1) Anlage 8
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20903
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung
        durch Wachstumsstärkung“ setzt in einigen PunktenKunert, Katrin DIE LINKE 04.12.2008
        zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen
        des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssiche-
        rung durch Wachstumsstärkung“ (Tagesord-
        nungspunkt 4)
        Höfer, Gerd SPD 04.12.2008
        Hörster, Joachim CDU/CSU 04.12.2008*
        Krichbaum, Gunther CDU/CSU 04.12.2008
        Anlage 1
        Liste der entschuldi
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Adam, Ulrich CDU/CSU 04.12.2008*
        Bareiß, Thomas CDU/CSU 04.12.2008
        Barnett, Doris SPD 04.12.2008*
        Barth, Uwe FDP 04.12.2008
        Bartsch, Dietmar DIE LINKE 04.12.2008
        Bellmann, Veronika CDU/CSU 04.12.2008
        Binding (Heidelberg),
        Lothar
        SPD 04.12.2008
        Blumentritt, Volker SPD 04.12.2008
        Bodewig, Kurt SPD 04.12.2008*
        Bollen, Clemens SPD 04.12.2008
        Burchardt, Ulla SPD 04.12.2008
        Deittert, Hubert CDU/CSU 04.12.2008*
        Dzembritzki, Detlef SPD 04.12.2008*
        Ferner, Elke SPD 04.12.2008
        Fischer (Karlsruhe-
        Land), Axel E.
        CDU/CSU 04.12.2008*
        Friedhoff, Paul K. FDP 04.12.2008
        Gabriel, Sigmar SPD 04.12.2008
        Dr. Geisen, Edmund
        Peter
        FDP 04.12.2008
        Gloser, Günter SPD 04.12.2008
        Günther (Plauen),
        Joachim
        FDP 04.12.2008
        Hänsel, Heike DIE LINKE 04.12.2008
        Haibach, Holger CDU/CSU 04.12.2008*
        Heynemann, Bernd CDU/CSU 04.12.2008*
        *
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        gten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
        ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der OSZE
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Marco Bülow, Heinz Schmitt
        (Landau), Petra Bierwirth (alle SPD) zur
        Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
        Dr. Lauterbach, Karl SPD 04.12.2008
        Lintner, Eduard CDU/CSU 04.12.2008*
        Polenz, Ruprecht CDU/CSU 04.12.2008
        Raidel, Hans CDU/CSU 04.12.2008**
        Reichenbach, Gerold SPD 04.12.2008
        Dr. Reimann, Carola SPD 04.12.2008
        Roth (Augsburg),
        Claudia
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        04.12.2008
        Roth (Esslingen), Karin SPD 04.12.2008
        Schily, Otto SPD 04.12.2008
        Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 04.12.2008
        Schmidt (Nürnberg),
        Renate
        SPD 04.12.2008
        Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 04.12.2008
        Dr. Schwanholz, Martin SPD 04.12.2008
        Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        04.12.2008
        Weisskirchen
        (Wiesloch), Gert
        SPD 04.12.2008**
        Wicklein, Andrea SPD 04.12.2008
        Dr. Wiefelspütz, Dieter SPD 04.12.2008
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        20904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        wichtige Anreize für die Ankurbelung der Binnennach-
        frage und für die Stützung der Konjunktur. Damit leistet
        der Bund einen Beitrag, den Auswirkungen der inter-
        nationalen Finanzkrise entgegenzuwirken. Begrüßens-
        wert sind beispielsweise die Maßnahmen für bessere
        Abschreibungsbedingungen und eine bessere Absetzbar-
        keit von Handwerkerleistungen. Die Aufstockung des
        CO2-Gebäudesanierungsprogramms ist ein wichtiger
        Impuls für umwelt- und klimafreundliche Investitionen.
        Die im Gesetzentwurf enthaltene befristete Kfz-Steu-
        erbefreiung ist nicht zielführend. Es ist vorgesehen, für
        Neufahrzeuge, die zwischen dem 5. November 2008 und
        dem 30. Juni 2009 zugelassen wurden oder noch zuge-
        lassen werden, die Kfz-Steuer für ein Jahr zu erlassen.
        Erfüllen sie die Pkw-Euro-5-Norm oder Euro-6-Norm,
        so ist die Kfz-Steuer zwei Jahre lang nicht zu entrichten.
        Angesichts der hohen Kaufpreise für Neuwagen, fällt
        eine Steuerbefreiung nicht dermaßen ins Gewicht, dass
        dadurch die momentan herrschende Kaufzurückhaltung
        überwunden werden könnte. Vielmehr ist davon auszu-
        gehen, dass die Steuerbefreiung nur von denjenigen als
        staatlicher Nachlass mitgenommen wird, die ohnehin be-
        reits geplant hatten, einen Neuwagen zu erwerben. Inso-
        fern kommt diese Maßnahme in erster Linie gut situier-
        ten Personen zugute, die beim Kauf eines Autos im Wert
        von mehreren 10 000 Euro, nicht auf die Hilfe des Staa-
        tes angewiesen sind. Zudem fällt die Steuererleichterung
        beim Erwerb eines teueren Geländewagens mit großem
        Motor und hohem Spritverbrauch höher aus, als beim
        Kauf eines Kleinwagens mit geringem Benzinverbrauch.
        Diese Initiative ist damit unsozial und ökologisch kon-
        traproduktiv.
        Obendrein entfaltet eine generelle Steuerbefreiung
        umweltpolitisch die falsche Lenkungswirkung, um den
        Kauf verbrauchs- und schadstoffarmer Pkw zu fördern.
        Alternativen standen zur Verfügung und wurden von
        Umweltpolitikern mehrmals in die Diskussion gebracht.
        Dringend benötigt – und dies ist unbestritten – wird vor
        allem die zeitnahe Umstellung der Kfz-Steuerberech-
        nung auf Basis des CO2-Ausstoßes. Sollte nach dem Ab-
        lauf des eingeführten befristeten generellen Steuererlas-
        ses im Sommer 2009 keine soziale und ökologische
        Anschlussregelung getroffen werden, so würde dies be-
        deuten, dass ab Juli 2009 der alte Gesetzesstand wieder
        eintreten wird, wonach Kraftfahrzeuge steuerlich nach
        ihrem Hubraum und nicht nach ihrem Schadstoffausstoß
        bemessen werden. Damit würden wir eine große Chance
        vergeben, ein Signal zu setzen, das nicht nur konjunktur-
        politisch, sondern auch umweltpolitisch geeignet wäre,
        die derzeitige Kaufzurückhaltung tatsächlich zu über-
        winden. Insgesamt ist es notwendig ein Zukunftsinvesti-
        tionsprogramm zu entwickeln, welches die Chance
        nutzt, der abschwächenden Konjunktur zu begegnen und
        dabei ökologisch und sozial ausgerichtet ist.
        Von der Weltbank über die UNEP bis hin zu einzelnen
        Ökonomen wir die Forderung nach einem Green New
        Deal immer lauter. Deutschland sollte dabei ein Vorreiter
        sein und nicht Beschlüsse fassen, die ökonomisch nichts
        bringen und den notwendigen Klimaschutz ausbremsen.
        Dies sollten wir bei unseren zukünftigen Programmen
        berücksichtigen. Weil das Programm aber auch positive
        Bestandteile besitzt und es sich dabei um keine Gewis-
        sensentscheidung handelt, werde ich dem Gesetz den-
        noch zustimmen.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Martin Burkert, Frank
        Schwabe, Dirk Becker, Marko Mühlstein, Detlef
        Müller (Chemnitz), Dr. Matthias Miersch,
        Christoph Pries und Gerd Bollmann (alle SPD)
        zur Abstimmung über den Entwurf eines
        Gesetzes zur Umsetzung steuerrechtlicher Re-
        gelungen des Maßnahmenpakets „Beschäfti-
        gungssicherung durch Wachstumsstärkung“
        (Tagesordnungspunkt 4)
        Das Maßnahmenpaket „Beschäftigungssicherung
        durch Wachstumsstärkung“ setzt in vielen Punkten rich-
        tige Anreize für die Ankurbelung der Binnennachfrage
        und für die Stützung der Konjunktur. Damit leistet der
        Bund einen wichtigen Beitrag, den Auswirkungen der
        internationalen Finanzkrise entgegenzuwirken. Wir be-
        grüßen ausdrücklich die im vorliegenden Gesetzentwurf
        vorgesehenen Maßnahmen für bessere Abschreibungs-
        bedingungen und eine bessere Absetzbarkeit von Hand-
        werkerleistungen. Diese Regelungen sind geeignet, die
        drohende Konjunkturschwäche rasch zu überwinden, in-
        dem Anreize für Investitionen geschaffen werden. In
        diesem Sinne sind auch weitere Elemente des gesamten
        Maßnahmenpakets positiv zu würdigen. So wird bei-
        spielsweise durch die Aufstockung des CO2-Gebäude-
        sanierungsprogramms ein wichtiger Impuls für umwelt-
        und klimafreundliche Investitionen gesetzt. Daher wer-
        den wir dem Gesetzentwurf zustimmen.
        Gleichwohl halten wir die im Gesetzentwurf enthal-
        tene befristete Kfz-Steuerbefreiung für nicht zielführend.
        Es ist vorgesehen, für Neufahrzeuge, die zwischen dem
        5. November 2008 und dem 30. Juni 2009 zugelassen
        wurden oder noch zugelassen werden, die Kfz-Steuer für
        ein Jahr zu erlassen. Erfüllen sie die Pkw-Euro-5-Norm
        oder -Euro-6-Norm, so ist die Kfz-Steuer zwei Jahre
        lang nicht zu entrichten.
        Angesichts der hohen Kaufpreise für Neuwagen fällt
        eine Steuerbefreiung nicht dermaßen ins Gewicht, dass
        dadurch die momentan herrschende Kaufzurückhaltung
        überwunden werden könnte. Vielmehr ist davon auszu-
        gehen, dass die Steuerbefreiung nur von denjenigen als
        staatlicher Nachlass mitgenommen wird, die ohnehin be-
        reits geplant hatten, einen Neuwagen zu erwerben. Inso-
        fern kommt diese Maßnahme in erster Linie gut situier-
        ten Personen zugute, die beim Kauf eines Autos im Wert
        von mehreren 10 000 Euro nicht auf die Hilfe des Staa-
        tes angewiesen sind. Zudem fällt die Steuererleichterung
        beim Erwerb eines teueren Geländewagens mit großem
        Motor und hohem Spritverbrauch höher aus als beim
        Kauf eines Kleinwagens mit geringem Benzinverbrauch.
        Aus verteilungspolitischer Sicht schlägt diese Initiative
        somit bereits aus diesem Grund fehl.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20905
        (A) (C)
        (B) (D)
        Obendrein entfaltet eine generelle Steuerbefreiung
        umweltpolitisch die falsche Lenkungswirkung, um den
        Kauf verbrauchs- und schadstoffarmer Pkw zu fördern.
        In diesem Sinne wären sofort umsetzbare Alternativen
        durchaus denkbar gewesen. Neben der Kfz-Steuerbefrei-
        ung bedarf es ergänzender Instrumente, beispielsweise
        einer Abwrackprämie, mit der alte Autos mit hohem
        Schadstoffausstoß durch sparsamere Modelle ersetzt
        werden. Dringend benötigt – und dies ist unbestritten –
        wird vor allem die zeitnahe Umstellung der Kfz-Steuer-
        berechnung auf Basis des CO2-Ausstoßes. Sollte nach
        dem Ablauf des eingeführten befristeten generellen
        Steuererlasses im Sommer 2009 keine soziale und öko-
        logische Anschlussregelung getroffen werden, so würde
        dies bedeuten, dass ab Juli 2009 der alte Gesetzesstand
        wieder eintreten wird, wonach Kraftfahrzeuge steuerlich
        nach ihrem Hubraum und nicht nach ihrem Schadstoff-
        ausstoß bemessen werden. Damit würden wir eine große
        Chance vergeben, ein Signal zu setzen, das nicht nur
        konjunkturpolitisch, sondern auch umweltpolitisch ge-
        eignet wäre, die derzeitige Kaufzurückhaltung tatsäch-
        lich zu überwinden.
        Wir würdigen ausdrücklich, dass sich die SPD-Frak-
        tion damit durchsetzen konnte, die Kfz-Steuerbefreiung
        auf sechs Monate zu begrenzen. Trotz dieser Kritik wer-
        den wir dem Gesetzentwurf aus den anfangs genannten
        Gründen zustimmen, verbinden unser Votum aber mit
        dem Appell, dass zügig an der Umsetzung einer CO2-ba-
        sierten Kfz-Steuer gearbeitet wird. In diesem Zusam-
        menhang appellieren wir auch an die Bundesländer, ihre
        Zurückhaltung in den Verhandlungen mit dem Bund auf-
        zugeben und den Weg hierfür freizumachen.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Lale Akgün, Klaus Bar-
        thel, Clemens Bollen, Willi Brase, Angelika
        Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel,
        Dr. Reinhold Hemker, Christian Kleiminger,
        Rolf Kramer, Lothar Mark, Hilde Mattheis,
        Andrea Nahles, Rene Röspel, Ottmar Schreiner,
        Swen Schulz (Spandau), Christoph Strässer,
        Andreas Steppuhn, Jella Teuchner, Rüdiger Veit
        und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD)
        zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
        zes zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen
        des Maßnahmenpakets „Beschäftigungssiche-
        rung durch Wachstumsstärkung“ (Tagesord-
        nungspunkt 4)
        In Anbetracht der weltweiten Rezession müssen alle
        politischen Ebenen rasch, gezielt und kraftvoll handeln,
        um die Wirtschafts- und Finanzkreisläufe in Gang zu
        halten, die Wachstumskräfte zu stärken und Beschäfti-
        gung zu sichern.
        Daher haben Bundesregierung und Parlament weitrei-
        chende Mittel und Instrumente zur Stabilisierung der Fi-
        nanzmärkte durchgesetzt (500-Milliarden-Programm).
        Nunmehr geht es um das Maßnahmenpaket „Beschäfti-
        gungssicherung durch Wachstumsstärkung“ und seine
        steuerlichen Komponenten.
        Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner stimmen
        diesen Gesetzen als wichtigen ersten Schritten zur Kri-
        senbekämpfung zu.
        Angesichts der Dimensionen der beginnenden Welt-
        wirtschaftskrise und ihrer Ursachen, angesichts des weg-
        brechenden deutschen Exports und der anhaltenden
        binnenwirtschaftlichen Nachfrageschwäche reichen die
        bisherigen Schritte bei weitem nicht aus. Wenn nicht
        massiv gegengesteuert wird, drohen anhaltende Stagna-
        tion, Massenarbeitslosigkeit und Deflation.
        Die Folgen für die Einkommensentwicklung breiter
        Bevölkerungsschichten, für sämtliche öffentlichen Haus-
        halte einschließlich der Sozialversicherungen sowie für
        die Zukunftschancen unserer Gesellschaft und Wirt-
        schaft wären dramatisch.
        Deshalb brauchen wir einen europaweit abgestimm-
        ten und verstärkten Investitions- und Konjunkturpakt
        von Bund, Ländern und Kommunen. Da für deren Hand-
        lungsfähigkeit große finanzielle Ressourcen notwendig
        sind, wäre eine dauerhaft wirkende Absenkung der Steu-
        erquote kontraproduktiv. Wir plädieren jedoch dringend
        für eine Umschichtung der Steuerlasten.
        Der Rezession muss also schnell, gezielt und massiv
        auf zwei Wegen begegnet werden:
        Sowohl zur möglichst wirksamen Stärkung der Bin-
        nennachfrage als auch aus Gründen sozialer Gerechtig-
        keit brauchen wir eine gezielte Stützung der unteren und
        mittleren Einkommen, um in dieser Krise der bereits in
        den letzten Jahren registrierten zunehmenden Kluft der
        Einkommens- und Vermögensverteilung entgegenzuwir-
        ken.
        Wir brauchen ein umfassendes, auf zehn Jahre ange-
        legtes und schnell wirksames Programm zur massiven
        Ausweitung der öffentlichen und privaten Investitionen
        mit einem Volumen von rund 2 Prozent des Brutto-
        inlandprodukts, also circa 50 Milliarden Euro im ersten
        Jahr.
        Eine Gesamtstrategie, die auch die Ursachen der
        Krise korrigiert, muss – um wirksam zu sein – folgende
        Maßnahmen umfassen:
        Neujustierung der Progression der Einkommensteuer.
        Die unteren und mittleren Einkommen müssen von der
        kalten Progression entlastet und der steuerliche Grund-
        freibetrag muss angehoben werden. Höchste Einkom-
        men hingegen müssen stärker belastet werden. Dazu be-
        darf es der Anhebung des Spitzensteuersatzes und einer
        Wiedereinführung der ausgesetzten Vermögensteuer, ei-
        ner europaweiten Harmonisierung der Kapital- und Un-
        ternehmensteuern einschließlich der Börsenumsatz-
        steuer, Mindeststeuersätze in diesem Bereich sowie einer
        konsequenten Beseitigung der Steueroasen.
        – Ermäßigte Mehrwertsteuer auf Arzneimittel,
        – die zügige Einführung des gesetzlichen und flächen-
        deckenden Mindestlohns,
        – eine expansive Lohnpolitik, flankierende Maßnahmen
        für Menschen in prekären Lebensverhältnissen wie
        20906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        zum Beispiel Prävention und ein Aktionsplan gegen
        Überschuldung,
        – Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze einschließlich ei-
        nes eigenständigen Regelsatzes für Kinder.
        Investitionen sind entscheidend für Standortqualität
        und Zukunftsfähigkeit. Mit nur 4,3 Prozent Anteil der
        öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt
        lag Deutschland im Jahre 2004 auf dem viertletzten Platz
        der EU-27-Länder und bei den Infrastrukturinvestitionen
        mit nur 1,6 Prozent auf dem zweitletzten Platz. Die deut-
        schen Ausgaben liegen um einen Prozentpunkt unter
        dem EU-Schnitt von 2,5 Prozent des Bruttoinlandspro-
        dukts. Dieser andauernde Entzug von öffentlichen Mit-
        teln hat bereits zu einem erheblichen und schleichenden
        Verfall der Substanz unserer Verkehrsinfrastruktur, bei
        den öffentlichen Gebäuden und Plätzen, im Bildungssys-
        tem und im Gesundheitsbereich geführt; von Moderni-
        sierungsdefiziten ganz zu schweigen.
        Insbesondere folgende Initiativen sollen verstärkt
        werden:
        Die Politik des Energiesparens und der Hebung der
        Energieeffizienz muss mit Nachdruck fortgesetzt wer-
        den. Dabei sind besonders Energiesparmaßnahmen im
        Bereich der Raumwärme bei privaten Wohngebäuden
        und öffentlichen Gebäuden zu fördern. Neben der Wir-
        kung auf die Energieeinsparung sind zusätzlich schon
        kurzfristig erhebliche Beschäftigungseffekte zu erwarten
        (circa 600 000 Vollzeitarbeitsplätze). Der absehbare In-
        vestitionsbedarf liegt in den nächsten zehn Jahren bei
        etwa 35 Milliarden Euro.
        Im Verkehrsbericht liegen die Investitionsbedarfe seit
        langem auf dem Tisch, wie ein Blick auf den Bundesver-
        kehrswegeplan zeigt. Besonderes Augenmerk ist auf die
        Defizite bei der Bahninfrastruktur zu legen, die letztlich
        nur durch zusätzliche Bundesmittel gedeckt werden kön-
        nen.
        Im Bereich der Bildung, Forschung und Technologie-
        förderung muss der Rückstand zum europäischen Durch-
        schnitt aufgeholt werden.
        Flächendeckendes und gebührenfreies Angebot an
        Ganztagesbetreuung und Ganztagsschulen.
        Der Investitionsstau im Gesundheitswesen insbeson-
        dere bei den Krankenhäusern muss aufgelöst werden.
        Dazu brauchen wir eine neue nachhaltige Finanzierungs-
        struktur.
        Durch Städtebauförderungsmaßnahmen sind die
        Kommunen, gestaffelt nach ihrer Finanzsituation, bei
        der Aufgabe der Stadtsanierung und -erhaltung zu unter-
        stützen. Zinsverbilligungen sind nicht ausreichend. Ins-
        besondere Programme zur altersgerechten Wohnraumge-
        staltung entlasten nicht zuletzt auch die Sozialkassen.
        Außerdem sind alle weiteren Privatisierungsvorhaben
        auf allen politischen Ebenen zu stoppen; dies gilt insbe-
        sondere für jegliche Anteilsverkäufe von Telekom, Post
        inklusive Postbank und Bahn wie für alle Bereiche der
        öffentlichen Daseinsvorsorge in Kommunen und Län-
        dern. Verkäufe unter Wert, die Sozialisierung von Ver-
        lusten und Privatisierung von Gewinnen sind derzeit we-
        niger vertretbar denn je.
        Im Übrigen werden wir darauf achten, dass die EU
        und die Bundesregierung alle angekündigten Maßnah-
        men zur Kontrolle und Regulierung der Finanzmärkte,
        wie sie etwa auf Ebene der G20 vereinbart wurden, zü-
        gig und vollständig umsetzen.
        Insgesamt fordern wir die Bundesregierung auf, ihre
        Gesamtstrategie zu erweitern und ein umfassendes Kon-
        zept aus den genannten wirtschafts-, arbeits- und sozial-
        politischen Zusammenhängen zu erarbeiten und umzu-
        setzen. Umfang und Geschwindigkeit dieses Konzepts
        müssen der Dimension der Krise entsprechen: Denn je
        zaghafter wir sind und je länger wir warten, desto
        schwieriger und teurer gestalten sich die Maßnahmen.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele (FDP)
        zur namentlichen Abstimmung über den
        Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Fa-
        milien und haushaltsnahen Dienstleistungen
        (Familienleistungsgesetz – FamLeistG) (Tages-
        ordnungspunkt 5)
        Ich bin der Auffassung, dass es zu einem ordnungsge-
        mäßen Schulbesuch gehört, dass alle Kinder zu Beginn
        eines Schuljahres mit Lernmaterialien ausgestattet wer-
        den, zu denen unter anderem Hefte, Schreibmaterialien,
        Taschenrechner, Malblöcke, aber auch Turnschuhe für
        Hallen im Winter und im Sommer für den Außensport
        gehören. Auch Geld für Klassenausflüge und kulturelle
        Veranstaltungen muss vorhanden sein.
        Leider ist dies bei vielen Familien nicht gegeben. Im
        Bereich der Sozialgesetzgebung ist eine der Ursachen
        darin zu sehen, dass seinerzeit bei der Verabschiedung
        des Gesetzes durch die rot-grüne Koalition für den säch-
        lichen Lebensbedarf Bildungsausgaben nicht berück-
        sichtigt wurden – und auch heute noch immer nicht be-
        rücksichtigt werden. Es wurde von dem Bild eines
        Erwachsenen ausgegangen. Für Kinder betragen die Re-
        gelsätze altersabhängig 60 oder 80 Prozent des Regelsat-
        zes für Erwachsene. In diesem jedoch ist ein Posten für
        Bildung nicht enthalten.
        Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, gibt es in
        Deutschland viele Vereine und Einrichtungen, die auf
        privater Initiative und privatem Engagement vieler Bür-
        ger beruhen und sich zum Ziel gesetzt haben, hier ent-
        sprechende Hilfe zu leisten.
        Dazu gehört zum Beispiel der Verein „Kinder in Not“
        in meiner Heimatstadt Osnabrück. Der erste Vorsitzende
        dieses Vereines, Herr Rechtsanwalt Robert Seidler, hat
        in seiner schriftlichen Stellungnahme ausführlich die
        rechtliche Problematik und die für ihn daraus resultie-
        rende Verfassungswidrigkeit des derzeitigen Rechtszu-
        standes dargelegt. In seinen mündlichen Erläuterungen in
        der Anhörung des Finanzausschusses hatte er Beispiele
        aus dem täglichen Leben genannt, in denen die Not der
        Kinder beschrieben wurde, der von dem Verein in einem
        gewissen Umfang abgeholfen werden konnte.
        Ich begrüße grundsätzlich, dass sich der Deutsche
        Bundestag dieses Themas annimmt. Ich halte es für drin-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20907
        (A) (C)
        (B) (D)
        gend erforderlich, dass alle Kinder in gleicher Weise be-
        züglich der von ihnen zu finanzierenden Kosten für
        Schulmaterial mit einem Mindeststandard ausgestattet
        werden, welches diese Kosten auch deckt, wobei mir der
        Betrag von 100 Euro niedrig erscheint. Zudem muss
        sichergestellt werden, dass dieses Geld auch tatsächlich
        bei den Kindern ankommt.
        Deshalb bin ich folgender Auffassung: Kinder, die ne-
        ben ihren Eltern Leistungen nach dem Zweiten Buch
        Sozialgesetzbuch beziehen, sollen mit Beginn des Schul-
        jahres eine zusätzliche Unterstützung für einen Mindest-
        standard der zu finanzierenden Kosten für Schulmaterial
        erhalten. Hierbei ist in geeigneter Weise sicherzustellen,
        dass diese Gelder auch tatsächlich für Schulmaterialien
        verwendet werden. Die Eltern der Kinder, die über Ein-
        kommen verfügen, erhalten einen deutlich erhöhten
        Steuerfreibetrag, der dazu führt, dass die Steuerentlas-
        tung so hoch ist, dass aus ihr die Aufwendungen für
        Schulmaterial bestritten werden können. Deshalb fordert
        die FDP einen einheitlichen Grundfreibetrag für Er-
        wachsene und Kinder von 8 000 Euro und ein einheitli-
        ches Kindergeld von 200 Euro im Rahmen einer umfas-
        senden Steuerreform. Die Eltern der Kinder, die über
        Einkommen verfügen, jedoch trotz eines Steuerfreibetra-
        ges Mindestkosten für Schulmaterial nicht aufwenden
        können, erhalten ergänzend die erforderlichen Mittel
        durch das erhöhte Kindergeld. Gerade das Zusammen-
        wirken von Kinderfreibetrag und Kindergeld kann si-
        cherstellen, dass für erwerbstätige Eltern auch bei niedri-
        gen Einkünften und steigender Kinderzahl eine
        entsprechende Förderung stattfindet.
        Langfristig wollen wir als FDP die staatlichen Trans-
        ferleistungen in Form eines Bürgergeldes zusammenfüh-
        ren, welches sicherstellen kann, dass den Bedürftigen
        weiter geholfen wird und auch bei niedrigen Einkommen
        Anreize für Erwerbstätigkeit gesetzt werden.
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Jörg Tauss, Gregor Amann,
        Willi Brase, Petra Ernstberger, Dieter
        Grasedieck, Kerstin Griese, Dr. Barbara
        Hendricks, Gabriele Hiller-Ohm, Christel
        Humme Lothar Ibrügger, Dr. Hans-Ulrich
        Krüger, Katja Mast, Florian Pronold, René
        Röspel, Bernd Scheelen, Silvia Schmidt (Eisle-
        ben), Heinz Schmitt (Landau), Swen Schulz
        (Spandau), Christoph Strässer, Simone Violka
        und Lydia Westrich (alle SPD) zur namentli-
        chen Abstimmung über den Entwurf eines
        Gesetzes zur Förderung von Familien und haus-
        haltsnahen Dienstleistungen (Familienleistungs-
        gesetz – FamLeistG) (Tagesordnungspunkt 5)
        Mit dem Familienleistungsgesetz wird die finanzielle
        Situation von Familien verbessert. So werden der Kin-
        derfreibetrag um 216 Euro auf 6 024 Euro und das Kin-
        dergeld für das erste und zweite Kind auf 164 Euro, für
        dritte Kinder auf 170 Euro und für vierte und weitere
        Kinder auf 195 Euro erhöht. Gleichzeitig wird die steu-
        erliche Absetzbarkeit von haushaltsnahen Beschäfti-
        gungsverhältnissen und haushaltsnahen Dienstleistungen
        deutlich verbessert.
        Mit einer Entlastung von circa 2 Milliarden Euro pro
        Jahr ist das Gesetz ein positives Zeichen, soziale Ge-
        rechtigkeit vor allem für Familien mit Kindern zu garan-
        tieren.
        Hierzu gehört auch das Schulbedarfspaket, das eine
        zusätzliche Leistung in Höhe von 100 Euro für Schüle-
        rinnen und Schüler aus Familien, die auf Hilfe zum
        Lebensunterhalt angewiesen sind, vorsieht. Gerade fi-
        nanziell benachteiligte Schülerinnen und Schüler können
        so ihre persönliche Schulausstattung – wie zum Beispiel
        Schulranzen, Rechen- und Zeichenmaterialien, Turn-
        zeug etc. – finanzieren.
        Bedauerlich und nicht nachvollziehbar ist aber, dass
        die CDU/CSU darauf beharrt, dass dieses wichtige Maß-
        nahmenpaket nur bis zur 10. Klasse finanziert wird. Ge-
        rade im Hinblick auf die aktuelle PISA-Studie, die dar-
        gelegt hat, dass der Zusammenhang von sozialer
        Herkunft und Bildungserfolg eklatant hoch ist, wäre die
        Gewährung des Schulbedarfspakets bis zur Jahrgangs-
        stufe 13 ein richtiges und wichtiges Zeichen gewesen,
        auch Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteilig-
        ten Familien die gleiche persönliche Schulausstattung zu
        ermöglichen wie allen anderen Schülern. Die Ausdeh-
        nung bis zur Jahrgangsstufe 13 hätte zudem einen in der
        Gesamtleistung nur geringfügigen Mehraufwand von
        17 Millionen Euro verursacht. Es ist daher unverständ-
        lich und das politisch völlig falsche Signal, dass sich die
        Union dieser Maßnahme mit einer nicht nachvollziehba-
        ren Begründung verweigert. Eine Korrektur dieser unge-
        rechten Situation ist aus Sicht der SPD deshalb dringend
        erforderlich.
