1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20903
(A) (C)
(B) (D)
Das Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung
durch Wachstumsstärkung“ setzt in einigen PunktenKunert, Katrin DIE LINKE 04.12.2008
zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen
des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssiche-
rung durch Wachstumsstärkung“ (Tagesord-
nungspunkt 4)
Höfer, Gerd SPD 04.12.2008
Hörster, Joachim CDU/CSU 04.12.2008*
Krichbaum, Gunther CDU/CSU 04.12.2008
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Adam, Ulrich CDU/CSU 04.12.2008*
Bareiß, Thomas CDU/CSU 04.12.2008
Barnett, Doris SPD 04.12.2008*
Barth, Uwe FDP 04.12.2008
Bartsch, Dietmar DIE LINKE 04.12.2008
Bellmann, Veronika CDU/CSU 04.12.2008
Binding (Heidelberg),
Lothar
SPD 04.12.2008
Blumentritt, Volker SPD 04.12.2008
Bodewig, Kurt SPD 04.12.2008*
Bollen, Clemens SPD 04.12.2008
Burchardt, Ulla SPD 04.12.2008
Deittert, Hubert CDU/CSU 04.12.2008*
Dzembritzki, Detlef SPD 04.12.2008*
Ferner, Elke SPD 04.12.2008
Fischer (Karlsruhe-
Land), Axel E.
CDU/CSU 04.12.2008*
Friedhoff, Paul K. FDP 04.12.2008
Gabriel, Sigmar SPD 04.12.2008
Dr. Geisen, Edmund
Peter
FDP 04.12.2008
Gloser, Günter SPD 04.12.2008
Günther (Plauen),
Joachim
FDP 04.12.2008
Hänsel, Heike DIE LINKE 04.12.2008
Haibach, Holger CDU/CSU 04.12.2008*
Heynemann, Bernd CDU/CSU 04.12.2008*
*
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der OSZE
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Marco Bülow, Heinz Schmitt
(Landau), Petra Bierwirth (alle SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
Dr. Lauterbach, Karl SPD 04.12.2008
Lintner, Eduard CDU/CSU 04.12.2008*
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 04.12.2008
Raidel, Hans CDU/CSU 04.12.2008**
Reichenbach, Gerold SPD 04.12.2008
Dr. Reimann, Carola SPD 04.12.2008
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
04.12.2008
Roth (Esslingen), Karin SPD 04.12.2008
Schily, Otto SPD 04.12.2008
Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 04.12.2008
Schmidt (Nürnberg),
Renate
SPD 04.12.2008
Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 04.12.2008
Dr. Schwanholz, Martin SPD 04.12.2008
Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
04.12.2008
Weisskirchen
(Wiesloch), Gert
SPD 04.12.2008**
Wicklein, Andrea SPD 04.12.2008
Dr. Wiefelspütz, Dieter SPD 04.12.2008
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
20904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
wichtige Anreize für die Ankurbelung der Binnennach-
frage und für die Stützung der Konjunktur. Damit leistet
der Bund einen Beitrag, den Auswirkungen der inter-
nationalen Finanzkrise entgegenzuwirken. Begrüßens-
wert sind beispielsweise die Maßnahmen für bessere
Abschreibungsbedingungen und eine bessere Absetzbar-
keit von Handwerkerleistungen. Die Aufstockung des
CO2-Gebäudesanierungsprogramms ist ein wichtiger
Impuls für umwelt- und klimafreundliche Investitionen.
Die im Gesetzentwurf enthaltene befristete Kfz-Steu-
erbefreiung ist nicht zielführend. Es ist vorgesehen, für
Neufahrzeuge, die zwischen dem 5. November 2008 und
dem 30. Juni 2009 zugelassen wurden oder noch zuge-
lassen werden, die Kfz-Steuer für ein Jahr zu erlassen.
Erfüllen sie die Pkw-Euro-5-Norm oder Euro-6-Norm,
so ist die Kfz-Steuer zwei Jahre lang nicht zu entrichten.
Angesichts der hohen Kaufpreise für Neuwagen, fällt
eine Steuerbefreiung nicht dermaßen ins Gewicht, dass
dadurch die momentan herrschende Kaufzurückhaltung
überwunden werden könnte. Vielmehr ist davon auszu-
gehen, dass die Steuerbefreiung nur von denjenigen als
staatlicher Nachlass mitgenommen wird, die ohnehin be-
reits geplant hatten, einen Neuwagen zu erwerben. Inso-
fern kommt diese Maßnahme in erster Linie gut situier-
ten Personen zugute, die beim Kauf eines Autos im Wert
von mehreren 10 000 Euro, nicht auf die Hilfe des Staa-
tes angewiesen sind. Zudem fällt die Steuererleichterung
beim Erwerb eines teueren Geländewagens mit großem
Motor und hohem Spritverbrauch höher aus, als beim
Kauf eines Kleinwagens mit geringem Benzinverbrauch.
Diese Initiative ist damit unsozial und ökologisch kon-
traproduktiv.
Obendrein entfaltet eine generelle Steuerbefreiung
umweltpolitisch die falsche Lenkungswirkung, um den
Kauf verbrauchs- und schadstoffarmer Pkw zu fördern.
Alternativen standen zur Verfügung und wurden von
Umweltpolitikern mehrmals in die Diskussion gebracht.
Dringend benötigt – und dies ist unbestritten – wird vor
allem die zeitnahe Umstellung der Kfz-Steuerberech-
nung auf Basis des CO2-Ausstoßes. Sollte nach dem Ab-
lauf des eingeführten befristeten generellen Steuererlas-
ses im Sommer 2009 keine soziale und ökologische
Anschlussregelung getroffen werden, so würde dies be-
deuten, dass ab Juli 2009 der alte Gesetzesstand wieder
eintreten wird, wonach Kraftfahrzeuge steuerlich nach
ihrem Hubraum und nicht nach ihrem Schadstoffausstoß
bemessen werden. Damit würden wir eine große Chance
vergeben, ein Signal zu setzen, das nicht nur konjunktur-
politisch, sondern auch umweltpolitisch geeignet wäre,
die derzeitige Kaufzurückhaltung tatsächlich zu über-
winden. Insgesamt ist es notwendig ein Zukunftsinvesti-
tionsprogramm zu entwickeln, welches die Chance
nutzt, der abschwächenden Konjunktur zu begegnen und
dabei ökologisch und sozial ausgerichtet ist.
Von der Weltbank über die UNEP bis hin zu einzelnen
Ökonomen wir die Forderung nach einem Green New
Deal immer lauter. Deutschland sollte dabei ein Vorreiter
sein und nicht Beschlüsse fassen, die ökonomisch nichts
bringen und den notwendigen Klimaschutz ausbremsen.
Dies sollten wir bei unseren zukünftigen Programmen
berücksichtigen. Weil das Programm aber auch positive
Bestandteile besitzt und es sich dabei um keine Gewis-
sensentscheidung handelt, werde ich dem Gesetz den-
noch zustimmen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Martin Burkert, Frank
Schwabe, Dirk Becker, Marko Mühlstein, Detlef
Müller (Chemnitz), Dr. Matthias Miersch,
Christoph Pries und Gerd Bollmann (alle SPD)
zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Umsetzung steuerrechtlicher Re-
gelungen des Maßnahmenpakets „Beschäfti-
gungssicherung durch Wachstumsstärkung“
(Tagesordnungspunkt 4)
Das Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung
durch Wachstumsstärkung“ setzt in vielen Punkten rich-
tige Anreize für die Ankurbelung der Binnennachfrage
und für die Stützung der Konjunktur. Damit leistet der
Bund einen wichtigen Beitrag, den Auswirkungen der
internationalen Finanzkrise entgegenzuwirken. Wir be-
grüßen ausdrücklich die im vorliegenden Gesetzentwurf
vorgesehenen Maßnahmen für bessere Abschreibungs-
bedingungen und eine bessere Absetzbarkeit von Hand-
werkerleistungen. Diese Regelungen sind geeignet, die
drohende Konjunkturschwäche rasch zu überwinden, in-
dem Anreize für Investitionen geschaffen werden. In
diesem Sinne sind auch weitere Elemente des gesamten
Maßnahmenpakets positiv zu würdigen. So wird bei-
spielsweise durch die Aufstockung des CO2-Gebäude-
sanierungsprogramms ein wichtiger Impuls für umwelt-
und klimafreundliche Investitionen gesetzt. Daher wer-
den wir dem Gesetzentwurf zustimmen.
Gleichwohl halten wir die im Gesetzentwurf enthal-
tene befristete Kfz-Steuerbefreiung für nicht zielführend.
Es ist vorgesehen, für Neufahrzeuge, die zwischen dem
5. November 2008 und dem 30. Juni 2009 zugelassen
wurden oder noch zugelassen werden, die Kfz-Steuer für
ein Jahr zu erlassen. Erfüllen sie die Pkw-Euro-5-Norm
oder -Euro-6-Norm, so ist die Kfz-Steuer zwei Jahre
lang nicht zu entrichten.
Angesichts der hohen Kaufpreise für Neuwagen fällt
eine Steuerbefreiung nicht dermaßen ins Gewicht, dass
dadurch die momentan herrschende Kaufzurückhaltung
überwunden werden könnte. Vielmehr ist davon auszu-
gehen, dass die Steuerbefreiung nur von denjenigen als
staatlicher Nachlass mitgenommen wird, die ohnehin be-
reits geplant hatten, einen Neuwagen zu erwerben. Inso-
fern kommt diese Maßnahme in erster Linie gut situier-
ten Personen zugute, die beim Kauf eines Autos im Wert
von mehreren 10 000 Euro nicht auf die Hilfe des Staa-
tes angewiesen sind. Zudem fällt die Steuererleichterung
beim Erwerb eines teueren Geländewagens mit großem
Motor und hohem Spritverbrauch höher aus als beim
Kauf eines Kleinwagens mit geringem Benzinverbrauch.
Aus verteilungspolitischer Sicht schlägt diese Initiative
somit bereits aus diesem Grund fehl.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20905
(A) (C)
(B) (D)
Obendrein entfaltet eine generelle Steuerbefreiung
umweltpolitisch die falsche Lenkungswirkung, um den
Kauf verbrauchs- und schadstoffarmer Pkw zu fördern.
In diesem Sinne wären sofort umsetzbare Alternativen
durchaus denkbar gewesen. Neben der Kfz-Steuerbefrei-
ung bedarf es ergänzender Instrumente, beispielsweise
einer Abwrackprämie, mit der alte Autos mit hohem
Schadstoffausstoß durch sparsamere Modelle ersetzt
werden. Dringend benötigt – und dies ist unbestritten –
wird vor allem die zeitnahe Umstellung der Kfz-Steuer-
berechnung auf Basis des CO2-Ausstoßes. Sollte nach
dem Ablauf des eingeführten befristeten generellen
Steuererlasses im Sommer 2009 keine soziale und öko-
logische Anschlussregelung getroffen werden, so würde
dies bedeuten, dass ab Juli 2009 der alte Gesetzesstand
wieder eintreten wird, wonach Kraftfahrzeuge steuerlich
nach ihrem Hubraum und nicht nach ihrem Schadstoff-
ausstoß bemessen werden. Damit würden wir eine große
Chance vergeben, ein Signal zu setzen, das nicht nur
konjunkturpolitisch, sondern auch umweltpolitisch ge-
eignet wäre, die derzeitige Kaufzurückhaltung tatsäch-
lich zu überwinden.
Wir würdigen ausdrücklich, dass sich die SPD-Frak-
tion damit durchsetzen konnte, die Kfz-Steuerbefreiung
auf sechs Monate zu begrenzen. Trotz dieser Kritik wer-
den wir dem Gesetzentwurf aus den anfangs genannten
Gründen zustimmen, verbinden unser Votum aber mit
dem Appell, dass zügig an der Umsetzung einer CO2-ba-
sierten Kfz-Steuer gearbeitet wird. In diesem Zusam-
menhang appellieren wir auch an die Bundesländer, ihre
Zurückhaltung in den Verhandlungen mit dem Bund auf-
zugeben und den Weg hierfür freizumachen.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Lale Akgün, Klaus Bar-
thel, Clemens Bollen, Willi Brase, Angelika
Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel,
Dr. Reinhold Hemker, Christian Kleiminger,
Rolf Kramer, Lothar Mark, Hilde Mattheis,
Andrea Nahles, Rene Röspel, Ottmar Schreiner,
Swen Schulz (Spandau), Christoph Strässer,
Andreas Steppuhn, Jella Teuchner, Rüdiger Veit
und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD)
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen
des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssiche-
rung durch Wachstumsstärkung“ (Tagesord-
nungspunkt 4)
In Anbetracht der weltweiten Rezession müssen alle
politischen Ebenen rasch, gezielt und kraftvoll handeln,
um die Wirtschafts- und Finanzkreisläufe in Gang zu
halten, die Wachstumskräfte zu stärken und Beschäfti-
gung zu sichern.
Daher haben Bundesregierung und Parlament weitrei-
chende Mittel und Instrumente zur Stabilisierung der Fi-
nanzmärkte durchgesetzt (500-Milliarden-Programm).
Nunmehr geht es um das Maßnahmenpaket „Beschäfti-
gungssicherung durch Wachstumsstärkung“ und seine
steuerlichen Komponenten.
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner stimmen
diesen Gesetzen als wichtigen ersten Schritten zur Kri-
senbekämpfung zu.
Angesichts der Dimensionen der beginnenden Welt-
wirtschaftskrise und ihrer Ursachen, angesichts des weg-
brechenden deutschen Exports und der anhaltenden
binnenwirtschaftlichen Nachfrageschwäche reichen die
bisherigen Schritte bei weitem nicht aus. Wenn nicht
massiv gegengesteuert wird, drohen anhaltende Stagna-
tion, Massenarbeitslosigkeit und Deflation.
Die Folgen für die Einkommensentwicklung breiter
Bevölkerungsschichten, für sämtliche öffentlichen Haus-
halte einschließlich der Sozialversicherungen sowie für
die Zukunftschancen unserer Gesellschaft und Wirt-
schaft wären dramatisch.
Deshalb brauchen wir einen europaweit abgestimm-
ten und verstärkten Investitions- und Konjunkturpakt
von Bund, Ländern und Kommunen. Da für deren Hand-
lungsfähigkeit große finanzielle Ressourcen notwendig
sind, wäre eine dauerhaft wirkende Absenkung der Steu-
erquote kontraproduktiv. Wir plädieren jedoch dringend
für eine Umschichtung der Steuerlasten.
Der Rezession muss also schnell, gezielt und massiv
auf zwei Wegen begegnet werden:
Sowohl zur möglichst wirksamen Stärkung der Bin-
nennachfrage als auch aus Gründen sozialer Gerechtig-
keit brauchen wir eine gezielte Stützung der unteren und
mittleren Einkommen, um in dieser Krise der bereits in
den letzten Jahren registrierten zunehmenden Kluft der
Einkommens- und Vermögensverteilung entgegenzuwir-
ken.
Wir brauchen ein umfassendes, auf zehn Jahre ange-
legtes und schnell wirksames Programm zur massiven
Ausweitung der öffentlichen und privaten Investitionen
mit einem Volumen von rund 2 Prozent des Brutto-
inlandprodukts, also circa 50 Milliarden Euro im ersten
Jahr.
Eine Gesamtstrategie, die auch die Ursachen der
Krise korrigiert, muss – um wirksam zu sein – folgende
Maßnahmen umfassen:
Neujustierung der Progression der Einkommensteuer.
Die unteren und mittleren Einkommen müssen von der
kalten Progression entlastet und der steuerliche Grund-
freibetrag muss angehoben werden. Höchste Einkom-
men hingegen müssen stärker belastet werden. Dazu be-
darf es der Anhebung des Spitzensteuersatzes und einer
Wiedereinführung der ausgesetzten Vermögensteuer, ei-
ner europaweiten Harmonisierung der Kapital- und Un-
ternehmensteuern einschließlich der Börsenumsatz-
steuer, Mindeststeuersätze in diesem Bereich sowie einer
konsequenten Beseitigung der Steueroasen.
– Ermäßigte Mehrwertsteuer auf Arzneimittel,
– die zügige Einführung des gesetzlichen und flächen-
deckenden Mindestlohns,
– eine expansive Lohnpolitik, flankierende Maßnahmen
für Menschen in prekären Lebensverhältnissen wie
20906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
zum Beispiel Prävention und ein Aktionsplan gegen
Überschuldung,
– Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze einschließlich ei-
nes eigenständigen Regelsatzes für Kinder.
Investitionen sind entscheidend für Standortqualität
und Zukunftsfähigkeit. Mit nur 4,3 Prozent Anteil der
öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt
lag Deutschland im Jahre 2004 auf dem viertletzten Platz
der EU-27-Länder und bei den Infrastrukturinvestitionen
mit nur 1,6 Prozent auf dem zweitletzten Platz. Die deut-
schen Ausgaben liegen um einen Prozentpunkt unter
dem EU-Schnitt von 2,5 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts. Dieser andauernde Entzug von öffentlichen Mit-
teln hat bereits zu einem erheblichen und schleichenden
Verfall der Substanz unserer Verkehrsinfrastruktur, bei
den öffentlichen Gebäuden und Plätzen, im Bildungssys-
tem und im Gesundheitsbereich geführt; von Moderni-
sierungsdefiziten ganz zu schweigen.
Insbesondere folgende Initiativen sollen verstärkt
werden:
Die Politik des Energiesparens und der Hebung der
Energieeffizienz muss mit Nachdruck fortgesetzt wer-
den. Dabei sind besonders Energiesparmaßnahmen im
Bereich der Raumwärme bei privaten Wohngebäuden
und öffentlichen Gebäuden zu fördern. Neben der Wir-
kung auf die Energieeinsparung sind zusätzlich schon
kurzfristig erhebliche Beschäftigungseffekte zu erwarten
(circa 600 000 Vollzeitarbeitsplätze). Der absehbare In-
vestitionsbedarf liegt in den nächsten zehn Jahren bei
etwa 35 Milliarden Euro.
Im Verkehrsbericht liegen die Investitionsbedarfe seit
langem auf dem Tisch, wie ein Blick auf den Bundesver-
kehrswegeplan zeigt. Besonderes Augenmerk ist auf die
Defizite bei der Bahninfrastruktur zu legen, die letztlich
nur durch zusätzliche Bundesmittel gedeckt werden kön-
nen.
Im Bereich der Bildung, Forschung und Technologie-
förderung muss der Rückstand zum europäischen Durch-
schnitt aufgeholt werden.
Flächendeckendes und gebührenfreies Angebot an
Ganztagesbetreuung und Ganztagsschulen.
Der Investitionsstau im Gesundheitswesen insbeson-
dere bei den Krankenhäusern muss aufgelöst werden.
Dazu brauchen wir eine neue nachhaltige Finanzierungs-
struktur.
Durch Städtebauförderungsmaßnahmen sind die
Kommunen, gestaffelt nach ihrer Finanzsituation, bei
der Aufgabe der Stadtsanierung und -erhaltung zu unter-
stützen. Zinsverbilligungen sind nicht ausreichend. Ins-
besondere Programme zur altersgerechten Wohnraumge-
staltung entlasten nicht zuletzt auch die Sozialkassen.
Außerdem sind alle weiteren Privatisierungsvorhaben
auf allen politischen Ebenen zu stoppen; dies gilt insbe-
sondere für jegliche Anteilsverkäufe von Telekom, Post
inklusive Postbank und Bahn wie für alle Bereiche der
öffentlichen Daseinsvorsorge in Kommunen und Län-
dern. Verkäufe unter Wert, die Sozialisierung von Ver-
lusten und Privatisierung von Gewinnen sind derzeit we-
niger vertretbar denn je.
Im Übrigen werden wir darauf achten, dass die EU
und die Bundesregierung alle angekündigten Maßnah-
men zur Kontrolle und Regulierung der Finanzmärkte,
wie sie etwa auf Ebene der G20 vereinbart wurden, zü-
gig und vollständig umsetzen.
Insgesamt fordern wir die Bundesregierung auf, ihre
Gesamtstrategie zu erweitern und ein umfassendes Kon-
zept aus den genannten wirtschafts-, arbeits- und sozial-
politischen Zusammenhängen zu erarbeiten und umzu-
setzen. Umfang und Geschwindigkeit dieses Konzepts
müssen der Dimension der Krise entsprechen: Denn je
zaghafter wir sind und je länger wir warten, desto
schwieriger und teurer gestalten sich die Maßnahmen.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele (FDP)
zur namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Fa-
milien und haushaltsnahen Dienstleistungen
(Familienleistungsgesetz – FamLeistG) (Tages-
ordnungspunkt 5)
Ich bin der Auffassung, dass es zu einem ordnungsge-
mäßen Schulbesuch gehört, dass alle Kinder zu Beginn
eines Schuljahres mit Lernmaterialien ausgestattet wer-
den, zu denen unter anderem Hefte, Schreibmaterialien,
Taschenrechner, Malblöcke, aber auch Turnschuhe für
Hallen im Winter und im Sommer für den Außensport
gehören. Auch Geld für Klassenausflüge und kulturelle
Veranstaltungen muss vorhanden sein.
Leider ist dies bei vielen Familien nicht gegeben. Im
Bereich der Sozialgesetzgebung ist eine der Ursachen
darin zu sehen, dass seinerzeit bei der Verabschiedung
des Gesetzes durch die rot-grüne Koalition für den säch-
lichen Lebensbedarf Bildungsausgaben nicht berück-
sichtigt wurden – und auch heute noch immer nicht be-
rücksichtigt werden. Es wurde von dem Bild eines
Erwachsenen ausgegangen. Für Kinder betragen die Re-
gelsätze altersabhängig 60 oder 80 Prozent des Regelsat-
zes für Erwachsene. In diesem jedoch ist ein Posten für
Bildung nicht enthalten.
Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, gibt es in
Deutschland viele Vereine und Einrichtungen, die auf
privater Initiative und privatem Engagement vieler Bür-
ger beruhen und sich zum Ziel gesetzt haben, hier ent-
sprechende Hilfe zu leisten.
Dazu gehört zum Beispiel der Verein „Kinder in Not“
in meiner Heimatstadt Osnabrück. Der erste Vorsitzende
dieses Vereines, Herr Rechtsanwalt Robert Seidler, hat
in seiner schriftlichen Stellungnahme ausführlich die
rechtliche Problematik und die für ihn daraus resultie-
rende Verfassungswidrigkeit des derzeitigen Rechtszu-
standes dargelegt. In seinen mündlichen Erläuterungen in
der Anhörung des Finanzausschusses hatte er Beispiele
aus dem täglichen Leben genannt, in denen die Not der
Kinder beschrieben wurde, der von dem Verein in einem
gewissen Umfang abgeholfen werden konnte.
Ich begrüße grundsätzlich, dass sich der Deutsche
Bundestag dieses Themas annimmt. Ich halte es für drin-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20907
(A) (C)
(B) (D)
gend erforderlich, dass alle Kinder in gleicher Weise be-
züglich der von ihnen zu finanzierenden Kosten für
Schulmaterial mit einem Mindeststandard ausgestattet
werden, welches diese Kosten auch deckt, wobei mir der
Betrag von 100 Euro niedrig erscheint. Zudem muss
sichergestellt werden, dass dieses Geld auch tatsächlich
bei den Kindern ankommt.
Deshalb bin ich folgender Auffassung: Kinder, die ne-
ben ihren Eltern Leistungen nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch beziehen, sollen mit Beginn des Schul-
jahres eine zusätzliche Unterstützung für einen Mindest-
standard der zu finanzierenden Kosten für Schulmaterial
erhalten. Hierbei ist in geeigneter Weise sicherzustellen,
dass diese Gelder auch tatsächlich für Schulmaterialien
verwendet werden. Die Eltern der Kinder, die über Ein-
kommen verfügen, erhalten einen deutlich erhöhten
Steuerfreibetrag, der dazu führt, dass die Steuerentlas-
tung so hoch ist, dass aus ihr die Aufwendungen für
Schulmaterial bestritten werden können. Deshalb fordert
die FDP einen einheitlichen Grundfreibetrag für Er-
wachsene und Kinder von 8 000 Euro und ein einheitli-
ches Kindergeld von 200 Euro im Rahmen einer umfas-
senden Steuerreform. Die Eltern der Kinder, die über
Einkommen verfügen, jedoch trotz eines Steuerfreibetra-
ges Mindestkosten für Schulmaterial nicht aufwenden
können, erhalten ergänzend die erforderlichen Mittel
durch das erhöhte Kindergeld. Gerade das Zusammen-
wirken von Kinderfreibetrag und Kindergeld kann si-
cherstellen, dass für erwerbstätige Eltern auch bei niedri-
gen Einkünften und steigender Kinderzahl eine
entsprechende Förderung stattfindet.
Langfristig wollen wir als FDP die staatlichen Trans-
ferleistungen in Form eines Bürgergeldes zusammenfüh-
ren, welches sicherstellen kann, dass den Bedürftigen
weiter geholfen wird und auch bei niedrigen Einkommen
Anreize für Erwerbstätigkeit gesetzt werden.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Jörg Tauss, Gregor Amann,
Willi Brase, Petra Ernstberger, Dieter
Grasedieck, Kerstin Griese, Dr. Barbara
Hendricks, Gabriele Hiller-Ohm, Christel
Humme Lothar Ibrügger, Dr. Hans-Ulrich
Krüger, Katja Mast, Florian Pronold, René
Röspel, Bernd Scheelen, Silvia Schmidt (Eisle-
ben), Heinz Schmitt (Landau), Swen Schulz
(Spandau), Christoph Strässer, Simone Violka
und Lydia Westrich (alle SPD) zur namentli-
chen Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Förderung von Familien und haus-
haltsnahen Dienstleistungen (Familienleistungs-
gesetz – FamLeistG) (Tagesordnungspunkt 5)
Mit dem Familienleistungsgesetz wird die finanzielle
Situation von Familien verbessert. So werden der Kin-
derfreibetrag um 216 Euro auf 6 024 Euro und das Kin-
dergeld für das erste und zweite Kind auf 164 Euro, für
dritte Kinder auf 170 Euro und für vierte und weitere
Kinder auf 195 Euro erhöht. Gleichzeitig wird die steu-
erliche Absetzbarkeit von haushaltsnahen Beschäfti-
gungsverhältnissen und haushaltsnahen Dienstleistungen
deutlich verbessert.
Mit einer Entlastung von circa 2 Milliarden Euro pro
Jahr ist das Gesetz ein positives Zeichen, soziale Ge-
rechtigkeit vor allem für Familien mit Kindern zu garan-
tieren.
Hierzu gehört auch das Schulbedarfspaket, das eine
zusätzliche Leistung in Höhe von 100 Euro für Schüle-
rinnen und Schüler aus Familien, die auf Hilfe zum
Lebensunterhalt angewiesen sind, vorsieht. Gerade fi-
nanziell benachteiligte Schülerinnen und Schüler können
so ihre persönliche Schulausstattung – wie zum Beispiel
Schulranzen, Rechen- und Zeichenmaterialien, Turn-
zeug etc. – finanzieren.
Bedauerlich und nicht nachvollziehbar ist aber, dass
die CDU/CSU darauf beharrt, dass dieses wichtige Maß-
nahmenpaket nur bis zur 10. Klasse finanziert wird. Ge-
rade im Hinblick auf die aktuelle PISA-Studie, die dar-
gelegt hat, dass der Zusammenhang von sozialer
Herkunft und Bildungserfolg eklatant hoch ist, wäre die
Gewährung des Schulbedarfspakets bis zur Jahrgangs-
stufe 13 ein richtiges und wichtiges Zeichen gewesen,
auch Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteilig-
ten Familien die gleiche persönliche Schulausstattung zu
ermöglichen wie allen anderen Schülern. Die Ausdeh-
nung bis zur Jahrgangsstufe 13 hätte zudem einen in der
Gesamtleistung nur geringfügigen Mehraufwand von
17 Millionen Euro verursacht. Es ist daher unverständ-
lich und das politisch völlig falsche Signal, dass sich die
Union dieser Maßnahme mit einer nicht nachvollziehba-
ren Begründung verweigert. Eine Korrektur dieser unge-
rechten Situation ist aus Sicht der SPD deshalb dringend
erforderlich.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Norbert
Barthle, Antje Blumenthal, Helmut Brandt,
Dr. Maria Böhmer, Marie-Luise Dött, Ilse Falk ,
Hartwig Fischer (Göttingen), Eberhard Gien-
ger, Ute Granold, Monika Grütters, Anette Hü-
binger, Dr. Peter Jahr, Andreas G. Lämmel, Ka-
tharina Landgraf, Paul Lehrieder, Thomas
Mahlberg, Wolfgang Meckelburg, Dr. Eva
Möllring, Carsten Müller (Braunschweig), Mi-
chaela Noll, Rita Pawelski, Beatrix Philipp, Da-
niela Raab, Uwe Schummer, Marion Seib, Jo-
hannes Singhammer, Antje Tillmann, Marcus
Weinberg, Elisabeth Winkelmeier-Becker und
Wolfgang Zöller (alle CDU/CSU) zur Abstim-
mung über den Entwurf eines Gesetzes zur För-
derung von Familien und haushaltsnahen
Dienstleistungen (Familienleistungsgesetz –
FamLeistG) (Tagesordnungspunkt 5)
Ich begrüße ausdrücklich die festgeschriebenen Maß-
nahmen des Familienleistungsgesetzes: die Anhebung
des Kindergeldes, die Erhöhung des Kinderfreibetrages,
steuerliche Regelungen zu haushaltsnaher Sozialversi-
20908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
cherungspflichtiger Beschäftigung und haushaltsnahen
Dienstleistungen einschließlich Pflege- und Betreuungs-
leistungen. Es sind wesentliche familienpolitische Leis-
tungen. Ich begrüße, dass laut Regierungsentwurf Fami-
lien gefördert und steuerlich entlastet werden. Dem
Familienleistungsgesetz werde ich zustimmen.
Allerdings erachte ich es auf der Grundlage dieses
Gesetzes für notwendig, weitere familienpolitische Leis-
tungen einzuführen. Ich sehe es als politisches Ziel, in
einem weiteren Gesetzgebungsverfahren folgende Er-
weiterungen des Familienleistungspakets umzusetzen:
Erstens, die Ausweitung des Schulbedarfspakets
– jährliche Leistung von 100 Euro im Rahmen des
SGB II und des SGB XII – auf Schülerinnen und Schüler
über die 10. Jahrgangsstufe hinaus. Dabei sollen Schüle-
rinnen und Schüler an allgemeinbildenden und an be-
rufsbildenden Schulen in gleicher Weise gefördert wer-
den. Zudem soll geprüft werden, ob die Förderung über
den Kreis von SGB-II- und SGB-XII-Empfängern hi-
naus Familien mit geringen Einkommen zugutekommen
kann.
Zweitens, die Ausweitung der Steuerbefreiung von
Leistungen von Arbeitgebern zur Unterbringung und Be-
treuung von Kindern ihrer Beschäftigten auf Kinder bis
zum vollendeten 14. Lebensjahr, statt dies – wie bisher –
auf noch nicht schulpflichtige Kinder zu beschränken.
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Gunter Weißgerber und Rai-
ner Fornahl (beide SPD) zur Abstimmung über
den Antrag: Freiheits- und Einheitsdenkmal ge-
stalten (Zusatztagesordnungspunkt 8)
Der Bundestag beschließt heute über den Antrag
„Freiheits- und Einheitsdenkmal gestalten“ (Druck-
sache 16/11200). Dem stimmen wir aus folgenden Grün-
den sehr gerne zu: Wir haben seit dem November 2007
für ein gemeinsames Denkmal in Berlin und Leipzig ge-
worben. Wir haben in diesem Kontext dafür gekämpft,
für ein Denkmal zu stimmen, welches in beiden Städten
den langen Weg von deutscher Teilung im besonderen
Abbild der Teilung Berlins über die ostdeutsche Freiheit
infolge der friedlichen Revolution 1989/90 mit ihrem ge-
waltigem Anteil der Leipziger Montagsdemonstrationen
und letztlich bis zur Vereinigung beider deutscher Staa-
ten am 3. Oktober 1990 aufzeigt.
Sinnbild der 40-jährigen deutschen Teilung war die
blutige Grenze inmitten Deutschlands, inmitten Berlins.
In besonders brutalem Maße zerschnitt hier die Grenze
durch die deutsche Hauptstadt, stand die Einmauerung
des freiheitlichen Westteiles von Berlin für das deutsche
Nachkriegstrauma. An der Blockade Westberlins, am
Mauerbau 1961 nahmen die gesamte deutsche und die
Weltöffentlichkeit großen Anteil. Der Volksaufstand von
1953, der unsere von 1989 politischen Forderungen vor-
wegnahm und in Ostberlin begann, sowie das geteilte
Berlin wurden weltweit zum Synonym für die deutsche
Teilung, für die Ost-West-Blockkonfrontation. Hier be-
kannte Kennedy, dass er ein Berliner sei, und Reagan
forderte den Fall der Mauer. Willy Brandt war der legen-
däre regierende „Frontstadt“-Bürgermeister, der für die
meisten Ostdeutschen bis 1989 die verkörperte Hoff-
nung auf Freiheit und Demokratie blieb. Westberlin war
für die SED der Stachel im Fleisch des kommunistischen
Systems, für viele Menschen in der DDR war es das
Schaufenster in den freien Westen, die freie Informa-
tionsquelle und die ständige Nahrung für die Hoffnung
auf demokratische Entwicklungen.
In Ostberlin etablierte sich frühzeitig eine rege Unter-
grundszene samt einer reichen Samisdatliteratur. Die
Umweltbibliothek wurde 1987 von der Stasi gestürmt,
und die staatlich zelebrierten Luxemburg-Liebknecht-
Demonstrationen wurden von der Opposition mutig auf
ihre Weise in Anspruch genommen. Beispielhaft sei hier
die Kundgebung vom Januar 1989 genannt – wenn auch
den Demonstranten damals nicht bekannt war, dass sie
mit Luxemburg ausgerechnet eine Gegnerin von freien
Wahlen auf ihr Schild hoben.
In Berlin wurde die Grenze zuerst löchrig, in Berlin
beschloss die freie Volkskammer gemäß dem Willen der
meisten Deutschen in Ost und West den Beitritt zur Bun-
desrepublik Deutschland, und in dieser Stadt wurde
dieser Beitritt der endlich freien und tatsächlich demo-
kratischen DDR nach Art. 23 GG der Bundesrepublik
Deutschland im Einvernehmen mit den Siegermächten
und unseren Nachbarn vollzogen. Mit dem weltweit
spektakulären Fall der Mauer kam bildhaft das Ende des
Kalten Krieges, kam die Chance auf die europäische
Einigung auf friedlichem Wege. Für die Welt steht das
vereinigte Berlin, die vereinigte deutsche Hauptstadt als
Symbol für die Überwindung der Blockkonfrontation,
für das Gelingen freiheitlicher und demokratischer
Volksbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Deshalb
muss Berlin ein Standort des Nationalen Freiheits- und
Einheitsdenkmales werden.
Leipzig muss aber seinerseits eine Würdigung erfah-
ren, die in erkennbaren Sinnzusammenhang zum Berli-
ner Denkmal steht. Die Leipziger Nikolaikirche mit
ihren Friedensgebeten seit 1982 war der „Zünder der
friedlichen Revolution 1989/90“, der Leipziger Augus-
tusplatz war mit seinen machtvollen Massendemonstra-
tionen bis zu den Volkskammerwahlen 1990 der wich-
tigste Garant für den Bestand des am 9. Oktober
Erreichten und der unablässig drehende „Motor der deut-
schen Einheit“.
Bereits im September 1989 schwollen die Leipziger
Demonstrationen unter dem selbstbewussten Ruf „Wir
sind das Volk“ zu Zehntausenden Teilnehmern an. Ein
Anschwellen, welches in Verbindung mit der Begeiste-
rung über die Massenausreisen aus Ungarn und der Wut
über die Ignoranz der DDR-Staatsführung, die Bot-
schaftsausreisenden mit Zügen quer durch den Süden der
DDR zu transportieren, zu bürgerkriegsähnlichen Zu-
sammenstößen am Dresdner Hauptbahnhof und zu wei-
teren bedrohlichen Situationen an der gesamten Bahn-
strecke bis Plauen führten.
Nach der am 5. Oktober 1989 in der Leipziger Volks-
zeitung (LVZ) veröffentlichten Drohung des Kampfgrup-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20909
(A) (C)
(B) (D)
peneinsatzes gegen die Bevölkerung wurde es am
7. Oktober in Leipzig, Plauen, auch in Berlin besonders
brisant. In diesen drei Städten waren ob bzw. wegen die-
ser Drohung Tausende auf den Beinen und hielten der
SED und dem MfS mutig die Stirn entgegen. Die in die-
sem Zusammenhang gestreute „chinesische Lösung“ des
Massakers vom „Platz des Himmlischen Friedens“ in
Peking als einer realen Möglichkeit für die SED-Füh-
rung im Umgang mit den Demonstranten war eine Dro-
hung und durchaus sehr ernst gemeint. Selbst Internie-
rungslager zur Konzentration von Sozialismusfeinden an
ausgesuchten Orten waren konzipiert.
In dieser spannungsgeladenen Stimmung, die an ei-
nen positiven und unblutigen Ausgang der für den 9. Ok-
tober erwarteten Demonstration in Leipzig nicht denken
ließ, kamen dennoch an diesem Montag 70 000 Men-
schen aus Leipzig und der DDR zwischen Nikolaikirch-
hof und Augustusplatz zusammen. Eine Menschen-
menge, die auf SED und MfS so abschreckend wirkte,
dass sie aus einer allgemeinen Lähmung heraus den Din-
gen hilflos ihren Lauf lassen musste. Zwar begann die
Partei- und Staatsführung dann schnell über den begin-
nenden Dialogprozess und mittels personeller Änderun-
gen in der Führungsspitze zu versuchen, das Heft des
Handelns wieder in die Hände zu bekommen, doch ge-
langen diese Strategien gegenüber der wachen Bevölke-
rung glücklicherweise nicht.
Die Menschen in Leipzig, Plauen, Dresden, überall in
der DDR wussten, dass die Demonstrationen in großem
Stile weitergehen mussten. Die Ergebnisse des 9. Okto-
ber von Leipzig bedurften der Sicherung, sollte dieser
9. Oktober 1989 nicht wie der 17. Juni 1953 später als
konterrevolutionärer Umsturzversuch der Vergessenheit
anheimfallen. Im Windschatten der Leipziger Massen-
demonstrationen 1989/90 wuchsen die DDR-weiten
Kundgebungen und Demonstrationen zu Ereignissen he-
ran, die dann auch ganz schnell aus dem emanzipatori-
schen Ruf „Wir sind das Volk“ die politische Forderung
„Wir sind ein Volk“ werden ließen, wohl wissend, dass
nur die Einheit in Freiheit ein größtes Maß an Sicherheit
vor der Restitution der alten Machtverhältnisse in der
DDR bot.
Der Mauerfall am 9. November 1989 war dann die lo-
gische Folge. Wir haben neben der meist in diesem Zu-
sammenhang aufkommenden Erklärung der Überforde-
rung der SED-Führung eine eher politische Erklärung
anzubieten. Die DDR-Führung suchte nach Druckentlas-
tung. Geöffnete Grenzen schienen ein passables Mittel
in diesem Sinne zu sein. Die Rechnung war einfach und
dennoch eine der üblichen Fehleinschätzungen der SED.
Die mit der DDR restlos Unzufriedenen sollten gehen,
damit den Massendemonstrationen die Kraft nehmend.
Die im „Lande“ Verbleibenden sollten die DDR tapezie-
ren helfen. Den weitergehenden Montagsdemonstratio-
nen sei Dank, diese Rechnung der SED ging nicht auf.
Es gelang, die Menschen weiterhin für die Demonstra-
tionen bis zu den ersten freien Volkskammerwahlen am
18. März 1990 zu interessieren und so das Errungene des
Herbstes 1989 zu sichern.
Demgegenüber war Ostberlin – und das soll keine
Gegenrede wohl aber eine Klarstellung sein – im Herbst
1989 die Arena der Befürworter einer weiteren Zwei-
staatlichkeit Deutschlands. In Berlin fand am 4. Novem-
ber 1989 die größte DDR-Tapezierungsgroßdemonstra-
tion statt, der im Nachgang der DDR-Erhaltungsaufruf
von Christa Wolf „Für unser Land“ folgte. Dagegen er-
ging aus Leipzig der „Leipziger Aufruf“ von Johannes
Wenzel für den Aufbau von konföderativen Strukturen
zwischen beiden deutschen Staaten mit dem Ziel der
Einheit als schnelle Antwort auf den Ostberliner Aufruf.
Dies sind unsere Gedanken zum Thema. Achten wir
im Diskussionsprozess um die Gestaltung der beiden
Standorte auf die Berücksichtigung des historischen
Kontextes: Ohne die inner- und außerkirchliche Opposi-
tion in der DDR, ohne die immerwährenden Fluchtbe-
wegungen in den Westen, ohne die Massenfluchten von
1989, ohne die Montagsgebete und die friedliche Revo-
lution, und ohne die Weiterführung dieser Revolution bis
zu den Wahlen im März 1990 und in Anbetracht der
Möglichkeit eines geglückten Moskauer Putsches, bei-
spielsweise der vom August 1991, würden wir heute
nicht einmal des 9. Oktobers in Freiheit gedenken, ge-
schweige denn uns der deutschen Einheit des Jahres
1990 erfreuen können. Seien wir stolz auf die „Neue
Ostpolitik“ der Regierung Brandt/Scheel, auf das KSZE-
Engagement der Regierung Schmidt/Genscher, und
seien wir dankbar, dass die Regierung Kohl/Genscher
Helmut Schmidts Anstrengungen für den NATO-Dop-
pelbeschluss weiterführte und damit dem INF-Vertrag
von 1987 – Vernichtung sämtlicher atomarer Mittelstre-
ckensysteme in Europa – zwischen den USA und der So-
wjetunion den Boden bereitete. Beide Politikansätze, die
Entspannungs- als auch die Gleichgewichtspolitik, ha-
ben beträchtlichen Anteil an der Implosion der Sowjet-
union und des Ostblocks.
Vergessen wir bei allem Stolz auf eigene Leistungen
nicht die Freiheitsbewegungen in unseren östlichen
Nachbarstaaten. Ohne die Polen mit ihrer Solidarnośź,
ohne die Tschechen mit ihrer Charta 77 und ohne den
Mut der „lustigsten Baracke im Ostblock“, den Ungarn,
würden noch heute Menschen ohne Hoffnung auf Frei-
heit und Demokratie in der Leipziger Nikolaikirche und
überall in der DDR beten und sich vor der außer- und in-
nerhalb der Kirche beobachtenden Staatsmacht fürchten
müssen.
Wir danken ausdrücklich den Fraktionen von SPD,
CDU/CSU und FDP und hier besonders ihren Kultur-
politikern, die nach vielen Diskussionen den Weg für die
Würdigung von Freiheit und Einheit in Berlin und in
Leipzig bei Einbeziehung und Mitverantwortung von
Berlin einerseits und des Landes Sachsen und der Stadt
Leipzig andererseits durch den Bund frei gemacht ha-
ben. Besonderer Dank gilt den vielen Deutschen in Ost
und West, die den von uns beschriebenen historischen
Kontext ebenso sehen und eine Nichtwürdigung Leip-
zigs nicht verstanden hätten.
Begleiten wir nun intensiv den weiteren Gestaltungs-
prozess für die Denkmale in Berlin und Leipzig und ach-
ten darauf, dass bei der Auslobung des Wettbewerbes
20910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
– der wird gewiss eine überragende nationale und inter-
nationale Resonanz finden – der historische Bogen rich-
tig geschlagen wird.
Anlage 9
Erklärung
des Abgeordneten Dr. Michael Meister (CDU/
CSU) zur namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Fa-
milien und haushaltsnahen Dienstleistungen
(Familienleistungsgesetz – FamLeistG) (Tages-
ordnungspunkt 5)
In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt.
Mein Votum lautet „Nein“.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Sicherheitsregeln für Flüssigkeiten im
Handgepäck von Flugreisenden auf den Prüf-
stand stellen (Tagesordnungspunkt 10)
Clemens Binninger (CDU/CSU): Vor nicht einmal
zweieinhalb Jahren im August 2006 konnten britische
Sicherheitskräfte eine Anschlagsserie auf dem Flughafen
London Heathrow vereiteln. Terroristen hatten Bomben-
anschläge mit Flüssigsprengstoff auf mehrere Flugzeuge
geplant, die unzählige Opfer gefordert hätten. Rund ein
Jahr später wurden drei Tatverdächtige bei Anschlags-
vorbereitungen im Sauerland verhaftet. Geplantes Tat-
mittel der „Sauerland-Gruppe“: Sprengsätze aus Wasser-
stoffperoxid. Am Rande sei hier erwähnt, dass auch der
Frankfurter Flughafen von dieser Gruppe als mögliches
Ziel ausgespäht wurde. Das zeigt, dass Flüssigspreng-
stoffe nach wie vor ein realistisches Tatmittel für einen
terroristischen Anschlag sind. Gerade bei Anschlägen im
Bereich der Luftfahrt ist ein besonderes Augenmerk auf
Flüssigsprengstoffe zu legen, weil sie im Gegensatz zu
den meisten konventionellen Bomben und Waffen eben
noch nicht ausreichend von Detektionstechnologien er-
kannt werden können.
Der Forderung, die Flüssigkeitsbeschränkung aufzu-
heben – wie sie unterm Strich der vorliegende FDP-An-
trag erhebt –, kann deshalb nicht zugestimmt werden. Es
ist wichtig, dass Sicherheitsregeln transparent sind. Nur
so entsteht Akzeptanz, und nur so sind ihre Eignung und
Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Abwehr einer
Gefahr zu bewerten. Selbstverständlich müssen auch Si-
cherheitsmaßnahmen wie die Flüssigkeitsbeschränkung
diesem Maßstab gerecht werden. Die Bundesregierung
hat sich deshalb in der Vergangenheit für die Veröffentli-
chung großer Teile der Durchführungsbestimmungen zur
Europäischen Luftsicherheitsverordnung eingesetzt. Seit
20. August 2008 ist die neue Durchführungsverordnung
(EG 820/2008) in Kraft. Sie beinhaltet große Teile der
bislang geheim gehaltenen Anlagen, darunter auch die
Regelungen zur Flüssigkeitsbeschränkung in der Liste
der verbotenen Gegenstände. Eine wesentliche Forde-
rung des vorliegenden Antrags ist damit bereits reali-
siert.
Wenn wir über Erleichterungen bei den Flüssigkeits-
beschränkungen im Handgepäck diskutieren – und ich
halte das für wichtig –, dann muss dies in einem verant-
wortungsvollen Rahmen geschehen: Sicherheitsmaßnah-
men müssen sich am bestehenden Risiko ausrichten. Er-
leichterungen sind nur dann möglich, wenn gleichzeitig
eine geeignete und praktikable Detektionstechnologie
vorliegt. Darüber dürfte eigentlich kein Dissens beste-
hen.
Die Sicherheit im Luftverkehr ist ein hohes Gut. Wir
alle wissen, dass bereits ein einziger Anschlag verhee-
rende Wirkung haben kann. Deshalb ist es unsere
Pflicht, alles zu tun, um einen solchen Anschlag zu ver-
hindern, und dazu gehören auch die Beschränkungen für
Flüssigkeiten im Handgepäck.
Der FDP-Antrag fordert in diesem Zusammenhang,
auch Forschungsvorhaben im Bereich der Detek-
tionstechnologie zu unterstützen. Das ist richtig. Das tun
wir auch in verschiedenen Bereichen. Ich frage mich
aber: Wie passt diese Forderung zusammen mit der öf-
fentlichen Empörung, die auch und gerade aus den Rei-
hen der FDP in den letzten Tagen im Zusammenhang mit
den Labortests der Body-Scanner-Technologie zu ver-
nehmen ist? Es ist seit Monaten bekannt, dass die Bun-
despolizei diese Technologie ab Dezember unter Labor-
bedingungen testet. Es handelt sich dabei aber eben nicht
um sogenannte Realtests, die im Flughafenbetrieb statt-
finden, wie wir es teilweise aus dem Ausland kennen.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Solche Scanner
sind in Deutschland nicht im Einsatz. Die Haltung der
Bundesregierung zu Ganzkörperscannern, die ich voll
und ganz teile, ist eindeutig. Ein Einsatz der heute beste-
henden Technologie ist nicht geplant und gänzlich inak-
zeptabel, weil sie die Persönlichkeitsrechte des Durch-
suchten massiv verletzt. Dieser Haltung ist mittlerweile
auch die EU-Kommission gefolgt.
Das entbindet uns aber nicht davon, die Forschung bei
den richtigen Technologien voranzutreiben. Die Mil-
limeter- und Terahertzwellentechnologie, mit denen sol-
che Scanner arbeiten, sind in der Lage, Waffen oder
Sprengstoffe zu erkennen, die heute vom Sicherheitsper-
sonal allenfalls durch Abtasten gefunden werden kön-
nen. Deshalb – und hier stimme ich mit der Forderung
des Antrags überein – ist es geboten, in diesem Bereich
weiterzuforschen. Derartige Technologien können aller-
dings erst dann eingesetzt werden, wenn sie nicht zu ei-
ner Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte oder des
Gesundheitsschutzes führen.
Die Flüssigkeitsbeschränkung ist derzeit unverändert
die bestmögliche Lösung, der weiterhin bestehenden Ge-
fahr eines Anschlags mit Flüssigsprengstoff zu begeg-
nen. Eine verantwortungsvolle Überprüfung von Sicher-
heitsmaßnahmen im Bereich der Luftsicherheit kann
sich daher nur an der Frage orientieren, ob eine geeig-
nete Detektionstechnik vorhanden ist. Dies ist derzeit
nicht der Fall – darüber besteht Einigkeit unter den Ex-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20911
(A) (C)
(B) (D)
perten. Das unterstreicht auch der vorliegende Antrag.
Deshalb wäre es unverantwortlich, bereits jetzt Erleich-
terungen in diesem Bereich einzuführen, obwohl man
noch keine geeignete Detektionstechnik hat. Eine solche
Vorgehensweise ist mit der Union nicht zu machen.
Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU): Die Verordnung
(EG) Nr. 1546/2006 sieht eine Beschränkung der Mit-
nahme von Flüssigkeiten in den Sicherheitsbereich des
Flughafens oder an Bord eines Luftfahrzeuges für Passa-
giere vor. Seit November 2006 ist es europäischen Flug-
gästen daher lediglich erlaubt, Flüssigkeiten mit an Bord
zu bringen, wenn sie in Gefäßen mit einem Inhalt von
maximal 100 Milliliter abgefüllt sind und in einer trans-
parenten, wiederverschließbaren Plastiktüte transpor-
tiert werden, die vom Sicherheitsdienst am Flughafen
überprüft wird.
Das Europäische Parlament hatte am 5. September
2007 eine Resolution angenommen, durch die die Kom-
mission aufgefordert wird, das Verbot von Flüssigkeiten
zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Das
Thema ist am 7. Mai 2008 sowohl im Verkehrs- als auch
im Innenausschuss des Deutschen Bundestages einge-
hend erörtert worden. Beide Fachausschüsse hatten sich
dafür ausgesprochen, dass die rechtlichen Bestimmun-
gen hinsichtlich der Mitnahme von Flüssigkeiten aufge-
hoben werden sollten.
Hintergrund der Beschränkungen sind die vereitelten
Anschläge mittels Flüssigsprengstoffs am Flughafen
London Heathrow im August 2006. Die Pläne der mut-
maßlichen Terroristen sahen vor, explosive Flüssigkeiten
in Flugzeuge zu schmuggeln. Durch die Flüssigkeits-
mengenbegrenzung soll verhindert werden, dass flüssige
Explosivstoffe an Bord verbracht werden.
Auch wenn die Bedrohungslage, die von einem terro-
ristischen Einsatz von Flüssigsprengstoffen ausgeht,
nach wie vor unverändert gegeben ist, so sollten den-
noch die rechtlichen Bestimmungen zur Mitnahme von
Flüssigkeiten in jedem Falle modifiziert werden. Die
Röntgengeräte können ohnehin die Gefährlichkeit der
Flüssigkeiten nicht feststellen, sodass derzeit nur eine
reine Mengenkontrolle stattfindet. Die Bundesregierung
sollte vielmehr Forschungsvorhaben unterstützen und
fördern, die darauf ausgerichtet sind, einfach und prak-
tisch anwendbare Verfahren zu entwickeln, die dazu ge-
eignet sind, Sprengstoffe in Flüssigkeiten aufzuspüren.
Die Unterstützung von Forschungs- und Entwicklungs-
vorhaben auf europäischer Ebene (Teilnahme an der
Study Group der ECAC Technical Task Force) als auch
auf nationaler Ebene (unter anderem Forschung des
BKA) sind erste richtige Schritte.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass eine Anhörung
von Sicherheitsexperten im Europäischen Parlament am
24. Mai 2007 in Straßburg ergab, dass ein tatsächlicher
Gewinn an Sicherheit durch die EU-Verordnung nicht zu
erwarten ist: Die notwendigen Kontrollen an vielen
Flughäfen innerhalb der EU werden nicht strikt umge-
setzt, sodass bereits in der Durchführung erhebliche
Lücken bestehen. Auch die Feststellung, ob die erlaubt
mitgeführte Menge harmlos ist oder für einen Terror-
anschlag benutzt werden könnte, kann nicht ohne Weite-
res getroffen werden. Vielmehr führen die Kontrollen
dazu, dass die Flughäfen erhebliche Mehrkosten auf-
wenden müssen. Schließlich wurde darauf hingewiesen,
dass die Verordnung unverhältnismäßig ist, weil die Pas-
sagiere nicht nur großen Unannehmlichkeiten ausgesetzt
sind, sondern auch private Güter in großem Stil vernich-
tet werden, die als unerlaubte Gegenstände und Waren
am Flughafen zurückgelassen werden, wie zum Beispiel
Parfüm, andere Kosmetika oder Getränke. Das Ergebnis
der Anhörung zeigt nochmals deutlich, dass die Maß-
nahmen im Hinblick auf die tatsächliche Gefährdung
und die Sinnhaftigkeit kaum einen Vorteil bringen.
Die Bundesregierung wird deshalb gebeten, sich wie
in der Vergangenheit so auch zukünftig gegenüber der
EU-Kommission für Sicherheitsmaßnahmen gegen Ter-
roranschläge in der Luftfahrt einzusetzen, die unter
Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit tat-
sächlich erfolgversprechend im Hinblick auf realisti-
scherweise bestehende Gefahren sind. So ist es zum Bei-
spiel in den letzten Jahren gelungen, eine 100-prozentige
Gepäckkontrolle zu erreichen. Ebenso war es zielfüh-
rend, auch wenn es die Mitarbeiter von Flughäfen und
Airlines als belastend empfinden, die Kontrolle auf alle
Personen auszudehnen, die den Sicherheitsbereich eines
Flughafens betreten, weil hierdurch die Sicherheit objek-
tiv erhöht werden konnte.
Lassen Sie mich deshalb zum Schluss folgende Fest-
stellung treffen und eine nachhaltige Bitte äußern: Bis-
her haben alle Mitgliedstaaten – bis auf Deutschland –
für eine Aufhebung der hier infrage stehenden EU-Ver-
ordnung gestimmt. Mit Blick auf das Abstimmungsver-
halten der anderen Mitgliedstaaten und die zeitgerechte
Verabschiedung der neuen EU-LuftsicherheitsVO (EG)
300/2008 „im Paket“ bis April 2010 sollten die rechtli-
chen Bestimmungen geändert werden. Ich bitte deshalb
den Bundesinnenminister nachdrücklich, sich in der
nächsten Ratssitzung ebenfalls dafür einzusetzen, dass
der Entschließung des Europäischen Parlaments vom
5. September 2007 gefolgt wird, damit eine deutliche Er-
leichterung für Fluggäste bei der Mitnahme von Flüssig-
keiten herbeigeführt werden kann.
Gerold Reichenbach (SPD): Sie alle wissen, dass
ich beim besten Willen kein Sicherheitsfanatiker bin, der
dafür plädiert Freiheitsrechte immer auf Kosten einer
– nennen wir es einmal – Sicherheitsillusion einzuschrän-
ken. Wir Sozialdemokraten haben bei sicherheitspoliti-
schen Vorhaben immer darauf geachtet, die Abwägung
zwischen den verschiedenen betroffenen Grundrechten
gewissenhaft vorzunehmen, bevor wir eines durch Ge-
setz einschränken oder Gesetze mit entsprechenden Be-
fugnissen schaffen. Wir als SPD sehen uns als Garant
von Sicherheit und Freiheit in unserem Lande. Wir wer-
den immer darauf achten, dass die Verhältnismäßigkeit
im Auge behalten wird.
Natürlich mutet es schon seltsam an, wenn die unbe-
darfte ältere Dame die Flasche guten Weines, die sie als
Gastgeschenk im Handgepäck für den Besuch bei ihrem
Enkel mitnehmen wollte, bei der Sicherheitskontrolle
20912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
am Flughafen abgeben muss. Und natürlich stellt sich
auch die Frage: Genügen nicht auch die zugelassenen
Kleinmengen, um in ausreichender Menge gefährliche
Flüssigkeiten an Bord zu bringen? Wir müssen uns also
immer die Frage stellen: Bringen denn die für die Passa-
giere doch erheblichen Einschränkungen überhaupt
mehr Sicherheit, oder sind sie überflüssig?
Den durchaus berechtigten Forderungen nach mög-
lichst bequemer und behinderungsfreier Abwicklung des
Flugverkehrs steht angesichts der weiter bestehenden
Bedrohung durch den Terrorismus die Notwendigkeit
gegenüber, einen möglichst hohen Sicherheitsstandard
bei der Fluggastkontrolle an unseren Flughäfen gewähr-
leisten zu müssen. Ich möchte nur einmal daran erinnern,
dass für die Sicherung der Atomkraftwerke vor Terror-
anschlägen aus der Luft bislang die Kontrolle an den
Flughäfen als einzig wirksame Maßnahme zur Verhinde-
rung gilt. Darum haben wir unter Rot-Grün eine ganze
Reihe von Regelungen getroffen, die Gefahren eindäm-
men können, wie etwa im Luftsicherheitsgesetz, das in
großen Teilen weiter Bestand hat. Nur die Regelungen
zum Einsatz militärischer Mittel gegen als Terrormittel
missbrauchte entführte Flugzeuge wurden vom Bundes-
verfassungsgericht aufgehoben.
Die zentrale Sicherung ist nach wie vor, zu verhin-
dern, dass Mittel an Bord eines Flugzeuges gelangen
können, die für die Vorbereitung und Durchführung ei-
nes Terroranschlages genutzt werden können. Die Flug-
infrastruktur ist ein treffliches Ziel für Terroristen; mit
dem Absturz einer einzigen Maschine kann man mehrere
Hundert Personen in den Tod reißen. Und genau deshalb
überwiegt bei solchen Entscheidungen der Sicherheits-
aspekt.
Der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages
– wie von der FDP oft genug zitiert – hat festgestellt,
dass die Flüssigkeitsbegrenzung aufzuheben sei, wenn
keine weiteren entscheidenden Tatsachen für deren Er-
halt angeführt werden. Bislang gibt es aus den Reihen
der polizeilichen Terrorbekämpfung keine eindeutige
Entwarnung, was die Möglichkeit eines Terroranschla-
ges mithilfe gefährlicher Flüssigkeiten betrifft, die mit
dem Handgepäck in die Kabine gebracht wurden. So-
lange aber Zweifel angebracht sind, können wir kein Ri-
siko eingehen.
Es ist etwas einfach, nach der Aufhebung einer Rege-
lung zu rufen, weil es noch keinen Zwischenfall gab,
dessen Verhinderung ja gerade der Sinn und Zweck der
Regelung sein sollte. Der Hinweis, bislang seien noch
keine gefährlichen Flüssigkeiten sichergestellt worden,
geht ins Leere, weil dieser Umstand auch mit einer Prä-
ventivwirkung der Kontrollen erklärbar ist. Dass aber
Terroristen mit gefährlichen Flüssigkeiten seit einiger
Zeit experimentieren und auch entsprechende Anleitun-
gen in den Netzwerken zur Verfügung stehen, wissen wir
nicht nur aus England, sondern auch aus dem Umfeld
der sogenannten Sauerlandgruppe.
Wie Sie wissen, meine Damen und Herren Kollegen
von der FDP, gibt es aber bislang noch keine geeigneten
Geräte zur Detektion gefährlicher Flüssigkeiten. Dies
konnten Sie aus einer Antwort der Bundesregierung auf
Ihre Kleine Anfrage hin entnehmen. Wegen des dadurch
eben nicht auszuschließenden Risikos hat Deutschland
auf europäischer Ebene Bedenken geltend gemacht und
sich gegen die sofortige Aufhebung der Regelung ohne
andere Sicherungsmöglichkeiten gewandt.
Solange das Risiko von den Fachleuten nicht ausge-
schlossen wird, will die Bundesregierung Alternativen,
insbesondere technische Möglichkeiten, erforschen, be-
vor die Regelungen angepasst werden. Wir sind als Bun-
desrepublik in einer technischen Arbeitsgruppe im Auf-
trag der Kommission zur Erarbeitung einheitlicher
technischer Mindestanforderungen und abgestimmter
Zertifizierungsverfahren mit mehreren Fachleuten ver-
treten. Gerätehersteller, die mit der entsprechenden Ge-
räteentwicklung betraut sind, werden zu einer Beschleu-
nigung seitens der Bundesregierung veranlasst. Im Jahre
2009 sollen nach Auskünften des Verkehrsministeriums
die ersten Geräte auf ihre Geeignetheit getestet und zerti-
fiziert werden.
Wir werden uns einer Aufhebung der bestehenden
Regelungen zu Flüssigkeiten im Handgepäck nicht ver-
schließen, wenn eine ordnungsgemäße Prüfung und Ab-
wägung der Risiken und der Sicherungsalternativen er-
gibt, dass sie nicht mehr sinnvoll sind oder der Zweck
auch ohne Einschränkung der Passagiere erreicht werden
kann. Der Vorwurf, den Sie erheben, die Bundesregie-
rung stelle sich gegen alle und halte als einzige beim
Thema Flüssigkeiten im Handgepäck an unnötigen Re-
gelungen fest, ist deshalb auch nicht haltbar. Vielmehr ist
offensichtlich, dass wir möglichst schnell, aber eben
ohne Risikoerhöhung –, die Bequemlichkeit für die
Flugpassagiere wieder verbessern und die Belastungen
bei den Sicherheitskontrollen reduzieren wollen.
