der unzureichenden Berücksichtigung in der Anpas-
sungsformel für den Bundesanteil werden die steigenden
Energiepreise allein bei den Kommunen zu Buche schla-
gen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20899
gegebene Reden
20900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(C)
(D)
Britta Haßelmann
Die Zeche zahlen die Bürgerinnen und Bürger vor Ort,
weil das Geld an anderen wichtigen Stellen – zum Bei-
spiel bei Schulen und Kindergärten – fehlt, und vor allem
diejenigen, die am Ende dieses Verteilungsprozesses ste-
hen: die Arbeitslosengeld-II-Bezieher. Durch den kon-
junkturellen Abschwung wird die Arbeitslosigkeit wieder
steigen, und gerade die finanzschwachen Kommunen
werden gezwungen sein, den Kostendruck auf die Lang-
zeitarbeitslosen weiterzugeben.
Wir fordern deshalb, die Anpassungsformel für den
Bundesanteil an den tatsächlichen Kosten für Unterkunft
und Heizung auszurichten, und lehnen diesen Gesetzent-
wurf ab.
Bundestag und Bundesrat haben sich im Vermittlungs-
ausschuss 2004 darauf verständigt, dass die Kommunen
im Zuge der Umsetzung des Vierten Gesetzes für Moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt um 2,5 Milliarden
Euro entlastet werden.
In § 46 Abs. 5 SGB II wurde dies gesetzlich verankert.
Ziel dieser Entlastung war es auch, den Kommunen die fi-
nanziellen Mittel für den Ausbau von Kinderbetreuungs-
maßnahmen in die Hand zu geben. Um die beabsichtigte
Entlastung zu erreichen, beteiligt sich der Bund entspre-
chend der Vereinbarung aus dem Vermittlungsausschuss
2004 an den Leistungen der Kommunen für Unterkunft
und Heizung von SGB-II-Beziehern.
In den ersten beiden Jahren wurde diese Bundesbetei-
ligung anhand einer in 2004 vereinbarten sehr aufwendi-
gen Berechnung durchgeführt. Dabei mussten wir unter
anderem auf eine fiktive Fortschreibung der Entlastung
der Kommunen zurückgreifen. Diese Methode war natur-
gemäß streitanfällig und hat zu vielen Auseinanderset-
zungen zwischen Bund und Ländern geführt. Ende 2006
haben sich Bund und Länder daher nach schwierigen
Verhandlungsrunden darauf verständigt, die Berechnung
der erforderlichen Höhe der Bundesbeteiligung auf eine
andere Basis zu stellen.
Anstelle der bis dahin gesetzlich verankerten Berech-
nung zur Be- und Entlastung der Gesamtheit der Kommu-
nen trat auf Vorschlag der Länder ein neuer Mechanis-
mus, der Streit vermeiden soll und dies augenscheinlich
nun auch tut. Wir haben vereinbart, dass die weitere An-
passung der Bundesbeteiligung von der Entwicklung der
Zahl der Bedarfsgemeinschaften im SGB II abhängen
sollte – ausgehend von der Situation in 2006. Auf diese
Weise war keine fiktive Berechnung der Entlastungen der
Kommunen mehr notwendig. Schon die Höhe der Bun-
desbeteiligung für das Jahr 2008 wurde anhand dieser
damals noch neuen Formel berechnet und gesetzlich fest-
gelegt. Das geschieht nun auch für das Jahr 2009. Die ge-
setzlich verankerte Anpassungsformel gibt uns dabei ge-
nau vor, wie wir zu rechnen haben. Der vorgelegte
Gesetzentwurf setzt damit lediglich die gemeinsam ver-
einbarte Regelung um.
Die Berechnungen haben einen durchschnittlichen
Rückgang der Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Höhe
von 4,6 Prozent und damit eine erforderliche Senkung der
Bundesbeteiligung in Höhe von 3,2 Prozent-Punkten er-
geben. Dementsprechend müssen – das ist der Auftrag
des Gesetzes – die Bundesbeteiligungen für Rheinland-
Pfalz auf eine Höhe von 35,4 Prozent, jene für Baden-
Württemberg auf eine Höhe von 29,4 Prozent und jene für
die anderen 14 Länder auf eine Höhe von 25,4 Prozent
festgelegt werden. Dies entspricht einer bundesdurch-
schnittlichen Bundesbeteiligung in Höhe von 26 Prozent.
Die neue Anpassungsformel hat sich bewährt – ich
denke, ich spreche hier für den Bund und die Länder. Im
Sommer dieses Jahres haben sich Bund und Länder des-
halb im Vermittlungsausschuss darauf verständigt, diese
Anpassungsformel über das ursprünglich vereinbarte
Jahr 2010 hinaus unbefristet anzuwenden. Das ist eine
gute Entscheidung für alle Beteiligten, weil sie langfristig
für Transparenz und Planungssicherheit sorgt. In der Po-
litik gilt bekanntlich: Erst das geduldige Bohren dicker
Bretter führt zum Ziel. So war und ist es auch hier. Und
ich füge hinzu: Es ist ein gutes Ziel, das wir erreichen!
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktio-
nen Die Linke und die Grünen bei Enthaltung der FDP-
Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit
dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenom-
men.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen , Peter Albach,
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Monika Griefahn,
Dr. Gerhard Botz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto , Christoph Waitz, Jan
Mücke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Freiheits- und Einheitsdenkmal gestalten
– Drucksache 16/11200 –
Die Reden folgender Kollegen sind zu Protokoll
gegeben worden: Wolfgang Börnsen, Günter Krings,
Wolfgang Thierse, Christoph Waitz, Lukrezia Jochimsen
und Katrin Göring-Eckardt.1)
1) Anlage 21
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20901
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Zur Abstimmung liegt mir eine Erklärung nach § 31
unserer Geschäftsordnung von den Kollegen Gunter
Weißgerber und Rainer Fornahl vor.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthal-
tung der Grünen angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung. Wenn man so etwas kurz hintereinander vorliest,
dann merkt man, welches Potpourri an Anträgen und
Gesetzen wir so beschließen. Das ist schon erstaunlich.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 5. Dezember 2008,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe. Die Sitzung
ist geschlossen.