        Anlage 7
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Norbert
        Barthle, Antje Blumenthal, Helmut Brandt,
        Dr. Maria Böhmer, Marie-Luise Dött, Ilse Falk ,
        Hartwig Fischer (Göttingen), Eberhard Gien-
        ger, Ute Granold, Monika Grütters, Anette Hü-
        binger, Dr. Peter Jahr, Andreas G. Lämmel, Ka-
        tharina Landgraf, Paul Lehrieder, Thomas
        Mahlberg, Wolfgang Meckelburg, Dr. Eva
        Möllring, Carsten Müller (Braunschweig), Mi-
        chaela Noll, Rita Pawelski, Beatrix Philipp, Da-
        niela Raab, Uwe Schummer, Marion Seib, Jo-
        hannes Singhammer, Antje Tillmann, Marcus
        Weinberg, Elisabeth Winkelmeier-Becker und
        Wolfgang Zöller (alle CDU/CSU) zur Abstim-
        mung über den Entwurf eines Gesetzes zur För-
        derung von Familien und haushaltsnahen
        Dienstleistungen (Familienleistungsgesetz –
        FamLeistG) (Tagesordnungspunkt 5)
        Ich begrüße ausdrücklich die festgeschriebenen Maß-
        nahmen des Familienleistungsgesetzes: die Anhebung
        des Kindergeldes, die Erhöhung des Kinderfreibetrages,
        steuerliche Regelungen zu haushaltsnaher Sozialversi-
        20908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        cherungspflichtiger Beschäftigung und haushaltsnahen
        Dienstleistungen einschließlich Pflege- und Betreuungs-
        leistungen. Es sind wesentliche familienpolitische Leis-
        tungen. Ich begrüße, dass laut Regierungsentwurf Fami-
        lien gefördert und steuerlich entlastet werden. Dem
        Familienleistungsgesetz werde ich zustimmen.
        Allerdings erachte ich es auf der Grundlage dieses
        Gesetzes für notwendig, weitere familienpolitische Leis-
        tungen einzuführen. Ich sehe es als politisches Ziel, in
        einem weiteren Gesetzgebungsverfahren folgende Er-
        weiterungen des Familienleistungspakets umzusetzen:
        Erstens, die Ausweitung des Schulbedarfspakets
        – jährliche Leistung von 100 Euro im Rahmen des
        SGB II und des SGB XII – auf Schülerinnen und Schüler
        über die 10. Jahrgangsstufe hinaus. Dabei sollen Schüle-
        rinnen und Schüler an allgemeinbildenden und an be-
        rufsbildenden Schulen in gleicher Weise gefördert wer-
        den. Zudem soll geprüft werden, ob die Förderung über
        den Kreis von SGB-II- und SGB-XII-Empfängern hi-
        naus Familien mit geringen Einkommen zugutekommen
        kann.
        Zweitens, die Ausweitung der Steuerbefreiung von
        Leistungen von Arbeitgebern zur Unterbringung und Be-
        treuung von Kindern ihrer Beschäftigten auf Kinder bis
        zum vollendeten 14. Lebensjahr, statt dies – wie bisher –
        auf noch nicht schulpflichtige Kinder zu beschränken.
        Anlage 8
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Gunter Weißgerber und Rai-
        ner Fornahl (beide SPD) zur Abstimmung über
        den Antrag: Freiheits- und Einheitsdenkmal ge-
        stalten (Zusatztagesordnungspunkt 8)
        Der Bundestag beschließt heute über den Antrag
        „Freiheits- und Einheitsdenkmal gestalten“ (Druck-
        sache 16/11200). Dem stimmen wir aus folgenden Grün-
        den sehr gerne zu: Wir haben seit dem November 2007
        für ein gemeinsames Denkmal in Berlin und Leipzig ge-
        worben. Wir haben in diesem Kontext dafür gekämpft,
        für ein Denkmal zu stimmen, welches in beiden Städten
        den langen Weg von deutscher Teilung im besonderen
        Abbild der Teilung Berlins über die ostdeutsche Freiheit
        infolge der friedlichen Revolution 1989/90 mit ihrem ge-
        waltigem Anteil der Leipziger Montagsdemonstrationen
        und letztlich bis zur Vereinigung beider deutscher Staa-
        ten am 3. Oktober 1990 aufzeigt.
        Sinnbild der 40-jährigen deutschen Teilung war die
        blutige Grenze inmitten Deutschlands, inmitten Berlins.
        In besonders brutalem Maße zerschnitt hier die Grenze
        durch die deutsche Hauptstadt, stand die Einmauerung
        des freiheitlichen Westteiles von Berlin für das deutsche
        Nachkriegstrauma. An der Blockade Westberlins, am
        Mauerbau 1961 nahmen die gesamte deutsche und die
        Weltöffentlichkeit großen Anteil. Der Volksaufstand von
        1953, der unsere von 1989 politischen Forderungen vor-
        wegnahm und in Ostberlin begann, sowie das geteilte
        Berlin wurden weltweit zum Synonym für die deutsche
        Teilung, für die Ost-West-Blockkonfrontation. Hier be-
        kannte Kennedy, dass er ein Berliner sei, und Reagan
        forderte den Fall der Mauer. Willy Brandt war der legen-
        däre regierende „Frontstadt“-Bürgermeister, der für die
        meisten Ostdeutschen bis 1989 die verkörperte Hoff-
        nung auf Freiheit und Demokratie blieb. Westberlin war
        für die SED der Stachel im Fleisch des kommunistischen
        Systems, für viele Menschen in der DDR war es das
        Schaufenster in den freien Westen, die freie Informa-
        tionsquelle und die ständige Nahrung für die Hoffnung
        auf demokratische Entwicklungen.
        In Ostberlin etablierte sich frühzeitig eine rege Unter-
        grundszene samt einer reichen Samisdatliteratur. Die
        Umweltbibliothek wurde 1987 von der Stasi gestürmt,
        und die staatlich zelebrierten Luxemburg-Liebknecht-
        Demonstrationen wurden von der Opposition mutig auf
        ihre Weise in Anspruch genommen. Beispielhaft sei hier
        die Kundgebung vom Januar 1989 genannt – wenn auch
        den Demonstranten damals nicht bekannt war, dass sie
        mit Luxemburg ausgerechnet eine Gegnerin von freien
        Wahlen auf ihr Schild hoben.
        In Berlin wurde die Grenze zuerst löchrig, in Berlin
        beschloss die freie Volkskammer gemäß dem Willen der
        meisten Deutschen in Ost und West den Beitritt zur Bun-
        desrepublik Deutschland, und in dieser Stadt wurde
        dieser Beitritt der endlich freien und tatsächlich demo-
        kratischen DDR nach Art. 23 GG der Bundesrepublik
        Deutschland im Einvernehmen mit den Siegermächten
        und unseren Nachbarn vollzogen. Mit dem weltweit
        spektakulären Fall der Mauer kam bildhaft das Ende des
        Kalten Krieges, kam die Chance auf die europäische
        Einigung auf friedlichem Wege. Für die Welt steht das
        vereinigte Berlin, die vereinigte deutsche Hauptstadt als
        Symbol für die Überwindung der Blockkonfrontation,
        für das Gelingen freiheitlicher und demokratischer
        Volksbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Deshalb
        muss Berlin ein Standort des Nationalen Freiheits- und
        Einheitsdenkmales werden.
        Leipzig muss aber seinerseits eine Würdigung erfah-
        ren, die in erkennbaren Sinnzusammenhang zum Berli-
        ner Denkmal steht. Die Leipziger Nikolaikirche mit
        ihren Friedensgebeten seit 1982 war der „Zünder der
        friedlichen Revolution 1989/90“, der Leipziger Augus-
        tusplatz war mit seinen machtvollen Massendemonstra-
        tionen bis zu den Volkskammerwahlen 1990 der wich-
        tigste Garant für den Bestand des am 9. Oktober
        Erreichten und der unablässig drehende „Motor der deut-
        schen Einheit“.
        Bereits im September 1989 schwollen die Leipziger
        Demonstrationen unter dem selbstbewussten Ruf „Wir
        sind das Volk“ zu Zehntausenden Teilnehmern an. Ein
        Anschwellen, welches in Verbindung mit der Begeiste-
        rung über die Massenausreisen aus Ungarn und der Wut
        über die Ignoranz der DDR-Staatsführung, die Bot-
        schaftsausreisenden mit Zügen quer durch den Süden der
        DDR zu transportieren, zu bürgerkriegsähnlichen Zu-
        sammenstößen am Dresdner Hauptbahnhof und zu wei-
        teren bedrohlichen Situationen an der gesamten Bahn-
        strecke bis Plauen führten.
        Nach der am 5. Oktober 1989 in der Leipziger Volks-
        zeitung (LVZ) veröffentlichten Drohung des Kampfgrup-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20909
        (A) (C)
        (B) (D)
        peneinsatzes gegen die Bevölkerung wurde es am
        7. Oktober in Leipzig, Plauen, auch in Berlin besonders
        brisant. In diesen drei Städten waren ob bzw. wegen die-
        ser Drohung Tausende auf den Beinen und hielten der
        SED und dem MfS mutig die Stirn entgegen. Die in die-
        sem Zusammenhang gestreute „chinesische Lösung“ des
        Massakers vom „Platz des Himmlischen Friedens“ in
        Peking als einer realen Möglichkeit für die SED-Füh-
        rung im Umgang mit den Demonstranten war eine Dro-
        hung und durchaus sehr ernst gemeint. Selbst Internie-
        rungslager zur Konzentration von Sozialismusfeinden an
        ausgesuchten Orten waren konzipiert.
        In dieser spannungsgeladenen Stimmung, die an ei-
        nen positiven und unblutigen Ausgang der für den 9. Ok-
        tober erwarteten Demonstration in Leipzig nicht denken
        ließ, kamen dennoch an diesem Montag 70 000 Men-
        schen aus Leipzig und der DDR zwischen Nikolaikirch-
        hof und Augustusplatz zusammen. Eine Menschen-
        menge, die auf SED und MfS so abschreckend wirkte,
        dass sie aus einer allgemeinen Lähmung heraus den Din-
        gen hilflos ihren Lauf lassen musste. Zwar begann die
        Partei- und Staatsführung dann schnell über den begin-
        nenden Dialogprozess und mittels personeller Änderun-
        gen in der Führungsspitze zu versuchen, das Heft des
        Handelns wieder in die Hände zu bekommen, doch ge-
        langen diese Strategien gegenüber der wachen Bevölke-
        rung glücklicherweise nicht.
        Die Menschen in Leipzig, Plauen, Dresden, überall in
        der DDR wussten, dass die Demonstrationen in großem
        Stile weitergehen mussten. Die Ergebnisse des 9. Okto-
        ber von Leipzig bedurften der Sicherung, sollte dieser
        9. Oktober 1989 nicht wie der 17. Juni 1953 später als
        konterrevolutionärer Umsturzversuch der Vergessenheit
        anheimfallen. Im Windschatten der Leipziger Massen-
        demonstrationen 1989/90 wuchsen die DDR-weiten
        Kundgebungen und Demonstrationen zu Ereignissen he-
        ran, die dann auch ganz schnell aus dem emanzipatori-
        schen Ruf „Wir sind das Volk“ die politische Forderung
        „Wir sind ein Volk“ werden ließen, wohl wissend, dass
        nur die Einheit in Freiheit ein größtes Maß an Sicherheit
        vor der Restitution der alten Machtverhältnisse in der
        DDR bot.
        Der Mauerfall am 9. November 1989 war dann die lo-
        gische Folge. Wir haben neben der meist in diesem Zu-
        sammenhang aufkommenden Erklärung der Überforde-
        rung der SED-Führung eine eher politische Erklärung
        anzubieten. Die DDR-Führung suchte nach Druckentlas-
        tung. Geöffnete Grenzen schienen ein passables Mittel
        in diesem Sinne zu sein. Die Rechnung war einfach und
        dennoch eine der üblichen Fehleinschätzungen der SED.
        Die mit der DDR restlos Unzufriedenen sollten gehen,
        damit den Massendemonstrationen die Kraft nehmend.
        Die im „Lande“ Verbleibenden sollten die DDR tapezie-
        ren helfen. Den weitergehenden Montagsdemonstratio-
        nen sei Dank, diese Rechnung der SED ging nicht auf.
        Es gelang, die Menschen weiterhin für die Demonstra-
        tionen bis zu den ersten freien Volkskammerwahlen am
        18. März 1990 zu interessieren und so das Errungene des
        Herbstes 1989 zu sichern.
        Demgegenüber war Ostberlin – und das soll keine
        Gegenrede wohl aber eine Klarstellung sein – im Herbst
        1989 die Arena der Befürworter einer weiteren Zwei-
        staatlichkeit Deutschlands. In Berlin fand am 4. Novem-
        ber 1989 die größte DDR-Tapezierungsgroßdemonstra-
        tion statt, der im Nachgang der DDR-Erhaltungsaufruf
        von Christa Wolf „Für unser Land“ folgte. Dagegen er-
        ging aus Leipzig der „Leipziger Aufruf“ von Johannes
        Wenzel für den Aufbau von konföderativen Strukturen
        zwischen beiden deutschen Staaten mit dem Ziel der
        Einheit als schnelle Antwort auf den Ostberliner Aufruf.
        Dies sind unsere Gedanken zum Thema. Achten wir
        im Diskussionsprozess um die Gestaltung der beiden
        Standorte auf die Berücksichtigung des historischen
        Kontextes: Ohne die inner- und außerkirchliche Opposi-
        tion in der DDR, ohne die immerwährenden Fluchtbe-
        wegungen in den Westen, ohne die Massenfluchten von
        1989, ohne die Montagsgebete und die friedliche Revo-
        lution, und ohne die Weiterführung dieser Revolution bis
        zu den Wahlen im März 1990 und in Anbetracht der
        Möglichkeit eines geglückten Moskauer Putsches, bei-
        spielsweise der vom August 1991, würden wir heute
        nicht einmal des 9. Oktobers in Freiheit gedenken, ge-
        schweige denn uns der deutschen Einheit des Jahres
        1990 erfreuen können. Seien wir stolz auf die „Neue
        Ostpolitik“ der Regierung Brandt/Scheel, auf das KSZE-
        Engagement der Regierung Schmidt/Genscher, und
        seien wir dankbar, dass die Regierung Kohl/Genscher
        Helmut Schmidts Anstrengungen für den NATO-Dop-
        pelbeschluss weiterführte und damit dem INF-Vertrag
        von 1987 – Vernichtung sämtlicher atomarer Mittelstre-
        ckensysteme in Europa – zwischen den USA und der So-
        wjetunion den Boden bereitete. Beide Politikansätze, die
        Entspannungs- als auch die Gleichgewichtspolitik, ha-
        ben beträchtlichen Anteil an der Implosion der Sowjet-
        union und des Ostblocks.
        Vergessen wir bei allem Stolz auf eigene Leistungen
        nicht die Freiheitsbewegungen in unseren östlichen
        Nachbarstaaten. Ohne die Polen mit ihrer Solidarnośź,
        ohne die Tschechen mit ihrer Charta 77 und ohne den
        Mut der „lustigsten Baracke im Ostblock“, den Ungarn,
        würden noch heute Menschen ohne Hoffnung auf Frei-
        heit und Demokratie in der Leipziger Nikolaikirche und
        überall in der DDR beten und sich vor der außer- und in-
        nerhalb der Kirche beobachtenden Staatsmacht fürchten
        müssen.
        Wir danken ausdrücklich den Fraktionen von SPD,
        CDU/CSU und FDP und hier besonders ihren Kultur-
        politikern, die nach vielen Diskussionen den Weg für die
        Würdigung von Freiheit und Einheit in Berlin und in
        Leipzig bei Einbeziehung und Mitverantwortung von
        Berlin einerseits und des Landes Sachsen und der Stadt
        Leipzig andererseits durch den Bund frei gemacht ha-
        ben. Besonderer Dank gilt den vielen Deutschen in Ost
        und West, die den von uns beschriebenen historischen
        Kontext ebenso sehen und eine Nichtwürdigung Leip-
        zigs nicht verstanden hätten.
        Begleiten wir nun intensiv den weiteren Gestaltungs-
        prozess für die Denkmale in Berlin und Leipzig und ach-
        ten darauf, dass bei der Auslobung des Wettbewerbes
        20910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        – der wird gewiss eine überragende nationale und inter-
        nationale Resonanz finden – der historische Bogen rich-
        tig geschlagen wird.
        Anlage 9
        Erklärung
        des Abgeordneten Dr. Michael Meister (CDU/
        CSU) zur namentlichen Abstimmung über den
        Entwurf eines Gesetzes zur Förderung von Fa-
        milien und haushaltsnahen Dienstleistungen
        (Familienleistungsgesetz – FamLeistG) (Tages-
        ordnungspunkt 5)
        In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt.
        Mein Votum lautet „Nein“.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Sicherheitsregeln für Flüssigkeiten im
        Handgepäck von Flugreisenden auf den Prüf-
        stand stellen (Tagesordnungspunkt 10)
        Clemens Binninger (CDU/CSU): Vor nicht einmal
        zweieinhalb Jahren im August 2006 konnten britische
        Sicherheitskräfte eine Anschlagsserie auf dem Flughafen
        London Heathrow vereiteln. Terroristen hatten Bomben-
        anschläge mit Flüssigsprengstoff auf mehrere Flugzeuge
        geplant, die unzählige Opfer gefordert hätten. Rund ein
        Jahr später wurden drei Tatverdächtige bei Anschlags-
        vorbereitungen im Sauerland verhaftet. Geplantes Tat-
        mittel der „Sauerland-Gruppe“: Sprengsätze aus Wasser-
        stoffperoxid. Am Rande sei hier erwähnt, dass auch der
        Frankfurter Flughafen von dieser Gruppe als mögliches
        Ziel ausgespäht wurde. Das zeigt, dass Flüssigspreng-
        stoffe nach wie vor ein realistisches Tatmittel für einen
        terroristischen Anschlag sind. Gerade bei Anschlägen im
        Bereich der Luftfahrt ist ein besonderes Augenmerk auf
        Flüssigsprengstoffe zu legen, weil sie im Gegensatz zu
        den meisten konventionellen Bomben und Waffen eben
        noch nicht ausreichend von Detektionstechnologien er-
        kannt werden können.
        Der Forderung, die Flüssigkeitsbeschränkung aufzu-
        heben – wie sie unterm Strich der vorliegende FDP-An-
        trag erhebt –, kann deshalb nicht zugestimmt werden. Es
        ist wichtig, dass Sicherheitsregeln transparent sind. Nur
        so entsteht Akzeptanz, und nur so sind ihre Eignung und
        Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Abwehr einer
        Gefahr zu bewerten. Selbstverständlich müssen auch Si-
        cherheitsmaßnahmen wie die Flüssigkeitsbeschränkung
        diesem Maßstab gerecht werden. Die Bundesregierung
        hat sich deshalb in der Vergangenheit für die Veröffentli-
        chung großer Teile der Durchführungsbestimmungen zur
        Europäischen Luftsicherheitsverordnung eingesetzt. Seit
        20. August 2008 ist die neue Durchführungsverordnung
        (EG 820/2008) in Kraft. Sie beinhaltet große Teile der
        bislang geheim gehaltenen Anlagen, darunter auch die
        Regelungen zur Flüssigkeitsbeschränkung in der Liste
        der verbotenen Gegenstände. Eine wesentliche Forde-
        rung des vorliegenden Antrags ist damit bereits reali-
        siert.
        Wenn wir über Erleichterungen bei den Flüssigkeits-
        beschränkungen im Handgepäck diskutieren – und ich
        halte das für wichtig –, dann muss dies in einem verant-
        wortungsvollen Rahmen geschehen: Sicherheitsmaßnah-
        men müssen sich am bestehenden Risiko ausrichten. Er-
        leichterungen sind nur dann möglich, wenn gleichzeitig
        eine geeignete und praktikable Detektionstechnologie
        vorliegt. Darüber dürfte eigentlich kein Dissens beste-
        hen.
        Die Sicherheit im Luftverkehr ist ein hohes Gut. Wir
        alle wissen, dass bereits ein einziger Anschlag verhee-
        rende Wirkung haben kann. Deshalb ist es unsere
        Pflicht, alles zu tun, um einen solchen Anschlag zu ver-
        hindern, und dazu gehören auch die Beschränkungen für
        Flüssigkeiten im Handgepäck.
        Der FDP-Antrag fordert in diesem Zusammenhang,
        auch Forschungsvorhaben im Bereich der Detek-
        tionstechnologie zu unterstützen. Das ist richtig. Das tun
        wir auch in verschiedenen Bereichen. Ich frage mich
        aber: Wie passt diese Forderung zusammen mit der öf-
        fentlichen Empörung, die auch und gerade aus den Rei-
        hen der FDP in den letzten Tagen im Zusammenhang mit
        den Labortests der Body-Scanner-Technologie zu ver-
        nehmen ist? Es ist seit Monaten bekannt, dass die Bun-
        despolizei diese Technologie ab Dezember unter Labor-
        bedingungen testet. Es handelt sich dabei aber eben nicht
        um sogenannte Realtests, die im Flughafenbetrieb statt-
        finden, wie wir es teilweise aus dem Ausland kennen.
        Um es noch einmal deutlich zu sagen: Solche Scanner
        sind in Deutschland nicht im Einsatz. Die Haltung der
        Bundesregierung zu Ganzkörperscannern, die ich voll
        und ganz teile, ist eindeutig. Ein Einsatz der heute beste-
        henden Technologie ist nicht geplant und gänzlich inak-
        zeptabel, weil sie die Persönlichkeitsrechte des Durch-
        suchten massiv verletzt. Dieser Haltung ist mittlerweile
        auch die EU-Kommission gefolgt.
        Das entbindet uns aber nicht davon, die Forschung bei
        den richtigen Technologien voranzutreiben. Die Mil-
        limeter- und Terahertzwellentechnologie, mit denen sol-
        che Scanner arbeiten, sind in der Lage, Waffen oder
        Sprengstoffe zu erkennen, die heute vom Sicherheitsper-
        sonal allenfalls durch Abtasten gefunden werden kön-
        nen. Deshalb – und hier stimme ich mit der Forderung
        des Antrags überein – ist es geboten, in diesem Bereich
        weiterzuforschen. Derartige Technologien können aller-
        dings erst dann eingesetzt werden, wenn sie nicht zu ei-
        ner Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte oder des
        Gesundheitsschutzes führen.
        Die Flüssigkeitsbeschränkung ist derzeit unverändert
        die bestmögliche Lösung, der weiterhin bestehenden Ge-
        fahr eines Anschlags mit Flüssigsprengstoff zu begeg-
        nen. Eine verantwortungsvolle Überprüfung von Sicher-
        heitsmaßnahmen im Bereich der Luftsicherheit kann
        sich daher nur an der Frage orientieren, ob eine geeig-
        nete Detektionstechnik vorhanden ist. Dies ist derzeit
        nicht der Fall – darüber besteht Einigkeit unter den Ex-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20911
        (A) (C)
        (B) (D)
        perten. Das unterstreicht auch der vorliegende Antrag.
        Deshalb wäre es unverantwortlich, bereits jetzt Erleich-
        terungen in diesem Bereich einzuführen, obwohl man
        noch keine geeignete Detektionstechnik hat. Eine solche
        Vorgehensweise ist mit der Union nicht zu machen.
        Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU): Die Verordnung
        (EG) Nr. 1546/2006 sieht eine Beschränkung der Mit-
        nahme von Flüssigkeiten in den Sicherheitsbereich des
        Flughafens oder an Bord eines Luftfahrzeuges für Passa-
        giere vor. Seit November 2006 ist es europäischen Flug-
        gästen daher lediglich erlaubt, Flüssigkeiten mit an Bord
        zu bringen, wenn sie in Gefäßen mit einem Inhalt von
        maximal 100 Milliliter abgefüllt sind und in einer trans-
        parenten, wiederverschließbaren Plastiktüte transpor-
        tiert werden, die vom Sicherheitsdienst am Flughafen
        überprüft wird.
        Das Europäische Parlament hatte am 5. September
        2007 eine Resolution angenommen, durch die die Kom-
        mission aufgefordert wird, das Verbot von Flüssigkeiten
        zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Das
        Thema ist am 7. Mai 2008 sowohl im Verkehrs- als auch
        im Innenausschuss des Deutschen Bundestages einge-
        hend erörtert worden. Beide Fachausschüsse hatten sich
        dafür ausgesprochen, dass die rechtlichen Bestimmun-
        gen hinsichtlich der Mitnahme von Flüssigkeiten aufge-
        hoben werden sollten.
        Hintergrund der Beschränkungen sind die vereitelten
        Anschläge mittels Flüssigsprengstoffs am Flughafen
        London Heathrow im August 2006. Die Pläne der mut-
        maßlichen Terroristen sahen vor, explosive Flüssigkeiten
        in Flugzeuge zu schmuggeln. Durch die Flüssigkeits-
        mengenbegrenzung soll verhindert werden, dass flüssige
        Explosivstoffe an Bord verbracht werden.
        Auch wenn die Bedrohungslage, die von einem terro-
        ristischen Einsatz von Flüssigsprengstoffen ausgeht,
        nach wie vor unverändert gegeben ist, so sollten den-
        noch die rechtlichen Bestimmungen zur Mitnahme von
        Flüssigkeiten in jedem Falle modifiziert werden. Die
        Röntgengeräte können ohnehin die Gefährlichkeit der
        Flüssigkeiten nicht feststellen, sodass derzeit nur eine
        reine Mengenkontrolle stattfindet. Die Bundesregierung
        sollte vielmehr Forschungsvorhaben unterstützen und
        fördern, die darauf ausgerichtet sind, einfach und prak-
        tisch anwendbare Verfahren zu entwickeln, die dazu ge-
        eignet sind, Sprengstoffe in Flüssigkeiten aufzuspüren.
        Die Unterstützung von Forschungs- und Entwicklungs-
        vorhaben auf europäischer Ebene (Teilnahme an der
        Study Group der ECAC Technical Task Force) als auch
        auf nationaler Ebene (unter anderem Forschung des
        BKA) sind erste richtige Schritte.
        Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass eine Anhörung
        von Sicherheitsexperten im Europäischen Parlament am
        24. Mai 2007 in Straßburg ergab, dass ein tatsächlicher
        Gewinn an Sicherheit durch die EU-Verordnung nicht zu
        erwarten ist: Die notwendigen Kontrollen an vielen
        Flughäfen innerhalb der EU werden nicht strikt umge-
        setzt, sodass bereits in der Durchführung erhebliche
        Lücken bestehen. Auch die Feststellung, ob die erlaubt
        mitgeführte Menge harmlos ist oder für einen Terror-
        anschlag benutzt werden könnte, kann nicht ohne Weite-
        res getroffen werden. Vielmehr führen die Kontrollen
        dazu, dass die Flughäfen erhebliche Mehrkosten auf-
        wenden müssen. Schließlich wurde darauf hingewiesen,
        dass die Verordnung unverhältnismäßig ist, weil die Pas-
        sagiere nicht nur großen Unannehmlichkeiten ausgesetzt
        sind, sondern auch private Güter in großem Stil vernich-
        tet werden, die als unerlaubte Gegenstände und Waren
        am Flughafen zurückgelassen werden, wie zum Beispiel
        Parfüm, andere Kosmetika oder Getränke. Das Ergebnis
        der Anhörung zeigt nochmals deutlich, dass die Maß-
        nahmen im Hinblick auf die tatsächliche Gefährdung
        und die Sinnhaftigkeit kaum einen Vorteil bringen.
        Die Bundesregierung wird deshalb gebeten, sich wie
        in der Vergangenheit so auch zukünftig gegenüber der
        EU-Kommission für Sicherheitsmaßnahmen gegen Ter-
        roranschläge in der Luftfahrt einzusetzen, die unter
        Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit tat-
        sächlich erfolgversprechend im Hinblick auf realisti-
        scherweise bestehende Gefahren sind. So ist es zum Bei-
        spiel in den letzten Jahren gelungen, eine 100-prozentige
        Gepäckkontrolle zu erreichen. Ebenso war es zielfüh-
        rend, auch wenn es die Mitarbeiter von Flughäfen und
        Airlines als belastend empfinden, die Kontrolle auf alle
        Personen auszudehnen, die den Sicherheitsbereich eines
        Flughafens betreten, weil hierdurch die Sicherheit objek-
        tiv erhöht werden konnte.
        Lassen Sie mich deshalb zum Schluss folgende Fest-
        stellung treffen und eine nachhaltige Bitte äußern: Bis-
        her haben alle Mitgliedstaaten – bis auf Deutschland –
        für eine Aufhebung der hier infrage stehenden EU-Ver-
        ordnung gestimmt. Mit Blick auf das Abstimmungsver-
        halten der anderen Mitgliedstaaten und die zeitgerechte
        Verabschiedung der neuen EU-LuftsicherheitsVO (EG)
        300/2008 „im Paket“ bis April 2010 sollten die rechtli-
        chen Bestimmungen geändert werden. Ich bitte deshalb
        den Bundesinnenminister nachdrücklich, sich in der
        nächsten Ratssitzung ebenfalls dafür einzusetzen, dass
        der Entschließung des Europäischen Parlaments vom
        5. September 2007 gefolgt wird, damit eine deutliche Er-
        leichterung für Fluggäste bei der Mitnahme von Flüssig-
        keiten herbeigeführt werden kann.