Wir Sozialdemokraten haben uns schon immer gegen
Symboldiskussionen gewandt, mit denen ein Mehr an
Sicherheit lediglich vorgegaukelt wird – so wie bei der
Diskussion um den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr
im Innern. Viel wichtiger ist es, dass wir uns darum
kümmern, die bestehenden Systeme zu verbessern und
sie nicht noch zu schwächen.
Darum möchte ich die Gelegenheit nutzen, einen an-
deren Punkt anzusprechen, der weitaus kritischer für
eine effektive Sicherheitskontrolle an den Flughäfen ist:
Der Umgang mit dem Sicherheitspersonal. Die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter haben dort eine hochverant-
wortliche Aufgabe, die sie unter hoher Konzentration
und Stress erfüllen müssen. Dabei dürfen sie sich keine
Fehler oder Nachlässigkeiten erlauben. Das geht nur mit
gut ausgebildetem und motiviertem Personal. Dieses
Personal und die dafür notwendige Kontinuität erhalte
ich nicht, wenn ich diesen Bereich ständiger Lohnkon-
kurrenz und ständigem Lohndruck aussetze. Darum ist
es für meine Fraktion auch nicht nachvollziehbar, dass
an einem der größten deutschen Flughäfen, in Frankfurt
am Main, die Beschäftigten nicht in eine landeseigene
Gesellschaft übernommen werden können, so wie es alle
Fraktionen des Hessischen Landtages wollten und die
Regierung Koch es den Beschäftigten noch zu Beginn
des Jahres versprochen hat, sondern nun die Dienstleis-
tung auf Betreiben des Innenministeriums ausgeschrie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20913
(A) (C)
(B) (D)
ben wird. Hier wird einseitig den Interessen der Airlines
nach Kostenreduzierung nachgeben.
Wir alle aber wissen, dass sich Lohndruck sowohl auf
die Fluktuationsrate als auch auf die Motivation und die
Qualität der Mitarbeiter negativ auswirkt. Sicherheit ist
nicht zum Billigtarif zu leisten und kann nicht alleine
unter Wirtschaftlichkeitsaspekten betrachtet werden.
Dies gilt sowohl für die Effektivität der Kontrollen als
auch für ihren Gegenstand.
Ich halte nichts davon – so wie gefordert –, die Rege-
lung jetzt auszusetzen im Vertrauen darauf, dass alsbald
entsprechende Techniken zum Aufspüren gefährlicher
Flüssigkeiten zur Verfügung stehen, zumal die Argu-
mentation in sich widersprüchlich ist. Entweder das Ri-
siko ist hinnehmbar – dann brauchen wir auch keine
neuen Apparate zu entwickeln, die neue Technikkosten
verursachen –, oder es ist nicht hinnehmbar – dann kann
es auch nicht akzeptiert werden, nur weil entsprechende
Techniken noch nicht zur Verfügung stehen. Deshalb
halte ich den eingeschlagenen Weg auch für sinnvoll, die
technische Entwicklung voranzutreiben, bis zum Jahre
2010 eine Überprüfung der Regelungen zu Flüssigkeiten
im Handgepäck vorzunehmen und dann zu entscheiden.
Darum ist der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt abzuleh-
nen.
Gisela Piltz (FDP): Flugzeuge sind keine Chemiela-
bors. Und nicht alles, was in Hollywood geht, klappt
auch in der Wirklichkeit. Wir alle kennen das aus
Actionfilmen: Der Schurke kippt einfach zwei kleine
Behälter mit Flüssigkeit zusammen, und schon gibt es
den großen Knall. Die Wirklichkeit – das haben Exper-
ten mehrfach bestätigt – sieht anders aus. Unter Labor-
bedingungen ist es natürlich möglich, hochexplosive und
sehr gefährliche Flüssigsprengstoffe herzustellen. Aber
Laborbedingungen heißt: ausreichend Zeit, gleichblei-
bende Temperaturen, aufwendige Apparaturen. Das alles
geht an Bord eines Flugzeugs nicht.
Zugleich gibt es Wissenschaftler, die davor warnen,
dass die geltenden Regelungen nur Scheinsicherheit ver-
sprechen. Schon 50 Milliliter bestimmter Flüssigspreng-
stoffe, die äußerlich die Konsistenz von Duschgel haben,
können erheblichen Schaden anrichten. Diese werden
durch die bestehenden Kontrollen gar nicht entdeckt.
Kurz und gar nicht gut heißt das: Die Regelung ist un-
geeignet auf der ganzen Linie. Größere Mengen an Flüs-
sigkeit – wir müssen uns ja auch einmal vergegenwärti-
gen, dass es hier nicht darum geht, dass die Reisenden
Fässer mit in die Passagierkabine nehmen, sondern eine
Literflasche – stellen keine größere Gefahr dar als die
heutzutage erlaubten Mengen. Und wirklich gefährliche
Stoffe werden so auch nicht herausgefiltert. Die Rege-
lung, wonach Flüssigkeiten im Handgepäck nur noch in
Behältern bis 100 Milliliter und in durchsichtigen Plas-
tikbeuteln mit nicht mehr als einem Liter Fassungsver-
mögen mitgeführt werden dürfen, ist daher völlig unver-
hältnismäßig. Sie führt nicht zu mehr Sicherheit, aber sie
schränkt Reisende stark ein. Das hat bereits im Septem-
ber 2007 das Europaparlament festgestellt –, in einer
Entschließung übrigens, die hier im Hause in den Aus-
schüssen auch auf Zustimmung der Koalitionsfraktionen
gestoßen ist.
Es ist mir daher völlig unverständlich, warum Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren von Union und
SPD, unseren Antrag ablehnen. Sie weigern sich anzuer-
kennen, was offensichtlich ist: Die Regelung bringt
nichts für mehr Sicherheit.
Warum Sie sich dagegen wehren, die Bundesregie-
rung mit dem klaren Auftrag nach Brüssel zu schicken,
diese unsinnige Regelung zu kippen und sich für verhält-
nismäßige Flugsicherheitsbestimmungen einzusetzen, ist
mit Logik nicht zu erklären. Ihre eigenen Vertreterinnen
und Vertreter in Brüssel und Straßburg sehen das anders.
Sie aber wollen die Reisenden auch weiterhin gängeln,
und das, obwohl Sie anerkennen, dass die Entschließung
des Europaparlaments zutreffend ist. Das ist nicht ver-
mittelbar. Das ist politische Taktiererei, die Sie keinem
Bürger erklären können.
Allein die Mengen an Parfüm, Shampoos oder Ge-
tränken, die seither an den Flughäfen vernichtet wurden,
summieren sich zu erheblichen Größenordnungen – und
erheblichen Werten, denn es handelt sich ja in der Regel
nicht um (Leitungs-)Wasser, sondern auch um teure
Wässerchen.
Die Bundesregierung hat diese Probleme stets ausge-
blendet. Trotz mehrfacher Nachfragen seitens der FDP-
Fraktion hat sie hier die gebotene Evaluation unterlas-
sen. Insofern ist es wenigstens erfreulich, dass die EU-
Kommission nunmehr genauere Daten erheben will, wie
sich die Regelungen auswirken, um die Beeinträchti-
gung der Reisenden besser bewerten zu können. Es ist
längst überfällig, diese Evaluation durchzuführen und
dann auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, da-
mit sich alle Bürgerinnen und Bürger ein Bild darüber
machen können, warum sie so gegängelt werden.
Ich nenne Ihnen einmal eine Zahl, die die Bundesre-
gierung nicht zur Kenntnis nehmen will: 15 bis 18 Ton-
nen Flüssigkeiten finden Sicherheitsbeamte allein am
Düsseldorfer Flughafen im Monatsdurchschnitt. 15 bis
18 Tonnen pro Monat, die in den großen Tonnen an den
Terminaleingängen verschwinden! 15 bis 18 Tonnen, das
sind – damit Sie es sich bildlich vorstellen können –
1 500 bis 1 800 Kästen Mineralwasser. Und das ist nur
der Flughafen Düsseldorf.
Die strikten Regeln zum Mitführen von Flüssigkeiten
im Handgepäck sollen nach Überlegungen der EU-Kom-
mission 2010 auslaufen. Bis dahin sollen andere Mög-
lichkeiten gefunden werden, um gefährliche Flüssigkei-
ten aufzuspüren. Wenngleich dies erst einmal eine gute
Nachricht ist, muss nach der aktuellen Diskussion in
Deutschland und Europa befürchtet werden, dass wir
vom Regen in die Traufe kommen. Die Diskussion über
die sogenannten Nacktscanner zeigt, dass eine schlechte
Regelung durch eine noch viel schlechtere ersetzt wer-
den könnte. Die EU-Kommission will bis 2010 eine ge-
naue Analyse betreiben, um Alternativen zu den Flug-
sicherheitsregeln im Hinblick auf Flüssigkeiten zu
finden. In einem Workshop hierzu wurden auch die so-
genannten Nacktscanner beraten. Auch wenn diese in
der aktuellen Verhandlungsrunde nicht berücksichtigt
20914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
werden sollen und die EU-Kommission von entspre-
chenden Plänen erst einmal Abstand genommen hat, wie
aus Brüssel zu hören war, sind sie noch lange nicht vom
Tisch.
So prescht nämlich die Bundesregierung mit diesem
Thema nun doch voran. Zuerst hieß es ja im Tonfall in-
brünstiger Ablehnung von Herrn Schäuble, man wolle
diesen „Unfug“ nicht mitmachen. Doch nun hat die Bun-
desregierung zugegeben: Die Nacktscanner sollen für
den Praxiseinsatz getestet werden. Die Bundesregierung
hat die Menschen in Deutschland getäuscht. Das muss
man hier einmal ganz klipp und klar festhalten.
Und wenn ich dann Sie, geschätzter Herr Kollege
Wiefelspütz, in der Tagesschau sehe, wo Sie letzten
Sonntag wiederum im Brustton der Überzeugung vorge-
tragen haben, dass Nacktscanner mit der Menschen-
würde unvereinbar sind, dann frage ich mich, ob Ihnen
schon einmal aufgefallen ist, dass Ihre Fraktion in der
Regierungskoalition ist. Aber das ist ja wohl die neue
Taktik der SPD: sich aufspielen als zähnefletschender
Tiger, der die Bürgerrechte verteidigt, und dann als Bett-
vorleger landen, wenn Herr Schäuble böse guckt. Beim
BKA-Gesetz haben Sie es ja gerade vorgemacht.
Ich empfehle der Bundesregierung übrigens einmal
einen Blick in die Unterlagen des Workshops zu Nackt-
scannern, der am 6. November in Brüssel stattgefunden
hat. Die Ergebnisse sind eindeutig: Nacktscanner, die die
Menschenwürde durch Unkenntlichmachung zum Bei-
spiel des Gesichts oder durch Überblendung des tatsäch-
lichen Körperumrisses mittels Modellen wenigstens an-
satzweise besser schützen sollen, taugen nichts. Daraus
wird klar: Wer auf Nacktscanner setzt, ist auf dem Holz-
weg. Daran werden auch Tests nichts ändern, zumal Sie
doch niemandem vormachen können, dass die Bundes-
polizei neuerdings Grundlagenforschung betreibt. Das
sind Praxistests. Das ist die Vorbereitung zum tatsächli-
chen Einsatz am lebenden Objekt, am Reisenden an
deutschen Flughäfen.
Sicherheit im Flugverkehr ist von größter Bedeutung.
Aber Maßnahmen, die gegen Art. 1 unseres Grundgeset-
zes, gegen die unantastbare Würde des Menschen ver-
stoßen, können und dürfen dazu nicht zur Debatte ste-
hen. Ich fordere die Bundesregierung auf, jegliche Tests
an Nacktscannern umgehend einzustellen. Vielmehr
muss verstärkt daran geforscht werden, gefährliche von
nicht gefährlichen Flüssigkeiten unterscheiden zu kön-
nen. Nicht Menschen müssen durch die Scanner ge-
schleust werden, sondern die Flüssigkeiten, die analy-
siert werden sollen. Das wäre eine sinnvolle, effektive
und verhältnismäßige Maßnahme.
Ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle
nochmals nachdrücklich auf: Setzen Sie sich in Brüssel
dafür ein, dass die Flugsicherheitsregelungen gründlich
geprüft und unverhältnismäßige Regelungen wie die zu
Flüssigkeiten im Handgepäck schnellstmöglich abge-
schafft werden!
Jan Korte (DIE LINKE): Der Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union
greift seit einigen Jahren Raum in den Debatten des
Deutschen Bundestages – zu Recht; denn nicht nur im
Kampf gegen den sogenannten internationalen Terroris-
mus wird eine Vielzahl sicherheitspolitischer Maßnah-
men auch durch die europäische Ebene beeinflusst.
Hierzu gehören zwangsläufig auch die Sicherheit auf
europäischen Flughäfen und Sicherheitsbestimmungen
im internationalen Luftverkehr. Entsprechende Maßnah-
men sollen den Bürgerinnen und Bürgern Schutz bieten,
beispielsweise vor terroristischen Anschlägen.
Vor diesem Hintergrund beschloss die Europäische
Kommission eine Verordnung (EG) Nr. 1546/2006 zur
Änderung der Verordnung (EG) Nr. 622/2003 zur Festle-
gung von Maßnahmen für die Durchführung der gemein-
samen grundlegenden Normen für die Luftsicherheit. Im
Klartext geht es hierbei um das Mitführen von Flüssig-
keiten in Flugzeugen. Hiernach dürfen Behältnisse, die
mehr als 100 Milliliter Füllmenge haben, nicht mehr im
Handgepäck mitgeführt werden. Was am Anfang eine
durchaus vernünftige Überlegung war, entpuppte sich in
der Praxis als vollkommen bürgerunfreundlich. Dies
wird auch in dem von der FDP-Fraktion vorgelegte An-
trag festgestellt.
Dieser Feststellung möchte sich die Fraktion Die
Linke anschließen. Viele Flugreisende haben es in den
vergangenen Jahren miterleben müssen: Im Flughafen-
shop gekaufte Geschenke für die Daheimgebliebenen
mussten an den Kontrollpunkten zurückgelassen wer-
den, ebenso wie Parfümflakons, Kosmetika und Ähnli-
ches. Dieser Umstand hat nicht nur Bürgerinnen und
Bürger verärgert. Auch der Nutzen und die Verhältnis-
mäßigkeit dieser Maßnahme sind fraglich. Auch, so
wurde in einer Sachverständigenanhörung im Europäi-
schen Parlament deutlich, ist der Gewinn an Sicherheit
durch diese Verordnung nur schwer nachweisbar, unter
anderem auch deshalb, weil die hierfür notwendigen
Kontrollen an Flughäfen innerhalb der EU Lücken auf-
wiesen.
Bei verschiedenen Stichproben der Kontrollen an
deutschen Flughäfen wurde deutlich, dass durch die zu-
nehmende Privatisierung der Gepäckkontrollen und
durch den damit verbundenen Lohn-, Zeit- und Abferti-
gungsdruck massive Sicherheitslücken entstehen. Die
Linke forderte vor diesem Hintergrund in einem Antrag
die Re-Verstaatlichung der Gepäckkontrollen an Flughä-
fen bzw. die Einführung eines Mindestlohns für Be-
schäftigte in diesem Sicherheitssegment und deren bes-
sere Ausbildung. Zusätzlich werden die erheblichen
Mehrkosten zur Kontrolle von im Handgepäck mitge-
führten Flüssigkeiten nun durch die damit beauftragten
Unternehmen an die Beschäftigten weitergegeben. Die-
ser Zustand ist unzumutbar und sicherheitspolitisch äu-
ßerst bedenklich.
Bereits am 5. September 2007 hat das Europäische
Parlament die EU-Kommission aufgefordert, die ent-
sprechende Verordnung einer Prüfung zu unterziehen
und gegebenenfalls außer Kraft zu setzen. Dieses Ansin-
nen teilt die Fraktion Die Linke. Wir sind darüber hi-
naus, wie auch die FDP-Fraktion, der Meinung, dass mit
der angesprochenen Maßnahme der Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit nicht gegeben ist. Vor diesem Hinter-
grund teilt meine Fraktion das Ansinnen der Liberalen,
die Verordnung (EG) 1546/2006 aufzuheben oder zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20915
(A) (C)
(B) (D)
mindest einen Lastenausgleich für die entstehenden Kos-
ten einzuführen. Die Sicherheit der Flugreisenden kann
nicht auf Kosten der Beschäftigten und der Flugreisen
selbst gewährleistet werden.
Eine Evaluierung der Kommissionsverordnung wäre
aus unserer Sicht jedoch nur ein erster Schritt. Zahlrei-
che sicherheitspolitische Maßnahmen der vergangenen
Jahre – auch auf europäischer Ebene – sollten dringend
evaluiert und nach ihrem Nutzen und dem Prinzip der
Wahrung der Verhältnismäßigkeit überprüft werden.
Hierunter ließe sich beispielsweise die Einführung bio-
metrischer Merkmale in Reisepässen und Personalaus-
weisen subsumieren oder das umstrittene Fluggastdaten-
abkommen mit den USA. Wir fordern in Deutschland
und in der Europäischen Union einen breiten und inten-
siven Diskurs über die europäische Sicherheitsarchitek-
tur. Die verloren gegangene Balance zwischen Freiheit
und Sicherheit muss dabei im Mittelpunkt der Auseinan-
dersetzungen stehen. Sicherheit gewinnt man nicht da-
durch, dass man Freiheiten abbaut. Deshalb stimmt die
Fraktion Die Linke auch dem heute vorliegenden Antrag
der FDP-Fraktion zu.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Seit seiner Einführung wird das Verbot, Flüssigkeiten
mit an Bord eines Flugzeugs zu nehmen, heftigst kriti-
siert. Und das völlig zu Recht. Das sei hier gleich zu An-
fang gesagt.
Eingeführt wurden die Regeln, nachdem in London
Terroristen festgenommen worden waren, die mehrere
Flugzeuge sprengen wollten. Dazu wollten sie – so nahm
man das an – aus Flüssigkeiten selbst gemischten
Sprengstoff verwenden. Die Zutaten für diesen Spreng-
stoff hatten sie wohl, getarnt als Getränke und anderes,
an Bord geschmuggelt. Natürlich herrschte – und das ist
auch ganz richtig so – direkt nach den Festnahmen aller-
seits höchste Besorgnis, und die Sicherheitsmaßnahmen
wurden drastisch verschärft. Unter anderem wurde auch
die Mitnahme von Flüssigkeiten an Bord untersagt.
Schon kurz danach kamen aber die Zweifel. Erstens
war die Gruppe wohl doch nicht so kurz vor der Durch-
führung des geplanten Massenmordes, wie man erst
meinte und sagte. Zweitens bezweifelten viele Experten,
dass man aus verschiedenen Flüssigkeiten eine Bombe
hätte an Bord zusammenbrauen können, schon gar nicht
ohne sofort dabei aufzufallen. „Zahnpasta zu Brandbom-
ben“ ist wohl doch nicht so einfach.
Im ersten Moment war es völlig richtig, zu sagen: Es
gab den Anschlagsplan, es gibt eine neue, noch nicht
ganz geklärte Form des Attentats; jetzt müssen wir erst
einmal ganz sicher gehen. Das zu sagen war richtig.
Auch nachdem klar war, dass es mit dem Mischen von
Sprengstoffen wohl doch nicht so einfach ist, ist die EU
ist dabei geblieben und hat massive Beschränkungen bei
der Flüssigkeitsmitnahme eingeführt. Wie genau die aus-
sehen, ist nicht so recht festzustellen. Zwar ist die ent-
sprechende Verordnung öffentlich einsehbar. Aber der
Anhang eben nicht. In dem erst steht, was genau verbo-
ten ist. Transparent ist das nicht. Und erklären, warum
das geheim sein muss, kann auch keiner so recht.
Was wäre denn dabei zu sagen, man kann aus ver-
schiedenen Flüssigkeiten einen Sprengstoff mischen, da-
für braucht man aber mindestens mittlere Mengen, also
ist die Mitnahme von soundso viel Millilitern erlaubt,
mehr geht leider nicht? Und damit das analysiert werden
kann, müssen sie separat vom Handgepäck getragen
werden. Stattdessen weiß man nur, dass irgendeine Ge-
fahr von Flüssigkeiten ausgeht und deshalb irgendwie
ihre Mitnahme reglementiert ist. Denn was genau geht
und was nicht, das wird doch an jedem Flughafen anders
gehandhabt. Mal wird ganz streng geprüft, mal genauer
hingesehen und manches erlaubt. Im Zweifel aber heißt
es: Ab auf den Müllhaufen! Wer fliegt, muss schon mal
einplanen, am Zielort neues Shampoo zu kaufen, ein
neues Feuerzeug und neue Zahnpasta. Und Wein bringt
man als Gastgeschenk besser auch nicht mit, denn auch
der landet in der Tonne.
Viel Logik ist auch nicht im Spiel, und das macht es
besonders ärgerlich. Eine fast leere 200-Milliliter-Fla-
sche geht nicht; denn das sind per Definition mehr als
100 Milliliter. Fliegt man von Tegel nach London ab,
heißt es: Zwei Feuerzeuge sind okay. Auf dem Rückweg
ist die Ansage: Feuerzeuge gehen gar nicht. Was flüssig
ist, muss in einen wiederverschließbaren Plastikbeutel.
Warum? Man sieht Flüssigkeitsbehälter doch auch beim
Scannen des Handgepäcks. Manche Flughäfen bestehen
sogar auf der Wiederverschließbarkeit, als wäre es nicht
Sache der Fluggäste, ob sie ihren Beutel von Hand zu-
halten wollen. Oder entsteht die Sicherheit durch den
Reißverschluss?
So absurd sind diese Regelungen leider. Änderung,
gleichmäßige Handhabung, Überprüfung, alles nicht
wirklich in Sicht, und das, obwohl die EU-Verordnung
genau das vorsieht. Aber Schäubles Motto „Im Zweifel
für das Verbot“ hat wohl auch in Brüssel seine Anhän-
ger.
Für mich ist klar: Ohne eine nachvollziehbare Erklä-
rung und ohne einheitliche Handhabung gehören diese
Regelungen dahin, wo Tausende von Shampoos, Dusch-
gels und Getränken an europäischen Terminals schon ge-
sammelt werden: in die Tonne.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Europäi-
sche Nachbarschaftspolitik zur Förderung
von Frieden und Stabilität im Südkaukasus
nutzen
– Beschlussempfehlung und Bericht: Freiheit
und Demokratie im Südkaukasus – Für freie
und faire Wahlen 2008
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Als wir diesen An-
trag in den Deutschen Bundestag einbrachten, war noch
nicht abzusehen, welche dramatische Entwicklung – mit
ausgeprägten weltpolitischen Konsequenzen – der Süd-
20916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
kaukasus nehmen würde. Die Realität lieferte einen trau-
rigen Beleg, weshalb die ursprüngliche Intention, diese
Region verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrneh-
mung zu rücken, absolut legitim war. Ich denke, ich
kann für alle in diesem Hause sprechen, wenn ich sage,
dass wir auf diese Entwicklung sehr gerne verzichtet
hätte. Erlauben Sie mir hierzu noch eine rückblickende
Bemerkung.
Es war zu Anfang dieses Jahres wirklich nicht abzu-
sehen, dass einer der Frozen Conflicts so schnell heiß
werden könnte. Bei all dem Lob, mit dem das Krisenma-
nagement der EU im Allgemeinen und die französische
Ratspräsidentschaft im Speziellen überhäuft wurde,
müssen wir uns bewusst machen, dass der Fünftagekrieg
in Georgien eine manifeste Krise des Systems kooperati-
ver Sicherheit in Europa widerspiegelt. Noch immer.
Und es wird wahrscheinlich noch einige Zeit benötigen,
bis diese Situation überwunden sein wird.
Selbstverständlich sind einige positive Punkte des
Krisenmanagements zu vermerken. Zuallererst ist zu er-
wähnen: Die EU hat sich durch ihre Vermittlung als
„Mitspieler“ im Georgien-Konflikt etabliert. Festzustel-
len ist aber auch, dass gerade zu Beginn des Krieges
wertvolle Zeit verloren ging. Daher muss ein Fazit dieser
Krise für uns in der EU sein: Wir brauchen ein konsis-
tentes, effizientes und schnelleres Handeln in der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP. Es
zeigte sich auch, dass in dieser Situation viele der neuen
Mitgliedstaaten sich nicht ernst genommen fühlen. Um
das Ziel einer möglichst erfolgreichen GASP aber nicht
aus den Augen zu verlieren, darf das nicht sein. Gerade
Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich müssen
daher einen substanziellen Beitrag für das Funktionieren
der GASP liefern. Das wird gerade im Hinblick auf die
Anstrengungen zur Lösung der vielfältigen Probleme der
kaukasischen Region von fundamentaler Bedeutung sein.
Denn das Ziel aus unserer Perspektive muss es sein,
den Südkaukasus enger an die EU zu binden. Das liegt
nicht nur an der immer wichtiger werdenden energie-
politischen Bedeutung für Europa. Der Südkaukasus ist
ein integraler Baustein in der Strategie, unsere Energielie-
feranten zu diversifizieren, aber auch gleichzeitig Bezugs-
quelle und Transportweg für Energie. Deshalb begrüßt die
FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich die Initiative der
Union hinsichtlich der „Östlichen Partnerschaft“.
Selbstverständlich muss eine engere Anbindung aber
weiterhin an klare Bedingungen geknüpft werden, und
ich komme damit zu der noch viel wichtigeren Dimen-
sion des Südkaukasus, der politischen.
Den Regierungen Georgiens, Armeniens und Aser-
baidschans muss stets klargemacht werden, das Demo-
kratiedefizite die politische Stabilität unterminieren.
Hier haben die regierenden Herren noch einen weiten
Weg vor sich. Die demokratische Entwicklung, die lang-
fristige Umsetzung von rechtsstaatlichen Reformen sind
grundlegende Voraussetzung für eine nähere Anbindung
an die EU. Ohne Erfüllung dieser Bedingungen wird die
Stabilität des Südkaukasus weiterhin bestenfalls fragil
bleiben. Hinsichtlich eines möglichen NATO-Beitritts
Georgiens unterstützt die FDP deshalb ausdrücklich die
Position der Bundesregierung.
Stabilität und Sicherheit im Kaukasus ist ohne einer
konstruktive Mitarbeit Russlands jedoch nicht zu reali-
sieren. Daher sollte die eskalierende Rhetorik auf beiden
Seiten der Vergangenheit angehören. Aber Russland
muss den Verpflichtungen, die sich aus dem Sechspunk-
teplan ergeben ebenso bedingungslos nachkommen und
erfüllen. Dies schließt die Achtung der territorialen Inte-
grität Georgiens explizit ein. Und es schließt ganz gene-
rell ein, dass Russland endlich nicht nur de iure, sondern
de facto akzeptieren muss, dass es sich bei allen
allgemein völkerrechtlich anerkannten Staaten auf dem
Territorium der ehemaligen UdSSR um rechtlich und tat-
sächlich selbstständige Staaten handelt, deren Stabilität
Moskau nicht länger untergraben darf. Das umfasst die
Frozen Conflicts ebenso wie die Krim als Teil der
Ukraine und die Baltischen Staaten. Es war ein grober
Fehler Russlands, Südossetien und Abchasien anzuer-
kennen. Dieser Fehler sollte unverzüglich korrigiert wer-
den, damit der multilaterale europäische Sicherheitsdia-
log substanziell wiederbelebt werden kann.
Als geeignetes zwischenstaatliches Forum kann sich
dafür durchaus die OSZE erweisen, da alle beteiligten
Akteure in dieser Institution gleichberechtigt integriert
sind. Auf der Ebene der nichtstaatlichen Akteure halten
wir die Aktivitäten der deutschen Politischen Stiftungen
beim Südkaukasus, namentlich der Friedrich-Naumann-
Stiftung, für unverzichtbar. Denn die Stiftungen können
Dialog zwischen Akteuren vermitteln, die auf staatlicher
Ebene gegenwärtig nicht gesprächsfähig sind.
Russland sollte seitens der EU immer wieder deutlich
gemacht werden, dass wir von Moskau konstruktiven
Dialog und Kooperation erwarten. Wie sehr Russland
hierauf angewiesen ist, zeigt sich auch und gerade in der
internationalen Finanzkrise. Doch Dialog und Koopera-
tion funktionieren nur zu klipp und klaren Bedingungen.
Dazu gehört Russlands Bereitschaft zu konstruktivem
Mittun im Südkaukasus – und kein russischer Rückfall
ins klassische Great Game im Geiste des frühen 20. Jahr-
hunderts.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Zulas-
sung von gentechnisch veränderten Organis-
men – Verflechtung zwischen den Behörden
und der Agro-Gentechnik-Industrie been-
den und wissenschaftliche Grundlagen ver-
bessern
– Beschlussempfehlung und Bericht: Gentech-
nikfreie Regionen stärken – Bundesregie-
rung soll Forderungen aus Bayern aufneh-
men und weiterentwickeln
(Tagesordnungspunkt 14 a und b)
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Die vorliegenden An-
träge wurden im Plenum bereits am 30. Mai und am
25. September dieses Jahres ausführlich behandelt. An
den Fakten hat sich seitdem nichts geändert. Dennoch
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20917
(A) (C)
(B) (D)
werde ich die Gelegenheit nutzen, grundlegende Aussa-
gen zu wiederholen.
Die von Bündnis 90/Die Grünen angeführte Studie als
Beleg für angebliche Verflechtungen ist eine Auftragsar-
beit von Frau Höfken an den ehemaligen Greenpeace-
Mitarbeiter Christoph Then, inhaltlich falsch und ge-
spickt mit längst widerlegten, falschen Behauptungen.
Zum Thema Verflechtungen. Der Bericht von Herrn
Then wurde von den Greenpeace-Anwälten in ihrer Kla-
geschrift gegen MON 810 als Beweismittel aufgeführt,
lange bevor er überhaupt veröffentlicht wurde. In dem
Antrag behaupten Sie, GVO, die ins Freiland ausge-
bracht werden, können sich weiter vermehren oder aus-
kreuzen. Dies ist schon Gegenstand der jeweiligen
Zulassungsprüfung bei jedem einzelnen GVO. In
Deutschland wird nur MON-810-Mais kommerziell an-
gebaut, welcher in unserer freien Natur überhaupt keinen
Kreuzungspartner hat. Er kann sich gar nicht auskreu-
zen. – Im nächsten Satz behaupten Sie, GVO würden so-
genannte „Kontaminationen“ verursachen, die zu Schä-
den an Umwelt, Tieren oder menschlicher Gesundheit
führen. Bis heute – und auch das ist Ihnen bestens be-
kannt – gibt es keine einzige wissenschaftliche Studie,
die irgendeine negative Auswirkung auf Mensch, Tier
oder Umwelt nachgewiesen hätte. – Und so ließe sich Ihr
Antrag Satz für Satz widerlegen.
Die Zusammenarbeit mit forschender Industrie ist im-
mer wieder Gegenstand von Kritik im Sinne von uner-
laubter Einflussnahme. Dazu ist festzustellen, dass der
überwiegende Teil innovativer Forschungsergebnisse
generell aus dem Bereich der industriellen Forschung
kommt. Forschende Firmen investieren erhebliche Mit-
tel aus ihren Gewinnen für zukunftsweisende Innovatio-
nen. Dies ist aus volkswirtschaftlicher Sicht ausdrück-
lich zu begrüßen. Es ist sinnvoll und notwendig, einen
wissenschaftlichen Dialog zwischen staatlichen Stellen,
Universitäten und industriellen Forschungseinrichtungen
zu führen. Hierdurch ergeben sich auch Synergieeffekte.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass dabei Neutralität
und Objektivität voll gewahrt bleiben müssen. Aus-
drücklich sei festgestellt, dass wir keinerlei Verflechtun-
gen wollen. Aber Unterstellungen von Verflechtungen,
die in keiner Weise bewiesen sind, weisen wir in aller
Entschiedenheit als unredlich zurück.
Neue, zukunftsweisende Innovationen müssen sach-
gerecht und kompetent beurteilt werden. Dafür muss
eine unabhängige Risikoabwägung und -bewertung auf
allen Stufen durch die zuständigen wissenschaftlichen
Institute vorgenommen werden. Äußerst bedenklich, ja
ein Alarmzeichen ist es, wenn wissenschaftliche Insti-
tute laufende, bereits genehmigte Versuche ihrer For-
scher wegen öffentlichen Drucks einstellen. Derartige
Einschränkungen der wissenschaftlichen Freiheit sind
nicht hinnehmbar und für den Wissenschaftsstandort
Deutschland extrem schädlich. Ich halte fest: Die Nut-
zung aller wissenschaftlichen Ressourcen ist die Grund-
lage für den hohen wissenschaftlichen und technologi-
schen Standard in unserem Land.
Mit dem zweiten heute zu behandelnden Antrag
wurde wenige Tage vor der bayerischen Landtagswahl
schon einmal Stimmung gegen die CSU gemacht. Ich
sage aber ganz deutlich: Die Ablehnung der Grünen
Gentechnik durch Teile der Bevölkerung wird von uns
nicht ignoriert. Wenn Landwirte auf den Anbau von
GVO verzichten möchten, ist das zu respektieren,
ebenso die Wahlfreiheit für den Verbraucher. Auf einem
anderen Blatt steht aber die Frage der gentechnikfreien
Regionen. Zunächst ist natürlich zu klären, ob eine
Schaffung solcher Regionen rechtlich überhaupt mög-
lich ist. Die Prüfung auf nationaler und europäischer
Ebene ist von uns längst gefordert. Ich schlage vor, die
Ergebnisse abzuwarten, die hoffentlich bald verfügbar
sind.
Wir nehmen die Sorgen der Menschen wegen der
Gentechnik sehr ernst. Deshalb gilt es, die Menschen
über neue Technologien objektiv und sachgerecht zu in-
formieren und Ihnen die wissenschaftlichen Erkennt-
nisse zugänglich zu machen. Noch einmal: Die Sicher-
heit von Mensch, Tier und Umwelt ist das oberste Gebot.
Aus diesem Grund ist auch eine unabhängige staatliche
Sicherheitsforschung so wichtig. Diese müssen wir wei-
ter intensivieren. Wir dürfen uns bei diesen wichtigen
Fragen nicht vom Wissensstand anderer abhängig ma-
chen. Aber es gibt keinerlei Anzeichen für irgendeine
Gefährdung oder Folgewirkung aus dem Anbau oder der
Verwertung zugelassener gentechnisch veränderter
Pflanzen. Es sind derzeit die am besten erforschten
Pflanzen überhaupt.
Wir können moderne Technologien mit großem Fort-
schrittspotenzial doch nicht verurteilen, bevor wir nicht
Chancen und Risiken sauber abgewogen haben. Bei der
Roten Biotechnologie ist dies vor Jahren geschehen –
und heute nutzen wir diese Technologie mit großer
Selbstverständlichkeit, täglich, praktisch jeder von uns.
Medikamente, Vitaminpräparate etc. – der überwiegende
Teil dieser pharmazeutischen Produkte wird mithilfe der
Gentechnik erzeugt. Aber führend ist Deutschland hier
schon lange nicht mehr.
Wenn wir bei der Grünen Gentechnik die gleichen
Fehler machen, weiter so verfahren wie bisher, werden
wir auch auf diesem Sektor für Jahre den Anschluss ver-
lieren. Beide Anträge lehnen wir deshalb ab.
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Die beiden Anträge
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beziehen sich auf
die heute und morgen in Brüssel stattfindende Debatte
über Verbesserungen bei Zulassungen und Anbau gen-
technisch veränderter Pflanzen. Auch wenn wir insge-
samt die Anträge nicht unterstützen können, zum Bei-
spiel weil wir eine Einstellung der Förderung für
Grundlagenforschung mit GVO-Pflanzen ablehnen: Ei-
nige der Forderungen decken sich mit denen, die auch
wir als SPD an die Überarbeitung des EU-Gentechnik-
rechts stellen. Und nicht allein von uns, auch von der
CSU sind sie erhoben worden. Wir hatten deshalb bereits
im Juni unseren Antragsentwurf „Für eine nachhaltige
Weiterentwicklung des europäischen Gentechnikrechts“
vorgelegt, mit dem wir erreichen wollten, dass die Bun-
desregierung sich auf EU-Ebene für die Verbindlichkeit
für gentechnikfreie Regionen und die Möglichkeit ein-
20918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
setzt, dass Länder und Regionen künftig selbst über den
gewerblichen Anbau von gentechnisch veränderten
Pflanzen oder die Forschung entscheiden können. Der
Einsatz für die gentechnikfreien Regionen war eines der
Themen, mit denen die CSU ihren Landtagswahlkampf
bestritten hatte. Weitere Forderungen der CSU, die wir
in unseren Antragsentwurf aufgenommen haben, waren
zum Beispiel: mehr Transparenz und Demokratie bei
den Zulassungsentscheidungen und eine stärkere Be-
rücksichtigung auch von kritischen Stellungnahmen so-
wie die Berücksichtigung sozioökonomischer Auswir-
kungen. Hierzu nenne ich ein Beispiel, nämlich die
Studie des Freistaates Sachsen – Sächsische Landesan-
stalt für Landwirtschaft – zu Konsequenzen des Anbaus
von GVO in Sachsen. Dort wurde in den Jahren 2006
und 2007 ein Maiszünslermonitoring durchgeführt, mit
dem Ergebnis, dass der GVO-Maisanbau – mit Mais-
zünslerresistenz – nicht wirtschaftlich war. Der Mehr-
aufwand von 60 Euro pro Hektar für den GVO-Mais sei
erst dann ökonomisch lohnend, wenn zum Beispiel bei
Silomais ein Mehrertrag eintritt. Es habe sich aber kein
linearer Zusammenhang zwischen Maiszünslerbefall
und Ertragsminderung ergeben. Eine ökonomische Be-
wertung würde in diesem Fall also den fehlenden Nutzen
des Bt-Maises offenbaren. Auch deshalb müssen nach
unserer Ansicht im Rahmen des Zulassungsverfahrens
wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgekosten in die
Bewertung einfließen.
Wir haben in unserem Antragsentwurf ein Anbauver-
bot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wie Raps gefor-
dert und die Kennzeichnung von GVO-haltigem Saatgut
ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent. Auch dies wa-
ren im Landtagswahlkampf in Bayern Forderungen der
CSU. Wir haben unseren Antrag nicht einbringen kön-
nen; denn CDU und CSU haben die Verhandlungen über
unseren Entwurf verweigert. Sie werden verstehen, dass
uns dies empört hat: In Bayern mit solchen Forderungen
Landtagswahlkampf zu machen und sich in Berlin zu
weigern, gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD da-
für einzutreten, das ist ein Vorgehen, welches das Anse-
hen der Politik und der Politiker schädigt, unser aller
Glaubwürdigkeit untergräbt und bei den Menschen zu
Verdruss und Frust führt. Vielleicht werden wir ja in den
nächsten Stunden bei den Verhandlungen in Brüssel er-
kennen können, dass Deutschland sich dennoch für ei-
nige dieser Forderungen einsetzt. Wir jedenfalls werden
nicht lockerlassen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Grüne
Gentechnik ist weltweit eine Erfolgsgeschichte. Mit ihr
ist es in einigen großen Schwellenländern gelungen, die
Armut in den ländlichen Regionen deutlich zu mindern,
die Ernährung für die Bevölkerung zu sichern. Zehn
Jahre nach dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom ha-
ben Länder in Südamerika und Asien große Fortschritte
in der Sicherung der Ernährung ihrer Bevölkerung erzie-
len können. Das sind in der Mehrzahl Länder, die auch
auf den Anbau von gentechnisch verbesserten Pflanzen
wie Soja, Mais und Baumwolle gesetzt haben.
Die Ernährungssituation in Zentral- und Ostafrika hat
sich dagegen verschlechtert; dort lebt jetzt die Hälfte der
hungernden Menschen. Folgerichtig hat der Chef der
Konvention der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der
Wüstenbildung, UNCCD, Luc Gnacadja, in der Okto-
bersitzung des Agrarausschusses mehr Forschung, eine
Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion und die Ent-
wicklung gentechnisch veränderter Pflanzen für von
Wüstenbildung bedrohte Regionen gefordert. Entwick-
lungsländer fordern eine zweite grüne Revolution.
In Deutschland hat die Grüne Gentechnik Akzeptanz-
probleme. Politiker wie der jetzige bayerische Minister-
präsident, der abfällig das Amt des Agrarministers als
Bananenminister bezeichnet hat, haben ihren Anteil da-
ran. Eine solche Politik ist kurzsichtig; denn diese Züch-
tungsmethode wird sich auch bei uns durchsetzen, so
wie sich die Weiße und die Rote Gentechnik bei uns
durchgesetzt haben – entgegen der Meinung der Skepti-
ker. Sie ist gegenüber den ärmsten Menschen in Ent-
wicklungsländern, die unsere Hilfe brauchen, unverant-
wortlich. Die beste Hilfe ist die, die dazu beiträgt, dass
die Menschen von weiteren Hilfsmaßnahmen unabhän-
gig werden. Dazu gehören Unterstützung bei der agrari-
schen Entwicklung durch Verbesserung der Ausbildung
der Menschen, Weiterentwicklung der Agrartechnik und
auch die Züchtung gentechnisch verbesserter Sorten, wie
dies vom UNCCD-Chef gefordert wird.
Die Einführung des Anbaus von Bt-Baumwolle in In-
dien hat innerhalb von sechs Jahren zu einer 80-prozenti-
gen Steigerung der Erträge geführt, zu einer Steigerung
der Einkommen um 50 Prozent, zu einer Minderung des
Pflanzenschutzmitteleinsatzes um 40 Prozent. Die von
verschiedenen Organisationen erhobenen Vorwürfe, die
Rate der Selbsttötungen unter indischen Bauern sei an-
gestiegen, wurde widerlegt. Dies zeigt eine kürzlich ver-
öffentlichte Studie des International Food Policy Re-
search Institute, IFPRI. Es wird deutlich, dass die
Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren. Sie hatten allein
das Ziel, Argumente gegen die Grüne Gentechnik zu su-
chen, den Mitleidseffekt der Menschen für eine ideolo-
gisch begründete Position zur Grünen Gentechnik zu
nutzen. Das Leben der Bauern war für diese Menschen
nicht von Interesse; das ist beschämend.
Angesichts der Erfolge der Grünen Gentechnik setzt
Bündnis 90/Die Grünen alles daran, das Vertrauen in die
Wissenschaftler, die solche Pflanzen züchten, die die Zu-
lassungen bearbeiten, zu schwächen, Misstrauen zu
säen. Dieses pauschale Misstrauen ist nicht gerechtfer-
tigt.
Wir als FDP wollen Transparenz und die Offenlegung
von Interessenskonflikten, aber keine pauschalen Diffa-
mierungen. Die Grünen sind offensichtlich nicht bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass die Züchtungsmethode
sich weltweit durchsetzt, die Erfahrung sowie die zahl-
reichen Arbeiten seriöser Wissenschaftler, zum Beispiel
veröffentlicht auf www.biosicherheit.de, zeigen, dass
diese Sorten Vorteile haben und sicher sind. Wir als FDP
wollen, dass die Entscheidung über die Zulassung neuer
Sorten, gentechnisch oder herkömmlich gezüchtet, allein
auf wissenschaftlicher Basis erfolgt. Nur so wird die Na-
tur geschützt, werden die Rechte der Verbraucherinnen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20919
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und Verbraucher auf sichere Lebensmittel gewahrt, ha-
ben die Züchter Rechtssicherheit.
Jeder würde es als Ungeheuerlichkeit empfinden,
wenn einem Autobauer, der ein den rechtlichen
Vorschriften entsprechendes Fahrzeug produziert, die
Zulassung einfach mal so verweigert würde. Dies wäre
Willkür. Was bei Autos Willkür ist, ist auch bei Pflan-
zensorten Willkür. Wir wollen das nicht.
Der vor kurzem von österreichischen Wissenschaft-
lern vorgelegte Mehrgenerationen-Mäuseversuch ist
nicht geeignet, die Sicherheit zugelassener gentechnisch
veränderter Sorten in Zweifel zu ziehen. Die zehnfach
höhere Belastung des GVO-Futters mit Schimmelpilzen,
die zu einer fünffach erhöhten Belastung mit Pilzgiften
führte, zusammen mit der sechsfach erhöhten mikrobiel-
len Belastung gegenüber dem nichttransgenen Futter
wirft die Frage auf, worauf die im Fütterungsversuch ge-
zeigten Unterschiede zurückzuführen sind. Das gefun-
dene Pilzgift Deoxynivalenol verursacht bei Nutztieren
eine Wachstumsverzögerung und schwächt das Immun-
system. Es ist ungeklärt, warum trotz dieser Unter-
schiede des Futters der Versuch durchgeführt wurde.
Die von Bündnis 90/Die Grünen geforderte Über-
nahme einer bayerischen Initiative zur hoheitlichen Aus-
weisung von sogenannten gentechnikfreien Zonen lehnt
die FDP-Bundestagsfraktion ebenfalls ab. Der Europäi-
sche Gerichtshof ist in Europa für die bindende Ausle-
gung europäischen Rechts zuständig. Er hat sehr eindeu-
tig und inhaltlich nachvollziehbar entschieden, dass die
hoheitliche Ausweisung von sogenannten gentechnik-
freien Regionen nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die
Diskussion um die hoheitliche Ausweisung von soge-
nannten gentechnikfreien Regionen ist ein Kampfinstru-
ment gegen die Grüne Gentechnik, mehr nicht. In
Schleswig-Holstein haben die Grünen innerhalb eines
Jahres kaum über 10 000 Stimmen für ein „gentechnik-
freies Schleswig-Holstein“ sammeln können – bei einer
Bevölkerung von 2,8 Millionen Menschen. Das Thema
war bei uns erkennbar kein Renner.
Mit der hoheitlichen Ausweisung von sogenannten
gentechnikfreien Regionen würde den Landwirten die
Freiheit genommen, zu entscheiden, welche der in
Europa zugelassenen Sorten sie auf ihrem Land anbauen
dürfen. Das ist Bevormundung. Der freiwillige Zusam-
menschluss von Landwirten, auf den Anbau gentech-
nisch verbesserter Sorten verzichten zu wollen, ist eine
gesetzlich gegebene Möglichkeit, die wir unterstützen.
Die Entscheidungsfreiheit jedes Landwirts bleibt erhal-
ten. Wir brauchen in Deutschland mehr Freiheit und
mehr Fachlichkeit bei Entscheidungen statt Bevormun-
dung und politische Willkür.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Agrogen-
technik polarisiert. Dass gentechnisch veränderte Pflan-
zen ungeklärte Risiken bergen, ist kaum ernsthaft zu be-
streiten. Koexistenz, also das Nebeneinander von
gentechnikfreien und gentechnisch veränderten Pflan-
zen, ist auf Dauer unmöglich. Das besorgt viele Bürge-
rinnen und Bürger und muss ernst genommen werden.
Eine Möglichkeit, sich dieser Sorge entgegenzustem-
men, sind die vielen aktiven Bewegungen vor Ort. Es
gibt Widerstand nicht nur aus gentechnikfreien Kommu-
nen oder Kirchen, sondern auch durch die gentechnik-
freien Regionen. Das Netzwerk der Gentechnikfrei-Be-
wegung wird immer stärker und breiter: Bäuerinnen und
Bauern, Imkereien, Ärztinnen und Ärzte, Vertreterinnen
und Vertreter des Lebens- und Futtermittelhandels, von
Saatgut- und Verarbeitungsunternehmen, von Biover-
bänden, Bildungs- und Kultureinrichtungen, von Me-
dien, Politik, Verwaltung, Natur- und Umweltschutz, Or-
ganisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit und
Kirchen. Sie alle arbeiten zusammen, um den unschätz-
baren Wert der gentechnikfreien Landwirtschaft zu er-
halten und die Verunreinigungsgefahr, die von der Gen-
technikindustrie zumindest in Kauf genommen wird, zu
unterbinden.
Die öffentlichkeitswirksamen Erfolge der ersten bei-
den gentechnikfreien Regionen Warbel-Recknitz in
Mecklenburg-Vorpommern und Uckermark-Barnim in
Brandenburg waren Anfang 2004 die Initialzündung.
Viele Initiativen wurden anschließend aktiv und gründe-
ten gentechnikfreie Regionen. Deutschlandweit gibt es
nun 105 gentechnikfreie Regionen. Dort engagieren sich
über 22 000 Landwirtinnen und Landwirte. Das sind
über 770 000 Hektar gentechnikfreie landwirtschaftliche
Nutzfläche. Hört sich ziemlich stark an. Erst recht ver-
glichen mit den lediglich 3 200 Hektar, die in diesem
Jahr mit der gentechnisch veränderten Maislinie MON 810
bestellt worden sind. Tausende Aktive stehen sogar we-
niger werdenden Landwirtschaftsbetrieben gegenüber.
Doch der Schein trügt.
Wie so oft hängt die Aktivität jeder gentechnikfreien
Region vom Engagement Weniger ab. Bei uns in Bran-
denburg ist die gentechnikfreie Region Teltow-Fläming
so ein positives Beispiel. Doch auch hier sind der Motor
ein einziger Bauer und seine Frau. Die Linke fordert
bereits seit langem, dass die vielen gentechnikfreien Re-
gionen unterstützt werden, weil sie im Interesse der
übergroßen gentechnikskeptischen oder -ablehnenden
Mehrheit handeln. Wenn wir wollen, dass sich Regionen
selbstbestimmt und selbstermächtigt entscheiden kön-
nen, brauchen sie einerseits einen klaren rechtlichen Sta-
tus und andererseits eine finanzielle bzw. strukturelle
Unterstützung. Nur wenn die Koordination mehrerer
gentechnikfreier Regionen zum Beispiel über Landes-
mittel finanziert werden könnte – selbstverständlich mit
Ausschreibung für eine unabhängige Koordination –, ha-
ben die aktiven Landwirtinnen und Landwirte vor Ort
die Möglichkeit, mehr politisch und weniger organisato-
risch für ihre Interessen arbeiten zu können. Zivilcou-
rage und ehrenamtliches Engagement werden von der
Politik immer wieder gefordert. Hier könnten wir es un-
terstützen, ganz konkret.
Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Die SPD ist da-
für. Die CSU mehrheitlich auch. Die Grünen und wir
Linke sowieso. Aber eine Mehrheit kommt wohl trotz-
dem nicht zustande. Wieso, frage ich mich. Was befürch-
ten die Befürworter der Agrogentechnik eigentlich,
wenn sich die Menschen, die diese Risikotechnologie
kritisch bewerten, gegen sie schützen können? Warum
20920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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sollte die Politik an dieser Stelle bürgerschaftliches En-
gagement behindern anstatt es zu unterstützen? Oder ste-
cken doch wieder handfeste wirtschaftliche Interessen
dahinter, die aber nicht die Mehrheitsinteressen sind?
Wir haben drei konkrete Forderungen: Erstens. Die
Bundesregierung muss sich auf europäischer Ebene kon-
sequent für eine Möglichkeit einsetzen, rechtlich ver-
bindliche Beschlüsse zum GVO-Anbau in den Regionen
treffen zu können. Jede Region, jeder Kreis und jede
Kommune sollte selbst entscheiden können, ob sie sich
auf das Risiko Agrogentechnik einlassen will oder nicht.
Zweitens. Die Bundesregierung muss im Gentechnik-
gesetz bzw. in der zugehörigen Gentechnik-Pflanzener-
zeugungsverordnung verbindliche Abstandsgrenzen zu
gentechnikfreien Regionen festlegen, um wenigstens das
Verunreinigungsrisiko durch Pollenflug oder -verschlep-
pung durch den Wind, bei der Ernte oder beim Transport
zu vermeiden.
Drittens. Die Landesregierungen sollten die gentech-
nikfreien Initiativen und Regionen strukturell-finanziell
unterstützen. Noch bevor es auf europäischer Ebene zu
einer Entscheidung kommt, könnten die Bundesländer
aktiv werden. Denkbar wäre beispielsweise die Finan-
zierung einer unabhängigen Koordinierungsstelle.
In diesem Sinne stimmen wir dem Antrag der Grünen
zu.
Über den zweiten Antrag der Grünen, in welchem
Verflechtungen zwischen den Behörden und der Gen-
techindustrie beschrieben werden, wurde bereits mehr-
fach öffentlich debattiert. Die taz titelte dazu „Der deut-
sche Gentech-Filz“. Im Prinzip ist dazu nichts mehr zu
sagen. Es ist ernüchternd, dass solche Situationen über-
haupt möglich sind.
Jetzt ist Zeit zu handeln: Die Bundesregierung muss,
wie im Antrag gefordert, jede Verflechtung zwischen
den Behörden und Lobbyverbänden transparent machen.
Natürlich dürfen sich auch Behördenmitarbeiterinnen
und -mitarbeiter ehrenamtlich engagieren. Aber wenn
sie an einer solch zentralen Stelle beschäftigt sind, dann
sollte das zumindest öffentlich bekannt sein. Durch
Transparenz würde einiges Misstrauen von Gentechnik-
gegnerinnen und Gentechnikgegnern abgebaut werden.
Sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene brauchen
wir endlich ein wirklich transparentes, wirklich demo-
kratisches und unabhängiges Zulassungsverfahren für
gentechnisch veränderte Organismen (GVO). Solange es
so bleibt, wie es aktuell ist, nämlich das genaue Gegen-
teil davon, dürfen keine weiteren GVO zugelassen wer-
den.
Daher unterstützen wir die Forderung nach einem
Moratorium. Auch dieser Antrag findet unsere Zustim-
mung.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
wäre völlig verantwortungslos, die politischen Entschei-
dungen über die für unsere Gesellschaft folgenreiche
Einführung von Risikotechnologien wie der Gentechnik
auf vermeintlich „unabhängige“ Behörden und die Wis-
senschaft abzuschieben. Gerade im Fall der europäi-
schen Lebensmittelbehörde EFSA würde das wohl be-
deuten, den Bock zum Gärtner zu machen. Unsere
Studie „Kontrolle oder Kollaboration? Agrogentechnik
und die Rolle der Behörden“ zeigt, dass in Deutschland,
bis hin zur EFSA, eine enge Verflechtung zwischen Agro-
industrie und den Behörden herrscht, die die risikorei-
chen Produkte der Agrogentechnik bewerten und zulas-
sen. Gleichzeitig ist die unabhängige Forschung
finanziell ausgeblutet worden und völlig an den Rand
gedrängt. Die Verantwortung muss in den Händen der
demokratisch gewählten Ebenen bleiben und die Unab-
hängigkeit der Behörden, die Grundlagen zur Entschei-
dungsfindung liefern sollen, erst einmal hergestellt wer-
den.
Heute will der EU-Umweltministerrat eine Entschei-
dung über eine gemeinsame und richtungsweisende Er-
klärung zur Zulassung von gentechnisch veränderten Or-
ganismen treffen – trotz aller Blockadebemühungen der
Bundesregierung. Die Umweltminister wollen sich für
die Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren, ver-
besserte Risikoforschung, eine stärkere Prüfung von
Umweltbelangen sowie eine Stärkung der gentechnik-
freien Regionen einsetzen. Sie fordern die Europäische
Kommission sowie die Mitgliedstaaten auf, entspre-
chende Maßnahmen einzuleiten. Die Bundesregierung
hat in den letzten Tagen mit Prüfvorbehalten bezüglich
einzelner Formulierungen den Entscheidungsprozess
blockiert. Ministerin Aigner zielt offenbar auf eine Ver-
hinderung jeder Verbesserung der Risikobewertung und
die Stärkung gentechnikfreier Regionen. Das ist genau
das Gegenteil von dem, was die CSU im Bayernwahl-
kampf versprochen hat.
Noch ist nicht klar, wie die Entscheidung ausfällt. Wir
jedenfalls unterstützen die Forderungen des EU-Um-
weltkommissars Dimas und unserer Nachbarländer Ös-
terreich und Frankreich, damit es endlich zu einer Ver-
besserung der Risikoforschung beim Einsatz der
Agrogentechnik kommt. Es reicht nicht, wenn politi-
schen Entscheidungsträgern und Verbraucherinnen und
Verbrauchern von EFSA und nationalen Behörden ge-
sagt wird, es gebe keine Risiken, wenn gar nicht danach
gesucht wird.
Hierzu ein Beispiel aus der oben genannten Studie:
Eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern
von Forschungsinstituten, Gentechnikindustrie und Zu-
lassungsbehörden legte dieses Jahr einen Vorschlag zur
Risikoforschung vor, mit dem unter dem Etikett „Verein-
fachung“ Standards und Anforderungen des „risk assess-
ment“ im Grunde reduziert und unterlaufen werden sol-
len. Insbesondere geht es darum, die nötigen
Einzeluntersuchungen zur Zusammenwirkung von GVO
– gentechnisch veränderten Organismen – und Pflanzen
zu vermeiden und entgegen bestehender gesetzlicher
Vorschriften auf die Betrachtung der Proteine herabzu-
stufen. Beschönigend und verschleiernd wird dann for-
muliert, dass „durch eine stufenweise Untersuchung ein-
facher Teilbereiche zu einer umfassenden und sicheren
Bewertung der Umweltrisiken gelangt werden“ könne.
Zu den Autoren zählen neben dem Erstautor Romeis
Mitarbeiter von BASF, DuPont, Monsanto und Syngenta
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20921
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sowie die Experten Joachim Schiemann (BBA bzw. JKI
und EFSA), Detlef Barsch (BVL und EFSA) und Jeremy
Seet (EFSA). Es stellt sich doch die Frage, auf welche
Experten die EU-Kommission und die nationalen Regie-
rungen bei einer notwendigen Verschärfung der Prüf-
richtlinien vertrauen soll, wenn ihre eigenen Beamten
sich bereits im Vorfeld mit der Industrie auf niedrige
Standards geeinigt haben?
Unter dem Stichwort „Synchronisation der weltweiten
GVO-Zulassungen“ läuft derzeit eine massive Lobby-
kampagne der Agrogentechnikindustrie mit dem Ziel,
die für sie lästigen und zeitraubenden Abstimmungsver-
fahren der EU zur Zulassung von gentechnisch verän-
derten Organismen zu umgehen. Ginge es nach Kom-
missionspräsident Barroso, EU-Kommissarin Fischer-
Boel, Exlandwirtschaftsminister Seehofer und wohl
auch Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner, würden
künftig auch nicht zugelassene GVO-Futtermittel bis zu
einem Schwellenwert in die EU eingeführt und verfüttert
werden. Diese Forderung ist absurd und gefährlich. In
keinem anderen Land ist das möglich. Glücklicherweise
lässt sich dieser Durchmarsch der „Koalition der Willi-
gen“ so einfach nicht in der EU verwirklichen, da die
Skepsis gegenüber der Agrogentechnik wächst. Stattdes-
sen setzt die Kommission nun auf die Harmonisierung
von Laborstandards. Hier muss kritisch die Wirkung
überprüft werden.
Wir fordern bezüglich der Zulassungsverfahren klare
politische Verantwortung, mehr Transparenz, mehr De-
mokratie sowie die Entflechtung zwischen Experten in
den Behörden und der Agroindustrie. Wir fordern bezüg-
lich der Risikoforschung mehr unabhängige Risikofor-
schung und die Einbeziehung der sozioökonomischen
Faktoren. Umweltbelange müssen nicht nur auf dem Pa-
pier, sondern wirklich geprüft werden. Dabei hat die
EFSA keine Kompetenz zu Fragen der Probleme von
Umweltauswirkungen der Agrogentechnik. Entweder
müssen also Umweltexperten einbezogen werden, oder
die EU-Umweltbehörde muss diese Fragen selbst reell
prüfen.
Die CSU hat in ihrem Wahlkampf in Bayern massiv
für die Unterstützung von gentechnikfreien Regionen
geworben. Statt heuchlerischer Rhetorik wäre heute der
richtige Zeitpunkt für konkrete Taten. Aber selbst bei
diesem Punkt der Erklärung setzt die Bundesregierung
auf Verzögerungstaktik und blockiert durch Prüfvorbe-
halte. Wenn es der CSU nicht nur um Wahlkampf ginge,
würde sie sich in Brüssel, Berlin und Bayern gleicher-
maßen ernsthaft gegen Gentechnik einsetzen. Dass man
auf EU-Ebene wirksam gegen Agrogentechnik vorgehen
kann, haben andere Länder gezeigt.
Wie wichtig ein zuverlässiges und transparentes Zu-
lassungsverfahren, unabhängige Forschung und auf vor-
beugenden Schutz ausgerichtete Gesetze auf europäi-
scher und nationaler Ebene sind, hat zuletzt die Studie
des österreichischen Umweltministeriums gezeigt, die
im November 2008 publiziert wurde. Dabei wurde in ei-
ner Langzeitfütterungsstudie insektenresistenter Mais
von Monsanto – Linie NK603 x MON810 – an Mäuse
verfüttert. Die Mäuse, an die der Gentechmais verfüttert
wurde, hatten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine
geringere Fruchtbarkeitsrate sowie bei den Nachkom-
men ein geringeres Körpergewicht. Solche nationalen
Studien und Erkenntnisse müssen dringend in den Zulas-
sungsprozess einfließen können.
Verbraucherinnen und Verbraucher wollen keine Gen-
technik auf dem Teller oder Acker. Erst vor wenigen Ta-
gen hat dies eine jüngst vorgelegte repräsentative Studie
des renommierten Marktforschungsinstituts Gesellschaft
für Konsumforschung (GfK) wieder belegt. Rund
85 Prozent der Verbraucher in Deutschland wollen, dass
Milchkühe kein gentechnisch verändertes Futter erhal-
ten. Zudem wären Verbraucher zu 80 Prozent auch be-
reit, mehr Geld für Milchprodukte ohne Gentechnik zu
zahlen. Zwei Drittel der 1 000 Befragten würden Pro-
dukte mit dem Hinweis „Ohne Gentechnik“ bevorzugt
kaufen. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen
Verbraucherwillen nicht länger zu ignorieren.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Aufstiegsfortbildungsförderungs-
gesetzes
– Antrag: Förderung des lebenslangen Ler-
nens unverzüglich entscheidend voranbrin-
gen
(Tagesordnungspunkt 15 a und b)
Alexander Dobrindt (CDU/CSU): „Es ist noch kein
Meister vom Himmel gefallen“, sagt ein altes Sprich-
wort. Um Meister zu werden, braucht man Leistungsbe-
reitschaft, Ehrgeiz, Zielstrebigkeit, Begabung, Disziplin,
Fleiß, Geduld und – Geld. Kursgebühren, Prüfungsge-
bühren, Verwaltungsgebühren, Reisekosten, Lohnaus-
fall und nicht zuletzt die Finanzierung der laufenden Le-
benshaltungskosten sind der materielle Preis für die
Zulassung zur Meister-, Techniker- oder Fachwirtprü-
fung. Hinzu kommen immaterielle Entbehrungen, der
Verzicht auf Feierabende, Wochenenden und Urlaube.
Trotzdem absolvieren Jahr für Jahr rund 100 000 Men-
schen in Deutschland eine berufliche Fortbildung erfolg-
reich. Dies entspricht immerhin knapp der Hälfte der
Hochschulabsolventen eines Jahrgangs.
Für viele Betriebe sind die Meister, Techniker und
Fachwirte attraktiv. Sie verfügen bereits von Anfang an
über Berufserfahrung und Handlungskompetenz. Inso-
fern sind sie oft gegenüber Hochschulabsolventen im
Vorteil. Darüber hinaus sind besonders die Handwerks-
meister auf eine selbstständige Tätigkeit gut vorbereitet.
Sie übernehmen Betriebe, schaffen Arbeitsplätze und
bilden aus. Diese Menschen auf ihrem oft steinigen Weg
zu unterstützen, ist für mich eines der wichtigsten bil-
dungspolitischen Anliegen. Ich bin daher sehr stolz, dass
das AFBG/„Meister-BAföG“ untrennbar mit der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion verbunden ist.
20922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(B) (D)
Das AFBG ist nicht nur ein Leistungsgesetz. Es ist
auch ein Signal an die Menschen, die in der beruflichen
Bildung einen Aufstieg anstreben. Berufliche und akade-
mische Bildung sind für uns gleichwertig. Wir brauchen
den Elektrotechniker ebenso wie die Elektroingenieurin,
die Zahntechnikerin ebenso wie den Zahnarzt, den Flei-
schermeister ebenso wie die Ernährungswissenschaftle-
rin. Darum ist auch das AFBG ebenso wichtig wie das
BAföG. Das BAföG haben wir zu Beginn des laufenden
Wintersemesters um 10 Prozent erhöht, die Freibeträge
um 8 Prozent. Durch die Anhebung der Freibeträge kön-
nen allein 100 000 Studierende zusätzlich BAföG-Leis-
tungen in Anspruch nehmen. Wir haben die Förderung
für Auslandsabschnitte erweitert und die finanzielle Si-
tuation studierender Eltern verbessert. Gleiches wollen
wir jetzt für die Fortbildungsteilnehmer tun. Sie haben
bereits von der Erhöhung der BAföG-Sätze und Freibe-
träge profitiert. Mit der Novelle wollen wir jetzt auch
noch den Kreis der Geförderten ausweiten und die At-
traktivität der Förderung erhöhen. Dabei lassen sich aus
nachvollziehbaren Gründen die BAföG-Konditionen
nicht eins zu eins auf die Fortbildungsteilnehmer über-
tragen. Die Rahmenbedingungen der Fortbildungskurse
sind andere als die der Studiengänge an den Hochschu-
len. Für die Kurse sind erhebliche Kursgebühren zu ent-
richten, ein großer Teil der Teilnehmer absolviert die
Fortbildungen in Teilzeit und berufsbegleitend. Außer-
dem schließt die Prüfung oft nicht unmittelbar an den
Kurs an. Schließlich müssen die unterschiedlichen Le-
benssituationen und Bedürfnisse beider Gruppen bei der
Förderung berücksichtigt werden. Anders als die meis-
ten Studierenden waren die Fortbildungsteilnehmer in
der Regel schon vor Beginn des Kurses mehrere Jahre
erwerbstätig. Nicht selten sind sie schon selbst für Ehe-
partner und Kinder verantwortlich. Dies ist im Besonde-
ren zu berücksichtigen.
Ich halte drei Punkte im vorliegenden Gesetzentwurf
für besonders wesentlich:
Erstens. Wir wollen den Anwendungsbereich des
AFBG erweitern. Fortbildungswillige sollen künftig ei-
nen Förderanspruch auf eine und nicht nur die erste Auf-
stiegsfortbildung erhalten. Wer bereits eine selbst finan-
zierte Aufstiegsfortbildung absolviert hat und dadurch
nach bisherigem Recht keinen Förderanspruch für eine
weitere Fortbildung mehr hat, soll künftig für seine Ei-
geninitiative und sein besonderes Engagement nicht mit
der Verweigerung der Förderung „bestraft“ werden. Be-
sonders älteren Arbeitnehmern eröffnet sich damit eine
neue Förderungsmöglichkeit, da sie häufig in jungen
Jahren unmittelbar nach der Erstausbildung eine selbst
finanzierte, aber dennoch förderschädliche Aufstiegsfort-
bildung durchgeführt haben. Künftig wird ihnen – auch
nach einer längeren Zeit der Erwerbstätigkeit – eine beruf-
liche Weiterbildung oder Umorientierung ermöglicht.
Zweitens. Wir wollen auch Fortbildungen im Bereich
der Altenpflege und der Erzieherberufe stärker in die
Förderung einbeziehen. Angesichts der immer älter wer-
denden Bevölkerung und des damit verbundenen erhöh-
ten Pflegebedarfs ist es nicht nur erforderlich, das vor-
handene Personal in diesem Bereich noch besser zu
qualifizieren, sondern auch neue Nachwuchskräfte durch
attraktivere Fortbildungsmöglichkeiten zu gewinnen.
Gleiches gilt auch für den Bereich der Erzieherberufe.
Durch die Öffnung des Anwendungsbereichs für Fortbil-
dungen im Fachbereich Sozialwesen an Fachschulen
verbessern wir insbesondere die Rahmenbedingungen
für die Fortbildung zum staatlich geprüften Erzieher
bzw. zur geprüften Erzieherin. Letzteres ist insbesondere
im Hinblick auf die beschlossene Ausweitung des Kin-
derbetreuungsangebots und die Einrichtung von Ganz-
tagsschulangeboten von großer Bedeutung.
Drittens. Fortbildungsabsolventen sollen während der
Prüfungszeit stärker entlastet werden. Zurzeit besteht für
die Vollzeitgeförderten zwischen Ende des Lehrganges
und Anfertigen des Prüfungsstücks und/oder dem Able-
gen der Prüfung eine Förderlücke beim Unterhaltsbei-
trag. Denn die AFBG-Förderung wird bislang nur bis
zum letzten Unterrichtstag gewährt. Das Meisterstück
wird in der Regel aber erst nach Abschluss der Fortbil-
dungsmaßnahme gefertigt. Auch die Prüfung erfolgt sel-
ten im unmittelbaren Anschluss an den Lehrgang. Inso-
weit befinden sich die Geförderten oftmals gerade in der
für sie wichtigen Prüfungsvorbereitungszeit in einer fi-
nanziell unsicheren und damit für sie belastenden Situa-
tion. Hier soll Abhilfe geschaffen werden. Die Unter-
haltsbeiträge sollen künftig als Darlehen bis zu drei
Monate nach Ende der Maßnahme fortgezahlt werden.
Soweit nur drei Beispiele für die geplanten Verbesse-
rungen, mit denen wir fortbildungswillige Menschen un-
terstützen wollen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir
mit den geplanten Verbesserungen noch mehr beruflich
Tätige zu einer Aufstiegsfortbildung anregen können.
„Das Werk lobt den Meister“, sagt ein altes deutsches
Sprichwort. Dies gilt auch für den vorgelegten Gesetz-
entwurf, für den ich mich bei der Bundesministerin für
Bildung und Forschung, Frau Professor Annette
Schavan, herzlich bedanken möchte.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Am 23. April
1996 hat es die erste Beschlussfassung des Deutschen
Bundestages zur Einführung eines Aufstiegsfortbil-
dungsförderungsgesetzes gegeben. Die damalige Initia-
tive der Regierung von CDU/CSU und FDP verdient in-
sofern Anerkennung, als sie ein wegweisender Schritt
zur Realisierung der Gleichwertigkeit von allgemeiner
und beruflicher Bildung war. Denn erstmals bekamen
Fachkräfte einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch
auf staatliche Unterstützung in ihrer Fort- und Weiterbil-
dung unter dem Gesichtspunkt des Aufstiegs. Sie erfuh-
ren damit eine vergleichbare Förderung wie Studenten
nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.
Die Argumente, die der damalige Bundesbildungsmi-
nister Dr. Jürgen Rüttgers nannte, haben nach wie vor
ihre Berechtigung. Der Rechtsanspruch auf Unterstüt-
zung ermöglicht fortbildungswilligen nichtakademi-
schen Nachwuchskräften die volle Entfaltung ihrer Nei-
gung, Begabung und ihrer Fähigkeiten, und zwar
unabhängig von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen. In-
sofern hat das AFBG wie das BAföG neben seiner bil-
dungspolitischen auch eine große sozialpolitische Be-
deutung. Außerdem sollte die Förderung der Sicherung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20923
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und der Aufwertung der beruflichen Bildung in Deutsch-
land und damit der Wertschöpfung an diesem Wirt-
schaftsstandort dienen. Der in vielen Bereichen anste-
hende Generationswechsel, aber auch die Entwicklung
neuer Produkte und Verfahren erforderten schon damals
eine hohe Anzahl qualifizierter und innovativer Nach-
wuchskräfte. Das AFBG sollte die Erweiterung und den
Ausbau beruflicher Qualifikation unterstützen und die
Fortbildungsmotivation des Fachkräftenachwuchses
stützen. Es sollte zugleich einen Anreiz für potenzielle
Existenzgründer geben, sich für den Weg in die Selbst-
ständigkeit zu entscheiden.
Soweit die Kerngründe, die mit der Einführung dieses
Gesetzes verbunden waren. Dass damit der Wegfall von
Förderungsmaßnahmen nach den Arbeitsmarktförde-
rungsgesetzen einherging, sollte hier nicht verschwiegen
werden.
Der Paradigmenwechsel hin zu einem staatlich garan-
tierten und aus Steuergeldern geförderten Rechtsan-
spruch zur Erwachsenenweiterbildung im Sinne berufli-
cher Aufstiegsfortbildung war gleichwohl ein wichtiger
Wechsel, der dann aber allerdings in der Zukunft durch
neue politische Mehrheiten auszugestalten war. Denn
nach der Einführung des Meister-BAföGs 1997 blieb die
Zahl der geförderten Arbeitnehmer bis zur Jahrtausend-
wende immer unter der Zahl von 60 000 Personen. Dann
allerdings nahmen die damalige Bundesbildungsministe-
rin Edelgard Bulmahn und die Parlamentsmehrheit von
SPD und Grünen mit einer großen Reform das
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz neu in Angriff
und verhalfen der beruflichen Weiterbildung zu einem
großen Schritt nach vorn. Die Zahl der Geförderten
konnte von unter 60 000 auf über 140 000 nach der No-
velle 2001 bis zum Jahr 2005 gesteigert werden.
Der finanzielle Aufwand für die Förderung der beruf-
lich Qualifizierten wurde verdoppelt. Die ausgezahlten
Zuschüsse wurden verfünffacht. Wesentlich war hierfür
nicht nur, dass es eine Erweiterung des Gefördertenkrei-
ses gab und dass Leistungen im Bereich des Unterhalts
wie der Familienförderung verbessert wurden. Die ent-
scheidende Maßnahme war, dass unabhängig von einer
Vollzeit- oder Teilzeitausbildung und auch unabhängig
von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen
erstmals ein Maßnahmezuschuss in beträchtlicher Höhe
für alle, die sich einer Aufstiegsfortbildung stellen woll-
ten, als Rechtsanspruch zur Verfügung stand.
Für diese neue Qualität haben wir Sozialdemokraten
uns intensiv eingesetzt und diese neue Qualität haben
wir auch durchgesetzt. Denn natürlich ist ein Rechtsan-
spruch etwas anderes als ein Stipendium. Wer das Recht
auf Bildung als derart zentral ansieht, wie wir Sozialde-
mokraten es tun, muss bei den Bildungsausgaben – auch
im Erwachsenenbereich – mindestens einen fairen Anteil
von Staats wegen übernehmen, wo doch sowieso noch
sehr hohe private Aufwendungen bei den betroffenen
Arbeitnehmern verbleiben. Im Übrigen durfte es auch
nicht so sein, dass die grundsätzliche Förderung einer
solchen Aufstiegsfortbildung davon abhing, ob diese in
Vollzeitform oder in Teilzeitform durchgeführt wurde.
Mit dem Maßnahmebeitrag für alle gab es eine Unter-
stützung unabhängig von der Organisationsform und
speziell auch für die Teilzeitform, die ja von der persön-
lichen Motivation und Beanspruchung her anders, aber
mindestens in gleicher Intensität vieles von den Auf-
stiegsfortbildungswilligen abverlangt.
Wem Weiterbildung und Arbeitnehmerbildung wich-
tig ist, der muss sich allerdings auch kontinuierlich mit
den Entwicklungen in diesem Bereich auseinanderset-
zen, Veränderungen beobachten und zu neuen Initiativen
kommen. Was sind nun wichtige Grundfakten, und wel-
che Veränderungen gibt es, auf die man sich mit weite-
ren politischen Reformen einstellen muss?
Erstens. Stärke und Struktur der beruflichen Qualifi-
kationsbereiche verändern sich. Was als sogenanntes
Meister-BAföG eine gewisse Popularität gewonnen hat,
ist doch in Wirklichkeit schon vielmehr ein Fördergesetz
für Aufstiegsfortbildung im Bereich von Industrie und
Handel. Nur 34 Prozent der Geförderten kommen aus
dem Handwerk selbst, 46 Prozent aus dem Bereich von
Industrie und Handel. Diese Differenzierung zeigt auf,
dass eben nicht nur Handwerksmeister, Techniker, Fach-
kaufleute, sondern auch Betriebswirte, mathematisch-
technische Assistenten, Programmierer, Softwareent-
wickler oder auch Fachkrankenpfleger den wachsenden
Teil derjenigen bilden, die eine solche rechtliche Auf-
stiegsfortbildung in Anspruch nehmen. Darin bilden sich
Veränderungen in der wissensbasierten Ökonomie der
Gegenwart und Zukunft ab. Es kommen vor allen Din-
gen auch neue Berufsfelder hinzu, die sich aus dem de-
mografischen Wandel und den höheren Anforderungen
an Berufe in diesen Bereichen widerspiegeln, wie zum
Beispiel nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch
im Altenpflege- und im Erziehungsbereich. Mit der No-
velle zur Aufstiegsfortbildung verbinden wir Sozialde-
mokraten deshalb auch die Absicht, diese beruflichen
Veränderungen nicht nur nachzuvollziehen, sondern sich
auch auf zukünftige Bedarfe rechtzeitig einzustellen.
Zweitens. Das Potenzial zur Aufstiegsfortbildung ist
deutlich größer als es bisher von den Einzelnen genutzt
wird und für die Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt
wünschenswert ist. Rund 480 000 schließen Jahr für Jahr
eine Berufsausbildung ab, und nur rund ein Fünftel da-
von nimmt später eine Aufstiegsfortbildung in den unter-
schiedlichen Formen wahr. Dies ist angesichts des ab-
sehbaren Fachkräftebedarfes gerade im Bereich der
höheren Qualifikationen sicherlich entschieden zu we-
nig. Denn absehbar ist jetzt schon, dass es nicht nur eine
akademische Fachkräftelücke geben wird, sondern auch
eine, die aus der beruflichen Qualifikation erwächst.
Woher soll das Potenzial an Menschen kommen, die in
der modernen Wissens- und Technologiegesellschaft der
Zukunft an entscheidender Stelle im Bereich von Ent-
wicklung, Anleitung, Management bis hin zur Unterneh-
mensführung Verantwortung übernehmen und zur Leis-
tungsfähigkeit beitragen, wenn hier nicht rechtzeitig
vorgesorgt wird? Und wie lange wollen wir es noch an-
gehen lassen, dass es ein groteskes Missverhältnis zwi-
schen Männern und Frauen gibt, was die Chance auf die
Wahrnehmung einer Aufstiegsfortbildung angeht?
20924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Aktuell liegen die Zahlen noch so, dass unter den
Teilnehmern einer Aufstiegsfortbildung 68 Prozent
Männer und nur 32 Prozent Frauen sind. Auch dieses
Anliegen, Frauen in ihrer immer noch besonderen Situa-
tion, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
sprich Aufstiegsfortbildung und Familie angeht, gezielt
und differenziert zu fördern, wird für ein neuerliches Re-
formgesetz der Maßstab sein müssen.
Nicht vergessen werden sollte auch, dass es in
Deutschland noch einen besonders hohen Nachholbedarf
gibt, was die Qualifizierungs- und Aufstiegschancen für
Migranten angeht. Eine moderne Weiterbildungspolitik
muss hier noch bestehende Schranken aus dem Weg räu-
men und den Einstieg in den Aufstieg durch Qualifizie-
rung fördern.
Drittens. Was die Altersverteilung der Menschen an-
geht, die in einer Aufstiegsfortbildung sind, sind rund
80 Prozent zwischen 20 und 35, konkret fast 30 Prozent
zwischen 20 und 25, 34 Prozent zwischen 25 und 30 und
16 Prozent zwischen 30 und 35. Umso mehr muss uns
beschäftigen, dass die Vereinbarung von Aufstiegsfort-
bildung und eigenen Kindern bisher nur schwer zu reali-
sieren war. Geschätzte unter 10 Prozent der in Vollzeit
Geförderten, die in einer Aufstiegsfortbildung sind, ha-
ben Kinder. Das Missverhältnis ist hier dramatisch; und
dies ist offensichtlich nicht nur aus einer bestimmten
langfristigen Planung von Ausbildungs- und Berufspha-
sen bzw. Familiengründung so, sondern auch weil die
Beanspruchung durch die Aufstiegsfortbildung sehr
hoch ist und die Unterstützung für Aufstiegsfortbil-
dungsmotivierte mit Kindern offensichtlich nicht ausrei-
chend ist. Fakt ist jedenfalls, dass nach der langjährigen
Systematik in der Förderung gerade die Darlehensbelas-
tung für Familienmütter oder -väter mit zwei Kindern
besonders hoch war, bekamen diese doch nur 17 Prozent
der Aufwendungen als Zuschuss erstattet, während
Singles ohne Kinder zu einer deutlich niedrigeren Darle-
hensschuld und einem entsprechend höheren Zuschuss
kamen.
Viertens. Alarmieren musste schließlich alle Politiker,
denen etwas an der Aufstiegsfortbildung für Arbeitneh-
mer liegt, dass nach dem kontinuierlichen Anstieg der
Zahl der Geförderten seit dem Jahr 2001 bis 2005 auf
den Höhepunkt von 141 000 sich diese 2006 erstmals
wieder reduzierte und dadurch 5 000 weniger gefördert
wurden. Aus diesem ersten Rückgang durfte nach Auf-
fassung von uns Sozialdemokraten unter keinen Umstän-
den ein dauerhafter Trend werden. Ein rechtzeitiges Ge-
gensteuern war für uns deshalb unabdingbar. Wir
brauchen mehr Menschen, die zu einer Aufstiegsfortbil-
dung bereit sind und dieses ermöglichen können, und
wir brauchen vor allem auch mehr erfolgreiche Absol-
venten einer solchen zusätzlichen Fortbildung, die ja
auch mit beträchtlichen persönlichen Vorleistungen und
Anstrengungen verbunden ist. Es darf deshalb auch nicht
unberührt lassen, dass es eine nicht unbeträchtliche
Quote von Menschen gibt, die eine Aufstiegsfortbildung
beginnen, diese aber dann nicht durchhalten können. Ab-
bruchquoten von 20 Prozent stehen dann nicht nur für
enttäuschte Hoffnungen und Anstrengungen, sondern
sind auch ein zusätzliches Potenzial.
Genauso muss uns das Faktum beschäftigen, dass im
ersten Anlauf nur 80 Prozent der Teilnehmer die Prüfung
schaffen. In einzelnen Berufen wie Bilanzbuchhalter
oder Steuerfachwirt liegt die Quote gar nur bei 50 bis
60 Prozent. Mit gezielter zusätzlicher Förderung müssen
sowohl der Abbruch wie auch die Wiederholungsprü-
fung mit entsprechenden Zeitverlusten weiter reduziert
werden, damit es mehr erfolgreiche Absolventen und zü-
gige Abschlüsse gibt. Auch hierum wird sich eine enga-
gierte Reformpolitik zu kümmern haben.
Für uns Sozialdemokraten war deshalb sehr früh klar,
dass wir es nach den von uns erfolgreich durchgekämpf-
ten Verbesserungen beim BAföG nicht bei einer bloßen
Übertragung der massiven Verbesserungen vom BAföG
auf das Meister-BAföG – die im Übrigen ja schon ge-
setzlich vorgeschrieben war – belassen konnten, sondern
dass wir auch hier strukturelle und sehr gezielte und
nachhaltige Reformen zusätzlich brauchen würden. Dies
haben wir ungeachtet einer Koalitionsvereinbarung, bei
der noch keine Weiterentwicklung des Aufstiegsfortbil-
dungsförderungsgesetzes für diese Legislaturperiode
vorgesehen war, als SPD im Laufe des Jahres 2007 für
uns intern entwickelt und auch gegenüber dem Koali-
tionspartner immer wieder deutlich gemacht. Es erfüllt
uns mit einer gewissen Genugtuung, dass dann auch die
Ministerin bzw. der Koalitionspartner diesen Vorschlä-
gen und diesem Drängen hinhaltend, aber stetig gefolgt
sind und wir uns mit dieser Initiative letztlich auch in der
Großen Koalition durchsetzen konnten, auch wenn es
schon manchmal skurrile Züge annahm, wie in den Pres-
seerklärungen der Bundesbildungsministerin immer wie-
der nachgebessert wurde und aus dem Nichts-tun-Wol-
len zuerst ein Prüfen und dann ein Verändern an ganz
wenigen Punkten und schließlich ein durchaus breit an-
gelegtes Reformwerk wurde. Dass sich die jetzt vorge-
legte Konzeption zu der zweiten großen Novelle zum
Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz in wesentlichen
Feldern mit den Punkten deckt, die wir von sozialdemo-
kratischer Seite im Februar, März in die Diskussion und
öffentliche Debatte gebracht haben, kann da nur freuen.
Was sind nun die besonders wichtigen Punkte? Ers-
tens. Die deutlichen Verbesserungen, die wir von der
SPD schon beim BAföG durchkämpfen konnten mit der
Erhöhung der Sätze um 10 Prozent und der Freibeträge
um 8 Prozent, schlagen sich jetzt auch voll beim Meis-
ter-BAföG, sprich bei der Aufstiegsfortbildung nieder.
Zweitens. Die geförderte Aufstiegsfortbildung muss
nicht mehr zwingend die erste sein, sondern es wird eine
Aufstiegsfortbildung gefördert, auch wenn es schon die
zweite oder die dritte, aber bis dahin anderweitig finan-
zierte sein sollte. Damit werden Aufstiegsfortbildungs-
willige nicht mehr dafür bestraft, dass sie vorher schon
eigene Initiative entwickelt haben. Im Prozess des le-
bensbegleitenden Lernens ist dies sicherlich eine mo-
derne politische Antwort auf das Ideal eines modernen
kontinuierlichen Fortbildungsprogramms, dem sich der
Einzelne möglichst widmen sollte.
Drittens. Eine Aufstiegsfortbildung ist immer mit viel
Anstrengung und Aufwand, nicht zuletzt in der Prü-
fungsphase, verbunden. Deshalb muss sie auch gefördert
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20925
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werden, um zum Erfolg zu führen. Dies kann durch eine
Verlängerung der Förderung in der Prüfungsphase ge-
schehen, die wir in dieser Form erstmals einführen wol-
len, und es kann auch durch eine zusätzliche Prämie auf
eine erfolgreiche Prüfung unterstützt werden. Auch
diese Komponente ist im neuen Gesetzeskonzept enthal-
ten.
Viertens. Eine lange und teure Aufstiegsfortbildung
ist derzeit vor allem für Fachkräfte mit Familie und Kin-
dern nur schwer und unter großen Schwierigkeiten zu
realisieren. Wir haben uns deshalb als Sozialdemokraten
besonders darauf konzentriert, eine Erhöhung des Kin-
derzuschlags von derzeit 179 Euro auf immerhin
210 Euro pro Kind und Monat durchzusetzen. Dieser Er-
höhungsbetrag soll auch erstmals zu 50 Prozent als Zu-
schuss gegeben werden. Gerade diese Bezuschussung ist
uns sehr wichtig, um die Darlehensschuld bei Familien
mit Kindern möglichst einzudämmen. Schließlich führen
wir einen unkomplizierten, nicht an Nachweise gebun-
denen Kinderbetreuungszuschuss speziell für Allein-
erziehende ein, denn gerade Alleinerziehende in Auf-
stiegsfortbildung sind besonderen Anforderungen
unterworfen.
Fünftens. Was beim BAföG schon Praxis ist, muss
beim Meister-BAföG auch gelten: Fortbildungswilligen
mit Migrationshintergrund muss der Zugang zu einer
Höherqualifizierung erleichtert werden. Ausländische
Mitbürgerinnen und Mitbürger, die schon hier geboren
sind bzw. eine dauerhafte Bleibeperspektive haben, sol-
len künftig auch ohne Anknüpfung an eine vorherige
Mindesterwerbsdauer nach dem AFBG gefördert werden
können.
Sechstens. Dass Menschen, die eine Aufstiegsfortbil-
dung erfolgreich abgeschlossen haben, darin unterstützt
und anerkannt werden sollten, wenn sie danach ein Un-
ternehmen gründen und Arbeits- und Ausbildungsplätze
schaffen, ist uns sehr wichtig. Mit der Differenzierung,
die hier vorgesehen ist, wird auch schon die Schaffung
von nur einem Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz aner-
kannt und entsprechend über den Erlass einer Darlehens-
schuld honoriert.
Siebtens. Es liegt im Interesse aller, dass die Bil-
dungsträger im hoffentlich wachsenden Bereich der Auf-
stiegsfortbildung auch die notwendige Qualität der Maß-
nahmen garantieren. Mit der Einführung des Nachweises
eines Qualitätssicherungssystems bei den Bildungsträ-
gern soll dieses nun abgesichert werden.
Wie wichtig uns die Aufstiegsfortbildung ist, kann
man auch an dem Korridor der zusätzlich zur Verfügung
gestellten Mittel sehen. Was im Jahr 2009 mit 30 Millio-
nen Euro Mehraufwendungen für Bund und Länder be-
ginnt, wird bis zum Jahr 2012 auf über 90 Millionen
Euro aufwachsen. Damit hätten wir eine Steigerung der
Mittel um gut 60 Prozent bis zum Jahr 2012 zu verzeich-
nen, was ein eindrucksvoller Beleg für die Priorität von
Weiterbildung sein wird, die wir letztlich dann eben
doch in dieser Großen Koalition ausbauen konnten.
Wenn mehr nicht in dieser Konstellation zu erreichen
war, so wird uns das als Sozialdemokraten nicht davon
abhalten, konzeptionell und politisch für weitere Schritte
zu werben und zu kämpfen. Tatsächlich muss aus dem
BAföG und dem AFBG am Ende ein gemeinsames
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz werden, das
auch die weitergehenden Förderungen von Weiterbil-
dung gesetzlich als Rechtsansprüche absichert. Die SPD
ist sehr engagiert dafür. Wir wollen ein Erwachsenen-
BaföG, und wir wollen die Arbeitsversicherung als Aus-
bau der Arbeitslosenversicherung. Aber hier ist leider
mit der CDU/CSU nichts zu machen. Hier haben wir ak-
tuell noch grundlegende Differenzen in der Großen
Koalition.
Dass wir gleichwohl so viel auch gemeinsam errei-
chen konnten, lässt einen dennoch abschließend sagen:
Was 1996 begann und im Jahr 2001 mit Edelgard
Bulmahn einen wirklich entscheidenden Schub nach
vorne bekam, wird auch mit diesem neuen gemeinsamen
Reformvorschlag von SPD und CDU/CSU für die Zu-
kunft weiter verbessert werden können. Für uns Sozialde-
mokraten, denen die Bildungschancen von Arbeitneh-
mern, die Leistungsbereitschaft von Aufstiegswilligen
und die Förderung von Kompetenz und Qualifikation in
der modernen Wirtschaft immer besondere Anliegen sind,
ist dies deshalb auch ein besonders erfreulicher Tag.
Wir wünschen uns für die gemeinsamen Schlussbera-
tungen noch manche kluge Erkenntnis und Einsicht und
dann bei der Verabschiedung ein wirklich gutes gemein-
sames Gesetz, zu dessen Unterstützung wir auch die an-
deren Fraktionen des Parlaments herzlich einladen.
Patrick Meinhardt (FDP): Mit dem uns heute vor-
liegenden Gesetzesentwurf legt die Bundesregierung
endlich zum ersten Mal ihre längst überfälligen Vorstel-
lungen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in
Deutschland vor. Nach drei Jahren Regierungszeit ist
dies auch überfällig.
Der Fachkräftemangel ist in Deutschland schon lange
Realität. So beklagte der DIHK erst in der vergangenen
Woche, dass laut einer eigenen Umfrage unter 20 000
Betrieben bereits jetzt 54 Prozent der Betriebe nicht ge-
nügend technische Fachkräfte finden. Darüber hinaus
fehlt es an Meistern und Facharbeitern. Diese Entwick-
lung kennen wir seit Jahren. Dies macht es umso drin-
gend notwendiger, gerade die berufliche Fortbildung
attraktiver zu gestalten. Wir müssen es mit intelligenten
Maßnahmen ermöglichen, dass Menschen einfacher und
unbürokratischer eine höhere Qualifikation erlangen.
Die Eigenverantwortung für mehr Bildung zu stärken
und in die eigene Zukunft zu investieren, sichert nach-
haltig die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-
lands.
Es gibt ein riesiges Potenzial an Menschen, denen
durch ein attraktiveres Meister-BAföG der Weg zu einer
höheren Qualifikation eröffnet werden kann. Heute
schließen jährlich rund 480 000 Menschen eine Berufs-
ausbildung ab, aber nur 97 000 bilden sich erfolgreich
zum Meister, Fachwirt oder Kaufmann weiter. Dies sind
noch immer viel zu wenige. Zuletzt war die Zahl derer,
die das Meister-BAföG überhaupt in Anspruch genom-
men haben, sogar rückläufig. Hier müssen wir dringend
gegensteuern. In der Weiterbildung hat diese Bundes-
20926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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regierung bildungspolitisch das Gestaltungspotenzial.
Hier liegt in der beruflichen Weiterbildung ihre Verant-
wortung. Das Ziel einer 50-prozentigen Weiterbildungs-
beteiligung muss sich in einem klar erkennbaren
Aktionspaket widerspiegeln.
Berufliche Bildung und Weiterbildung dürfen nicht
länger stiefmütterlich behandelt werden. Daher begrü-
ßen wir Liberale grundsätzlich die Initiative der Bundes-
regierung, berufliche Höherqualifizierung auch finan-
ziell endlich stärker zu fördern. Die berufliche Bildung
muss uns genauso viel wert sein wie die akademische
Bildung. Bei der Ausgestaltung der finanziellen Förde-
rung muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden,
dass sich diese an den Bedürfnissen der Fortbildungswil-
ligen ausrichtet und so mehr Menschen zur Fortbildung
motiviert. Wir müssen die richtigen Zielgruppen aktivie-
ren.
Es ist längst überfällig, dass die Bundesregierung nun
endlich nicht mehr länger nur die erste Aufstiegsfortbil-
dung fördern will, sondern eine. Somit werden nicht län-
ger diejenigen bestraft, die bereits eine Fortbildung in
Anspruch genommen haben. Mit diesem Schritt werden
sich eine ganze Menge von fortbildungswilligen jungen
Menschen in diesem Land nicht mehr ärgern.
Mit einem Meister-BAföG für die Altenpflege und
Erziehung wird ein grundsätzlich positives Signal ge-
setzt, auch wenn wir hier kritisch anmerken müssen,
dass selbst aus den Fachverbänden dieser Weg mit Fra-
gezeichen versehen wird. Bisher hat die Bundesregie-
rung in drei Jahren mit einem Weiterbildungsportal im
Internet für Erzieherinnen und Erzieher alle Beteiligten
enttäuscht. Erziehung per Mausklick ist wirklich nicht
auf der Höhe der Zeit.
Politisch grundsätzlich richtig muss die folgende Bot-
schaft sein: Wir brauchen einen deutlichen Aufwuchs
bei der Weiterbildung, nicht nur beschränkt auf den tech-
nisch-naturwissenschaftlichen Bereich, sondern eben
gerade auch im sozialen Bereich und in der politischen
Bildung. Aus der Summe aller von der Regierung vorge-
schlagenen Maßnahmen ergibt sich jedoch noch kein
stimmiges Weiterbildungskonzept. Das tut jetzt not.
Wir brauchen keine zusätzliche BAföG-Bürokratie,
sondern Förderungshilfen, die bei den Menschen an-
kommen, die etwas für sich und ihre Bildung tun wollen.
Dies sage ich insbesondere mit Blick auf die geplanten
Regelungen zum Erlass von Rückzahlungsforderungen.
In der jetzigen Fassung verspricht dies ein bürokrati-
sches Fass ohne Boden zu werden. Doch auch wenn die
Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf einen ersten
Schritt in die richtige Richtung geht, werden wir sie
nicht aus der Verantwortung entlassen, endlich auch das
private Weiterbildungssparen zu fördern. Wir brauchen
dringend eine Offensive zur Förderung des Bildungsspa-
rens. Eine echte Weiterbildungsoffensive muss beides
abdecken, zum einen die staatliche Unterstützung für
Fortbildungswillige und zum anderen die Förderung des
Aufbaus von privatem Kapital für Bildungsinvestitio-
nen. Diesem Anspruch kann der vorgelegte Gesetzent-
wurf jedoch nicht gerecht werden.
Wer Bildungsgerechtigkeit ein Leben lang sichern
will, muss Bildungsinvestitionen vom ersten Tag an för-
dern. Diese finanzielle Förderung darf nicht haltmachen
bei einer Prämie, sondern muss gerade die Eigeninitia-
tive und Eigenverantwortlichkeit stärken. Es ist gelun-
gen, das zunächst nur für Studenten eingeführte BAföG
auch auf die berufliche Fortbildung zu übertragen. Jetzt
muss es gelingen, ein umfassendes Bildungssparen auf-
zubauen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu einen
richtungweisenden Antrag vorgelegt.
Ein ganzheitliches Konzept, gar eine Weiterbildungs-
offensive, die zu einer Bewusstseinsveränderung in
Deutschland führen könnte, lässt die Bundesregierung
bisher leider schmerzlich vermissen. Wir begrüßen ja,
dass das lebenslange Lernen in der Großen Koalition an-
gekommen ist. Aber lassen Sie sich gesagt sein: Ihre bis-
herige Taktik, hier und dort ein kleines Reförmchen
– man könnte auch sagen einen halben Schritt vor und
mit der Weiterbildungsprämie wieder zwei Schritte zu-
rück – werden wir und auch die Fortbildungswilligen,
die Wirtschaft und die Weiterbildungsträger Ihnen nicht
länger durchgehen lassen. Deutschland benötigt drin-
gend eine offensive Weiterbildung. Packen Sie es end-
lich an!
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Ich
bin ja grundsätzlich begeistert, wenn die Bundes-
regierung sich dazu durchringt, im Bereich „Lebenslan-
ges Lernen“ ihren vollmundigen Ankündigungen kon-
krete Taten folgen zu lassen. Meine Begeisterung lässt
sich noch steigern, wenn die Große Koalition gewillt ist,
dafür auch Geld locker zu machen. Völlig richtig betont
die Bundesregierung auch, dass der Wandel der
Industrie- zur Wissensgesellschaft statt einer Ausbildung
für das Leben lebenslanges Lernen erfordert. In ihrer
Novelle des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes
(AFBG) lässt sie aber erneut die Bereitschaft zu konse-
quentem Handeln vermissen, weder verlässt sie die ein-
getretenen Trampelpfade, noch macht sie mehr als einen
winzigen Schritt nach vorn.
Richtig ist, dass im Bereich der Pflegeberufe sowie
bei den Erzieherinnen und Erziehern großer Handlungs-
bedarf besteht. Nicht nur, weil die Beschäftigten – in der
Regel übrigens Frauen – für ihre anspruchsvolle Tätig-
keit optimal qualifiziert und nebenher bemerkt auch
adäquat entlohnt sein sollten, sondern vor allem deshalb,
weil uns nur die beste Frühförderung unserer Kinder gut
genug sein sollte und weil wir alle auch im Pflegefall mit
Recht ein Leben in Würde erwarten dürfen; und dies
schließt unzweifelhaft eine qualifizierte Pflege ein. Dazu
kann eine gezielte Förderung der Fortbildungsmaßnah-
men in diesem Bereich einen Beitrag leisten. Dies will
ich durchaus positiv hervorheben.
Nur laufen Sie hier der Entwicklung doch schon fast
hoffnungslos hinterher. Wir diskutieren nicht erst seit
diesem Jahr darüber, welche Bildungswege an die Hoch-
schulen gehören. Auch in anderen beruflichen Bereichen
ist längst klar, wo die bisherige berufliche Qualifizierung
an Grenzen stößt und Berührungspunkte mit der akade-
mischen Bildung entstanden sind. Bis heute ist kaum zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20927
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erkennen, dass Sie auf diese Entwicklungen politisch re-
agiert hätten; und schon gar nicht haben Sie über die In-
strumente der Bildungsförderung hierfür gezielte An-
reize gesetzt.
Das AFBG kann die neuen Bedarfe nicht alleine ab-
fangen. Viele Berufe werden vom AFBG gar nicht er-
fasst, weil ihre Aus- und Fortbildung nicht im Berufsbil-
dungsgesetz oder in der Handwerksordnung geregelt
sind. Unterhalb der Aufstiegsfortbildung bieten wir
Menschen in Weiterbildung keinen Anspruch auf Leis-
tungen der Ausbildungsförderung an. Das BAföG ist mit
seiner Altersgrenze von 30 Jahren und der Elternabhän-
gigkeit der Förderung in keiner Weise tauglich für eine
Förderung des lebenslangen Lernens. Weiterbildungsför-
derung bildet einen Flickenteppich unübersichtlicher
Einzelmaßnahmen vom WeGebAU bis zum Meister-
BAföG – und mit riesigen Lücken. Ein konsistentes Sys-
tem der Förderung existiert nicht. So können Bildungs-
barrieren nicht überwunden werden, und lebenslanges
Lernen wird damit für die Mehrheit der Bevölkerung
keine tatsächlich erfahrbare Realität.
Auch Ihre Vorstellungen von der Zielgruppe solch ei-
ner Novelle lassen durchaus die Vermutung zu, dass die
Bundesregierung die letzten zehn Jahre geschlafen hat.
Bildung und gerade die Weiterbildung haben sich verän-
dert. Es gibt nicht mehr nur Schulungen mit Frontalun-
terricht, die sich in Unterrichtsstunden abrechnen lassen.
Gute und kreative Weiterbildung zeichnet sich gerade
durch Projektarbeit und Praxisphasen aus. Das AFBG
aber bezieht sich weiter auf das „klassische“ Schulungs-
konzept. Entwicklungen beispielsweise in der Hoch-
schulbildung, wo nicht mehr auf Semesterwochenstun-
den geschaut wird, also auf die Zeit, die die Lehrenden
aufwenden, sondern auf die Gesamtarbeitszeit der Ler-
nenden, bleiben hier völlig unberücksichtigt. Damit
bleibt die Novelle mindestens zehn Jahre hinter den De-
batten der europäischen Bildungspolitik zurück.
Zudem schaffen Sie, Frau Ministerin Schavan, mit
diesem Gesetz auch noch falsche Anreize. Bei erfolgrei-
chem Abschluss sollen 25 Prozent der Schulden erlassen
werden. Der Bundesrat wendet ein, wer eine Aufstiegs-
fortbildung aufnimmt, strebt auch ohne einen solchen
Anreiz einen erfolgreichen Abschluss an. Das ist völlig
richtig, sollte aber auf keinen Fall dazu führen, dieses
Geld aus der Weiterbildungsförderung abzuziehen. Un-
ser Vorschlag: Legen Sie die frei werdenden Mittel auf
die Grundförderung um, dann müsste der Prozentsatz,
mit dem Maßnahmen und Unterhalt gefördert werden,
nicht wie in den letzten Jahren immer weiter sinken, son-
dern könnte endlich einmal steigen.
Die vom Bundesministerium für Bildung und For-
schung eingesetzte Expertenkommission Finanzierung
Lebenslangen Lernens – „Timmermann-Kommission“ –
hat bereits vor fünf Jahren sehr viel weiter reichende
Konzepte für eine Stärkung der Weiterbildung vorgelegt.
So forderte die Kommission nicht nur eine Ausweitung
bestehender Leistungen, sondern ausdrücklich die
Schaffung eines gemeinsamen Rahmens, unter dem
diese Leistungen vereint werden. Diese wichtigen Vor-
schläge für einen ganzheitlichen Ansatz in der Bildungs-
förderung sind bei Ihnen offenbar im Papierkorb
verschwunden. Die Linke hält die Umsetzung dieser
Vorschläge für elementar, und so wiederhole ich hier und
heute unsere Forderung, nicht länger im Flick- und
Stückwerk zu verharren, sondern mit einem Erwachse-
nenbildungsförderungsgesetz verlässliche Rahmenbe-
dingungen für Nachfrager und Anbieter der Weiterbil-
dung zu schaffen. So viel Mut werden Sie schon
brauchen, die bislang doch recht hohle Formel vom le-
benslangen Lernen mit Leben zu füllen.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In einer wissensbasierten Gesellschaft wie der
unseren wird lebenslanges Lernen und die Beteiligung
an Weiterbildungsmaßnahmen immer mehr zur Voraus-
setzung für Beschäftigungsfähigkeit. Die Zeiten sind
vorbei – falls es sie je gab – in denen eine Ausbildung in
jungen Jahren als ausreichende Wissensbasis für die ge-
samte weitere Erwerbskarriere dienen konnte.
Darüber hinaus brauche ich Ihnen sicherlich nicht
weiter zu erläutern, wie gerade in Zeiten des sich immer
stärker abzeichnenden Fachkräftemangels eine hohe
Weiterbildungsbeteiligung die Grundvoraussetzung für
nachhaltige Innovationsfähigkeit und ein anhaltendes
Wirtschaftswachstum darstellt. Der letzte Woche vom
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vorgelegte
Innovationsbericht hat wieder einmal gezeigt, mit wel-
chen Defiziten unser Land da zu kämpfen hat. Von
17 untersuchten OECD Mitgliedstaaten liegt Deutsch-
land nur auf Platz 13.
In Deutschland herrscht mit 43 Prozent eine viel zu
geringe Weiterbildungsbeteiligung. Die skandinavischen
Länder mit Weiterbildungsquoten von 70 Prozent und
mehr geben uns da die Zielmarken vor. Für Geringquali-
fizierte und benachteiligte Gruppen wie Migranten, äl-
tere Arbeitnehmer und Frauen ist die Beteiligung an
Weiterbildungsmaßnahmen dabei von besonderer Be-
deutung. Doch gerade diese Menschen weisen in
Deutschland momentan eine besonders geringe Weiter-
bildungsbeteiligung auf.
Wie Sie sehen brauchen wir einen wirklichen Auf-
bruch hin zu mehr Weiterbildung. Und da sind alle ge-
fordert, jeder Einzelne, die Unternehmen, aber auch der
Bund. Es kommt darauf an, die richtigen Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, damit auch Geringverdienende den
Wert einer Weiterbildung erkennen und sich diese auch
leisten können.
Doch was tut diese Bundesregierung? Im Koalitions-
vertrag von Union und SPD hieß es noch vollmundig:
„Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur 4. Säule
des Bildungssystems machen und mit bundeseinheitli-
chen Rahmenbedingungen eine Weiterbildung mit System
etablieren.“ Doch davon ist nichts umgesetzt worden. An-
statt des dringend nötigen Weiterbildungsaufbruchs ver-
fährt sie nach dem alten Muster: kleckern statt klotzen.
Sie strickt wieder einmal einen Flickenteppich von Maß-
nahmen, die nicht viel kosten, aber auch nicht viel brin-
gen.
20928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Am 1. Dezember ist die spärliche Weiterbildungsprä-
mie in Kraft getreten, die eine jährliche Maximalförde-
rung von 154 Euro ermöglicht. Nun überlegen Sie sich
einmal, welchen Weiterbildungskurs sie für 154 Euro
bekommen. Eins ist klar: Eine umfassende Weiterbil-
dung ist damit kaum finanzierbar. Mit dieser Regelung
bleibt die Anreizwirkung auf wenige Menschen und
kurze Maßnahmen beschränkt.
Gleichzeitig legt die Bundesregierung nun einen Ge-
setzentwurf vor, um das Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetz zu reformieren. Durch die Reform soll das
sogenannte „Meister-BAföG“ zukünftig auch auf die
Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsberufe anwendbar
sein; außerdem sollen mediengestützte Fortbildungen
und Zweitfortbildungen besser gefördert werden. Die
Bundesregierung strebt damit nach eigenen Angaben an,
dass ab 2010 jährlich 160 000 Menschen die Förderung
in Anspruch nehmen. 2007 waren es 134 000. Insgesamt
sollen sich dadurch also 26 000 Menschen mehr als bis-
her für Weiterbildung entscheiden. Das ist ein Armuts-
zeugnis, denn in Sonntagsreden spricht die Bundesregie-
rung davon, den Anteil an der Weiterbildung von derzeit
43 Prozent auf 50 Prozent bis 2015 zu steigern.
Außerdem stellt die Bundesregierung viel zu geringe
Mittel bereit: 45 Millionen Euro über 4 Jahre. Ein wirk-
liches „Erwachsenen-BAföG“, das je nach Lebenssitua-
tion einen Mix aus Zuschüssen und Darlehen für jede
zertifizierte Weiterbildung bereitstellt, würde aber
450 Millionen Euro pro Jahr erfordern. Gerade in Zeiten
der Krise ist die Weiterqualifizierung von Beschäftigten
eine gute und für alle lohnenswerte Alternative zu Kurz-
arbeit und verlängerten Betriebsferien.
Was die Große Koalition hier vorlegt, reicht bei weitem
nicht aus. Wir Grünen haben stattdessen ein umfassendes
Konzept vorgelegt, wie alle Menschen, unabhängig von
Einkommen oder Berufsgruppe, von Weiterbildung pro-
fitieren können. Mit unserem Modell des Bildungsspa-
rens als einem Baustein zur Förderung des lebenslangen
Lernens schaffen wir die Möglichkeit, dass jede und je-
der ab 16 Jahren ein Bildungssparkonto eröffnen kann.
Bei regelmäßigen Einzahlungen gibt es eine staatliche
Bildungssparzulage, die mindestens so hoch ist wie die
Bausparförderung. Dabei profitieren von unserem Vor-
schlag insbesondere Geringverdiener, weil für sie eine
höhere Sparzulage vorgesehen ist, nämlich 100 Prozent
bei einer Mindesteinlage von 5 Euro im Monat. Im Ge-
gensatz zur Regierung haben wir auch eine verlässliche
finanzielle Grundlage eingeplant: Aus unserer Sicht
sollte für das Bildungssparen die Wohnungsbauprämie
abgeschafft werden.
Mit unserem Antrag „Förderung des lebenslangen
Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen“ zeigen
wir, wie eine umfassende Reform der finanziellen Unter-
stützung von Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teil-
nehmern aussehen muss. Wir schlagen ein neues „Er-
wachsenen-BAföG“ vor, in dem das bisherige „Meister-
BAföG“ aufgehen wird. Dieses soll einen Rechtsan-
spruch auf Förderung für eine staatlich zertifizierte Wei-
terbildung gewähren. Mit unserem Ansatz gehen wir in
drei entscheidenden Punkten deutlich weiter, als es die
Große Koalition hier vorschlägt.
Erstens wird mit der von uns vorgeschlagenen Form
der Finanzierung sichergestellt, dass jeder und jede Wei-
terbildungswillige die von ihm bzw. von ihr gewünschte
Maßnahme auch in Anspruch nehmen kann. Dabei wird
die Unterstützung entsprechend der individuellen Ein-
kommens- und Vermögensverhältnisse durch eine Kom-
bination aus Zuschuss und Darlehen gewährt. Damit
stellen wir sicher, dass insbesondere die Hürden für die
Weiterbildung von Geringqualifizierten gesenkt werden.
Ein besonderer Förderschwerpunkt wird darüber hinaus
für Frauen und Migranten eingerichtet.
Zweitens fördern wir mit unserem Ansatz das Errei-
chen jedes staatlich zertifizierten Abschlusses in der
Fort- und Weiterbildung. Der angestrebte Abschluss
muss dabei nicht im konkreten Zusammenhang mit dem
bereits ausgeübten Beruf oder den vorliegenden Qualifi-
kationen stehen. Beim Nachholen eines ersten Schulab-
schlusses wird die Unterstützung als Vollzuschuss ge-
währt.
Schließlich haben wir in unserem Antrag eine Reihe
von dringend notwendigen Begleitmaßnahmen vorgese-
hen, um die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland
wirklich nachhaltig zu erhöhen. Dazu gehört unter ande-
rem eine flächendeckende, unabhängige Weiterbildungs-
beratung, die bei den Verbraucherzentralen angesiedelt
ist. Wir wollen eine Absicherung von Langzeit- und
Lernkonten gegen die Insolvenz des Arbeitgebers ab der
ersten Stunde und die Fortführung in einem neuen Ar-
beitsverhältnis durchsetzen. Für kleine und mittlere Un-
ternehmen wollen wir zusätzliche Anreize schaffen, da-
mit diese die Weiterqualifizierung ihrer Beschäftigten
nachhaltig im Unternehmen verankern.
Damit Deutschland im Weiterbildungssektor An-
schluss an den internationalen Standard findet, ist deut-
lich mehr nötig, als die Große Koalition hier vorgelegt
hat.
Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung: Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir weiterbildungs-
willigen Arbeitnehmern nachhaltig verbesserte Rahmen-
bedingungen bei ihrer beruflichen Fortbildung anbieten.
Wir leisten mit dem novellierten Meister-BAföG einen
wichtigen Beitrag zur beruflichen Weiterqualifizierung
des Einzelnen, aber auch zur Stärkung der Wettbewerbs-
fähigkeit unserer Wirtschaft.
Allein im Jahr 2007 wurden nach diesem Gesetz rund
134 000 Menschen individuell gefördert. Dieses Förder-
instrument ist damit eine tragende Säule bei der Weiter-
entwicklung beruflicher Qualifikationen und nicht zu-
letzt bei der Sicherung der Konkurrenzfähigkeit der
Betriebe. Neue Produkte, neue Dienstleistungen, aber
auch betriebliche Strukturveränderungen erfordern an-
dere und verbesserte Qualifikationen. Im nationalen und
im globalen Wettbewerb haben die Betriebe die Nase
vorn, deren Personal innovativ und anpassungsfähig ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20929
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Eine hochwertige berufliche Qualifikation der Beschäf-
tigten ist dafür eine elementare Voraussetzung.
Deshalb räumen wir der Bildung für die Zukunft un-
seres Landes oberste Priorität ein. Mein Ziel ist es, je-
dem den Zugang zu Bildung, aber auch den Aufstieg
durch Bildung zu ermöglichen. Die Leistungen nach
dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz bieten eine
spürbare Hilfe. Individuelles Engagement und hohe
Leistungsbereitschaft müssen diese Förderung ergänzen.
Das Meister-BAföG hat in den vergangenen zwölf
Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass sich Fachkräfte
für ihre beruflichen Herausforderungen fit gemacht ha-
ben. Angesichts der demografischen Entwicklung gibt es
hierzu keine Alternative.
Ich freue mich, dass es über die Einschätzungen und
die Zielrichtung des Gesetzentwurfs einen breiten Kon-
sens mit den Sozialpartnern und den Ländern gibt. We-
sentliche Anregungen für die Novelle haben wir den Er-
fahrungen mit dem bisherigen Gesetz entnommen wie
auch aus den Diskussionen mit Fachleuten aus dem Ge-
setzesvollzug, mit Bildungsträgern, Fortbildungsteilneh-
mern und nicht zuletzt auch mit den Bildungsexperten
aus den Koalitionsfraktionen.
Von den vorgesehenen zahlreichen Leistungsverbes-
serungen möchte ich folgende hervorheben: Es soll eine
Aufstiegsfortbildung gefördert werden können, und
zwar auch dann, wenn der Fortbildungswillige bereits ei-
nen Fortbildungsabschluss erworben hat, den er zum
Beispiel aus Eigenmitteln selbst finanziert hat. Es ist
nicht einzusehen, dass er deshalb nach der jetzigen
Rechtslage keine Förderung bekommt, er also für seine
Anstrengungen quasi bestraft wird. Eine solche Eigen-
initiative darf sich nicht nachteilig auswirken. Durch ei-
nen Darlehenserlass von 25 Prozent bei Bestehen der
Prüfung wollen wir die Motivation bei der Weiterbildung,
bis zur Prüfung durchzuhalten, verstärken und belohnen.
Intention des Gesetzes ist, den Erwerb arbeitsmarktver-
wertbarer Fortbildungsabschlüsse zu erleichtern. Dieser
Leistungsanreiz ist ein Herzstück der AFBG-Novelle.
Uns ist es ein wichtiges Anliegen, die Aus- und Fortbil-
dung sowie Entwicklungsmöglichkeiten für diejenigen,
die in der frühkindlichen Erziehung tätig sind, nachhal-
tig zu verbessern. Daher sind die Aufstiegsfortbildungen
zur Erzieherin und zum Erzieher in die Förderung einbe-
zogen.
Angesichts des zunehmenden Fachkräftebedarfs in
der Altenpflege ist es ein wichtiges Signal, dass nun-
mehr auch privatrechtliche Fortbildungen der ambulan-
ten und stationären Altenpflege für eine dreijährige
Übergangszeit in die Förderung einbezogen werden sol-
len. Viele Betriebe, gerade im Handwerk, stehen vor ei-
nem Generationswechsel. Wir wollen mit diesem Gesetz
auch diejenigen, die eine Aufstiegsfortbildung erfolg-
reich absolviert haben, zur Betriebsübernahme und Exis-
tenzgründung ermuntern. Durch einen verbesserten und
gestaffelten Existenzgründungserlass wird künftig be-
reits die Schaffung eines dauerhaften Ausbildungs- oder
Arbeitsplatzes in einem neu gegründeten oder übernom-
menen Unternehmen mit einem Darlehensteilerlass ho-
noriert.
Ein zentrales Ziel der Novelle ist auch, die Vereinbar-
keit von Familie und beruflicher Aufstiegsfortbildung zu
verbessern. Der besonderen Situation von Teilnehmern
mit Kindern tragen wir mit der Erhöhung des Kinderer-
höhungsbetrages von 179 auf 210 Euro pro Kind und
Monat und dessen Bezuschussung zu 50 Prozent Rech-
nung. Alleinerziehende erhalten darüber hinaus einen
pauschalierten Kinderbetreuungszuschuss.
Notwendig ist auch die Integration von Bildungswilli-
gen mit Migrationshintergrund und einer Daueraufent-
haltsberechtigung. In ihnen schlummern Begabungsreser-
ven und ein Fachkräftepotenzial, auf das wir angesichts
der demografischen Entwicklung dringend angewiesen
sind. Auf die bisherige Voraussetzung einer dreijährigen
Mindesterwerbsdauer vor Beginn der Fortbildung wird
nun generell verzichtet.
Nachdem kürzlich die Leistungen nach dem BAföG
für Schüler und Schülerinnen und für Studierende ver-
bessert wurden, machen wir mit diesen Maßnahmen
deutlich, dass berufliche Bildung gleichermaßen im Fo-
kus steht. Der Gesetzentwurf gehört zu den Maßnahmen
der Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“,
mit denen das Ziel verfolgt wird, jedem den Aufstieg
durch Bildung zu ermöglichen. Diese Förderung wird er-
gänzt durch das Angebot von Fortbildungsordnungen
des BMBF, die gemeinsam mit den Sozialpartnern erar-
beitet werden und für Weiterbildung und Personalent-
wicklung genutzt werden.
Die mithilfe des Meister-BAföGs erworbenen Fortbil-
dungsabschlüsse bieten zum Teil sogar die Option, ein
Hochschulstudium aufzunehmen. Ich bin sehr froh da-
rüber, dass wir mit den Ländern beim Qualifizierungs-
gipfel einen grundsätzlichen Konsens über die Verbesse-
rung der Durchlässigkeit erzielt haben. Das zielt auf
Erleichterungen beim Hochschulzugang für beruflich
Qualifizierte und auf die Berücksichtigung der in der
Aufstiegsfortbildung erworbenen Kompetenzen im Stu-
dium.
Mit der vorliegenden Gesetzesnovelle verbessern wir
den Stellenwert und die Attraktivität der Aufstiegsfort-
bildung ganz erheblich. Das zeigt sich nicht zuletzt im
Finanzvolumen. Die Bundesregierung wird für die vor-
gesehenen Leistungsverbesserungen in den nächsten vier
Jahren insgesamt rund 200 Millionen Euro zusätzlich zur
Verfügung stellen. Das ist eine Steigerung um bis zu
60 Prozent. Damit wollen wir die weiterbildungswilligen
Arbeitnehmer spürbar entlasten, aber auch zusätzliche
Impulse für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft
geben. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Län-
dern hat sich in den vergangenen Jahren gerade bei die-
sem Gesetz bewährt. So berücksichtigt der Gesetzent-
wurf Vorschläge der Länder und nimmt die Erfahrungen
aus dem Gesetzesvollzug aus den Landesbehörden auf.
Die Länder müssen deshalb weiterhin in bewährter
Weise ihren Anteil von 22 Prozent an den Gesamtkosten
der Aufstiegsfortbildungsförderung tragen. Das ist eine
gute Investition in die Zukunft.
Bund und Länder kamen beim Bildungsgipfel über-
ein, die Bildungs- und Forschungsausgaben bis zum Jahr
2015 auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu stei-
20930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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gern. Mit diesem Gesetz wollen wir hierzu einen Beitrag
zur Umsetzung leisten. Damit ist die AFBG-Novelle ein-
gebettet in das Gesamtkonzept der Bundesregierung zur
Stärkung des beruflichen Bildungssystems, der Weiterbil-
dung und der Durchlässigkeit in den Hochschulbereich.
Dazu gehören die im Herbst beschlossene Einführung ei-
ner Bildungsprämie und des Weiterbildungssparens.
Dazu gehören auch die neu geschaffenen Aufstiegs-
stipendien, die über das duale System den Hochschulzu-
gang ermöglichen.
Darüber hinaus bieten die mithilfe des Meister-
BAföGs erworbenen Fortbildungsabschlüsse zum Teil
die Möglichkeit, ein Hochschulstudium aufzunehmen.
Der Hochschulzugang und die Berücksichtigung der in
der Aufstiegsfortbildung erworbenen Kompetenzen im
Studium sollen verbessert werden.
Gebündelt werden alle diese Maßnahmen in der Qua-
lifizierungsinitiative der Bundesregierung. Gemeinsam
ermöglichen sie den Aufstieg durch Bildung. Hierzu
leistet die AFBG-Novelle einen wichtigen Beitrag.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Hunger und Armut in Entwicklungsländern
durch die Förderung von ländlicher Ent-
wicklung nachhaltig bekämpfen
– Die Ursachen des Hungers beseitigen – Die
ländliche Entwicklung fördern
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Seit ich mich mit Ent-
wicklungspolitik beschäftige, stelle ich immer wieder er-
staunt fest, dass es Themen gibt, die für einige Monate
die Debatte beherrschen, dann aber wieder in der Ver-
senkung verschwinden – ungeachtet, wie wichtig sie
sind oder ob wir es geschafft haben, das Problem zu lö-
sen. Vor kurzem war dieses Thema die Nahrungsmittel-
krise, und die Politik hat versucht, umfassend darauf zu
reagieren. Es wurden Haushaltsumschichtungen vorge-
nommen, Anhörungen angesetzt, Anträge geschrieben,
Konferenzen veranstaltet und vieles mehr. Leider kommt
es mir dennoch manchmal wie Stückwerk oder besten-
falls das Schreiben diverser Papiere vor. Ich frage mich,
ob wir es schaffen, auch langfristig in diesem Thema en-
gagiert zu bleiben – denn das müssen wir. Das Thema
„ländliche Entwicklung“ wurde lange genug sträflich
vernachlässigt. Einen Beitrag zu einem langfristigen En-
gagement in der ländlichen Entwicklung soll der vorlie-
gende Antrag leisten. Im Folgenden möchte ich daraus
einige Aspekte hervorheben, die mir besonders wichtig
sind.
Dazu bietet sich an, zunächst Bilanz zu ziehen: Kom-
men wir zuerst zur Habenseite: Wir mussten mit diver-
sen Sofortmaßnahmen auf die jüngste Nahrungsmittel-
krise reagieren, um das Ärgste zu verhindern. So haben
wir im Haushalt des BMZ immerhin über 500 Millionen
Euro zusätzlich für Nahrungsmittelhilfe bereitgestellt,
die als Nothilfe den am schlimmsten von der Hunger-
krise Betroffenen helfen soll. Wir haben ein Paket von
weiteren Maßnahmen verabschiedet, welches zwar in
erster Linie auf die aktuelle Nahrungsmittelkrise reagie-
ren soll, aber auch einiges in Bezug auf den Klimawan-
del anstößt. Auch konnte nach langen und zähen Ver-
handlungen die sogenannte EU-Milliarde bereitgestellt
werden. Insofern denke ich, wir haben durch diese und
andere Sofortmaßnahmen wichtige Pflöcke einrammen
können.
Wir müssen aber nach dem ersten Schrecken über das
Ausmaß der Nahrungsmittelkrise auch den Fokus auf die
zukünftigen Entwicklungen richten und uns daher fra-
gen, was man mittel- bzw. langfristig tun kann und wel-
che Faktoren im Rahmen der ländlichen Entwicklung
eine Rolle für eine sichere Nahrungsmittelversorgung
und die Bekämpfung der Armut spielen. Dafür gibt es
keine Patentlösungen, vielmehr ist es ein langwieriges
Bohren dicker Bretter. Der vorliegende Antrag be-
schreibt sehr detailliert und umfassend die Voraussetzun-
gen und Instrumente, die für eine erfolgreiche ländliche
Entwicklung notwendig sind. Im Rahmen der heutigen
Debatte kann ich leider nur einige wenige Dinge nennen,
die mir besonders am Herzen liegen.
So freue ich mich besonders, dass wir in den jüngs-
ten Haushaltsberatungen beschlossen haben, den Titel
für internationale Agrarforschung um insgesamt
8,5 Millionen Euro zu erhöhen. Ziel der Agrarfor-
schung soll unter anderem sein, die regional unter-
schiedlichen Auswirkungen des Klimawandels auf
die Böden und Pflanzen zu erforschen, um auf die zu-
künftigen Bedingungen besser reagieren zu können.