        Gerold Reichenbach (SPD): Sie alle wissen, dass
        ich beim besten Willen kein Sicherheitsfanatiker bin, der
        dafür plädiert Freiheitsrechte immer auf Kosten einer
        – nennen wir es einmal – Sicherheitsillusion einzuschrän-
        ken. Wir Sozialdemokraten haben bei sicherheitspoliti-
        schen Vorhaben immer darauf geachtet, die Abwägung
        zwischen den verschiedenen betroffenen Grundrechten
        gewissenhaft vorzunehmen, bevor wir eines durch Ge-
        setz einschränken oder Gesetze mit entsprechenden Be-
        fugnissen schaffen. Wir als SPD sehen uns als Garant
        von Sicherheit und Freiheit in unserem Lande. Wir wer-
        den immer darauf achten, dass die Verhältnismäßigkeit
        im Auge behalten wird.
        Natürlich mutet es schon seltsam an, wenn die unbe-
        darfte ältere Dame die Flasche guten Weines, die sie als
        Gastgeschenk im Handgepäck für den Besuch bei ihrem
        Enkel mitnehmen wollte, bei der Sicherheitskontrolle
        20912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        am Flughafen abgeben muss. Und natürlich stellt sich
        auch die Frage: Genügen nicht auch die zugelassenen
        Kleinmengen, um in ausreichender Menge gefährliche
        Flüssigkeiten an Bord zu bringen? Wir müssen uns also
        immer die Frage stellen: Bringen denn die für die Passa-
        giere doch erheblichen Einschränkungen überhaupt
        mehr Sicherheit, oder sind sie überflüssig?
        Den durchaus berechtigten Forderungen nach mög-
        lichst bequemer und behinderungsfreier Abwicklung des
        Flugverkehrs steht angesichts der weiter bestehenden
        Bedrohung durch den Terrorismus die Notwendigkeit
        gegenüber, einen möglichst hohen Sicherheitsstandard
        bei der Fluggastkontrolle an unseren Flughäfen gewähr-
        leisten zu müssen. Ich möchte nur einmal daran erinnern,
        dass für die Sicherung der Atomkraftwerke vor Terror-
        anschlägen aus der Luft bislang die Kontrolle an den
        Flughäfen als einzig wirksame Maßnahme zur Verhinde-
        rung gilt. Darum haben wir unter Rot-Grün eine ganze
        Reihe von Regelungen getroffen, die Gefahren eindäm-
        men können, wie etwa im Luftsicherheitsgesetz, das in
        großen Teilen weiter Bestand hat. Nur die Regelungen
        zum Einsatz militärischer Mittel gegen als Terrormittel
        missbrauchte entführte Flugzeuge wurden vom Bundes-
        verfassungsgericht aufgehoben.
        Die zentrale Sicherung ist nach wie vor, zu verhin-
        dern, dass Mittel an Bord eines Flugzeuges gelangen
        können, die für die Vorbereitung und Durchführung ei-
        nes Terroranschlages genutzt werden können. Die Flug-
        infrastruktur ist ein treffliches Ziel für Terroristen; mit
        dem Absturz einer einzigen Maschine kann man mehrere
        Hundert Personen in den Tod reißen. Und genau deshalb
        überwiegt bei solchen Entscheidungen der Sicherheits-
        aspekt.
        Der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages
        – wie von der FDP oft genug zitiert – hat festgestellt,
        dass die Flüssigkeitsbegrenzung aufzuheben sei, wenn
        keine weiteren entscheidenden Tatsachen für deren Er-
        halt angeführt werden. Bislang gibt es aus den Reihen
        der polizeilichen Terrorbekämpfung keine eindeutige
        Entwarnung, was die Möglichkeit eines Terroranschla-
        ges mithilfe gefährlicher Flüssigkeiten betrifft, die mit
        dem Handgepäck in die Kabine gebracht wurden. So-
        lange aber Zweifel angebracht sind, können wir kein Ri-
        siko eingehen.
        Es ist etwas einfach, nach der Aufhebung einer Rege-
        lung zu rufen, weil es noch keinen Zwischenfall gab,
        dessen Verhinderung ja gerade der Sinn und Zweck der
        Regelung sein sollte. Der Hinweis, bislang seien noch
        keine gefährlichen Flüssigkeiten sichergestellt worden,
        geht ins Leere, weil dieser Umstand auch mit einer Prä-
        ventivwirkung der Kontrollen erklärbar ist. Dass aber
        Terroristen mit gefährlichen Flüssigkeiten seit einiger
        Zeit experimentieren und auch entsprechende Anleitun-
        gen in den Netzwerken zur Verfügung stehen, wissen wir
        nicht nur aus England, sondern auch aus dem Umfeld
        der sogenannten Sauerlandgruppe.
        Wie Sie wissen, meine Damen und Herren Kollegen
        von der FDP, gibt es aber bislang noch keine geeigneten
        Geräte zur Detektion gefährlicher Flüssigkeiten. Dies
        konnten Sie aus einer Antwort der Bundesregierung auf
        Ihre Kleine Anfrage hin entnehmen. Wegen des dadurch
        eben nicht auszuschließenden Risikos hat Deutschland
        auf europäischer Ebene Bedenken geltend gemacht und
        sich gegen die sofortige Aufhebung der Regelung ohne
        andere Sicherungsmöglichkeiten gewandt.
        Solange das Risiko von den Fachleuten nicht ausge-
        schlossen wird, will die Bundesregierung Alternativen,
        insbesondere technische Möglichkeiten, erforschen, be-
        vor die Regelungen angepasst werden. Wir sind als Bun-
        desrepublik in einer technischen Arbeitsgruppe im Auf-
        trag der Kommission zur Erarbeitung einheitlicher
        technischer Mindestanforderungen und abgestimmter
        Zertifizierungsverfahren mit mehreren Fachleuten ver-
        treten. Gerätehersteller, die mit der entsprechenden Ge-
        räteentwicklung betraut sind, werden zu einer Beschleu-
        nigung seitens der Bundesregierung veranlasst. Im Jahre
        2009 sollen nach Auskünften des Verkehrsministeriums
        die ersten Geräte auf ihre Geeignetheit getestet und zerti-
        fiziert werden.
        Wir werden uns einer Aufhebung der bestehenden
        Regelungen zu Flüssigkeiten im Handgepäck nicht ver-
        schließen, wenn eine ordnungsgemäße Prüfung und Ab-
        wägung der Risiken und der Sicherungsalternativen er-
        gibt, dass sie nicht mehr sinnvoll sind oder der Zweck
        auch ohne Einschränkung der Passagiere erreicht werden
        kann. Der Vorwurf, den Sie erheben, die Bundesregie-
        rung stelle sich gegen alle und halte als einzige beim
        Thema Flüssigkeiten im Handgepäck an unnötigen Re-
        gelungen fest, ist deshalb auch nicht haltbar. Vielmehr ist
        offensichtlich, dass wir möglichst schnell, aber eben
        ohne Risikoerhöhung –, die Bequemlichkeit für die
        Flugpassagiere wieder verbessern und die Belastungen
        bei den Sicherheitskontrollen reduzieren wollen.
        Wir Sozialdemokraten haben uns schon immer gegen
        Symboldiskussionen gewandt, mit denen ein Mehr an
        Sicherheit lediglich vorgegaukelt wird – so wie bei der
        Diskussion um den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr
        im Innern. Viel wichtiger ist es, dass wir uns darum
        kümmern, die bestehenden Systeme zu verbessern und
        sie nicht noch zu schwächen.
        Darum möchte ich die Gelegenheit nutzen, einen an-
        deren Punkt anzusprechen, der weitaus kritischer für
        eine effektive Sicherheitskontrolle an den Flughäfen ist:
        Der Umgang mit dem Sicherheitspersonal. Die Mitarbei-
        terinnen und Mitarbeiter haben dort eine hochverant-
        wortliche Aufgabe, die sie unter hoher Konzentration
        und Stress erfüllen müssen. Dabei dürfen sie sich keine
        Fehler oder Nachlässigkeiten erlauben. Das geht nur mit
        gut ausgebildetem und motiviertem Personal. Dieses
        Personal und die dafür notwendige Kontinuität erhalte
        ich nicht, wenn ich diesen Bereich ständiger Lohnkon-
        kurrenz und ständigem Lohndruck aussetze. Darum ist
        es für meine Fraktion auch nicht nachvollziehbar, dass
        an einem der größten deutschen Flughäfen, in Frankfurt
        am Main, die Beschäftigten nicht in eine landeseigene
        Gesellschaft übernommen werden können, so wie es alle
        Fraktionen des Hessischen Landtages wollten und die
        Regierung Koch es den Beschäftigten noch zu Beginn
        des Jahres versprochen hat, sondern nun die Dienstleis-
        tung auf Betreiben des Innenministeriums ausgeschrie-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20913
        (A) (C)
        (B) (D)
        ben wird. Hier wird einseitig den Interessen der Airlines
        nach Kostenreduzierung nachgeben.
        Wir alle aber wissen, dass sich Lohndruck sowohl auf
        die Fluktuationsrate als auch auf die Motivation und die
        Qualität der Mitarbeiter negativ auswirkt. Sicherheit ist
        nicht zum Billigtarif zu leisten und kann nicht alleine
        unter Wirtschaftlichkeitsaspekten betrachtet werden.
        Dies gilt sowohl für die Effektivität der Kontrollen als
        auch für ihren Gegenstand.
        Ich halte nichts davon – so wie gefordert –, die Rege-
        lung jetzt auszusetzen im Vertrauen darauf, dass alsbald
        entsprechende Techniken zum Aufspüren gefährlicher
        Flüssigkeiten zur Verfügung stehen, zumal die Argu-
        mentation in sich widersprüchlich ist. Entweder das Ri-
        siko ist hinnehmbar – dann brauchen wir auch keine
        neuen Apparate zu entwickeln, die neue Technikkosten
        verursachen –, oder es ist nicht hinnehmbar – dann kann
        es auch nicht akzeptiert werden, nur weil entsprechende
        Techniken noch nicht zur Verfügung stehen. Deshalb
        halte ich den eingeschlagenen Weg auch für sinnvoll, die
        technische Entwicklung voranzutreiben, bis zum Jahre
        2010 eine Überprüfung der Regelungen zu Flüssigkeiten
        im Handgepäck vorzunehmen und dann zu entscheiden.
        Darum ist der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt abzuleh-
        nen.
        Gisela Piltz (FDP): Flugzeuge sind keine Chemiela-
        bors. Und nicht alles, was in Hollywood geht, klappt
        auch in der Wirklichkeit. Wir alle kennen das aus
        Actionfilmen: Der Schurke kippt einfach zwei kleine
        Behälter mit Flüssigkeit zusammen, und schon gibt es
        den großen Knall. Die Wirklichkeit – das haben Exper-
        ten mehrfach bestätigt – sieht anders aus. Unter Labor-
        bedingungen ist es natürlich möglich, hochexplosive und
        sehr gefährliche Flüssigsprengstoffe herzustellen. Aber
        Laborbedingungen heißt: ausreichend Zeit, gleichblei-
        bende Temperaturen, aufwendige Apparaturen. Das alles
        geht an Bord eines Flugzeugs nicht.
        Zugleich gibt es Wissenschaftler, die davor warnen,
        dass die geltenden Regelungen nur Scheinsicherheit ver-
        sprechen. Schon 50 Milliliter bestimmter Flüssigspreng-
        stoffe, die äußerlich die Konsistenz von Duschgel haben,
        können erheblichen Schaden anrichten. Diese werden
        durch die bestehenden Kontrollen gar nicht entdeckt.
        Kurz und gar nicht gut heißt das: Die Regelung ist un-
        geeignet auf der ganzen Linie. Größere Mengen an Flüs-
        sigkeit – wir müssen uns ja auch einmal vergegenwärti-
        gen, dass es hier nicht darum geht, dass die Reisenden
        Fässer mit in die Passagierkabine nehmen, sondern eine
        Literflasche – stellen keine größere Gefahr dar als die
        heutzutage erlaubten Mengen. Und wirklich gefährliche
        Stoffe werden so auch nicht herausgefiltert. Die Rege-
        lung, wonach Flüssigkeiten im Handgepäck nur noch in
        Behältern bis 100 Milliliter und in durchsichtigen Plas-
        tikbeuteln mit nicht mehr als einem Liter Fassungsver-
        mögen mitgeführt werden dürfen, ist daher völlig unver-
        hältnismäßig. Sie führt nicht zu mehr Sicherheit, aber sie
        schränkt Reisende stark ein. Das hat bereits im Septem-
        ber 2007 das Europaparlament festgestellt –, in einer
        Entschließung übrigens, die hier im Hause in den Aus-
        schüssen auch auf Zustimmung der Koalitionsfraktionen
        gestoßen ist.
        Es ist mir daher völlig unverständlich, warum Sie,
        meine sehr geehrten Damen und Herren von Union und
        SPD, unseren Antrag ablehnen. Sie weigern sich anzuer-
        kennen, was offensichtlich ist: Die Regelung bringt
        nichts für mehr Sicherheit.
        Warum Sie sich dagegen wehren, die Bundesregie-
        rung mit dem klaren Auftrag nach Brüssel zu schicken,
        diese unsinnige Regelung zu kippen und sich für verhält-
        nismäßige Flugsicherheitsbestimmungen einzusetzen, ist
        mit Logik nicht zu erklären. Ihre eigenen Vertreterinnen
        und Vertreter in Brüssel und Straßburg sehen das anders.
        Sie aber wollen die Reisenden auch weiterhin gängeln,
        und das, obwohl Sie anerkennen, dass die Entschließung
        des Europaparlaments zutreffend ist. Das ist nicht ver-
        mittelbar. Das ist politische Taktiererei, die Sie keinem
        Bürger erklären können.
        Allein die Mengen an Parfüm, Shampoos oder Ge-
        tränken, die seither an den Flughäfen vernichtet wurden,
        summieren sich zu erheblichen Größenordnungen – und
        erheblichen Werten, denn es handelt sich ja in der Regel
        nicht um (Leitungs-)Wasser, sondern auch um teure
        Wässerchen.
        Die Bundesregierung hat diese Probleme stets ausge-
        blendet. Trotz mehrfacher Nachfragen seitens der FDP-
        Fraktion hat sie hier die gebotene Evaluation unterlas-
        sen. Insofern ist es wenigstens erfreulich, dass die EU-
        Kommission nunmehr genauere Daten erheben will, wie
        sich die Regelungen auswirken, um die Beeinträchti-
        gung der Reisenden besser bewerten zu können. Es ist
        längst überfällig, diese Evaluation durchzuführen und
        dann auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, da-
        mit sich alle Bürgerinnen und Bürger ein Bild darüber
        machen können, warum sie so gegängelt werden.
        Ich nenne Ihnen einmal eine Zahl, die die Bundesre-
        gierung nicht zur Kenntnis nehmen will: 15 bis 18 Ton-
        nen Flüssigkeiten finden Sicherheitsbeamte allein am
        Düsseldorfer Flughafen im Monatsdurchschnitt. 15 bis
        18 Tonnen pro Monat, die in den großen Tonnen an den
        Terminaleingängen verschwinden! 15 bis 18 Tonnen, das
        sind – damit Sie es sich bildlich vorstellen können –
        1 500 bis 1 800 Kästen Mineralwasser. Und das ist nur
        der Flughafen Düsseldorf.
        Die strikten Regeln zum Mitführen von Flüssigkeiten
        im Handgepäck sollen nach Überlegungen der EU-Kom-
        mission 2010 auslaufen. Bis dahin sollen andere Mög-
        lichkeiten gefunden werden, um gefährliche Flüssigkei-
        ten aufzuspüren. Wenngleich dies erst einmal eine gute
        Nachricht ist, muss nach der aktuellen Diskussion in
        Deutschland und Europa befürchtet werden, dass wir
        vom Regen in die Traufe kommen. Die Diskussion über
        die sogenannten Nacktscanner zeigt, dass eine schlechte
        Regelung durch eine noch viel schlechtere ersetzt wer-
        den könnte. Die EU-Kommission will bis 2010 eine ge-
        naue Analyse betreiben, um Alternativen zu den Flug-
        sicherheitsregeln im Hinblick auf Flüssigkeiten zu
        finden. In einem Workshop hierzu wurden auch die so-
        genannten Nacktscanner beraten. Auch wenn diese in
        der aktuellen Verhandlungsrunde nicht berücksichtigt
        20914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
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        werden sollen und die EU-Kommission von entspre-
        chenden Plänen erst einmal Abstand genommen hat, wie
        aus Brüssel zu hören war, sind sie noch lange nicht vom
        Tisch.
        So prescht nämlich die Bundesregierung mit diesem
        Thema nun doch voran. Zuerst hieß es ja im Tonfall in-
        brünstiger Ablehnung von Herrn Schäuble, man wolle
        diesen „Unfug“ nicht mitmachen. Doch nun hat die Bun-
        desregierung zugegeben: Die Nacktscanner sollen für
        den Praxiseinsatz getestet werden. Die Bundesregierung
        hat die Menschen in Deutschland getäuscht. Das muss
        man hier einmal ganz klipp und klar festhalten.
        Und wenn ich dann Sie, geschätzter Herr Kollege
        Wiefelspütz, in der Tagesschau sehe, wo Sie letzten
        Sonntag wiederum im Brustton der Überzeugung vorge-
        tragen haben, dass Nacktscanner mit der Menschen-
        würde unvereinbar sind, dann frage ich mich, ob Ihnen
        schon einmal aufgefallen ist, dass Ihre Fraktion in der
        Regierungskoalition ist. Aber das ist ja wohl die neue
        Taktik der SPD: sich aufspielen als zähnefletschender
        Tiger, der die Bürgerrechte verteidigt, und dann als Bett-
        vorleger landen, wenn Herr Schäuble böse guckt. Beim
        BKA-Gesetz haben Sie es ja gerade vorgemacht.
        Ich empfehle der Bundesregierung übrigens einmal
        einen Blick in die Unterlagen des Workshops zu Nackt-
        scannern, der am 6. November in Brüssel stattgefunden
        hat. Die Ergebnisse sind eindeutig: Nacktscanner, die die
        Menschenwürde durch Unkenntlichmachung zum Bei-
        spiel des Gesichts oder durch Überblendung des tatsäch-
        lichen Körperumrisses mittels Modellen wenigstens an-
        satzweise besser schützen sollen, taugen nichts. Daraus
        wird klar: Wer auf Nacktscanner setzt, ist auf dem Holz-
        weg. Daran werden auch Tests nichts ändern, zumal Sie
        doch niemandem vormachen können, dass die Bundes-
        polizei neuerdings Grundlagenforschung betreibt. Das
        sind Praxistests. Das ist die Vorbereitung zum tatsächli-
        chen Einsatz am lebenden Objekt, am Reisenden an
        deutschen Flughäfen.
        Sicherheit im Flugverkehr ist von größter Bedeutung.
        Aber Maßnahmen, die gegen Art. 1 unseres Grundgeset-
        zes, gegen die unantastbare Würde des Menschen ver-
        stoßen, können und dürfen dazu nicht zur Debatte ste-
        hen. Ich fordere die Bundesregierung auf, jegliche Tests
        an Nacktscannern umgehend einzustellen. Vielmehr
        muss verstärkt daran geforscht werden, gefährliche von
        nicht gefährlichen Flüssigkeiten unterscheiden zu kön-
        nen. Nicht Menschen müssen durch die Scanner ge-
        schleust werden, sondern die Flüssigkeiten, die analy-
        siert werden sollen. Das wäre eine sinnvolle, effektive
        und verhältnismäßige Maßnahme.
        Ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle
        nochmals nachdrücklich auf: Setzen Sie sich in Brüssel
        dafür ein, dass die Flugsicherheitsregelungen gründlich
        geprüft und unverhältnismäßige Regelungen wie die zu
        Flüssigkeiten im Handgepäck schnellstmöglich abge-
        schafft werden!
        Jan Korte (DIE LINKE): Der Raum der Freiheit, der
        Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union
        greift seit einigen Jahren Raum in den Debatten des
        Deutschen Bundestages – zu Recht; denn nicht nur im
        Kampf gegen den sogenannten internationalen Terroris-
        mus wird eine Vielzahl sicherheitspolitischer Maßnah-
        men auch durch die europäische Ebene beeinflusst.
        Hierzu gehören zwangsläufig auch die Sicherheit auf
        europäischen Flughäfen und Sicherheitsbestimmungen
        im internationalen Luftverkehr. Entsprechende Maßnah-
        men sollen den Bürgerinnen und Bürgern Schutz bieten,
        beispielsweise vor terroristischen Anschlägen.
        Vor diesem Hintergrund beschloss die Europäische
        Kommission eine Verordnung (EG) Nr. 1546/2006 zur
        Änderung der Verordnung (EG) Nr. 622/2003 zur Festle-
        gung von Maßnahmen für die Durchführung der gemein-
        samen grundlegenden Normen für die Luftsicherheit. Im
        Klartext geht es hierbei um das Mitführen von Flüssig-
        keiten in Flugzeugen. Hiernach dürfen Behältnisse, die
        mehr als 100 Milliliter Füllmenge haben, nicht mehr im
        Handgepäck mitgeführt werden. Was am Anfang eine
        durchaus vernünftige Überlegung war, entpuppte sich in
        der Praxis als vollkommen bürgerunfreundlich. Dies
        wird auch in dem von der FDP-Fraktion vorgelegte An-
        trag festgestellt.
        Dieser Feststellung möchte sich die Fraktion Die
        Linke anschließen. Viele Flugreisende haben es in den
        vergangenen Jahren miterleben müssen: Im Flughafen-
        shop gekaufte Geschenke für die Daheimgebliebenen
        mussten an den Kontrollpunkten zurückgelassen wer-
        den, ebenso wie Parfümflakons, Kosmetika und Ähnli-
        ches. Dieser Umstand hat nicht nur Bürgerinnen und
        Bürger verärgert. Auch der Nutzen und die Verhältnis-
        mäßigkeit dieser Maßnahme sind fraglich. Auch, so
        wurde in einer Sachverständigenanhörung im Europäi-
        schen Parlament deutlich, ist der Gewinn an Sicherheit
        durch diese Verordnung nur schwer nachweisbar, unter
        anderem auch deshalb, weil die hierfür notwendigen
        Kontrollen an Flughäfen innerhalb der EU Lücken auf-
        wiesen.
        Bei verschiedenen Stichproben der Kontrollen an
        deutschen Flughäfen wurde deutlich, dass durch die zu-
        nehmende Privatisierung der Gepäckkontrollen und
        durch den damit verbundenen Lohn-, Zeit- und Abferti-
        gungsdruck massive Sicherheitslücken entstehen. Die
        Linke forderte vor diesem Hintergrund in einem Antrag
        die Re-Verstaatlichung der Gepäckkontrollen an Flughä-
        fen bzw. die Einführung eines Mindestlohns für Be-
        schäftigte in diesem Sicherheitssegment und deren bes-
        sere Ausbildung. Zusätzlich werden die erheblichen
        Mehrkosten zur Kontrolle von im Handgepäck mitge-
        führten Flüssigkeiten nun durch die damit beauftragten
        Unternehmen an die Beschäftigten weitergegeben. Die-
        ser Zustand ist unzumutbar und sicherheitspolitisch äu-
        ßerst bedenklich.
        Bereits am 5. September 2007 hat das Europäische
        Parlament die EU-Kommission aufgefordert, die ent-
        sprechende Verordnung einer Prüfung zu unterziehen
        und gegebenenfalls außer Kraft zu setzen. Dieses Ansin-
        nen teilt die Fraktion Die Linke. Wir sind darüber hi-
        naus, wie auch die FDP-Fraktion, der Meinung, dass mit
        der angesprochenen Maßnahme der Grundsatz der Ver-
        hältnismäßigkeit nicht gegeben ist. Vor diesem Hinter-
        grund teilt meine Fraktion das Ansinnen der Liberalen,
        die Verordnung (EG) 1546/2006 aufzuheben oder zu-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20915
        (A) (C)
        (B) (D)
        mindest einen Lastenausgleich für die entstehenden Kos-
        ten einzuführen. Die Sicherheit der Flugreisenden kann
        nicht auf Kosten der Beschäftigten und der Flugreisen
        selbst gewährleistet werden.
        Eine Evaluierung der Kommissionsverordnung wäre
        aus unserer Sicht jedoch nur ein erster Schritt. Zahlrei-
        che sicherheitspolitische Maßnahmen der vergangenen
        Jahre – auch auf europäischer Ebene – sollten dringend
        evaluiert und nach ihrem Nutzen und dem Prinzip der
        Wahrung der Verhältnismäßigkeit überprüft werden.
        Hierunter ließe sich beispielsweise die Einführung bio-
        metrischer Merkmale in Reisepässen und Personalaus-
        weisen subsumieren oder das umstrittene Fluggastdaten-
        abkommen mit den USA. Wir fordern in Deutschland
        und in der Europäischen Union einen breiten und inten-
        siven Diskurs über die europäische Sicherheitsarchitek-
        tur. Die verloren gegangene Balance zwischen Freiheit
        und Sicherheit muss dabei im Mittelpunkt der Auseinan-
        dersetzungen stehen. Sicherheit gewinnt man nicht da-
        durch, dass man Freiheiten abbaut. Deshalb stimmt die
        Fraktion Die Linke auch dem heute vorliegenden Antrag
        der FDP-Fraktion zu.
        Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Seit seiner Einführung wird das Verbot, Flüssigkeiten
        mit an Bord eines Flugzeugs zu nehmen, heftigst kriti-
        siert. Und das völlig zu Recht. Das sei hier gleich zu An-
        fang gesagt.
        Eingeführt wurden die Regeln, nachdem in London
        Terroristen festgenommen worden waren, die mehrere
        Flugzeuge sprengen wollten. Dazu wollten sie – so nahm
        man das an – aus Flüssigkeiten selbst gemischten
        Sprengstoff verwenden. Die Zutaten für diesen Spreng-
        stoff hatten sie wohl, getarnt als Getränke und anderes,
        an Bord geschmuggelt. Natürlich herrschte – und das ist
        auch ganz richtig so – direkt nach den Festnahmen aller-
        seits höchste Besorgnis, und die Sicherheitsmaßnahmen
        wurden drastisch verschärft. Unter anderem wurde auch
        die Mitnahme von Flüssigkeiten an Bord untersagt.
        Schon kurz danach kamen aber die Zweifel. Erstens
        war die Gruppe wohl doch nicht so kurz vor der Durch-
        führung des geplanten Massenmordes, wie man erst
        meinte und sagte. Zweitens bezweifelten viele Experten,
        dass man aus verschiedenen Flüssigkeiten eine Bombe
        hätte an Bord zusammenbrauen können, schon gar nicht
        ohne sofort dabei aufzufallen. „Zahnpasta zu Brandbom-
        ben“ ist wohl doch nicht so einfach.
        Im ersten Moment war es völlig richtig, zu sagen: Es
        gab den Anschlagsplan, es gibt eine neue, noch nicht
        ganz geklärte Form des Attentats; jetzt müssen wir erst
        einmal ganz sicher gehen. Das zu sagen war richtig.
        Auch nachdem klar war, dass es mit dem Mischen von
        Sprengstoffen wohl doch nicht so einfach ist, ist die EU
        ist dabei geblieben und hat massive Beschränkungen bei
        der Flüssigkeitsmitnahme eingeführt. Wie genau die aus-
        sehen, ist nicht so recht festzustellen. Zwar ist die ent-
        sprechende Verordnung öffentlich einsehbar. Aber der
        Anhang eben nicht. In dem erst steht, was genau verbo-
        ten ist. Transparent ist das nicht. Und erklären, warum
        das geheim sein muss, kann auch keiner so recht.
        Was wäre denn dabei zu sagen, man kann aus ver-
        schiedenen Flüssigkeiten einen Sprengstoff mischen, da-
        für braucht man aber mindestens mittlere Mengen, also
        ist die Mitnahme von soundso viel Millilitern erlaubt,
        mehr geht leider nicht? Und damit das analysiert werden
        kann, müssen sie separat vom Handgepäck getragen
        werden. Stattdessen weiß man nur, dass irgendeine Ge-
        fahr von Flüssigkeiten ausgeht und deshalb irgendwie
        ihre Mitnahme reglementiert ist. Denn was genau geht
        und was nicht, das wird doch an jedem Flughafen anders
        gehandhabt. Mal wird ganz streng geprüft, mal genauer
        hingesehen und manches erlaubt. Im Zweifel aber heißt
        es: Ab auf den Müllhaufen! Wer fliegt, muss schon mal
        einplanen, am Zielort neues Shampoo zu kaufen, ein
        neues Feuerzeug und neue Zahnpasta. Und Wein bringt
        man als Gastgeschenk besser auch nicht mit, denn auch
        der landet in der Tonne.
        Viel Logik ist auch nicht im Spiel, und das macht es
        besonders ärgerlich. Eine fast leere 200-Milliliter-Fla-
        sche geht nicht; denn das sind per Definition mehr als
        100 Milliliter. Fliegt man von Tegel nach London ab,
        heißt es: Zwei Feuerzeuge sind okay. Auf dem Rückweg
        ist die Ansage: Feuerzeuge gehen gar nicht. Was flüssig
        ist, muss in einen wiederverschließbaren Plastikbeutel.
        Warum? Man sieht Flüssigkeitsbehälter doch auch beim
        Scannen des Handgepäcks. Manche Flughäfen bestehen
        sogar auf der Wiederverschließbarkeit, als wäre es nicht
        Sache der Fluggäste, ob sie ihren Beutel von Hand zu-
        halten wollen. Oder entsteht die Sicherheit durch den
        Reißverschluss?
        So absurd sind diese Regelungen leider. Änderung,
        gleichmäßige Handhabung, Überprüfung, alles nicht
        wirklich in Sicht, und das, obwohl die EU-Verordnung
        genau das vorsieht. Aber Schäubles Motto „Im Zweifel
        für das Verbot“ hat wohl auch in Brüssel seine Anhän-
        ger.
        Für mich ist klar: Ohne eine nachvollziehbare Erklä-
        rung und ohne einheitliche Handhabung gehören diese
        Regelungen dahin, wo Tausende von Shampoos, Dusch-
        gels und Getränken an europäischen Terminals schon ge-
        sammelt werden: in die Tonne.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Europäi-
        sche Nachbarschaftspolitik zur Förderung
        von Frieden und Stabilität im Südkaukasus
        nutzen
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Freiheit
        und Demokratie im Südkaukasus – Für freie
        und faire Wahlen 2008
        (Tagesordnungspunkt 12 a und b)
        Michael Link (Heilbronn) (FDP): Als wir diesen An-
        trag in den Deutschen Bundestag einbrachten, war noch
        nicht abzusehen, welche dramatische Entwicklung – mit
        ausgeprägten weltpolitischen Konsequenzen – der Süd-
        20916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        kaukasus nehmen würde. Die Realität lieferte einen trau-
        rigen Beleg, weshalb die ursprüngliche Intention, diese
        Region verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrneh-
        mung zu rücken, absolut legitim war. Ich denke, ich
        kann für alle in diesem Hause sprechen, wenn ich sage,
        dass wir auf diese Entwicklung sehr gerne verzichtet
        hätte. Erlauben Sie mir hierzu noch eine rückblickende
        Bemerkung.
        Es war zu Anfang dieses Jahres wirklich nicht abzu-
        sehen, dass einer der Frozen Conflicts so schnell heiß
        werden könnte. Bei all dem Lob, mit dem das Krisenma-
        nagement der EU im Allgemeinen und die französische
        Ratspräsidentschaft im Speziellen überhäuft wurde,
        müssen wir uns bewusst machen, dass der Fünftagekrieg
        in Georgien eine manifeste Krise des Systems kooperati-
        ver Sicherheit in Europa widerspiegelt. Noch immer.
        Und es wird wahrscheinlich noch einige Zeit benötigen,
        bis diese Situation überwunden sein wird.
        Selbstverständlich sind einige positive Punkte des
        Krisenmanagements zu vermerken. Zuallererst ist zu er-
        wähnen: Die EU hat sich durch ihre Vermittlung als
        „Mitspieler“ im Georgien-Konflikt etabliert. Festzustel-
        len ist aber auch, dass gerade zu Beginn des Krieges
        wertvolle Zeit verloren ging. Daher muss ein Fazit dieser
        Krise für uns in der EU sein: Wir brauchen ein konsis-
        tentes, effizientes und schnelleres Handeln in der Ge-
        meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP. Es
        zeigte sich auch, dass in dieser Situation viele der neuen
        Mitgliedstaaten sich nicht ernst genommen fühlen. Um
        das Ziel einer möglichst erfolgreichen GASP aber nicht
        aus den Augen zu verlieren, darf das nicht sein. Gerade
        Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich müssen
        daher einen substanziellen Beitrag für das Funktionieren
        der GASP liefern. Das wird gerade im Hinblick auf die
        Anstrengungen zur Lösung der vielfältigen Probleme der
        kaukasischen Region von fundamentaler Bedeutung sein.
        Denn das Ziel aus unserer Perspektive muss es sein,
        den Südkaukasus enger an die EU zu binden. Das liegt
        nicht nur an der immer wichtiger werdenden energie-
        politischen Bedeutung für Europa. Der Südkaukasus ist
        ein integraler Baustein in der Strategie, unsere Energielie-
        feranten zu diversifizieren, aber auch gleichzeitig Bezugs-
        quelle und Transportweg für Energie. Deshalb begrüßt die
        FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich die Initiative der
        Union hinsichtlich der „Östlichen Partnerschaft“.
        Selbstverständlich muss eine engere Anbindung aber
        weiterhin an klare Bedingungen geknüpft werden, und
        ich komme damit zu der noch viel wichtigeren Dimen-
        sion des Südkaukasus, der politischen.
        Den Regierungen Georgiens, Armeniens und Aser-
        baidschans muss stets klargemacht werden, das Demo-
        kratiedefizite die politische Stabilität unterminieren.
        Hier haben die regierenden Herren noch einen weiten
        Weg vor sich. Die demokratische Entwicklung, die lang-
        fristige Umsetzung von rechtsstaatlichen Reformen sind
        grundlegende Voraussetzung für eine nähere Anbindung
        an die EU. Ohne Erfüllung dieser Bedingungen wird die
        Stabilität des Südkaukasus weiterhin bestenfalls fragil
        bleiben. Hinsichtlich eines möglichen NATO-Beitritts
        Georgiens unterstützt die FDP deshalb ausdrücklich die
        Position der Bundesregierung.
        Stabilität und Sicherheit im Kaukasus ist ohne einer
        konstruktive Mitarbeit Russlands jedoch nicht zu reali-
        sieren. Daher sollte die eskalierende Rhetorik auf beiden
        Seiten der Vergangenheit angehören. Aber Russland
        muss den Verpflichtungen, die sich aus dem Sechspunk-
        teplan ergeben ebenso bedingungslos nachkommen und
        erfüllen. Dies schließt die Achtung der territorialen Inte-
        grität Georgiens explizit ein. Und es schließt ganz gene-
        rell ein, dass Russland endlich nicht nur de iure, sondern
        de facto akzeptieren muss, dass es sich bei allen
        allgemein völkerrechtlich anerkannten Staaten auf dem
        Territorium der ehemaligen UdSSR um rechtlich und tat-
        sächlich selbstständige Staaten handelt, deren Stabilität
        Moskau nicht länger untergraben darf. Das umfasst die
        Frozen Conflicts ebenso wie die Krim als Teil der
        Ukraine und die Baltischen Staaten. Es war ein grober
        Fehler Russlands, Südossetien und Abchasien anzuer-
        kennen. Dieser Fehler sollte unverzüglich korrigiert wer-
        den, damit der multilaterale europäische Sicherheitsdia-
        log substanziell wiederbelebt werden kann.
        Als geeignetes zwischenstaatliches Forum kann sich
        dafür durchaus die OSZE erweisen, da alle beteiligten
        Akteure in dieser Institution gleichberechtigt integriert
        sind. Auf der Ebene der nichtstaatlichen Akteure halten
        wir die Aktivitäten der deutschen Politischen Stiftungen
        beim Südkaukasus, namentlich der Friedrich-Naumann-
        Stiftung, für unverzichtbar. Denn die Stiftungen können
        Dialog zwischen Akteuren vermitteln, die auf staatlicher
        Ebene gegenwärtig nicht gesprächsfähig sind.
        Russland sollte seitens der EU immer wieder deutlich
        gemacht werden, dass wir von Moskau konstruktiven
        Dialog und Kooperation erwarten. Wie sehr Russland
        hierauf angewiesen ist, zeigt sich auch und gerade in der
        internationalen Finanzkrise. Doch Dialog und Koopera-
        tion funktionieren nur zu klipp und klaren Bedingungen.
        Dazu gehört Russlands Bereitschaft zu konstruktivem
        Mittun im Südkaukasus – und kein russischer Rückfall
        ins klassische Great Game im Geiste des frühen 20. Jahr-
        hunderts.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Zulas-
        sung von gentechnisch veränderten Organis-
        men – Verflechtung zwischen den Behörden
        und der Agro-Gentechnik-Industrie been-
        den und wissenschaftliche Grundlagen ver-
        bessern
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Gentech-
        nikfreie Regionen stärken – Bundesregie-
        rung soll Forderungen aus Bayern aufneh-
        men und weiterentwickeln
        (Tagesordnungspunkt 14 a und b)
        Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Die vorliegenden An-
        träge wurden im Plenum bereits am 30. Mai und am
        25. September dieses Jahres ausführlich behandelt. An
        den Fakten hat sich seitdem nichts geändert. Dennoch
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20917
        (A) (C)
        (B) (D)
        werde ich die Gelegenheit nutzen, grundlegende Aussa-
        gen zu wiederholen.
        Die von Bündnis 90/Die Grünen angeführte Studie als
        Beleg für angebliche Verflechtungen ist eine Auftragsar-
        beit von Frau Höfken an den ehemaligen Greenpeace-
        Mitarbeiter Christoph Then, inhaltlich falsch und ge-
        spickt mit längst widerlegten, falschen Behauptungen.
        Zum Thema Verflechtungen. Der Bericht von Herrn
        Then wurde von den Greenpeace-Anwälten in ihrer Kla-
        geschrift gegen MON 810 als Beweismittel aufgeführt,
        lange bevor er überhaupt veröffentlicht wurde. In dem
        Antrag behaupten Sie, GVO, die ins Freiland ausge-
        bracht werden, können sich weiter vermehren oder aus-
        kreuzen. Dies ist schon Gegenstand der jeweiligen
        Zulassungsprüfung bei jedem einzelnen GVO. In
        Deutschland wird nur MON-810-Mais kommerziell an-
        gebaut, welcher in unserer freien Natur überhaupt keinen
        Kreuzungspartner hat. Er kann sich gar nicht auskreu-
        zen. – Im nächsten Satz behaupten Sie, GVO würden so-
        genannte „Kontaminationen“ verursachen, die zu Schä-
        den an Umwelt, Tieren oder menschlicher Gesundheit
        führen. Bis heute – und auch das ist Ihnen bestens be-
        kannt – gibt es keine einzige wissenschaftliche Studie,
        die irgendeine negative Auswirkung auf Mensch, Tier
        oder Umwelt nachgewiesen hätte. – Und so ließe sich Ihr
        Antrag Satz für Satz widerlegen.
        Die Zusammenarbeit mit forschender Industrie ist im-
        mer wieder Gegenstand von Kritik im Sinne von uner-
        laubter Einflussnahme. Dazu ist festzustellen, dass der
        überwiegende Teil innovativer Forschungsergebnisse
        generell aus dem Bereich der industriellen Forschung
        kommt. Forschende Firmen investieren erhebliche Mit-
        tel aus ihren Gewinnen für zukunftsweisende Innovatio-
        nen. Dies ist aus volkswirtschaftlicher Sicht ausdrück-
        lich zu begrüßen. Es ist sinnvoll und notwendig, einen
        wissenschaftlichen Dialog zwischen staatlichen Stellen,
        Universitäten und industriellen Forschungseinrichtungen
        zu führen. Hierdurch ergeben sich auch Synergieeffekte.
        Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass dabei Neutralität
        und Objektivität voll gewahrt bleiben müssen. Aus-
        drücklich sei festgestellt, dass wir keinerlei Verflechtun-
        gen wollen. Aber Unterstellungen von Verflechtungen,
        die in keiner Weise bewiesen sind, weisen wir in aller
        Entschiedenheit als unredlich zurück.
        Neue, zukunftsweisende Innovationen müssen sach-
        gerecht und kompetent beurteilt werden. Dafür muss
        eine unabhängige Risikoabwägung und -bewertung auf
        allen Stufen durch die zuständigen wissenschaftlichen
        Institute vorgenommen werden. Äußerst bedenklich, ja
        ein Alarmzeichen ist es, wenn wissenschaftliche Insti-
        tute laufende, bereits genehmigte Versuche ihrer For-
        scher wegen öffentlichen Drucks einstellen. Derartige
        Einschränkungen der wissenschaftlichen Freiheit sind
        nicht hinnehmbar und für den Wissenschaftsstandort
        Deutschland extrem schädlich. Ich halte fest: Die Nut-
        zung aller wissenschaftlichen Ressourcen ist die Grund-
        lage für den hohen wissenschaftlichen und technologi-
        schen Standard in unserem Land.
        Mit dem zweiten heute zu behandelnden Antrag
        wurde wenige Tage vor der bayerischen Landtagswahl
        schon einmal Stimmung gegen die CSU gemacht. Ich
        sage aber ganz deutlich: Die Ablehnung der Grünen
        Gentechnik durch Teile der Bevölkerung wird von uns
        nicht ignoriert. Wenn Landwirte auf den Anbau von
        GVO verzichten möchten, ist das zu respektieren,
        ebenso die Wahlfreiheit für den Verbraucher. Auf einem
        anderen Blatt steht aber die Frage der gentechnikfreien
        Regionen. Zunächst ist natürlich zu klären, ob eine
        Schaffung solcher Regionen rechtlich überhaupt mög-
        lich ist. Die Prüfung auf nationaler und europäischer
        Ebene ist von uns längst gefordert. Ich schlage vor, die
        Ergebnisse abzuwarten, die hoffentlich bald verfügbar
        sind.
        Wir nehmen die Sorgen der Menschen wegen der
        Gentechnik sehr ernst. Deshalb gilt es, die Menschen
        über neue Technologien objektiv und sachgerecht zu in-
        formieren und Ihnen die wissenschaftlichen Erkennt-
        nisse zugänglich zu machen. Noch einmal: Die Sicher-
        heit von Mensch, Tier und Umwelt ist das oberste Gebot.
        Aus diesem Grund ist auch eine unabhängige staatliche
        Sicherheitsforschung so wichtig. Diese müssen wir wei-
        ter intensivieren. Wir dürfen uns bei diesen wichtigen
        Fragen nicht vom Wissensstand anderer abhängig ma-
        chen. Aber es gibt keinerlei Anzeichen für irgendeine
        Gefährdung oder Folgewirkung aus dem Anbau oder der
        Verwertung zugelassener gentechnisch veränderter
        Pflanzen. Es sind derzeit die am besten erforschten
        Pflanzen überhaupt.
        Wir können moderne Technologien mit großem Fort-
        schrittspotenzial doch nicht verurteilen, bevor wir nicht
        Chancen und Risiken sauber abgewogen haben. Bei der
        Roten Biotechnologie ist dies vor Jahren geschehen –
        und heute nutzen wir diese Technologie mit großer
        Selbstverständlichkeit, täglich, praktisch jeder von uns.
        Medikamente, Vitaminpräparate etc. – der überwiegende
        Teil dieser pharmazeutischen Produkte wird mithilfe der
        Gentechnik erzeugt. Aber führend ist Deutschland hier
        schon lange nicht mehr.
        Wenn wir bei der Grünen Gentechnik die gleichen
        Fehler machen, weiter so verfahren wie bisher, werden
        wir auch auf diesem Sektor für Jahre den Anschluss ver-
        lieren. Beide Anträge lehnen wir deshalb ab.
        Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Die beiden Anträge
        der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beziehen sich auf
        die heute und morgen in Brüssel stattfindende Debatte
        über Verbesserungen bei Zulassungen und Anbau gen-
        technisch veränderter Pflanzen. Auch wenn wir insge-
        samt die Anträge nicht unterstützen können, zum Bei-
        spiel weil wir eine Einstellung der Förderung für
        Grundlagenforschung mit GVO-Pflanzen ablehnen: Ei-
        nige der Forderungen decken sich mit denen, die auch
        wir als SPD an die Überarbeitung des EU-Gentechnik-
        rechts stellen. Und nicht allein von uns, auch von der
        CSU sind sie erhoben worden. Wir hatten deshalb bereits
        im Juni unseren Antragsentwurf „Für eine nachhaltige
        Weiterentwicklung des europäischen Gentechnikrechts“
        vorgelegt, mit dem wir erreichen wollten, dass die Bun-
        desregierung sich auf EU-Ebene für die Verbindlichkeit
        für gentechnikfreie Regionen und die Möglichkeit ein-
        20918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        setzt, dass Länder und Regionen künftig selbst über den
        gewerblichen Anbau von gentechnisch veränderten
        Pflanzen oder die Forschung entscheiden können. Der
        Einsatz für die gentechnikfreien Regionen war eines der
        Themen, mit denen die CSU ihren Landtagswahlkampf
        bestritten hatte. Weitere Forderungen der CSU, die wir
        in unseren Antragsentwurf aufgenommen haben, waren
        zum Beispiel: mehr Transparenz und Demokratie bei
        den Zulassungsentscheidungen und eine stärkere Be-
        rücksichtigung auch von kritischen Stellungnahmen so-
        wie die Berücksichtigung sozioökonomischer Auswir-
        kungen. Hierzu nenne ich ein Beispiel, nämlich die
        Studie des Freistaates Sachsen – Sächsische Landesan-
        stalt für Landwirtschaft – zu Konsequenzen des Anbaus
        von GVO in Sachsen. Dort wurde in den Jahren 2006
        und 2007 ein Maiszünslermonitoring durchgeführt, mit
        dem Ergebnis, dass der GVO-Maisanbau – mit Mais-
        zünslerresistenz – nicht wirtschaftlich war. Der Mehr-
        aufwand von 60 Euro pro Hektar für den GVO-Mais sei
        erst dann ökonomisch lohnend, wenn zum Beispiel bei
        Silomais ein Mehrertrag eintritt. Es habe sich aber kein
        linearer Zusammenhang zwischen Maiszünslerbefall
        und Ertragsminderung ergeben. Eine ökonomische Be-
        wertung würde in diesem Fall also den fehlenden Nutzen
        des Bt-Maises offenbaren. Auch deshalb müssen nach
        unserer Ansicht im Rahmen des Zulassungsverfahrens
        wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgekosten in die
        Bewertung einfließen.
        Wir haben in unserem Antragsentwurf ein Anbauver-
        bot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wie Raps gefor-
        dert und die Kennzeichnung von GVO-haltigem Saatgut
        ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent. Auch dies wa-
        ren im Landtagswahlkampf in Bayern Forderungen der
        CSU. Wir haben unseren Antrag nicht einbringen kön-
        nen; denn CDU und CSU haben die Verhandlungen über
        unseren Entwurf verweigert. Sie werden verstehen, dass
        uns dies empört hat: In Bayern mit solchen Forderungen
        Landtagswahlkampf zu machen und sich in Berlin zu
        weigern, gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD da-
        für einzutreten, das ist ein Vorgehen, welches das Anse-
        hen der Politik und der Politiker schädigt, unser aller
        Glaubwürdigkeit untergräbt und bei den Menschen zu
        Verdruss und Frust führt. Vielleicht werden wir ja in den
        nächsten Stunden bei den Verhandlungen in Brüssel er-
        kennen können, dass Deutschland sich dennoch für ei-
        nige dieser Forderungen einsetzt. Wir jedenfalls werden
        nicht lockerlassen.
        Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Grüne
        Gentechnik ist weltweit eine Erfolgsgeschichte. Mit ihr
        ist es in einigen großen Schwellenländern gelungen, die
        Armut in den ländlichen Regionen deutlich zu mindern,
        die Ernährung für die Bevölkerung zu sichern. Zehn
        Jahre nach dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom ha-
        ben Länder in Südamerika und Asien große Fortschritte
        in der Sicherung der Ernährung ihrer Bevölkerung erzie-
        len können. Das sind in der Mehrzahl Länder, die auch
        auf den Anbau von gentechnisch verbesserten Pflanzen
        wie Soja, Mais und Baumwolle gesetzt haben.
        Die Ernährungssituation in Zentral- und Ostafrika hat
        sich dagegen verschlechtert; dort lebt jetzt die Hälfte der
        hungernden Menschen. Folgerichtig hat der Chef der
        Konvention der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der
        Wüstenbildung, UNCCD, Luc Gnacadja, in der Okto-
        bersitzung des Agrarausschusses mehr Forschung, eine
        Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion und die Ent-
        wicklung gentechnisch veränderter Pflanzen für von
        Wüstenbildung bedrohte Regionen gefordert. Entwick-
        lungsländer fordern eine zweite grüne Revolution.
        In Deutschland hat die Grüne Gentechnik Akzeptanz-
        probleme. Politiker wie der jetzige bayerische Minister-
        präsident, der abfällig das Amt des Agrarministers als
        Bananenminister bezeichnet hat, haben ihren Anteil da-
        ran. Eine solche Politik ist kurzsichtig; denn diese Züch-
        tungsmethode wird sich auch bei uns durchsetzen, so
        wie sich die Weiße und die Rote Gentechnik bei uns
        durchgesetzt haben – entgegen der Meinung der Skepti-
        ker. Sie ist gegenüber den ärmsten Menschen in Ent-
        wicklungsländern, die unsere Hilfe brauchen, unverant-
        wortlich. Die beste Hilfe ist die, die dazu beiträgt, dass
        die Menschen von weiteren Hilfsmaßnahmen unabhän-
        gig werden. Dazu gehören Unterstützung bei der agrari-
        schen Entwicklung durch Verbesserung der Ausbildung
        der Menschen, Weiterentwicklung der Agrartechnik und
        auch die Züchtung gentechnisch verbesserter Sorten, wie
        dies vom UNCCD-Chef gefordert wird.
        Die Einführung des Anbaus von Bt-Baumwolle in In-
        dien hat innerhalb von sechs Jahren zu einer 80-prozenti-
        gen Steigerung der Erträge geführt, zu einer Steigerung
        der Einkommen um 50 Prozent, zu einer Minderung des
        Pflanzenschutzmitteleinsatzes um 40 Prozent. Die von
        verschiedenen Organisationen erhobenen Vorwürfe, die
        Rate der Selbsttötungen unter indischen Bauern sei an-
        gestiegen, wurde widerlegt. Dies zeigt eine kürzlich ver-
        öffentlichte Studie des International Food Policy Re-
        search Institute, IFPRI. Es wird deutlich, dass die
        Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren. Sie hatten allein
        das Ziel, Argumente gegen die Grüne Gentechnik zu su-
        chen, den Mitleidseffekt der Menschen für eine ideolo-
        gisch begründete Position zur Grünen Gentechnik zu
        nutzen. Das Leben der Bauern war für diese Menschen
        nicht von Interesse; das ist beschämend.
        Angesichts der Erfolge der Grünen Gentechnik setzt
        Bündnis 90/Die Grünen alles daran, das Vertrauen in die
        Wissenschaftler, die solche Pflanzen züchten, die die Zu-
        lassungen bearbeiten, zu schwächen, Misstrauen zu
        säen. Dieses pauschale Misstrauen ist nicht gerechtfer-
        tigt.
        Wir als FDP wollen Transparenz und die Offenlegung
        von Interessenskonflikten, aber keine pauschalen Diffa-
        mierungen. Die Grünen sind offensichtlich nicht bereit,
        zur Kenntnis zu nehmen, dass die Züchtungsmethode
        sich weltweit durchsetzt, die Erfahrung sowie die zahl-
        reichen Arbeiten seriöser Wissenschaftler, zum Beispiel
        veröffentlicht auf www.biosicherheit.de, zeigen, dass
        diese Sorten Vorteile haben und sicher sind. Wir als FDP
        wollen, dass die Entscheidung über die Zulassung neuer
        Sorten, gentechnisch oder herkömmlich gezüchtet, allein
        auf wissenschaftlicher Basis erfolgt. Nur so wird die Na-
        tur geschützt, werden die Rechte der Verbraucherinnen
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20919
        (A) (C)
        (B) (D)
        und Verbraucher auf sichere Lebensmittel gewahrt, ha-
        ben die Züchter Rechtssicherheit.
        Jeder würde es als Ungeheuerlichkeit empfinden,
        wenn einem Autobauer, der ein den rechtlichen
        Vorschriften entsprechendes Fahrzeug produziert, die
        Zulassung einfach mal so verweigert würde. Dies wäre
        Willkür. Was bei Autos Willkür ist, ist auch bei Pflan-
        zensorten Willkür. Wir wollen das nicht.
        Der vor kurzem von österreichischen Wissenschaft-
        lern vorgelegte Mehrgenerationen-Mäuseversuch ist
        nicht geeignet, die Sicherheit zugelassener gentechnisch
        veränderter Sorten in Zweifel zu ziehen. Die zehnfach
        höhere Belastung des GVO-Futters mit Schimmelpilzen,
        die zu einer fünffach erhöhten Belastung mit Pilzgiften
        führte, zusammen mit der sechsfach erhöhten mikrobiel-
        len Belastung gegenüber dem nichttransgenen Futter
        wirft die Frage auf, worauf die im Fütterungsversuch ge-
        zeigten Unterschiede zurückzuführen sind. Das gefun-
        dene Pilzgift Deoxynivalenol verursacht bei Nutztieren
        eine Wachstumsverzögerung und schwächt das Immun-
        system. Es ist ungeklärt, warum trotz dieser Unter-
        schiede des Futters der Versuch durchgeführt wurde.
        Die von Bündnis 90/Die Grünen geforderte Über-
        nahme einer bayerischen Initiative zur hoheitlichen Aus-
        weisung von sogenannten gentechnikfreien Zonen lehnt
        die FDP-Bundestagsfraktion ebenfalls ab. Der Europäi-
        sche Gerichtshof ist in Europa für die bindende Ausle-
        gung europäischen Rechts zuständig. Er hat sehr eindeu-
        tig und inhaltlich nachvollziehbar entschieden, dass die
        hoheitliche Ausweisung von sogenannten gentechnik-
        freien Regionen nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die
        Diskussion um die hoheitliche Ausweisung von soge-
        nannten gentechnikfreien Regionen ist ein Kampfinstru-
        ment gegen die Grüne Gentechnik, mehr nicht. In
        Schleswig-Holstein haben die Grünen innerhalb eines
        Jahres kaum über 10 000 Stimmen für ein „gentechnik-
        freies Schleswig-Holstein“ sammeln können – bei einer
        Bevölkerung von 2,8 Millionen Menschen. Das Thema
        war bei uns erkennbar kein Renner.
        Mit der hoheitlichen Ausweisung von sogenannten
        gentechnikfreien Regionen würde den Landwirten die
        Freiheit genommen, zu entscheiden, welche der in
        Europa zugelassenen Sorten sie auf ihrem Land anbauen
        dürfen. Das ist Bevormundung. Der freiwillige Zusam-
        menschluss von Landwirten, auf den Anbau gentech-
        nisch verbesserter Sorten verzichten zu wollen, ist eine
        gesetzlich gegebene Möglichkeit, die wir unterstützen.
        Die Entscheidungsfreiheit jedes Landwirts bleibt erhal-
        ten. Wir brauchen in Deutschland mehr Freiheit und
        mehr Fachlichkeit bei Entscheidungen statt Bevormun-
        dung und politische Willkür.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Agrogen-
        technik polarisiert. Dass gentechnisch veränderte Pflan-
        zen ungeklärte Risiken bergen, ist kaum ernsthaft zu be-
        streiten. Koexistenz, also das Nebeneinander von
        gentechnikfreien und gentechnisch veränderten Pflan-
        zen, ist auf Dauer unmöglich. Das besorgt viele Bürge-
        rinnen und Bürger und muss ernst genommen werden.
        Eine Möglichkeit, sich dieser Sorge entgegenzustem-
        men, sind die vielen aktiven Bewegungen vor Ort. Es
        gibt Widerstand nicht nur aus gentechnikfreien Kommu-
        nen oder Kirchen, sondern auch durch die gentechnik-
        freien Regionen. Das Netzwerk der Gentechnikfrei-Be-
        wegung wird immer stärker und breiter: Bäuerinnen und
        Bauern, Imkereien, Ärztinnen und Ärzte, Vertreterinnen
        und Vertreter des Lebens- und Futtermittelhandels, von
        Saatgut- und Verarbeitungsunternehmen, von Biover-
        bänden, Bildungs- und Kultureinrichtungen, von Me-
        dien, Politik, Verwaltung, Natur- und Umweltschutz, Or-
        ganisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit und
        Kirchen. Sie alle arbeiten zusammen, um den unschätz-
        baren Wert der gentechnikfreien Landwirtschaft zu er-
        halten und die Verunreinigungsgefahr, die von der Gen-
        technikindustrie zumindest in Kauf genommen wird, zu
        unterbinden.
        Die öffentlichkeitswirksamen Erfolge der ersten bei-
        den gentechnikfreien Regionen Warbel-Recknitz in
        Mecklenburg-Vorpommern und Uckermark-Barnim in
        Brandenburg waren Anfang 2004 die Initialzündung.
        Viele Initiativen wurden anschließend aktiv und gründe-
        ten gentechnikfreie Regionen. Deutschlandweit gibt es
        nun 105 gentechnikfreie Regionen. Dort engagieren sich
        über 22 000 Landwirtinnen und Landwirte. Das sind
        über 770 000 Hektar gentechnikfreie landwirtschaftliche
        Nutzfläche. Hört sich ziemlich stark an. Erst recht ver-
        glichen mit den lediglich 3 200 Hektar, die in diesem
        Jahr mit der gentechnisch veränderten Maislinie MON 810
        bestellt worden sind. Tausende Aktive stehen sogar we-
        niger werdenden Landwirtschaftsbetrieben gegenüber.
        Doch der Schein trügt.