Dabei kommt man in Diskussionen immer zwangs-
läufig auf das Thema Grüne Gentechnik. Diese wird
schon heute bei Soja, Mais oder Baumwolle einge-
setzt. Vielleicht kann moderne Biotechnologie auch
helfen, neue Möglichkeiten in Subtropen oder Tropen
zu eröffnen. Dabei müssen wir offen mit unseren
Partnerländern über die damit zusammenhängenden
Chancen und Risiken sprechen, aber ihnen, also unse-
ren Partnerländern, die Entscheidung über deren Ein-
satz überlassen. Wenn ich den Antrag der Grünen
lese, finde ich es traurig, dass manche glauben, ihre
ideologisch motivierten Entscheidungen anderen auf-
zwängen zu können. So anmaßend sollten wir nicht
sein.
Auch fordern wir in unserem Antrag das BMZ auf,
ländliche Entwicklung zum Schwerpunkt seiner Tätig-
keit zu machen, und ich hoffe, dass sich daran nichts än-
dern wird, wenn das nächste Thema hochgespielt wird.
Wir müssen unsere Bemühungen bündeln und dürfen
uns nicht verzetteln, wie Francis Fukuyama in seinem
jüngsten Buch über das „Staaten bauen“ schreibt. Auch
hoffe ich, dass es uns gelingt, unsere eigene Bevölke-
rung auf diesem Weg mitzunehmen und ein entsprechen-
des Problembewusstsein bei den Menschen zu veran-
kern. Denn eine nachhaltige ländliche Entwicklung
bedeutet auch Einschnitte in unserem Leben – nicht nur
aufgrund der finanziellen Mittel, mit denen wir unsere
Partnerländer unterstützen, sondern auch beispielsweise
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20931
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(B) (D)
in Bezug auf Fragen unserer europäischen Landwirt-
schaft. Ich kann mir gut vorstellen, dass unsere Forde-
rung nach „Abschaffung von marktverzerrenden Agrar-
subventionen in den Industrieländern“, um Produzenten
in Entwicklungsländern nicht weiter durch Agrardum-
ping zu schädigen, nicht uneingeschränkte Begeisterung
auslöst. Wir erleben oft genug Diskussionen, die nicht
mehr entlang von Fraktionszugehörigkeit, sondern ent-
lang von Ausschussgrenzen verlaufen. Diese Diskussio-
nen darf man nicht scheuen – im Gegenteil. Denn nur so
kommen wir zu umfassenden und strukturellen Lösun-
gen.
In diesen Diskussionen müssen wir uns aber auch im-
mer wieder vor Augen führen, dass wir dabei über länd-
liche Entwicklung in Regionen dieser Welt sprechen, in
denen unsere eigenen Erfahrungswerte, Techniken und
Vorstellungen nicht so ohne Weiteres übertragbar sind.
Wir müssen bei unseren Programmen in den Partnerlän-
dern immer berücksichtigen, dass eine erfolgreiche länd-
liche Entwicklung von vielen Faktoren abhängt, die man
nicht über einen Kamm scheren kann, und müssen daher
vor allem den Erfahrungsschatz der örtlichen Bevölke-
rung einbringen.
Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist für
mich das Finden von „standortgerechten“ Lösungen. So
habe ich beispielsweise jüngst in Äthiopien eine span-
nende Diskussion über die Frage erlebt, ob es möglich
ist, ganze Regionen gegen Ernteausfälle aufgrund von
Klimakatastrophen zu versichern. In diesem Bereich hat
beispielsweise CARE in Indien in Zusammenarbeit mit
der Allianz schon erste vielversprechende Erfahrungen
gesammelt; diese lassen sich aber nicht eins zu eins auf
Äthiopien übertragen. Dennoch glaube ich, dass man mit
diesem Instrument – auch wenn es kein Allheilmittel
ist – die Situation von vielen Kleinbauern verbessern
kann.
Es gibt noch viele weitere, oftmals auch prominentere
Instrumente, mit denen wir die Partnerländer unterstüt-
zen. Doch eines ist uns allen aber auch klar: All das wird
wahrscheinlich nicht ausreichen, um jeden Menschen
auf der Welt von heute auf morgen eine ausreichende
Versorgung mit Nahrungsmitteln zu garantieren. Dazu
sehen wir uns schon heute bei fast 1 Milliarde Hungern-
den kaum in der Lage – und die zu erwartenden Auswir-
kungen des Klimawandels werden es nicht gerade leich-
ter machen. Woran liegt das? Darauf gibt es keine
Patentantwort. Die Ursachen sind vielfältig und kom-
plex, und ich habe in den unterschiedlichsten Diskus-
sionsrunden viele wichtige und richtige Dinge gehört.
Doch eines kam mir immer zu kurz, nämlich, dass wir
leicht vergessen, dass unsere Möglichkeiten und unser
Einfluss, aber auch unsere Verantwortlichkeit begrenzt
sind. Wenn wir beispielsweise von der Implementierung
des Rechts auf Nahrung sprechen, muss man zuallererst
an die nationalen Regierungen in den Partnerländern
appellieren, auch wenn die internationale Gemeinschaft
ihnen in der Umsetzung dieses Rechts natürlich helfen
kann und auch hilft. Wenn ich mir aber heute die Liste
der FAO, in welchen Ländern aufgrund von Nahrungs-
mittelknappheit Unruhen drohen, anschaue, dann finde
ich dort auch einige Länder wieder, die auf den diversen
Indizes über Bad Governance weit oben stehen. Dabei
stellt sich mir die Frage, ob das Problem der Nahrungs-
mittelversorgung manchmal nicht eine Frage der Verfüg-
barkeit, sondern der Verteilung ist. Dazu gibt es ein-
schlägiges Datenmaterial. Und spätestens dann stoßen
wir an die Grenzen unseres Einflusses, wenn wir ent-
sprechende Regime dazu bewegen möchten, der ärmsten
Bevölkerung Zugang zu Nahrung zu gewähren und für
Kleinbauern Anreize für höhere Produktion zu schaffen.
Wie schwierig es für die Bevölkerungen einiger dieser
Länder ist, aus der Armutsfalle zu entrinnen, zeichnet
Collier in seinem Buch „The Bottom Billion“ nach.
Das bringt mich auf eine zweite Fehleinschätzung:
Wir unterstützen in unseren Partnerländern die vielfäl-
tigsten Projekte, von denen wir hoffen, dass sie in ihren
jeweiligen Sektoren nachhaltige Wirkung erzielen. Viele
dieser Projekte sind erfolgreich, einige leider auch weni-
ger. Doch wenn wir über den Aufbau funktionierender
lokaler Agrarmärkte, Ertragssteigerungen in der Land-
wirtschaft oder über die Erhöhung der Kaufkraft von
Kleinbauern und der Bevölkerung im ländlichen Raum
sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Erfolge
leider nicht planbar sind. Doch gelegentlich gewinnt
man den Eindruck, dass in manchen entwicklungspoliti-
schen Debatten der Traum von einer funktionierenden
sozialistischen Planwirtschaft mitschwingt. Es wird be-
hauptet: Wenn man nur x in die Hand nimmt, wird am
Ende y herauskommen. Das kann, wie William Easterly
nachgewiesen hat, natürlich nicht funktionieren. Bedau-
erlicherweise können wir Wirkungen und Erfolge in Ab-
hängigkeit zum Einsatz nicht prognostizieren. An den
gegebenen Realitäten und Unsicherheiten führt kein
Weg vorbei.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur
kurz auf den Antrag der Grünen eingehen, der heute
in erster Lesung mitberaten wird. Sehr amüsiert hat
mich die ziemlich vehemente Forderung, die ODA-
Mittel zu erhöhen. Liebe Kolleginnen und Kollegen
vom Bündnis 90/Die Grünen, kommt Ihnen diese
Einsicht nicht etwas spät? Als Sie dazu Gelegenheit
hatten und Regierungsverantwortung trugen, düm-
pelte die ODA-Quote zwischen 0,26 und 0,28 Pro-
zent. Die unionsgeführte Bundesregierung hat es im-
merhin geschafft, diese Quote auf 0,37 Prozent im
Jahr 2007 zu steigern.
Wir können heute ziemlich gut prognostizieren, in
welchem Maße sich das Klima ändern wird und welche
Auswirkungen der Klimawandel auf die Ernährungssi-
cherheit hat. Dazu gibt es gute Studien beispielsweise
von Germanwatch und Brot für die Welt. Wir können
aber nicht abschätzen, wie groß die Anpassungsfähigkeit
von Mensch und Natur an die oben genannten Verände-
rungen sein wird. Auch wissen wir nicht, ob es uns ge-
lingt, baldmöglichst entsprechende Ergebnisse in der
Agrarforschung zu erzielen und diese auch jedem Klein-
bauern, der sie benötigt, zur Verfügung zu stellen; denn
dies kann beispielsweise auch von Governance- oder
Bildungsfragen abhängen.
Wir sollten also versuchen, all den Schwierigkeiten,
vor denen wir stehen, mit den im Antrag genannten
20932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Instrumenten zu begegnen, wie beispielsweise die Aus-
weitung von Agrarforschung, die Fokussierung auf die
ländliche Entwicklung sowie das Stärken der Verant-
wortlichkeit der jeweiligen Regierung. Vor allem müs-
sen wir nach den langwierigen Debatten endlich auch
mit der Umsetzung unserer Agenda beginnen. Alles da-
rüber Hinausgehende würde zu unverantwortlichen Ver-
zögerungen führen, würde unsere eigenen Möglichkei-
ten überschätzen und wäre zum Scheitern verurteilt, und
das können wir uns nicht leisten.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Die weltweite Armut hat
vor allem ein ländliches Gesicht. Trotz teils gravierender
Landflucht und voranschreitender Urbanisierung leben
rund 80 Prozent der Menschen in Entwicklungsländern
und circa 75 Prozent der absolut Armen im ländlichen
Raum. Dort sind die Einkommensmöglichkeiten be-
schränkt, Infrastruktur und Industrie sind meist mangel-
haft oder gar nicht vorhanden. Demzufolge sind die
meisten Menschen in den Entwicklungsländern auf die
Landwirtschaft angewiesen. Obwohl sie eigentlich an
der Quelle der Nahrungsproduktion tätig sind, reichen
die Erträge oft nicht aus, die Ernährung ihrer Familien
sicherzustellen. Auch deshalb ist die Zahl der weltweit
hungernden Menschen auf 923 Millionen angewachsen.
Das Millenniumsziel – die Anzahl der unterernährten
Menschen bis zum Jahr 2015 zu halbieren – wird damit
noch schwieriger zu erreichen.
Besorgniserregend ist vor allem die Situation in Sub-
sahara-Afrika. Die landwirtschaftliche Produktion ist
dort in den vergangenen Jahren kaum gestiegen. Rund
30 Prozent der jährlich in Afrika konsumierten Nah-
rungsmittel müssen importiert werden, und das, obwohl
circa 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft
tätig sind.
Dieser Istzustand stellt eine inakzeptable Situation für
die Menschen in den betroffenen Gebieten dar. Spätes-
tens seit der Anfang des Jahres einsetzenden Nahrungs-
mittelkrise sollte jedem deutlich geworden sein, dass
diese Importabhängigkeit katastrophale Folgen für die
Versorgung der Menschen in den Entwicklungsländern
hat.
Neben der weltweit stärkeren Nachfrage nach Grund-
lebensmitteln wie Reis oder Weizen und veränderten Er-
nährungsgewohnheiten, der stetig steigenden Produktion
von Agrartreibstoffen und nicht zuletzt der Spekulation
unverantwortlicher Händler an den Warenterminbörsen
sind es vor allem die immer noch immensen Summen an
Agrarexportsubventionen westlicher Staaten, die es den
Bauern in den Entwicklungsländern schier unmöglich
machen, profitabel zu wirtschaften.
Auch wenn das nicht alle hier im Hause gerne hören
möchten, Fakt ist: Die subventionierten Nahrungsmittel
der Industrienationen zerstören die lokalen Agrarmärkte
in den Entwicklungsländern. Allein im letzten Jahr ha-
ben die OECD-Staaten 349 Milliarden Dollar an Produk-
tions- und Exportsubventionen für ihre Bauern ausgege-
ben. Dies kann und darf nicht Sinn und Zweck einer
nachhaltigen und damit langfristig auf Selbstständigkeit
der betroffenen Länder ausgerichteten Politik sein.
Mit Gratislieferungen in arme Länder werden die ein-
heimischen Kleinbauern an den Rand ihrer Existenz ge-
bracht, die oft nicht mit den auf dem Markt angebotenen
Hilfsgütern konkurrieren können. Wie schon in der De-
batte um eine geeignete Nahrungsmittelhilfekonvention
angemerkt, verstärkt diese Situation die Abhängigkeit
der Empfängerländer von Nahrungsmittelhilfe und steht
konträr zu dem eigentlichen Ziel, den Empfängerländern
langfristig eine eigenständige Existenz- und damit Über-
lebensgrundlage zu sichern.
Der Weltagrarhandel zwischen Norden und Süden
muss daher fair ausgestaltet werden. Fair bedeutet: ge-
rechte Marktchancen durch Zollabbau, Abschaffung der
Exportsubventionen sowie ein Ende der handelsverzer-
renden internen Stützungen in den Industriestaaten.
Daher ist es wichtig, richtig und notwendig, dass die
Agrarexportsubventionen der EU bis 2013 vollständig
abgebaut werden. Je früher, desto besser!
In diesem Zusammenhang sollte auch angemerkt wer-
den, dass Hunger kein Problem der absolut produzierten
Nahrungsmittelmenge ist. Mitnichten! Die Weltlandwirt-
schaft könnte heute schon 9 Milliarden Menschen aus-
reichend ernähren. Hunger ist ein Problem des Zugangs
zur Nahrung. Insbesondere den Kleinbauern fehlt dieser
Zugang. Für sie ist es zum Teil unmöglich, produktive
Ressourcen wie Land, Kredite, Betriebsmittel etc. zu er-
langen. Dieser Mangel stellt ein großes Entwicklungs-
hemmnis in vielen Ländern dar.
Gerade weil deutlich wurde, dass die Nahrungsmittel-
krise nicht in erster Linie eine Versorgungs-, sondern
eine Verteilungs- und Armutskrise ist, ist es zwingend
erforderlich, die Produktivität der jeweiligen kleinbäuer-
lichen Wirtschaftseinheiten zu verbessern. Daher muss
es ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung im Rah-
men der bi- und multilateralen Zusammenarbeit sein,
Förderstrategien der ländlichen Entwicklung zu unter-
stützen, die auf kleinbäuerliche Produzenten in benach-
teiligten Regionen ausgerichtet sind. Denn die meisten
Kleinbauern, die ungefähr 400 Millionen Betriebe mit
weniger als 2 Hektar Land pro Betrieb bewirtschaften,
produzieren selten Überschüsse. Zum Teil müssen sie
sogar Nahrungsmittel zur Versorgung der Familie zukau-
fen. Die anerkannte Hebelwirkung von Mikrokrediten
könnte auch hier erfolgversprechende Wirkung zeigen.
Wenn es um ländliche Entwicklung geht, dann geht es
auch immer um Anbauflächen und damit um geeignete
Umweltschutzstrategien. An vorderster Stelle stehen da-
bei vor allem der Tropen- und Regenwaldschutz. Der
Schutz dieser einzigartigen Wälder – sei es nun in
Ecuador, in der Republik Kongo oder in Indonesien –
muss fester Bestandteil dieser Strategien sein. Denn Re-
genwaldschutz bedeutet immer auch Klimaschutz. Es ist
daher wichtig, Biodiversitäts- und Agrobiodiversitäts-
konzepte zu fördern.
Neueste Studien belegen, wie wichtig die Förderung
der ländlichen Entwicklung auch für die Gesellschafts-
struktur eines Landes oder einer Region sein kann. Da-
raus geht hervor, dass Wachstumsraten kleiner und mitt-
lerer landwirtschaftlicher Unternehmen besonders zur
Armutsbekämpfung beitragen. Gestützt werden diese
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20933
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(B) (D)
Ergebnisse auch durch den letzten Weltbankbericht
Agriculture for Development, der deutlich anführt, wel-
che Chancen die Förderung der ländlichen Entwicklung
birgt. Es ist daher unverständlich, dass die öffentliche
Entwicklungszusammenarbeit auf bi- und multilateraler
Ebene im Bereich Landwirtschaft von 25 Milliarden US-
Dollar im Jahr 1986 auf circa 12 Milliarden US-Dollar
im Jahr 2000 zurückgegangen ist.
Umso begrüßenswerter ist es, dass die Bundesregie-
rung erkannt hat, welche immense Bedeutung die ländli-
che Entwicklung hat. Die Nettoausgaben für diesen Sek-
tor erhöhten sich von 382,3 Millionen Euro im Jahr 2005
auf 576,8 Millionen Euro im Jahr 2006. In diesem Jahr
sind mittels verschiedener Instrumente insgesamt
600 Millionen Euro allein für die Ernährungssicherheit
neu investiert worden. Aus den oben genannten Gründen
halte ich es für wichtig, dass die Bundesregierung im
Rahmen der bi- und multilateralen Zusammenarbeit die
ländliche Entwicklung zu einem Schwerpunkt der deut-
schen Entwicklungszusammenarbeit macht und in den
kommenden Haushaltsjahren dieses deutsche Engage-
ment fortsetzt.
Wenn wir eines aus den Entwicklungen der letzten
Jahren – und insbesondere aus den teils frappierenden
Folgen der diesjährigen Nahrungsmittelkrise – gelernt
haben dürften, dann dies: Ländliche Entwicklung und
Ernährungssicherung sind zwei untrennbar miteinander
verwobene Bereiche. Wir werden nur dann langfristigen
und damit nachhaltigeren Erfolg im Kampf gegen die
Armut und den Hunger auf dieser Welt haben, wenn den
Entwicklungsländern gerechte Chancen zur Teilhabe am
Welthandel ermöglicht werden.
Viele Entwicklungsländer wurden aufgrund der
egoistischen und rücksichtslosen Wirtschaftspolitik der
Industriestaaten von Export- zu Importländern. Diese
Entwicklung, die insbesondere die Ärmsten der Armen
zu spüren bekamen, muss wieder ins richtige Gleichge-
wicht gerückt werden. Dazu ist es auch notwendig, dass
die Bundesregierung – allen voran Bundesentwicklungs-
ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul – sich weiterhin
dafür einsetzt, dass die WTO-Verhandlungen mit einem
entwicklungsorientierten Abkommen abgeschlossen
werden. Dieses Abkommen muss die bisher in Hong-
kong erreichten Ergebnisse sichern und die vereinbarten
Umsetzungen aus Doha anstreben. Es gibt jüngst wieder
Hoffnung, dass es vielleicht doch noch bald zu einem er-
folgreichen Abschluss der WTO-Runde kommt.
Ziel unseres heutigen Antrages ist es, dass wir zu-
künftig, in noch engerer Zusammenarbeit, gemeinsam
mit den Menschen in den Entwicklungsländern den Bo-
den bereiten, den sie morgen bestellen, beackern und
dessen Früchte sie in absehbarer Zeit ernten können. Ich
meine, wir stellen hierfür die richtigen Gerätschaften be-
reit und haben – wenn auch noch an der einen oder ande-
ren Stelle mit Abstrichen versehen – viel für gute Vo-
raussetzungen getan. Wie reich der Ertrag sein wird, den
die Ernte am Ende einbringen wird, liegt aber auch zu ei-
nem Großteil in den Händen der Entwicklungsstaaten
selbst. Sie tragen ebenfalls eine hohe Verantwortung
dafür, dass die Stellschrauben an der richtigen Stelle
angezogen werden. Immer noch sind strukturelle und
politische Probleme – wie eine ungerechte Land- und
Einkommensverteilung oder Korruption – in den Ent-
wicklungsländern Ursachen dafür, dass die Entwicklung
des ländlichen Raumes nicht vorankommt bzw. nicht
den Ärmsten zugutekommt.
Die sozialdemokratische Regierung Brasiliens hat
hier inzwischen auf dem südamerikanischen Kontinent
eine Vorbildfunktion eingenommen, indem sie das Recht
auf Nahrung in der nationalen Gesetzgebung verankert
hat. Im Interesse der ärmsten Menschen hoffen wir, dass
möglichst alle Entwicklungs- und Schwellenländer sich
diesem Beispiel anschließen. Mit den vorgeschlagenen
Maßnahmen unseres Antrages werden wir diese Länder
wirkungsvoll unterstützen können und mit einer gemein-
samen Kraftanstrengung vielleicht doch noch die Mil-
lenniumsentwicklungsziele erreichen.
Marianne Schieder (SPD): Hunger und Armut sind
eng verknüpft und vielfach im ländlichen Raum zu fin-
den. Daher braucht es einen umfassenden Ansatz, wenn
wir den Hunger wirksam bekämpfen wollen. Es kann
und darf nicht sein, dass ausgerechnet dort die meisten
Hungernden leben, wo Nahrungsmittel produziert wer-
den. Im Folgenden einige grundsätzliche Eckpunkte, die
wir anstreben müssen, um nachhaltig die Situation zu
verbessern.
Ernährung muss wieder mehr regional, saisonal und
kulturell gedacht werden. Soweit es die natürlichen Ge-
gebenheiten erlauben, muss Nahrung wieder dort produ-
ziert werden, wo die Menschen sie brauchen. Damit
kann vielerorts die Eigenversorgung gestärkt und gleich-
zeitig Menschen die Möglichkeit eröffnet werden, Ein-
kommen zu generieren. Es ist ein Irrglaube, dass unsere
Landwirtschaft hier die Welt ernähren könnte. Wer dies
glaubt, den frage ich, von welchem Geld die Menschen
im Süden die Lebensmittel aus den Industrienationen be-
zahlen sollen? Ganz zu schweigen von den ökologischen
Folgen, wenn wir Produkte unnötig transportieren und in
einzelnen Regionen die Produktion überdimensioniert
steigern. Wir brauchen internationalen Agrarhandel dort,
wo er notwendig ist, aber nicht, wo er vorhandene Poten-
ziale zerstört.
Insgesamt ist es wichtig, beim Anbau von Lebensmit-
teln wieder stärker die natürlichen Gegebenheiten zu
berücksichtigen, um die natürlichen Ressourcen wie
Wasser, Land und Saatgut nachhaltig zu nutzen. Nur so
haben wir angesichts weltweit steigender Bevölkerungs-
zahlen die Chance, dass auch Generationen nach uns
eine zukunftsweisende Lebensmittelproduktion betrei-
ben können.
Es braucht gerade im Sektor der Landwirtschaft um-
fassende Entwicklungsinitiativen für die Länder, die
vom Hunger gezeichnet oder davon bedroht sind. So ist
es aus meiner Sicht erforderlich, die vorhandenen klein-
bäuerlichen Strukturen zu stärken, andererseits aber auch
zu einem sozial abgefederten notwendigen Strukturwan-
del hin zu wirtschaftlicheren Betriebsgrößen beizutra-
gen, ohne den die Erhöhung der bäuerlichen Produktivi-
tät nicht möglich sein wird. Dabei ist es notwendig,
20934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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ausreichend Einkommensmöglichkeiten im ländlichen
Raum zu schaffen gerade für die Teile der Bevölkerung,
die nicht in der Landwirtschaft unterkommen können.
Dies könnte unter anderem durch die Weiterverarbeitung
der Rohprodukte vor Ort erfolgen. Insgesamt macht es
jedoch deutlich, dass wir für die Entwicklung der ländli-
chen Räume nicht nur hier in Deutschland ressortüber-
greifende Konzepte brauchen. Gerade im Bereich der In-
frastrukturpolitik gibt es enormen Nachholbedarf, wenn
wir die Situation in den ländlichen Räumen weltweit
verbessern wollen. Hinzu kommen unumgängliche In-
vestitionen in die Bildungspolitik.
Eine Ursache für Hunger ist nicht zuletzt verloren ge-
gangenes Wissen bei der Produktion und Verarbeitung
von Lebensmitteln. Hier gilt es anzusetzen, um ur-
sprünglich vorhandenes Know-how wieder zugänglich
zu machen und gleichzeitig in einen engen Austausch zu
treten, um Fehlentwicklungen, die wir bereits überwun-
den haben, bei der Entwicklung in ärmeren Ländern von
vorneherein zu vermeiden. Gleichzeitig ist es unsere
Pflicht als Land mit vielen Möglichkeiten und Potenzia-
len, den Schwächeren insbesondere im Bereich der For-
schung unter die Arme zu greifen.
Es braucht einen gemeinsamen und gleichberechtig-
ten Dialog mit den Partnerländern über den Einsatz
moderner Biotechnologien. Es darf nicht sein, dass wir
einerseits Wege aus Hunger und Armut durch eine um-
fassende ländliche Entwicklung ermöglichen und ande-
rerseits neue Abhängigkeiten durch den unreflektierten
Einsatz neuer Technologien fördern. So ist Gentechnik
für den Kampf gegen Hunger weiterhin sehr stark in-
frage zu stellen, da wir die ökologischen Folgen nur sehr
begrenzt einschätzen können und mittelfristig die Land-
wirte in vielen Ländern in die Abhängigkeit einiger we-
niger Konzerne getrieben würden. Einkommen aus der
Lebensmittelproduktion müssten sie größtenteils in Saat-
gut sowie den damit verbundenen Dünge- und Pflanzen-
schutzmitteln investieren. Für Investitionen, um der Ar-
mut zu entkommen, würden kaum noch Mittel übrig
bleiben.
Wie in unserem Antrag auch festgestellt wird, ist eine
der Hauptursachen für Hunger die Verteilung von Le-
bensmitteln. Hier stehen wir im Moment vor der Situa-
tion, dass sich sehr unterschiedliche Partner gegenüber-
stehen: einerseits oft sehr klein strukturierte Produzenten
und andererseits sehr stark konzentrierte und internatio-
nal agierende Händler. Wer in diesem Zusammenspiel
von Groß und Klein dominiert, ist klar. Daher gilt es, ein
besonderes Augenmerk auf die weitere Gestaltung der
internationalen Handelsstrukturen zu legen. Es braucht
klare rahmenpolitische Entscheidungen, um mehr
Gleichgewicht zwischen den einzelnen Partnern herzu-
stellen. Dazu gehört das Zulassen von Schutzmechanis-
men für Entwicklungsländer genauso wie der völlige
Abbau von verzerrenden Exportsubventionen.
Die aufgezeigten Eckpunkte machen deutlich, dass
die Bekämpfung des Hungers nicht nur eine Aufgabe
der Entwicklungspolitik ist. So wie unsere Landwirt-
schaft hier immer stärker von globalen Entwicklungen
beeinflusst wird, ist dies zum Teil noch viel stärker in
den armen Ländern der Fall. Es darf nicht sein, dass die
Landwirtschaft im Süden zusammenbricht, weil wir mit
subventionierten Produkten oder Überschussproduktion
die lokalen Märkte in wirtschaftlich schwächeren Län-
dern unterwandern. Genauso wenig ist es für unsere
Landwirtschaft sinnvoll, auf Billigimporte zu setzen, um
die Produktion im eigenen Land aus finanzieller Sicht
unrentabel zu machen und die Menschen im Süden der
Möglichkeit der Eigenproduktion zu berauben.
Daher braucht es ein stärkeres Zusammenspiel zwi-
schen der Landwirtschaftspolitik im Norden und Süden,
in Entwicklungs- und Industrieländern. Hier wie da
braucht es ein Mitdenken der Folgen, die durch einzelne
Maßnahmen entstehen. Es braucht einen intensiven Dia-
log und stärkeres Miteinander. Nur so kann es gelingen,
den Hunger zu bekämpfen, die wachsende Weltbevölke-
rung zu ernähren und die natürlichen Ressourcen welt-
weit so zu nutzen, dass auch Generationen nach uns
noch fruchtbare Äcker, Wiesen und Wälder vorfinden.
Aus meiner Sicht beinhaltet unser Antrag ein umfas-
sendes Bild für eine nachhaltige ländliche Entwicklung,
die wir brauchen, um den Hunger zu bekämpfen und
weltweit eine stabile Lebensmittelproduktion aufzu-
bauen.
Dr. Karl Addicks (FDP): Die Anträge, über die wir
heute sprechen, sind in vielen Punkten gut und schön. Es
steht auch in beiden viel Wichtiges und Richtiges drin.
Besonders der Antrag der Koalition hat sich in großer
Breite dem Thema gewidmet. Man hat fast den Ein-
druck, dass wir hier eine Zusammenstellung des Neun-
Punkte-Plans und des Berichtes der Arbeitsgruppe zur
Nahrungsmittelkrise aus dem Bundeskanzleramt vorlie-
gen haben. Das nenne ich dann mal Gewaltentrennung.
Jetzt lässt sich das Parlament schon von der Regierung
die Konzepte ausarbeiten. Ich habe von Gewaltenteilung
ein anderes Verständnis. Aber wir haben ja schon häufig
bei der Großen Koalition gesehen, dass die Konzepte aus
den Ministerien gern als Anträge aus der Mitte des Parla-
ments deklariert werden.
Doch kommen wir nun zu den Anträgen. Den Kolle-
gen von den Grünen können wir nur in dem Punkt zu-
stimmen, dass ländliche Entwicklung der Schlüssel zu
Entwicklung ist. Richtig. Aber dann hört es mit den Ge-
meinsamkeiten auch schon auf.
Sie fordern einen Paradigmenwechsel, aber das Ein-
zige, was Ihnen dazu einfällt, ist die Forderung nach
mehr Geld. Das ist doch dann kein Paradigmenwechsel,
sondern eher ein „Weiter so“, nur mit mehr Geld. Dabei
haben die Entwicklungen doch gezeigt, dass mehr Geld
eben gerade nicht mehr Entwicklung und weniger Hun-
ger bedeutet. Worin besteht denn Ihr Paradigmenwech-
sel? Das ist mir im ganzen Antrag nicht klar geworden.
Weiter geht es auf Seite drei: Dort fordern Sie, dass
neben bestehenden Sektorschwerpunkten die ländliche
Entwicklung als zusätzlicher Schwerpunkt zu fördern
ist. Da stimmen wir Ihnen vollkommen zu. Und genau
aus diesem Grund haben wir die Verpflichtungen der
deutschen Bundesregierung zur Begrenzung der Sektor-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20935
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schwerpunkte abgelehnt. Der EU-Verhaltenskodex bin-
det uns nämlich jetzt, sodass wir die ländliche Entwick-
lung in verschiedenen Ländern eben nicht mehr fördern
können, wie wir das gerne täten. Wenn Sie diese Ansicht
also offensichtlich teilen, wieso haben Sie sich dann aber
im Ausschuss nicht gegen diese Begrenzung ausgespro-
chen? Da gehen bei Ihnen wohl wieder Worte und Taten
auseinander.
Sie fordern auch wieder Quoten, so in dem Feststel-
lungsteil des Antrags. Dort erklären Sie noch, dass die
Millennium Development Goals mit der Festlegung der
Entwicklungsfinanzierung auf 0,7 Prozent BIP bis 2015
nicht zu erreichen sind. Da haben Sie wahrscheinlich
recht, wobei ich anmerken möchte, dass die Kernauf-
gabe von Entwicklungspolitik nicht die MDGs sind, son-
dern Entwicklung, und zwar vor allem wirtschaftliche
Entwicklung, damit eines Tages die MDGs auch aus ei-
gener Kraft erreicht werden können. MDGs sind näm-
lich Meilensteine. Sie aber haben die MDGs zum Selbst-
zweck gemacht, und das ist der Grund für die verbreitete
Inkohärenz in der Entwicklungspolitik. Zwei Seiten spä-
ter aber fordern Sie wieder die Festlegung einer Quote,
nämlich 10 Prozent für ländliche Entwicklung. Aber was
denn nun, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen? Heute diese Quote, morgen jene Quote, je
nachdem was gerade in Mode ist. Wir aber wollen hier
mehr Konsequenz und vor allem Effizienz.
Auf die Grüne Gentechnik komme ich gar nicht erst
zu sprechen. Da ist bei den Grünen im Gegensatz zum
Koalitionsantrag kein Umdenken erkennbar. Schade.
Lassen Sie mich am Schluss noch etwas Grundsätzli-
ches sagen. Bei allen Konferenzen in den letzten Mona-
ten seit der Nahrungsmittel- und Finanzkrise werden im-
mer nur enorme Summen in den Raum geworfen, immer
nach dem Motto: Wer bietet mehr? Aber ein kohärentes
Konzept, geschweige denn ein abgestimmtes Handeln
vermisse ich noch immer.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Die Ernäh-
rungslage in der Welt ist unhaltbar für viel zu viele Men-
schen. Die Regierungen der Industrieländer tragen eine
große Verantwortung an dieser Situation. Lassen Sie
mich die Situation noch einmal kurz skizzieren:
Auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom verspra-
chen die Regierungen, den Hunger auf der Welt bis 2015
zu halbieren. Die Halbzeitbilanz in diesem Jahr ist nie-
derschmetternd. Die Zahl der Hungernden ist auf über
923 Millionen Menschen angestiegen. Das tägliche Ein-
kommen der meisten afrikanischen Männer und Frauen
liegt unter 1 Euro. Für ein europäisches Rind hingegen
wird 2,50 Euro pro Tag an Subventionen ausgegeben.
Die Industriestaaten subventionieren ihre Landwirtschaft
mit jährlich rund 268 Milliarden Euro – rund viermal so-
viel, wie sie für Entwicklungshilfe ausgeben. Diese Zah-
len geben die Unmenschlichkeit dieses Welthandelssys-
tems wieder.
Die Ministerin Wieczorek-Zeul weist selbst darauf
hin: „Alle Programme zur Einlösung des Rechts auf
Nahrung werden nichts ändern, wenn es uns nicht ge-
lingt, die Strukturen im Welthandel gerechter zu gestal-
ten.“ In ihrem Antrag listen die Regierungsparteien die
vielfältigen Gründe für die zunehmende Armut und den
Hunger auf. Es wird betont, dass die Nahrungsmittel-
krise vor allem eine Verteilungs- und Armutskrise ist. Es
wird sogar auf die „vorschnelle Handelsliberalisierung
ohne Schutzmöglichkeiten … einheimischer Produzen-
ten“ hingewiesen. – Diese plötzliche Hellsichtigkeit ist
erstaunlich!
Doch was folgern Sie daraus, Kolleginnen und Kolle-
gen der CDU und SPD: Sie möchten dem Anstieg der
Nahrungsmittelpreise durch Agrartreibstoffe – an deren
Produktionssteigerung die Bundesregierung durch die
Quotenpolitik massgeblich beteiligt ist – durch Zertifi-
zierung entgegentreten. Eine Zertifizierung ist nicht nur
aufgrund mangelnder institutioneller Infrastruktur kaum
möglich, sie käme auch viel zu spät. Des Weiteren
möchten Sie die „Potenziale der modernen Biotechnolo-
gie prüfen“, anstatt lokale und angepasste Anbaumög-
lichkeiten zu fördern. Auch werden die Wirtschaftspart-
nerschaftsabkommen – EPAs – der EU mit den AKP-
Staaten – Afrika, Karibik, Pazifik – nicht erwähnt. Diese
sind armutsverschärfend und behindern jegliche regio-
nale Marktintegration innerhalb Afrikas. Auch gehen Sie
nicht auf die Spekulation von Nahrungsmitteln ein, die
laut Weltbank ein Hauptgrund für die Verteuerung von
Nahrungsmitteln war.
Zusammengefasst: Ihre Analyse ist in vielen Punkten
zutreffend. Doch ziehen die Regierungsparteien – wie so
oft – keine Schlussfolgerungen für ihr Handeln daraus.
Ihre Forderungen kratzen nur an der Oberfläche der Ur-
sachen des Hungers. Diesen Antrag lehnen wir ab.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt
da mehr Kohärenz zwischen Analyse und Forderungen
auf. Es werden vier zentrale Bereiche aufgelistet, in de-
nen dringender Handlungsbedarf besteht:
Erstens. Der Forderung, das Recht auf Nahrung ge-
mäß Art. 11 des Paktes für wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Menschenrechte umzusetzen, stimmen wir
vorbehaltlos zu.
Zweitens. Den Wortbruch der Kanzlerin bezüglich
der niedrigen ODA-Quote haben wir mehrfach ange-
sprochen. Ein Erreichen der 0,7 Prozent des Bruttoin-
landproduktes für Entwicklungshilfe bis 2015 halten wir
für unbedingt notwendig.
Drittens. Der Forderung nach der Beendigung der
systematischen Zerstörung der Ökosysteme und der
Übernutzung der natürlichen Ressourcen wie Land,
Wasser und Luft schließen wir uns an. Vor allem der
Hinweis auf eine nachhaltige Landwirtschaft ohne Ein-
satz von gentechnisch modifizierten Organismen und ei-
ner angepassten Forschung ist dabei unterstützenswert.
Viertens. Leider fällt dann die Frage nach der Demo-
kratisierung der „ungerechten internationalen und natio-
nalen Governancesysteme und Regelwerke“ weit hinter
wünschenswerten Forderungen nach einer Handelspoli-
tik zugunsten der Armen zurück. Auch hier werden die
EPAs nicht problematisiert werden. Der Anbau von
Agrotreibstoffen nach Menschenrechts- und Nachhaltig-
20936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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keitskriterien ist faktisch nicht durchsetzbar. Dass Bünd-
nis 90/Die Grünen lediglich die Regulation von kurzfris-
tigen Spekulationen mit Agrarrohstoffen fordern, ist
enttäuschend. Wir brauchen eine Politik der systemati-
schen Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern.
Wir brauchen eine Umverteilung von Land zugunsten
der Landlosen und Kleinbäuerinnen und -bauern. Wir
brauchen staatlich garantierte Arbeitsplätze mit ange-
messenen Löhnen. Wir brauchen die Streichung illegiti-
mer Schulden. Wir brauchen eine faire und kohärente
Handelspolitik zugunsten der Armen. Steueroasen müs-
sen geschlossen werden, Spekulationen mit Nahrungs-
mitteln verboten und Banken staatlich reguliert werden.
Viele wichtige Gründe der Nahrungsmittelkrise finden in
dem Antrag der Grünen keine Erwähnung. Dennoch sind
die enthaltenen Forderungen erste Schritte auf einem
richtigen Weg, weshalb die Linke den Antrag unter-
stützt.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Zahl der von Hunger betroffenen Menschen ist nach An-
gaben der Welternährungsorganisation bis Ende 2007
von 854 auf 923 Millionen geklettert und hat damit ei-
nen historischen Höchststand erreicht. Die Prognosen
sind düster. Es ist so gut wie sicher, dass die Zahl der
Hungernden bald die Milliardengrenze überschreiten
wird. Gerade in den ländlichen Räumen der Entwick-
lungsländer sind Hunger und Armut am tiefsten verwur-
zelt. In unserem Antrag „Die Ursachen des Hungers be-
seitigen – Die ländliche Entwicklung fördern“ fordern
wir daher einen fundamentalen Paradigmenwechsel in
der Hungerbekämpfung. Die Koalition hingegen hält
sich in ihrem Antrag bedeckt und drückt sich um eine
wesentliche Frage: die Verpflichtung zur Finanzierung
ländlicher Entwicklung.
Denn wir brauchen mehr Geld für ländliche Entwick-
lung. Deutschland hat sich international dazu verpflichtet,
bis 2015 Mittel in Höhe von 0,7 Prozent des Bruttonatio-
naleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit
aufzubringen. Davon ist Deutschland noch weit entfernt –
trotz der diesjährigen Aufstockung des Entwicklungs-
etats. Gemäß dem EU-Stufenplan besteht bereits jetzt
eine Finanzierungslücke von 1,6 Milliarden Euro.
Deutschland muss zu seinen Verpflichtungen stehen und
die schrittweise Erhöhung des Entwicklungshaushalts
stärker vorantreiben. Doch mehr Geld für Entwicklungs-
zusammenarbeit allein reicht nicht aus. Es muss auch in-
nerhalb des Entwicklungsetats mehr Geld für ländliche
Entwicklung zur Verfügung stehen, um einen echten
Beitrag zur Bekämpfung des Hungers zu leisten.
Die Bundesregierung sollte deshalb dem Aufruf der
Hunger-Taskforce der Vereinten Nationen folgen, min-
destens 10 Prozent der Mittel für die Entwicklungs-
zusammenarbeit für eine nachhaltige ländliche Ent-
wicklung einzusetzen. Auch die Partnerländer sollten im
Gegenzug mindestens zehn Prozent ihrer Staatshaushalte
für ländliche Entwicklung bereitstellen. Diese sollten
vor allem die Kleinbauern und Kleinbäuerinnen darin
unterstützen, auf angepasste, ressourcenschonende
Weise Grundnahrungsmittel zur Selbstversorgung und
für lokale und regionale Märkte herzustellen. Denn eine
wirksame Bekämpfung der Ursachen des Hungers kann
nur gelingen, wenn Strategien der ländlichen Entwick-
lung am Recht auf Nahrung ausgerichtet werden. Klein-
bäuerinnen, Kleinbauern, Frauen und Mädchen, indi-
gene Völker und andere Bevölkerungsgruppen, die am
meisten von Hunger betroffen sind, müssen ins Zentrum
der ländlichen Entwicklung rücken.
Wir konnten sehen, wie bei der gegenwärtigen
Finanz- und Wirtschaftskrise in kürzester Zeit enorme
Summen aus den öffentlichen Kassen mobilisiert wur-
den. Dies mag ja aus wirtschaftspolitischer Sicht erfor-
derlich sein. Aber wie kann man dann den Menschen er-
klären, dass die Bundesregierung nicht bereit war, sich
dafür einzusetzen, dass nur 1 Milliarde Euro an über-
schüssigen EU-Agrarmitteln umgewidmet wird für die
ländliche Entwicklung in den von Hunger betroffenen
Ländern?
Die Entwicklungsländer müssen die Möglichkeit ha-
ben sich selbst zu helfen. Das geht aber nur, wenn diesen
Ländern nicht durch unfaire Handelspolitik jede Mög-
lichkeit der Entwicklung aus eigener Kraft geraubt wird.
Unfair ist es zum Beispiel, wenn erst im Zuge von oft-
mals erzwungenen Liberalisierungsmaßnahmen die
Zollschranken beseitigt werden und dann hochsubven-
tionierte, nicht vermarktbare Restbestände der EU-
Agrarproduktion auf den Märkten der Entwicklungslän-
der abgekippt werden. Ärmere Agrarländer müssen sich
vor Dumpingfluten schützen können. Eine faire Han-
delspolitik muss die wesentlich schwächere Ausgangs-
position dieser Länder berücksichtigen und sich an der
Chancengleichheit orientieren.
Neben der Schaffung fairer Handelsstrukturen müs-
sen wir eine weltweite Agrarwende hin zu ressourcen-
schonendem Anbau vollziehen. An dieser Stelle sind die
Formulierungen des Koalitionsantrags viel zu schwam-
mig. Die Förderung der ländlichen Entwicklung darf
nicht bedeuten, dass lediglich die konventionelle Land-
wirtschaft, wie wir sie kennen, bis in den letzen Winkel
der Erde vordringt. Das muss in aller Deutlichkeit gesagt
werden. Es darf nicht bedeuten, dass mittels einer „zwei-
ten grünen Revolution“ die Irrungen der ersten wieder-
holt werden – plus Gentechnik. Die bisherigen Erfahrun-
gen mit dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
zeigen: Ihr Anbau für den Fleischkonsum und den Roh-
stoffbedarf der Industrieländer treibt in Entwicklungs-
und Schwellenländern die lokale kleinbäuerliche Wirt-
schaft in neue Abhängigkeiten und beschleunigt soziale
Verwerfungen.
Wir fordern daher eine Agrarwende, bei der gesunde
Nahrungsmittel auf zweifach nachhaltige Weise herge-
stellt werden: sozial nachhaltig unter Wahrung der Men-
schenrechte und ökologisch nachhaltig unter schonen-
dem Umgang mit Ressourcen, vielfältigen Fruchtfolgen,
dem Einsatz von organischen Düngern und natürlicher
Schädlingsbekämpfung.
Dieser grüne Ansatz zur ländlichen Entwicklung ist
übrigens auch vom Weltagrarrat IAASTD, dem weltweit
führende Agrarexpertinnen und -experten angehören,
bestätigt worden. Der im April erschienene Bericht des
Weltagrarrats macht deutlich: Nur eine drastische Um-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20937
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widmung von Ressourcen zugunsten der Landwirtschaft
und ländlichen Entwicklung kann den Hunger nachhaltig
besiegen. Wir brauchen eine schnelle Abkehr von der
Art, wie Landwirtschaft betrieben wird, mit ihrer unge-
hemmten Intensivierung, mit ihrem Teufelskreis von
Monokulturen, Pestizideinsatz, chemischem Dünger,
enormem Wasserverbrauch und Bodenzerstörung.
Wir brauchen mehr Geld für ländliche Entwicklung.
Aber diese muss ökologisch und sozial nachhaltig sein,
in einem fairen Handelssystem stattfinden und im Sinne
des Rechts auf Nahrung zuallererst den Ärmsten zugute-
kommen.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Stau-
dammprojekt zurückziehen (Tagesordnungs-
punkt 18)
Erich G. Fritz (CDU/CSU): Wie Sie alle wissen, hat
die Bundesregierung im März 2007 gemeinsam mit Ös-
terreich und der Schweiz Exportkreditgarantien für das
Ilisu-Staudammprojekt im Südosten der Türkei über-
nommen. Laut BMWi sind die Gesamtkosten für das
Projekt mit rund 2 Milliarden Euro beziffert. Der deut-
sche Anteil dabei beträgt 93 Millionen Euro für die Be-
teiligung der ZÜBLIN AG. Wir sprechen hier also nicht
über einen wirklich relevanten Anteil des Projektes. Der
Antrag hat, wie viele vor ihm, im Wesentlichen symboli-
sche Bedeutung.
Die Geschichte dieses Staudammprojektes ist lang,
auch die parlamentarische Behandlung dieses Themas
füllt bereits ein eigenes Archiv. Regierungs- und Oppo-
sitionsfraktionen im Bundestag haben sich in mehreren
Legislaturperioden teils kritisch-konstruktiv, teils aus-
schließlich kritisch mit diesem sowohl unter regional-
politischen wie ethnischen, kulturellen und historischen,
wie aber auch unter internationalen Aspekten bedeuten-
den Projekt beschäftigt. Es ist nichts Neues für uns, dass
der Bau des Ilisu-Staudamms am Tigris im Südosten der
Türkei als umstrittenes Projekt gilt. NGOs und auch die
kurdische Opposition äußerten in vielen Gesprächen und
Stellungnahmen ihre Kritik, die zu immer weiterer Kon-
trolle der Abläufe durch die Bundesregierung und durch
die Fraktionen des Bundestages geführt hat. Dass die
Fraktion Die Linke dies in ihrem Antrag auf Druck-
sache 16/9308 erneut aufgreift, gibt uns erneut Anlass
zur Diskussion im Bundestag.
Wir alle wollen, dass die Menschen nicht heimatlos
gemacht werden. Wir alle wollen, dass kulturelle
Schätze nicht verloren gehen. Doch was wäre die Alter-
native? Die Türkei hat im Vorfeld des Baubeginns er-
klärt, das Projekt in jedem Fall durchführen zu wollen,
wenn nicht mit deutscher Hilfe, dann mit Lieferanten
und Finanziers aus Nicht-OECD-Ländern wie zum Bei-
spiel China. Ich bezweifle, dass sich unsere deutschen
Exporteure darüber gefreut hätten. Vor allem aber be-
streite ich, dass andere Regierungen als die bisher so
intensiv beteiligten deutsche, österreichische und
schweizerische sowie deren in ständiger Kooperation be-
findliche Kreditversicherer auch nur annähernd so viele
Verbesserungen an dem Projekt zum Teil im sachlichen
Dialog, zum Teil auch im politischen Streit mit der türki-
schen Regierung hätten erreichen wollen und können,
wie dies der Fall war.
Dabei war die türkische Regierung kein einfacher
Partner. Der Schutz der historischen Orte war offensicht-
lich für sie kein wichtiges Gut. Die Regeln für gerechte
Behandlung der betroffenen Menschen, die umgesiedelt
werden müssen, hatten keine große Bedeutung, ein Dia-
log mit den Flussanrainern über die ökologischen Folgen
kam nur nach langem politischem Drängen zustande.
Die Liste der Mängel ist weiter fortzusetzen. In diesen
mühsamen Gesprächen, für die sich der Bundestag nur
bedanken kann, sind Schritt für Schritt Fortschritte ge-
macht worden, die dann eine Gewährleistung von Teil-
aufträgen möglich gemacht haben.
Der Deutsche Bundestag hat über Parteigrenzen hin-
weg immer darauf Wert gelegt und als unabdingbar ein-
gefordert, dass das Projekt nach internationalen Stan-
dards zu realisieren sei. Unsere Bundesregierung hat
dafür viel getan. Sie hat ein Komitee nationaler und in-
ternationaler Experten benannt, das die Türkei bei der
Durchführung des Projekts berät und kontrolliert. Es ist
äußerst bedauerlich, dass die zur Projektüberwachung
eingesetzten unabhängigen Experten im Frühjahr dieses
Jahres Verzögerungen bei der Umsetzung der vereinbar-
ten Maßnahmen feststellen mussten. Das zeigt aber
auch, dass sich dieses Kontrollgremium bewährt hat.
Die Bundesregierung hat ihre Konsequenzen daraus
gezogen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt,
dass die am Projekt beteiligten Exportkreditversicherun-
gen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz am
9. Oktober 2008 eine förmliche Umweltstörungsanzeige
– Environmental Failure Notice, EFN – an das türkische
Baukonsortium eingereicht haben. Damit wurde ein Pro-
zess eingeleitet, der die Umsetzung der vereinbarten
Maßnahmen in den Bereichen Umsiedlung, Umwelt und
Kulturgüter sicherstellt.
Am 12. Dezember 2008 läuft die 60-Tage-Frist ab.
Wir werden sehen, ob die türkischen Besteller bis dahin
die Fehlentwicklungen korrigiert haben werden. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet die Bundesregie-
rung gemeinsam mit Österreich und der Schweiz, die Si-
tuation sehr genau zu prüfen. Wenn das geschehen ist,
unterstützen wir die Bundesregierung mit unseren Mög-
lichkeiten in ihrem Ziel, einen neuen Zeitplan für die
Realisierung des Projektes zu erstellen und alle verein-
barungswidrigen Bautätigketten einzustellen.
Ich wünsche mir, dass die Türkei eine Reihe von
Maßnahmen einleitet, die zur Verbesserung der derzeiti-
gen Lage beitragen. Es wäre schade, wenn die Bundes-
regierung von ihrer Bereitschaft, für die nötigen Kredite
zu bürgen, abrücken müsste. Exportkreditgarantien sind
ein sehr wichtiges Instrument unserer Außenwirtschafts-
förderungspolitik. Gerade in Zeiten schwieriger Märkte
leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung.
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Unsere deutschen Unternehmen sind mit ihnen in der
Lage, schwierige Exportgeschäfte – wie dieses am
Tigris – abzusichern.
Für die in der Folgezeit anstehenden Verhandlungen
mit dem türkischen Bauherrn wünsche ich der Bundes-
regierung, dass für alle Seiten befriedigende Ergebnisse
erzielt werden können.
Rolf Hempelmann (SPD): Wir beraten heute einen
Antrag der Linken mit der Forderung nach der sofortigen
Zurücknahme der deutschen Exportkreditversicherung
für das Ilisu-Staudammprojekt.
Die Bundesregierung hat im Konsortium mit der
Schweiz und mit Österreich im März 2007 Exportkredit-
garantien in Höhe von 450 Millionen Euro für das Stau-
dammprojekt übernommen. Der deutsche Anteil beläuft
sich auf 193 Millionen Euro. Für diese Kreditzusage hat
ein internationales Expertenkomitee im Vorfeld 153 Auf-
lagen formuliert, die bis Baubeginn von türkischer Seite
erfüllt sein müssen. Die Gegner des Ilisu-Staudammpro-
jekts kritisieren zu Recht die viel zu langsamen Fort-
schritte der Türkei bei der Erledigung dieser Aufgaben.
Sie ziehen daraus jedoch die Schlussfolgerung, dass sich
die Exportkreditversicherer aus Deutschland, Österreich,
Schweiz lediglich aus dem Projekt zurückziehen müs-
sen, damit es nicht zustande kommt.
Ich fürchte, dass dies genau nicht der Fall sein wird.
Der Ilisu-Staudamm ist Teil eines milliardenschweren
Investitionsprogramms für Südostanatolien, das der tür-
kische Staatspräsident Tayyip Erdogan im Frühjahr die-
ses Jahres angekündigt hat. Das Südostanatolien-Projekt
ist ein Prestigeprojekt der türkischen Regierung, mit
dem die wirtschaftliche Entwicklung Südostanatoliens
gefördert werden soll – übrigens einem der Hauptanlie-
gen der EU gegenüber dem EU-Beitrittskandidaten Tür-
kei.
Das Südostanatolien-Projekt beinhaltet genauer den
Bau einer Reihe von Staudämmen und Wasserkraftwer-
ken als Reaktion auf den wachsenden Strombedarf des
Landes. Im Fall von Ilisu ist es jedoch das erste Mal,
dass wir bei einem Staudammbau der Türkei als Export-
kreditversicherer auftreten. Es ist ebenfalls noch nicht
vorgekommen, dass sich die Türkei dabei zur Einhaltung
internationaler Standards verpflichtet hat.
Andere Staudämmprojekte werden nach türkischen
Standards realisiert. Gerade in den letzten Tagen ent-
nahm ich der Zeitung, dass die örtlichen türkischen Be-
hörden bei einem weiteren Staudammbau im Rahmen
des Südostanatolien-Projekts die Bevölkerung zu einem
Verkauf ihres Landes zu 75 Cent pro 1 000 Quadratme-
ter zwingen wollen. Das wird und das darf im Fall des
Ilisu-Projekts nicht geschehen, sofern wir uns weiter da-
ran beteiligen. Wir setzen uns im Rahmen der Umsied-
lungsmaßnahmen für eine angemessene Land-zu-Land-
Entschädigung und für die Durchführung von Fortbil-
dungsmaßnahmen ein, damit die betroffenen Menschen
eine reale Chance bekommen, sich an anderer Stelle eine
neue Lebensgrundlage aufzubauen.
Die getroffenen Auflagen sind nicht verhandelbar.
Nachdem die Erfüllung der Vereinbarungen von der Tür-
kei bisher bestenfalls halbherzig verfolgt wurde und
erhebliche Mängel erkennen ließ, haben die Exportkre-
ditversicherungen im Oktober 2008 ein Vertragsverlet-
zungsverfahren gegen die türkische Seite eingeleitet.
Dieses Verfahren macht es nun notwendig, dass die Tür-
kei innerhalb einer Frist von 60 Tagen die Auflagen er-
füllt. Die Frist läuft Ende kommender Woche ab. Sollte
die Türkei bis dahin, bis Mitte Dezember, nicht entschei-
dende Fortschritte – und ich betone, dass hier eine
deutliche Abkehr von der bisherigen Vorgehensweise
vorliegen muss – vorweisen können, kann das Baukon-
sortium zur Verhängung eines sofortigen Baustopps an-
gewiesen werden, bis die Auflagen erfüllt sind, oder aber
die Beteiligung des internationalen Baukonsortiums aus
dem Projekt zurückziehen.
Dieses Vorgehen entspricht den Fristvorgaben der
Kredit- und Bauverträge. Der Opposition sei gesagt, dass
die Bundesregierung das Verstoßen der türkischen Seite
gegen die Bauauflagen ja bereits ahndet. Der geforderte
sofortige Ausstieg aus dem Projekt wider die Vertrags-
grundlagen ist jedoch nicht machbar. Ich halte ihn auch
nicht für empfehlenswert. Schließlich können wir nur
über unsere Projektbeteiligung sicherstellen, dass die
Türkei zum Beispiel bei der Umsiedelung der mehr als
50 000 Betroffenen nach internationalen Standards vor-
geht und nicht nach türkischen.
Kurz und gut, ich plädiere für die Ablehnung des An-
trags. Mit dem Ausstieg aus der Kreditfinanzierung
erweisen wir der betroffenen Bevölkerung einen Bären-
dienst. Sollten die Baumaßnahmen am Staudamm je-
doch ausgeweitet werden, ohne dass die notwendigen
Vorkehrungen zum Schutze von Natur, Mensch und Kul-
turgütern getroffen worden wären, so sieht die Angele-
genheit sehr düster aus. Dieses Druckmittels sollten wir
uns nicht berauben. Schließlich sind die Verstöße der
Türkei gegen die Auflagen nach Einschätzung inter-
nationaler Experten bisher noch heilbar. So haben zwar
juristische Enteignungen stattgefunden, aber es wurde
noch niemand umgesiedelt. Im Januar wird sich die
Situation ändern, wenn nach bisherigem Zeitplan mit
den Arbeiten an einem Umleitungstunnel begonnen wer-
den soll. Die deutsche Seite wertet diesen Schritt als tat-
sächlichen Baubeginn des Staudamms, als einen Point of
no Return.
Sollte die Türkei bis kommende Woche also nicht ein-
deutig dargelegt haben, wie sie die Auflagen zu erfüllen
gedenkt, haben wir die klare Bereitschaft, einen soforti-
gen Baustopp durchzusetzen und, wenn nötig, auch un-
sere Zustimmung zu einer Exportkreditversicherung zu-
rückzuziehen. Bis dahin jedoch sollte nichts unversucht
gelassen werden, das Projekt im Sinne der betroffenen
Bevölkerung, der Kulturgüter und des Umweltschutzes
positiv zu beeinflussen.
Gabriele Groneberg (SPD): Zum wiederholten
Male diskutieren wir hier über einen Antrag, der den
Ausstieg aus der Bürgschaftsverpflichtung für den Bau
des Ilisu-Staudamms in der Türkei fordert. Ich will zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20939
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erst ganz deutlich sagen, dass wir die von uns bei Ver-
tragsabschluss eingeforderten internationalen Standards
und ihre strikte Einhaltung beim Bau des Ilisu-Stau-
damms sehr ernst nehmen. Dies zeigt die Tatsache, dass
Österreich, die Schweiz und Deutschland am 9. Oktober
2008 eine förmliche Umweltstörungsanzeige an das
Baukonsortium geschickt haben.
Immer wieder sind wir unterrichtet worden, dass die
geforderten Standards nicht oder in nicht ausreichendem
Maße eingehalten werden. Zum Beispiel gehört zur Er-
füllung der Weltbankstandards die Durchführung einer
Umweltverträglichkeitsprüfung sowie die Erstellung ei-
nes Kulturgüterplans und eines Umsiedelungsplans. Ge-
rade im hochsensiblen Bereich der Umsiedlung, die im
Übrigen erstmals in der Türkei nach Weltbankstandards
erfolgen sollte, zeigen sich Defizite bei der Umsetzung.
Immer wieder sind Gespräche mit den zuständigen Be-
hörden über die Notwendigkeit der Einhaltung der Stan-
dards geführt worden – offensichtlich mit geringem Er-
folg. Dann gab es den internationalen Expertenbericht,
der eben die Nichteinhaltung dokumentiert. Spätestens
nach Vorlage des Berichts war klar, dass die türkischen
Stellen ihre vertraglichen Pflichten offenbar nicht frist-
gerecht umsetzen und die Weltbankstandards in den drei
relevanten Bereichen – Umsiedlung, Umwelt und Kul-
turgüter – nicht wie vorgesehen einhalten.
Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit
den ebenfalls an der Bürgschaft beteiligten Ländern Ös-
terreich und Schweiz die Reißleine gezogen und mit
dem Versand der Umweltstörungsanzeige bereits Maß-
nahmen zum möglichen Ausstieg aus den Verträgen ein-
geleitet. Mir ist wichtig, dass dies klar und deutlich
gesagt wird – auch in Richtung Nichtregierungsorgani-
sationen. Dieser vertraglich festgelegte Prozess ist ein-
geleitet worden, um deutlich zu machen, dass die verein-
barten Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden
müssen, wenn wir weiter bei der Finanzierung dieses
Projekt beteiligt sein sollen. Wir lassen uns dabei nicht
vor vollendete Tatsachen stellen. Wir wollen vermeiden,
dass die türkischen Bauherren überstürzt das Projekt um-
setzen.
Jetzt ist für die zuständigen Behörden in der Türkei
Zeit, nachzubessern. Denn im Rahmen der Umweltstö-
rungsanzeige wurde den türkischen Stellen die Möglich-
keit eingeräumt, einen neuen Zeitplan zur Realisierung
des Projekts zu erstellen. Wichtig ist in diesem Zusam-
menhang, dass bis zur Vorlage des neuen Zeitplans Bau-
tätigkeiten im Projektgebiet ruhen. Denn nur solange das
eigentliche Bauprojekt noch nicht in Angriff genommen
wurde, besteht die Chance, dass die Maßnahmen mit der
notwendigen Umsicht in den Bereichen Umsiedlung,
Umwelt und Kulturgüter umgesetzt werden. Ende nächs-
ter Woche, also am Freitag, 12. Dezember 2008, läuft die
60-Tage-Heilungsfrist aus. Entscheidend für den Fort-
gang des Projekts wird sein, ob die türkischen Stellen
gewillt sind, das Staudammprojekt nach internationalen
Standards umzusetzen.
Bei genauer Betrachtung sind durchaus Zweifel ange-
bracht, ob eine weitere Beteilung durch uns wirklich ge-
wünscht ist. Die derzeit im Projektgebiet stattfindenden
Baumaßnahmen sprechen nicht unbedingt dafür, dass die
türkische Regierung Interesse an einer weiteren Zusam-
menarbeit hat. Es liegt also nicht in unserer Hand! Die
Entscheidung, auf welche Art und Weise das Projekt um-
gesetzt wird, liegt einzig und allein bei der türkischen
Regierung. Die türkischen Stellen kennen unsere Bedin-
gungen, und sie wissen auch, dass – sofern sie diese Be-
dingungen nicht einfüllen – wir die Liefer- und Kredit-
verträge kündigen werden.
Nun geht die Linkspartei davon aus, dass mit der
Kündigung des Vertrages der schweizerischen, öster-
reichischen und deutschen Exportkreditagenturen das
Problem gelöst sei. Sie glaubt, dass die Türkei dieses
Projekt nicht wird weiter fortsetzen können. Diese An-
sicht teile ich nicht, und ich gebe in diesem Zusammen-
hang zu bedenken, dass durch die drei Exportkreditversi-
cherungen nur ein Viertel der gesamten Projektsumme
abgedeckt wird. Deshalb denke ich, wir sollten unseren
Einfluss auf dieses Projekt nicht überschätzen. Im Ge-
genteil! Wir sollten uns noch einmal die Tatsachen vor
Augen führen: Der Ilisu-Staudamm ist ein Prestigepro-
jekt der Regierung Erdogan. Die Türkei hat einen enor-
men Energiehunger. Mit diesem Staudamm soll ein gro-
ßer Teil des Energiebedarfs gedeckt werden – immerhin
für circa 2 Millionen Haushalte, und zwar ohne dass da-
für Atommeiler oder Kohlekraftwerke gebaut werden
müssen. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon, dass
die türkische Regierung auf eine schnelle Realisierung
des Projekts drängen wird, ob mit oder ohne uns. Man
muss sich auch fragen, ob wir mit dem Ausstieg aus die-
sem Projekt den Menschen in Südostanatolien nicht ei-
nen Bärendienst erweisen würden. Denn machen wir uns
nichts vor: Nur im Falle unserer Mitwirkung an dem
Projekt ist zumindest die Chance gegeben, dass die Ein-
haltung internationaler Standards überhaupt eine Rolle
spielt. Ob bei einer anderen Finanzierungsgrundlage
diese Standards angewendet werden, bezweifle ich.