        Wie so oft hängt die Aktivität jeder gentechnikfreien
        Region vom Engagement Weniger ab. Bei uns in Bran-
        denburg ist die gentechnikfreie Region Teltow-Fläming
        so ein positives Beispiel. Doch auch hier sind der Motor
        ein einziger Bauer und seine Frau. Die Linke fordert
        bereits seit langem, dass die vielen gentechnikfreien Re-
        gionen unterstützt werden, weil sie im Interesse der
        übergroßen gentechnikskeptischen oder -ablehnenden
        Mehrheit handeln. Wenn wir wollen, dass sich Regionen
        selbstbestimmt und selbstermächtigt entscheiden kön-
        nen, brauchen sie einerseits einen klaren rechtlichen Sta-
        tus und andererseits eine finanzielle bzw. strukturelle
        Unterstützung. Nur wenn die Koordination mehrerer
        gentechnikfreier Regionen zum Beispiel über Landes-
        mittel finanziert werden könnte – selbstverständlich mit
        Ausschreibung für eine unabhängige Koordination –, ha-
        ben die aktiven Landwirtinnen und Landwirte vor Ort
        die Möglichkeit, mehr politisch und weniger organisato-
        risch für ihre Interessen arbeiten zu können. Zivilcou-
        rage und ehrenamtliches Engagement werden von der
        Politik immer wieder gefordert. Hier könnten wir es un-
        terstützen, ganz konkret.
        Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Die SPD ist da-
        für. Die CSU mehrheitlich auch. Die Grünen und wir
        Linke sowieso. Aber eine Mehrheit kommt wohl trotz-
        dem nicht zustande. Wieso, frage ich mich. Was befürch-
        ten die Befürworter der Agrogentechnik eigentlich,
        wenn sich die Menschen, die diese Risikotechnologie
        kritisch bewerten, gegen sie schützen können? Warum
        20920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        sollte die Politik an dieser Stelle bürgerschaftliches En-
        gagement behindern anstatt es zu unterstützen? Oder ste-
        cken doch wieder handfeste wirtschaftliche Interessen
        dahinter, die aber nicht die Mehrheitsinteressen sind?
        Wir haben drei konkrete Forderungen: Erstens. Die
        Bundesregierung muss sich auf europäischer Ebene kon-
        sequent für eine Möglichkeit einsetzen, rechtlich ver-
        bindliche Beschlüsse zum GVO-Anbau in den Regionen
        treffen zu können. Jede Region, jeder Kreis und jede
        Kommune sollte selbst entscheiden können, ob sie sich
        auf das Risiko Agrogentechnik einlassen will oder nicht.
        Zweitens. Die Bundesregierung muss im Gentechnik-
        gesetz bzw. in der zugehörigen Gentechnik-Pflanzener-
        zeugungsverordnung verbindliche Abstandsgrenzen zu
        gentechnikfreien Regionen festlegen, um wenigstens das
        Verunreinigungsrisiko durch Pollenflug oder -verschlep-
        pung durch den Wind, bei der Ernte oder beim Transport
        zu vermeiden.
        Drittens. Die Landesregierungen sollten die gentech-
        nikfreien Initiativen und Regionen strukturell-finanziell
        unterstützen. Noch bevor es auf europäischer Ebene zu
        einer Entscheidung kommt, könnten die Bundesländer
        aktiv werden. Denkbar wäre beispielsweise die Finan-
        zierung einer unabhängigen Koordinierungsstelle.
        In diesem Sinne stimmen wir dem Antrag der Grünen
        zu.
        Über den zweiten Antrag der Grünen, in welchem
        Verflechtungen zwischen den Behörden und der Gen-
        techindustrie beschrieben werden, wurde bereits mehr-
        fach öffentlich debattiert. Die taz titelte dazu „Der deut-
        sche Gentech-Filz“. Im Prinzip ist dazu nichts mehr zu
        sagen. Es ist ernüchternd, dass solche Situationen über-
        haupt möglich sind.
        Jetzt ist Zeit zu handeln: Die Bundesregierung muss,
        wie im Antrag gefordert, jede Verflechtung zwischen
        den Behörden und Lobbyverbänden transparent machen.
        Natürlich dürfen sich auch Behördenmitarbeiterinnen
        und -mitarbeiter ehrenamtlich engagieren. Aber wenn
        sie an einer solch zentralen Stelle beschäftigt sind, dann
        sollte das zumindest öffentlich bekannt sein. Durch
        Transparenz würde einiges Misstrauen von Gentechnik-
        gegnerinnen und Gentechnikgegnern abgebaut werden.
        Sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene brauchen
        wir endlich ein wirklich transparentes, wirklich demo-
        kratisches und unabhängiges Zulassungsverfahren für
        gentechnisch veränderte Organismen (GVO). Solange es
        so bleibt, wie es aktuell ist, nämlich das genaue Gegen-
        teil davon, dürfen keine weiteren GVO zugelassen wer-
        den.
        Daher unterstützen wir die Forderung nach einem
        Moratorium. Auch dieser Antrag findet unsere Zustim-
        mung.
        Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
        wäre völlig verantwortungslos, die politischen Entschei-
        dungen über die für unsere Gesellschaft folgenreiche
        Einführung von Risikotechnologien wie der Gentechnik
        auf vermeintlich „unabhängige“ Behörden und die Wis-
        senschaft abzuschieben. Gerade im Fall der europäi-
        schen Lebensmittelbehörde EFSA würde das wohl be-
        deuten, den Bock zum Gärtner zu machen. Unsere
        Studie „Kontrolle oder Kollaboration? Agrogentechnik
        und die Rolle der Behörden“ zeigt, dass in Deutschland,
        bis hin zur EFSA, eine enge Verflechtung zwischen Agro-
        industrie und den Behörden herrscht, die die risikorei-
        chen Produkte der Agrogentechnik bewerten und zulas-
        sen. Gleichzeitig ist die unabhängige Forschung
        finanziell ausgeblutet worden und völlig an den Rand
        gedrängt. Die Verantwortung muss in den Händen der
        demokratisch gewählten Ebenen bleiben und die Unab-
        hängigkeit der Behörden, die Grundlagen zur Entschei-
        dungsfindung liefern sollen, erst einmal hergestellt wer-
        den.
        Heute will der EU-Umweltministerrat eine Entschei-
        dung über eine gemeinsame und richtungsweisende Er-
        klärung zur Zulassung von gentechnisch veränderten Or-
        ganismen treffen – trotz aller Blockadebemühungen der
        Bundesregierung. Die Umweltminister wollen sich für
        die Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren, ver-
        besserte Risikoforschung, eine stärkere Prüfung von
        Umweltbelangen sowie eine Stärkung der gentechnik-
        freien Regionen einsetzen. Sie fordern die Europäische
        Kommission sowie die Mitgliedstaaten auf, entspre-
        chende Maßnahmen einzuleiten. Die Bundesregierung
        hat in den letzten Tagen mit Prüfvorbehalten bezüglich
        einzelner Formulierungen den Entscheidungsprozess
        blockiert. Ministerin Aigner zielt offenbar auf eine Ver-
        hinderung jeder Verbesserung der Risikobewertung und
        die Stärkung gentechnikfreier Regionen. Das ist genau
        das Gegenteil von dem, was die CSU im Bayernwahl-
        kampf versprochen hat.
        Noch ist nicht klar, wie die Entscheidung ausfällt. Wir
        jedenfalls unterstützen die Forderungen des EU-Um-
        weltkommissars Dimas und unserer Nachbarländer Ös-
        terreich und Frankreich, damit es endlich zu einer Ver-
        besserung der Risikoforschung beim Einsatz der
        Agrogentechnik kommt. Es reicht nicht, wenn politi-
        schen Entscheidungsträgern und Verbraucherinnen und
        Verbrauchern von EFSA und nationalen Behörden ge-
        sagt wird, es gebe keine Risiken, wenn gar nicht danach
        gesucht wird.
        Hierzu ein Beispiel aus der oben genannten Studie:
        Eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern
        von Forschungsinstituten, Gentechnikindustrie und Zu-
        lassungsbehörden legte dieses Jahr einen Vorschlag zur
        Risikoforschung vor, mit dem unter dem Etikett „Verein-
        fachung“ Standards und Anforderungen des „risk assess-
        ment“ im Grunde reduziert und unterlaufen werden sol-
        len. Insbesondere geht es darum, die nötigen
        Einzeluntersuchungen zur Zusammenwirkung von GVO
        – gentechnisch veränderten Organismen – und Pflanzen
        zu vermeiden und entgegen bestehender gesetzlicher
        Vorschriften auf die Betrachtung der Proteine herabzu-
        stufen. Beschönigend und verschleiernd wird dann for-
        muliert, dass „durch eine stufenweise Untersuchung ein-
        facher Teilbereiche zu einer umfassenden und sicheren
        Bewertung der Umweltrisiken gelangt werden“ könne.
        Zu den Autoren zählen neben dem Erstautor Romeis
        Mitarbeiter von BASF, DuPont, Monsanto und Syngenta
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20921
        (A) (C)
        (B) (D)
        sowie die Experten Joachim Schiemann (BBA bzw. JKI
        und EFSA), Detlef Barsch (BVL und EFSA) und Jeremy
        Seet (EFSA). Es stellt sich doch die Frage, auf welche
        Experten die EU-Kommission und die nationalen Regie-
        rungen bei einer notwendigen Verschärfung der Prüf-
        richtlinien vertrauen soll, wenn ihre eigenen Beamten
        sich bereits im Vorfeld mit der Industrie auf niedrige
        Standards geeinigt haben?
        Unter dem Stichwort „Synchronisation der weltweiten
        GVO-Zulassungen“ läuft derzeit eine massive Lobby-
        kampagne der Agrogentechnikindustrie mit dem Ziel,
        die für sie lästigen und zeitraubenden Abstimmungsver-
        fahren der EU zur Zulassung von gentechnisch verän-
        derten Organismen zu umgehen. Ginge es nach Kom-
        missionspräsident Barroso, EU-Kommissarin Fischer-
        Boel, Exlandwirtschaftsminister Seehofer und wohl
        auch Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner, würden
        künftig auch nicht zugelassene GVO-Futtermittel bis zu
        einem Schwellenwert in die EU eingeführt und verfüttert
        werden. Diese Forderung ist absurd und gefährlich. In
        keinem anderen Land ist das möglich. Glücklicherweise
        lässt sich dieser Durchmarsch der „Koalition der Willi-
        gen“ so einfach nicht in der EU verwirklichen, da die
        Skepsis gegenüber der Agrogentechnik wächst. Stattdes-
        sen setzt die Kommission nun auf die Harmonisierung
        von Laborstandards. Hier muss kritisch die Wirkung
        überprüft werden.
        Wir fordern bezüglich der Zulassungsverfahren klare
        politische Verantwortung, mehr Transparenz, mehr De-
        mokratie sowie die Entflechtung zwischen Experten in
        den Behörden und der Agroindustrie. Wir fordern bezüg-
        lich der Risikoforschung mehr unabhängige Risikofor-
        schung und die Einbeziehung der sozioökonomischen
        Faktoren. Umweltbelange müssen nicht nur auf dem Pa-
        pier, sondern wirklich geprüft werden. Dabei hat die
        EFSA keine Kompetenz zu Fragen der Probleme von
        Umweltauswirkungen der Agrogentechnik. Entweder
        müssen also Umweltexperten einbezogen werden, oder
        die EU-Umweltbehörde muss diese Fragen selbst reell
        prüfen.
        Die CSU hat in ihrem Wahlkampf in Bayern massiv
        für die Unterstützung von gentechnikfreien Regionen
        geworben. Statt heuchlerischer Rhetorik wäre heute der
        richtige Zeitpunkt für konkrete Taten. Aber selbst bei
        diesem Punkt der Erklärung setzt die Bundesregierung
        auf Verzögerungstaktik und blockiert durch Prüfvorbe-
        halte. Wenn es der CSU nicht nur um Wahlkampf ginge,
        würde sie sich in Brüssel, Berlin und Bayern gleicher-
        maßen ernsthaft gegen Gentechnik einsetzen. Dass man
        auf EU-Ebene wirksam gegen Agrogentechnik vorgehen
        kann, haben andere Länder gezeigt.
        Wie wichtig ein zuverlässiges und transparentes Zu-
        lassungsverfahren, unabhängige Forschung und auf vor-
        beugenden Schutz ausgerichtete Gesetze auf europäi-
        scher und nationaler Ebene sind, hat zuletzt die Studie
        des österreichischen Umweltministeriums gezeigt, die
        im November 2008 publiziert wurde. Dabei wurde in ei-
        ner Langzeitfütterungsstudie insektenresistenter Mais
        von Monsanto – Linie NK603 x MON810 – an Mäuse
        verfüttert. Die Mäuse, an die der Gentechmais verfüttert
        wurde, hatten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine
        geringere Fruchtbarkeitsrate sowie bei den Nachkom-
        men ein geringeres Körpergewicht. Solche nationalen
        Studien und Erkenntnisse müssen dringend in den Zulas-
        sungsprozess einfließen können.
        Verbraucherinnen und Verbraucher wollen keine Gen-
        technik auf dem Teller oder Acker. Erst vor wenigen Ta-
        gen hat dies eine jüngst vorgelegte repräsentative Studie
        des renommierten Marktforschungsinstituts Gesellschaft
        für Konsumforschung (GfK) wieder belegt. Rund
        85 Prozent der Verbraucher in Deutschland wollen, dass
        Milchkühe kein gentechnisch verändertes Futter erhal-
        ten. Zudem wären Verbraucher zu 80 Prozent auch be-
        reit, mehr Geld für Milchprodukte ohne Gentechnik zu
        zahlen. Zwei Drittel der 1 000 Befragten würden Pro-
        dukte mit dem Hinweis „Ohne Gentechnik“ bevorzugt
        kaufen. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen
        Verbraucherwillen nicht länger zu ignorieren.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
        rung des Aufstiegsfortbildungsförderungs-
        gesetzes
        – Antrag: Förderung des lebenslangen Ler-
        nens unverzüglich entscheidend voranbrin-
        gen
        (Tagesordnungspunkt 15 a und b)
        Alexander Dobrindt (CDU/CSU): „Es ist noch kein
        Meister vom Himmel gefallen“, sagt ein altes Sprich-
        wort. Um Meister zu werden, braucht man Leistungsbe-
        reitschaft, Ehrgeiz, Zielstrebigkeit, Begabung, Disziplin,
        Fleiß, Geduld und – Geld. Kursgebühren, Prüfungsge-
        bühren, Verwaltungsgebühren, Reisekosten, Lohnaus-
        fall und nicht zuletzt die Finanzierung der laufenden Le-
        benshaltungskosten sind der materielle Preis für die
        Zulassung zur Meister-, Techniker- oder Fachwirtprü-
        fung. Hinzu kommen immaterielle Entbehrungen, der
        Verzicht auf Feierabende, Wochenenden und Urlaube.
        Trotzdem absolvieren Jahr für Jahr rund 100 000 Men-
        schen in Deutschland eine berufliche Fortbildung erfolg-
        reich. Dies entspricht immerhin knapp der Hälfte der
        Hochschulabsolventen eines Jahrgangs.
        Für viele Betriebe sind die Meister, Techniker und
        Fachwirte attraktiv. Sie verfügen bereits von Anfang an
        über Berufserfahrung und Handlungskompetenz. Inso-
        fern sind sie oft gegenüber Hochschulabsolventen im
        Vorteil. Darüber hinaus sind besonders die Handwerks-
        meister auf eine selbstständige Tätigkeit gut vorbereitet.
        Sie übernehmen Betriebe, schaffen Arbeitsplätze und
        bilden aus. Diese Menschen auf ihrem oft steinigen Weg
        zu unterstützen, ist für mich eines der wichtigsten bil-
        dungspolitischen Anliegen. Ich bin daher sehr stolz, dass
        das AFBG/„Meister-BAföG“ untrennbar mit der CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion verbunden ist.
        20922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das AFBG ist nicht nur ein Leistungsgesetz. Es ist
        auch ein Signal an die Menschen, die in der beruflichen
        Bildung einen Aufstieg anstreben. Berufliche und akade-
        mische Bildung sind für uns gleichwertig. Wir brauchen
        den Elektrotechniker ebenso wie die Elektroingenieurin,
        die Zahntechnikerin ebenso wie den Zahnarzt, den Flei-
        schermeister ebenso wie die Ernährungswissenschaftle-
        rin. Darum ist auch das AFBG ebenso wichtig wie das
        BAföG. Das BAföG haben wir zu Beginn des laufenden
        Wintersemesters um 10 Prozent erhöht, die Freibeträge
        um 8 Prozent. Durch die Anhebung der Freibeträge kön-
        nen allein 100 000 Studierende zusätzlich BAföG-Leis-
        tungen in Anspruch nehmen. Wir haben die Förderung
        für Auslandsabschnitte erweitert und die finanzielle Si-
        tuation studierender Eltern verbessert. Gleiches wollen
        wir jetzt für die Fortbildungsteilnehmer tun. Sie haben
        bereits von der Erhöhung der BAföG-Sätze und Freibe-
        träge profitiert. Mit der Novelle wollen wir jetzt auch
        noch den Kreis der Geförderten ausweiten und die At-
        traktivität der Förderung erhöhen. Dabei lassen sich aus
        nachvollziehbaren Gründen die BAföG-Konditionen
        nicht eins zu eins auf die Fortbildungsteilnehmer über-
        tragen. Die Rahmenbedingungen der Fortbildungskurse
        sind andere als die der Studiengänge an den Hochschu-
        len. Für die Kurse sind erhebliche Kursgebühren zu ent-
        richten, ein großer Teil der Teilnehmer absolviert die
        Fortbildungen in Teilzeit und berufsbegleitend. Außer-
        dem schließt die Prüfung oft nicht unmittelbar an den
        Kurs an. Schließlich müssen die unterschiedlichen Le-
        benssituationen und Bedürfnisse beider Gruppen bei der
        Förderung berücksichtigt werden. Anders als die meis-
        ten Studierenden waren die Fortbildungsteilnehmer in
        der Regel schon vor Beginn des Kurses mehrere Jahre
        erwerbstätig. Nicht selten sind sie schon selbst für Ehe-
        partner und Kinder verantwortlich. Dies ist im Besonde-
        ren zu berücksichtigen.
        Ich halte drei Punkte im vorliegenden Gesetzentwurf
        für besonders wesentlich:
        Erstens. Wir wollen den Anwendungsbereich des
        AFBG erweitern. Fortbildungswillige sollen künftig ei-
        nen Förderanspruch auf eine und nicht nur die erste Auf-
        stiegsfortbildung erhalten. Wer bereits eine selbst finan-
        zierte Aufstiegsfortbildung absolviert hat und dadurch
        nach bisherigem Recht keinen Förderanspruch für eine
        weitere Fortbildung mehr hat, soll künftig für seine Ei-
        geninitiative und sein besonderes Engagement nicht mit
        der Verweigerung der Förderung „bestraft“ werden. Be-
        sonders älteren Arbeitnehmern eröffnet sich damit eine
        neue Förderungsmöglichkeit, da sie häufig in jungen
        Jahren unmittelbar nach der Erstausbildung eine selbst
        finanzierte, aber dennoch förderschädliche Aufstiegsfort-
        bildung durchgeführt haben. Künftig wird ihnen – auch
        nach einer längeren Zeit der Erwerbstätigkeit – eine beruf-
        liche Weiterbildung oder Umorientierung ermöglicht.
        Zweitens. Wir wollen auch Fortbildungen im Bereich
        der Altenpflege und der Erzieherberufe stärker in die
        Förderung einbeziehen. Angesichts der immer älter wer-
        denden Bevölkerung und des damit verbundenen erhöh-
        ten Pflegebedarfs ist es nicht nur erforderlich, das vor-
        handene Personal in diesem Bereich noch besser zu
        qualifizieren, sondern auch neue Nachwuchskräfte durch
        attraktivere Fortbildungsmöglichkeiten zu gewinnen.
        Gleiches gilt auch für den Bereich der Erzieherberufe.
        Durch die Öffnung des Anwendungsbereichs für Fortbil-
        dungen im Fachbereich Sozialwesen an Fachschulen
        verbessern wir insbesondere die Rahmenbedingungen
        für die Fortbildung zum staatlich geprüften Erzieher
        bzw. zur geprüften Erzieherin. Letzteres ist insbesondere
        im Hinblick auf die beschlossene Ausweitung des Kin-
        derbetreuungsangebots und die Einrichtung von Ganz-
        tagsschulangeboten von großer Bedeutung.
        Drittens. Fortbildungsabsolventen sollen während der
        Prüfungszeit stärker entlastet werden. Zurzeit besteht für
        die Vollzeitgeförderten zwischen Ende des Lehrganges
        und Anfertigen des Prüfungsstücks und/oder dem Able-
        gen der Prüfung eine Förderlücke beim Unterhaltsbei-
        trag. Denn die AFBG-Förderung wird bislang nur bis
        zum letzten Unterrichtstag gewährt. Das Meisterstück
        wird in der Regel aber erst nach Abschluss der Fortbil-
        dungsmaßnahme gefertigt. Auch die Prüfung erfolgt sel-
        ten im unmittelbaren Anschluss an den Lehrgang. Inso-
        weit befinden sich die Geförderten oftmals gerade in der
        für sie wichtigen Prüfungsvorbereitungszeit in einer fi-
        nanziell unsicheren und damit für sie belastenden Situa-
        tion. Hier soll Abhilfe geschaffen werden. Die Unter-
        haltsbeiträge sollen künftig als Darlehen bis zu drei
        Monate nach Ende der Maßnahme fortgezahlt werden.
        Soweit nur drei Beispiele für die geplanten Verbesse-
        rungen, mit denen wir fortbildungswillige Menschen un-
        terstützen wollen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir
        mit den geplanten Verbesserungen noch mehr beruflich
        Tätige zu einer Aufstiegsfortbildung anregen können.
        „Das Werk lobt den Meister“, sagt ein altes deutsches
        Sprichwort. Dies gilt auch für den vorgelegten Gesetz-
        entwurf, für den ich mich bei der Bundesministerin für
        Bildung und Forschung, Frau Professor Annette
        Schavan, herzlich bedanken möchte.
        Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Am 23. April
        1996 hat es die erste Beschlussfassung des Deutschen
        Bundestages zur Einführung eines Aufstiegsfortbil-
        dungsförderungsgesetzes gegeben. Die damalige Initia-
        tive der Regierung von CDU/CSU und FDP verdient in-
        sofern Anerkennung, als sie ein wegweisender Schritt
        zur Realisierung der Gleichwertigkeit von allgemeiner
        und beruflicher Bildung war. Denn erstmals bekamen
        Fachkräfte einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch
        auf staatliche Unterstützung in ihrer Fort- und Weiterbil-
        dung unter dem Gesichtspunkt des Aufstiegs. Sie erfuh-
        ren damit eine vergleichbare Förderung wie Studenten
        nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.
        Die Argumente, die der damalige Bundesbildungsmi-
        nister Dr. Jürgen Rüttgers nannte, haben nach wie vor
        ihre Berechtigung. Der Rechtsanspruch auf Unterstüt-
        zung ermöglicht fortbildungswilligen nichtakademi-
        schen Nachwuchskräften die volle Entfaltung ihrer Nei-
        gung, Begabung und ihrer Fähigkeiten, und zwar
        unabhängig von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen. In-
        sofern hat das AFBG wie das BAföG neben seiner bil-
        dungspolitischen auch eine große sozialpolitische Be-
        deutung. Außerdem sollte die Förderung der Sicherung
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20923
        (A) (C)
        (B) (D)
        und der Aufwertung der beruflichen Bildung in Deutsch-
        land und damit der Wertschöpfung an diesem Wirt-
        schaftsstandort dienen. Der in vielen Bereichen anste-
        hende Generationswechsel, aber auch die Entwicklung
        neuer Produkte und Verfahren erforderten schon damals
        eine hohe Anzahl qualifizierter und innovativer Nach-
        wuchskräfte. Das AFBG sollte die Erweiterung und den
        Ausbau beruflicher Qualifikation unterstützen und die
        Fortbildungsmotivation des Fachkräftenachwuchses
        stützen. Es sollte zugleich einen Anreiz für potenzielle
        Existenzgründer geben, sich für den Weg in die Selbst-
        ständigkeit zu entscheiden.
        Soweit die Kerngründe, die mit der Einführung dieses
        Gesetzes verbunden waren. Dass damit der Wegfall von
        Förderungsmaßnahmen nach den Arbeitsmarktförde-
        rungsgesetzen einherging, sollte hier nicht verschwiegen
        werden.
        Der Paradigmenwechsel hin zu einem staatlich garan-
        tierten und aus Steuergeldern geförderten Rechtsan-
        spruch zur Erwachsenenweiterbildung im Sinne berufli-
        cher Aufstiegsfortbildung war gleichwohl ein wichtiger
        Wechsel, der dann aber allerdings in der Zukunft durch
        neue politische Mehrheiten auszugestalten war. Denn
        nach der Einführung des Meister-BAföGs 1997 blieb die
        Zahl der geförderten Arbeitnehmer bis zur Jahrtausend-
        wende immer unter der Zahl von 60 000 Personen. Dann
        allerdings nahmen die damalige Bundesbildungsministe-
        rin Edelgard Bulmahn und die Parlamentsmehrheit von
        SPD und Grünen mit einer großen Reform das
        Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz neu in Angriff
        und verhalfen der beruflichen Weiterbildung zu einem
        großen Schritt nach vorn. Die Zahl der Geförderten
        konnte von unter 60 000 auf über 140 000 nach der No-
        velle 2001 bis zum Jahr 2005 gesteigert werden.
        Der finanzielle Aufwand für die Förderung der beruf-
        lich Qualifizierten wurde verdoppelt. Die ausgezahlten
        Zuschüsse wurden verfünffacht. Wesentlich war hierfür
        nicht nur, dass es eine Erweiterung des Gefördertenkrei-
        ses gab und dass Leistungen im Bereich des Unterhalts
        wie der Familienförderung verbessert wurden. Die ent-
        scheidende Maßnahme war, dass unabhängig von einer
        Vollzeit- oder Teilzeitausbildung und auch unabhängig
        von den Einkommens- und Vermögensverhältnissen
        erstmals ein Maßnahmezuschuss in beträchtlicher Höhe
        für alle, die sich einer Aufstiegsfortbildung stellen woll-
        ten, als Rechtsanspruch zur Verfügung stand.
        Für diese neue Qualität haben wir Sozialdemokraten
        uns intensiv eingesetzt und diese neue Qualität haben
        wir auch durchgesetzt. Denn natürlich ist ein Rechtsan-
        spruch etwas anderes als ein Stipendium. Wer das Recht
        auf Bildung als derart zentral ansieht, wie wir Sozialde-
        mokraten es tun, muss bei den Bildungsausgaben – auch
        im Erwachsenenbereich – mindestens einen fairen Anteil
        von Staats wegen übernehmen, wo doch sowieso noch
        sehr hohe private Aufwendungen bei den betroffenen
        Arbeitnehmern verbleiben. Im Übrigen durfte es auch
        nicht so sein, dass die grundsätzliche Förderung einer
        solchen Aufstiegsfortbildung davon abhing, ob diese in
        Vollzeitform oder in Teilzeitform durchgeführt wurde.
        Mit dem Maßnahmebeitrag für alle gab es eine Unter-
        stützung unabhängig von der Organisationsform und
        speziell auch für die Teilzeitform, die ja von der persön-
        lichen Motivation und Beanspruchung her anders, aber
        mindestens in gleicher Intensität vieles von den Auf-
        stiegsfortbildungswilligen abverlangt.
        Wem Weiterbildung und Arbeitnehmerbildung wich-
        tig ist, der muss sich allerdings auch kontinuierlich mit
        den Entwicklungen in diesem Bereich auseinanderset-
        zen, Veränderungen beobachten und zu neuen Initiativen
        kommen. Was sind nun wichtige Grundfakten, und wel-
        che Veränderungen gibt es, auf die man sich mit weite-
        ren politischen Reformen einstellen muss?
        Erstens. Stärke und Struktur der beruflichen Qualifi-
        kationsbereiche verändern sich. Was als sogenanntes
        Meister-BAföG eine gewisse Popularität gewonnen hat,
        ist doch in Wirklichkeit schon vielmehr ein Fördergesetz
        für Aufstiegsfortbildung im Bereich von Industrie und
        Handel. Nur 34 Prozent der Geförderten kommen aus
        dem Handwerk selbst, 46 Prozent aus dem Bereich von
        Industrie und Handel. Diese Differenzierung zeigt auf,
        dass eben nicht nur Handwerksmeister, Techniker, Fach-
        kaufleute, sondern auch Betriebswirte, mathematisch-
        technische Assistenten, Programmierer, Softwareent-
        wickler oder auch Fachkrankenpfleger den wachsenden
        Teil derjenigen bilden, die eine solche rechtliche Auf-
        stiegsfortbildung in Anspruch nehmen. Darin bilden sich
        Veränderungen in der wissensbasierten Ökonomie der
        Gegenwart und Zukunft ab. Es kommen vor allen Din-
        gen auch neue Berufsfelder hinzu, die sich aus dem de-
        mografischen Wandel und den höheren Anforderungen
        an Berufe in diesen Bereichen widerspiegeln, wie zum
        Beispiel nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch
        im Altenpflege- und im Erziehungsbereich. Mit der No-
        velle zur Aufstiegsfortbildung verbinden wir Sozialde-
        mokraten deshalb auch die Absicht, diese beruflichen
        Veränderungen nicht nur nachzuvollziehen, sondern sich
        auch auf zukünftige Bedarfe rechtzeitig einzustellen.
        Zweitens. Das Potenzial zur Aufstiegsfortbildung ist
        deutlich größer als es bisher von den Einzelnen genutzt
        wird und für die Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt
        wünschenswert ist. Rund 480 000 schließen Jahr für Jahr
        eine Berufsausbildung ab, und nur rund ein Fünftel da-
        von nimmt später eine Aufstiegsfortbildung in den unter-
        schiedlichen Formen wahr. Dies ist angesichts des ab-
        sehbaren Fachkräftebedarfes gerade im Bereich der
        höheren Qualifikationen sicherlich entschieden zu we-
        nig. Denn absehbar ist jetzt schon, dass es nicht nur eine
        akademische Fachkräftelücke geben wird, sondern auch
        eine, die aus der beruflichen Qualifikation erwächst.