Deshalb hoffe ich, dass bis Freitag nächster Woche
konstruktive, realistische Vorschläge zur Einhaltung der
internationalen Standards gemacht werden. Insofern
kann ich mit Verweis auf die angesprochenen Punkte in
Bezug auf den Antrag der Linkspartei nur sagen, dass er
inzwischen nicht mehr den aktuellen Sachstand wieder-
gibt und eine sozial und ökologisch verträgliche Durch-
führung des Staudammprojekts noch nicht einmal in Er-
wägung zieht. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Gudrun Kopp (FDP): Der beabsichtigte Bau des
Ilisu-Staudamms ist in der Tat eine hochkomplexe und
schwierige Entscheidung. Das gilt natürlich auch für die
Erteilung einer entsprechenden Exportbürgschaft. Viele
Bedenken, die von den Antragstellern im vorliegenden
Antrag geäußert werden, erforderten tatsächlich eine
eingehende Prüfung.
Berücksichtigt werden mussten dabei jedoch nicht
nur die konkreten Auswirkungen des Projekts, sondern
auch die prinzipiellen Erwägungen, die einer Vergabe
von Exportausfallbürgschaften durch die Bundesregie-
rung zugrunde liegen. Der Antrag der Linken schildert in
epischer Breite die großen Probleme sicherheitspoliti-
20940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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scher, kulturpolitischer, ökologischer und menschen-
rechtspolitischer Art, die mit dem Projekt verbunden
sind. Vieles von dem nimmt auch die FDP sehr ernst,
wobei ich mir die Frage stelle, wie das, was Sie hier über
die Türkei und ihr Verhalten in der vorliegenden Frage
äußern, eigentlich zusammenpasst mit ihrem vehemen-
ten Eintreten für einen möglichst zügigen Beitritt der
Türkei zu Europäischen Union. Das gilt insbesondere für
Frau Roth, die sich zu diesem Projekt auch vorgestern
wieder in extremer Form geäußert hat. Wie wollen Sie
denn, Frau Roth, eigentlich glaubhaft für den Beitritt ei-
nes Landes zur EU streiten, das „sich in verantwortungs-
loser Weise über jegliche Vereinbarungen hinwegsetzt“?
Noch wichtiger ist uns als Liberalen aber insbeson-
dere die grundsätzliche Frage, ob es wirklich richtig ist,
dass hier das Parlament in die Einzelprüfung derartiger
Projekte eingreift. Aus diesem Grunde ist aus unserer
Sicht der Antrag der Linken in keiner Weise zustim-
mungsfähig. Es gibt aus guten Gründen einen Kriterien-
katalog, der festlegt, welche Projekte überhaupt geeignet
sind, eine Hermesbürgschaft in Anspruch zu nehmen.
Über die Ausgestaltung dieser Kriterien ließe sich in der
Tat streiten, aber das muss dann eben auch gemacht wer-
den.
Bei einer Güterabwägung zwischen den Auswirkun-
gen des konkreten Projektes und dem letzten Mittel einer
Rücknahme der Hermesbürgschaft kommen wir zu an-
deren Ergebnissen als Sie. Für die FDP ist klar, dass, wie
im Bereich des Welthandels, auch bei der Vergabe von
Exportbürgschaften durch den deutschen Staat vergabe-
fremde Aspekte wie Umwelt- und Sozialstandards keine
Rolle spielen sollten. Die Bundesrepublik Deutschland
sollte sich nicht zum Zensor der türkischen, indischen
oder chinesischen Energiepolitik machen.
Wir als Liberale haben stets betont, dass die Nutzung
komparativer Kostenvorteile durch Entwicklungs- und
Schwellenländer völlig legitim ist. Deshalb ist der intel-
lektuelle Ansatz, diesen Ländern unsere weit fortge-
schrittenen Umwelt- und Sozialstandards aufzuzwin-
gen, nicht nur illegitim, er schadet auch der Entwicklung
dieser Staaten. Überträgt man nun diesen Grundgedan-
ken auf den vorliegenden Fall einer Hermesbürgschaft
für den Ilisu-Staudamm, so kommt man nicht umhin
festzustellen, dass auch hier derartige Erwägungen keine
Rolle spielen sollten. Bei Hermesbürgschaften geht es
um die Exportförderung deutscher Unternehmen und
nicht darum, anderen Ländern unsere Standards aufzu-
zwingen.
Im Übrigen ist der vorliegende Antrag in einem Duk-
tus verfasst, der die Pläne zum Bau des Ilisu-Staudamms
in ein Licht taucht, als wäre dieses Projekt der Ausfluss
der Überlegungen einer dunklen Macht. Sie ignorieren
vollständig, dass es aus türkischer Sicht eben doch auch
gute Gründe für den Bau des Staudamms gibt. So geht es
immerhin um die Errichtung einer leistungsfähigen
Energieerzeugungsanlage auf Basis erneuerbarer Ener-
gien, etwas, was gerade Linke wie Grüne den Entwick-
lungs- und Schwellenländern bei jeder passenden und
unpassenden Gelegenheit ins Stammbuch schreiben.
Weiterhin kann das Projekt natürlich bei allen Schwie-
rigkeiten durchaus zur Entwicklung in einer bisher stark
benachteiligten Region der Türkei beitragen.
Entscheidend ist aber heute vielmehr, dass wir es ge-
genwärtig noch mit einem schwebenden Verfahren zu
tun haben. Der entsprechende Expertenbericht legt in der
Tat nahe, dass sich die Türkei an viele Vorgaben nicht
hält bzw. nicht gehalten hat. Für einen solchen Fall sind
eindeutige Verfahren vorgesehen, nämlich etwaige neue
Fristen und dann gegebenenfalls die Rücknahme der Ex-
portbürgschaft. Diese Prüfungen sollten wir in Ruhe ab-
warten, anstatt die entsprechenden Entscheidungen hier
aus dem warmen Parlamentssessel heraus vorwegneh-
men zu wollen.
Darüber hinaus sind jetzt auch die Kreditversicherer
aus Deutschland, der Schweiz und Österreich gefordert,
sich an ihrer Verantwortung und ihren Kriterien orientie-
ren. Sollten diese zu dem Schluss gelangen, dass die
Verletzungen von Absprachen durch die Türkei in so ek-
latantem Maße vorliegen, wie Sie das behaupten, so wer-
den sie von sich aus handeln. Dazu bedarf es keiner poli-
tischen Einflussnahme. Eine andere Frage ist, ob
dadurch das Gesamtprojekt in irgendeiner Weise ge-
bremst würde.
Alles in allem will ich zum Abschluss nicht verheh-
len, dass es sicherlich Projekte gibt, bei denen es eingän-
giger ist, warum es zu einer Hermesbürgschaft kommt.
Gleichwohl aber lehnt die FDP-Fraktion aus prinzipiel-
len verfahrenstechnischen wie entwicklungs- und außen-
wirtschaftspolitischen Gründen den vorliegenden Antrag
ab.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): In diesen Ta-
gen muss sich die Bundesregierung entscheiden: Will sie
endlich die Notbremse ziehen und sich aus dem Bau des
Ilisu-Staudammes im Südosten der Türkei zurückzie-
hen? Oder will sie weiterhin dieses unsoziale und die
Umwelt zerstörende Großprojekt politisch und finanziell
unterstützen?
Seit mehr als zwei Jahren beschäftigen wir uns hier
und in den Ausschüssen mit dem Thema der Exportkre-
ditversicherung für die Züblin AG zum Bau des Ilisu-
Staudammes. Meine Partei und die Kollegen von Bünd-
nis 90/Die Grünen haben wiederholt und detailliert die
Gründe dargelegt, die gegen diese unverantwortliche
Hermesbürgschaft der Bundesregierung sprechen. Ich
möchte die wichtigsten Punkte dennoch noch einmal
kurz ansprechen.
Erstens sind bis zu 78 000 Menschen durch das Groß-
projekt in ihrer Existenzgrundlage bedroht. Von ihnen
werden schätzungsweise mehr als 10 000 Menschen ih-
ren Landbesitz verlieren. Die Enteignungen, Umsiedlun-
gen und Entschädigungen der betroffenen Bevölkerung,
die bereits begonnen haben, bleiben weit hinter den er-
forderlichen internationalen Standards zurück. Zudem
droht eine doppelte Vertreibung: Das Land, auf dem die
Bewohner der Region angesiedelt werden sollen, ist zum
Teil bereits bewohnt. Dort werden die Menschen aufge-
fordert, ihren Besitz zu Spottpreisen zu verkaufen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20941
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Zum Zweiten berührt die Aufstauung des Tigris und
des Euphrats im Rahmen des umfangreichen Südostana-
tolien-Projektes ganz direkt die Interessen der Nachbar-
länder Syrien und Irak. Die Regierungen dieser Länder
wurden jedoch nicht in die Planungen für den Ilisu-Stau-
damm einbezogen. Wenn es durch das Projekt in be-
stimmten Perioden zum Wassermangel kommt, sind in-
ternationale Spannungen zwischen der Türkei und den
Anrainern nur eine Frage der Zeit.
Drittens würden durch eine Flutung der Region um
Ilisu einige der wichtigsten Kulturgüter der Mensch-
heitsgeschichte unwiederbringlich verloren gehen. Mit
der Stadt Hasankeyf würden eine Jahrtausende alte Stadt
und deren kulturelle Schätze versinken.
Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mit einigen Be-
wohnern Hasankeyfs sowie dem Bürgermeister der Stadt
persönlich zu reden. Sowohl sie als auch Vertreter der
türkischen Umweltverbände treten nach wie vor vehe-
ment gegen die Umsetzung des Staudamm-Projektes ein.
Wie mir der Bürgermeister Abdulvahap Kusen be-
schrieb, würde es auch gravierende Folgen für die lokale
Wirtschaft haben, die ohnehin schwach entwickelt ist.
Dass die türkische Regierung die an die Vergabe der
Exportkreditgarantien geknüpften Auflagen nicht erfüllt,
musste im Oktober dieses Jahres selbst die Bundesregie-
rung einräumen. Sie drohte zusammen mit Österreich
und der Schweiz der türkischen Regierung, die Bürg-
schaften für das Ilisu-Projekt zurückzuziehen und gab
ihr 60 Tage Zeit, um die 153 Auflagen in die Tat umzu-
setzen oder einen entsprechenden Plan zu erstellen. Am
12. Dezember wird diese Frist ablaufen.
Nach Einschätzung von Umweltorganisationen und
anderen Beobachtern deutet derzeit nichts darauf hin,
dass die türkische Regierung gewillt ist, sich an die Auf-
lagen zu halten. Für uns bedeutet das: Die Bundesregie-
rung muss die bestehenden Bürgschaftsverträge umge-
hend widerrufen.
Lassen Sie uns ein Zeichen setzen, dass die Zerstö-
rung von Gesellschaft und Natur auch im fernen Anato-
lien uns hier nicht unberührt lässt, gerade wenn sie mit
deutscher Unterstützung geschieht. Hier können Sie sich
ganz konkret für die Menschenrechte einsetzen, wenn
Sie es mit dem Antrag zu Menschenrechten, der morgen
an dieser Stelle verabschiedet wird, wirklich ernst mei-
nen. Fordern Sie also mit uns die Bundesregierung auf,
aus diesem unverantwortlichen Projekt unverzüglich
auszusteigen und die Hermesbürgschaften für Ilisu zu-
rückzuziehen.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein fal-
sches Projekt wird auch durch die Vergabe von Export-
kreditgarantien nicht richtig. Der illegale Baubeginn
muss zum Stopp der Bürgschaften führen. Noch stehen
die Exportkreditgarantien für die am Ilisu-Staudamm-
projekt beteiligten Unternehmen aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz. Die deutsche Bundesregie-
rung hat eine Hermesbürgschaft in Höhe von 93,5 Mil-
lionen Euro für die Züblin AG im März des letzten Jah-
res bewilligt, trotz der massiven Einwände vieler
Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen. Im parla-
mentarischen Raum haben wir Grünen bereits vor über
zwei Jahren dazu aufgefordert, die Hermesbürgschaft
nicht zu bewilligen. Leider ohne Erfolg. Aber unsere Ar-
gumente haben Wirkungskraft gezeigt. Zusammen mit
engagierten Nichtregierungsorganisationen aus Deutsch-
land, Österreich, der Schweiz und der Türkei ist es ge-
lungen, die negativen Auswirkungen des Staudammpro-
jekts einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und
den Druck auf die Entscheidungsträger bis heute auf-
rechtzuerhalten. Diesem Druck und den offensichtlichen
Fehlleistungen der türkischen Regierung bei der Erfül-
lung festgelegter Auflagen in den Bereichen Umsied-
lung, Umwelt und Kultur konnte sich die Bundesregie-
rung nicht verschließen. Zusammen mit Österreich und
der Schweiz wurde der Türkei durch eine „Umweltstö-
rungsanzeige“ eine Frist bis Ende nächster Woche ge-
stellt. Bis dahin muss ein tragfähiges Konzept stehen,
das den Willen erkennen lässt, die Auflagen zu erfüllen.
Es darf auf keinen Fall zu einem faulen Kompromiss
kommen. Seit über anderthalb Jahren kennt die türkische
Regierung die Auflagen. Seit über anderthalb Jahren ist
nichts passiert, keine Umweltverträglichkeitsprüfung,
kein geeigneter Umsiedlungsplan, keine Machbarkeits-
studien zur Rettung jahrtausendealter Kulturgüter. Was
bisher passiert ist, sind Enteignungen von Menschen, die
im Weg stehen, und vorbereitende Baumaßnahmen für
den Staudamm. Warum sollten wir davon ausgehen, dass
sich an dieser Politik etwas ändert? Wann ist es genug?
Wann sieht die Bundesregierung ein, dass sie sich an
dem skandalträchtigen Projekt nicht beteiligen darf?
Und doch gibt es erste Anzeichen dafür, dass der Tür-
kei eine weitere Schonfrist eingeräumt wird und
Deutschland, Österreich und die Schweiz weiter am Ball
bleiben. Das ist absurd. Besonders die Intensivierung
der Bauarbeiten während der 60-Tage-Frist zeigt, dass
die Türkei die Sache nicht ernst nimmt. Ob es sich dabei
um indirekte oder direkte Baumaßnahmen handelt, ist
letztendlich irrelevant. Die Türkei schafft Tatsachen: Der
Bau soll so schnell wie möglich vorangetrieben werden.
Das ist ein Affront gegen die Bedenken Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz. Und doch scheint dies
nicht auszureichen.
Die Position der Bundesregierung wurde dem Aus-
schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung gestern vorgeführt: Der Damm wird so oder so
gebaut, und wenn Deutschland mit im Boot sitzt, können
die Dinge zum Positiven beeinflusst werden. Zwar seien
die Verfehlungen der Türkei nicht akzeptabel, aber die
Mängel behebbar. Das klingt danach, dass wirtschaftli-
che Interessen einmal mehr Vorrang vor sozialer und
ökologischer Nachhaltigkeit bekommen. Soziale und
ökologische Nachhaltigkeit würde aus grüner Sicht be-
deuten, den Damm erst gar nicht zu bauen und sinnvolle
Alternativen für die Entwicklung der Region und die
Energieversorgungsprobleme der Türkei zu schaffen.
Die Türkei hat hohes Potenzial, Energie aus erneuerba-
ren Quellen zu erzeugen. Doch eine Prüfung von Alter-
nativen hat nicht stattgefunden.
20942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Die betroffenen Menschen vor Ort jedenfalls haben
eine klare Haltung: Sie wollen ihre Heimat nicht verlie-
ren und glauben nicht daran, dass der Staudamm ihnen
irgendwelche Perspektiven bietet. Der Unterstützung
von uns Grünen können sich die Menschen in Ilisu,
Hasankeyf und den anderen fast 100 Ortschaften, die be-
troffen sind, gewiss sein. Auch auf unserem letzten Par-
teitag in Erfurt wurde ein entsprechender Antrag verab-
schiedet. Der Widerstand der Zivilgesellschaft in der
Türkei wächst. Prominente schalten sich ein, Sänger und
Schauspieler informieren und mobilisieren gegen den
Staudamm. Ich sage, wir müssen den Menschen vor Ort
die Chance geben, ihre Heimat zu retten. Das wird nur
möglich sein, wenn es keine Unterstützung deutscher,
österreichischer oder schweizerischer Firmen gibt. Des-
wegen muss die Hermesbürgschaft jetzt zurückgezogen
werden. Erinnern wir uns: Schon einmal haben sich Eng-
länder, Schweden und auch die Schweizer Bank UBS,
die in einem früheren Stadium an der Verwirklichung
des Staudamms beteiligt sein sollten, zurückgezogen,
worauf das Projekt erst einmal auf Eis lag. Erst als die
Züblin AG einstieg und Exportkreditgarantien in Aus-
sicht gestellt wurden, kam wieder Leben in das Projekt.
Dem Antrag der Linksfraktion werden wir zustim-
men. Er fordert, die Hermesbürgschaft zurückziehen,
und das ist auch unsere Position: Raus aus der Hermes-
bürgschaft für den Ilisu-Staudamm.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Errichtung einer Stiftung „Deutsches Histori-
sches Museum“ (Tagesordnungspunkt 19)
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Der
vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ vervollstän-
digt die Geschichtsaufarbeitung – im Geiste der Versöh-
nung. Die vorgesehene unselbstständige Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung wird eingebettet in die Träger-
schaft des Deutschen Historischen Museums. Ein lange
tabuisiertes Kapitel unserer Geschichte wird jetzt öffent-
lich aufgearbeitet: Ein Schweigen über das Schicksal der
Vertriebenen wird es nicht mehr geben. Das Tor der Er-
innerung wird offengehalten. Der Terror des National-
sozialismus als Verursacher demaskiert. Ausgerichtet
wird die Arbeit der Stiftung am Gedanken der Aufklä-
rung und Versöhnung mit unseren europäischen Nach-
barn.
Wir begrüßen ausdrücklich die vorgesehene Zusam-
menarbeit mit internationalen Museen und Forschungs-
einrichtungen. Wir stehen zur Offenheit des wissen-
schaftlichen Beirats für die Mitwirkung von Fachleuten
aus dem Ausland, insbesondere Osteuropa.
Vertreibung ist … ein Verbrechen. … Es war Un-
recht, alle Deutsche kollektiv zu vertreiben. Das
auszusprechen war zwischen den Jahren 1968 und
1995 fast unmöglich.
So hat es der Sozialdemokrat Peter Glotz in der Welt
am Sonntag 2002 formuliert.
Über 60 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Welt-
kriegs vergangen, sechs Jahrzehnte seit dem Beginn von
Flucht und Vertreibung als Folge des nationalsozialisti-
schen Unrechtsregimes. Fast 14 Millionen Deutsche
mussten dabei ihre vertraute Heimat verlassen; uner-
messliche Strapazen auf der Flucht, Hunger, Vergewalti-
gungen und Seuchen. Die Aussicht auf eine ungewisse
Zukunft kennzeichnet das Leid, das ihnen widerfuhr. Für
2 Millionen Menschen bedeuteten Flucht und Vertrei-
bung den Tod. Doch es waren nicht nur Deutsche, die
dieses harte Schicksal traf. In der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts mussten in Europa zwischen 60 und
80 Millionen Menschen ihre Heimat unter Zwang und
politischem Druck verlassen. Mehr als 30 Völker oder
Volksgruppen haben im vergangenen Jahrhundert ihre
Heimat verloren. Keines der individuellen Schicksale,
keines der Schicksale, das ganze Nationen betraf, lässt
sich gegeneinander aufrechnen. Vielmehr stellen gewalt-
same Flucht und Vertreibung elementare Menschen-
rechtsverletzungen dar.
Auch heute noch sind sie Folge politischer Willkür-
handlungen weltweit. Wir Deutschen sind aufgefordert,
gerade des Schicksals der Menschen zu gedenken, die
im Zuge des Zweiten Weltkriegs zum Verlassen ihrer
Heimat gezwungen wurden. Für die Verbrechen, Kriegs-
leiden und Zerstörungen des Nationalsozialismus tragen
wir eine historische Verantwortung. Dieses Gedenken ist
Teil unserer deutschen Identität. Unsere Verantwortung
heute gilt Versöhnung und Frieden.
Die Regierungsparteien haben sich 2005 in der Koali-
tionsvereinbarung ausdrücklich zur gesellschaftlichen
sowie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration,
Flucht und Vertreibung bekannt. Wir haben vereinbart,
dass im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sicht-
bares Zeichen gesetzt werden soll, in Verbindung mit
dem europäischen Netzwerk „Erinnerung und Solidari-
tät“. Es soll an das Unrecht von Vertreibung erinnert und
Vertreibung für immer geächtet werden.
Diese Thematik aufzuarbeiten, ist nicht nur im Inte-
resse der Menschen unseres Landes. Es ist auch im Inte-
resse aller Europäer, insbesondere unserer östlichen
Nachbarstaaten wie Polen oder Tschechien, aber auch
Russland.
Es war daher richtig, dass der Staatsminister für Kul-
tur und Medien, Bernd Neumann, mit Fachleuten im In-
und Ausland, mit Kollegen aus der Politik – so auch dem
polnischen Kulturminister – klärende Treffen darüber
gehabt hat, wie die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ umgesetzt werden kann. Die zahlreichen Ge-
spräche, die unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel in
dieser Thematik mit Regierungschefs unserer Nachbar-
staaten geführt hat, haben wesentlich zum Abbau von
Vorbehalten beigetragen. Eine Reihe von Kolleginnen
und Kollegen aus allen Fraktionen haben sich gleichfalls
aktiv an dieser Umsetzung beteiligt: Jochen-Konrad
Fromme, Stephan Eisel, Markus Meckel, Hans-Joachim
Otto und viele mehr.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20943
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Das Vorhaben der Bundesregierung, die Ausstellung
„Flucht, Vertreibung Integration“ zum Herzstück des
neuen Dokumentationszentrum zu machen, ist konse-
quent. Diese Ausstellung wurde von der Stiftung „Haus
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ unter
Beteiligung eines Kreises von namhaften Fachleuten
konzipiert. Sie steht unter der Schirmherrschaft des Bun-
despräsidenten. Auf wissenschaftlicher Grundlage ver-
anschaulicht sie umfassend die Problematik von Flucht
und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten
Weltkrieges, aber auch deren Integration in der Bundes-
republik Deutschland und in der damaligen Sowjeti-
schen Besatzungszone.
Sachlich, gesellschaftspolitisch verantwortungsbe-
wusst und auch fachlich richtig ist es, zu prüfen, welche
Anregungen und Elemente aus der Ausstellung „Er-
zwungene Wege“ übernommen werden können. Diese
Initiative der BDV-Stiftung „Zentrum gegen Vertreibun-
gen“ ist von Fachleuten des In- wie Auslandes als histo-
risch korrekt und anerkennenswert bezeichnet worden.
Die Kritik, die in diesem Zusammenhang und auch da-
rüber hinaus meine Kollegin Erika Steinbach erfahren
hat, war weder gerechtfertigt noch vertretbar. Und was in
diesem Zusammenhang die Besetzung des Stiftungsrates
angeht, gehe ich davon aus, dass der BDV im Sinne von
Verständigung und Versöhnung einen entsprechenden
Vorschlag unterbreiten wird.
Der BDV ist ein anerkannter Verband. Mit Beginn der
Bundesrepublik hat jede Regierung seit über 60 Jahren
– ob schwarz, rot, gelb oder grün – durch ihre Mittelver-
gabe an die Vertriebenen diese Akzeptanz dokumentiert.
Dazu stehen wir auch weiter.
Für notwendig erachtet es unsere Fraktion, bei der
Konzipierung den europäischen Aspekt von Flucht und
Vertreibung herauszustellen. Das entspricht unseren Vor-
stellungen, einen Dokumentationsort entstehen zu las-
sen, an dem auch die Schicksale aus den Ländern einbe-
zogen werden, mit denen Deutschland im europäischen
Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“ partnerschaftlich
zusammenarbeitet. Es ist sachlich und politisch richtig,
das europäische Netzwerk in die Konzeption der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einzubeziehen.
Eine solche Konsequenz ist für das Verständnis eines
derartigen Erinnerungsortes unverzichtbar.
Es ist richtig, dass unsere osteuropäischen Nachbar-
länder wie Polen und Tschechien sowie die Slowakei
sich an der Realisierung in den Fachgremien beteiligen.
Und es würde dem Anliegen dienen, wenn es zu einer
– im Grundsatz – offiziellen Geste der Anerkennung von
ihrer Seite zu unserem Vorhaben käme. Wir wollen mit
diesem Ort ein Zeichen zur Ächtung jeglicher Vertrei-
bung und ethnischer Verfolgung in Europa und weltweit
setzen. Darüber müsste doch Verständigung möglich
sein. Unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog
hat Erinnerungsbereitschaft und Mut von uns gefordert,
da ohne gründliches Wissen um seine Geschichte ein
Volk die Herausforderungen der Zukunft nicht bestehen
könne. Die neue Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ wird diesem Anspruch gerecht.
Markus Meckel (SPD): Seit einigen Jahren sorgte
die Frage, wie wir in Deutschland mit der Erinnerung an
Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zwei-
ten Weltkrieg umgehen wollen, für heftige Auseinander-
setzungen in Gesellschaft und Politik. Die SPD hat das
von der Union lange geforderte „Zentrum gegen Vertrei-
bungen“ des Bundes der Vertriebenen in der Vergangen-
heit immer mit aller Entschiedenheit abgelehnt. An die-
ser Ablehnung hat sich nichts geändert. Es ist daher
wirklich als großer Erfolg zu werten, dass SPD und
Union nun schließlich eine Einigung darüber erzielt ha-
ben, die es ermöglicht, gemeinsam an Flucht und Ver-
treibung zu erinnern. Mit dem Beschluss zum Aufbau ei-
ner unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ unter dem Dache der zu errichtenden Stif-
tung „Deutsches Historisches Museum“ bringen wir
heute ein Jahre währendes, zähes Ringen zu einem guten
Ende. Ein schwieriger, doch ausgesprochen wichtiger
Auftrag aus der Koalitionsvereinbarung wird damit er-
füllt.
Die Frage nach dem Umgang mit der Erinnerung an
Flucht, Vertreibungen und Umsiedlungen in Folge des
von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges ist je-
doch nicht allein eine deutsche Frage und wurde nicht
nur innerhalb Deutschlands sehr kontrovers debattiert.
Besonders die Beziehungen mit Polen waren durch das
Thema zeitweise stark belastet, konstruktive Gespräche
darüber mit unserem Nachbarland nicht zu jedem Zeit-
punkt möglich. Auch andere Nachbarländer verfolgten
die Diskussionen in Deutschland skeptisch.
Der SPD war es von Anfang an besonders wichtig,
die Perspektiven der europäischen Nachbarn einzubezie-
hen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in die Dis-
kussion einzubringen. Umso mehr hoffe ich nun, dass
der gefundene Kompromiss unseren Nachbarn deutlich
macht, dass wir in Deutschland die Geschichte nicht um-
deuten wollen, dass wir auf die Frage nach Ursachen und
Wirkung sehr differenziert eingehen werden und dass
wir die europäische Gesamtperspektive auf unsere Ge-
schichte nicht ausblenden. Im Stiftungszweck ist festge-
schrieben, dass die unselbstständige Stiftung „im Geiste
der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der natio-
nalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik
und ihrer Folgen“ wachhalten soll.
Die unselbstständige „Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ wird in öffentlicher Trägerschaft entstehen
und durch die Anbindung an die Stiftung „Deutsches
Historisches Museum“ in die bestehende Museumsland-
schaft eingebettet werden. Diese Anbindung an bereits
vorhandene und bewährte Strukturen erleichtert in fach-
licher und organisatorischer Hinsicht den Prozess in ho-
hem Maße. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal
betonen, wie wichtig es ist, dass die Stiftung in öffentli-
cher Hand entsteht und dass Parlament und Regierung
gemeinsam die Grundlage zur Errichtung der Stiftung
geschaffen haben. Dies unterstreicht zum einen die
Wichtigkeit und Tragweite des Vorhabens. Darüber hi-
naus wurde dadurch der Kompromiss zwischen ver-
20944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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schiedenen Parteien und die Akzeptanz unserer europäi-
schen Nachbarn erst ermöglicht.
Als nächster Schritt steht die Besetzung der Stiftungs-
gremien an. Neben Bundestag und Bundesregierung
werden der Bund der Vertriebenen, die beiden großen
Kirchen in Deutschland sowie der Zentralrat der Juden
Mitglieder des Stiftungsrates benennen. Die Gremienbe-
setzung der unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ sollte unseren Willen zur breiten
gesellschaftlichen Beteiligung widerspiegeln sowie zur
weiteren Akzeptanz durch die europäischen Partner bei-
tragen. Wie wir alle wissen, wird das noch einmal sehr
wichtig sein. Dass der zu bildende wissenschaftliche Be-
raterkreis der Stiftung neben deutschen auch internatio-
nale Wissenschaftler, vor allem auch aus unseren östli-
chen Nachbarstaaten, umfasst, halten wir von der SPD
für unverzichtbar.
Mit der Schaffung der gesetzlichen Grundlage und
der Gremienbesetzung ist die Arbeit noch nicht getan.
Der größte Auftrag bleibt die Erarbeitung des Konzepts
einer Dauerausstellung zu Flucht und Vertreibung im
20. Jahrhundert, ihren Hintergründen, Zusammenhängen
und Folgen in europäischer Dimension. Der Haupt-
akzent wird auf der Flucht und Vertreibung der Deut-
schen liegen, doch auch andere – auch von deutscher
Seite veranlasste – Flucht- und Vertreibungssituationen
sollen thematisiert werden. Die SPD hat ein internatio-
nales wissenschaftliches Symposium angeregt, das für
die Erarbeitung der Ausstellung eine wichtige Rolle
spielen wird und für das Frühjahr 2009 vorgesehen ist.
Wenn diese Chance entsprechend genutzt wird, kann das
Symposium viel zur Akzeptanz der unselbstständigen
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in unseren
mittelosteuropäischen Nachbarländern und dabei insbe-
sondere in Polen beitragen. Den Teilnehmern des Sym-
posiums aus dem In- und Ausland soll die Möglichkeit
gegeben werden, aus ihrer Perspektive Kriterien für die-
ses Projekt zu benennen und Vorschläge zu unterbreiten.
So werden sie wesentlich zur inhaltlichen Ausgestaltung
der Ausstellung beitragen können.
Die harten und langwierigen Auseinandersetzungen
über den Umgang mit der Geschichte von Flucht und
Vertreibung haben uns einmal mehr gezeigt, dass wir un-
sere Geschichte nicht im Alleingang, sondern nur grenz-
überschreitend wirklich verstehen und bearbeiten kön-
nen. Ein wichtiger Meilenstein für dieses Verständnis
war die gemeinsame Danziger Erklärung der damaligen
Präsidenten Deutschlands und Polens, Johannes Rau und
Aleksander Kwaśniewski, in der sie 2003 zum Dialog
über die auch die Gegenwart noch belastende Geschichte
der Vertreibungen und Zwangsmigrationen im 20. Jahr-
hundert aufriefen und gleichzeitig allen Entschädigungs-
forderungen eine klare Absage erteilten. Auf der Linie
dieser Erklärung unterzeichneten dann im Februar 2005
die Kulturminister Polens, Deutschlands, Ungarns und
der Slowakei eine Absichtserklärung zur Gründung des
Europäischen Netzwerkes „Erinnerung und Solidarität“.
Die Tschechische Republik erklärte sich ebenso wie
Österreich bereit, auf Projektebene zu kooperieren.
Ziel des Europäischen Netzwerkes soll es sein, die
schwierige Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem
grenzüberschreitenden Dialog so aufzuarbeiten, dass da-
raus Versöhnung erwachsen kann und nicht Spannungen
verstärkt oder neu geschaffen werden. War das Netzwerk
zunächst vor allem auf die Geschichte von Vertreibung fo-
kussiert, hat sich der Ansatz inzwischen verändert.
Heute liegt der Schwerpunkt auf der Beschäftigung mit
den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in
Europa und ihre Überwindung. Ich hoffe sehr, dass die
Arbeit des Europäischen Netzwerkes „Erinnerung und
Solidarität“ durch die Besetzung der nötigen Gremien
und die Arbeitsaufnahme des Sekretariats in Warschau
im kommenden Jahr an Dynamik gewinnt und dass das
Netzwerk – inzwischen eine Stiftung polnischen
Rechts – demnächst seine Arbeit beginnen kann. 2009
als Jubiläumsjahr der Umbrüche von 1989 wäre dafür
ein guter Zeitpunkt.
Wenn wir in Deutschland an 1989 erinnern, können
wir dies nicht in angemessener Weise, ohne die Ge-
schichte Polens, Tschechiens, Ungarns oder anderer
europäischer Länder mitzudenken. Das Europäische
Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“ bietet uns eine
gute Möglichkeit, den engen Rahmen national fokussier-
ter Geschichtsbetrachtung zu verlassen. Wenn wir eine
gemeinsame europäische Zukunft wollen, müssen wir
auch bereit sein, unsere Vergangenheit aus der Sicht an-
derer Europäer zu betrachten und ihre Perspektiven ein-
zubinden.
Ich bin überzeugt, dass dies auch mit der heute zu be-
schließenden Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ für das schwierige Thema Flucht und Vertreibung
gelingen kann. Doch daran werden alle in diesem Hause
mitwirken müssen.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Wir been-
den heute – nach zehnjähriger Debatte – eine anhaltende
Diskussion um eine angemessene Erinnerungskultur für
Flucht und Vertreibung. Vor fast zehn Jahren haben der
Bund der Vertriebenen und die Stiftung „Zentrum gegen
Vertreibungen“ den Stein ins Rollen gebracht und die
Politik zum Handeln getrieben. Die beiden Ausstellun-
gen „Erzwungene Wege“ des Bundes der Vertriebenen
und „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Hauses der
Geschichte haben die Debatte über Erinnerung und Ver-
treibung entscheidend geprägt. Sie bilden eine Art
Schnittstelle zwischen dem breiten öffentlichen Interesse
an dem Thema „Flucht und Vertreibung“ und der politi-
schen und wissenschaftlichen Diskussion um die Frage
eines angemessenen Gedenkens und Erinnerns. Flucht
und Vertreibung muss als Teil der deutschen Geschichte
anerkannt und aufgegriffen werden.
Hinter uns liegt eine kontroverse Debatte, die schluss-
endlich – und das möchte ich als Oppositionspolitiker
hervorheben – zu einem tragfähigen Ergebnis geführt
hat. Dem Staatsminister ist für sein Verhandlungsge-
schick mit unseren polnischen Nachbarn – und hier ins-
besondere mit dem Staatssekretär in der Kanzlei des Mi-
nisterpräsidenten, Professor Wladyslaw Bartoszewski –
und für die gute Bilanz zu gratulieren: Endlich wird das
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20945
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im Koalitionsvertrag festgeschriebene Sichtbare Zei-
chen, um an das Unrecht von Flucht und Vertreibung zu
erinnern, Wirklichkeit. Endlich wird der Weg frei ge-
macht, um eine Ausstellungs- und Dokumentationsstätte
in Berlin – im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof –
zu errichten. Bedauerlich ist, dass wir diese Debatte im
Bundestag nur in Form zu Protokoll gegebenen Reden
und nicht in einer Plenardebatte für die Öffentlichkeit
sicht- und hörbar führen können.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden zwei
Probleme gelöst: Zum einen wird die lediglich als
Interimslösung genutzte Rechtsform des Deutschen His-
torischen Museums als GmbH in eine selbstständige
bundesunmittelbare Stiftung des öffentlichen Rechts
umgewandelt. Damit wird die internationale Museums-
arbeit erleichtert, und private Zustiftungen können im
Hinblick auf die steuerliche Absetzbarkeit privilegiert
behandelt werden. Zum anderen wird die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in der Rechtsform ei-
ner unselbstständigen Stiftung öffentlichen Rechts in
Trägerschaft des Deutschen Historischen Museums er-
richtet.
Die FDP-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu und
tritt diesem bei. Ich möchte mich hier auf den zweiten
Teil des Gesetzentwurfes konzentrieren, in dem die un-
selbstständige Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ geregelt wird. Der FDP-Fraktion waren und sind
deren zukunftsgewandte Ausrichtung und deren wissen-
schaftliche Unabhängigkeit immer besonders wichtig.
Neben der Erinnerung an die Geschichte der Vertreibun-
gen in Europa muss ein solches Sichtbares Zeichen so-
wohl den wissenschaftlichen Anspruch der Erforschung
der Vertreibungen als auch den politischen Anspruch ha-
ben, Vertreibungen in Zukunft weltweit zu verhindern.
Daher muss es auch die Aufgabe haben, den Austausch
der jungen Generation über die Grenzen hinweg zu för-
dern. Wenn wir die Jugend nicht an dieses Erbe heran-
führen, geht die lebendige Erinnerung verloren. Erinne-
rung ist wachzuhalten – dies insbesondere deshalb, da
die Zeitzeugen, die davon berichten können, jeden Tag
weniger werden. Eine europäische Ausrichtung und in-
ternationale Kooperationen sind nach unserer Auffas-
sung unerlässlich. Der Gesetzentwurf sowie das Konzept
der Bundesregierung sehen dies vor. Was jedoch noch
fehlt, ist ein prägnanter Name für die Ausstellungs- und
Dokumentationsstätte. Hier müssen wir uns alle noch
einmal Gedanken machen.
Lassen Sie mich noch auf einige im Vorfeld geäußerte
Bedenken eingehen: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen, aber auch die Fraktion Die Linke stellen infrage, ob
die Mitarbeit des Bundes der Vertriebenen in den Stif-
tungsgremien förderlich sei. Es ist in der Gedenkstätten-
und Erinnerungsarbeit der Bundesrepublik bewährte
Praxis, dass die Verbände der jeweils betroffenen Opfer-
gruppen in die Gestaltung des Gedenkens und in die
konkrete Erinnerungsarbeit eingebunden werden. Denn
damit werden die Kompetenz und besondere Erfahrung
der Opferverbände und die von deren zahlreichen Mit-
gliedern für die Erinnerungsarbeit nutzbar gemacht. So-
mit ist es eine Selbstverständlichkeit, dass auch das
Sichtbare Zeichen unter maßgeblicher Beteiligung des
Bundes der Vertriebenen errichtet und betrieben wird. Es
besteht kein überzeugender Grund, diese Regel im Fall
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zu
durchbrechen.
Die Fraktion Die Linke kritisiert auch, dass Berlin als
Ort gewählt wurde. Meines Erachtens gibt es keinen bes-
seren Ort. Wenn die Kritiker beispielsweise Görlitz/
Zgorzelec anführen, so kann ich nur sagen: Auch dort
möge ein Gedenkort entstehen. Dies kann aber keines-
falls den zentralen Ort in der Hauptstadt ersetzen, um
Sichtbarkeit und Wirkung zu erzielen. Aus gutem Grund
wird daher auch aller anderen Opfer des Dritten Reiches
und des von ihm entfesselten Krieges in der Hauptstadt
gedacht.
Der Vorwurf Einzelner, die Geschichte werde „umge-
schrieben“, Täter würden zu Opfern umfunktioniert, ist
unberechtigt. Die Stiftung wird eng mit ausländischen
Wissenschaftlern – insbesondere aus den östlichen
Nachbarstaaten – zusammenarbeiten, auch um von vorn-
herein das Ziel der Versöhnung und der gemeinsamen
Aufarbeitung einer furchtbaren Vergangenheit hervorzu-
heben. Wir halten es für äußerst wichtig, dass die neue
polnische Regierung unter Ministerpräsident Tusk dem
Projekt nicht mehr so ablehnend gegenübersteht. Diese
Öffnung unserer polnischen Nachbarn dürfen wir nicht
enttäuschen.
Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zwei-
ten Weltkrieges ist es höchste Zeit, an die durch Krieg
ausgelösten Schicksale von Flucht und Vertreibung zu
erinnern. Fast 14 Millionen Deutsche, aber auch viele
Millionen andere Europäer waren davon betroffen. Auch
heute noch befinden sich weltweit Millionen auf der
Flucht oder werden vertrieben. Ursachen und Folgen
von Flucht und Vertreibung sind aufzuarbeiten. Im Sinne
Hans Lembergs muss die „Fackel der Erinnerung“ wei-
tergegeben werden.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Eine Rede
ist eine Rede ist eine Rede. Und eine Abstimmung in
zweiter und dritter Lesung macht aus einem Gesetzent-
wurf ein Gesetz. Aber eine für 2.30 Uhr morgens zu Pro-
tokoll gegebene Rede ist nichts weiter als ein später
nachzulesender Text. Und ein Gesetzentwurf, der ohne
irgendeine Debatte im Plenum nachmitternächtlich im
Schnellverfahren zum Gesetz wird, muss für die einbrin-
gende Regierungsmehrheit entweder ganz und gar un-
wichtig oder absolut verheimlichenswert sein.
Das als sichtbares Zeichen von der Koalition 2005 ge-
plante Dokumentations- und Ausstellungszentrum zu
„Flucht und Vertreibung“ ist heute Nacht ganz und gar
unsichtbar geworden, aber nunmehr gesetzlich beschlos-
sen. Unter dem schön neutralen Titel „Errichtung einer
Stiftung Deutsches Historisches Museum“, gegen die
politisch nichts einzuwenden ist, wird nun eine auf die
Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung
gerichtete Ausstellungs- und Dokumentationsstelle in
Berlin errichtet und vom Bund finanziert.
Ein Vorhaben, höchst kontrovers gesehen – im Inland
wie im Ausland. Ein Vorhaben höchst missverständlich
20946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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betitelt: „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.“ Die
Fraktion Die Linke hat wiederholt gefragt: Wer soll sich
da mit wem versöhnen? Und bisher keine Antwort auf
die Frage erhalten. Und wir haben auch immer wieder
die Frage gestellt: Wie kann eine solche Institution der
Erinnerung ausgerechnet in Berlin, dem Ort, von dem all
die mörderischen Verbrechen ausgingen, die dann zum
Elend von Flucht und Vertreibung geführt haben, der
Versöhnung dienen?
Welch eine Chance wurde da vertan? Polens Minister-
präsident Tusk hat Deutschland eingeladen, sich am gro-
ßen polnischen Anti-Kriegs-Museum in Danzig zu betei-
ligen. Kein Interesse. Die Städte Görlitz und Zgorzelec
haben sich für eine Doppelausstellung beworben. Kein
Interesse. Es gab Vorschläge, Ausstellungen und Doku-
mentationen im Dreiländereck Deutschland – Polen –
Tschechische Republik zu schaffen. Kein Interesse.
Nein, es muss in Berlin sein, und es muss jetzt ganz
schnell und klammheimlich etabliert werden, ohne par-
lamentarische Aussprache – ohne gesellschaftliche Dis-
kussion. Auch ohne internationalen, wissenschaftlichen
Diskurs. Eine für Dezember geplante Konferenz mit pol-
nischen und tschechischen Historikern findet nicht statt,
weil polnische und tschechische Historiker abgesagt ha-
ben. Ist egal. Hauptsache, die Stiftung wird heute Nacht
gesetzlich.
Am 13. November 2008 hat Władysław Bartoszewski
der Zeitung Rzeczpospolita gesagt: „Wir wurden um un-
sere Meinung gebeten. Wir haben geantwortet, dass wir
weder im Namen des polnischen Staates, noch im Na-
men der Regierung irgendeine institutionelle Handlung
in dieser Sache unternehmen werden. Wir haben in letz-
ter Zeit mit der tschechischen Regierung eine gemein-
same Haltung gegenüber dem deutschen Vorhaben ver-
einbart, die – auf eine einfache Formel gebracht –
besagt: Macht wie Ihr denkt, aber passt auf, was Ihr
macht!“
Diesen Worten ist wenig hinzuzufügen. Außer: Wer
passt auf, was da entsteht und was da gemacht wird? Das
Parlament hat wenig Möglichkeiten, wie uns dieser Ge-
setzesvorgang zeigt. Und nicht nur er. Im 13-Personen
Aufsichtsrat-Gremium der Stiftung haben zwei Bundes-
tagsabgeordnete Sitz und Stimme, aber drei Vertreter des
Bundes der Vertriebenen – sie stellen die größte Gruppe.
Die Fraktion Die Linke lehnt den Gesetzentwurf we-
gen der Konzeption der Stiftung, ihres Standortes und
der Zusammensetzung des Kontrollgremiums ab. Auch
wenn das die Regierungsparteien überhaupt nicht inte-
ressiert: Eine offene Debatte im Bundestag hätten sie
wenigstens zulassen sollen. Auch um der Versöhnung
mit unseren Nachbarn willen.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wenn wir hier und jetzt über den Tagesordnungs-
punkt Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ disku-
tieren, klingt das nach einer reichlich technokratischen
Angelegenheit. In Wirklichkeit versteckt sich dahinter
aber ein Thema, das immer wieder Anlass zu grundsätz-
lichen, ja manchmal sogar dogmatisch geführten Debat-
ten gegeben hat, die Frage nämlich, wie und in welcher
Form wir an die Vertreibungen von Deutschen nach dem
Zweiten Weltkrieg erinnern wollen.
In ihrem Koalitionsvertrag hatte die Große Koalition
ja angekündigt, hier ein „sichtbares Zeichen“ setzen zu
wollen. Drei Jahre lang hat man sich gefragt, ob dieses
seltsame Ding tatsächlich irgendwann sichtbar sein
würde. Bislang war es eher ein seltsam konturloses Ge-
bilde. Und ehrlich gesagt, inhaltlich ändert sich daran
durch den nun vorliegenden Gesetzentwurf so viel nicht.
Denn mit der Einrichtung der beim Deutschen Histori-
schen Museum angesiedelten „Stiftung Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ wird lediglich die organisatorische
Hülle geschaffen. Die inhaltliche Debatte, was dort in
Ausstellungen, Veranstaltungen und sonstigen Program-
men genau geschehen soll, muss nun erst richtig losge-
hen. Wir wünschen uns, dass die Regierung von nun an
offensiver und vor allem öffentlicher mit diesem Thema
umgeht. Denn es hat schon etwas Verdruckstes, wenn
dieses Vorhaben nun hinter einer stiftungsrechtlichen
Neuorganisation des Deutschen Historischen Museums
versteckt wird. Da wir nicht genau wissen, was uns in-
haltlich erwartet, werden wir uns bei der Abstimmung
über diesen Gesetzentwurf denn auch enthalten.
Lassen Sie mich dennoch etwas Grundsätzliches aus
unserer Perspektive zum Thema Vertreibungen sagen.
Grundsätzlich sind wir Grüne dafür, der deutschen Opfer
der Vertreibungen zu gedenken. Lange Zeit herrschte ge-
rade in der westdeutschen politischen Linken die Auffas-
sung vor, die deutschen Opfer der Vertreibungen seien
die „gerechte Strafe“ für die Verbrechen der Nazis. „Ge-
recht“ konnte man dies aber nur finden, wenn man
Anhänger der Kollektivschuldthese war. Denn nach indi-
vidueller Schuld und Verantwortung wurde von den Ver-
treibern ja nicht gefragt. Unter den Vertriebenen waren
– wenn auch nicht unbedingt mehrheitlich – auch Kom-
munisten und andere Gegner des Naziregimes. Die Ver-
treibungen hatten gerade für die politische Linke eine
Placebofunktion, was Schuld und Sühne angeht. Da man
die Abertausend Deutsche, die aktiv an den Massenmor-
den des Holocaust beteiligt waren, nicht alle verurteilen
konnte, hatten aus dieser Perspektive die Vertriebenen
sozusagen als Stellvertreter die Last der Schuld zu über-
nehmen.
Ich möchte nicht darauf eingehen, warum das Thema
Vertreibungen nach dem Krieg von der politischen Rech-
ten ideologisch besetzt und ausgeschlachtet werden
konnte. Bis heute ist es so, dass das Thema Vertreibun-
gen für revisionistische Klitterungen der deutschen
Geschichte missbraucht wird. Wir werden deshalb auf-
merksam darauf achten, dass das geplante Dokumenta-
tionszentrum den historischen Kontext ausreichend be-
rücksichtigt. Die Erinnerung an die Vertreibungen von
Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und das Geden-
ken an deren Opfer darf nicht dazu führen, dass die deut-
schen Verbrechen in den Hintergrund geraten. Die Ver-
treibungen von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
haben viel Leid verursacht, und sie waren Unrecht. Doch
muss jede Erinnerung an deutsche Opfer den histori-
schen Zusammenhang deutlich machen. Deshalb werden
wir genau hinschauen, welchen Einfluss der Bund der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20947
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Vertriebenen auf die inhaltliche Ausrichtung nehmen
wird und welche Versatzstücke des „Zentrums gegen
Vertreibung“ womöglich in die Konzeption einfließen.
Das Projekt sollte keine nationale Angelegenheit sein
und auf keinen Fall Argwohn im Ausland wecken. Wir
wünschen uns deshalb eine enge Abstimmung mit unse-
ren europäischen Nachbarn. Wir setzen uns deshalb nach
wie vor für ein europäisches Forschungsnetzwerk ein.
Die Leiden der Vergangenheit dürfen nicht für nationale
Interessen instrumentalisiert werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Anmerkung
machen. Wir sprechen oft von der Integration der Mus-
lime in Deutschland. Wäre es deshalb nicht wünschens-
wert, wenn ein Vertreter der Muslime in Deutschland im
Stiftungsrat oder zumindest im wissenschaftlichen Bei-
rat der Stiftung vertreten wäre? Das wäre ein wichtiges
„sichtbares Zeichen“ für die Integration heute.
Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes-
kanzlerin: Heute bringen wir eine geschichtspolitische
Initiative von besonderer Bedeutung auf den Weg: die
Gründung der Stiftung Deutsches Historisches Museum
und damit verbunden die Gründung der unselbstständi-
gen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Aus-
gangspunkt ist der Koalitionsvertrag von 2005, in dem
den Regierungsparteien der Auftrag erteilt wird, in Ber-
lin ein „sichtbares Zeichen“ zu setzen, um an das Un-
recht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibungen
für immer zu ächten. Flucht und Vertreibung wirken
auch über sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Welt-
krieges in Politik und Gesellschaft, ja im Alltag und
auch in den Medien nach. Wir müssen uns mit diesem
Thema verantwortungsbewusst auseinandersetzen, ist es
doch Bestandteil der deutschen Geschichte, aber auch
der Biografien vieler unserer Bürgerinnen und Bürger.
Es gehört zur Aufbaugeschichte der Bundesrepublik
Deutschland und gleichzeitig zur europäischen Ge-
schichte als Folge eines von den Nationalsozialisten ent-
fesselten verbrecherischen Krieges mit bis heute zum
Teil schmerzlichen Implikationen für die Beziehungen
Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn.
Die Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der
Deutschen muss daher im Kontext der Geschichte des
20. Jahrhunderts insgesamt und insbesondere im Zusam-
menhang mit dem Zweiten Weltkrieg erfolgen.
Bei der Umsetzung des Auftrags aus dem Koalitions-
vertrag habe ich von Anfang an gleichermaßen Wert auf
die Einbindung der Betroffenen als auch auf die wissen-
schaftliche Expertise gelegt. Deshalb waren an dem Be-
raterkreis, der uns bei der Erstellung der Konzeption
unterstützt hat, einerseits parteiübergreifend Persönlich-
keiten beteiligt, die über langjährige politische Erfah-
rung verfügen und den legitimen Anliegen der Vertriebe-
nen verbunden sind. Andererseits waren insbesondere
auch Wissenschaftler aus dem In- und Ausland in diesen
Kreis eingebunden. Es ist als großer Erfolg zu bezeich-
nen, dass im Ergebnis ein Konsens zwischen den Regie-
rungsparteien hergestellt werden konnte. Zudem habe
ich die Konzeption des sichtbaren Zeichens im Februar
dieses Jahres in Warschau in einer Atmosphäre des
wechselseitigen Vertrauens und des gegenseitigen Re-
spekts auch der polnischen Seite erläutert. Die polnische
Regierung hält eine beratende wissenschaftliche Beglei-
tung polnischer Historiker für denkbar. Damit ist ein
wichtiger Schritt für die Einbindung in europäische Be-
züge geleistet, auf die ich großen Wert lege.
Ziel ist es, die Erinnerung und das Gedenken an das
„Jahrhundert der Vertreibungen“ und das damit verbun-
dene, uns alle berührende menschliche Leid wachzuhal-
ten. Dabei soll die gesellschaftliche wie historische Auf-
arbeitung im Geist der Versöhnung geschehen. Es soll
eine Ausstellungs- und Dokumentationsstätte eingerich-
tet werden, mit der nicht nur die Erlebnisgeneration an-
gesprochen wird. Auch den jüngeren Menschen im In-
und Ausland soll dieser Teil unserer Geschichte näher
gebracht werden. Im Vordergrund der Ausstellung ste-
hen Flucht und Vertreibung der Deutschen insbesondere
aus den ehemaligen Ostgebieten während und nach dem
Zweiten Weltkrieg. Aber nicht nur Deutsche waren vom
Schicksal der Vertreibung betroffen, deshalb wird sich
die Ausstellung nicht nur auf sie konzentrieren. Von
Flucht, Vertreibung und von den sogenannten Zwangs-
migrationen waren im 20. Jahrhundert viele Millionen
Menschen in ganz Ostmitteleuropa und in der damaligen
Sowjetunion betroffen. Aus diesem Grund gehören die
gesamteuropäischen Aspekte dieses Themas als genuine
Bestandteile selbstverständlich zu dessen Aufarbeitung.
Auch die Eingliederung der Vertriebenen und Flücht-
linge in West und Ost und ihre Aufbauleistungen sollen
einbezogen werden.
Für all diese konzeptionellen Elemente galt es, einen
passenden rechtlichen und organisatorischen Rahmen zu
finden. Mit der Schaffung einer unselbstständigen Stif-
tung in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museum ist dies, wie ich meine, in optimaler Weise ge-
lungen. Die gewählte Rechtsform ermöglicht nicht nur
die bedeutungsgebende Namensgebung Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“, sondern steht auch für Konti-
nuität und Gewicht dieser Einrichtung. Dass es sich bei
dem Träger – dem Deutschen Historischen Museum –
um eine Einrichtung handelt, die sich sowohl durch
fachwissenschaftliche als auch gesellschaftliche Akzep-
tanz auszeichnet, steht außer Frage. Ein ganz besonders
geeigneter Träger ist das DHM aber insbesondere auch
deshalb, weil die adäquate Einbettung der Thematik der
Vertreibungen in den allgemeinen historischen Zusam-
menhang dadurch nochmals verdeutlicht wird.
Die unselbstständige Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ wird einen eigenen Direktor bzw. eine ei-
gene Direktorin und eigene Gremien haben. Eine wich-
tige Rolle wird dem Stiftungsrat zukommen. In ihm wer-
den neben der Bundesregierung und dem Deutschen
Bundestag Vertreter des Bundes der Vertriebenen, die bei-
den großen Kirchen und der Zentralrat der Juden mitwir-
ken. Die auch bisher schon herausgehobene Bedeutung
wissenschaftlicher Beratung setzt sich nach Errichtung
der unselbstständigen Stiftung in institutionalisierter
Form fort, indem die Einrichtung einen eigenen wissen-
schaftlichen Beraterkreis haben wird. Mir ist es ganz
wichtig hervorzuheben, dass dieses Gremium für die
20948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Mitwirkung von Fachleuten aus dem Ausland, insbeson-
dere aus dem östlichen Europa, offen sein soll.
Mit der Errichtung der unselbstständigen Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ haben wir die Wei-
chen gestellt, um diese wichtige Thematik angemessen
aufzuarbeiten. Lassen Sie mich noch etwas zur neuen
Stiftung Deutsches Historisches Museum sagen. Die Ge-
schichte dieses Hauses begann am 7. Oktober 1985 mit
der Beauftragung einer Sachverständigenkommission.
Ziel war die Schaffung eines Ortes „der Erkenntnis
durch historische Erinnerung“, der „einen Überblick
über die deutsche Geschichte in ihrem europäischen Zu-
sammenhang geben“ sollte. Zum Aufbau wurde eine
GmbH mit den Gesellschaftern Bund und Berlin gegrün-
det. Diese sollte als vorläufige Trägerorganisation bis
zur Eröffnung des Museums fungieren. Inzwischen hat
sich das Deutsche Historische Museum als das Museum
für deutsche Geschichte von der Antike bis zur Gegen-
wart fest etabliert und zählt jährlich über eine halbe
Million Besucher aus dem In- und Ausland. Frau Bun-
deskanzlerin Merkel hat vor zwei Jahren die Daueraus-
stellung im sanierten Zeughaus eröffnet.
Der vorliegende Gesetzentwurf schließt die Ge-
schichte des Aufbaus nun ab. Die bisherige Rechtsform
einer GmbH war während der Aufbauphase des DHM
sinnvoll und ausreichend. Der Bund und das Land Berlin
waren sich allerdings schon bei Gründung der GmbH
vor über zehn Jahren einig, dass sie nur vorläufigen Cha-
rakter haben konnte. Sie ist in der deutschen Museums-
landschaft eine seltene Ausnahme. Mit der Umwandlung
des Deutschen Historischen Museums in eine Stiftung
des öffentlichen Rechts kann nun eine endgültige
Rechtsform festgelegt werden. Hierfür sprechen gewich-
tige Gründe. Die Rechtsform einer Stiftung des öffentli-
chen Rechts hat sich bei den anderen Geschichtsmuseen
des Bundes, Stiftung Haus der Geschichte der Bundes-
republik Deutschland und Stiftung Jüdisches Museum
Berlin, sehr bewährt. Das DHM wird diesen Häusern
nun auch organisatorisch gleichgestellt. Museumsstif-
tungen genießen auch im Ausland hohes Ansehen und
Vertrauen. Die Zusammenarbeit des DHM mit Einrich-
tungen im Ausland wird daher erleichtert.
Auch steuerbegünstigte Zustiftungen zur Erweiterung
des Sammlungsbestands sind nun leichter möglich. Dies
ist besonders für das DHM von Bedeutung, das in den
vergangenen Jahren wertvolle Objekte aus Schenkungen
und Nachlässen erhalten hat. Klar ist: Die hohen Anfor-
derungen an Haushaltskontrolle und -transparenz, die für
die bisherige GmbH gelten, werden künftig an die Stif-
tung gerichtet. Im Gesetzentwurf sind diese Anforderun-
gen vollumfänglich verankert.
Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass das Gesetz
eine hervorragende Grundlage dafür ist, dass das DHM
seine erfolgreiche Arbeit in den kommenden Jahren fort-
setzen und vertiefen kann. Dass wir hier zu einer so
überzeugenden Konstruktion gelangen konnten und die
Verabschiedung des Gesetzentwurfs noch in diesem Jahr
möglich wird, war nur durch das äußert konstruktive und
in der Sache engagierte Zusammenwirken aller Beteilig-
ten in der Bundesregierung, dem Bundesrat und dem
Deutschen Bundestag zu erreichen. Dafür wie auch für
die kompetente Beratung vonseiten der Wissenschaft
und der Mitwirkenden, der Betroffenen aus Fachkreisen
und der Zivilgesellschaft danke ich herzlich.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes zur
Gemeinschaftsaufgabe Entwicklung der ländli-
chen Räume ausbauen (Tagesordnungspunkt 20)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Land- und Forst-
wirtschaft im ländlichen Raum bietet Lösungsansätze für
bedeutende Zukunftsfragen unserer gesamten Gesell-
schaft. Deshalb brauchen wir auch nach 2013 eine starke
europäische Agrarpolitik in der ersten und der zweiten
Säule. Wir wollen auch übermorgen noch eine Landwirt-
schaft haben, die nachhaltig wirtschaftet und die Ver-
braucher mit sicheren und hochwertigen Lebensmitteln
aus heimischer Erzeugung versorgt.
Dagegen unterstellen die Grünen in ihrem Antrag,
dass die Akzeptanz für Agrarsubventionen „ohne er-
kennbare Gegenleistung für die Gesellschaft“ nicht mehr
gegeben ist. Das ist unanständig. Wir haben und halten
die höchsten Standards in Europa, und trotzdem behan-
deln sie unsere Bauern im Land mit Geringschätzung.
Darüber hinaus hätten die Bauern das Vertrauen in die
EU-Agrarpolitik der zweiten Säule verloren. Dies sei
Folge des von Bundeskanzlerin Merkel verhandelten
EU-Finanzrahmens für die Jahre 2007 bis 2013. Das ge-
naue Gegenteil ist der Fall.
Die aktuelle Situation bei der Nahrungsmittelversor-
gung weltweit zeigt, wie fundamental wichtig es für je-
des Land ist, landwirtschaftliche Familienbetriebe für
die Eigenversorgung bestmöglich zu stärken. Dies gilt
auch für die EU und Deutschland. Dass sich Menschen
dessen wieder bewusster werden, das geht schon aus
dem im März 2008 veröffentlichten Eurobarometer der
EU-Kommission hervor. Rund 60 Prozent der Befragten
sprachen sich dafür aus, dass die Mittelausstattung für
die weitere Gemeinsame Agrarpolitik unverändert fort-
geführt oder vergrößert werden sollte.
Die Aufsetzung der Beschlussempfehlung auf die
heutige Tagesordnung steht wohl im Zusammenhang mit
dem vor zwei Wochen gefundenen Kompromiss zur
Überprüfung der EU-Agrarpolitik. Worum geht es ei-
gentlich? Beim Beschluss der EU-Agrarreform 2003
wurde auch entschieden, 2008 eine Halbzeitbewertung
durchzuführen. Diese bekam den Namen Health Check,
also Gesundheitsüberprüfung. Dabei sollte untersucht
werden, ob Anpassungen oder Vereinfachungen nötig
und umzusetzen sind. Es war kein Ansatz für eine neue
Agrarreform. Dies haben wir immer betont und einge-
fordert.
Ich erinnere: Die Startposition Deutschlands für die
entscheidenden Verhandlungen war nicht einfach.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20949
(A) (C)
(B) (D)
Deutschland sah sich bei wichtigen Anliegen den gänz-
lich anderen Positionen vieler Mitgliedstaaten gegen-
über. Mit unserem „exotischen“ Kombi-Flex-Gleitmo-
dell macht eben zum Beispiel ein Art. 68 keinen Sinn.