        Woher soll das Potenzial an Menschen kommen, die in
        der modernen Wissens- und Technologiegesellschaft der
        Zukunft an entscheidender Stelle im Bereich von Ent-
        wicklung, Anleitung, Management bis hin zur Unterneh-
        mensführung Verantwortung übernehmen und zur Leis-
        tungsfähigkeit beitragen, wenn hier nicht rechtzeitig
        vorgesorgt wird? Und wie lange wollen wir es noch an-
        gehen lassen, dass es ein groteskes Missverhältnis zwi-
        schen Männern und Frauen gibt, was die Chance auf die
        Wahrnehmung einer Aufstiegsfortbildung angeht?
        20924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
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        Aktuell liegen die Zahlen noch so, dass unter den
        Teilnehmern einer Aufstiegsfortbildung 68 Prozent
        Männer und nur 32 Prozent Frauen sind. Auch dieses
        Anliegen, Frauen in ihrer immer noch besonderen Situa-
        tion, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
        sprich Aufstiegsfortbildung und Familie angeht, gezielt
        und differenziert zu fördern, wird für ein neuerliches Re-
        formgesetz der Maßstab sein müssen.
        Nicht vergessen werden sollte auch, dass es in
        Deutschland noch einen besonders hohen Nachholbedarf
        gibt, was die Qualifizierungs- und Aufstiegschancen für
        Migranten angeht. Eine moderne Weiterbildungspolitik
        muss hier noch bestehende Schranken aus dem Weg räu-
        men und den Einstieg in den Aufstieg durch Qualifizie-
        rung fördern.
        Drittens. Was die Altersverteilung der Menschen an-
        geht, die in einer Aufstiegsfortbildung sind, sind rund
        80 Prozent zwischen 20 und 35, konkret fast 30 Prozent
        zwischen 20 und 25, 34 Prozent zwischen 25 und 30 und
        16 Prozent zwischen 30 und 35. Umso mehr muss uns
        beschäftigen, dass die Vereinbarung von Aufstiegsfort-
        bildung und eigenen Kindern bisher nur schwer zu reali-
        sieren war. Geschätzte unter 10 Prozent der in Vollzeit
        Geförderten, die in einer Aufstiegsfortbildung sind, ha-
        ben Kinder. Das Missverhältnis ist hier dramatisch; und
        dies ist offensichtlich nicht nur aus einer bestimmten
        langfristigen Planung von Ausbildungs- und Berufspha-
        sen bzw. Familiengründung so, sondern auch weil die
        Beanspruchung durch die Aufstiegsfortbildung sehr
        hoch ist und die Unterstützung für Aufstiegsfortbil-
        dungsmotivierte mit Kindern offensichtlich nicht ausrei-
        chend ist. Fakt ist jedenfalls, dass nach der langjährigen
        Systematik in der Förderung gerade die Darlehensbelas-
        tung für Familienmütter oder -väter mit zwei Kindern
        besonders hoch war, bekamen diese doch nur 17 Prozent
        der Aufwendungen als Zuschuss erstattet, während
        Singles ohne Kinder zu einer deutlich niedrigeren Darle-
        hensschuld und einem entsprechend höheren Zuschuss
        kamen.
        Viertens. Alarmieren musste schließlich alle Politiker,
        denen etwas an der Aufstiegsfortbildung für Arbeitneh-
        mer liegt, dass nach dem kontinuierlichen Anstieg der
        Zahl der Geförderten seit dem Jahr 2001 bis 2005 auf
        den Höhepunkt von 141 000 sich diese 2006 erstmals
        wieder reduzierte und dadurch 5 000 weniger gefördert
        wurden. Aus diesem ersten Rückgang durfte nach Auf-
        fassung von uns Sozialdemokraten unter keinen Umstän-
        den ein dauerhafter Trend werden. Ein rechtzeitiges Ge-
        gensteuern war für uns deshalb unabdingbar. Wir
        brauchen mehr Menschen, die zu einer Aufstiegsfortbil-
        dung bereit sind und dieses ermöglichen können, und
        wir brauchen vor allem auch mehr erfolgreiche Absol-
        venten einer solchen zusätzlichen Fortbildung, die ja
        auch mit beträchtlichen persönlichen Vorleistungen und
        Anstrengungen verbunden ist. Es darf deshalb auch nicht
        unberührt lassen, dass es eine nicht unbeträchtliche
        Quote von Menschen gibt, die eine Aufstiegsfortbildung
        beginnen, diese aber dann nicht durchhalten können. Ab-
        bruchquoten von 20 Prozent stehen dann nicht nur für
        enttäuschte Hoffnungen und Anstrengungen, sondern
        sind auch ein zusätzliches Potenzial.
        Genauso muss uns das Faktum beschäftigen, dass im
        ersten Anlauf nur 80 Prozent der Teilnehmer die Prüfung
        schaffen. In einzelnen Berufen wie Bilanzbuchhalter
        oder Steuerfachwirt liegt die Quote gar nur bei 50 bis
        60 Prozent. Mit gezielter zusätzlicher Förderung müssen
        sowohl der Abbruch wie auch die Wiederholungsprü-
        fung mit entsprechenden Zeitverlusten weiter reduziert
        werden, damit es mehr erfolgreiche Absolventen und zü-
        gige Abschlüsse gibt. Auch hierum wird sich eine enga-
        gierte Reformpolitik zu kümmern haben.
        Für uns Sozialdemokraten war deshalb sehr früh klar,
        dass wir es nach den von uns erfolgreich durchgekämpf-
        ten Verbesserungen beim BAföG nicht bei einer bloßen
        Übertragung der massiven Verbesserungen vom BAföG
        auf das Meister-BAföG – die im Übrigen ja schon ge-
        setzlich vorgeschrieben war – belassen konnten, sondern
        dass wir auch hier strukturelle und sehr gezielte und
        nachhaltige Reformen zusätzlich brauchen würden. Dies
        haben wir ungeachtet einer Koalitionsvereinbarung, bei
        der noch keine Weiterentwicklung des Aufstiegsfortbil-
        dungsförderungsgesetzes für diese Legislaturperiode
        vorgesehen war, als SPD im Laufe des Jahres 2007 für
        uns intern entwickelt und auch gegenüber dem Koali-
        tionspartner immer wieder deutlich gemacht. Es erfüllt
        uns mit einer gewissen Genugtuung, dass dann auch die
        Ministerin bzw. der Koalitionspartner diesen Vorschlä-
        gen und diesem Drängen hinhaltend, aber stetig gefolgt
        sind und wir uns mit dieser Initiative letztlich auch in der
        Großen Koalition durchsetzen konnten, auch wenn es
        schon manchmal skurrile Züge annahm, wie in den Pres-
        seerklärungen der Bundesbildungsministerin immer wie-
        der nachgebessert wurde und aus dem Nichts-tun-Wol-
        len zuerst ein Prüfen und dann ein Verändern an ganz
        wenigen Punkten und schließlich ein durchaus breit an-
        gelegtes Reformwerk wurde. Dass sich die jetzt vorge-
        legte Konzeption zu der zweiten großen Novelle zum
        Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz in wesentlichen
        Feldern mit den Punkten deckt, die wir von sozialdemo-
        kratischer Seite im Februar, März in die Diskussion und
        öffentliche Debatte gebracht haben, kann da nur freuen.
        Was sind nun die besonders wichtigen Punkte? Ers-
        tens. Die deutlichen Verbesserungen, die wir von der
        SPD schon beim BAföG durchkämpfen konnten mit der
        Erhöhung der Sätze um 10 Prozent und der Freibeträge
        um 8 Prozent, schlagen sich jetzt auch voll beim Meis-
        ter-BAföG, sprich bei der Aufstiegsfortbildung nieder.
        Zweitens. Die geförderte Aufstiegsfortbildung muss
        nicht mehr zwingend die erste sein, sondern es wird eine
        Aufstiegsfortbildung gefördert, auch wenn es schon die
        zweite oder die dritte, aber bis dahin anderweitig finan-
        zierte sein sollte. Damit werden Aufstiegsfortbildungs-
        willige nicht mehr dafür bestraft, dass sie vorher schon
        eigene Initiative entwickelt haben. Im Prozess des le-
        bensbegleitenden Lernens ist dies sicherlich eine mo-
        derne politische Antwort auf das Ideal eines modernen
        kontinuierlichen Fortbildungsprogramms, dem sich der
        Einzelne möglichst widmen sollte.
        Drittens. Eine Aufstiegsfortbildung ist immer mit viel
        Anstrengung und Aufwand, nicht zuletzt in der Prü-
        fungsphase, verbunden. Deshalb muss sie auch gefördert
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20925
        (A) (C)
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        werden, um zum Erfolg zu führen. Dies kann durch eine
        Verlängerung der Förderung in der Prüfungsphase ge-
        schehen, die wir in dieser Form erstmals einführen wol-
        len, und es kann auch durch eine zusätzliche Prämie auf
        eine erfolgreiche Prüfung unterstützt werden. Auch
        diese Komponente ist im neuen Gesetzeskonzept enthal-
        ten.
        Viertens. Eine lange und teure Aufstiegsfortbildung
        ist derzeit vor allem für Fachkräfte mit Familie und Kin-
        dern nur schwer und unter großen Schwierigkeiten zu
        realisieren. Wir haben uns deshalb als Sozialdemokraten
        besonders darauf konzentriert, eine Erhöhung des Kin-
        derzuschlags von derzeit 179 Euro auf immerhin
        210 Euro pro Kind und Monat durchzusetzen. Dieser Er-
        höhungsbetrag soll auch erstmals zu 50 Prozent als Zu-
        schuss gegeben werden. Gerade diese Bezuschussung ist
        uns sehr wichtig, um die Darlehensschuld bei Familien
        mit Kindern möglichst einzudämmen. Schließlich führen
        wir einen unkomplizierten, nicht an Nachweise gebun-
        denen Kinderbetreuungszuschuss speziell für Allein-
        erziehende ein, denn gerade Alleinerziehende in Auf-
        stiegsfortbildung sind besonderen Anforderungen
        unterworfen.
        Fünftens. Was beim BAföG schon Praxis ist, muss
        beim Meister-BAföG auch gelten: Fortbildungswilligen
        mit Migrationshintergrund muss der Zugang zu einer
        Höherqualifizierung erleichtert werden. Ausländische
        Mitbürgerinnen und Mitbürger, die schon hier geboren
        sind bzw. eine dauerhafte Bleibeperspektive haben, sol-
        len künftig auch ohne Anknüpfung an eine vorherige
        Mindesterwerbsdauer nach dem AFBG gefördert werden
        können.
        Sechstens. Dass Menschen, die eine Aufstiegsfortbil-
        dung erfolgreich abgeschlossen haben, darin unterstützt
        und anerkannt werden sollten, wenn sie danach ein Un-
        ternehmen gründen und Arbeits- und Ausbildungsplätze
        schaffen, ist uns sehr wichtig. Mit der Differenzierung,
        die hier vorgesehen ist, wird auch schon die Schaffung
        von nur einem Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz aner-
        kannt und entsprechend über den Erlass einer Darlehens-
        schuld honoriert.
        Siebtens. Es liegt im Interesse aller, dass die Bil-
        dungsträger im hoffentlich wachsenden Bereich der Auf-
        stiegsfortbildung auch die notwendige Qualität der Maß-
        nahmen garantieren. Mit der Einführung des Nachweises
        eines Qualitätssicherungssystems bei den Bildungsträ-
        gern soll dieses nun abgesichert werden.
        Wie wichtig uns die Aufstiegsfortbildung ist, kann
        man auch an dem Korridor der zusätzlich zur Verfügung
        gestellten Mittel sehen. Was im Jahr 2009 mit 30 Millio-
        nen Euro Mehraufwendungen für Bund und Länder be-
        ginnt, wird bis zum Jahr 2012 auf über 90 Millionen
        Euro aufwachsen. Damit hätten wir eine Steigerung der
        Mittel um gut 60 Prozent bis zum Jahr 2012 zu verzeich-
        nen, was ein eindrucksvoller Beleg für die Priorität von
        Weiterbildung sein wird, die wir letztlich dann eben
        doch in dieser Großen Koalition ausbauen konnten.
        Wenn mehr nicht in dieser Konstellation zu erreichen
        war, so wird uns das als Sozialdemokraten nicht davon
        abhalten, konzeptionell und politisch für weitere Schritte
        zu werben und zu kämpfen. Tatsächlich muss aus dem
        BAföG und dem AFBG am Ende ein gemeinsames
        Erwachsenenbildungsförderungsgesetz werden, das
        auch die weitergehenden Förderungen von Weiterbil-
        dung gesetzlich als Rechtsansprüche absichert. Die SPD
        ist sehr engagiert dafür. Wir wollen ein Erwachsenen-
        BaföG, und wir wollen die Arbeitsversicherung als Aus-
        bau der Arbeitslosenversicherung. Aber hier ist leider
        mit der CDU/CSU nichts zu machen. Hier haben wir ak-
        tuell noch grundlegende Differenzen in der Großen
        Koalition.
        Dass wir gleichwohl so viel auch gemeinsam errei-
        chen konnten, lässt einen dennoch abschließend sagen:
        Was 1996 begann und im Jahr 2001 mit Edelgard
        Bulmahn einen wirklich entscheidenden Schub nach
        vorne bekam, wird auch mit diesem neuen gemeinsamen
        Reformvorschlag von SPD und CDU/CSU für die Zu-
        kunft weiter verbessert werden können. Für uns Sozialde-
        mokraten, denen die Bildungschancen von Arbeitneh-
        mern, die Leistungsbereitschaft von Aufstiegswilligen
        und die Förderung von Kompetenz und Qualifikation in
        der modernen Wirtschaft immer besondere Anliegen sind,
        ist dies deshalb auch ein besonders erfreulicher Tag.
        Wir wünschen uns für die gemeinsamen Schlussbera-
        tungen noch manche kluge Erkenntnis und Einsicht und
        dann bei der Verabschiedung ein wirklich gutes gemein-
        sames Gesetz, zu dessen Unterstützung wir auch die an-
        deren Fraktionen des Parlaments herzlich einladen.
        Patrick Meinhardt (FDP): Mit dem uns heute vor-
        liegenden Gesetzesentwurf legt die Bundesregierung
        endlich zum ersten Mal ihre längst überfälligen Vorstel-
        lungen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in
        Deutschland vor. Nach drei Jahren Regierungszeit ist
        dies auch überfällig.
        Der Fachkräftemangel ist in Deutschland schon lange
        Realität. So beklagte der DIHK erst in der vergangenen
        Woche, dass laut einer eigenen Umfrage unter 20 000
        Betrieben bereits jetzt 54 Prozent der Betriebe nicht ge-
        nügend technische Fachkräfte finden. Darüber hinaus
        fehlt es an Meistern und Facharbeitern. Diese Entwick-
        lung kennen wir seit Jahren. Dies macht es umso drin-
        gend notwendiger, gerade die berufliche Fortbildung
        attraktiver zu gestalten. Wir müssen es mit intelligenten
        Maßnahmen ermöglichen, dass Menschen einfacher und
        unbürokratischer eine höhere Qualifikation erlangen.
        Die Eigenverantwortung für mehr Bildung zu stärken
        und in die eigene Zukunft zu investieren, sichert nach-
        haltig die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-
        lands.
        Es gibt ein riesiges Potenzial an Menschen, denen
        durch ein attraktiveres Meister-BAföG der Weg zu einer
        höheren Qualifikation eröffnet werden kann. Heute
        schließen jährlich rund 480 000 Menschen eine Berufs-
        ausbildung ab, aber nur 97 000 bilden sich erfolgreich
        zum Meister, Fachwirt oder Kaufmann weiter. Dies sind
        noch immer viel zu wenige. Zuletzt war die Zahl derer,
        die das Meister-BAföG überhaupt in Anspruch genom-
        men haben, sogar rückläufig. Hier müssen wir dringend
        gegensteuern. In der Weiterbildung hat diese Bundes-
        20926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        regierung bildungspolitisch das Gestaltungspotenzial.
        Hier liegt in der beruflichen Weiterbildung ihre Verant-
        wortung. Das Ziel einer 50-prozentigen Weiterbildungs-
        beteiligung muss sich in einem klar erkennbaren
        Aktionspaket widerspiegeln.
        Berufliche Bildung und Weiterbildung dürfen nicht
        länger stiefmütterlich behandelt werden. Daher begrü-
        ßen wir Liberale grundsätzlich die Initiative der Bundes-
        regierung, berufliche Höherqualifizierung auch finan-
        ziell endlich stärker zu fördern. Die berufliche Bildung
        muss uns genauso viel wert sein wie die akademische
        Bildung. Bei der Ausgestaltung der finanziellen Förde-
        rung muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden,
        dass sich diese an den Bedürfnissen der Fortbildungswil-
        ligen ausrichtet und so mehr Menschen zur Fortbildung
        motiviert. Wir müssen die richtigen Zielgruppen aktivie-
        ren.
        Es ist längst überfällig, dass die Bundesregierung nun
        endlich nicht mehr länger nur die erste Aufstiegsfortbil-
        dung fördern will, sondern eine. Somit werden nicht län-
        ger diejenigen bestraft, die bereits eine Fortbildung in
        Anspruch genommen haben. Mit diesem Schritt werden
        sich eine ganze Menge von fortbildungswilligen jungen
        Menschen in diesem Land nicht mehr ärgern.
        Mit einem Meister-BAföG für die Altenpflege und
        Erziehung wird ein grundsätzlich positives Signal ge-
        setzt, auch wenn wir hier kritisch anmerken müssen,
        dass selbst aus den Fachverbänden dieser Weg mit Fra-
        gezeichen versehen wird. Bisher hat die Bundesregie-
        rung in drei Jahren mit einem Weiterbildungsportal im
        Internet für Erzieherinnen und Erzieher alle Beteiligten
        enttäuscht. Erziehung per Mausklick ist wirklich nicht
        auf der Höhe der Zeit.
        Politisch grundsätzlich richtig muss die folgende Bot-
        schaft sein: Wir brauchen einen deutlichen Aufwuchs
        bei der Weiterbildung, nicht nur beschränkt auf den tech-
        nisch-naturwissenschaftlichen Bereich, sondern eben
        gerade auch im sozialen Bereich und in der politischen
        Bildung. Aus der Summe aller von der Regierung vorge-
        schlagenen Maßnahmen ergibt sich jedoch noch kein
        stimmiges Weiterbildungskonzept. Das tut jetzt not.
        Wir brauchen keine zusätzliche BAföG-Bürokratie,
        sondern Förderungshilfen, die bei den Menschen an-
        kommen, die etwas für sich und ihre Bildung tun wollen.
        Dies sage ich insbesondere mit Blick auf die geplanten
        Regelungen zum Erlass von Rückzahlungsforderungen.
        In der jetzigen Fassung verspricht dies ein bürokrati-
        sches Fass ohne Boden zu werden. Doch auch wenn die
        Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf einen ersten
        Schritt in die richtige Richtung geht, werden wir sie
        nicht aus der Verantwortung entlassen, endlich auch das
        private Weiterbildungssparen zu fördern. Wir brauchen
        dringend eine Offensive zur Förderung des Bildungsspa-
        rens. Eine echte Weiterbildungsoffensive muss beides
        abdecken, zum einen die staatliche Unterstützung für
        Fortbildungswillige und zum anderen die Förderung des
        Aufbaus von privatem Kapital für Bildungsinvestitio-
        nen. Diesem Anspruch kann der vorgelegte Gesetzent-
        wurf jedoch nicht gerecht werden.
        Wer Bildungsgerechtigkeit ein Leben lang sichern
        will, muss Bildungsinvestitionen vom ersten Tag an för-
        dern. Diese finanzielle Förderung darf nicht haltmachen
        bei einer Prämie, sondern muss gerade die Eigeninitia-
        tive und Eigenverantwortlichkeit stärken. Es ist gelun-
        gen, das zunächst nur für Studenten eingeführte BAföG
        auch auf die berufliche Fortbildung zu übertragen. Jetzt
        muss es gelingen, ein umfassendes Bildungssparen auf-
        zubauen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu einen
        richtungweisenden Antrag vorgelegt.
        Ein ganzheitliches Konzept, gar eine Weiterbildungs-
        offensive, die zu einer Bewusstseinsveränderung in
        Deutschland führen könnte, lässt die Bundesregierung
        bisher leider schmerzlich vermissen. Wir begrüßen ja,
        dass das lebenslange Lernen in der Großen Koalition an-
        gekommen ist. Aber lassen Sie sich gesagt sein: Ihre bis-
        herige Taktik, hier und dort ein kleines Reförmchen
        – man könnte auch sagen einen halben Schritt vor und
        mit der Weiterbildungsprämie wieder zwei Schritte zu-
        rück – werden wir und auch die Fortbildungswilligen,
        die Wirtschaft und die Weiterbildungsträger Ihnen nicht
        länger durchgehen lassen. Deutschland benötigt drin-
        gend eine offensive Weiterbildung. Packen Sie es end-
        lich an!
        Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Ich
        bin ja grundsätzlich begeistert, wenn die Bundes-
        regierung sich dazu durchringt, im Bereich „Lebenslan-
        ges Lernen“ ihren vollmundigen Ankündigungen kon-
        krete Taten folgen zu lassen. Meine Begeisterung lässt
        sich noch steigern, wenn die Große Koalition gewillt ist,
        dafür auch Geld locker zu machen. Völlig richtig betont
        die Bundesregierung auch, dass der Wandel der
        Industrie- zur Wissensgesellschaft statt einer Ausbildung
        für das Leben lebenslanges Lernen erfordert. In ihrer
        Novelle des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes
        (AFBG) lässt sie aber erneut die Bereitschaft zu konse-
        quentem Handeln vermissen, weder verlässt sie die ein-
        getretenen Trampelpfade, noch macht sie mehr als einen
        winzigen Schritt nach vorn.
        Richtig ist, dass im Bereich der Pflegeberufe sowie
        bei den Erzieherinnen und Erziehern großer Handlungs-
        bedarf besteht. Nicht nur, weil die Beschäftigten – in der
        Regel übrigens Frauen – für ihre anspruchsvolle Tätig-
        keit optimal qualifiziert und nebenher bemerkt auch
        adäquat entlohnt sein sollten, sondern vor allem deshalb,
        weil uns nur die beste Frühförderung unserer Kinder gut
        genug sein sollte und weil wir alle auch im Pflegefall mit
        Recht ein Leben in Würde erwarten dürfen; und dies
        schließt unzweifelhaft eine qualifizierte Pflege ein. Dazu
        kann eine gezielte Förderung der Fortbildungsmaßnah-
        men in diesem Bereich einen Beitrag leisten. Dies will
        ich durchaus positiv hervorheben.
        Nur laufen Sie hier der Entwicklung doch schon fast
        hoffnungslos hinterher. Wir diskutieren nicht erst seit
        diesem Jahr darüber, welche Bildungswege an die Hoch-
        schulen gehören. Auch in anderen beruflichen Bereichen
        ist längst klar, wo die bisherige berufliche Qualifizierung
        an Grenzen stößt und Berührungspunkte mit der akade-
        mischen Bildung entstanden sind. Bis heute ist kaum zu
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20927
        (A) (C)
        (B) (D)
        erkennen, dass Sie auf diese Entwicklungen politisch re-
        agiert hätten; und schon gar nicht haben Sie über die In-
        strumente der Bildungsförderung hierfür gezielte An-
        reize gesetzt.
        Das AFBG kann die neuen Bedarfe nicht alleine ab-
        fangen. Viele Berufe werden vom AFBG gar nicht er-
        fasst, weil ihre Aus- und Fortbildung nicht im Berufsbil-
        dungsgesetz oder in der Handwerksordnung geregelt
        sind. Unterhalb der Aufstiegsfortbildung bieten wir
        Menschen in Weiterbildung keinen Anspruch auf Leis-
        tungen der Ausbildungsförderung an. Das BAföG ist mit
        seiner Altersgrenze von 30 Jahren und der Elternabhän-
        gigkeit der Förderung in keiner Weise tauglich für eine
        Förderung des lebenslangen Lernens. Weiterbildungsför-
        derung bildet einen Flickenteppich unübersichtlicher
        Einzelmaßnahmen vom WeGebAU bis zum Meister-
        BAföG – und mit riesigen Lücken. Ein konsistentes Sys-
        tem der Förderung existiert nicht. So können Bildungs-
        barrieren nicht überwunden werden, und lebenslanges
        Lernen wird damit für die Mehrheit der Bevölkerung
        keine tatsächlich erfahrbare Realität.
        Auch Ihre Vorstellungen von der Zielgruppe solch ei-
        ner Novelle lassen durchaus die Vermutung zu, dass die
        Bundesregierung die letzten zehn Jahre geschlafen hat.
        Bildung und gerade die Weiterbildung haben sich verän-
        dert. Es gibt nicht mehr nur Schulungen mit Frontalun-
        terricht, die sich in Unterrichtsstunden abrechnen lassen.
        Gute und kreative Weiterbildung zeichnet sich gerade
        durch Projektarbeit und Praxisphasen aus. Das AFBG
        aber bezieht sich weiter auf das „klassische“ Schulungs-
        konzept. Entwicklungen beispielsweise in der Hoch-
        schulbildung, wo nicht mehr auf Semesterwochenstun-
        den geschaut wird, also auf die Zeit, die die Lehrenden
        aufwenden, sondern auf die Gesamtarbeitszeit der Ler-
        nenden, bleiben hier völlig unberücksichtigt. Damit
        bleibt die Novelle mindestens zehn Jahre hinter den De-
        batten der europäischen Bildungspolitik zurück.
        Zudem schaffen Sie, Frau Ministerin Schavan, mit
        diesem Gesetz auch noch falsche Anreize. Bei erfolgrei-
        chem Abschluss sollen 25 Prozent der Schulden erlassen
        werden. Der Bundesrat wendet ein, wer eine Aufstiegs-
        fortbildung aufnimmt, strebt auch ohne einen solchen
        Anreiz einen erfolgreichen Abschluss an. Das ist völlig
        richtig, sollte aber auf keinen Fall dazu führen, dieses
        Geld aus der Weiterbildungsförderung abzuziehen. Un-
        ser Vorschlag: Legen Sie die frei werdenden Mittel auf
        die Grundförderung um, dann müsste der Prozentsatz,
        mit dem Maßnahmen und Unterhalt gefördert werden,
        nicht wie in den letzten Jahren immer weiter sinken, son-
        dern könnte endlich einmal steigen.
        Die vom Bundesministerium für Bildung und For-
        schung eingesetzte Expertenkommission Finanzierung
        Lebenslangen Lernens – „Timmermann-Kommission“ –
        hat bereits vor fünf Jahren sehr viel weiter reichende
        Konzepte für eine Stärkung der Weiterbildung vorgelegt.
        So forderte die Kommission nicht nur eine Ausweitung
        bestehender Leistungen, sondern ausdrücklich die
        Schaffung eines gemeinsamen Rahmens, unter dem
        diese Leistungen vereint werden. Diese wichtigen Vor-
        schläge für einen ganzheitlichen Ansatz in der Bildungs-
        förderung sind bei Ihnen offenbar im Papierkorb
        verschwunden. Die Linke hält die Umsetzung dieser
        Vorschläge für elementar, und so wiederhole ich hier und
        heute unsere Forderung, nicht länger im Flick- und
        Stückwerk zu verharren, sondern mit einem Erwachse-
        nenbildungsförderungsgesetz verlässliche Rahmenbe-
        dingungen für Nachfrager und Anbieter der Weiterbil-
        dung zu schaffen. So viel Mut werden Sie schon
        brauchen, die bislang doch recht hohle Formel vom le-
        benslangen Lernen mit Leben zu füllen.
        Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): In einer wissensbasierten Gesellschaft wie der
        unseren wird lebenslanges Lernen und die Beteiligung
        an Weiterbildungsmaßnahmen immer mehr zur Voraus-
        setzung für Beschäftigungsfähigkeit. Die Zeiten sind
        vorbei – falls es sie je gab – in denen eine Ausbildung in
        jungen Jahren als ausreichende Wissensbasis für die ge-
        samte weitere Erwerbskarriere dienen konnte.
        Darüber hinaus brauche ich Ihnen sicherlich nicht
        weiter zu erläutern, wie gerade in Zeiten des sich immer
        stärker abzeichnenden Fachkräftemangels eine hohe
        Weiterbildungsbeteiligung die Grundvoraussetzung für
        nachhaltige Innovationsfähigkeit und ein anhaltendes
        Wirtschaftswachstum darstellt. Der letzte Woche vom
        Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vorgelegte
        Innovationsbericht hat wieder einmal gezeigt, mit wel-
        chen Defiziten unser Land da zu kämpfen hat. Von
        17 untersuchten OECD Mitgliedstaaten liegt Deutsch-
        land nur auf Platz 13.
        In Deutschland herrscht mit 43 Prozent eine viel zu
        geringe Weiterbildungsbeteiligung. Die skandinavischen
        Länder mit Weiterbildungsquoten von 70 Prozent und
        mehr geben uns da die Zielmarken vor. Für Geringquali-
        fizierte und benachteiligte Gruppen wie Migranten, äl-
        tere Arbeitnehmer und Frauen ist die Beteiligung an
        Weiterbildungsmaßnahmen dabei von besonderer Be-
        deutung. Doch gerade diese Menschen weisen in
        Deutschland momentan eine besonders geringe Weiter-
        bildungsbeteiligung auf.
        Wie Sie sehen brauchen wir einen wirklichen Auf-
        bruch hin zu mehr Weiterbildung. Und da sind alle ge-
        fordert, jeder Einzelne, die Unternehmen, aber auch der
        Bund. Es kommt darauf an, die richtigen Rahmenbedin-
        gungen zu schaffen, damit auch Geringverdienende den
        Wert einer Weiterbildung erkennen und sich diese auch
        leisten können.
        Doch was tut diese Bundesregierung? Im Koalitions-
        vertrag von Union und SPD hieß es noch vollmundig:
        „Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur 4. Säule
        des Bildungssystems machen und mit bundeseinheitli-
        chen Rahmenbedingungen eine Weiterbildung mit System
        etablieren.“ Doch davon ist nichts umgesetzt worden. An-
        statt des dringend nötigen Weiterbildungsaufbruchs ver-
        fährt sie nach dem alten Muster: kleckern statt klotzen.
        Sie strickt wieder einmal einen Flickenteppich von Maß-
        nahmen, die nicht viel kosten, aber auch nicht viel brin-
        gen.
        20928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Am 1. Dezember ist die spärliche Weiterbildungsprä-
        mie in Kraft getreten, die eine jährliche Maximalförde-
        rung von 154 Euro ermöglicht. Nun überlegen Sie sich
        einmal, welchen Weiterbildungskurs sie für 154 Euro
        bekommen. Eins ist klar: Eine umfassende Weiterbil-
        dung ist damit kaum finanzierbar. Mit dieser Regelung
        bleibt die Anreizwirkung auf wenige Menschen und
        kurze Maßnahmen beschränkt.
        Gleichzeitig legt die Bundesregierung nun einen Ge-
        setzentwurf vor, um das Aufstiegsfortbildungsförde-
        rungsgesetz zu reformieren. Durch die Reform soll das
        sogenannte „Meister-BAföG“ zukünftig auch auf die
        Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsberufe anwendbar
        sein; außerdem sollen mediengestützte Fortbildungen
        und Zweitfortbildungen besser gefördert werden. Die
        Bundesregierung strebt damit nach eigenen Angaben an,
        dass ab 2010 jährlich 160 000 Menschen die Förderung
        in Anspruch nehmen. 2007 waren es 134 000. Insgesamt
        sollen sich dadurch also 26 000 Menschen mehr als bis-
        her für Weiterbildung entscheiden. Das ist ein Armuts-
        zeugnis, denn in Sonntagsreden spricht die Bundesregie-
        rung davon, den Anteil an der Weiterbildung von derzeit
        43 Prozent auf 50 Prozent bis 2015 zu steigern.
        Außerdem stellt die Bundesregierung viel zu geringe
        Mittel bereit: 45 Millionen Euro über 4 Jahre. Ein wirk-
        liches „Erwachsenen-BAföG“, das je nach Lebenssitua-
        tion einen Mix aus Zuschüssen und Darlehen für jede
        zertifizierte Weiterbildung bereitstellt, würde aber
        450 Millionen Euro pro Jahr erfordern. Gerade in Zeiten
        der Krise ist die Weiterqualifizierung von Beschäftigten
        eine gute und für alle lohnenswerte Alternative zu Kurz-
        arbeit und verlängerten Betriebsferien.
        Was die Große Koalition hier vorlegt, reicht bei weitem
        nicht aus. Wir Grünen haben stattdessen ein umfassendes
        Konzept vorgelegt, wie alle Menschen, unabhängig von
        Einkommen oder Berufsgruppe, von Weiterbildung pro-
        fitieren können. Mit unserem Modell des Bildungsspa-
        rens als einem Baustein zur Förderung des lebenslangen
        Lernens schaffen wir die Möglichkeit, dass jede und je-
        der ab 16 Jahren ein Bildungssparkonto eröffnen kann.
        Bei regelmäßigen Einzahlungen gibt es eine staatliche
        Bildungssparzulage, die mindestens so hoch ist wie die
        Bausparförderung. Dabei profitieren von unserem Vor-
        schlag insbesondere Geringverdiener, weil für sie eine
        höhere Sparzulage vorgesehen ist, nämlich 100 Prozent
        bei einer Mindesteinlage von 5 Euro im Monat. Im Ge-
        gensatz zur Regierung haben wir auch eine verlässliche
        finanzielle Grundlage eingeplant: Aus unserer Sicht
        sollte für das Bildungssparen die Wohnungsbauprämie
        abgeschafft werden.
        Mit unserem Antrag „Förderung des lebenslangen
        Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen“ zeigen
        wir, wie eine umfassende Reform der finanziellen Unter-
        stützung von Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teil-
        nehmern aussehen muss. Wir schlagen ein neues „Er-
        wachsenen-BAföG“ vor, in dem das bisherige „Meister-
        BAföG“ aufgehen wird. Dieses soll einen Rechtsan-
        spruch auf Förderung für eine staatlich zertifizierte Wei-
        terbildung gewähren. Mit unserem Ansatz gehen wir in
        drei entscheidenden Punkten deutlich weiter, als es die
        Große Koalition hier vorschlägt.
        Erstens wird mit der von uns vorgeschlagenen Form
        der Finanzierung sichergestellt, dass jeder und jede Wei-
        terbildungswillige die von ihm bzw. von ihr gewünschte
        Maßnahme auch in Anspruch nehmen kann. Dabei wird
        die Unterstützung entsprechend der individuellen Ein-
        kommens- und Vermögensverhältnisse durch eine Kom-
        bination aus Zuschuss und Darlehen gewährt. Damit
        stellen wir sicher, dass insbesondere die Hürden für die
        Weiterbildung von Geringqualifizierten gesenkt werden.
        Ein besonderer Förderschwerpunkt wird darüber hinaus
        für Frauen und Migranten eingerichtet.
        Zweitens fördern wir mit unserem Ansatz das Errei-
        chen jedes staatlich zertifizierten Abschlusses in der
        Fort- und Weiterbildung. Der angestrebte Abschluss
        muss dabei nicht im konkreten Zusammenhang mit dem
        bereits ausgeübten Beruf oder den vorliegenden Qualifi-
        kationen stehen. Beim Nachholen eines ersten Schulab-
        schlusses wird die Unterstützung als Vollzuschuss ge-
        währt.
        Schließlich haben wir in unserem Antrag eine Reihe
        von dringend notwendigen Begleitmaßnahmen vorgese-
        hen, um die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland
        wirklich nachhaltig zu erhöhen. Dazu gehört unter ande-
        rem eine flächendeckende, unabhängige Weiterbildungs-
        beratung, die bei den Verbraucherzentralen angesiedelt
        ist. Wir wollen eine Absicherung von Langzeit- und
        Lernkonten gegen die Insolvenz des Arbeitgebers ab der
        ersten Stunde und die Fortführung in einem neuen Ar-
        beitsverhältnis durchsetzen. Für kleine und mittlere Un-
        ternehmen wollen wir zusätzliche Anreize schaffen, da-
        mit diese die Weiterqualifizierung ihrer Beschäftigten
        nachhaltig im Unternehmen verankern.
        Damit Deutschland im Weiterbildungssektor An-
        schluss an den internationalen Standard findet, ist deut-
        lich mehr nötig, als die Große Koalition hier vorgelegt
        hat.
        Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
        desministerin für Bildung und Forschung: Mit dem
        vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir weiterbildungs-
        willigen Arbeitnehmern nachhaltig verbesserte Rahmen-
        bedingungen bei ihrer beruflichen Fortbildung anbieten.
        Wir leisten mit dem novellierten Meister-BAföG einen
        wichtigen Beitrag zur beruflichen Weiterqualifizierung
        des Einzelnen, aber auch zur Stärkung der Wettbewerbs-
        fähigkeit unserer Wirtschaft.
        Allein im Jahr 2007 wurden nach diesem Gesetz rund
        134 000 Menschen individuell gefördert. Dieses Förder-
        instrument ist damit eine tragende Säule bei der Weiter-
        entwicklung beruflicher Qualifikationen und nicht zu-
        letzt bei der Sicherung der Konkurrenzfähigkeit der
        Betriebe. Neue Produkte, neue Dienstleistungen, aber
        auch betriebliche Strukturveränderungen erfordern an-
        dere und verbesserte Qualifikationen. Im nationalen und
        im globalen Wettbewerb haben die Betriebe die Nase
        vorn, deren Personal innovativ und anpassungsfähig ist.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20929
        (A) (C)
        (B) (D)
        Eine hochwertige berufliche Qualifikation der Beschäf-
        tigten ist dafür eine elementare Voraussetzung.
        Deshalb räumen wir der Bildung für die Zukunft un-
        seres Landes oberste Priorität ein. Mein Ziel ist es, je-
        dem den Zugang zu Bildung, aber auch den Aufstieg
        durch Bildung zu ermöglichen. Die Leistungen nach
        dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz bieten eine
        spürbare Hilfe. Individuelles Engagement und hohe
        Leistungsbereitschaft müssen diese Förderung ergänzen.
        Das Meister-BAföG hat in den vergangenen zwölf
        Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass sich Fachkräfte
        für ihre beruflichen Herausforderungen fit gemacht ha-
        ben. Angesichts der demografischen Entwicklung gibt es
        hierzu keine Alternative.
        Ich freue mich, dass es über die Einschätzungen und
        die Zielrichtung des Gesetzentwurfs einen breiten Kon-
        sens mit den Sozialpartnern und den Ländern gibt. We-
        sentliche Anregungen für die Novelle haben wir den Er-
        fahrungen mit dem bisherigen Gesetz entnommen wie
        auch aus den Diskussionen mit Fachleuten aus dem Ge-
        setzesvollzug, mit Bildungsträgern, Fortbildungsteilneh-
        mern und nicht zuletzt auch mit den Bildungsexperten
        aus den Koalitionsfraktionen.
        Von den vorgesehenen zahlreichen Leistungsverbes-
        serungen möchte ich folgende hervorheben: Es soll eine
        Aufstiegsfortbildung gefördert werden können, und
        zwar auch dann, wenn der Fortbildungswillige bereits ei-
        nen Fortbildungsabschluss erworben hat, den er zum
        Beispiel aus Eigenmitteln selbst finanziert hat. Es ist
        nicht einzusehen, dass er deshalb nach der jetzigen
        Rechtslage keine Förderung bekommt, er also für seine
        Anstrengungen quasi bestraft wird. Eine solche Eigen-
        initiative darf sich nicht nachteilig auswirken. Durch ei-
        nen Darlehenserlass von 25 Prozent bei Bestehen der
        Prüfung wollen wir die Motivation bei der Weiterbildung,
        bis zur Prüfung durchzuhalten, verstärken und belohnen.
        Intention des Gesetzes ist, den Erwerb arbeitsmarktver-
        wertbarer Fortbildungsabschlüsse zu erleichtern. Dieser
        Leistungsanreiz ist ein Herzstück der AFBG-Novelle.
        Uns ist es ein wichtiges Anliegen, die Aus- und Fortbil-
        dung sowie Entwicklungsmöglichkeiten für diejenigen,
        die in der frühkindlichen Erziehung tätig sind, nachhal-
        tig zu verbessern. Daher sind die Aufstiegsfortbildungen
        zur Erzieherin und zum Erzieher in die Förderung einbe-
        zogen.
        Angesichts des zunehmenden Fachkräftebedarfs in
        der Altenpflege ist es ein wichtiges Signal, dass nun-
        mehr auch privatrechtliche Fortbildungen der ambulan-
        ten und stationären Altenpflege für eine dreijährige
        Übergangszeit in die Förderung einbezogen werden sol-
        len. Viele Betriebe, gerade im Handwerk, stehen vor ei-
        nem Generationswechsel. Wir wollen mit diesem Gesetz
        auch diejenigen, die eine Aufstiegsfortbildung erfolg-
        reich absolviert haben, zur Betriebsübernahme und Exis-
        tenzgründung ermuntern. Durch einen verbesserten und
        gestaffelten Existenzgründungserlass wird künftig be-
        reits die Schaffung eines dauerhaften Ausbildungs- oder
        Arbeitsplatzes in einem neu gegründeten oder übernom-
        menen Unternehmen mit einem Darlehensteilerlass ho-
        noriert.
        Ein zentrales Ziel der Novelle ist auch, die Vereinbar-
        keit von Familie und beruflicher Aufstiegsfortbildung zu
        verbessern. Der besonderen Situation von Teilnehmern
        mit Kindern tragen wir mit der Erhöhung des Kinderer-
        höhungsbetrages von 179 auf 210 Euro pro Kind und
        Monat und dessen Bezuschussung zu 50 Prozent Rech-
        nung. Alleinerziehende erhalten darüber hinaus einen
        pauschalierten Kinderbetreuungszuschuss.
        Notwendig ist auch die Integration von Bildungswilli-
        gen mit Migrationshintergrund und einer Daueraufent-
        haltsberechtigung. In ihnen schlummern Begabungsreser-
        ven und ein Fachkräftepotenzial, auf das wir angesichts
        der demografischen Entwicklung dringend angewiesen
        sind. Auf die bisherige Voraussetzung einer dreijährigen
        Mindesterwerbsdauer vor Beginn der Fortbildung wird
        nun generell verzichtet.
        Nachdem kürzlich die Leistungen nach dem BAföG
        für Schüler und Schülerinnen und für Studierende ver-
        bessert wurden, machen wir mit diesen Maßnahmen
        deutlich, dass berufliche Bildung gleichermaßen im Fo-
        kus steht. Der Gesetzentwurf gehört zu den Maßnahmen
        der Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“,
        mit denen das Ziel verfolgt wird, jedem den Aufstieg
        durch Bildung zu ermöglichen. Diese Förderung wird er-
        gänzt durch das Angebot von Fortbildungsordnungen
        des BMBF, die gemeinsam mit den Sozialpartnern erar-
        beitet werden und für Weiterbildung und Personalent-
        wicklung genutzt werden.
        Die mithilfe des Meister-BAföGs erworbenen Fortbil-
        dungsabschlüsse bieten zum Teil sogar die Option, ein
        Hochschulstudium aufzunehmen. Ich bin sehr froh da-
        rüber, dass wir mit den Ländern beim Qualifizierungs-
        gipfel einen grundsätzlichen Konsens über die Verbesse-
        rung der Durchlässigkeit erzielt haben. Das zielt auf
        Erleichterungen beim Hochschulzugang für beruflich
        Qualifizierte und auf die Berücksichtigung der in der
        Aufstiegsfortbildung erworbenen Kompetenzen im Stu-
        dium.
        Mit der vorliegenden Gesetzesnovelle verbessern wir
        den Stellenwert und die Attraktivität der Aufstiegsfort-
        bildung ganz erheblich. Das zeigt sich nicht zuletzt im
        Finanzvolumen. Die Bundesregierung wird für die vor-
        gesehenen Leistungsverbesserungen in den nächsten vier
        Jahren insgesamt rund 200 Millionen Euro zusätzlich zur
        Verfügung stellen. Das ist eine Steigerung um bis zu
        60 Prozent. Damit wollen wir die weiterbildungswilligen
        Arbeitnehmer spürbar entlasten, aber auch zusätzliche
        Impulse für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft
        geben. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Län-
        dern hat sich in den vergangenen Jahren gerade bei die-
        sem Gesetz bewährt. So berücksichtigt der Gesetzent-
        wurf Vorschläge der Länder und nimmt die Erfahrungen
        aus dem Gesetzesvollzug aus den Landesbehörden auf.
        Die Länder müssen deshalb weiterhin in bewährter
        Weise ihren Anteil von 22 Prozent an den Gesamtkosten
        der Aufstiegsfortbildungsförderung tragen. Das ist eine
        gute Investition in die Zukunft.
        Bund und Länder kamen beim Bildungsgipfel über-
        ein, die Bildungs- und Forschungsausgaben bis zum Jahr
        2015 auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu stei-
        20930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        gern. Mit diesem Gesetz wollen wir hierzu einen Beitrag
        zur Umsetzung leisten. Damit ist die AFBG-Novelle ein-
        gebettet in das Gesamtkonzept der Bundesregierung zur
        Stärkung des beruflichen Bildungssystems, der Weiterbil-
        dung und der Durchlässigkeit in den Hochschulbereich.
        Dazu gehören die im Herbst beschlossene Einführung ei-
        ner Bildungsprämie und des Weiterbildungssparens.
        Dazu gehören auch die neu geschaffenen Aufstiegs-
        stipendien, die über das duale System den Hochschulzu-
        gang ermöglichen.
        Darüber hinaus bieten die mithilfe des Meister-
        BAföGs erworbenen Fortbildungsabschlüsse zum Teil
        die Möglichkeit, ein Hochschulstudium aufzunehmen.
        Der Hochschulzugang und die Berücksichtigung der in
        der Aufstiegsfortbildung erworbenen Kompetenzen im
        Studium sollen verbessert werden.
        Gebündelt werden alle diese Maßnahmen in der Qua-
        lifizierungsinitiative der Bundesregierung. Gemeinsam
        ermöglichen sie den Aufstieg durch Bildung. Hierzu
        leistet die AFBG-Novelle einen wichtigen Beitrag.
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Hunger und Armut in Entwicklungsländern
        durch die Förderung von ländlicher Ent-
        wicklung nachhaltig bekämpfen
        – Die Ursachen des Hungers beseitigen – Die
        ländliche Entwicklung fördern
        (Tagesordnungspunkt 17 a und b)
        Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Seit ich mich mit Ent-
        wicklungspolitik beschäftige, stelle ich immer wieder er-
        staunt fest, dass es Themen gibt, die für einige Monate
        die Debatte beherrschen, dann aber wieder in der Ver-
        senkung verschwinden – ungeachtet, wie wichtig sie
        sind oder ob wir es geschafft haben, das Problem zu lö-
        sen. Vor kurzem war dieses Thema die Nahrungsmittel-
        krise, und die Politik hat versucht, umfassend darauf zu
        reagieren. Es wurden Haushaltsumschichtungen vorge-
        nommen, Anhörungen angesetzt, Anträge geschrieben,
        Konferenzen veranstaltet und vieles mehr. Leider kommt
        es mir dennoch manchmal wie Stückwerk oder besten-
        falls das Schreiben diverser Papiere vor. Ich frage mich,
        ob wir es schaffen, auch langfristig in diesem Thema en-
        gagiert zu bleiben – denn das müssen wir. Das Thema
        „ländliche Entwicklung“ wurde lange genug sträflich
        vernachlässigt. Einen Beitrag zu einem langfristigen En-
        gagement in der ländlichen Entwicklung soll der vorlie-
        gende Antrag leisten. Im Folgenden möchte ich daraus
        einige Aspekte hervorheben, die mir besonders wichtig
        sind.
        Dazu bietet sich an, zunächst Bilanz zu ziehen: Kom-
        men wir zuerst zur Habenseite: Wir mussten mit diver-
        sen Sofortmaßnahmen auf die jüngste Nahrungsmittel-
        krise reagieren, um das Ärgste zu verhindern. So haben
        wir im Haushalt des BMZ immerhin über 500 Millionen
        Euro zusätzlich für Nahrungsmittelhilfe bereitgestellt,
        die als Nothilfe den am schlimmsten von der Hunger-
        krise Betroffenen helfen soll. Wir haben ein Paket von
        weiteren Maßnahmen verabschiedet, welches zwar in
        erster Linie auf die aktuelle Nahrungsmittelkrise reagie-
        ren soll, aber auch einiges in Bezug auf den Klimawan-
        del anstößt. Auch konnte nach langen und zähen Ver-
        handlungen die sogenannte EU-Milliarde bereitgestellt
        werden. Insofern denke ich, wir haben durch diese und
        andere Sofortmaßnahmen wichtige Pflöcke einrammen
        können.
        Wir müssen aber nach dem ersten Schrecken über das
        Ausmaß der Nahrungsmittelkrise auch den Fokus auf die
        zukünftigen Entwicklungen richten und uns daher fra-
        gen, was man mittel- bzw. langfristig tun kann und wel-
        che Faktoren im Rahmen der ländlichen Entwicklung
        eine Rolle für eine sichere Nahrungsmittelversorgung
        und die Bekämpfung der Armut spielen. Dafür gibt es
        keine Patentlösungen, vielmehr ist es ein langwieriges
        Bohren dicker Bretter. Der vorliegende Antrag be-
        schreibt sehr detailliert und umfassend die Voraussetzun-
        gen und Instrumente, die für eine erfolgreiche ländliche
        Entwicklung notwendig sind. Im Rahmen der heutigen
        Debatte kann ich leider nur einige wenige Dinge nennen,
        die mir besonders am Herzen liegen.
        So freue ich mich besonders, dass wir in den jüngs-
        ten Haushaltsberatungen beschlossen haben, den Titel
        für internationale Agrarforschung um insgesamt
        8,5 Millionen Euro zu erhöhen. Ziel der Agrarfor-
        schung soll unter anderem sein, die regional unter-
        schiedlichen Auswirkungen des Klimawandels auf
        die Böden und Pflanzen zu erforschen, um auf die zu-
        künftigen Bedingungen besser reagieren zu können.
        Dabei kommt man in Diskussionen immer zwangs-
        läufig auf das Thema Grüne Gentechnik. Diese wird
        schon heute bei Soja, Mais oder Baumwolle einge-
        setzt. Vielleicht kann moderne Biotechnologie auch
        helfen, neue Möglichkeiten in Subtropen oder Tropen
        zu eröffnen. Dabei müssen wir offen mit unseren
        Partnerländern über die damit zusammenhängenden
        Chancen und Risiken sprechen, aber ihnen, also unse-
        ren Partnerländern, die Entscheidung über deren Ein-
        satz überlassen. Wenn ich den Antrag der Grünen
        lese, finde ich es traurig, dass manche glauben, ihre
        ideologisch motivierten Entscheidungen anderen auf-
        zwängen zu können. So anmaßend sollten wir nicht
        sein.
        Auch fordern wir in unserem Antrag das BMZ auf,
        ländliche Entwicklung zum Schwerpunkt seiner Tätig-
        keit zu machen, und ich hoffe, dass sich daran nichts än-
        dern wird, wenn das nächste Thema hochgespielt wird.
        Wir müssen unsere Bemühungen bündeln und dürfen
        uns nicht verzetteln, wie Francis Fukuyama in seinem
        jüngsten Buch über das „Staaten bauen“ schreibt. Auch
        hoffe ich, dass es uns gelingt, unsere eigene Bevölke-
        rung auf diesem Weg mitzunehmen und ein entsprechen-
        des Problembewusstsein bei den Menschen zu veran-
        kern. Denn eine nachhaltige ländliche Entwicklung
        bedeutet auch Einschnitte in unserem Leben – nicht nur
        aufgrund der finanziellen Mittel, mit denen wir unsere
        Partnerländer unterstützen, sondern auch beispielsweise
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20931
        (A) (C)
        (B) (D)
        in Bezug auf Fragen unserer europäischen Landwirt-
        schaft. Ich kann mir gut vorstellen, dass unsere Forde-
        rung nach „Abschaffung von marktverzerrenden Agrar-
        subventionen in den Industrieländern“, um Produzenten
        in Entwicklungsländern nicht weiter durch Agrardum-
        ping zu schädigen, nicht uneingeschränkte Begeisterung
        auslöst. Wir erleben oft genug Diskussionen, die nicht
        mehr entlang von Fraktionszugehörigkeit, sondern ent-
        lang von Ausschussgrenzen verlaufen. Diese Diskussio-
        nen darf man nicht scheuen – im Gegenteil. Denn nur so
        kommen wir zu umfassenden und strukturellen Lösun-
        gen.
        In diesen Diskussionen müssen wir uns aber auch im-
        mer wieder vor Augen führen, dass wir dabei über länd-
        liche Entwicklung in Regionen dieser Welt sprechen, in
        denen unsere eigenen Erfahrungswerte, Techniken und
        Vorstellungen nicht so ohne Weiteres übertragbar sind.
        Wir müssen bei unseren Programmen in den Partnerlän-
        dern immer berücksichtigen, dass eine erfolgreiche länd-
        liche Entwicklung von vielen Faktoren abhängt, die man
        nicht über einen Kamm scheren kann, und müssen daher
        vor allem den Erfahrungsschatz der örtlichen Bevölke-
        rung einbringen.
        Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist für
        mich das Finden von „standortgerechten“ Lösungen. So
        habe ich beispielsweise jüngst in Äthiopien eine span-
        nende Diskussion über die Frage erlebt, ob es möglich
        ist, ganze Regionen gegen Ernteausfälle aufgrund von
        Klimakatastrophen zu versichern. In diesem Bereich hat
        beispielsweise CARE in Indien in Zusammenarbeit mit
        der Allianz schon erste vielversprechende Erfahrungen
        gesammelt; diese lassen sich aber nicht eins zu eins auf
        Äthiopien übertragen. Dennoch glaube ich, dass man mit
        diesem Instrument – auch wenn es kein Allheilmittel
        ist – die Situation von vielen Kleinbauern verbessern
        kann.
        Es gibt noch viele weitere, oftmals auch prominentere
        Instrumente, mit denen wir die Partnerländer unterstüt-
        zen. Doch eines ist uns allen aber auch klar: All das wird
        wahrscheinlich nicht ausreichen, um jeden Menschen
        auf der Welt von heute auf morgen eine ausreichende
        Versorgung mit Nahrungsmitteln zu garantieren. Dazu
        sehen wir uns schon heute bei fast 1 Milliarde Hungern-
        den kaum in der Lage – und die zu erwartenden Auswir-
        kungen des Klimawandels werden es nicht gerade leich-
        ter machen. Woran liegt das? Darauf gibt es keine
        Patentantwort. Die Ursachen sind vielfältig und kom-
        plex, und ich habe in den unterschiedlichsten Diskus-
        sionsrunden viele wichtige und richtige Dinge gehört.
        Doch eines kam mir immer zu kurz, nämlich, dass wir
        leicht vergessen, dass unsere Möglichkeiten und unser
        Einfluss, aber auch unsere Verantwortlichkeit begrenzt
        sind. Wenn wir beispielsweise von der Implementierung
        des Rechts auf Nahrung sprechen, muss man zuallererst
        an die nationalen Regierungen in den Partnerländern
        appellieren, auch wenn die internationale Gemeinschaft
        ihnen in der Umsetzung dieses Rechts natürlich helfen
        kann und auch hilft. Wenn ich mir aber heute die Liste
        der FAO, in welchen Ländern aufgrund von Nahrungs-
        mittelknappheit Unruhen drohen, anschaue, dann finde
        ich dort auch einige Länder wieder, die auf den diversen
        Indizes über Bad Governance weit oben stehen. Dabei
        stellt sich mir die Frage, ob das Problem der Nahrungs-
        mittelversorgung manchmal nicht eine Frage der Verfüg-
        barkeit, sondern der Verteilung ist. Dazu gibt es ein-
        schlägiges Datenmaterial. Und spätestens dann stoßen
        wir an die Grenzen unseres Einflusses, wenn wir ent-
        sprechende Regime dazu bewegen möchten, der ärmsten
        Bevölkerung Zugang zu Nahrung zu gewähren und für
        Kleinbauern Anreize für höhere Produktion zu schaffen.
        Wie schwierig es für die Bevölkerungen einiger dieser
        Länder ist, aus der Armutsfalle zu entrinnen, zeichnet
        Collier in seinem Buch „The Bottom Billion“ nach.
        Das bringt mich auf eine zweite Fehleinschätzung:
        Wir unterstützen in unseren Partnerländern die vielfäl-
        tigsten Projekte, von denen wir hoffen, dass sie in ihren
        jeweiligen Sektoren nachhaltige Wirkung erzielen. Viele
        dieser Projekte sind erfolgreich, einige leider auch weni-
        ger. Doch wenn wir über den Aufbau funktionierender
        lokaler Agrarmärkte, Ertragssteigerungen in der Land-
        wirtschaft oder über die Erhöhung der Kaufkraft von
        Kleinbauern und der Bevölkerung im ländlichen Raum
        sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Erfolge
        leider nicht planbar sind. Doch gelegentlich gewinnt
        man den Eindruck, dass in manchen entwicklungspoliti-
        schen Debatten der Traum von einer funktionierenden
        sozialistischen Planwirtschaft mitschwingt. Es wird be-
        hauptet: Wenn man nur x in die Hand nimmt, wird am
        Ende y herauskommen. Das kann, wie William Easterly
        nachgewiesen hat, natürlich nicht funktionieren. Bedau-
        erlicherweise können wir Wirkungen und Erfolge in Ab-
        hängigkeit zum Einsatz nicht prognostizieren. An den
        gegebenen Realitäten und Unsicherheiten führt kein
        Weg vorbei.
        Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur
        kurz auf den Antrag der Grünen eingehen, der heute
        in erster Lesung mitberaten wird. Sehr amüsiert hat
        mich die ziemlich vehemente Forderung, die ODA-
        Mittel zu erhöhen. Liebe Kolleginnen und Kollegen
        vom Bündnis 90/Die Grünen, kommt Ihnen diese
        Einsicht nicht etwas spät? Als Sie dazu Gelegenheit
        hatten und Regierungsverantwortung trugen, düm-
        pelte die ODA-Quote zwischen 0,26 und 0,28 Pro-
        zent. Die unionsgeführte Bundesregierung hat es im-
        merhin geschafft, diese Quote auf 0,37 Prozent im
        Jahr 2007 zu steigern.