Von zwei Ergebnissen des Health Check bin ich im-
mer noch besonders enttäuscht. Zum ersten hat die
Mehrheit der EU-Landwirtschaftsminister die Erhöhung
der Modulation trotz hartem deutschen Widerstands
durchsetzen können. Das schmerzt nicht nur, sondern es
ist auch unverständlich. In einer Zeit, in der Banken und
Wirtschaft mit hohen Geldsummen unterstützt werden,
in einer Zeit, wo man eifrig Schutzschirme spannt, lässt
Brüssel die Bauern nicht nur im Regen stehen, sondern
greift ihnen in ihrer Misere auch noch in die Tasche.
Dieses Spiel ist auch bei den Grünen beliebt.
Fragen lassen müssen sich außerdem die Landwirt-
schaftsminister der anderen EU-Staaten, wie man bei
Milchabsatzproblemen – und die haben wir seit Monaten
und weltweit – auf die Idee kommen kann, die Milch-
quote zu erhöhen? Der Beschluss ist Gift für faire Preise.
Trotzdem sind die erreichten Verbesserungen alles an-
dere als selbstverständlich. Denn unsere Ministerin
konnte in der heiß diskutierten Milchfrage Forderungen
von 14 EU-Staaten nach Erhöhung der Quote um mehr
als 5 Prozent abwehren. Dafür gibt es einen Milchfonds,
der zumindest zum Teil aus „frischem Geld“ finanziert
wird. Außerdem wird es in den Jahren 2010 und 2012
auf deutsches Drängen Berichte zur Lage des Milch-
marktes in Europa mit der Chance zu Anpassungen ge-
ben.
Betrachtet man das Gesamtergebnis, gibt es ange-
sichts der unterschiedlichen Positionen im EU-Agrarrat
neben Schatten auch Licht. Bei Trockenfutter und Stär-
kekartoffeln konnte die volle Entkopplung um zwei
Jahre verschoben werden. Positiv ist auch, dass die kom-
plizierte Regelung zur Stilllegungsverpflichtung nun
endlich abgeschafft wird. Bündnis 90/Die Grünen woll-
ten das nicht. Bei Cross Compliance konnten Begehr-
lichkeiten von Umweltverbänden und Bündnis 90/Die
Grünen, die Kontrollen deutlich auszudehnen und bis zu
10 Prozent „Ökostilllegung“ einzuführen, abgewehrt
werden. Die Entscheidungen zum Health Check sind ge-
fallen. Nun kommt es darauf an, das Stärkungspaket für
die Milch schnell und gut zu schnüren.
Auf EU-Ebene gibt es keine Verschnaufpause. So
sind die Diskussionen um die Zukunft schon voll im
Gange. Auch nach 2013 ist eine ehrgeizige und Gemein-
same Agrarpolitik erforderlich. Die Grundprinzipien der
GAP wie die zufriedenstellenden landwirtschaftlichen
Einkommen und stabile Preise für Verbraucher sind nach
wie vor wichtig.
Im bisherigen Entwurf der Schlussfolgerungen des
Rates wird die nachhaltige Bedeutung der Landwirt-
schaft für die Gesellschaft in Europa und die europäische
Zukunft betont. Er spricht sich darüber hinaus für ein
Nahrungsgleichgewicht weltweit aus. Ich halte aller-
dings den französischen Schlussfolgerungsentwurf für
unangemessen, da er Entscheidungen zum EU-Haushalt
oder zur finanziellen Vorausschau vorwegnimmt.
Abschließend möchte ich noch einmal Bezug nehmen
auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Ländliche
Räume sind auch in Zukunft auf eine leistungsfähige Re-
gionalpolitik und -förderung angewiesen. Da sind wir
uns einig. Die Zielorientierung der einzelnen Maßnah-
men und deren Effektivität muss allerdings absolut im
Vordergrund stehen. Ihr Ansinnen, alles in einen Topf zu
werfen, wird dem nicht gerecht. Die einzelnen Maßnah-
men müssen getrennt bleiben mit dem Ziel einer saube-
ren Abgrenzung und damit einer höheren Effizienz. So
sollen die Landkreise und Gemeinden in ihrem Bestre-
ben weiter unterstützt werden, gute Bedingungen und
ein gutes Investitionsklima für die Ansiedlung von Ge-
werbe und damit von Arbeitsplätzen zu schaffen.
Gerade für diese Bereiche stehen Deutschland über
die EU-Strukturfonds von 2007 bis 2013 mehrere Mil-
liarden Euro EU-Mittel zur Verfügung. Die Kommunen
erhalten in den einzelnen Bundesländern Mittel aus dem
Finanzausgleich, so zum Beispiel in Bayern über 6 Mil-
liarden Euro pro Jahr.
Die Gemeinschaftsaufgabe leistet zur Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur einen wichtigen Bei-
trag zur Förderung regionaler Entwicklungspotenziale.
Gleichzeitig hat die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbes-
serung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes für die
Sicherung einer flächendeckenden Landbewirtschaftung
und für eine leistungsfähige Landwirtschaft eine hohe
Bedeutung. Aktuell haben wir den Haushaltstitel wieder
aufgestockt. Wenn Bankenkreise und die Automo-
bilbranche mit Milliarden Euro unterstützt werden, müs-
sen wir weiterhin intensiv prüfen, wie wir die Landwirt-
schaft – als Basis unseres Seins – in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten unterstützen können. Schließlich si-
chert die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft über
vier Millionen Arbeitsplätze in unserem Land.
Nicht grüne Schauanträge entscheiden über die Zu-
kunft des ländlichen Raums, sondern verantwortliches
Handeln.
Holger Ortel (SPD): Ich möchte meine Rede heute
unter den Titel „Die GAK ausbauen, aber den Küsten-
schutz nicht vergessen“ stellen. Die Haushaltsverhand-
lungen liegen gerade hinter uns. Dort haben wir den
Sonderrahmenplan Küstenschutz beschlossen, der jähr-
lich bis 2024 25 Millionen Euro nur für den Küsten-
schutz bereitstellt.
Als Abgeordneter des Wahlkreises mit der längsten
Deichlinie begrüße ich das natürlich außerordentlich.
8,1 Millionen Euro mehr für den Küstenschutz in Nie-
dersachsen von Bundesseite sind ein Bekenntnis zur
Küste. Trotzdem ist nicht sicher, ob diese 380 Millionen
Euro ausreichen. Die Herausforderungen des Klimawan-
dels werden wohl noch mehr Investitionen erfordern. Ich
habe mit den Wasser- und Bodenverbänden gesprochen.
Sie halten Investitionen in Höhe von 540 Millionen Euro
für notwendig – und das nur für die 600 Kilometer Küste
in Niedersachsen in den nächsten zehn Jahren! Wir brau-
chen also noch mehr Mittel für den Küstenschutz.
20950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
Ich bin trotz allem froh, dass wir die GAK-Mittel nun
aufstocken konnten. Die GAK wurde in den vergange-
nen Jahren eher als Steinbruch für andere Aufgaben ge-
sehen. Die Mittel gingen stets zurück. Ich bin froh, dass
wir diesen Trend nun umkehren und zu einer moderaten
Aufstockung kommen konnten. Das hat aber auch damit
zu tun, dass wir die Gemeinschaftsaufgabe weiterentwi-
ckeln wollen. Die GAK hat dem Agrarsektor bislang da-
bei geholfen, die anstehenden Anforderungen eines
zukünftig liberalisierten Wettbewerbes zu bewältigen.
Dafür wollen wir sie auch weiterhin nutzen. Die Weiter-
entwicklung der GAK ist nötig und dringlich, weil wir
vor neuen Herausforderungen stehen. Genannt seien der
Klimawandel oder die Umsetzung der Wasserrahmen-
richtlinie.
In der Vergangenheit wurde die GAK immer wieder
an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst. Sie
wurde teilweise zu einem sektorübergreifenden Instru-
ment geformt und hat sich in der Vergangenheit auch als
Instrument zur Weiterentwicklung des ländlichen Rau-
mes entwickelt. Aber trotz des fortwährenden Anpas-
sungsprozesses blieb eine grundlegende Anpassung an
die veränderten gesellschaftlichen und agrarpolitischen
Erwartungen aus. Das Bild des Landwirtes als Erzeuger
von Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen wie
als Erhalter und Bewirtschafter einer artenreichen Kul-
turlandschaft wird weiter gelten, auch wenn der Begriff
„Agrarstruktur“ neu definiert werden muss.
Das Maßnahmenspektrum ist breit und umfasst mehr
als nur Maßnahmen zur Förderung der Produktions- und
Vermarktungsstrukturen. Die Förderung der Breitband-
lnternetanbindung ist uns ein zentrales Anliegen. Die
Notwendigkeit differiert von Land zu Land. Aber auch
nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden oder wasserwirt-
schaftliche Maßnahmen sind nur ein Teil des Spektrums,
das von Land zu Land unterschiedlich aussieht. Die Ver-
marktungsstrukturen müssen erweitert werden. Bislang
wird dann ideenlos immer die Regionalvermarktung
strapaziert. Aber zukünftig müssen wir hier kreativer
werden. Es gibt viele regionale Spezialitäten, die es ver-
dient hätten, deutschlandweit Verbreitung zu finden.
Bei der Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe
dürfen wir diese aber nicht überfordern. Sie ist keine
Zaubertüte mit unbegrenzten Mitteln, aus der wir alle
Maßnahmen der regionalen Entwicklungspolitik bezah-
len können. Neben der GAK gibt es ja auch noch die Ge-
meinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftstruktur.
Die Fördermaßnahmen der GAK sind ein zentrales
Element für die Umsetzung der Strategie zur Entwick-
lung der ländlichen Räume. Eine Weiterentwicklung der
GAK muss einen sektor- wie auch ressortübergreifenden
Ansatz wählen, der den breit gefächerten Herausforde-
rungen in den ländlichen Räumen gerecht wird. Die inte-
grierte ländliche Entwicklung muss weitergedacht wer-
den.
Wie viele Wege wurden schon durch die zu schweren
Lkw zur Lieferung der Silage an Biogasanlagen kaputt-
gefahren? Ländlicher und forstwirtschaftlicher Wege-
bau müssen auch weiterhin durch die GAK gefördert
werden. Diversifizierung und Flurbereinigung müssen
vorangebracht werden. Noch immer gibt es hier Ent-
wicklungspotenzial. Hier ist die Bundesregierung, wie
wir bereits in unserem Antrag formuliert haben, gefor-
dert, gemeinsam mit den Ländern die Anwendung
bereichsübergreifender Konzepte sicherzustellen. Die
Gemeinden dürfen nicht über ihre Leistungsfähigkeit
hinweg belastet werden. Deren finanzielle Situation
muss Berücksichtigung finden.
Bereits jetzt stehen die Beratungen für die Förder-
periode 2010 bis 2013 an. Nachdem der europäische
Agrarrat vor wenigen Tagen einen Kompromiss zum
Health-Check gefunden hat, werden nun die Beratungen
zu Änderungen für den GAK-Rahmenplan 2010 bis 2013
schnell vom BMELV in Angriff genommen. Dazu dient
unter anderem die Verbändeanhörung zur GAK am 11. De-
zember 2008 in Bonn. Die für die GAK zuständigen Ver-
treter der Landesministerien und des Bundes warten auf
die Anregung der Verbände und ihrer Vorstellungen zur
Ausgestaltung des GAK-Rahmenplans und werden diese
– entsprechend – aufnehmen.
Die ELER-Mittel müssen auf jeden Fall noch effi-
zienter eingesetzt werden. Und wir müssen überlegen,
wie wir die Mittel zukünftig besser einsetzen können. So
zum Beispiel müssen wir überlegen, ob nicht die Förde-
rung von landwirtschaftlichen Erzeugergemeinschaften
gegenüber einzelbetrieblicher Förderung zu bevorzugen
ist. Vereinzelt wurden Gelder ja auch unsinnig ausgege-
ben – ein zweites Dorfgemeinschaftshaus oder der dritte
Dorfbrunnen angeschafft.
Was wir ebenfalls in unserem Antrag fordern, ist die
zügige Umsetzung der Maßnahmen des Bundesverkehrs-
wegeplanes zur besseren Erschließung des ländlichen
Raumes. Wobei klar ist, dass der Bundesverkehrswege-
plan nur eine Wunschliste darstellt. Eine Finanzierung ist
damit noch nicht gegeben.
Ich möchte abschließend sagen, dass wir Sozialdemo-
kraten uns zu unserer Verantwortung für die Menschen
bekennen. Sie ist fundamentale Leitlinie unserer Politik
für die ländlichen Räume.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Für die FDP sind
Land- und Forstwirtschaft, der Weinbau gemeinsam mit
den mittelständischen Betrieben der Ernährungswirt-
schaft und des Gartenbaus das Rückgrat ländlicher
Räume. Intakte ländliche Räume müssen gefördert und
gestärkt werden. Es ist gut, dass in dieser zentralen For-
derung Einigkeit im Deutschen Bundestag herrscht.
Allerdings sind die Unterschiede zur Erreichung des
Ziels sehr unterschiedlich. Richtig ist, dass die Bundes-
regierung mit ihrer bisherigen Politik die ländlichen
Räume eher geschwächt als gestärkt hat. Völlig zu Recht
verweisen die Grünen in ihrem Antrag auf den von Bun-
deskanzlerin Merkel maßgeblich verhandelten Finanz-
rahmen für den EU-Haushalt 2007 bis 2013. Dadurch
stehen Deutschland ab 2007 jährlich rund 300 Millionen
Euro weniger EU-Mittel für die Förderung der ländli-
chen Räume zur Verfügung.
Wer wie Bündnis 90/Die Grünen eine derartige Poli-
tik aber kritisiert, darf nicht wie die Fraktionsvorsitzende
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20951
(A) (C)
(B) (D)
Frau Künast gleichzeitig alle EU-Agrarsubventionen
von heute auf morgen abschaffen wollen. Das ist völlig
unglaubwürdig und wäre ein Schlag gegen die Landwirt-
schaft und damit gegen die ländlichen Räume in
Deutschland. Noch unglaubwürdiger wird die Position
von Bündnis 90/Die Grünen, wenn man sich ansieht,
wofür die Mittel des EU-Agrarhaushaltes herhalten sol-
len, die Frau Künast ja eigentlich alle abschaffen wollte.
So möchten die Grünen die EU-Agrarmittel für die Stär-
kung des ländlichen Raumes, die Milchbauern, den Ur-
waldschutz, den Klimaschutz und vieles andere ausge-
ben. Damit haben die Grünen den EU-Agrarhaushalt
zum „Jäger 90“ ihrer populistischen und unausgegore-
nen Politik gemacht.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist die beste und
wichtigste Maßnahme zur Stärkung des ländlichen Rau-
mes, dass mittelständische Unternehmen der Land- und
Forstwirtschaft, des Gartenbaus, der Ernährungswirt-
schaft und des Weinbaus durch marktwirtschaftliche Re-
formen und Bürokratieabbau gestärkt werden. Es ist be-
dauerlich, dass die Bundesregierung diese Chance im
Rahmen der Beratungen zur Gesundheitsüberprüfung
der Gemeinsamen Agrarpolitik nicht genutzt hat. Im Ge-
genteil: Die Erhöhung der Modulation und noch mehr
Bürokratie über Cross Compliance verschlechtern die
agrarpolitischen Rahmenbedingungen für die mittelstän-
dischen Betriebe in Deutschland. Der Kompromiss
kostet die deutsche Landwirtschaft noch einmal über
200 Millionen Euro. Die Bundesregierung hat damit ihre
zentralen agrarpolitischen Ziele verfehlt, nämlich Pla-
nungssicherheit und Verlässlichkeit in der Agrarpolitik
für die deutschen Landwirte herzustellen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die beiden
Anträge zur Förderpolitik im ländlichen Raum, um die
es hier geht, sind von der Zeit längst überholt worden.
Beispiel: Die Grünen forderten eine Erhöhung der obli-
gatorischen Modulation, um Fördergeld aus den Land-
wirtschaftsbetrieben in die Förderung im Rahmen der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes (GAK)“ umzuverteilen. Der
europäische Agrarrat hat nun nach monatelangen kontro-
versen Debatten und gegen die Argumentation auch der
Linken vor wenigen Tagen diese Umverteilung be-
schlossen: 5 Prozent bis zum Jahr 2013. Die Entschei-
dung wurde mit „neuen“ Aufgaben der europäischen
Agrarpolitik begründet. Gemeint sind Maßnahmen zum
Klimaschutz, Wassermanagement und zum Erhalt der
Biodiversität. Es wurde bei dieser Gelegenheit gleich
eine neue Ungerechtigkeit beschlossen; denn diese Um-
verteilung trifft über den progressiven Berechnungsme-
chanismus vor allem die ostdeutsche Landwirtschaft,
ohne ihre besonderen Bedingungen zu berücksichtigen.
Die Bundesregierung hatte irgendwann nach dem
Sommer offensichtlich ihren Widerstand gegen diese
Regelungen gegen die Zusage eines Milchfonds aufge-
geben, mit dem der Ausstieg aus dem Milchquotensys-
tem 2015 gedämpft werden soll, aber nicht etwa mit fri-
schem Geld, sondern mit einem Teil des umverteilten
Geldes. So spielt man Milchbauern gegen ostdeutsche
Landwirtschaftsbetriebe aus! Dabei ist noch weitgehend
unklar, wie der Milchfonds denn wirklich konkret wir-
ken wird. Ob so das angebliche Ziel der Stärkung der
Dörfer und kleinen Städte erreichbar ist, kann mit gutem
Recht bezweifelt werden. Eher werden Landwirtschaft
und ländliche Räume gegeneinander ausgespielt.
In den Beschlüssen zum Haushalt 2009 sind von der
Koalition die Mittelzuweisungen des Bundes für die
GAK um 40 Millionen Euro erhöht worden. Das hört
sich erst einmal viel an. Aber: Die Mittel sind in erster
Linie dem Küstenschutz vorbehalten. Nicht dass das
nicht auch eine wichtige Aufgabe wäre, keine Frage!
Nur, eine wirkliche Aufstockung der Mittel für die
Strukturförderung in den ländlichen Räumen findet da-
mit nicht statt. Die Linke enthält sich beim Antrag der
Koalition und lehnt den Antrag der Grünen ab, da in die-
sem ein Finanzierungsmodell vorgeschlagen wird, das
wir ablehnen. Mit beiden Anträgen kommen wir hin-
sichtlich der Förderung der ländlichen Räume nicht wei-
ter. Solange wesentliche Faktoren vollkommen ausge-
blendet oder nicht wichtig genommen werden, die zu
den Problemen in den ländlichen Gebieten beitragen,
werden diese nicht gelöst.
So ist ein zentrales Problem die selektive Abwande-
rung junger und qualifizierter Frauen aus den ländlichen
Gebieten mit gravierenden langfristigen Folgen für die
Regionen. Der Ex-Agrarminister Seehofer schien im
Frühjahr 2008 das Problem der ländlichen Räume we-
nigstens erkannt zu haben, als er eine interministerielle
Arbeitsgruppe zum Thema gründete. Acht Ministerien
sollten mitarbeiten, darunter das Wirtschafts-, das Um-
welt-, das Bildungs- und das Verkehrsministerium. Aber
ausgerechnet das für Frauen zuständige Bundesministe-
rium fehlte. Aber wie sollen denn vernünftige Ergeb-
nisse in der Politik für ländliche Räume erzielt werden,
wenn die Politik hier nicht gleichstellungspolitisch an-
setzt, zum Beispiel durch eine geschlechtergerechte För-
derpolitik? Gleichstellung im ländlichen Raum müsste
doch angesichts der aktuellen Situation das Topthema
der Bundesregierung sein.
Der Ansatz, die verschiedenen Akteurinnen und Ak-
teure im ländlichen Raum unter einen Hut zu bringen
und die verschiedenen Politikfelder besser aufeinander
abzustimmen, ist ja im Prinzip richtig und wird auch sei-
tens der Linken unterstützt. Er muss allerdings ernst ge-
nommen werden, und das ist nicht erkennbar. Außer gro-
ßen Konferenzen zum Thema ist praktisch kaum etwas
passiert. Im Gegenteil: Nach wie vor wird die Verkehrs-
infrastruktur weiter ausgedünnt, Bahnstrecken werden
abbestellt, Verbindungen zwischen Ballungsgebieten
und ländlichen Regionen reduziert. Das Programm zum
Ausbau des schnellen Internets kommt für die Betroffe-
nen in den ländlichen Regionen gar nicht oder nur sehr
schleppend voran und ist unterfinanziert, mal davon ab-
gesehen, dass es mit dem Agrarressort dem verkehrten
Politikressort zugeordnet ist, weil es eigentlich zum In-
frastrukturministerium gehört. Die lebensnotwendige In-
frastruktur im Gesundheitswesen und bei den Bildungs-
angeboten, aber auch im kulturellen Bereich wird weiter
ausgedünnt, und damit schwinden wichtige Standortfak-
toren für die Menschen, die in den ländlichen Regionen
leben und leben wollen. Das gilt auch für Unternehmen,
20952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
denen ohne Bildungs- und Kulturinfrastruktur die Fach-
kräfte verloren gehen.
Vor allem Frauen müssen die Fehlstellen in der öf-
fentlichen Infrastruktur ausgleichen und es fehlt immer
öfter das existenzsichernde Einkommen. Ihre Zugangs-
möglichkeiten zu Fördermitteln in den ländlichen Räu-
men sind aus verschiedenen Gründen schlechter als die
der Männer. Die Programme sind insgesamt sowieso
kompliziert und wie beim LEADER-Programm für ein-
zelne Antragsteller nur schwer zugänglich. Auf die spe-
zifischen Interessen von Frauen sind sie kaum ausgerich-
tet. Eine Strukturpolitik für die ländlichen Räume muss
die Interessen der dort lebenden Menschen aktiv und
umsichtig berücksichtigen. Gerade skandinavische Län-
der machen uns da einiges vor.
Die Linke bekennt sich zum verfassungsgemäßen
Recht auf gleichwertige Lebensbedingungen im ganzen
Land. Die bislang initiierten politischen Maßnahmen,
um diese zu erreichen, greifen offensichtlich nicht. Die
Anträge der Koalition und der Grünen skizzieren zwar
die Probleme ländlicher Räume recht umfassend; sie bie-
ten aber nicht das, was zur Lösung der Probleme ge-
braucht wird: ein integriertes, geschlechtergerechtes Ent-
wicklungskonzept für die ländlichen Räume, das unter
Einbeziehung der Akteurinnen und Akteure vor Ort ent-
wickelt wurde und dort ansetzt, wo wirklich Unterstüt-
zung gebraucht wird.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu
Beginn der Legislaturperiode hat das CSU-geführte
Agrarministerium die Entwicklung ländlicher Räume
zur Chefsache erklärt. Lobenswert war der breite Dis-
kussionsprozess, der damals angestoßen wurde. Drei
Jahre später sind die Ergebnisse allerdings mehr als ent-
täuschend. Denn die Koalition scheint zu dem Schluss
gekommen zu sein, das Beste sei es, die vielen Anregun-
gen und Konzepte, die in den vergangenen Jahren von
einer Vielzahl von im ländlichen Raum beheimateten
Akteuren erarbeitet und vorgestellt wurden, zu ignorie-
ren. Man folgt lieber weiterhin blind den Vorgaben des
Deutschen Bauernverbandes. Mit ihrer Blockadehaltung
in den Verhandlungen zum Health Check der EU-Agrar-
politik hätte unsere Regierung das nicht deutlicher zum
Ausdruck bringen können.
Dem setzen wir mit unserem Antrag zur Weiterent-
wicklung der Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ zu einer Ge-
meinschaftsaufgabe für den ländlichen Raum eine an-
dere, eine zukunftsfähige Politik entgegen. Klimaschutz,
Umwelt- und Naturschutz, Beschäftigungszuwachs, das
sind die zentralen Begriffe, an denen sich Politik für die
ländliche Entwicklung messen lassen muss. Deshalb ist
ein Festhalten an den voraussetzungslosen EU-Agrar-
subventionen eine Sackgasse. Die Mittel, die die öffent-
liche Hand für die Entwicklung ländlicher Räume
notwendigerweise bereitstellt – und dazu gehört selbst-
verständlich und in einem bedeutenden Maß der Agrar-
bereich –, lassen sich vor den Steuerzahlern nur noch
rechtfertigen, wenn die Mittelempfänger auch bereit
sind, eine Gegenleistung für die Gesellschaft zu erbrin-
gen. Dafür müssen Bund und Länder aber auch passende
Programme anbieten. Mit unserem Antrag zeigen wir
eine ganze Reihe von Maßnahmen auf, die eine zu-
kunftsfähige Entwicklung der ländlichen Räume genau
in diesem Sinne ermöglichen.
Grundlage aller Fördermaßnahmen müssen Konzepte
für die integrierte Entwicklung sein. Regionalmanage-
ment und die Weitergabe von Verantwortung auch in fi-
nanzieller Hinsicht an die Akteure in den Regionen sol-
len gestärkt werden. Wir sollten den Regionen mehr
Entscheidungskompetenz zutrauen und mehr Finanzho-
heit übertragen. Für die Veredlung und Erzeugung land-
wirtschaftlicher Qualitätsprodukte, den Ökolandbau und
für kleine Unternehmen und Betriebe, die ihre Produkte
und Leistungen zum größten Teil in ihren Regionen ab-
setzen, bedarf es einer besseren Unterstützung.
Agrarinvestitionen sollen nur noch dann mit öffentli-
chen Mitteln unterstützt werden, wenn damit besonders
hohe, über den gesetzlichen Mindestanspruch hinausge-
hende Standards in den Bereichen Tier-, Natur-, Klima-
und Umweltschutz erzielt werden. Zu diesen Standards
gehört unseres Erachtens auch der Verzicht auf Agrogen-
technik. Denn die wenigen Nutzer von gentechnisch ver-
änderten Pflanzen gefährden den wirtschaftlichen Erfolg
aller anderen Betriebe, nicht nur der Imker und Bioland-
wirte.
Das Angebot an Agrarumweltmaßnahmen muss mit
dem Ziel der Effizienzsteigerung und der Erhöhung der
ökologischen Wirksamkeit bei den einzelnen Program-
men neu erarbeitet werden. Darüber hinaus müssen wir
auch in Deutschland endlich die gesamte Bandbreite der
im Rahmen der ELER-Verordnung angebotenen Förder-
maßnahmen zur Verfügung stellen.
Sie werden sich sicherlich fragen, womit wir das be-
zahlen wollen. Dazu kann ich Ihnen sagen, dass wir bei-
spielsweise die weitere Förderung des ländlichen und
forstwirtschaftlichen Wegebaus über die Gemeinschafts-
aufgabe für verzichtbar halten und bei der Flurbereini-
gung die Fördersätze deutlich reduzieren wollen. Allein
in der ersten Achse ließe sich so über ein Drittel der bis-
her ausgegebenen Gelder einsparen.
Wenn Stadt und Land weiter auseinanderdriften, dann
liegt es nicht am Mangel an Geld, sondern an der fal-
schen Prioritätensetzung. Dem wollen wir mit unserem
Antrag begegnen.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Konvention zum
Verbot jeglicher Streumunition zügig ratifizie-
ren und in internationales Völkerrecht überfüh-
ren (Tagesordnungspunkt 21)
Eduard Lintner (CDU/CSU): In diesen Tagen erle-
ben wir mit, wie in Oslo ein neues, wichtiges Kapitel in
der Geschichte des humanitären Völkerrechts geschrie-
ben wird. Die Streumunitionskonvention, die dort von
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20953
(A) (C)
(B) (D)
über 100 Staaten unterzeichnet wird, ist ein wichtiger
Beitrag zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Kon-
flikten. Erst vor wenigen Monaten konnten wir während
des Krieges in Georgien beobachten, welch schlimme
Folgen der Einsatz von Streumunition auch noch lange
nach Beendigung der Kampfhandlungen für die Zivilbe-
völkerung hat. Allen, die an der Entstehung dieser Kon-
vention beteiligt waren – dazu zählt gerade auch die
Bundesregierung – gebührt daher unser Dank.
In der Konvention werden erstmals der Einsatz, die
Entwicklung, die Herstellung, die Lagerung sowie der
Im- und Export von Streumunition untersagt und die
Vernichtung vorhandener Bestände vereinbart. Wie der
heute zu beratende Antrag und diese Debatte zeigen, ist
die Arbeit aber mit der Unterzeichnung der Konvention
noch nicht getan. Zunächst muss die Bundesregierung
den Vertrag schnellstens dem Bundestag zur Ratifizie-
rung vorlegen, wozu sich in diesem Hause sicherlich
eine große Mehrheit finden wird. Die Bundesregierung
ist auch aufgefordert, ihr Verständnis des Vertrags in ei-
ner Erklärung gegenüber dem Bundestag zu erläutern.
Die bereits 2001 begonnene Vernichtung von Streu-
munitionsbeständen soll im Sinne des Antrags der Koali-
tion bereits innerhalb von vier Jahren zu Ende geführt
werden, obwohl die Konvention den Staaten hierfür acht
Jahre Zeit einräumt. Der Bundestag soll im jährlichen
Rüstungskontrollbericht der Bundesregierung über die
einzelnen Vernichtungs- und Entsorgungsschritte unter-
richtet werden. Ebenso fordern wir in unserem Antrag
mehr Transparenz gegenüber den Ausschüssen des Par-
laments, wenn es um die Entwicklung und Beschaffung
von Munition geht. Dies alles ist notwendig, damit der
Bundestag seiner Kontroll- und Überwachungsfunktion
gerecht werden kann.
Die Konvention stellt einen großen Fortschritt dar, er-
fasst aber bedauerlicherweise nur ein Drittel der welt-
weiten Bestände an Streumunition. Die größten Produ-
zenten und Anwender, die USA, Russland, China und
Israel, waren an den Verhandlungen nur als Beobachter
beteiligt und gehören nicht zu den Unterzeichnern.
Deutschland muss daher weiter aktiv, vor allem inner-
halb der EU und der NATO, für den Beitritt auch dieser
Staaten zur Streumunitionskonvention werben. Um die
Reichweite des Vertrags zu erhöhen, muss sich die Bun-
desregierung auch für eine Übernahme der Konvention
in das VN-Übereinkommen über konventionelle Waffen
einsetzen.
Der Antrag, den meine Fraktion zusammen mit der
SPD eingebracht hat, ist nicht der einzige zu diesem
Thema. Obwohl der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen heute nicht auf der Tagesordnung steht, möchte
ich doch einige Worte zu ihm verlieren, um unseren ei-
genen Standpunkt in der Sache deutlich zu machen. An-
träge wie der, der von den Grünen im Frühjahr einge-
bracht wurde, mit der Forderung, alle Waffensysteme,
die Submunition einsetzen, zu vernichten und gemein-
same Operationen mit befreundeten und verbündeten
Staaten, die noch Streumunition verwenden, zu verbie-
ten, schießen über das Ziel hinaus und disqualifizieren
sich auch durch ihre konkreten Formulierungen. Streu-
munition, vor allem solche älterer Bauart, ist aus den be-
kannten Gründen ohne Zweifel eine Waffe, deren Ein-
satz nicht mit dem Völkerrecht zu vereinbaren ist. Daher
haben wir uns für ein weitgehendes Verbot eingesetzt
und dieses auch erreicht. Aber auch die sogenannte
Punktzielmunition mit in die Definition von Streumuni-
tion einzubeziehen und sie pauschal als „Terrorwaffe“ zu
qualifizieren, wie es im Antrag der Grünen geschieht,
schießt deutlich über das Ziel hinaus.
Forderungen, wie sie in diesem Antrag erhoben wer-
den, verkennen die Erfordernisse militärischer Einsätze
und gefährden die Fähigkeit der Bundeswehr, gemein-
same Einsätze mit unseren Verbündeten durchzuführen.
Und letztlich gefährden sie auch den ganzen Prozess, der
nun mit der Unterzeichnungszeremonie in Oslo zu einem
vorläufigen Ende kommt. Denn was wäre die Folge ge-
wesen, wenn die Bundesregierung dem Antrag der Grü-
nen gefolgt wäre? Das Abkommen, dessen Zustande-
kommen wir heute lebhaft begrüßen, wäre überhaupt
nicht zustande gekommen. Zum Beispiel hätten dann
Länder wie Großbritannien, Frankreich und Kanada da-
bei nicht mitmachen können. Insofern sind diese Kon-
vention und auch der Antrag der Koalition Ausdruck ei-
nes Realismus, der für den Erfolg der Anstrengungen
geradezu mitentscheidend war.
Mit der Streumunitionskonvention wurde ein wichti-
ges Ziel, nämlich ein weitgehendes Verbot von Streumu-
nition, erreicht und die Bündnisfähigkeit Deutschlands
und aller anderen NATO-Unterzeichnerstaaten aufrecht-
erhalten. Nach dem Verbot von Antipersonenminen im
Vertrag von Ottawa 1997 stellt der Vertrag von Dublin
einen weiteren wichtigen Schritt zur Ächtung von Waf-
fen dar, die die Zivilbevölkerung unverhältnismäßig
stark gefährden. Wir haben darüber hinaus die Hoffnung,
dass, ausgehend von der in dieser Woche unterzeichne-
ten Konvention, eine neue Dynamik die Abrüstungsbe-
strebungen erfassen wird. Der Einstieg der USA in die
Streumunitionskonvention wäre von großer Bedeutung.
Äußerungen des neugewählten US-Präsidenten geben
Anlass zur Hoffnung, dass das Thema Streumunition für
ihn durchaus wieder auf der Agenda steht.
Der Deutsche Bundestag kann mit seiner Zustim-
mung zu dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfrak-
tionen ein Zeichen dafür setzen, dass Deutschland bei
den weiteren Bemühungen zur Ächtung von Streumuni-
tion ein verlässlicher und berechenbarer Partner bleibt.
Andreas Weigel (SPD): Wie ich selbst miterleben
durfte, hat Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter
Steinmeier gestern Nachmittag für Deutschland die wäh-
rend der letzten zwei Jahre ausgehandelte Konvention
zum Verbot von Streumunition unterzeichnet. Mit seiner
Reise zu der Unterzeichnungszeremonie nach Oslo hat
der Minister – ebenso wie rund 50 seiner gestern anwe-
senden Amtskollegen – ein klares Zeichen gesetzt, wel-
che Bedeutung er der Ächtung dieser menschenverach-
tenden Waffe beimisst.
Die deutsche Vorreiterrolle und das Verhandlungsge-
schick des Auswärtigen Amtes haben maßgeblich dazu
beigetragen, dass sich rund 100 Staaten auf ein umfas-
20954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
sendes Verbot jeglicher Streumunitionstypen geeinigt
haben. Das ist ein großer Erfolg und ein wichtiger Im-
puls zur Wiederbelebung internationaler Abrüstungs-
und Rüstungskontrollpolitik. In einem gemeinsamen
Gastbeitrag mit seinem britischen Amtskollegen
Miliband in der Frankfurter Rundschau hat Frank-
Walter Steinmeier betont – und ich kann dem nur bei-
pflichten –, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle keine
Themen von gestern sind. „Abrüstung und Rüstungskon-
trolle gehören ganz oben auf die internationale Agenda“,
schreiben die Minister. Sie fahren fort, die Konvention
zum Verbot von Streumunition sei „ein Meilenstein auf
dem Weg der konventionellen Rüstungskontrolle“.
In der Tat verfolgt die Streumunitionskonvention ei-
nen richtungweisenden Ansatz: Wenn gleichgesinnte
Regierungen, Parlamente und die Zivilgesellschaft in
lange blockierten Rüstungskontroll- und Abrüstungsfra-
gen ihre Kräfte bündeln, dann können sie eine Menge
bewegen. Das hat sich bereits in der Wirkung der Ot-
tawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen
gezeigt, die vor genau elf Jahren am 3. Dezember 1997
vereinbart wurde.
Die Antipersonenminen-Konvention kam zustande,
weil die großen Produzenten- und Anwenderstaaten sich
einem Verbot im Rahmen der Vereinten Nationen ver-
weigerten. Darum haben Zivilgesellschaft, Parlamenta-
rier und progressive Regierungen eine Ächtung außer-
halb des UN-Rahmens realisiert. Der so erzeugte
öffentliche Druck hat die weltgrößten Minenproduzen-
ten, die USA, China und Russland, zwar nicht dazu be-
wogen, dem Verbot offiziell beizutreten, wohl aber, es
faktisch zu respektieren. Sie schrecken mittlerweile
weitgehend davor zurück, mit Antipersonenminen zu
handeln oder sie zu verwenden.
Genau das Gleiche passiert nun durch die Streumuni-
tionskonvention. Sie wird von zahlreichen gewichtigen
EU- und NATO-Staaten mitgetragen. Das ist von großer
Bedeutung, um den nötigen öffentlichen Druck aufzu-
bauen. Gerade in dieser Hinsicht hat das Auswärtige
Amt mit seinem ausgewogenen Verhandlungsansatz, der
eben auch militärische Argumente berücksichtigt, ganze
Arbeit geleistet. Die Konvention sendet ein starkes
Signal an diejenigen Länder aus, die heute noch an einer
Produktion und Verwendung von Streumunition festhal-
ten. Diese Staaten werden in Zukunft zunehmend unter
Druck geraten und öffentlich gebrandmarkt.
Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. Das hat sich
etwa im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzun-
gen im Sommer dieses Jahres im Kaukasus gezeigt.
Zwar haben Russland und Georgien Streumunition ein-
gesetzt und das auch als legitim betrachtet. Aber im
Nachhinein sehen sich beide Seiten nun erheblichem
Rechtfertigungsdruck ausgesetzt und werfen sich zudem
auch selbst gegenseitig den Einsatz von Streumunition
vor. Auch die USA haben ihre vormals starre Haltung
gegen ein Streumunitionsverbot und gegen eine be-
schleunigte Aussonderung besonders heimtückischer
Modelle aufgegeben. Von der neuen Administration dür-
fen wir im kommenden Jahr wohl noch einige weitere
Bewegung erwarten. Barack Obama hat das auch bereits
durchblicken lassen.
Ich halte es daher für kurzsichtig und unredlich, wenn
einige Medien dieser Tage behaupten, die Streumuni-
tionskonvention sei wirkungslos und allenfalls ein „Mei-
lensteinchen“. Das Gegenteil ist der Fall. Der Züricher
Tages-Anzeiger schreibt zu Recht:
Der Oslo-Prozess für das Streubombenverbot
macht deutlich, worauf es bei der Entwicklung des
humanitären Völkerrechts im 21. Jahrhundert an-
kommt: Die Initiative muss von unten kommen,
Lösungen für ein konkretes Problem anbieten und
das Wohl des einzelnen Menschen im Fokus haben.
Mit Afghanistan und dem Libanon haben gestern
übrigens auch zwei Länder unterzeichnet, die noch 2003
und 2006 massiv mit Streumunition bombardiert wurden
und nach wie vor unter den Folgen zu leiden haben. Im-
mer wieder gibt es zivile Opfer; denn noch heute sind
weite Flächen dieser Länder millionenfach durch Blind-
gänger verseucht. Schon viel zu viele Menschen haben
so ihre Arme und Beine verloren. Der gestern unter-
zeichnete Vertrag bietet der Bevölkerung in den betroffe-
nen Regionen umfangreiche Räum- und Opferbeihilfen.
Auch das ist ein wesentlicher Fortschritt.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ganz erheblichem
Maße die deutsche Position zur Streumunition geprägt.
Bereits seit mehreren Jahren haben wir uns nachdrück-
lich für ein umfassendes Verbot von Streumunition ein-
gesetzt. So ist es uns schließlich gelungen, die Union zu
einem Einlenken in dieser Frage zu drängen. Insbeson-
dere gegenüber dem Haus von Verteidigungsminister
Dr. Franz Josef Jung haben wir diesbezüglich einige
Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Ich möchte deshalb noch einmal betonen, dass der mi-
litärische Nutzen von Streumunition angesichts heutiger
Einsatzszenarien gegen null tendiert und diese Waffe zu-
dem auch die sie einsetzenden Truppen in Gefahr bringt.
Streumunition sollte schnellstens aus allen Arsenalen
dieser Welt entfernt werden.
Auf Initiative der SPD-Fraktion hin haben der Vertei-
digungs- und der Haushaltsausschuss des Bundestages
im Zuge der Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2009
klare Vorgaben an das Verteidigungsministerium be-
schlossen, was die endgültige Entsorgung der noch vor-
handenen Bundeswehrstreumunition betrifft. Wir haben
dem Ministerium einen straffen Entsorgungszeitplan
auferlegt und auch die finanziellen Mittel für eine
schnellstmögliche Vernichtung sämtlicher deutscher Be-
stände bereitgestellt. Wir wollen die Entsorgung der ver-
bleibenden deutschen Bestände doppelt so schnell schaf-
fen, wie eigentlich in der Konvention vorgesehen,
nämlich in vier statt in acht Jahren. Das ist sehr ambitio-
niert, aber die brandenburgischen Entsorgungsunterneh-
men, die ich im Sommer besucht habe, sind zuversicht-
lich, dass das zu schaffen ist. Über die erfolgte
Entsorgung wird dem Parlament und der Öffentlichkeit
jährlich in einem gesonderten Teil des Abrüstungsbe-
richts der Bundesregierung Rechenschaft abgelegt wer-
den.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20955
(A) (C)
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Wir beraten heute einen von uns initiierten Koali-
tionsantrag, der eine rasche Ratifizierung des Streumuni-
tionsverbots auf den Weg bringt. Mit der 30. Ratifikation
wird das Verbot gültig. Unser Antrag sieht vor, dass die
Regierung dem Bundestag die Ratifikation des Verbots
bereits im ersten Halbjahr 2009 zur Abstimmung vor-
legt. Das Verbot soll in Deutschland noch in der laufen-
den Legislaturperiode gesetzlich verankert werden, um
so auch an andere Vertragsstaaten ein klares Signal für
eine schnelle Ratifizierung auszusenden. Unser Antrag
verpflichtet die Bundesregierung außerdem dazu, sich
weiterhin für eine zügige Universalisierung des Streu-
munitionsverbots zu engagieren. Dazu gehört, dass
Deutschland seine Bündnispartner in aller Deutlichkeit
zu einem Verzicht auf Streumunition drängen soll und
dass auch auf deutschem Boden gelagerte Munitionsbe-
stände abzuziehen sind.
Die Länder, die das Streumunitionsverbot in den ver-
gangenen zwei Tagen nicht gezeichnet haben, sind auf-
gefordert, das so bald wie möglich bei den Vereinten
Nationen in New York nachzuholen. Seitens des Bun-
destages haben wir gegenüber Parlamentariern anderer
Länder bereits intensiv für einen Beitritt zu dem Streu-
munitionsverbot geworben – etwa gegenüber den Mit-
gliedern der Parlamentarischen Versammlung der
NATO.
Ein weiterer Aspekt, den wir mit unserem Antrag auf-
greifen, ist die Entwicklung und Erprobung anderer Mu-
nitionsarten. Punktzielmunition ist nicht gleichzusetzen
mit Streumunition. Der gestern gezeichnete Konven-
tionstext formuliert diesbezüglich anspruchsvolle Vorga-
ben, was etwa die Limitierung der Sprengkörperzahl
sowie Selbstzerstörungsmechanismen betrifft. Das Par-
lament hat hier eine Funktion als unabhängiges Kontroll-
organ. Wir fordern von der Bundesregierung regelmä-
ßige und detaillierte Nachweise bezüglich der Erfüllung
dieser Kriterien.
Abschließend möchte ich ausdrücklich all jenen dan-
ken, die am Zustandekommen des Streumunitionsver-
bots beteiligt waren. Unser Dank gilt der norwegischen
Regierung, die dem Oslo-Prozess sozusagen eine Hei-
mat gegeben hat. Hervorheben möchte ich auch das au-
ßergewöhnliche und beharrliche Engagement zivilge-
sellschaftlicher Organisationen, die sich in der Cluster
Munition Coalition zusammengeschlossen haben. Durch
Gespräche mit meinen Fachkolleginnen und -kollegen
bin ich mir sicher, dass die Zivilgesellschaft auch weiter-
hin mit dem gesamten Deutschen Bundestag einen Ver-
bündeten hat, der die künftige Entwicklung des Streu-
munitionsverbots aufmerksam begleiten wird.
Florian Toncar (FDP): Die gestrige Unterzeichnung
des Abkommens zum Verbot von Streumunition in Oslo
ist ein wichtiger Meilenstein für die Ächtung einer gan-
zen Waffenart, deren Opfer in der Vergangenheit fast
ausschließlich Zivilisten waren. Streumunition ist eine
Flächenwaffe, die großflächige Zerstörungen und wegen
ihrer hohen Blindgängerquote auch nach dem Ende von
Konflikten eine langfristige Bedrohung der ansässigen
Bevölkerung bewirkt. Vor allem spielende Kinder wur-
den in der Vergangenheit Opfer dieser heimtückischen
Gefahr.
Dass dieses Abkommen nun geschlossen werden
konnte, ist dem beharrlichen Engagement der Bürgerge-
sellschaft und insbesondere einiger Nichtregierungsorga-
nisationen zu verdanken. Nach der Ottawa-Konvention
aus dem Jahr 1997 zum Verbot von Antipersonenminen,
die fest mit dem Namen des damaligen Bundesaußenmi-
nisters Klaus Kinkel verbunden ist, ist dies bereits die
zweite Erfolgsgeschichte, bei der die Bürgergesellschaft
den Boden für ein weltweites Abrüstungsabkommen zur
Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts berei-
tet. Da die FDP-Bundestagsfraktion bereits vor zwei
Jahren in einem Antrag – Drucksache 16/2780 – die um-
fassende Ächtung von Streumunition gefordert hat – da-
mals noch gegen den Willen von Bundesregierung und
Koalitionsfraktionen –, ist die gestrige Vertragsunter-
zeichnung auch aus liberaler Perspektive ein großer Er-
folg, über den wir uns sehr freuen.
Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
zeigt zehn Forderungen auf, mit denen Deutschland die
rasche Implementierung der Oslo-Konvention national
und international vorantreiben kann. Dieser Katalog ist
eine umfassende und zielführende Zusammenstellung
von Maßnahmen, deren Umsetzung jetzt entschlossen
angegangen werden muss. Daher ist der Forderungsteil
des vorliegenden Antrags zu begrüßen.
Dennoch ist auch deutliche Kritik angezeigt. Diese
richtet sich auf den Begründungsteil des Antrags, in dem
ein verfälschtes Bild über die Rolle der Bundesregierung
in dem Verhandlungsprozess der vergangenen zwei
Jahre gezeichnet wird. Wenn in dem Antrag ausgeführt
wird, die Bundesregierung habe „eine Vorreiterrolle in
diesem Prozess innegehabt“, entspricht dies nicht den
Tatsachen. Der vor zwei Jahren von den Koalitionsfrak-
tionen vorgelegte Antrag – Drucksache 16/1995 – sah
noch die Möglichkeit für die Bundesregierung vor, an ei-
nem Teil der deutschen Streumunition festzuhalten. Da-
bei wurde eine geradezu willkürliche Unterscheidung in
für die Zivilbevölkerung „gefährliche“ und vermeintlich
„ungefährliche“ Streumunition gemacht. Die Koalitions-
fraktionen plädierten damals dafür, jegliche Streumuni-
tion mit einer Blindgängerrate von unter 1 Prozent von
einem Verbot auszunehmen. Die Bundesregierung igno-
rierte die von Fachleuten geteilte Auffassung, dass kein
derzeit bekannter Streumunitionstyp dieses Kriterium er-
füllen konnte. In diesem Zusammenhang spielt es keine
Rolle, ob die entsprechenden Streumunitionstypen über
sogenannte Selbstzerstörungsmechanismen verfügen
oder nicht. Um einer Diskussion über die Verlässlichkeit
der deutschen Streumunition aus dem Weg zu gehen,
verweigerte die Bundesregierung die Veröffentlichung
von Informationen über die Blindgängerraten der deut-
schen Bestände.
Bei den entscheidenden Verhandlungen im Mai 2008
in Dublin versuchte die Bundesregierung noch bis zu-
letzt, eine Klausel in den Vertragstext einzufügen, die ein
Festhalten an der entsprechenden Streumunition ermög-
licht hätte. Erst unter dem Druck der bei den Verhand-
lungen anwesenden Organisationen der Bürgergesell-
20956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
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schaft sowie der anderen Verhandlungsdelegationen
lenkte die Bundesregierung ein und nahm von ihrem
Vorhaben Abstand.
Daher wäre es angemessener, davon zu sprechen, dass
es trotz und nicht wegen der Haltung der Bundesregie-
rung gelungen ist, ein umfassendes Streumunitionsver-
bot ohne Schlupflöcher oder Hintertüren zu erreichen.
Die Bundesregierung kann sich wahrlich nicht rühmen,
eine Vorreiterrolle gespielt zu haben. Vielmehr hat sie
sich konsequent für Ausnahmen eingesetzt und ist erst
im letzten Moment, als ihr Anliegen ersichtlich geschei-
tert war, auf den fahrenden Zug aufgesprungen.
Umso erfreulicher ist es, dass die Bundesregierung
nun nicht mehr, wie noch vor zwei Jahren propagiert, bis
mindestens 2015 an der Streumunition in deutschen Be-
ständen festhalten will, sondern diese Waffen umgehend
außer Dienst stellen und sie innerhalb der ersten Frist des
Vertrags von vier Jahren vernichten und entsorgen wird.
Die Unterzeichung der Oslo-Konvention ist nicht der
Endpunkt einer politischen Entwicklung, sondern mar-
kiert den Start für den langen Umsetzungsprozess.
Neben der Abrüstung der Bestände der Unterzeichner-
staaten stehen die weitere Räumung von durch Streumu-
nition verseuchten Gebieten sowie die Versorgung von
Opfern an. Vor allem aber steht die Bundesregierung in
der Pflicht, auf die Staaten einzuwirken, die der Oslo-
Konvention noch nicht beigetreten sind. Dazu zählen
wichtige Produzenten- und Nutzerstaaten wie Russland,
China, Indien, Pakistan, Israel und die USA. Bundes-
außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier steht also
weiterhin vor der Aufgabe, in diesen Staaten für einen
Beitritt zur Oslo-Konvention einzutreten. Hier hat Herr
Steinmeier noch eine Menge Überzeugungsarbeit zu
leisten. Wir werden genau beobachten, welchen Einsatz
der Bundesaußenminister bei diesem wichtigen Unter-
fangen an den Tag legen wird.
Inge Höger (DIE LINKE): Gestern wurde in Oslo die
Konvention zum Verbot von Anwendung, Herstellung,
Weiterverbreitung und Lagerung von Streumunition
durch mehr als 100 Staaten unterzeichnet. Auch Opfer-
hilfe, die Räumung kontaminierter Gebiete und die Ver-
nichtung von Lagerbeständen sind in dem Abkommen
eingeschlossen. Dieses Abkommen ist ein großer Erfolg.
Dieser Erfolg wäre ohne das hartnäckige Engagement zi-
vilgesellschaftlicher Gruppen nicht zustande gekommen.
Handicap International, Human Rights Watch und das
Aktionsbündnis Landminen.de haben gemeinsam mit
den Staatsvertretern den Vertragsrahmen seit Anfang
2007 ausgehandelt.
Die Fraktion Die Linke unterstützt den Prozess von
Oslo, und wir werden auf eine rigorose und schnelle
Umsetzung des Abkommens drängen. Diese Position ha-
ben wir Anfang dieses Jahres mit dem Antrag zum sofor-
tigen Verbot von Streumunition in Deutschland deutlich
gemacht, Drucksache 16/7767.
Die Bundesregierung ist alles andere als ein Vorreiter
dieses Abrüstungsprozesses, auch wenn das nun behaup-
tet wird. Im Gegenteil hat die Bundesregierung den
Oslo-Prozess behindert und geschwächt.
Der Antrag der Regierungskoalition stellt mit seiner
zweiten Forderung eine weitere Schwächung der Osloer
Konvention zum Verbot von Streumunition dar. Hier
wird nach einer Regierungserklärung zur Vereinbarkeit
der Ratifizierung und gemeinsamer militärischer Opera-
tionen mit Nichtvertragsstaaten gefragt. Es wird auch
gleich die Richtung vorgegeben: Gemeinsame Kriegs-
einsätze – auch mit dem Einsatz von Streumunition –
müssen weiter möglich sein. Die Bündnisfähigkeit
Deutschlands wird höher gestellt als das Abkommen
zum Verbot von Streumunition. Aus diesem Grund kann
dieser Antrag nur abgelehnt werden.
Wenn Frank-Walter Steinmeier gestern, am 3. Dezem-
ber 2008, in der Frankfurter Rundschau schreibt, andere
Staaten sollten dem deutschen Beispiel folgen, dann kann
ich dem nur widersprechen. Das deutsche Beispiel steht
für Scheinheiligkeit und die Durchsetzung von Ausnah-
meregelungen. Weiterhin sollen spezielle Formen von
Streumunition produziert und eingesetzt werden können.
Für diese Hightech-Munition mit Zielerkennung wurde
die Bezeichnung Punktzielmunition geprägt. Nicht hu-
manitäre, sondern militärstrategische Überlegungen sind
für die Regierung also leitend. So sagte Andreas Weigel,
SPD, in der Parlamentsdebatte am 30. Mai 2008 zum
Antrag der Linken für ein sofortiges Verbot von Streu-
munition in Deutschland, Drucksache 16/7767: „Aus
militärstrategischer Sicht verlangen heutige Einsatzsze-
narien die Fähigkeit zur Punkt- und nicht zur Flächen-
zielbekämpfung. Dafür gibt es Punktzielmunition …“
Deutschland hat zusammen mit anderen NATO-Staa-
ten im Osloer Abkommen eine Ausnahme für diese an-
geblich fortschrittliche Streumunition durchgesetzt. Mit
der Konvention wird ein Verbot von Streumunition un-
terzeichnet, das umfassend und ausnahmslos sein soll.
Nun wurde die deutsche Produktion von Streubomben
beispielweise beim Waffenproduzenten DIEHL zur
Punktzielmunition weiterentwickelt. Diese soll weiter-
hin international verkauft und eingesetzt werden und
darf nun nicht mehr Streumunition heißen. Dieser
Schachzug der Neudefinition schließt Munition mit ge-
ringerem Gewicht und kleinerer Sprengkörperzahl, mit
höherer technischer Zuverlässigkeit und mit Zielerken-
nungsvorrichtung aus dem Verbot aus.
Die Bundesregierung hat diese Schlupflöcher im
Oslo-Vertrag mit dem Druck der möglichen Nichtunter-
zeichnung durchgesetzt. Gleichzeitig präsentiert sich die
Bundesregierung als Vorreiter dieser internationalen Ab-
rüstungsinitiative und lobt sich selbst für diesen „Mei-
lenstein auf dem Weg der konventionellen Rüstungskon-
trolle“ zum Schutz von Zivilisten. Das ist scheinheilig
und eine Täuschung der Öffentlichkeit.
Selbstverständlich ist das Oslo-Abkommen ein Rie-
senschritt voran zur weltweiten Ächtung und Vernich-
tung von Streumunition. Wir werden die Bundesregie-
rung an ihre umfassenden Verpflichtungen erinnern, die
sie mit der Unterzeichnung der Konvention zum Verbot
von Streubomben eingegangen ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20957
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Die Linke ist gegen eine rechtliche Unterordnung die-
ses Abkommens unter die Bündnisfähigkeit Deutsch-
lands und die Durchführbarkeit gemeinsamer militäri-
scher Einsätze mit Nichtunterzeichnerstaaten wie den
USA. Die Linke fordert ein konsequentes und umfassen-
des Verbot von Streumunition.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Unterzeichnung des Oslo-Abkommens hätte es ver-
dient, bei Tageslicht und vor vollem Hause gewürdigt zu
werden. Denn heute ist ein guter Tag: ein guter Tag für
die humanitäre Rüstungskontrolle und Abrüstung und
ein guter Tag für den Bundestag. Wir würdigen heute
hier die Tatsache, dass annähernd 100 Staaten gestern in
Oslo ein Abkommen unterzeichnet haben, das das
Potenzial hat, eine ähnlich positive Wirkung zu erzielen
wie das Ottawa-Abkommen zu den Anti-Personen-Mi-
nen. Das Verbot gilt ab sofort, kennt also keine Über-
gangsfristen. Binnen 8 – spätestens 16 – Jahren sollen
alle Bestände vernichtet sein. Das Abkommen sieht auch
Regelungen für die Räumung von Blindgängern und die
Opferhilfe vor. Mit dem Vertrag verpflichten sich die
Unterzeichner, künftig auf Einsatz, Herstellung, Lage-
rung und Im- oder Export sämtlicher Streumunition zu
verzichten.
Nichts ist perfekt, auch die Osloer Konvention nicht.
Zu Recht wird kritisiert, dass die Hauptbesitzer dieser
Waffen, wie USA, Russland oder Israel, dem Abkom-
men nicht beigetreten seien. Wir hoffen aber und sind
zuversichtlich, dass dieses Beispiel auch auf diese Staa-
ten ausstrahlt und stigmatisierend wirkt. Ab heute kann
kein Staat mehr Streuwaffen einsetzen, ohne dafür geta-
delt und verurteilt zu werden – und das ist gut so.
Es kann natürlich nicht sein, dass Deutschland seine
Streumunitionsbestände abschafft, andere Staaten ihre
aber in Deutschland weiter lagern. Und es kann auch
nicht sein, dass Deutschland an Militärmissionen teil-
nimmt, bei denen Bündnispartner – quasi in Arbeitstei-
lung – diese Waffen zum Einsatz bringen. Dies muss die
Bundesregierung im Rahmen des Ratifizierungsprozes-
ses explizit klarstellen. Bündnisfähigkeit darf sich nicht
danach bemessen, dass man ein Auge zudrückt, wenn
andere Staaten Waffen einsetzen, die grausames Leid
hervorrufen und die Zivilbevölkerung über Jahrzehnte
hinweg terrorisieren. Nachdem 18 Nato- und 19 EU-
Staaten die Vereinbarung unterstützen, muss die Bundes-
regierung dafür Sorge tragen, dass der Nichteinsatz von
Streumunition zum Konsens wird.
Deutschland war – das ist richtig – im Streumuni-
tionsbereich zum Teil Vorreiter. Aber es war Vorreiter
auf dem falschen Pferd, der VN-Waffenkonvention. Und
dieses Pferd ritt noch dazu in die falsche Richtung.
Deutschland gehörte nicht zu den Kerngruppenstaaten
des Oslo-Prozesses, sondern zu den Bremsern. Wenn der
Außenminister nun von einem „Meilenstein in der Ge-
schichte des Völkerrechts“ spricht, dann müssen wir hier
festhalten, dass die Bundesregierung bis zuletzt zu den
Staaten gehört hat, die versucht haben, in Dublin die
Reichweite des Abkommens abzuschwächen. Schauen
Sie sich die Presseberichte von damals an. Wir haben das
heftig kritisiert und im Vorfeld der Dubliner Tagung im
Mai hier einen Antrag eingebracht, der die Bundesregie-
rung aufforderte, mit gutem Beispiel voranzugehen. Hät-
ten sich Außenminister Steinmeier und Verteidigungs-
minister Jung mit ihrer Position durchgesetzt, hätten wir
heute ein verwässertes Abkommen, das eine umfassende
völkerrechtliche Ächtung auf Jahre hinaus unwahr-
scheinlich machen würde.
Wenn es nun in der Presse heißt, Deutschland habe
sich bereits 2006 zur Nichtanwendung dieser Munition
und zur Vernichtung aller Bestände verpflichtet, dann
stimmt genau das nicht. Im April 2006 hatten das Bun-
desministerium der Verteidigung und das Auswärtige
Amt eine 8-Punkte-Position zu Streumunition vorgelegt,
die vorsah, lediglich jene Streumunition aus dem Be-
stand zu nehmen, die eine größere Blindgängerrate als
1 Prozent hat und keinen Selbstzerstörungsmechanismus
besitzt. Das war ein politisches Doppelspiel und humani-
täre Schönfärberei. Bei „zwingendem Erfordernis“ – so
die Bundesregierung in der Beantwortung unserer Klei-
nen Anfrage vom August 2006 – wollte die Bundes-
regierung auch die Rakete M26 mit der Streumunition
M77 einsetzen. Diese hat aber eine Blindgängerquote
von bis zu 30 Prozent.
An dieser Stelle muss die Rolle der Abgeordneten
und des Parlaments zur Sprache kommen. Die Abgeord-
neten der Regierungsfraktionen haben dem Treiben der
Bundesregierung nicht nur tatenlos zugesehen, sondern
das 8-Punkte-Programm im Herbst 2006 fast wortgetreu
in Antragsform gegossen und hier ohne Aussprache ver-
abschiedet. Eine eigene parlamentarische Handschrift
war nicht zu erkennen. Kein Abgeordneter war bereit,
den Antrag namentlich zu verantworten. De facto war
der Antrag „Gefährliche Streumunition verbieten“ ein
parlamentarisches Beglaubigungsschreiben zur Regie-
rungspolitik. Mehr noch: Abgeordnete der SPD und der
Union forderten vor zwei Jahren damit die Bundesregie-
rung wortwörtlich auf, „den Einsatz von Streumunition
dann vorzusehen, wenn geeignete alternative Munition
nicht verfügbar ist“. Ich empfand das beschämend, be-
schämend für alle Abgeordnete in diesem Haus. Dies ist
das einzige mir bekannte Beispiel, in dem Abgeordnete
die Regierung explizit autorisieren, bestimmte Waffen
einzusetzen.
Wenn ich nun davon spreche, dass der heutige Tag
auch ein guter Tag für den Bundestag ist, dann deshalb,
weil nun auch einige Abgeordnete der Regierungsfrak-
tionen, namentlich der Kollege Weigel und der Kollege
Freiherr zu Guttenberg, bereit waren, gemeinsam mit
Nichtregierungsorganisationen wie dem Aktionsbünd-
nis Landmine.de oder Handicap International – Deutsch-
land auf die Bundesregierung einzuwirken; mit Erfolg.
Weil ich weiß, wie mühselig es als Abgeordneter ist, die
Regierung zu einem Umdenken zu bewegen, gebührt Ih-
nen und Ihren Mitstreitern hier mein Dank und meine
aufrichtige Anerkennung.
Sie legen uns vonseiten der Koalitionsfraktionen
heute einen Antrag vor, den wir über weite Strecken für
gut und richtig halten. Lassen Sie uns gemeinsam dafür
sorgen, dass die Bundesregierung dieses Abkommen zü-
20958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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(B) (D)
gig zur Ratifizierung vorlegt und Deutschland rasch
streumunitionsfrei wird. Lassen Sie uns gemeinsam da-
für sorgen, dass anderen Staaten bei der Räumung und
Vernichtung sowie Opfern bei Fürsorge und Reintegra-
tion geholfen wird. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir
im Bundeswehrarsenal keine neuen Waffen beschaffen,
die ähnlich verheerende Folgen wie Streumunition ver-
ursachen.
Ihr Antrag stimmt uns optimistisch, dass wir am sel-
ben Strang und in dieselbe Richtung ziehen. Die Bünd-
nisgrünen haben daher heute auf einen eigenen Antrag
verzichtet. Wir stimmen dem Antrag der Koalitionsfrak-
tionen zu.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkom-
men der Vereinten Nationen vom 13. Dezem-
ber 2006 über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen sowie zu dem Fakultativpro-
tokoll vom 13. Dezember 2006 zum Überein-
kommen der Vereinten Nationen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen
– Beschlussempfehlung und Bericht: Histori-
sche Chance des VN-Übereinkommens über
die Rechte von Menschen mit Behinderun-
gen nutzen
(Tagesordnungspunkt 23 a und b)
Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich freue mich, dass wir
heute das Gesetz zur UN-Konvention über die Rechte
der Menschen mit Behinderungen verabschieden. Noch
mehr freue ich mich darüber, dass wir die UN-Konven-
tion ohne Vorbehalte und Interpretationserklärungen ver-
abschieden. Manchmal sah es nicht so aus, als würde
dieses Gesetz ohne weitere Probleme den Bundestag
passieren. Ich hoffe, dass nun auch die Länder dem Ge-
setz zustimmen.
Mit der Ratifizierung der Konvention ist klar: Teil-
habe für Menschen mit Behinderungen ist weder Ge-
schenk noch Gnade. Man verdankt sie auch nicht der
Fürsorge oder gar dem Mitleid der „Nicht-Behinderten“,
sondern Teilhabe ist ein Menschenrecht. Ziel der CDU/
CSU in der Politik für Menschen mit Behinderungen ist
die umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderun-
gen in der Gesellschaft. Im Vordergrund steht dabei die
Schaffung gemeinsamer Lebenswelten von Menschen
mit und ohne Behinderungen. Angefangen bei dem ge-
meinsamen Besuch von Kindertagesstätten und Schulen
über Ausbildung und Arbeitsleben bis hin zu Wohnen
und Leben im Alter.
Mit der Ratifizierung der UN-Konvention ist es un-
sere Aufgabe, auch weiterhin dafür Sorge zu tragen, dass
die begonnene gesellschaftliche Entwicklung – vom
Prinzip der Fürsorge hin zur Teilhabe – fortgeführt wird.
Dieses Übereinkommen ist nicht nur ein Meilenstein in
der modernen Behindertenpolitik, sondern gleichzeitig
auch Leitbild für unsere zukünftige Arbeit. Politische
Entscheidungen auf Bundes-, Länder- oder Kommunal-
ebene, die Menschen mit Behinderungen direkt oder in-
direkt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-
Konvention messen lassen.
Unerlässlich ist bei der Umsetzung der UN-Konven-
tion die Beteiligung der Betroffenen und ihrer Verbände.
Das Motto „Nichts über uns, nichts ohne uns“ sollte
keine hohle Phrase, sondern gelebte Realität sein.
Ebenso wichtig ist mir die Bewusstseinsbildung der Öf-
fentlichkeit, um die Ziele der UN-Konvention als Quer-
schnittsaufgabe für die gesamte Gesellschaft bekannt zu
machen.
Einigen Grundsätzen der UN-Konvention wurde in
der deutschen Gesetzgebung schon Rechnung getragen,
aber in vielen Punkten bleibt die Lebenswirklichkeit von
Menschen mit Behinderungen hinter den Zielen der UN-
Konvention zurück. Deshalb dürfen wir nicht – zum Bei-
spiel durch die Denkschrift der Bundesregierung – den
Eindruck erwecken, dass in Deutschland schon alles er-
reicht wäre, um Menschen mit Behinderungen eine um-
fassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Ich
sehe eine große politische Herausforderung darin, für die
Umsetzung der Ziele der Konvention in allen Lebensbe-
reichen dauerhaft Sorge zu tragen. Vor allem in den Be-
reichen Barrierefreiheit, Arbeit und Bildung gibt es
Handlungsbedarf.
Die Weiterentwicklung einer barrierefreien Umwelt
muss vorangetrieben werden. Infrastruktur, Fahrzeuge,
Gebäude, Verkehrsmittel sowie alle Arten von Medien
und Kommunikationstechniken müssen in Zukunft so
gestaltet sein, dass sie für Menschen mit Behinderungen
ohne weitere Schwierigkeiten und soweit wie möglich
ohne die Hilfe Dritter nutzbar sind.
Teilhabe am Arbeitsleben bleibt weiterhin ein wichti-
ges Ziel in unserer Behindertenpolitik. Dabei setzen wir
in erster Linie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Men-
schen mit und ohne Behinderungen sollen auch hier mit-
einander arbeiten und leben. Auch für Menschen, die
jetzt in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten,
suchen wir Alternativen. Mit dem Gesetz zur Unterstüt-
zenden Beschäftigung haben wir bereits einen wichtigen
Schritt getan. Darüber hinaus setzt sich die Union in die-
sem Zusammenhang auch für das Persönliche Budget im
Arbeitsleben ein.
Es muss uns gemeinsam mit den Ländern gelingen,
Kindern mit Behinderungen einen problemlosen Zugang
zum Regelschulsystem zu ermöglichen. Art. 24 der Kon-
vention fordert ein inklusives Bildungssystem. Davon
sind wir heute – wie wir hier alle wissen – noch weit ent-
fernt. In der Expertenanhörung wurde von mehreren
Sachverständigen verdeutlicht, dass die Regelbeschu-
lung Kindern mit Behinderungen in Deutschland sehr oft
verwehrt wird.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass in
der deutschen Übersetzung der englische Begriff „inclu-
sive education“ mit „integrativer Bildung“ übersetzt
wurde. Inklusion und Integration können nicht gleich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20959
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verwandt werden. Beide Begriffe meinen etwas sehr Un-
terschiedliches. Aus diesem Grund haben wir gemein-
sam mit der SPD einen Entschließungsantrag initiiert,
der mit breiter Mehrheit im Ausschuss für Arbeit und
Soziales angenommen wurde. Mit dem Antrag weisen
wir explizit auf die Situation von Kindern mit Behinde-
rungen im Bildungssystem hin und machen klar, dass im
Sinne der UN-Konvention Handlungsbedarf besteht.
Darüber hinaus fordern wir in dem Antrag, dass Schüle-
rinnen und Schüler mit Behinderungen in den Fokus der
nationalen Bildungsforschung gerückt werden. Bisher
wird diese Schülergruppe nur am Rande von Studien un-
tersucht. Wir benötigen jedoch aussagekräftige und ver-
gleichbare Daten über die Entwicklungschancen und
Bildungserfolge behinderter Kinder.
Ich möchte heute noch mal auf einen weiteren Über-
setzungsfehler in Art. 10 hinweisen. „Inherent right to
life“ kann nicht mit „Angeborenes Recht auf Leben“
übersetzt werden. Damit wird so getan, als ob Menschen
erst ab der Geburt ein Recht auf Leben hätten. Vor allem
im Hinblick auf die Spätabtreibung, bei der in der Praxis
ungeborene Kinder fast immer aufgrund einer Behinde-
rung bis zur Geburt getötet werden, ist es mir wichtig,
dies hier noch mal deutlich zu machen.
Wir alle wissen, dass die Konvention nur in den sechs
amtlichen UN-Sprachen rechtsverbindlich ist. Da die
deutsche Sprache nicht zu den offiziellen UN-Sprachen
zählt, kann die deutsche Übersetzung auch nicht der
Grundlagentext der zukünftigen Behindertenpolitik sein.
Bei allen politischen Entscheidungen und gesellschaftli-
chen Handlungen müssen wir auf die offiziellen Texte
zurückgreifen. Und nur aus dem Originaltext des Über-
einkommens lassen sich die Umsetzungsmaßnahmen ab-
leiten.
Mit der Ratifikation verpflichten wir uns gegenüber
der Bevölkerung, aber auch gegenüber der internationa-
len Gemeinschaft, die UN-Konvention einzuhalten und
umzusetzen. Das heißt auch, dass jetzt die Arbeit erst
richtig beginnt!
Karin Evers-Meyer (SPD): Das Übereinkommen
der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen ist ein einmaliges und bahnbrechen-
des Dokument. Die Grundstein für die besondere Quali-
tät dieser Konvention wurde im Verhandlungsprozess
bei den Vereinten Nationen gelegt: Behinderte Men-
schen und ihre unmittelbaren Interessenvertretungen wa-
ren zu jedem Zeitpunkt eng in die Verhandlungen einge-
bunden. Der Grundsatz: „Nichts über uns, ohne uns“ hat
in beispielhafter Weise Eingang in die Praxis gefunden.
Damit wurden Beteiligungsstandards gesetzt, die auch in
der nationalen Gesetzgebung weiterhin Beachtung fin-
den müssen.
Mit dieser Behindertenrechtskonvention werden erst-
mals die Rechte für mehr als 600 Millionen Menschen
mit Behinderung auf der ganzen Welt verbindlich festge-
legt. Es ist eine Konvention über Menschenrechte. Es
geht nicht um Spezialrechte für eine besondere Gruppe,
sondern es geht um universelle Menschenrechte, die je-
dem zustehen. Das Besondere dieser Behindertenrechts-
konvention ist, dass diese universellen Menschenrechte
aus einer besonderen Perspektive betrachtet werden,
nämlich aus der Perspektive von Menschen mit Behinde-
rung – mit ihren typischen Unrechtserfahrungen und ih-
ren unterschiedlichen Lebenslagen. Die Festschreibung
dieser menschenrechtlichen Sichtweise bestätigt den in
Deutschland eingeleiteten Paradigmenwechsel in der
Politik für behinderte Menschen. Nicht mehr die Für-
sorge steht im Vordergrund. Wir beenden die Betrach-
tung von Behinderung als Defizit. Es geht um Inklusion,
um Integration von Beginn an. Es geht um die Chance
auf volle Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben in der
Gemeinschaft. Und schließlich geht es um Wertschät-
zung.
Dabei begnügt sich diese Konvention nicht mit
abstrakten Grundsätzen. Es werden sehr konkret alle
existenziellen Lebensbereiche von Menschen mit Behin-
derung – im öffentlichen und privaten Raum gleicherma-
ßen – benannt. Ich bedaure sehr, hier nur einige Schwer-
punkte herausgreifen zu können: Ein wichtiger Punkt für
mich und meine politische Arbeit ist der Bereich Bil-
dung und Chancengleichheit. Ich sehe hier deutlichen
Handlungsbedarf in Deutschland. Lassen Sie mich das
nur mit ein paar Zahlen unterstreichen: Der Prozentsatz
von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung, die ge-
meinsam mit nicht behinderten Kindern eine Schule be-
suchen, liegt in diesem Land, seit Jahrzehnten nahezu
unverändert, bei rund 15 Prozent. In vielen unserer
Nachbarländer liegt dieser Anteil bei weit über 60 Pro-
zent. Mehr als die Hälfte der Kinder von Förderschulen
verlassen diese ohne Abschluss und für eine noch höhere
Zahl von Kindern führt der Weg im Anschluss an die
Förderschule direkt in eine Werkstatt für behinderte
Menschen. Hier muss die Frage nach Chancengleichheit
endlich mit Nachdruck formuliert werden, und ich bin
sehr froh über den Entschließungsantrag zu Art. 24 der
Konvention, der unter anderem dazu auffordert, diesen
Bereich zu einem festen Bestandteil nationaler Bildungs-
studien zu machen.
Ich bin der Überzeugung, dass wir eine inklusive Ge-
sellschaft nur gestalten können, wenn wir von Beginn an
konsequent einen Raum für Vielfalt schaffen – für Men-
schen mit und ohne Behinderung. Die Konvention for-
dert Vielfalt als Normalität menschlichen Lebens und
Zusammenlebens, und sie verfolgt damit genau den von
mir formulierten Ansatz. Das gilt natürlich in gleicher
Weise für den Bereich der beruflichen Teilhabe, wo
Deutschland dank des großen Engagements des Sozial-
ministeriums wirklich intensiv mit guten Modellprojek-
ten an einer teilhabeorientierten Weiterentwicklung
arbeitet und nicht zuletzt mit der Unterstützten Beschäf-
tigung auch bereits neue Wege in Gesetzesform gegos-
sen hat.
Zwei weitere wichtige Punkte, die auch unmittelbar
zusammenhängen, sind die Schaffung eines barriere-
freien Umfelds und eines personenzentrierten und damit
individuellen und bedarfsgerechten Unterstützungssys-
tems. Der demografische Wandel und die steigende Zahl
von Menschen mit Behinderung machen einen konse-
quenten Ausbau barrierefreier Wohn- und Dienstleis-
tungsangebote zum Kern einer nachhaltigen Politik. Die
20960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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Nachfrage nach barrierefreien Wohn-, Freizeit- und
Dienstleistungsangeboten wird weiter steigen. Immer
mehr Menschen mit Behinderung wollen in den eigenen
vier Wänden wohnen. Die Konvention bestätigt ihr
Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung in allen
Bereichen. Dafür benötigen sie jedoch nicht nur eine
barrierefreie Wohnung und ein barrierefreies Wohnum-
feld. Sie brauchen ein breites Angebot an Unterstüt-
zungsleistungen, aus dem sie selbstbestimmt und be-
darfsgerecht auswählen können. Das ist zwar heute nach
Inkrafttreten des BGG und des SGB IX keine reine Vi-
sion mehr – auf dem Weg dorthin ist aber noch sehr viel
zu tun.
Ich bin der Bundesregierung daher sehr dankbar für
die Ankündigung, nach der Ratifikation der Konvention
einen Aktionsplan auf der Grundlage der Behinderten-
rechtskonvention zu erarbeiten – natürlich unter enger
Einbeziehung behinderter Menschen und ihrer Interes-
senvertretungen. Ich werde meinen Teil dazu beitragen
und bereits in den ersten drei Monaten des kommenden
Jahres in Fachkonferenzen mit behinderten Menschen in
die notwenige Diskussion eintreten. Diese Konvention
wird uns in allen Bereichen als Leitbild für eine moderne
teilhabeorientierte Gesetzgebung auf nationaler Ebene
dienen, und wir werden uns daran messen lassen müs-
sen. Das Übereinkommen wird in Zukunft ein wichtiges
Referenzdokument sein, auf dessen Grundlage neue Ent-
wicklungen in der Behindertenpolitik angestoßen und
beurteilt werden.
Die Konvention der Vereinten Nationen entwirft ein
inklusives Gesellschaftsbild und gibt uns eine konkrete
Vorstellung davon, wie sich die Politik für behinderte
Menschen entwickeln muss. Die Herausforderung liegt
darin, die Lebenssituation behinderter Menschen vor
dem Hintergrund des Übereinkommens zu verbessern,
Handlungsfelder zu erkennen und dort, wo es notwendig
ist, auch zu handeln. Diese Aufforderung zum Handeln
richtet sich heute, einen Tag nach dem Welttag der Men-
schen mit Behinderung und unmittelbar vor der Ratifika-
tion der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Na-
tionen, an alle gesellschaftlichen Akteure: an die Politik,
an Gewerkschaften und Arbeitgeber, an alle anderen ge-
sellschaftlichen Gruppen, an die Interessenvertretungen
der Menschen mit Behinderung und natürlich an jeden
Einzelnen. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft, in der
jeder die Unterstützung erfährt, die er braucht, um
selbstbestimmt zu leben, teilzuhaben und damit letztlich
seine Menschenrechte ausüben zu können, erreichen wir
nur, wenn wir uns in unseren Köpfen bewegen. Für die
Bundesregierung kann ich sagen, dass sie dazu bereit ist.
Für mich ist die Ratifikation dieser Behinderten-
rechtskonvention ein Grund zum Feiern, weil sie ein
Signal zum Weitermachen ist. Sie gibt mir und anderen,
die sich für die Belange behinderter Menschen engagie-
ren, Bestätigung für die zurückliegende Arbeit und Mut
für die Zukunft.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Es ist unser großes
Anliegen, dass die UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag ra-
tifiziert wird und die enthaltenen Ansprüche an die deut-
sche Rechtsordnung auch umgesetzt werden. Das ist die
Forderung, die wir aus der ganzen Bundesrepublik auf-
nehmen und der wir uns nicht entziehen können, nicht
entziehen wollen. Die Politik ist in der Pflicht, nicht nur
einen schön klingenden Text zu beschließen, sondern
auch substanzielle Verbesserungen für die weit mehr als
8 Millionen Menschen mit Behinderung und ihre Fami-
lien in Deutschland zu erreichen. Dazu gibt uns die Kon-
vention die Richtung vor: mehr Chancengleichheit,
wirksame Teilhabeleistungen, mehr Einbeziehung von
Anfang an und personenzentrierte Leistungen zur Teil-
habe am Arbeitsleben.
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen basiert
auf den zentralen Menschenrechtsabkommen. Im Mittel-
punkt steht die Lebenssituation von behinderten Men-
schen und der Schutz ihrer Menschen- und Bürgerrechte.
Erstmalig wird auf menschenrechtlicher Ebene festge-
schrieben, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht
auf gleichberechtigte Zugehörigkeit zur Gesellschaft ha-
ben. In der Anhörung haben viele Sachverständige auf-
gezeigt, welche Meilensteine Bundesregierung und Par-
lament seit dem Jahr 2000 schon auf den Weg gebracht
haben. Ich möchte Frau Professor Degener zitieren, die
sich insbesondere zu den Interessen von Frauen und
Mädchen mit Behinderung geäußert hat:
Wir in Deutschland sind ja auf einem ganz guten
Weg. Wir sind eines der wenigen Länder, die schon
im SGB IX, aber auch im BGG erstmalig behin-
derte Frauen und Mädchen jedenfalls in Gesetzes-
texten erwähnt haben.
Weiter führt sie aus:
Es fehlt aber doch in vielerlei Hinsicht an der Um-
setzung, insbesondere was das SGB IX anbelangt.
Es reicht nicht aus, ins Gesetz zu schreiben, die In-
teressen von behinderten Frauen und Mädchen sind
zu berücksichtigen. Man muss auch konkrete Pro-
gramme vorsehen.
Diese Einschätzung steht exemplarisch für viele Teile
unseres Rehabilitationsrechts. Damit gibt Frau Professor
Degener aber auch der Hoffnung Ausdruck, dass die
Konvention uns einen Schub hin zu einer konkreten Um-
setzung der guten Gesetze gibt.
Der Paradigmenwechsel ist eingeläutet: mit dem
SGB IX, dem Behindertengleichstellungsgesetz und
dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Von der
rein medizinischen Sicht auf Behinderung und der staat-
lichen Fürsorge für Menschen mit Behinderung sind wir
zum Begriff der Teilhabe und der Selbstbestimmung als
Ziel staatlichen Handelns für Menschen mit Behinde-
rung gekommen. Alle gesetzlichen Beratungen seitdem
haben wir nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“
gestaltet. Das haben wir auch bei den Beratungen zur
Konvention so gehalten. Von Anfang an wurden Men-
schen mit Behinderung beteiligt. Die Konvention ist nun
der nächste Schritt, wie es auch Frau Professor Degener
zum Ausdruck brachte.
Der Gesetzentwurf ist zumindest in drei Punkten strit-
tig, auf die ich im Folgenden eingehen werde. Da ist zu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20961
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nächst die Frage der Übersetzung, darüber hinaus die
Bedeutung der Denkschrift und die Frage, ob und wo es
gesetzlichen Handlungsbedarf gibt. Zur Übersetzung
lässt sich sagen, dass ich mit der deutschen Übersetzung
inhaltlich, wie wir alle hier, nicht zufrieden bin. Insbe-
sondere der Ansatz der Inklusion in der Bildung, der nun
wirklich einen gänzlich anderen Ansatz pädagogischer
Arbeit beinhaltet, fehlt schmerzlich. Die SPD-Fraktion
hätte sich insgesamt gewünscht, dass sich die Länder,
insbesondere die von der Union geführten Länder, davon
überzeugen lassen, dass die gemeinsame Beschulung
weder quantitativ noch in der Qualität mit dem Inklu-
sionsansatz übereinstimmt. Sie waren dazu nicht bereit,
und die fachliche Einschätzung von Ländern wie Bayern
hat maßgeblich zu der in Teilen falschen Übersetzung
beigetragen. Das ist ein schlechtes Zeichen und steht
Deutschland nicht gut an. Das haben wir in unserem Ent-
schließungsantrag deutlich gemacht.
Wir wissen es: Das deutsche Bildungssystem trennt
Schülerinnen und Schüler nach ihrer Leistung. Das Er-
gebnis sind 13 Prozent durchschnittliche Integrations-
quote in Deutschland gegenüber 40 Prozent in Schles-
wig-Holstein und 70 Prozent in Europa. PISA-Sieger
wie Bayern erringen diesen Sieg auf Kosten der Kinder
mit Behinderung, das muss einmal deutlich gesagt wer-
den. Denn dort wird nicht gefragt, wie man die Schüler
trotz unterschiedlicher Voraussetzungen zusammen un-
terrichten kann. Die Entscheidung, ein Kind in die För-
derschule zu schicken ist eine bürokratische Entschei-
dung, auch gegen den Willen der Eltern.
Wir wissen aber auch, dass gemeinsame Beschulung
zu einem Zuwachs an Autonomie und sozialer Kompe-
tenz der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung führt
und damit auch zu besseren Voraussetzungen für ein
selbstbestimmtes Leben. Frau Professor Schöler hat es
dargestellt: Es wurde nachgewiesen, dass gemeinsame
Beschulung nicht teurer ist als die gegenwärtige Finan-
zierung der Sondersysteme. Im Gegenteil: Die Sonder-
systeme sind teurer. Die Übersetzung enthält hier und an
anderen Stellen fachlich falsche Inhalte. Ich bin sicher,
dass wir den Ansatz der Inklusion auch ohne diese Über-
setzung weiter vorantreiben, denn wir ratifizieren hier
nicht die deutsche Übersetzung. Sie ist auch keine der
sechs amtlichen bzw. „authentischen“ Übersetzungen
der Konvention. Wir ratifizieren ein internationales Ab-
kommen. Dieses Abkommen enthält ein Menschenrecht
auf inklusive Bildung und verbietet jegliche Sondersys-
teme und Sonderbehandlung. Das heißt, die deutsche
Fassung, unabhängig davon ob im Gesetz eine „Amt-
lichkeit“ festgestellt wird, ist keine authentische Sprach-
fassung. Maßgeblich im juristischen Streitfall ist daher
die englische Fassung, die übrigens auch Teil des Geset-
zes ist. Auch der Sachverständige Zinke vom Paritäti-
schen hat gesagt, dass wichtig ist, welcher Text im
Streitfall zählt und nicht, ob die Übersetzung als „amt-
lich“ zu bezeichnen ist. Das möchte ich noch einmal ein-
deutig festhalten, denn die Konvention gewinnt aus sich
selbst heraus Aussagekraft und nicht aus Übersetzungen,
die mit ihrem Originaltext nicht gleichgestellt sind.
Wir können uns jetzt auch keine Debatte darüber
mehr leisten, wollen wir das Inkrafttreten zum 1. Januar
2009 nicht gefährden. Die Denkschrift der Bundesregie-
rung gibt den Umsetzungsstand nicht korrekt wieder,
wenn sie die Praxis der Teilhabeleistungen verschweigt
und wenn sie keinen Handlungsbedarf darstellt. Das
SGB IX ist noch nicht richtig zur Entfaltung gekommen.
Ich nenne da nur das Persönliche Budget, das Wunsch-
und Wahlrecht oder auch die Servicestellen. Das SGB IX
ist das einzige Gesetz, das noch nicht im Bewusstsein
der Menschen angekommen ist. Die Konvention führt
jedoch den Paradigmenwechsel fort, der mit dem
SGB IX stattgefunden hat. Die Denkschrift hingegen ist
die reine Willensbekundung der Bundesregierung; sie ist
nicht maßgeblich für die Auslegung der Konvention.
Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, und
meine Fraktion setzt sich dafür ein, dass wir diesen Be-
darf ab dem kommenden Jahr systematisch benennen
und angehen. Staatssekretär Franz Thönnes hat es beim
parlamentarischen Abend des Deutschen Behindertenra-
tes anlässlich des Welttages der Menschen mit Behinde-
rung deutlich gemacht: Es wird einen nationalen
Aktionsplan geben. Insbesondere möchte ich den kon-
kreten Handlungsbedarf benennen, der sich direkt aus
den Artikeln des Konventionstextes ergibt. Der Art. 24
fordert ein „inklusives Bildungssystem“.
Die inklusive Bildung für alle ist Inhalt unseres Ent-
schließungsantrages. Er umfasst weiterhin die statisti-
sche Erfassung und Einbeziehung der inklusiven Bil-
dung in die Berichterstattung des Bundes und der
Länder. Durch die Studie soll deutlich gemacht werden,
dass inklusive Bildung der richtige pädagogische und
gesellschaftspolitische Ansatz für eine grundlegende
Normalisierung der Wahrnehmung von ,,Behinderung“
ist. Es ist uns schon lange bekannt, dass wir einen Be-
wusstseinswandel brauchen, um das schrittweise Ende
des Sondersystems in der Bildung zu erreichen. Die Län-
der haben den Inklusionsbegriff mehrheitlich abgelehnt;
es gibt aber auch fortschrittliche Länder wie Schleswig-
Holstein mit bis zu 40 Prozent Inklusionsquote. Wir wer-
den hier weiter mit den Ländern um eine inklusive Bil-
dungslandschaft kämpfen.
Der Art. 12 fordert die „Gleiche Anerkennung vor
dem Recht“ und eine Überprüfung der Praxis des Be-
treuungsrechts. Herr Lachwitz von der Lebenshilfe hat
in der Anhörung auf den Handlungsbedarf im Betreu-
ungsrecht verwiesen. Obwohl hier keine Entmündi-
gungsregelung besteht, ist die Praxis überprüfungswür-
dig. In Deutschland wird seit 100 Jahren getrennt, ob
jemand nach dem BGB geschäftsfähig ist oder nicht. In
der Folge der §§ 104 und 105 BGB werden Verträge mit
Menschen mit Behinderung für nichtig erklärt. Das ist
Entmündigung, die der Art. 12 ganz klar abgelehnt.
Auch Herr Professor Kruckenberg von der Aktion Psy-
chisch Kranke und Herr Kaffenberger vom VdK haben
das aufgezeigt. Die Unterbringungsgesetze und die
Zwangsbehandlungen für psychisch Kranke müssen wir
ebenso überprüfen wie die Anwendung dieser Gesetze.
Der Art. 19 fordert die rechtliche Absicherung von
„Unabhängiger Lebensführung und Einbeziehung in die
Gemeinschaft“. Menschen mit Behinderung haben ein
Recht auf selbstbestimmte und unabhängige Lebens-
20962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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führung und dürfen nicht gezwungen werden, in einer
bestimmten Wohnform zu leben. Gegen diesen An-
spruch der Konvention verstößt das System der Teilha-
beleistungen in Deutschland, weil es die freie Wahl ein-
schränkt und Menschen mit Behinderung zumeist aus
Kostengründen in bestimmte Wohnformen zwingt. Der
Kostenvorbehalt des § 13 SGB XII schränkt noch immer
das Wunsch- und Wahlrecht des SGB IX durch die Über-
prüfung der Kosten und der Zumutbarkeit einer ambu-
lanten Maßnahme ein. Herr Lachwitz hat das so ausge-
drückt: „Wenn man den Artikel 19 … richtig liest, dann
muss diese Prüfung ganz entfallen. Dann zählt aus-
schließlich das Wunsch- und Wahlrecht des behinderten
Menschen.“
„… die Konvention weist uns hier ganz klar den Weg
auf den Menschen, auf seine Wahlmöglichkeiten, auf
sein Recht, mitten in der Gemeinde leben zu können und
auch personenbezogen zu denken. Wir müssen weg
kommen von institutionenbezogenen Hilfen, die … ein-
fach nicht passgenau sind.“, sagte Ottmar Miles-Paul
dazu in der Anhörung.
In der Reform der Eingliederungshilfe muss es einen
Paradigmenwechsel geben, der dem Art. 19 Rechnung
trägt. Auch die Fortentwicklung des Pflegebedürftig-
keitsbegriffs spielt eine große Rolle für die Anwendbar-
keit dieser Konvention. Denn auch für pflegebedürftige
Menschen, die von der Definition des § 2 SGB IX um-
fasst sind, gibt es meist keine freie Wahl des Wohnortes.
Der Art. 29 gibt uns auf, die „Teilhabe am politischen
und öffentlichen Leben“ sicherzustellen. Deutschland
verpflichtet sich mit der Ratifizierung, ein Umfeld zu
schaffen, in dem Menschen mit Behinderung gleichbe-
rechtigt mit anderen an der Gestaltung öffentlicher Auf-
gaben mitwirken können. Hier kommt es besonders auf
die Barrierefreiheit unserer Politikziele und unserer
Sprache an.
Menschen mit Behinderung müssen verständlich über
Politik und vor allem über ihre Rechte informiert wer-
den. Sie müssen einbezogen werden.
Der Art. 6 legt besonderen Fokus auf die Rechte von
„Frauen mit Behinderung“. Aus ihm geht hervor, dass
auf Mehrfachdiskriminierungen das besondere Augen-
merk der Konvention liegt. Professor Degener sagte, wir
sind auf einem ganz guten Weg in Deutschland, diese
Mehrfachdiskriminierungen abzubauen. Trotzdem: Frauen
mit Behinderung sind mehrfacher Diskriminierung aus-
gesetzt und bedürfen unserer besonderen Aufmerksam-
keit. Sie werden wegen ihrer Behinderung und wegen ih-
res Geschlechts ausgegrenzt und können ihren Anspruch
auf geschlechtsspezifische Pflege im Krankenhaus und
in Pflegeeinrichtungen bisher nicht durchsetzen. Sie
müssen nun durch besondere Programme zum Empo-
werment gefördert werden. Wir brauchen auch Elternas-
sistenz, damit Eltern mit Behinderung ihrem Erzie-
hungsauftrag gleichberechtigt nachkommen können.
Art. 27 mit dem Titel „Arbeit und Beschäftigung“
mahnt uns, barrierefreie Arbeitsplätze und eine perso-
nenzentrierte Teilhabe am Arbeitsleben zu organisieren.
Wir wollen einen durchlässigen Arbeitsmarkt und die
Einbindung der bestehenden Anbieter wie Werkstätten
und BBWs, BfWs in den Veränderungsprozess. Die Un-
terstützte Beschäftigung kann nur der Anfang gewesen
sein. Wir brauchen mehr personenbezogene Unterstüt-
zung, mehr Barrierefreiheit und einen Bewusstseinswan-
del auch bei den Unternehmen. Diesen Wandel können
wir nicht per Gesetz verordnen. Wir können uns aber an
der Konvention orientieren und entsprechende Maßnah-
men für mehr Chancengleichheit, gute Arbeitsbedingun-
gen und gerechten Lohn schaffen. Dafür setzen wir uns
als SPD-Fraktion ein. Wir müssen ganz vorn ansetzen
und das gemeinsame Lernen von Anfang an – die Inklu-
sion – aktiv fördern, wenn wir später die Teilhabe am
Arbeitsleben in der freien Wirtschaft effektiv stärken
wollen.
Dazu hat der hochverehrte ehemalige Bundespräsi-
dent Richard von Weizsäcker richtig gesagt: „Was man
erst nicht trennt, braucht man später nicht zu integrie-
ren.“ Normalität im Umgang setzt voraus, dass sie einem
vorgelebt wird. Wir reden hier immer über die Beziehun-
gen zwischen Menschen – da muss der Bewusstseins-
wandel ansetzen. Damit das Schubladendenken über
Menschen mit Behinderung in unserem Land langsam
aufhört, muss Inklusion für alle gelten.
Wie es der bekannte Vorkämpfer für die Inklusion aus
Halle, Professor Dr. Georg Theunissen, formuliert hat:
„Folgerichtig geht es unter der Leitidee der Inklusion
nicht etwa um eine bloße Eingliederung … behinderter
Menschen in die Gesellschaft, auch nicht um eine Nor-
malisierung durch eine Anpassung behinderter Men-
schen an normale Lebensstandards nichtbehinderter
Menschen, sondern um die Umgestaltung der Umwelt
im Sinne einer inklusiven Gesellschaft, die die Bürger-
rechte aller ihrer Bürger(innen) respektiert und zu reali-
sieren hilft.“ Es ist unsere erste Aufgabe, das gesamte
System der Rehabilitationsleistungen auf den Prüfstand
zu stellen.
Wir müssen ein Gesetz schaffen, das Teilhabeleistun-
gen einkommens- und vermögensunabhängig, personen-
zentriert und barrierefrei zur Verfügung stellt. Daher
bleibt es mein Ziel, das SGB IX zum Leistungsgesetz
weiterzuentwickeln. Über Fragen der Kostenbeteiligung
von Bund und Ländern, der Zuständigkeiten und der
Vereinheitlichung der Leistungsansprüche müsste im
Vorfeld zu einem Gesetzgebungsverfahren ausgiebig
diskutiert werden.
Die in der Konvention vorgesehenen „focal points“
müssen nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern
entstehen, damit die Umsetzung auf allen staatlichen
Ebenen und in allen Politikfeldern effektiv vernetzt und
koordiniert wird. Die bestehenden und aufzubauenden
Kompetenzzentren des Bundes müssen eingebunden
werden. Eines ist klar: Das Leistungsrecht der Teilhabe
und Rehabilitation kann nicht so bleiben, wie es ist, da
die fortschrittlichen Prinzipien des SGB IX bisher weit-
gehend unbeachtet bleiben. Wir brauchen auch umfas-
sende Barrierefreiheit, damit alle Menschen gleichbe-
rechtigt selbstbestimmte Teilhabe verwirklichen können.
Dieser Anspruch zieht sich durch die Konvention wie
ein roter Faden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20963
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Ich bitte Sie alle, wie im Ausschuss dieses Gesetz und
den Entschließungsantrag der Koalition zu unterstützen
und mit uns gemeinsam im kommenden Jahr sehr klar
den Umsetzungsbedarf zu diskutieren und zu formulie-
ren, damit in der neuen Legislatur begonnen werden
kann.
Erwin Lotter (FDP): Wir ratifizieren heute die VN-
Konvention über die Rechte behinderter Menschen. Die
FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Konvention aus-
drücklich und stimmt der Ratifizierung zu. Die Ziele der
Konvention finden unsere volle Unterstützung, denn sie
entsprechen unserem liberalen Menschen- und Gesell-
schaftsbild: Behinderung wird als Normalität des Lebens
begriffen. Nicht die Behinderten müssen sich der Le-
benswelt der Nichtbehinderten anpassen, sondern die
Lebenswelt muss so gestaltet werden, dass alle an ihr in
vollem Umfang gleichberechtigt teilhaben können, ob
mit oder ohne Behinderung.
Dennoch ist heute beim besten Willen kein Tag unge-
trübter Freude. Zu groß sind die Fehler, die die Bun-
desregierung und die sie tragenden Fraktionen im Rati-
fizierungsprozess gemacht haben. Trotz monatelanger
Diskussionen und zahlreicher Interventionen von Fach-
verbänden haben sie eine Übersetzung des englischen
Konventionstextes ins Deutsche angefertigt, die nicht
nur fehlerhaft ist, sondern vor allem die Konvention den
eingefahrenen Gepflogenheiten deutscher Behinderten-
politik sprachlich anpasst. Große Teile des dem Ur-
sprungstext innewohnenden Innovationspotenzials ge-
hen bereits mit der Übersetzung verloren.
Ähnlich schwer wiegt die von CDU/CSU und SPD im
Vorfeld der Ratifizierung verweigerte Diskussion über
Handlungsbedarfe für Bund, Länder und Kommunen,
die aus der Konvention resultieren dürften.
Die Konvention steht in mehreren Bereichen in einem
deutlichen Spannungsverhältnis zu geltendem Recht in
Deutschland. Vor allem bei der inklusiven Beschulung
behinderter Kinder sind wir in den Ländern gesetzgebe-
risch weit entfernt vom Anspruch der Konvention. Aber
auch im Bund sind wir in vielen Punkten noch weit vom
Anspruch der Konvention entfernt. Die Experten haben
in der Ausschussanhörung eine gänzlich andere Realität
der Hilfe- und Unterstützungssysteme beschrieben, als
die Bundesregierung das in ihrer Denkschrift darstellt.
Auch hier besteht zunächst ein sorgfältiger Prüf- und an-
schließend auch Handlungsbedarf. Wir sind der Konven-
tion in Deutschland nicht so weit voraus, wie Sie, meine
Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, das
gerne hätten. An Ihr gebrochenes Koalitionsversprechen
muss ich Sie bestimmt nicht erinnern; sicher ist Ihnen
noch sehr präsent, dass Sie angekündigt hatten, die Ein-
gliederungshilfe grundlegend weiterzuentwickeln.
Ich gehe kurz auf die zahlreich vorliegenden Ent-
schließungs- und Änderungsanträge zur Ratifizierung
der Konvention ein. In einem eigenständigen Antrag
stellen die Grünen zu Recht zahlreiche Mängel des Rati-
fizierungsverfahrens und der amtlichen Übersetzung
fest; wir sind uns da in vielen Punkten einig. Sie verbin-
den dies aber gleich wieder mit Ihrem Lieblingsthema
Antidiskriminierung und fordern, dass Deutschland zur
Spitze der europäischen Antidiskriminierungsbewegung
werden soll. Da wir wissen, dass Sie von den Grünen un-
ter Antidiskriminierung vor allem mehr und neue Büro-
kratie verstehen und nicht einkalkulieren, dass sich viele
gut gemeinte Schutzgesetze für Behinderte letztlich als
nachteilig für diese Menschen herausgestellt haben, kön-
nen wir Ihrem Antrag nicht zustimmen, sondern enthal-
ten uns der Stimme.
Das gleiche Votum gilt für den Änderungsantrag der
Linken, in dem die Streichung des Begriffes „Amtlich“
als Charakteristikum der deutschen Übersetzung gefor-
dert wird: Wir glauben nicht, dass dadurch mehr Rechts-
sicherheit bei der Auslegung der Konvention durch Ge-
richte geschaffen wird. Deshalb enthalten wir uns auch
hier der Stimme.
Ablehnen müssen wir den Entschließungsantrag der
Linken: Zwar sind – wie bei den Grünen – auch hier
viele richtige Einschätzungen enthalten, Sie schießen
aber über das Ziel hinaus. Wir sind weder der Auffas-
sung, dass der Diskriminierungsschutz in Deutschland
ungenügend ist, noch müssen wir die Zuständigkeiten
zwischen Bund und Ländern zugunsten von mehr Zen-
tralismus ändern, um den Ansprüchen behinderter Men-
schen gerecht zu werden. Das können die Länder auch
gut in ihrer Zuständigkeit bewältigen.
Etwas genauer möchte ich aber auf den Entschlie-
ßungsantrag von CDU/CSU und SPD eingehen. Meine
Damen und Herren der Regierungskoalition, seit über
eineinhalb Jahren informieren Sie Betroffene und Fach-
verbände darüber, dass zwischen der deutschen Realität
und der Intention der VN-Konvention ein Graben
herrscht, über den man eine Brücke bauen muss. Sie
selbst hatten eineinhalb Jahre Zeit, diesen Graben auszu-
messen und die Brücke zu planen. Das einzige aber, was
Sie in den vergangenen 18 Monaten in dieser Angele-
genheit unternommen haben, war gebetsmühlenartig zu
wiederholen, es gebe keinen Handlungsbedarf. Gestern,
einen Tag vor der Ratifizierung, entdeckten auch Sie von
Schwarz und Rot endlich den durchaus vorhandenen
Handlungsbedarf in der Behindertenpolitik. Einen Tag
vor der Ratifizierung erkennen Sie auf einmal, dass die
Vertragsstaaten mit der Ratifizierung sicherstellen müs-
sen, dass ein inklusives Bildungssystem angeboten wird.
Wer jetzt jedoch erwartet, dass Sie sich von CDU/
CSU und SPD jetzt zu einem Handlungsauftrag an die
Länder, die Kultusministerkonferenz oder die Sozial-
ministerkonferenz durchringen, der wird doch mehr als
überrascht, ja enttäuscht sein. Sie wollen langwierige
Prüf- und Forschungsaufträge zur Chancengleichheit
von behinderten Kindern im Bildungssystem vergeben,
anstatt besser heute als morgen den Kontakt mit den
Ländern aufzunehmen, um die tatsächliche Umsetzung
der Konvention in Gang zu bringen. Ist das wirklich al-
les, was Ihnen zur Umsetzung der Konvention einfällt?
Ich befürchte ja, und deshalb werden wir Liberalen Ih-
rem Antrag auch nicht zustimmen, sondern uns enthal-
ten.
Ich werde in Kürze meine Kolleginnen und Kollegen
in den FDP-Landtagsfraktionen ansprechen und bitten,
20964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
sich mit den Herausforderungen der VN-Konvention in-
tensiv zu befassen. Ich würde mich freuen, wenn meine
Kolleginnen und Kollegen in den übrigen Fraktionen des
Deutschen Bundestages Gleiches täten. Unterstützen Sie
unseren Entschließungsantrag und tragen Sie mit dazu
bei, dass die Konvention in Deutschland zu einem Be-
wusstseinswandel und zu einer Veränderung des Alltags
behinderter Menschen hin zu uneingeschränkter Teil-
habe führt!
Dr. llja Seifert (DIE LINKE): Die UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist
ein großer Wurf. Wenn diese erste Menschenrechtskon-
vention des 21. Jahrhunderts ihre Wirkung voll entfaltet,
verändert das nicht nur das Leben von 600 Millionen
Menschen mit Behinderungen auf der Welt und über
acht Millionen Menschen mit Behinderungen in
Deutschland, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen
und die Lebenssituation von uns allen, auch von Ihnen,
meine Damen und Herren. Daran ändern weder die
kleinlichen Versuche der Bundesregierung, die Konven-
tion durch eine inadäquate Übersetzung und eine wirk-
lichkeitsfremde Denkschrift abzuschwächen, noch die
ebenso peinliche Platzierung der Beratungen im Bundes-
tag zu mitternächtlicher Stunde durch die Koalitions-
fraktionen etwas. Bezeichnend bleibt die Art und Weise
der Ratifizierung der UN-Konvention in unserem Land.
Für mich war die Erarbeitung der Konvention unter akti-
ver Mitwirkung der Betroffenen am UN-Hauptquartier
in New York beispielhaft. Die Tatsache, dass die BRD zu
den Erstunterzeichnern gehörte, hat mich sehr gefreut.
Danach begann das fast zwei Jahre dauernde Trauer-
spiel, dessen Ergebnis wir heute auf dem Tisch haben.
Wenn dann mein geschätzter Kollege Hubert Hüppe,
CDU, in einem Zeitungsinterview sagt: „Mir wäre Ge-
nauigkeit lieber gewesen als Schnelligkeit. Viele Selbst-
hilfeverbände haben darauf gedrängt, mit der Ratifika-
tion unbedingt in diesem Jahr fertig zu werden … Ich
selbst habe sowohl Probleme mit der deutschen Überset-
zung wie auch mit der sogenannten Denkschrift der Bun-
desregierung.“ Das ist schon sehr unverfroren. Nun
schiebt er auch noch der Behindertenbewegung die
Schuld für die skandalöse Übersetzung und Denkschrift
in die Schuhe. Dabei ist die Ursache nicht die fehlende
Zeit, sondern der mangelnde Wille in seiner Partei und
bei seinem Koalitionspartner.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Die UN-Kon-
vention ist für uns, die Menschen mit Behinderungen,
unsere Angehörigen und die selbstbestimmte Behinder-
tenbewegung als Ganzes ein wichtiges Instrument im
Kampf um unser Recht auf umfassende Teilhabe am Le-
ben in der Gesellschaft und um die freie Entfaltung unse-
rer Persönlichkeit. Sie, die Regierungen in Bund und
Ländern, können uns die Handhabung vielleicht er-
schweren, aber nicht verhindern. Und die Linke wird fest
an der Seite der emanzipatorischen Behindertenbewe-
gung stehen.
Die Konvention mit ihren 50 Artikeln stellt praktisch
alle Politikbereiche vor neue Herausforderungen. Ich
greife hier beispielhaft nur vier heraus.
In Art. 19 „Selbstbestimmt Leben und Einbeziehung
in die Gemeinschaft“ heißt es im Punkt a): Die Vertrags-
staaten gewährleisten, dass „Menschen mit Behinderun-
gen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben,
ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo
und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in be-
sonderen Wohnformen zu leben“. Dies fordert unter an-
derem umfassende Veränderungen in der Wohnungspoli-
tik, ebenso im Heimrecht und in der Heimpraxis. Auch
muss barrierefreies Bauen in allen Bereichen zur Regel
werden.
Mit Art. 24 „Bildung“ haben die Vertragsstaaten unter
anderem sicherzustellen, dass „Menschen mit Behinde-
rungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemein-
schaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven,
hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grund-
schulen und weiterführenden Schulen haben“, siehe
Abs. 2 b. In Deutschland können derzeit gerade einmal
15 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Behinde-
rungen an Regelschulen lernen – 85 Prozent bleibt dies
noch verwehrt.
Mit Art. 32 „Internationale Zusammenarbeit“ sind die
Staaten gefordert, dass die internationale Zusammenar-
beit einschließlich internationaler Entwicklungspro-
gramme Menschen mit Behinderungen einbezieht und
sie die dazu erforderliche Barrierefreiheit schaffen. Und
wenn man Art. 4 „Allgemeine Verpflichtungen“ ernst
nimmt, darf es zum Beispiel kein Förderprogramm von
Trägern der öffentlichen Gewalt mehr geben, welches
nicht im Einklang mit der Konvention handelt. Öffent-
lich geförderte Infrastrukturprojekte, kulturelle Aktivitä-
ten oder Jugendaustausche, die nicht barrierefrei sind,
darf es künftig nicht mehr geben.
„Nichts über uns ohne uns“ – dieses Credo der Behin-
dertenbewegung spiegelt sich ebenfalls in Art. 4 Abs. 3
wider, in dem es heißt: „Bei der Ausarbeitung und Um-
setzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzep-
ten … bei … Entscheidungsprozessen in Fragen, die
Menschen mit Behinderungen betreffen, führen die Ver-
tragsstaaten mit den Menschen mit Behinderungen, ein-
schließlich Kinder mit Behinderungen, über die sie ver-
tretenden Organisationen enge Konsultationen und
beziehen sie aktiv ein.“ Diese Verpflichtung zur aktiven
Einbeziehung gilt für nahezu alle Politikfelder in Bund,
Ländern und Kommunen.
Bei der raschen Erarbeitung eines Umsetzungskon-
zeptes der Konvention in das politische und praktische
Alltagsleben könnte das gleich mal praktiziert werden.
Erst gestern erklärten sich die im Deutschen Behinder-
tenrat, DBR, zusammengeschlossenen Organisationen
dazu abermals ausdrücklich bereit. Greifen Sie das An-
gebot auf!
Erstaunlich ist, wenn heute Vertreter aller Fraktionen
und die gesamte Behindertenbewegung auf die gravie-
renden Fehler der vorliegenden deutschen Übersetzung
mit ihren inhaltlichen Auswirkungen verweisen und die
Bundesregierung andererseits im Wissen um diese ihre
Übersetzung mit dem Gesetz zur „amtlichen“ erklärt.
Auf meine Anfrage erläutert sie am 11. November dann
auch noch, dass sie „keinen Anlass für eine Modifikation
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20965
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des deutschen Textes“ sieht, Drucksache 16/10945. Des-
wegen der Änderungsantrag der Linken, das Wort „amt-
lich“ zu streichen. Damit gäbe der Bundestag ein Signal,
dass zum Beispiel unter Einbeziehung der „Schatten-
übersetzung“ von Netzwerk Art. 3 – ich verwende sie,
auch in dieser Rede – diese Übersetzung noch einmal auf
den Prüfstand kommt. Insofern werbe ich hier um Zu-
stimmung von allen Fraktionen.
Die Linke fordert mit ihrem heute auch zur Abstim-
mung stehenden Entschließungsantrag Korrekturen an
der vorliegenden Übersetzung, eine klare Distanzierung
von der wirklichkeitsverfälschenden Denkschrift und
vor allem ein Konzept zur Umsetzung der Konvention
ins Bundes- und Länderrecht und ins reale Leben. Ähnli-
che Forderungen finden sich auch in den Anträgen der
Grünen und der Koalition – denen wir deswegen eben-
falls zustimmen werden. Das betrifft auch den FDP-An-
trag, wobei ich hier ausdrücklich Punkt 2 des Antrages
widerspreche. Es ist eine Mär, wenn Sie behaupten, dass
eine Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen, zum Beispiel der Kündigungsschutz und Zusatz-
urlaub im Arbeitsrecht, die Ursache für die doppelt so
hohe Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen
im Vergleich zu den „Schwerstmehrfachnormalen“
seien. Allerdings geben sie damit auch ein klares Signal,
was für ein elitäres Freiheitsideal und Menschenbild die
FDP vertritt.
Abschließend möchte ich mich namens der Linken
sehr herzlich bei denen bedanken, die als Teil der selbst-
bestimmten Behindertenbewegung maßgeblichen Anteil
am Zustandekommen der Behindertenrechtskonvention
haben. Stellvertretend nenne ich hier Professor Theresia
Degener, Dr. Sigrid Arnade, Sabine Häfner und Klaus
Lachwitz.
Wenn man sich nur vor Augen hält, wie weit die Defi-
nition von Behinderung in der UN-Konvention von der
in einschlägigen deutschen Gesetzen entfernt ist, ahnt
man die Größe der Aufgabe, die vor uns liegt, und die
Kraft, die sich entfalten kann, wenn sie nur wirklich frei-
gesetzt wird: „Das Verständnis von Behinderung (entwi-
ckelt) sich ständig weiter und … Behinderung (entsteht)
aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beein-
trächtigungen und einstellungs- und umweltbedingten
Barrieren …, die sie an der vollen und wirksamen Teil-
habe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit an-
deren an der Gesellschaft hindern.“ So heißt es in der
Präambel, Punkt e. Sicher, mit der Ratifizierung der
Konvention ist zunächst nur ein kleines Problem gelöst.
Trotzdem haben wir heute einen Grund zum Feiern.
Morgen beginnt der Kampf, um die Umsetzung der Kon-
vention ins Alltagsleben.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begrüßt das Überein-
kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen sowie das dazugehörige
Fakultativprotokoll. Die Konvention der Vereinten Na-
tionen erkennt das Recht von Menschen mit Behinderun-
gen auf eine umfassende Teilhabe in allen Lebensberei-
chen an. Das Dokument ist Ausdruck eines weltweiten
Fortschritts in der Behindertenpolitik. Dennoch stellen
wir fest: Auch wenn das deutsche Recht für Menschen
mit Behinderungen im internationalen Vergleich in vie-
len Bereichen keine schlechte Position einnimmt, steht
die deutsche Rechtsordnung durch das Übereinkommen
vor großen Herausforderungen. Die nun vorliegende
deutsche Übersetzung des Übereinkommens sowie die
dazugehörige Denkschrift der Bundesregierung stellen
den Veränderungsbedarf im deutschen Recht infrage.
Die Bundesregierung behindert damit die Weiterent-
wicklung des Paradigmenwechsels in der Politik für
Menschen mit Behinderungen, der in den letzten beiden
Legislaturperioden eingeleitet wurde.
Ganz besonders deutlich zeigt sich dies in den Berei-
chen der Rechts- und Handlungsfähigkeit behinderter
Menschen, der selbstbestimmten Teilhabe sowie dem
Recht auf inklusive Bildung. So gibt es ganz offensicht-
lich einen Konflikt zwischen dem in der Konvention be-
schriebenen Recht auf gleiche Anerkennung als rechts-
und handlungsfähige Person und dem bestehenden Kon-
zept der rechtlichen Vertretung im deutschen Recht. Das
Betreuungsrecht und die PsychKGs der Länder bedürfen
einer dringenden Überarbeitung.
Zudem erteilt die Konvention der räumlichen Tren-
nung von behinderten und nichtbehinderten Menschen
eine Absage. Die Denkschrift hingegen erwähnt zwar
das Wunsch- und Wahlrecht, § 9 Abs. 1 SGB IX, bei der
Entscheidung über Leistungen und bei der Ausführung
von Leistungen zur Teilhabe. Was sie aber nicht benennt,
ist der grundsätzliche Konflikt zwischen dem Vorrang
der ambulanten Leistung und dem sogenannten Mehr-
kostenvorbehalt, § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Letzterer
beschränkt das Wunsch- und Wahlrecht, wenn eine sta-
tionäre Leistung zumutbar ist und die ambulante unver-
hältnismäßig teurer wäre.
Außerdem ist das deutsche Bildungssystem bislang
von der Idee und der Praxis der Aussonderung geprägt.
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur
Errichtung eines in Bezug auf Schüler mit Behinderun-
gen inklusiven Schulsystems, in dem der gemeinsame
Unterricht von Schülerinnen mit und ohne Behinderun-
gen der Regelfall ist. Die Bundesregierung übersetzt das
Wort „inclusion“ fälschlicherweise mit „Integration“
und engt den Begriff der inklusiven Beschulung in ihrer
Denkschrift ein. Nach ihrer Auffassung sei „integrative
Bildung“ nur möglich, „wenn dort die notwendige son-
derpädagogische und auch sächliche Unterstützung so-
wie die räumlichen Voraussetzungen gewährleistet“
seien. Die abgestimmte deutsche Übersetzung der Kon-
vention ist fehlerhaft. Exemplarisch für die Überset-
zungsfehler gelten die Bereiche der Beschulung, des
selbstbestimmten Lebens und der Barrierefreiheit.
Die Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen fordert in ihrer Originalausfertigung ein
Recht auf „inclusive education“, Art. 24. Die deutsch-
sprachige Fassung spricht in diesem Zusammenhang von
einem Recht auf „integrative Bildung“. Integration und
Inklusion sind nicht als Synonyme anzusehen. Während
Integration von einer Anpassung des behinderten Kindes
20966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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an das bestehende Bildungssystem ausgeht, muss sich
nach dem Inklusionskonzept das Bildungssystem an den
Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren. In der in-
ternationalen Menschenrechtsdebatte ist der Wandel
vom Integrations- zum Inklusionskonzept schon lange
vollzogen worden. So ist er etwa vom VN-Kinderrechts-
ausschuss bereits im Jahr 1997 ausdrücklich beschrieben
worden.
Ebenso falsch ist die Übersetzung von „living inde-
pendently“ als „unabhängige Lebensführung“ statt als
„selbstbestimmt leben“. Der Begriff „Selbstbestim-
mung“ kommt in der Übersetzung nicht ein einziges Mal
vor. Auch der Begriff der „Barrierefreiheit“ wird nicht
aufgenommen. „Accessibility“ wird durchgängig mit
„Zugänglichkeit“ übersetzt.
Die Denkschrift zum Übereinkommen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen versäumt es,
Zielkonflikte zwischen deutschem und internationalem
Recht aufzuzeigen sowie Änderungsnotwendigkeiten
vorzustellen. Zwar haben Denkschriften zu Vertragsge-
setzen einen nur erläuternden Charakter und sind als
reine Willensbekundung der Bundesregierung als dem
vertragsschließenden Organ der Bundesrepublik anzuse-
hen. Auch haben Denkschriften keine unmittelbare
rechtliche Bedeutung. Dennoch ist nicht auszuschließen,
dass sie wenigstens im Entscheidungsfindungsprozess
eines gerichtlichen Verfahrens beeinflussenden Charak-
ter haben.
Fernab der inhaltlichen Fehler der Übersetzung und
der Denkschrift wird die Ausgestaltung des Umset-
zungsinstrumentariums wesentlich darüber entscheiden,
wie die Vorgaben des Übereinkommens ins deutsche
Recht umgesetzt werden. Die Konvention sieht vier In-
strumente vor, um innerstaatliche Anpassungen und Ge-
setzesänderungen vorzunehmen. Nach Art. 33 des Über-
einkommens wird auf nationaler Ebene eine Stelle
eingerichtet, die für die Förderung, den Schutz und die
Überwachung des Übereinkommens zuständig ist. Nach
Auskunft der Bundesregierung wird das Deutsche Insti-
tut für Menschenrechte für diese Aufgaben mandatiert.
Darüber hinaus sieht das Übereinkommen sogenannte
Focal Points im Sinne von Verantwortungsträgern in der
Bundesregierung und den Landesregierungen vor sowie
Koordinationsmechanismen zum Austausch mit zivilge-
sellschaftlichen Akteuren. Leider ist die deutsche Über-
setzung des Übereinkommens auch in diesem Punkt
nicht ganz korrekt, da die Übersetzung „Anlaufstelle“
für „Focal Points“ die Frage der institutionellen Zuord-
nung, das heißt, dass diese Stelle innerhalb der jeweili-
gen Regierungen sein muss, umgeht. Neben dem Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales als Focal Point
müssen diese Stellen auch in den jeweiligen Landes-
regierungen eingerichtet werden. Der Koordinationsme-
chanismus muss dazu dienen, Transparenz nach außen
herzustellen und auf diesem Wege ein Forum für Aus-
tausch und Diskussion mit der Zivilgesellschaft zu
schaffen. Ein solcher Mechanismus wäre auch bei den
Landesbehindertenbeauftragten denkbar. Art. 35 des
Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten zu-
dem, zwei Jahre nach der Ratifizierung einen Bericht
über den Umsetzungsstand des Übereinkommens zu er-
stellen und an den Ausschuss nach Art. 34 zu übermit-
teln. Es sollte ein nationaler Aktionsplan entwickelt wer-
den, der den Handlungsbedarf, der durch die Konvention
entsteht, offenlegt sowie einen Fahrplan zur Umsetzung
präsentiert.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
(Tagesordnungspunkt 33)
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Mit dem
Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
verfolgen wir das Ziel, zum Erreichen der energie- und
klimapolitischen Ziele der Bundesregierung beizutragen.
Dies erfolgt, indem der weitere Ausbau der Biokraft-
stoffe ab dem Jahr 2015 stärker als bisher auf die Minde-
rung der Treibhausgasemissionen ausgerichtet wird.
Darüber hinaus beinhaltet das Gesetz weitere Maßnah-
men. Es sind dies: Die gesetzliche Quote für Biokraft-
stoffe wird für das Jahr 2009 von 6,25 Prozent auf
5,25 Prozent abgesenkt. Für die Jahre 2010 bis 2014
wird die Quote auf einer Höhe von 6,25 Prozent einge-
froren. Für das Jahr 2011 ist eine Überprüfung der künf-
tigen Quotenhöhen im Rahmen eines Berichts der Bun-
desregierung an den Bundestag vorgesehen.
Sofern bestimmte Anforderungen im Produktionsver-
fahren erfüllt sind, die eine günstige Klimabilanz ge-
währleisten, soll erstmals Biomethan auf die Ottokraft-
stoff- und die Gesamtquote angerechnet werden können.
Darüber hinaus soll die steuerliche Belastung von rei-
nem Biodiesel außerhalb der Quote in den kommenden
Jahren um jeweils 3 Cent pro Liter gegenüber der bishe-
rigen gesetzlichen Regelung abgesenkt werden.
Wie dem Gesetzentwurf zu entnehmen ist, erfolgt der
Ausbau der zunehmenden Verwendung der Biokraft-
stoffe langsamer als bisher geplant: Erst wenn Nachhal-
tigkeitskriterien wirksam sind, ist sichergestellt, dass die
Biomasse zur Verwendung als Kraftstoff nachhaltig er-
zeugt wurde. Um Nutzungskonkurrenzen mit Nahrungs-
und Futtermitteln zu vermeiden, wird durch eine Ver-
schiebung der Quotenerhöhung Zeit gewonnen, um Bio-
masse aus anderen Quellen zu gewinnen. Für eine Über-
gangszeit bei der Beimischung von 10 Volumenprozent
Ethanol zu Ottokraftstoffen spricht auch die Motorenun-
verträglichkeit vieler Altfahrzeuge. Biokraftstoffe der
zweiten Generation haben eine deutlich bessere Klima-
bilanz als Biokraftstoffe der ersten Generation, stehen
aber noch nicht in relevanten Mengen zur Verfügung.
Ich freue mich, dass wir mit diesem Gesetzentwurf
die Gelegenheit erhalten, über die weitere Ausgestaltung
der Beimischung von Biokraftstoffen zu beraten, weil
sie zur Energieversorgungssicherheit und zum Klima-
schutz beitragen. Uns allen ist die zurückliegende Dis-
kussion noch in guter Erinnerung: Sie war geprägt von
Verunsicherung und der Sorge, ob der damalige Entwurf
unseren Ansprüchen an die Nachhaltigkeitskriterien ent-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20967
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spricht. Minister Gabriel hat die Biosprit-Verordnung
gestoppt, was – unter den damaligen Rahmenbedingun-
gen – richtig war. Unser Anspruch heute ist, ein Gesetz
auf den Weg zu bringen, welches eine positive Entwick-
lung von Biokraftstoffen fördert und gleichzeitig der
Sorge entgegentritt, dass ein nicht nachhaltiger Ausbau
von Biokraftstoffen die weltweite Hungerkrise ver-
schärft und die Zerstörung der Regenwälder vorantreibt.
Eine wichtige Weichenstellung sehe ich in der Um-
stellung der Biokraftstoffquoten von der energetischen
Quote auf den Netto-Beitrag zur Treibhausgasverminde-
rung ab 2015. Dabei werden die Treibhausgasemissio-
nen bewertet, die bei der Herstellung der Biokraftstoffe
entstehen. Damit wird nachhaltige Produktion zielge-
richtet gefördert.
Nicht nur im Zusammenhang mit dem heutigen Ge-
setzentwurf wird allerdings die Frage der Nutzungskon-
kurrenz immer wieder aufgeworfen. Der WBGU, der
Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen, hat vor wenigen Tagen betont,
dass die „vorhandenen nachhaltigen Potenziale zur Ge-
winnung von Energie aus Biomasse signifikant sind und
genutzt werden sollten“. Ich will aber nicht verhehlen,
dass der WBGU eine Einschränkung gemacht hat. Er
sagt nämlich auch: „Die Ausschöpfung dieses Potenzials
sollte allerdings nur dann vorangetrieben werden, wenn
eine Gefährdung der Ernährungssicherheit sowie von
Natur- und Klimaschutzzielen ausgeschlossen werden
kann. Damit dies gelingt, müssen auf nationaler und in-
ternationaler Ebene verpflichtende Nachhaltigkeitsstan-
dards eingeführt werden.“ Dem stimme ich ausdrücklich
zu.
Ich will aber auch eine Lanze für den heimischen
Raps brechen. Mit Biodiesel aus heimischem Raps lässt
sich eine Minderung bei den Treibhausgasemissionen
von 50 Prozent erreichen; zudem ist der Rapspressku-
chen kein Abfall, sondern ein wichtiger Eiweißfutter-
stoff, der Sojaimporte ersetzt.
Es gibt aber auch ackerbauliche Gründe für den Raps-
anbau. Er ist in der dreigliedrigen Fruchtfolge ein wich-
tiges Element. Raps ist eine Pflanze, die gut zum Aufbau
von Humus geeignet ist. Im Moment werden deutsch-
landweit 12 Millionen Hektar Ackerfläche bestellt. Jähr-
lich könnten in einer dreigliedrigen Fruchtfolge als
Obergrenze 4 Millionen Hektar Raps angebaut werden,
derzeit sind es rund 2 Millionen Hektar Raps. Dies sage
ich deshalb, weil ich die Diskussion um Biokraftstoffe
mit einiger Sorge betrachte.
Der heimische Markt bei Reinkraftstoffen liegt am
Boden. Schon heute haben wir beim Pflanzenöl eine Un-
terkompensation, die sich mit der nächsten Stufe weiter
verschärfen wird – deshalb müssen die weiteren Stufen
der Besteuerung ausgesetzt werden. Zudem muss die
Steuerfreiheit in der Landwirtschaft beibehalten werden,
und Biomethan muss zukünftig ebenfalls steuerbefreit
bleiben.
Lassen Sie mich kurz auf E10 eingehen. Aus Gründen
der Energieversorgungssicherheit und des Klimaschut-
zes bleibt E10 eine wichtige Option. Voraussetzung ist
aber die Sicherstellung einer nachhaltigen Produktion.
Deshalb brauchen wir dringend die europäische Nach-
haltigkeitsverordnung. Deutschland hat zudem ein bila-
terales Abkommen mit Brasilien zur Sicherstellung
nachhaltiger Biokraftstofflieferungen geschlossen.
Deutschland benötigt derzeit 2,5 Millionen Tonnen an
Bioethanol. 500 000 bis 700 000 Tonnen lassen sich
durch heimische Produktion, die übrige Menge lässt sich
durch Importe aus Brasilien decken. Das Abkommen mit
Brasilien ist so ausgestaltet, dass den Befürchtungen der
Nachhaltigkeit genüge getan ist.
Apropos Nachhaltigkeitsverordnung: Wir hätten uns
gewünscht, dass schon mit dem heutigen Entwurf eine
Nachhaltigkeitsverordnung bzw. eine europäische Lö-
sung hätte präsentiert werden können. Dass dies nicht
der Fall ist, nehme ich zum Anlass, den Bundesumwelt-
minister aufzufordern, sich dafür einzusetzen, dass so
schnell wie möglich eine wirkungsvolle Nachhaltigkeits-
verordnung auf europäischer Ebene vorgelegt werden
kann. Erst wenn eine solche Nachhaltigkeitsverordnung
vorliegt, wird die Unsicherheit über die zukünftige Ak-
zeptanz von Biokraftstoffen beseitigt werden können.
Erst dann wird es Planungssicherheit geben – und ich
glaube, das ist, was sowohl Produzenten als auch Konsu-
menten brauchen. Herr Minister, nutzen Sie deshalb Ih-
ren Einfluss, erhöhen Sie den Druck in der EU und drän-
gen Sie darauf, dass wir hier endlich Klarheit haben.
Warum brauchen wir eine sinnvolle Strategie bei er-
neuerbaren Energien? Stichwort Energieversorgungs-
sicherheit: Große Teile der Erdöl- und Erdgasreserven
liegen in politisch instabilen Regionen. Die fossilen
Rohstoffe sind endlich. Stichwort Klimaschutz: Bei der
Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle entsteht Koh-
lendioxid, was die Gefährdung des Klimas durch den
Treibhauseffekt erhöht. Dem kann durch die Nutzung
von Biomasse abgeholfen werden: Durch die Nutzung
von erneuerbaren Energien lag die CO2-Reduktion 2007
bei insgesamt 115 Millionen Tonnen. Die Biomasse
macht bei den Kraftstoffen nach Angaben aus dem Bun-
desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz immerhin 15 Millionen Tonnen reduzier-
tes CO2 aus. Dies ist ein erheblicher Beitrag zur
Minderung der Treibhausgasemissionen. Ich bin der fes-
ten Überzeugung, dass das noch mehr werden kann. Die-
ses Gesetz ist hierzu ein erster Schritt. Wir werden uns
dafür einsetzen, dass auch die weiteren Schritte das Ziel
eines Ausbaus von Biokraftstoffen unter Berücksichti-
gung der Nachhaltigkeitskriterien verfolgen.
Marko Mühlstein (SPD): Mit dem vorliegenden Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von
Biokraftstoffen diskutieren wir über eine weitere wich-
tige Säule des Integrierten Energie- und Klimapakets der
Großen Koalition. Über kaum einen anderen Teil des
Klimapakets haben wir so intensiv diskutiert wie über
die Weiterentwicklung der Biokraftstoffstrategie. Ich
denke, es ist uns gelungen, die verschiedenen Sichtwei-
sen und Argumente zu einem guten Ganzen zusammen-
zuführen.
20968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
(A) (C)
(B) (D)
Als Berichterstatter für Bioenergie der SPD-Fraktion
begrüße ich besonders die Möglichkeit, dass zukünftig
als Kraftstoff eingesetztes Biogas auf die Erfüllung der
Quote angerechnet werden kann. Denn der Kraftstoff
Biogas ist hocheffizient und klimafreundlich. So ist der
Kraftstoffertrag pro Hektar Anbaufläche bei Biogas im
Vergleich zu herkömmlichem Biodiesel um das Sechsfa-
che höher.
In den letzten Tagen haben uns viele Schreiben und
Anrufe erreicht, die den vorliegenden Gesetzentwurf kri-
tisieren, da durch ihn der Einsatz von nicht nachhaltig
produziertem Palmöl gefördert würde. Hierzu ist klar zu
sagen: Diese Behauptung ist nicht richtig. Vielmehr wird
durch dieses Gesetz die Anrechnung von Palm- und So-
jaöl auf die Quote so lange untersagt, bis eine Nachhal-
tigkeitsverordnung in Kraft tritt. An dieser Regelung
müssen wir ohne Einschränkungen festhalten. Zukünftig
darf kein Quadratmeter Regenwald für Palmöl zum Ein-
satz in deutschen Tanks gerodet werden.
Damit dies auch langfristig gewährleistet werden
kann, muss im Mittelpunkt der anstehenden Arbeiten die
schnellstmögliche Umsetzung einer Nachhaltigkeitsver-
ordnung stehen. Sobald die Kriterien für nachhaltige
Biokraftstoffe von der Europäischen Union beschlossen
werden, ist die Bundesregierung gefordert, diese Krite-
rien schnell in nationales Recht umzusetzen. Nur so
kann es gelingen, die Wiederauflage der teils abstrusen
Debatte um Biokraftstoffe, wie sie im Frühjahr dieses
Jahres geführt wurde, zu verhindern. Denn Palmöl- und
Sojapflanzen werden nun einmal nicht in erster Linie für
die Produktion von Biokraftstoffen angebaut, sondern
zur Verwendung in anderen Bereichen. So werden über
90 Prozent des nach Europa importierten Palmöls in der
Lebensmittel- und Kosmetikindustrie eingesetzt. Das
Sojaöl, welches energetisch genutzt wird, ist ein Abfall-
produkt der Futtermittelherstellung für unsere deutschen
und europäischen Nutztierhalter.
Vor diesem Hintergrund sind globale Zertifizierungs-
systeme für alle Agrarsektoren eine logische Konse-
quenz. Hierfür wird die SPD in den nächsten Monaten
und Jahren engagiert kämpfen.
An dieser Stelle möchte ich noch auf zwei Punkte ein-
gehen, über die aus Sicht der SPD-Fraktion im anstehen-
den parlamentarischen Verfahren noch diskutiert werden
muss. Wir haben in den letzten Monaten stets die Auf-
fassung vertreten, dass die Steuerbefreiung für reinen
Biodiesel, der im öffentlichen Personennahverkehr ein-
schließlich des Schienennahverkehrs eingesetzt wird, ein
wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen und zukunftsfä-
higen Kraftstoffstrategie ist. Von dieser Maßnahme
würden nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen
profitieren, sondern auch die Landwirte und Biodiesel-
produzenten vor Ort. Darüber hinaus wäre dies ein sinn-
voller Beitrag zur Stärkung und zum Aufbau regionaler
nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe.
Des Weiteren müssen wir aus unserer Sicht die Frage
der Zulassung des sogenannten Co-Processing intensiv
erörtern. Hierbei handelt es sich um ein Verfahren, bei
dem das Pflanzenöl gemeinsam mit dem fossilen Öl den
Raffinerieprozess durchläuft. Nach Angaben des Mine-
ralölwirtschaftsverbandes kämen aufgrund chemischer
Eigenschaften für dieses Verfahren ausschließlich Palm-
und Sojaöl zum Einsatz. Selbst wenn die Nachweismög-
lichkeit für nachhaltig produziertes Palmöl besteht, ha-
ben wir große Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Vor-
habens. Denn ursprünglich sollte das Co-Processing
dabei helfen, die jährlich steigenden Quoten zu erfüllen.
Da aber die Quoten mit Inkrafttreten dieses Gesetzes ab
2010 nicht mehr ansteigen sollen, ist die Begründung für
die Zulassung dieses Prozesses obsolet.
Ich denke, der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine
gute Basis dar, um die Diskussion um die Förderung von
Biokraftstoffen im Sinne aller Betroffenen zu einem gu-
ten Ende zu bringen. Ich appelliere an die Kolleginnen
und Kollegen aus der Union, gemeinsam mit uns nach
den besten Lösungen zu suchen, und freue mich auf ei-
nen konstruktiven Dialog – im Sinne des Klimaschutzes
und einer nachhaltigen Energiepolitik.
Michael Kauch (FDP): Der von der Bundesregie-
rung vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung der Förde-
rung von Biokraftstoffen ist nichts anderes als das Ein-
geständnis einer gescheiterten Politik! Die von der
Bundesregierung vorgesehene Beimischungsquote für
Benzin ist verfehlt und muss zurückgenommen werden.
Mittlerweile ist es hinreichend belegt, dass Unverträg-
lichkeiten bei Motoren bestehen. Das hätte man auch
vorher wissen können.
Es freut mich, dass die Bundesregierung nunmehr
endlich die von der FDP-Bundestagsfraktion von An-
fang an geäußerte Kritik aufgreift, dass die Quotenerhö-
hung angesichts fehlender Nachhaltigkeitszertifizierung
in der Praxis falsch ist. Diese Quotenerhöhung würde
nur zu einem weiteren Sog auf die globalen Ressourcen
führen, der nichts anderes als eine Gefahr für die Regen-
wälder und damit den globalen Klimaschutz bewirkt.
Die Änderungen der Bundesregierungen gehen jedoch
nicht weit genug. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert da-
her die Bundesregierung auf, von einer Quotenerhöhung
ganz abzusehen, solange die Nachhaltigkeitssysteme
nicht in der Praxis international funktionieren. Ferner
muss die Bundesregierung die Umsetzung eines schlüs-
sigen Gesamtkonzepts im Sinne einer effizienten Förde-
rung der Markteinführung und einer breiten Nutzung
von Biomasse im Rahmen einer Strategie „weg von den
fossilen Kraftstoffen“ in Deutschland gewährleisten.
Studien zeigen, dass die Nutzung zur Verstromung meist
effizienter ist als im Tank. Nur auf einem effizienten
Weg wird die Abhängigkeit vom Import fossiler Ener-
gieträger gemindert. Vor diesem Hintergrund müssen die
bestehenden Beimischungsquoten auf dem heutigen
Stand „eingefroren“ werden.
Zudem fordert die FDP-Bundestagsfraktion die Wie-
dereinführung der Steuervergünstigung von Rein-Bio-
kraftstoffen. Ab 2010 soll statt der zwischenzeitlich zum
Teil gestoppten Erhöhung der Beimischungsquote be-
fristet wieder eine Steuervergünstigung eingeführt wer-
den. Denn diese Steuervergünstigung hilft den reinen
Biokraftstoffen, die meist aus heimischer und mittelstän-
discher Produktion stammen, während angesichts der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20969
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Strukturen auf dem Mineralölmarkt die bestehende Bei-
mischungsquote einzig große Lieferanten und Import-
biomasse begünstigt. Eine ausgewogene und nachhaltige
Klimapolitik erfordert angesichts der vorhandenen Wirt-
schaftskrise, dass auch die heimische und mittelständi-
sche Wirtschaft gestärkt und gerade nicht geschwächt
wird!
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf den Bereich
der Elektromobilität zu sprechen kommen. Für eine be-
zahlbare, energiesparende und klimaverträgliche Mobili-
tät müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen
werden. Den Weg weisen dafür die technischen Ent-
wicklungspfade im Bereich der alternativen Antriebe.
Die Elektromobilität bietet eine herausragende Chance,
insbesondere für die effiziente Nutzung erneuerbarer
Energien, weil Elektrofahrzeuge eine dezentrale Spei-
chermöglichkeit für Strom aus fluktuierenden Quellen in
Aussicht stellen.
Gerade in Schwachlastzeiten, wenn es – beispiels-
weise nachts – für Windstrom keine anderen Abnehmer
gibt, könnten Elektroautos als Speicher zur Verfügung
stehen. Ohnehin wird ein Privatfahrzeug durchschnitt-
lich weniger als 2 von 24 Stunden des Tages bewegt. In
der verbleibenden Zeit könnten mobile Hochleistungs-
batterien der Fahrzeuge künftig als mobile Energiespei-
cher in die Energieversorgung integriert werden. Nicht
zuletzt eröffnet die Elektromobilität auch eine zusätzli-
che Option, die Abhängigkeit vom Öl zu verringern.
Vor diesem Hintergrund müssen die längerfristigen
und grundsätzlichen Weichenstellungen beizeiten so
vorgenommen werden, dass die Potenziale aller genann-
ten technischen Entwicklungen von der Privatwirtschaft
in den kommenden Jahren ungehindert genutzt und vo-
rangebracht werden können. Dabei geht es um das Of-
fenhalten technologischer Entwicklungspfade – auch mit
der Unterstützung zukunftsweisender und verlässlicher
politischer Signale!
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Die Biokraftstoffstra-
tegie der Bundesregierung ist gescheitert. Die Zwangs-
beimischung von Agrosprit zu mineralischem Benzin
oder Diesel ist ein Irrweg zulasten des Naturhaushaltes
und des Klimaschutzes. Ich fordere den Umweltminister
deshalb auf, sein Scheitern in dieser Sache einzugeste-
hen und das Gesetz samt Änderungsvorlage zurückzu-
ziehen.
Die Bundesregierung setzt mit ihrer angeblich „öko-
logischen Industriepolitik“ selbstbewusst auf das falsche
Pferd. Richtig wäre, eine nachhaltige Biomasseerzeu-
gung und -nutzung zu fördern, die den Naturhaushalt
nicht überfordert und für Wertschöpfung in der Region
sorgt. Das schafft dann auch zukunftssichere Arbeits-
plätze im ländlichen Raum.
In Deutschland und Europa stehen für die Nutzung
von Bioenergie nur begrenzte Anbauflächen zur Verfü-
gung. Der Bundesumweltminister übersieht diese Tatsa-
che, als gäbe es sie nicht. Überhöhte Ziele, gerade bei
Biokraftstoffen, überfordern deshalb die Böden und ha-
ben keinen Nutzen für den Klimaschutz. Sie führen zu
ökologisch schädlichen Anbauweisen und zum massen-
haften Import von Agroenergie. In den Ländern des Sü-
dens sind Regenwaldzerstörung sowie Vertreibung von
Kleinbäuerinnen und Kleinbauern die Folge. Eine inter-
nationale Zertifizierung für Energiepflanzen ist nicht
kontrollierbar und wird deshalb auch nicht greifen.
In Deutschland selbst ist der massive Einsatz von
Agrosprit ohnehin Unsinn, wenn die Wende in der Ver-
kehrspolitik ausbleibt. Statt auf klimaschädlichen Pkw-
und Schwerlastverkehr zu setzen, müssen ein nutzer-
freundlicher öffentlicher Nahverkehr und eine attraktive
Bahn in der Fläche geschaffen werden. Wer glaubt, er
könne die Autobauer mit Bioalkohol beruhigen, ist auf
dem Holzweg.
Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein da: „Durch
die Quotenvorgaben für Biokraftstoffe werden zum Teil
sogar Bioenergiepfade gefördert, die zur Verschärfung
des Klimawandels beitragen.“ Und: „Bioenergie darf
nicht zu einer Gefährdung der Ernährungssicherheit füh-
ren oder die Zerstörung von Regenwäldern oder anderen
naturnahen Ökosystemen auslösen.“ Weiter: „Der Anbau
einjähriger Energiepflanzen zur Produktion von Flüssig-
kraftstoffen für den Verkehr ist zu wenig an den Zielen
des Klimaschutzes ausgerichtet.“ Das sagt nicht irgend-
wer, sondern das wichtigste Beratungsgremium der Bun-
desregierung in Sachen Klimaschutz, der Wissenschaft-
liche Beirat Globale Umweltveränderungen. Dieser sagt
als Schlussfolgerung zum Biokraftstoffquotengesetz:
„Der WBGU plädiert daher für einen raschen Ausstieg
aus der Förderung von Biokraftstoffen im Verkehrsbe-
reich.“
Die Linke hat sich als einzige Fraktion im Bundestag
von Anfang an gegen die Zwangsquote und – wenn
überhaupt – für die gezielte Förderung von reinen Bio-
kraftstoffen in dezentralen Strukturen ausgesprochen.
Dabei sollte durch steuerliche Erleichterungen ein
Marktvorteil zu mineralischen Produkten geschaffen
werden. Und: Nur regionale, in sich geschlossene Kreis-
läufe zur Herstellung und Verwendung von Biosprit dür-
fen unterstützt werden. So macht der Pflanzentreibstoff
für den Eigenbedarf in der Land- und Forstwirtschaft so-
wie in Bus- und Speditionsflotten vor Ort Sinn. Haupt-
sächlich setzen wir uns aber für eine Stärkung der um-
weltverträglichen Biogasproduktion ein – und das ist der
entscheidende Punkt. Denn hierbei ist je Hektar genutz-
ter Biomasse der Energieertrag und somit auch der Kli-
maschutzbeitrag am höchsten. Biogas kann sowohl für
die gekoppelte Erzeugung von Strom und Wärme als
auch in Fahrzeugen eingesetzt und ins Erdgasnetz einge-
speist werden.
Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, Sie wollen mit
den Einnahmen aus dem Emissionshandel, der dem Kli-
maschutz dienen soll, neue, riesige, klimaschädliche
Kohlekraftwerke subventionieren. Dabei ist auch Ihnen
klar, dass solche Energieverschwendungsanlagen den
Ausbau effizienter und erneuerbarer Energien blockie-
ren. Der Umweltminister will den massenhaften Anbau
von Agrosprit fördern, obwohl er weiß, dass riesige Mo-
nokulturen und zerstörte Regenwälder das Ergebnis sind.
Er klaubt sich Agroenergien aus Schwellen- und
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Entwicklungsländern wie Angola und Indonesien zu-
sammen, um Mineralöl zu ersetzen. Dabei leiden diese
Länder vielmehr unter der Teuerung des knappen Öls als
Europa und Deutschland. Hierzulande wirft Herr Gabriel
sich aber für die Pkw-Hersteller gegen wirksamen Kli-
maschutz ins Zeug, damit die Autobauer auch weiterhin
Spritschlucker produzieren können.
Der sogenannte Umweltminister entwickelt sich zum
größten CO2-Erzeuger in der Bundesrepublik. Er zerstört
die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der internationalen
Umweltpolitik und jagt die Klimaschutzziele durch den
Schornstein. Schöne Bescherung!
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Bundesregierung ist mit ihrer Biokraftstoffstrategie ge-
scheitert. Der Beitrag der Biokraftstoffe zur CO2-Einspa-
rung sowie als Erdölersatz stagniert. Von den Ausbau-
zielen, die noch vor einem Jahr verkündet wurden, ist
nichts übrig geblieben. Die Biodieselindustrie pfeift aus
den letzten Löchern, die Campa-Biodiesel in Ochsenfurt
hat schon zum zweiten Mal Insolvenz angemeldet. Die
Einlagen von vielen Bauern wurden vernichtet. Die
Landwirte haben Millionen Euro ebenso verloren wie
die Hoffnung auf eine Stärkung der ländlichen Räume
über eine heimische Wertschöpfung. Noch mehr Hoff-
nungen gingen verloren: Das Ethanolauto ist faktisch tot,
die dezentralen Ölmühlen machen nach und nach Pleite,
und die Ölmühlenbetreiber werden vom Umweltminister
sogar als Bäuerlein verhöhnt. Ruiniert sind aber nicht
nur viele Pioniere der Bioenergien, sondern mittlerweile
sogar der Ruf der Biokraftstoffe. Die schwarz-rote Bun-
desregierung hat es innerhalb von drei Jahren hinbekom-
men, einen Hoffnungsträger zum Schreckgespenst zu
machen.
Ist die Bundesregierung mit dieser Katastrophenpoli-
tik bereits zufrieden? Nein, sie setzt noch eins drauf. Die
Steuern auf Biokraftstoffe sollen auch 2009 und in den
Folgejahren weiter erhöht werden. Die Ausbauziele für
die Biokraftstoffe werden zurückgenommen, und Palmöl
aus dem Regenwald soll zukünftig die heimischen Pflan-
zenöle ersetzen. Wer das nicht glaubt, sollte einmal ei-
nen Blick in die Novelle des Biokraftstoffquotengesetzes
werfen. Dort kann man diesen Zerstörungsplan für die
Biokraftstoffe eins zu eins nachlesen.
Fast schon fanatisch betreibt der Umweltminister
seine Strategie, Pflanzenöle hiesiger Ölmühlen durch die
Erzeugnisse der Mineralölkonzerne zu ersetzen: Hand in
Hand mit dem Mineralölwirtschaftsverband packt Mi-
nister Gabriel den Regenwald in den Tank. Das Mittel
der Wahl ist die Cohydrierung, die Minister Gabriel ab
2010 erlauben will. Bei der Cohydrierung werden die
Raffinerien gleich in den Regenwald gesetzt und verar-
beiten das dortige Palmöl. Gabriel hatte sich mit der
Cohydrierung schon mal gegen die schwarz-roten Parla-
mentarier und das verschlafene Landwirtschaftsministe-
rium durchgesetzt. Dabei wurden aber so viele hand-
werkliche Fehler begangen, dass die EU-Kommission
schon wegen der erheblichen Formfehler die Verordnung
nicht akzeptiert hatte.
Bei jeder Gelegenheit macht sich der Minister der
Großkonzerne über die mittelständischen Pflanzenöl-
mühlenbesitzer lustig. „Big is beautiful“ lautet die De-
vise Gabriels. Da wird der Umweltminister zum Interes-
senvertreter der Mineralölwirtschaft. Und die Union
schaut zu, wie die SPD den Mittelstand mit voller Ab-
sicht gegen die Wand fährt. Das diesbezügliche Schwei-
gen des Bauernverbandspräsidenten Sonnleitner lässt
sich nur dadurch erklären, dass er vor allem Großkon-
zernstrukturen unterstützt, anstatt seine Mitglieder aus
der bäuerlichen Landwirtschaft.
Mit ihrem breiten Versagen haben die Minister Gab-
riel, Steinbrück, Glos und vormals Seehofer dazu beige-
tragen, dass die Bioenergien heute in der Gesellschaft
massiv an Akzeptanz verloren haben.
Die schwarz-rote Koalition hat von Beginn an auf die
Beimischung gesetzt und sich damit als Handlanger der
Mineralölkonzerne betätigt, die aus der ganzen Welt bil-
lige und oftmals auf Kosten von Mensch und Natur er-
zeugte Biokraftstoffe importieren. Sie hat reine Pflan-
zenöltreibstoffe mit einer jährlich wachsenden Steuer
belegt und so die allermeisten Hersteller in Deutschland
in den Ruin getrieben. Sie hat das Thema Nachhaltigkeit
vernachlässigt und mit einem halbherzigen Verord-
nungsentwurf auf die lange Bank geschoben. Sie hat
sachkundige Hinweise darauf, dass einige Motoren die
Biokraftstoffbeimischung nicht vertragen, ignoriert. Sie
nimmt billigend in Kauf, dass die eiweißhaltigen Kop-
pelprodukte heimischen Pflanzenöls für das Viehfutter
nun wieder durch Soja aus Regenwaldplantagen ver-
drängt werden.
Wir sind davon überzeugt, dass bestehende Konflikte
durch entschiedenes politisches Gegensteuern zu ent-
schärfen sind. Aber dazu bedarf es weit mehr als des hier
vorgelegten Gesetzentwurfs: Wir brauchen ökologische
und soziale Leitplanken! Es muss der Grundsatz „Food
first“ gelten, und es müssen umweltverträgliche Anbau-
methoden umgesetzt werden, etwa der Anbau von Ener-
giepflanzen auf degradierten Böden oder der Ausschluss
von Gentechnik und von Naturzerstörung. Die zurzeit
auf EU-Ebene diskutierten Nachhaltigkeitskriterien wer-
den nicht ausreichen – wir brauchen zusätzlich bilaterale
Zertifizierungs-Pilotprojekte, um möglichst rasch zu ei-
nem weltweiten Zertifikat zu gelangen. Nicht nachhaltig
erzeugte Bioenergien müssen vom deutschen und euro-
päischen Markt ausgeschlossen werden.
Auch die europäische Ebene hat bei den Nachhaltig-
keitskriterien bislang versagt. Dringende nationale Ver-
ordnungen werden gebremst, und die eigenen Vorschrif-
ten verzögern sich. Zudem zeichnet sich bereits ab, dass
auch die europäischen Vorgaben wichtige Nachhaltig-
keitsaspekte unter anderem im sozialen Bereich vernach-
lässigen.
Ja, es ist richtig, auf die Elektromobilität zu setzen.
Aber auch beim Thema Elektromobilität hat die Bundes-
regierung bisher nur viel versprochen und nichts bewegt.
Auf meine kürzliche Anfrage, welche Fördermaßnah-
men es gibt, bekam ich die lapidare Antwort, dass es
keine gebe, aber man sich für die Zukunft Gedanken ma-
che. Wir können für die Elektromobilität nur hoffen,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20971
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dass sich darüber in der Bundesregierung andere Men-
schen Gedanken machen als über Biokraftstoffe. Pleiten,
Unvermögen und Pannen können wir uns bei diesem
zentralen Thema zukünftiger Mobilität nicht erlauben.
Und es wäre grundverkehrt, die Biokraftstoffe aufzu-
geben, nur weil man unter Schwarz-Rot zu unfähig war,
die Chancen zu nutzen, die das Thema beinhaltet hatte
und bei einer besseren Regierung weiter beinhalten
würde.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Freiheits- und Ein-
heitsdenkmal gestalten (Zusatztagesordnungs-
punkt 8)
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Das
Denkmal für die Freiheit, für Bürgermut und Demokra-
tie erhält jetzt Kontur. Der Weg für die Ausschreibung
ist frei. 15 Millionen Euro sind beschlossen. In der
Standortfrage haben Bundeskanzleramt und der Regie-
rende Bürgermeister Einigkeit erzielt. In der Mitte der
Hauptstadt wird der Standort sein, dem Stadtschloss ge-
genüber, auf dem abgeräumten Sockel der Monarchie.
Dem Militarismus wird dadurch eine endgültige Absage
erteilt; da stimmen wir mit Professor Salomon Korn
überein.
Für Freiheit und Einheit wird dieses Denkmal stehen,
wie sie vor 19 Jahren von couragierten Bürgerinnen und
Bürgern mutig demonstriert wurde, wie sie seit gut
200 Jahren auch ein wesentlicher Teil der Geschichte
unseres Landes ist. Ob die Märzrevolution, die Vorgänge
um die Gründung der Weimarer Republik vor 90 Jahren,
die Schaffung des Grundgesetzes, der 17. Juni 1953 es
waren: Die glückhaften Momente sowie die Opfer für
die Freiheit gehören nicht in den Abstellraum unserer
Geschichte; die Wiederaneignung unserer eigenen Ver-
gangenheit in all ihren Facetten ist gefragt. Deshalb ist
auch ein Informationsort notwendig, in räumlicher Nähe
zum Denkmal. Hier kann mit Bilddokumenten, Filmen,
Redeausschnitten und anderen zeitgemäßen Präsentatio-
nen der Freiheitswille der Deutschen verdeutlicht wer-
den, inhaltlich notwendig, historisch gerechtfertigt.
Auch Europa muss vorkommen: Ungarn 1956, der Pra-
ger Frühling 1968, die polnische Gewerkschaft Solidar-
nośź und andere markante Freiheitsbekundungen.
Für uns bleibt eindeutig: Das von den Menschen im
Lande angenommene Holocaust-Mahnmal und die vie-
len notwendigen Gedenkstätten in Berlin und der gesam-
ten Republik garantieren: Ein Vergessen und Verdrängen
der menschenverachtenden Diktaturvergangenheit wird
es nicht geben, darf es nicht geben! Auch Leipzig als
Stadt der Friedensgebete und Freiheitsdemonstrationen
wird eine Würdigung erhalten. Bonn, der westdeutsche
Beitrag, darf nicht vergessen werden. Über die Kon-
zeption der neuen Denkmalinitiative wird öffentlich dis-
kutiert werden, die Einbeziehung von Vertretern der
Zivilgesellschaft ist gleichfalls Wille der drei Initiativ-
fraktionen. Unser Land mit seiner überaus komplizierten
Geschichte, aber auch die politisch Verantwortlichen
werden sich einer intensiven Debatte zu stellen haben.
Die Initiative der Deutschen Gesellschaft mit fast
200 bundesweiten, öffentlichen Veranstaltungen zum
Thema „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ ist begrüßens-
und unterstützenswert. Wir wünschen uns eine breite
Diskussion. Eine kontroverse Debatte hat es auch 2001
gegeben, im Vorfeld einer Parlamentsentscheidung zur
Denkmalinitiative damals für „Einheit und Freiheit“. Die
vier maßgeblichen Ideengeber – Jürgen Engert, Lothar
de Maizière, Florian Mausbach, Günter Nooke –, die alle
der Deutschen Gesellschaft angehörten, erreichten, dass
177 Abgeordnete sich für ein Berliner Denkmal ausspra-
chen. Das Votum scheiterte entsprechend eines Vorschla-
ges des Kulturausschusses an den Fraktionen von Sozial-
demokraten und PDS. Die Zeit für ein Denkmal war
offensichtlich noch nicht reif.
Heute, sieben Jahre später, ist es wieder die Linke, die
die „Freiheit“ blockiert, die sich der „Einheit“ ver-
schließt; ganz anders die Sozialdemokraten, die jetzt
offensiv die Idee verfolgen. Hier ist es besonders Profes-
sor Richard Schröder, der auf eine umfassende Ge-
schichtsaufarbeitung gedrungen hat, die positiven Mo-
mente deutscher Vergangenheit nicht auszuklammern.
Das Denkmal wird mehr sein als eine berechtigte Huldi-
gung an den Herbst 1989, mehr als die Erinnerung an die
herausragende Montagsdemonstration in Leipzig am
9. Oktober 1989. Es soll den Wert der Volkssouveränität
vermitteln, den der Verfassung, des Grundgesetzes. Es
soll die über 200 Jahre alte Freiheitsgeschichte aufberei-
ten, zwei Jahrhunderte auch demokratische Erfolge in
Deutschland, zu einer differenzierten Geschichtsbetrach-
tung beitragen. Es wäre fragwürdig, falsch und nicht fair
gegenüber der jungen Generation unseres Landes, wenn
sich diese allein mit der Diktaturgeschichte auseinander-
setzen müsste. Die beiden nicht gleichzusetzenden tota-
litären Diktaturen waren nicht unsere alleinige Vergan-
genheit.
Mut schöpfen aus Freiheitsbemühungen, sattelfest
werden gegen politischen Extremismus, vorbildliche Zi-
vilcourage erfahren, Demokratiestolz haben – das alles
sollte Ziel politischer Jugendbildung sein. Ein Denkmal
allein kann so etwas nicht leisten. Es kann aber dafür
eine Signalfunktion einnehmen, ein Stachel im Fleisch
demokratischer Selbstzufriedenheit sein. Und schließ-
lich: Das Deutschlandbild der jährlich circa 7,6 Millio-
nen in- und ausländischen Berlin-Touristen erhält die
Chance einer Aufbereitung, weil beide Seiten unserer
Geschichte aufgeblättert werden, die dunklen und die
hellen, und zum Nachdenken anregen.
Jetzt kann es grünes Licht für die Ausschreibung des
Architektenwettbewerbes geben, sodass die Entwürfe
2009 zum 20. Jahrestag des Mauerfalls bereits präsen-
tiert und debattiert werden können. „Denk’ mal an Frei-
heit, wenn du in Berlin bist!“ – so könnte das Leitmotiv
lauten.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Als sich am 3. Ok-
tober 1990 die Einheit Deutschlands vollendete, konnte
20972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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zugleich ein Kapitel deutscher Geschichte beendet wer-
den, dessen Ausgangspunkt nicht schwärzer hätte begin-
nen können. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten zwölf
Jahre nationalsozialistischer Diktatur Europa an den Ab-
grund geführt. Unsägliches Leid haben die Deutschen
damals über die anderen Völker Europas gebracht. Das
Kriegsende brachte eine Zäsur. Deutschland wurde auf-
geteilt. Der freie Westen und die kommunistische Dikta-
tur der Sowjetunion teilten Deutschland in ihre Einfluss-
sphären auf. Im Westen entstand ein freiheitlich-
demokratischer Rechtsstaat, während der ostdeutschen
Bevölkerung eine Einparteiendiktatur aufgezwungen
wurde.
Nur wer sich dies vor Augen hält, kann die Ereignisse
von 1989 und 1990 für unser Land in ihrer ganzen Be-
deutung ermessen. Die Einheit in Freiheit war ein Ge-
schenk der Geschichte, aber es war eines, das erst auf
friedlichem Wege erkämpft werden musste, das den
Deutschen nicht einfach so in den Schoß gefallen ist.
Der Anfang vom Ende der DDR waren die Montags-
demonstrationen in Leipzig. Der Druck auf das Un-
rechtsregime erhöhte sich. Nun gab es auch Demonstra-
tionen in Berlin. Nach dem Fall der Mauer wurde wohl
jedem in der SED bewusst, dass das Ende der Diktatur
gekommen war. Jetzt konnten die Staatspartei nur noch
als Konkursverwalter eines heruntergewirtschafteten
Systems dienen, dessen Folgen uns bis zum heutigen
Tag beschäftigen.
So präsent jeder Einzelne von uns in diesem Hause
noch die Ereignisse vor Augen hat, darf darüber nicht
vergessen werden, dass es inzwischen eine Generation
gibt, die diesen glücklichen historischen Aufbruch in
Einheit und Freiheit nur vom Hörensagen kennt. Daran
schließen sich zwei Fragen an: Wie kann man an diese
Ereignisse erinnern, und wo sollte man dies tun?
Wird der Versuch unternommen, geschichtliche Pro-
zesse in statische Denkmäler zu pressen, muss dies na-
türlich immer unzulänglich bleiben. Auch wenn es da-
rum geht, Gefühlen oder Werten eine Form zu geben,
bleibt ein unvollkommener Moment bestehen. Darüber
müssen wir uns auch beim Einheits- und Freiheitsdenk-
mal im Klaren sein. Da hatte es die Monarchie wesent-
lich einfacher. Bei aller Kunstfertigkeit in der Ausfüh-
rung strahlten die Denkmäler einen triumphalen
Machtanspruch aus, der keine Zweifel daran aufkommen
ließ, wer der Herrscher im Lande war. Eine Demokratie
tut sich mit derartigen Monumenten durchweg schwerer.
Sie will allgemeinverbindliche Werte vermitteln, die ih-
rem Wesen immanent sind. Es geht ihr gerade nicht um
die Verkörperung einer solitären, absolutistischen Idee.
Die Verknüpfung der Einheit mit dem Freiheitsgedan-
ken scheint mir daher genau die richtige Antwort der
Demokratie auf die Denkmalfrage zu sein. Für uns Deut-
sche hängt dies unweigerlich zusammen. Schon die ge-
scheiterte Revolution von 1848 hatte versucht, beides
miteinander zu verknüpfen. Das Scheitern bedeutete
nicht nur eine Rückkehr zum monarchistischen und
landständischen Prinzip, sondern auch zum Zerfall unse-
res Landes in Dutzende souveräner Einzelstaaten. Die
bewegte deutsche Geschichte nach den Ereignissen von
1848/49 hat es – abgesehen von den wenigen erfolgrei-
chen Jahren der Weimarer Republik – nicht mehr ge-
schafft, diese beiden Ideen in positiver und stabiler
Weise miteinander zu verbinden.
Die friedliche Revolution von 1989 war es dann, die
nicht nur zur Einheit Deutschlands führte, sondern end-
lich für alle Deutschen die Freiheit brachte. Auch wenn
den geschichtlichen Ereignissen im Nachhinein eine ge-
wisse Folgerichtigkeit oder gar Zwangsläufigkeit beige-
messen werden mag, kann man wohl von einem glückli-
chen, wenn nicht sogar dem glücklichsten Moment in
unserer Geschichte sprechen.
Deutschland hat durch die Einheit seine volle Souve-
ränität wiedererlangt. Und manche Befürchtungen, die in
anderen Ländern mit der Wiedervereinigung laut wur-
den, haben sich nicht bestätigt. Gesamtdeutschland ist
gleichberechtigter und zuverlässiger Partner im Konzert
der friedlichen Völker Europas und der Welt geworden.
Berlin ist zudem der richtige Standort für das zentrale
Einheits- und Freiheitsdenkmal. Auch wenn der Ur-
sprung für die Umwälzungen in Leipzig lag, ist Berlin
doch zu einem zentralen Gedenkort für Deutschland ge-
worden. Warum nicht buchstäblich neben den Schrecken
des Nationalsozialismus auch an die positiven Ereignisse
in der deutschen Geschichte erinnern? Das ermöglicht
ein differenziertes Geschichtsbild, das die schlechten
Seiten nicht verschweigt, aber die guten auch nicht uner-
wähnt lässt.
Dies kann Leipzig nicht leisten. Ein alleiniges Denk-
mal in Leipzig könnte nicht auf die wechselvolle Ge-
schichte Deutschlands aufmerksam machen, sondern
würde als solitär empfunden werden. Das bedeutet – um
dies noch einmal klarzustellen – keine Missachtung ge-
genüber den Leipzigern. Daher befürworte ich, in Leip-
zig ebenfalls einen Gedenkort zu schaffen, der an den
Beginn der friedlichen Proteste gegen das SED-Regime
erinnert. Dieses Verdienst kommt den Leipzigern zugute,
und das werden wir ihnen auch nie vergessen. Und auch
der demokratische Neuanfang in schwieriger Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg verlangt aus meiner Sicht in
Bonn nach einem besonderen Ort des Gedenkens. Das
zentrale nationale Denkmal für Freiheit und Einheit ge-
hört aber nach Berlin, in unsere Hauptstadt, in die einst
geteilte Stadt mit weltweiter Symbolkraft, in eine Stadt,
die jährlich von Millionen Menschen aus der Welt be-
sucht wird und die gerade bei der Jugend Europas als
Reiseziel immer beliebter wird.
Der Standort gegenüber dem Stadtschloss könnte
kaum besser gewählt sein. Es bildet dann einen Kontra-
punkt zum wiedererrichteten Stadtschloss und unter-
streicht, dass die Fassade keinen Wunsch nach den guten
alten Zeiten verkörpert, sondern die beste städtebauliche
Lösung in der Auseinandersetzung mit der Geschichte
für diesen Ort ist. Die freiheitliche Demokratie zeigt an
dieser Stelle ihr Selbstbewusstsein.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands haben wir
ein neues Kapitel im Buch unserer Geschichte aufge-
schlagen. Aber wir tun dies in dem Bewusstsein, dass ein
Buch mehrere Kapitel hat und insofern Teil eines Gan-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20973
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zen ist. Mit dem Einheits- und Freiheitsdenkmal wollen
wir nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern wir wollen
die Gelegenheit nutzen, über alles Dunkle hinweg auch
an die guten Seiten der deutschen Geschichte zu erin-
nern. Das gegenwärtige Kapitel des wiedervereinigten
Deutschland kann nicht verstanden werden, ohne die
vorherigen Kapitel lesen zu können. Und eines dieser
unverzichtbaren Kapitel ist der Kampf der Deutschen für
Freiheit und Einheit. Ihn gilt es an zentraler Stelle in
Berlin sichtbar und begreifbar zu machen. Und heute
kommen wir der Verwirklichung dieses Zieles ein gan-
zes Stück näher.
Jetzt gibt es grünes Licht für die Ausschreibung des
Architektenwettbewerbs. Wir geben damit den Start-
schuss für die Debatte über das richtige Gedenken an
diesem Ort.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Die Debatte
über die Notwendigkeit und den Sinn eines Freiheits-
und Einheitsdenkmals haben wir bereits vor einem Jahr
an dieser Stelle geführt. Die Argumente dafür haben sich
seitdem nicht geändert: Die Deutschen sollten Orientie-
rung und Identität nicht nur aus der Erinnerung an die
katastrophalen Ereignisse deutscher Geschichte, sondern
auch aus der Erinnerung und Würdigung ihrer positiven
Aspekte gewinnen. Deshalb halte ich es nach wie vor für
sinnvoll, im Zentrum der Hauptstadt ein Denkmal zu er-
richten, das an die einzige erfolgreiche – und noch dazu
friedliche – Revolution in Deutschland erinnert. In mei-
ner Rede vom 9. November 2007 sprach ich von einem
Mahnmal historischen Glückes, das uns daran erinnert,
wie kostbar und verletzlich die Freiheit in Einheit ist.
Das Denkmal soll die freiheitlichen Bewegungen und
die Einheitsbestrebungen der letzten Jahrhunderte wür-
digen. An erster Stelle stehen dabei die friedliche Revo-
lution 1989 und die deutsche Einheit von 1990; sie ist
der Anlass und Bezugspunkt des Denkmalprojekts. Aber
auch die Revolutionen 1848/49 und 1918, der Volksauf-
stand von 1953 sollen Berücksichtigung finden. Ein ent-
sprechendes inhaltliches Konzept wurde vom Kultur-
staatsminister bereits im Frühjahr vorgelegt und vom
Kulturausschuss des Bundestages diskutiert und unter-
stützt.
Diese inhaltlichen Vorgaben an das Denkmal sind
eine beachtliche intellektuelle und künstlerische Heraus-
forderung. Um die Rezeption des Denkmals zu erleich-
tern, ist ein Ort der Information dringend notwendig.
Damit wurden bereits sehr gute Erfahrungen beim Holo-
caust-Denkmal gemacht. Ohne den Ort der Information
wären die Wirkung und die Anziehungskraft des Denk-
mals nur halb so groß. Dieser Informationsort soll die
Möglichkeit zur vertiefenden Beschäftigung mit der
deutschen Freiheitsgeschichte bieten. Außerdem lässt
sich hier Bezug nehmen zu den anderen Orten der fried-
lichen Revolution.
Als Standort für das Freiheits- und Einheitsdenkmal
ist der Sockel des früheren Kaiser-Wilhelm-Denkmals
auf der Schlossfreiheit im Herzen Berlins vorgesehen.
Darüber wurde in diesem Jahr bereits heftig diskutiert.
Natürlich soll mit der Wahl des Standortes gerade nicht
an die wilhelminische Tradition angeknüpft werden. Der
Reiz des Ortes besteht doch darin, ihn im Brecht’schen
Sinne umzufunktionieren und eine neue Bedeutung zu
geben im vollen Bewusstsein seiner historischen Bedeu-
tung. Es ist eine durchaus faszinierende Vorstellung, an
diesem Ort an die Einheit in Freiheit und Freiheit in Ein-
heit zu erinnern, die die Deutschen mit der friedlichen
Revolution 1989 errungen haben – nachdem in der deut-
schen Geschichte Einheit und Freiheit so oft auf un-
glückliche Weise getrennt waren, ja in Widerspruch zu-
einander standen. Für diesen Ort spricht auch, dass es
sich – sobald der Entwurf des Architekten Stella für das
Humboldt-Forum umgesetzt ist – um einen attraktiven
und kommunikativen Ort handeln wird. Der Vorteil des
Sockels besteht darin, dass die Fläche klar definiert und
begrenzt ist, was eindeutige Vorgaben für den Wettbe-
werb erlaubt.
Die friedliche Revolution war kein Berliner Ereignis;
in vielen Städten der DDR sind die Menschen für Frei-
heit und Demokratie auf die Straße gegangen und haben
dabei Zivilcourage, staatsbürgerlichen Mut bewiesen un-
ter großem persönlichem Risiko. Von entscheidender
Bedeutung war die große Montagsdemonstration in
Leipzig am 9. Oktober 1989. Deshalb soll auch in Leip-
zig der „Beitrag der Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt
zur friedlichen Revolution auf angemessene und sicht-
bare Weise“ gewürdigt werden, wie es im Antrag heißt.
Diese Würdigung kann nur gemeinsam mit dem Land
Sachsen und der Stadt Leipzig erfolgen, genauso wie
auch bei den Planungen und der Umsetzung des Frei-
heits- und Einheitsdenkmals in der Hauptstadt sowohl
das Land Berlin als auch die Deutsche Gesellschaft be-
teiligt sind, von der die Initiative für das Denkmal ausge-
gangen ist. Berlin stellt das Grundstück zur Nutzung zur
Verfügung und beteiligt sich an der Sanierung des Denk-
malsockels. Von der Idee eines korrespondierenden
Denkmals oder eines Denkmalpaares – wie es in der bis-
herigen Debatte vorgeschlagen wurde – halte ich nicht
viel, weil es künstlerisch kaum realisierbar wäre und die
Bedeutung der Bürgerinnen und Bürger negieren würde,
die in all den anderen Orten der ehemaligen DDR de-
monstrierten und sich großen Risiken aussetzten.
Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
hat in seiner Sitzung am 20. November 2008 beschlos-
sen, insgesamt 15 Millionen Euro für das Freiheits- und
Einheitsdenkmal zur Verfügung zu stellen – eine erheb-
lich höhere Summe als ursprünglich vorgesehen. Daraus
sollen sowohl der Informationsort als auch die Würdi-
gung der friedlichen Revolution in Leipzig finanziert
werden.
Die Debatte um die Errichtung des Denkmals hat sich
aufgrund der Feststellung des Sanierungsaufwandes des
Sockels und der Haushaltsverhandlungen verzögert. Es
ist aus meiner Sicht gar nicht wichtig, ob in einem Jahr
bereits die Grundsteinlegung erfolgt. Wichtiger ist es,
dass ein gelungenes Konzept gefunden und verwirklicht
wird. Die Diskussion um den geeignetsten Entwurf kann
und sollte der Selbstverständigung der Deutschen die-
nen. Sie kann – wie die langjährige Debatte um das Ho-
locaust-Mahnmal gezeigt hat – dem Denkmal nur nut-
zen.
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Jetzt gilt es, keine weitere Zeit zu verlieren und mit
der Ausschreibung des Wettbewerbs zu beginnen. Ich
freue mich und bin schon sehr gespannt auf die Ergeb-
nisse.
Christoph Waitz (FDP): Mit dem heutigen gemein-
samen Antrag der Großen Koalition und meiner Fraktion
legen wir eine weitere Etappe auf dem Weg zu unserem
Freiheits- und Einheitsdenkmal an einem besonderen Ort
im Herzen Berlins zurück. Wir machen den Weg frei, da-
mit möglichst bald über die Gestalt des Denkmals eine
Entscheidung getroffen werden kann. Wenn wir den
Zeitplan einhalten, wird das zum Zieldatum im Novem-
ber 2009 erfolgen.
Wir alle wissen, dass es sich bei diesem Projekt um
ein Vorhaben handelt, mit dem wir hier in Berlin nicht
nur einen Ort und den Rahmen schaffen, der friedlichen
Revolution von 1989 und der Wiedervereinigung
Deutschlands zu gedenken. Nach dem Beschluss des
Deutschen Bundestages thematisieren wir mit diesem
Denkmal nicht nur die Entwicklung in der ehemaligen
DDR, die zur wiedergewonnenen Einheit geführt hat.
Wir wollen mit dem Denkmal auch an die Geschichte
der deutschen Freiheitsbewegungen seit dem 19. Jahr-
hundert erinnern.
Ein solches Denkmal für den Ort der Schlossfreiheit
vor dem Humboldt-Forum mit seinen neobarocken
Schlossfassaden entstehen zu lassen, ist eine Herausfor-
derung für jeden Wettbewerbsteilnehmer. Es geht nicht
nur darum, einen überzeugenden Gestaltungsentwurf zu
finden, der der Freiheitsidee Ausdruck verleiht, sondern
gleichzeitig eine Gestaltung zu finden, die die Aspekte
von Einheit und Freiheit in sich aufnimmt. Hinzu
kommt, dass dieses Denkmal mit seiner unmittelbaren
Umgebung – gerade mit dem Humboldt-Forum – harmo-
nieren und kommunizieren muss.
Gleichzeitig ist der Ort dieses Denkmals nicht belie-
big. Hier stand das Reiterdenkmal von Wilhelm I., eines
Vertreters des preußischen Königshauses, der für die
Niederschlagung der süddeutschen Freiheitsbewegungen
von 1848 und die Beseitigung der Paulskirchenver-
sammlung, der ersten demokratisch gewählten Ver-
sammlung, stand. Damit überdauert die Freiheit auch
symbolisch eine Zeit der Unterdrückung von Freiheits-
bewegungen in Deutschland. Das Podest und Fundament
des künftigen Freiheits- und Einheitsdenkmals stehen
unter Denkmalsschutz. Nach seiner Rekonstruktion wer-
den hier zwangsläufig ein Kommentar und Bezugspunkt
des Denkmals liegen.
Sie sehen, dass dieser Ort mit seiner Geschichte, dem
neuen teilrekonstruierten Stadtschloss und dem nicht
mehr existierenden Palast der Republik für die Denk-
malsschöpfer eine große Herausforderung ist. Gleichzei-
tig ist es aber auch der Ort in Berlin, der sich trefflich da-
für eignet, über deutsche Geschichte im 19. und
20. Jahrhundert nachzudenken, in diesem Falle gerade
auch über den glücklichen vorläufigen Abschluss, den
das 20. Jahrhundert für uns aus deutscher Sicht mit der
wiedergewonnenen Einheit gefunden hat.
Denkmäler werden regelmäßig mit historischem Ab-
stand gebaut. Sie deuten eine geschichtliche Entwick-
lung und versuchen eine Wertung. Zwangsläufig werden
sie damit auch Ort der Auseinandersetzung über ge-
schichtliche Bewertungen. An dieser Schnittstelle in der
Mitte Berlins wäre es in meinen Augen daher positiv,
wenn es uns gelänge, einen Rahmen zu schaffen, der ein
Gespräch über deutsche Freiheits- und „Befreiungs“be-
wegungen ermöglicht und Platz für Diskussionen und
Auseinandersetzungen lässt, also nicht nur Platz des Fei-
erns und der Freude, sondern ein historischer Ort, der
auch das Scheitern und die Vergeblichkeit unserer Mü-
hen mitbehandelt.
Der jetzt vorliegende Beschluss ist in der Frage eines
Denkmals in oder für Leipzig zu einem guten Ergebnis
gekommen. Denn er lässt die Möglichkeit zu, unter fi-
nanzieller Beteiligung des Bundes mit dem Land Sach-
sen und der Stadt Leipzig ein eigenständiges Denkmal
zu errichten; ein Denkmal, das der Entwicklung bis zu
den Demonstrationen im September und Oktober 1989
in Leipzig, aber auch an anderen Orten in der damaligen
DDR gerecht wird; ein Denkmal, das nicht wie das Frei-
heits- und Einheitsdenkmal in vielfacher Weise mit Be-
deutungen aufgeladen ist; ein Denkmal, das vielmehr
den Bürgern und Bürgerinnen aus Leipzig und aus ande-
ren Orten der DDR ein Gesicht geben könnte. Der fried-
lichen Revolution fehlt nicht umsonst ein Held oder eine
Heldin. Es war nicht ein konkreter Einzelner, der diesen
geschichtlichen Moment gestaltet hat. Es waren Zehn-
tausende Bürger und Bürgerinnen, die keinen stummen,
aber einen gewaltfreien Protest zu einem guten Ende ge-
führt haben. Dafür gebührt ihnen dieses Denkmal, ein
Denkmal für die Tausenden von Menschen und für die-
sen besonderen geschichtlichen Moment am 9. Oktober
1989 in Leipzig, den sie mit ihrer Zivilcourage gestaltet
haben.
Und wem von uns die Ereignisse in Leipzig nicht
mehr vor Augen stehen, dem empfehle ich die Darstel-
lung von Hartmut Zwahr „Ende einer Selbstzerstörung –
Leipzig und die Revolution in der DDR“. Nüchtern und
teilweise chronistisch beschreibt Zwahr den Leipziger
Lauf der Geschichte. Eine Beschreibung, deren Sog man
sich nicht entziehen kann.
Die Zeitzeugen sterben zwangsläufig. Damit wird Er-
innerung aus erster Hand unmöglich. Das Freiheits- und
Einheitsdenkmal ist unsere Chance, über die Lebens-
spanne einer einzelnen Generation hinaus an den Kampf
für Einheit und Freiheit zu erinnern. Das Freiheits- und
Einheitsdenkmal soll uns aber auch daran erinnern, wie
unsere individuellen Freiheitsrechte erkämpft wurden.
Für deren Sicherung und ihren Bestand sind wir gemein-
sam verantwortlich. Freiheitsrechte der Individuen und
Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit befinden sich
auch heute in einem Spannungsverhältnis. Aktuelle
Stichworte dazu sind die Vorratsdatenspeicherung oder
das BKA-Gesetz. Sie machen deutlich, dass es nicht ge-
nügt, der Freiheit Denkmäler zu bauen, sondern dass wir
uns in der täglichen Arbeit für Freiheitsrechte einsetzen
müssen.
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Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Nun wird
es ernst. Als Zusatzpunkt zur nächtlichen Tagesordnung
wird nun Deutschlands wichtigstes Denkmal der
Jetztzeit auf Deutschlands wichtigstem Platz, dem
Schlossplatz, und auf Deutschlands teuerstem Sockel,
der 10-Millionen-Euro-Erhebung, auf der früher Kaiser
Wilhelm I. stand, gesetzlich fundiert und finanziert. Die
Koalitionsparteien und die FDP haben das so beschlos-
sen – ein Konstrukt, das an die friedliche Revolution im
Herbst 1989 einerseits und andererseits an die Wieder-
erlangung der deutschen Einheit 1990 erinnern – und
zudem noch „eingebettet“ werden soll in die deutsche
Freiheits- und Einheitsgeschichte des 19. und
20. Jahrhunderts.
Wer die friedliche Revolution im Herbst 1989 mit der
Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands
1990 in eins setzt, wird diesem Erbe nicht gerecht, weil
beide Vorgänge zwei Stufen eines komplexen internatio-
nalen, historischen Prozesses darstellen, die nicht unmit-
telbar aufeinander bezogen werden können. Diese Revo-
lution mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ ist singulär in
der deutschen Geschichte, sodass sie erst recht nicht mit
den freiheitlichen Bewegungen und Einheitsbestrebun-
gen der vergangenen Jahrhunderte vermengt werden
kann. Ich habe schon einmal festgestellt, dass dieses
Vorhaben einer Verwischtechnik entspricht, die alles
Mögliche zusammenbringen will, ohne zu fragen, ob das
überhaupt geht. Aber das macht nichts, Hauptsache wir
bekommen ein Denkmal in Berlin, Kostenpunkt mit So-
ckel 15 Millionen Euro. Das nenne ich dreiste Ver-
schwendung in schwerer Zeit.
Und dann „würdigen wir gemeinsam mit dem Land
Sachsen und der Stadt Leipzig den Beitrag der Bürgerin-
nen und Bürger dieser Stadt zur friedlichen Revolution
auf angemessene und sichtbare Weise“. Da kann man
sehr gespannt sein, wie dies wohl geht: fern wirkend
oder virtuell oder mit Hinweisschildern und lieber doch
nur verbal.
Die Fraktion Die Linke hat ein Erinnern an Leipzig in
Leipzig vorgeschlagen: Erinnern an diejenigen, die oft
unter großer persönlicher Gefahr Demokratie und Frei-
heit in der DDR einforderten, Erinnern an die Abertau-
send Bürger und Bürgerinnen in Leipzig, die demon-
striert, protestiert, geredet und andere überzeugt haben,
Erinnern an diejenigen, die in den Kasernen und Polizei-
wachen geblieben sind und dafür gesorgt haben, dass die
Demokratie ohne Blutvergießen begann. Und da aus un-
serer Sicht eine solche unblutige Revolution keinen
herkömmlichen Denkmalkult erlaubt, möchten wir in
Leipzig ein Denkzeichen zusammen mit einem „Ort der
Information“ und einem „aktiven Museum“ errichtet se-
hen, welches den Nachgeborenen die grundsätzliche
Auseinandersetzung mit der Idee der Freiheit eröffnet.
Vergeblich bisher. Vielleicht wird eines Tages dennoch
dieser Vorschlag aufgenommen, nach ausführlicher, groß
angelegter Diskussion im ganzen Land. Das wäre dann
wirklich etwas anderes als diese klandestine Vollzugs-
nummer heute am frühen Morgen, der wir entschieden
unsere Zustimmung verweigern.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ein Denkmal für Freiheit und Einheit in Berlin ist
ein großes und ehrbares Unterfangen. Ein Platz, an dem
wir uns der guten Momente unserer Geschichte erinnern
können, aus dem Inspiration erwächst, an dem Debatten
angestoßen werden über Freiheit, über Demokratie, über
die Wiedergewinnung der Einheit und wie wir mit ihr
umgehen.
Viele honorable Persönlichkeiten haben sich zu dem
Denkmalprojekt geäußert. Bereits vor mehr als einem
Jahr hat der Bundestag dann quasi über Nacht beschlos-
sen, ein solches Denkmal 2009 zu errichten. Wir haben
damals gesagt: Ein Denkmal, das an die friedliche Revo-
lution erinnern soll, an den demokratischen Urruf „Wir
sind das Volk“, kann nicht einfach von oben verordnet
werden. Wir brauchen dafür eine breite Debatte, an der
sich viele beteiligen können, in der über das Ob und über
das Wie eines so ernsthaften Anliegens diskutiert wird,
in der der demokratische Impuls von unten ernst genom-
men wird. Denn es zeichnet doch die Genese von Denk-
mälern aus, dass gerade die Debatte über die Errichtung
ebenso wichtig sein kann für die eigene Selbstverständi-
gung wie das errichtete Denkmal selbst. Ich halte das
noch immer für einen ganz zentralen Punkt. Doch die
Mehrheit im Hause hat sich damals dagegen und statt-
dessen für ein Hauruckverfahren entschieden.
Und heute? Obwohl die von uns eingeforderte breite
Diskussion nun weitestgehend ausblieb, ist der von der
Koalition vorgelegte Zeitplan längst Makulatur gewor-
den. In dem uns jetzt vorliegenden Antrag wird die Aus-
schreibung eines Gestaltungswettbewerbs gefordert, der
vor mehr als einem halben Jahr schon hätte beginnen
sollen. Das liegt nun aber gerade nicht etwa daran, dass
eine intensive Denkmalsdebatte stattgefunden hätte; das
liegt daran, dass die Kosten entgegen aller uns bisher
präsentierten Zahlen Stück für Stück immer weiter in die
Höhe geschraubt worden sind. Noch im Sommer wurden
5 Millionen Euro genannt. Heute entscheidet der Bun-
destag mal eben über das Dreifache der ursprünglichen
Kalkulation.
Diese Nachlässigkeiten bei einem Denkmal, das si-
cher nicht nur in Deutschland, sondern weit darüber hi-
naus für Schlagzeilen sorgen wird, dienen nicht dazu,
Vertrauen aufzubauen. Ein Denkmal von solcher Trag-
weite ist nicht nebenbei zu machen, und der heute vorlie-
gende Antrag zeigt nicht unbedingt, dass aus den bishe-
rigen Fehlern viel gelernt wurde.
Warum etwa muss ein Denkmal für Freiheit und Ein-
heit trotz aller Kritik und trotz der enormen Kostenstei-
gerungen auf dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Sockel er-
richtet werden? Sollte es uns nicht um die Erinnerung an
friedliche Revolution und demokratische Erneuerung ge-
hen statt um Referenzen an ein Nationaldenkmal preu-
ßisch-militaristischer Geschichte? Es gibt gute Alterna-
tivvorschläge, nicht zuletzt den Pariser Platz, die kaum
näher beleuchtet wurden. Hier wäre ein wahrhaft histori-
scher Ort, ganz in der Nähe des Brandenburger Tores,
das nicht nur für die Teilung Deutschlands, sondern ganz
Europas stand. Hier ließe sich auch deutlich machen,
20976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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dass die deutsche Einheit untrennbar verbunden ist mit
den Freiheitsbewegungen und Umwälzungen in Ost-
europa. Denn ein Denkmal für Freiheit und Einheit kann
darauf nicht verzichten: auf die Einbettung dieser Be-
griffe in historische Zusammenhänge und auf den Raum
für die Diskussion über die Zukunft dieser Werte.
Doch auch hier bleibt der vorliegende Antrag unklar:
Die Einrichtung eines „Informationsortes“ soll „geprüft“
werden, Ausgang offen. In der ursprünglichen Vorlage
wurde sogar die Nutzung des Kaiser-Wilhelm-Sockel-
Gewölbes vorgeschlagen. Was für eine Vorstellung: Die
Erinnerung an die lichten Momente unserer Geschichte
in einem Bunker!
2009 wird ein herausragendes Gedenkjahr, gerade
auch für Bündnis 90/Die Grünen. Die Erinnerung an die
demokratischen und bürgerschaftlichen Bewegungen,
die die friedliche Revolution maßgeblich prägten, soll
eine zentrale Rolle spielen ebenso wie die Diskussion
über die Zukunft der damals errungenen Freiheiten. Ob
das uns hier vorgelegte Verfahren zum Freiheits- und
Einheitsdenkmal viel zu dazu beitragen wird, da mehren
sich jedoch leider die Zweifel.
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
n
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2
193. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21