        Wir können heute ziemlich gut prognostizieren, in
        welchem Maße sich das Klima ändern wird und welche
        Auswirkungen der Klimawandel auf die Ernährungssi-
        cherheit hat. Dazu gibt es gute Studien beispielsweise
        von Germanwatch und Brot für die Welt. Wir können
        aber nicht abschätzen, wie groß die Anpassungsfähigkeit
        von Mensch und Natur an die oben genannten Verände-
        rungen sein wird. Auch wissen wir nicht, ob es uns ge-
        lingt, baldmöglichst entsprechende Ergebnisse in der
        Agrarforschung zu erzielen und diese auch jedem Klein-
        bauern, der sie benötigt, zur Verfügung zu stellen; denn
        dies kann beispielsweise auch von Governance- oder
        Bildungsfragen abhängen.
        Wir sollten also versuchen, all den Schwierigkeiten,
        vor denen wir stehen, mit den im Antrag genannten
        20932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Instrumenten zu begegnen, wie beispielsweise die Aus-
        weitung von Agrarforschung, die Fokussierung auf die
        ländliche Entwicklung sowie das Stärken der Verant-
        wortlichkeit der jeweiligen Regierung. Vor allem müs-
        sen wir nach den langwierigen Debatten endlich auch
        mit der Umsetzung unserer Agenda beginnen. Alles da-
        rüber Hinausgehende würde zu unverantwortlichen Ver-
        zögerungen führen, würde unsere eigenen Möglichkei-
        ten überschätzen und wäre zum Scheitern verurteilt, und
        das können wir uns nicht leisten.
        Dr. Sascha Raabe (SPD): Die weltweite Armut hat
        vor allem ein ländliches Gesicht. Trotz teils gravierender
        Landflucht und voranschreitender Urbanisierung leben
        rund 80 Prozent der Menschen in Entwicklungsländern
        und circa 75 Prozent der absolut Armen im ländlichen
        Raum. Dort sind die Einkommensmöglichkeiten be-
        schränkt, Infrastruktur und Industrie sind meist mangel-
        haft oder gar nicht vorhanden. Demzufolge sind die
        meisten Menschen in den Entwicklungsländern auf die
        Landwirtschaft angewiesen. Obwohl sie eigentlich an
        der Quelle der Nahrungsproduktion tätig sind, reichen
        die Erträge oft nicht aus, die Ernährung ihrer Familien
        sicherzustellen. Auch deshalb ist die Zahl der weltweit
        hungernden Menschen auf 923 Millionen angewachsen.
        Das Millenniumsziel – die Anzahl der unterernährten
        Menschen bis zum Jahr 2015 zu halbieren – wird damit
        noch schwieriger zu erreichen.
        Besorgniserregend ist vor allem die Situation in Sub-
        sahara-Afrika. Die landwirtschaftliche Produktion ist
        dort in den vergangenen Jahren kaum gestiegen. Rund
        30 Prozent der jährlich in Afrika konsumierten Nah-
        rungsmittel müssen importiert werden, und das, obwohl
        circa 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft
        tätig sind.
        Dieser Istzustand stellt eine inakzeptable Situation für
        die Menschen in den betroffenen Gebieten dar. Spätes-
        tens seit der Anfang des Jahres einsetzenden Nahrungs-
        mittelkrise sollte jedem deutlich geworden sein, dass
        diese Importabhängigkeit katastrophale Folgen für die
        Versorgung der Menschen in den Entwicklungsländern
        hat.
        Neben der weltweit stärkeren Nachfrage nach Grund-
        lebensmitteln wie Reis oder Weizen und veränderten Er-
        nährungsgewohnheiten, der stetig steigenden Produktion
        von Agrartreibstoffen und nicht zuletzt der Spekulation
        unverantwortlicher Händler an den Warenterminbörsen
        sind es vor allem die immer noch immensen Summen an
        Agrarexportsubventionen westlicher Staaten, die es den
        Bauern in den Entwicklungsländern schier unmöglich
        machen, profitabel zu wirtschaften.
        Auch wenn das nicht alle hier im Hause gerne hören
        möchten, Fakt ist: Die subventionierten Nahrungsmittel
        der Industrienationen zerstören die lokalen Agrarmärkte
        in den Entwicklungsländern. Allein im letzten Jahr ha-
        ben die OECD-Staaten 349 Milliarden Dollar an Produk-
        tions- und Exportsubventionen für ihre Bauern ausgege-
        ben. Dies kann und darf nicht Sinn und Zweck einer
        nachhaltigen und damit langfristig auf Selbstständigkeit
        der betroffenen Länder ausgerichteten Politik sein.
        Mit Gratislieferungen in arme Länder werden die ein-
        heimischen Kleinbauern an den Rand ihrer Existenz ge-
        bracht, die oft nicht mit den auf dem Markt angebotenen
        Hilfsgütern konkurrieren können. Wie schon in der De-
        batte um eine geeignete Nahrungsmittelhilfekonvention
        angemerkt, verstärkt diese Situation die Abhängigkeit
        der Empfängerländer von Nahrungsmittelhilfe und steht
        konträr zu dem eigentlichen Ziel, den Empfängerländern
        langfristig eine eigenständige Existenz- und damit Über-
        lebensgrundlage zu sichern.
        Der Weltagrarhandel zwischen Norden und Süden
        muss daher fair ausgestaltet werden. Fair bedeutet: ge-
        rechte Marktchancen durch Zollabbau, Abschaffung der
        Exportsubventionen sowie ein Ende der handelsverzer-
        renden internen Stützungen in den Industriestaaten.
        Daher ist es wichtig, richtig und notwendig, dass die
        Agrarexportsubventionen der EU bis 2013 vollständig
        abgebaut werden. Je früher, desto besser!
        In diesem Zusammenhang sollte auch angemerkt wer-
        den, dass Hunger kein Problem der absolut produzierten
        Nahrungsmittelmenge ist. Mitnichten! Die Weltlandwirt-
        schaft könnte heute schon 9 Milliarden Menschen aus-
        reichend ernähren. Hunger ist ein Problem des Zugangs
        zur Nahrung. Insbesondere den Kleinbauern fehlt dieser
        Zugang. Für sie ist es zum Teil unmöglich, produktive
        Ressourcen wie Land, Kredite, Betriebsmittel etc. zu er-
        langen. Dieser Mangel stellt ein großes Entwicklungs-
        hemmnis in vielen Ländern dar.
        Gerade weil deutlich wurde, dass die Nahrungsmittel-
        krise nicht in erster Linie eine Versorgungs-, sondern
        eine Verteilungs- und Armutskrise ist, ist es zwingend
        erforderlich, die Produktivität der jeweiligen kleinbäuer-
        lichen Wirtschaftseinheiten zu verbessern. Daher muss
        es ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung im Rah-
        men der bi- und multilateralen Zusammenarbeit sein,
        Förderstrategien der ländlichen Entwicklung zu unter-
        stützen, die auf kleinbäuerliche Produzenten in benach-
        teiligten Regionen ausgerichtet sind. Denn die meisten
        Kleinbauern, die ungefähr 400 Millionen Betriebe mit
        weniger als 2 Hektar Land pro Betrieb bewirtschaften,
        produzieren selten Überschüsse. Zum Teil müssen sie
        sogar Nahrungsmittel zur Versorgung der Familie zukau-
        fen. Die anerkannte Hebelwirkung von Mikrokrediten
        könnte auch hier erfolgversprechende Wirkung zeigen.
        Wenn es um ländliche Entwicklung geht, dann geht es
        auch immer um Anbauflächen und damit um geeignete
        Umweltschutzstrategien. An vorderster Stelle stehen da-
        bei vor allem der Tropen- und Regenwaldschutz. Der
        Schutz dieser einzigartigen Wälder – sei es nun in
        Ecuador, in der Republik Kongo oder in Indonesien –
        muss fester Bestandteil dieser Strategien sein. Denn Re-
        genwaldschutz bedeutet immer auch Klimaschutz. Es ist
        daher wichtig, Biodiversitäts- und Agrobiodiversitäts-
        konzepte zu fördern.
        Neueste Studien belegen, wie wichtig die Förderung
        der ländlichen Entwicklung auch für die Gesellschafts-
        struktur eines Landes oder einer Region sein kann. Da-
        raus geht hervor, dass Wachstumsraten kleiner und mitt-
        lerer landwirtschaftlicher Unternehmen besonders zur
        Armutsbekämpfung beitragen. Gestützt werden diese
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20933
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ergebnisse auch durch den letzten Weltbankbericht
        Agriculture for Development, der deutlich anführt, wel-
        che Chancen die Förderung der ländlichen Entwicklung
        birgt. Es ist daher unverständlich, dass die öffentliche
        Entwicklungszusammenarbeit auf bi- und multilateraler
        Ebene im Bereich Landwirtschaft von 25 Milliarden US-
        Dollar im Jahr 1986 auf circa 12 Milliarden US-Dollar
        im Jahr 2000 zurückgegangen ist.
        Umso begrüßenswerter ist es, dass die Bundesregie-
        rung erkannt hat, welche immense Bedeutung die ländli-
        che Entwicklung hat. Die Nettoausgaben für diesen Sek-
        tor erhöhten sich von 382,3 Millionen Euro im Jahr 2005
        auf 576,8 Millionen Euro im Jahr 2006. In diesem Jahr
        sind mittels verschiedener Instrumente insgesamt
        600 Millionen Euro allein für die Ernährungssicherheit
        neu investiert worden. Aus den oben genannten Gründen
        halte ich es für wichtig, dass die Bundesregierung im
        Rahmen der bi- und multilateralen Zusammenarbeit die
        ländliche Entwicklung zu einem Schwerpunkt der deut-
        schen Entwicklungszusammenarbeit macht und in den
        kommenden Haushaltsjahren dieses deutsche Engage-
        ment fortsetzt.
        Wenn wir eines aus den Entwicklungen der letzten
        Jahren – und insbesondere aus den teils frappierenden
        Folgen der diesjährigen Nahrungsmittelkrise – gelernt
        haben dürften, dann dies: Ländliche Entwicklung und
        Ernährungssicherung sind zwei untrennbar miteinander
        verwobene Bereiche. Wir werden nur dann langfristigen
        und damit nachhaltigeren Erfolg im Kampf gegen die
        Armut und den Hunger auf dieser Welt haben, wenn den
        Entwicklungsländern gerechte Chancen zur Teilhabe am
        Welthandel ermöglicht werden.
        Viele Entwicklungsländer wurden aufgrund der
        egoistischen und rücksichtslosen Wirtschaftspolitik der
        Industriestaaten von Export- zu Importländern. Diese
        Entwicklung, die insbesondere die Ärmsten der Armen
        zu spüren bekamen, muss wieder ins richtige Gleichge-
        wicht gerückt werden. Dazu ist es auch notwendig, dass
        die Bundesregierung – allen voran Bundesentwicklungs-
        ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul – sich weiterhin
        dafür einsetzt, dass die WTO-Verhandlungen mit einem
        entwicklungsorientierten Abkommen abgeschlossen
        werden. Dieses Abkommen muss die bisher in Hong-
        kong erreichten Ergebnisse sichern und die vereinbarten
        Umsetzungen aus Doha anstreben. Es gibt jüngst wieder
        Hoffnung, dass es vielleicht doch noch bald zu einem er-
        folgreichen Abschluss der WTO-Runde kommt.
        Ziel unseres heutigen Antrages ist es, dass wir zu-
        künftig, in noch engerer Zusammenarbeit, gemeinsam
        mit den Menschen in den Entwicklungsländern den Bo-
        den bereiten, den sie morgen bestellen, beackern und
        dessen Früchte sie in absehbarer Zeit ernten können. Ich
        meine, wir stellen hierfür die richtigen Gerätschaften be-
        reit und haben – wenn auch noch an der einen oder ande-
        ren Stelle mit Abstrichen versehen – viel für gute Vo-
        raussetzungen getan. Wie reich der Ertrag sein wird, den
        die Ernte am Ende einbringen wird, liegt aber auch zu ei-
        nem Großteil in den Händen der Entwicklungsstaaten
        selbst. Sie tragen ebenfalls eine hohe Verantwortung
        dafür, dass die Stellschrauben an der richtigen Stelle
        angezogen werden. Immer noch sind strukturelle und
        politische Probleme – wie eine ungerechte Land- und
        Einkommensverteilung oder Korruption – in den Ent-
        wicklungsländern Ursachen dafür, dass die Entwicklung
        des ländlichen Raumes nicht vorankommt bzw. nicht
        den Ärmsten zugutekommt.
        Die sozialdemokratische Regierung Brasiliens hat
        hier inzwischen auf dem südamerikanischen Kontinent
        eine Vorbildfunktion eingenommen, indem sie das Recht
        auf Nahrung in der nationalen Gesetzgebung verankert
        hat. Im Interesse der ärmsten Menschen hoffen wir, dass
        möglichst alle Entwicklungs- und Schwellenländer sich
        diesem Beispiel anschließen. Mit den vorgeschlagenen
        Maßnahmen unseres Antrages werden wir diese Länder
        wirkungsvoll unterstützen können und mit einer gemein-
        samen Kraftanstrengung vielleicht doch noch die Mil-
        lenniumsentwicklungsziele erreichen.
        Marianne Schieder (SPD): Hunger und Armut sind
        eng verknüpft und vielfach im ländlichen Raum zu fin-
        den. Daher braucht es einen umfassenden Ansatz, wenn
        wir den Hunger wirksam bekämpfen wollen. Es kann
        und darf nicht sein, dass ausgerechnet dort die meisten
        Hungernden leben, wo Nahrungsmittel produziert wer-
        den. Im Folgenden einige grundsätzliche Eckpunkte, die
        wir anstreben müssen, um nachhaltig die Situation zu
        verbessern.
        Ernährung muss wieder mehr regional, saisonal und
        kulturell gedacht werden. Soweit es die natürlichen Ge-
        gebenheiten erlauben, muss Nahrung wieder dort produ-
        ziert werden, wo die Menschen sie brauchen. Damit
        kann vielerorts die Eigenversorgung gestärkt und gleich-
        zeitig Menschen die Möglichkeit eröffnet werden, Ein-
        kommen zu generieren. Es ist ein Irrglaube, dass unsere
        Landwirtschaft hier die Welt ernähren könnte. Wer dies
        glaubt, den frage ich, von welchem Geld die Menschen
        im Süden die Lebensmittel aus den Industrienationen be-
        zahlen sollen? Ganz zu schweigen von den ökologischen
        Folgen, wenn wir Produkte unnötig transportieren und in
        einzelnen Regionen die Produktion überdimensioniert
        steigern. Wir brauchen internationalen Agrarhandel dort,
        wo er notwendig ist, aber nicht, wo er vorhandene Poten-
        ziale zerstört.
        Insgesamt ist es wichtig, beim Anbau von Lebensmit-
        teln wieder stärker die natürlichen Gegebenheiten zu
        berücksichtigen, um die natürlichen Ressourcen wie
        Wasser, Land und Saatgut nachhaltig zu nutzen. Nur so
        haben wir angesichts weltweit steigender Bevölkerungs-
        zahlen die Chance, dass auch Generationen nach uns
        eine zukunftsweisende Lebensmittelproduktion betrei-
        ben können.
        Es braucht gerade im Sektor der Landwirtschaft um-
        fassende Entwicklungsinitiativen für die Länder, die
        vom Hunger gezeichnet oder davon bedroht sind. So ist
        es aus meiner Sicht erforderlich, die vorhandenen klein-
        bäuerlichen Strukturen zu stärken, andererseits aber auch
        zu einem sozial abgefederten notwendigen Strukturwan-
        del hin zu wirtschaftlicheren Betriebsgrößen beizutra-
        gen, ohne den die Erhöhung der bäuerlichen Produktivi-
        tät nicht möglich sein wird. Dabei ist es notwendig,
        20934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        ausreichend Einkommensmöglichkeiten im ländlichen
        Raum zu schaffen gerade für die Teile der Bevölkerung,
        die nicht in der Landwirtschaft unterkommen können.
        Dies könnte unter anderem durch die Weiterverarbeitung
        der Rohprodukte vor Ort erfolgen. Insgesamt macht es
        jedoch deutlich, dass wir für die Entwicklung der ländli-
        chen Räume nicht nur hier in Deutschland ressortüber-
        greifende Konzepte brauchen. Gerade im Bereich der In-
        frastrukturpolitik gibt es enormen Nachholbedarf, wenn
        wir die Situation in den ländlichen Räumen weltweit
        verbessern wollen. Hinzu kommen unumgängliche In-
        vestitionen in die Bildungspolitik.
        Eine Ursache für Hunger ist nicht zuletzt verloren ge-
        gangenes Wissen bei der Produktion und Verarbeitung
        von Lebensmitteln. Hier gilt es anzusetzen, um ur-
        sprünglich vorhandenes Know-how wieder zugänglich
        zu machen und gleichzeitig in einen engen Austausch zu
        treten, um Fehlentwicklungen, die wir bereits überwun-
        den haben, bei der Entwicklung in ärmeren Ländern von
        vorneherein zu vermeiden. Gleichzeitig ist es unsere
        Pflicht als Land mit vielen Möglichkeiten und Potenzia-
        len, den Schwächeren insbesondere im Bereich der For-
        schung unter die Arme zu greifen.
        Es braucht einen gemeinsamen und gleichberechtig-
        ten Dialog mit den Partnerländern über den Einsatz
        moderner Biotechnologien. Es darf nicht sein, dass wir
        einerseits Wege aus Hunger und Armut durch eine um-
        fassende ländliche Entwicklung ermöglichen und ande-
        rerseits neue Abhängigkeiten durch den unreflektierten
        Einsatz neuer Technologien fördern. So ist Gentechnik
        für den Kampf gegen Hunger weiterhin sehr stark in-
        frage zu stellen, da wir die ökologischen Folgen nur sehr
        begrenzt einschätzen können und mittelfristig die Land-
        wirte in vielen Ländern in die Abhängigkeit einiger we-
        niger Konzerne getrieben würden. Einkommen aus der
        Lebensmittelproduktion müssten sie größtenteils in Saat-
        gut sowie den damit verbundenen Dünge- und Pflanzen-
        schutzmitteln investieren. Für Investitionen, um der Ar-
        mut zu entkommen, würden kaum noch Mittel übrig
        bleiben.
        Wie in unserem Antrag auch festgestellt wird, ist eine
        der Hauptursachen für Hunger die Verteilung von Le-
        bensmitteln. Hier stehen wir im Moment vor der Situa-
        tion, dass sich sehr unterschiedliche Partner gegenüber-
        stehen: einerseits oft sehr klein strukturierte Produzenten
        und andererseits sehr stark konzentrierte und internatio-
        nal agierende Händler. Wer in diesem Zusammenspiel
        von Groß und Klein dominiert, ist klar. Daher gilt es, ein
        besonderes Augenmerk auf die weitere Gestaltung der
        internationalen Handelsstrukturen zu legen. Es braucht
        klare rahmenpolitische Entscheidungen, um mehr
        Gleichgewicht zwischen den einzelnen Partnern herzu-
        stellen. Dazu gehört das Zulassen von Schutzmechanis-
        men für Entwicklungsländer genauso wie der völlige
        Abbau von verzerrenden Exportsubventionen.
        Die aufgezeigten Eckpunkte machen deutlich, dass
        die Bekämpfung des Hungers nicht nur eine Aufgabe
        der Entwicklungspolitik ist. So wie unsere Landwirt-
        schaft hier immer stärker von globalen Entwicklungen
        beeinflusst wird, ist dies zum Teil noch viel stärker in
        den armen Ländern der Fall. Es darf nicht sein, dass die
        Landwirtschaft im Süden zusammenbricht, weil wir mit
        subventionierten Produkten oder Überschussproduktion
        die lokalen Märkte in wirtschaftlich schwächeren Län-
        dern unterwandern. Genauso wenig ist es für unsere
        Landwirtschaft sinnvoll, auf Billigimporte zu setzen, um
        die Produktion im eigenen Land aus finanzieller Sicht
        unrentabel zu machen und die Menschen im Süden der
        Möglichkeit der Eigenproduktion zu berauben.
        Daher braucht es ein stärkeres Zusammenspiel zwi-
        schen der Landwirtschaftspolitik im Norden und Süden,
        in Entwicklungs- und Industrieländern. Hier wie da
        braucht es ein Mitdenken der Folgen, die durch einzelne
        Maßnahmen entstehen. Es braucht einen intensiven Dia-
        log und stärkeres Miteinander. Nur so kann es gelingen,
        den Hunger zu bekämpfen, die wachsende Weltbevölke-
        rung zu ernähren und die natürlichen Ressourcen welt-
        weit so zu nutzen, dass auch Generationen nach uns
        noch fruchtbare Äcker, Wiesen und Wälder vorfinden.
        Aus meiner Sicht beinhaltet unser Antrag ein umfas-
        sendes Bild für eine nachhaltige ländliche Entwicklung,
        die wir brauchen, um den Hunger zu bekämpfen und
        weltweit eine stabile Lebensmittelproduktion aufzu-
        bauen.
        Dr. Karl Addicks (FDP): Die Anträge, über die wir
        heute sprechen, sind in vielen Punkten gut und schön. Es
        steht auch in beiden viel Wichtiges und Richtiges drin.
        Besonders der Antrag der Koalition hat sich in großer
        Breite dem Thema gewidmet. Man hat fast den Ein-
        druck, dass wir hier eine Zusammenstellung des Neun-
        Punkte-Plans und des Berichtes der Arbeitsgruppe zur
        Nahrungsmittelkrise aus dem Bundeskanzleramt vorlie-
        gen haben. Das nenne ich dann mal Gewaltentrennung.
        Jetzt lässt sich das Parlament schon von der Regierung
        die Konzepte ausarbeiten. Ich habe von Gewaltenteilung
        ein anderes Verständnis. Aber wir haben ja schon häufig
        bei der Großen Koalition gesehen, dass die Konzepte aus
        den Ministerien gern als Anträge aus der Mitte des Parla-
        ments deklariert werden.
        Doch kommen wir nun zu den Anträgen. Den Kolle-
        gen von den Grünen können wir nur in dem Punkt zu-
        stimmen, dass ländliche Entwicklung der Schlüssel zu
        Entwicklung ist. Richtig. Aber dann hört es mit den Ge-
        meinsamkeiten auch schon auf.
        Sie fordern einen Paradigmenwechsel, aber das Ein-
        zige, was Ihnen dazu einfällt, ist die Forderung nach
        mehr Geld. Das ist doch dann kein Paradigmenwechsel,
        sondern eher ein „Weiter so“, nur mit mehr Geld. Dabei
        haben die Entwicklungen doch gezeigt, dass mehr Geld
        eben gerade nicht mehr Entwicklung und weniger Hun-
        ger bedeutet. Worin besteht denn Ihr Paradigmenwech-
        sel? Das ist mir im ganzen Antrag nicht klar geworden.
        Weiter geht es auf Seite drei: Dort fordern Sie, dass
        neben bestehenden Sektorschwerpunkten die ländliche
        Entwicklung als zusätzlicher Schwerpunkt zu fördern
        ist. Da stimmen wir Ihnen vollkommen zu. Und genau
        aus diesem Grund haben wir die Verpflichtungen der
        deutschen Bundesregierung zur Begrenzung der Sektor-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20935
        (A) (C)
        (B) (D)
        schwerpunkte abgelehnt. Der EU-Verhaltenskodex bin-
        det uns nämlich jetzt, sodass wir die ländliche Entwick-
        lung in verschiedenen Ländern eben nicht mehr fördern
        können, wie wir das gerne täten. Wenn Sie diese Ansicht
        also offensichtlich teilen, wieso haben Sie sich dann aber
        im Ausschuss nicht gegen diese Begrenzung ausgespro-
        chen? Da gehen bei Ihnen wohl wieder Worte und Taten
        auseinander.
        Sie fordern auch wieder Quoten, so in dem Feststel-
        lungsteil des Antrags. Dort erklären Sie noch, dass die
        Millennium Development Goals mit der Festlegung der
        Entwicklungsfinanzierung auf 0,7 Prozent BIP bis 2015
        nicht zu erreichen sind. Da haben Sie wahrscheinlich
        recht, wobei ich anmerken möchte, dass die Kernauf-
        gabe von Entwicklungspolitik nicht die MDGs sind, son-
        dern Entwicklung, und zwar vor allem wirtschaftliche
        Entwicklung, damit eines Tages die MDGs auch aus ei-
        gener Kraft erreicht werden können. MDGs sind näm-
        lich Meilensteine. Sie aber haben die MDGs zum Selbst-
        zweck gemacht, und das ist der Grund für die verbreitete
        Inkohärenz in der Entwicklungspolitik. Zwei Seiten spä-
        ter aber fordern Sie wieder die Festlegung einer Quote,
        nämlich 10 Prozent für ländliche Entwicklung. Aber was
        denn nun, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
        den Grünen? Heute diese Quote, morgen jene Quote, je
        nachdem was gerade in Mode ist. Wir aber wollen hier
        mehr Konsequenz und vor allem Effizienz.
        Auf die Grüne Gentechnik komme ich gar nicht erst
        zu sprechen. Da ist bei den Grünen im Gegensatz zum
        Koalitionsantrag kein Umdenken erkennbar. Schade.
        Lassen Sie mich am Schluss noch etwas Grundsätzli-
        ches sagen. Bei allen Konferenzen in den letzten Mona-
        ten seit der Nahrungsmittel- und Finanzkrise werden im-
        mer nur enorme Summen in den Raum geworfen, immer
        nach dem Motto: Wer bietet mehr? Aber ein kohärentes
        Konzept, geschweige denn ein abgestimmtes Handeln
        vermisse ich noch immer.
        Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Die Ernäh-
        rungslage in der Welt ist unhaltbar für viel zu viele Men-
        schen. Die Regierungen der Industrieländer tragen eine
        große Verantwortung an dieser Situation. Lassen Sie
        mich die Situation noch einmal kurz skizzieren:
        Auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom verspra-
        chen die Regierungen, den Hunger auf der Welt bis 2015
        zu halbieren. Die Halbzeitbilanz in diesem Jahr ist nie-
        derschmetternd. Die Zahl der Hungernden ist auf über
        923 Millionen Menschen angestiegen. Das tägliche Ein-
        kommen der meisten afrikanischen Männer und Frauen
        liegt unter 1 Euro. Für ein europäisches Rind hingegen
        wird 2,50 Euro pro Tag an Subventionen ausgegeben.
        Die Industriestaaten subventionieren ihre Landwirtschaft
        mit jährlich rund 268 Milliarden Euro – rund viermal so-
        viel, wie sie für Entwicklungshilfe ausgeben. Diese Zah-
        len geben die Unmenschlichkeit dieses Welthandelssys-
        tems wieder.
        Die Ministerin Wieczorek-Zeul weist selbst darauf
        hin: „Alle Programme zur Einlösung des Rechts auf
        Nahrung werden nichts ändern, wenn es uns nicht ge-
        lingt, die Strukturen im Welthandel gerechter zu gestal-
        ten.“ In ihrem Antrag listen die Regierungsparteien die
        vielfältigen Gründe für die zunehmende Armut und den
        Hunger auf. Es wird betont, dass die Nahrungsmittel-
        krise vor allem eine Verteilungs- und Armutskrise ist. Es
        wird sogar auf die „vorschnelle Handelsliberalisierung
        ohne Schutzmöglichkeiten … einheimischer Produzen-
        ten“ hingewiesen. – Diese plötzliche Hellsichtigkeit ist
        erstaunlich!
        Doch was folgern Sie daraus, Kolleginnen und Kolle-
        gen der CDU und SPD: Sie möchten dem Anstieg der
        Nahrungsmittelpreise durch Agrartreibstoffe – an deren
        Produktionssteigerung die Bundesregierung durch die
        Quotenpolitik massgeblich beteiligt ist – durch Zertifi-
        zierung entgegentreten. Eine Zertifizierung ist nicht nur
        aufgrund mangelnder institutioneller Infrastruktur kaum
        möglich, sie käme auch viel zu spät. Des Weiteren
        möchten Sie die „Potenziale der modernen Biotechnolo-
        gie prüfen“, anstatt lokale und angepasste Anbaumög-
        lichkeiten zu fördern. Auch werden die Wirtschaftspart-
        nerschaftsabkommen – EPAs – der EU mit den AKP-
        Staaten – Afrika, Karibik, Pazifik – nicht erwähnt. Diese
        sind armutsverschärfend und behindern jegliche regio-
        nale Marktintegration innerhalb Afrikas. Auch gehen Sie
        nicht auf die Spekulation von Nahrungsmitteln ein, die
        laut Weltbank ein Hauptgrund für die Verteuerung von
        Nahrungsmitteln war.
        Zusammengefasst: Ihre Analyse ist in vielen Punkten
        zutreffend. Doch ziehen die Regierungsparteien – wie so
        oft – keine Schlussfolgerungen für ihr Handeln daraus.
        Ihre Forderungen kratzen nur an der Oberfläche der Ur-
        sachen des Hungers. Diesen Antrag lehnen wir ab.
        Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt
        da mehr Kohärenz zwischen Analyse und Forderungen
        auf. Es werden vier zentrale Bereiche aufgelistet, in de-
        nen dringender Handlungsbedarf besteht:
        Erstens. Der Forderung, das Recht auf Nahrung ge-
        mäß Art. 11 des Paktes für wirtschaftliche, soziale und
        kulturelle Menschenrechte umzusetzen, stimmen wir
        vorbehaltlos zu.
        Zweitens. Den Wortbruch der Kanzlerin bezüglich
        der niedrigen ODA-Quote haben wir mehrfach ange-
        sprochen. Ein Erreichen der 0,7 Prozent des Bruttoin-
        landproduktes für Entwicklungshilfe bis 2015 halten wir
        für unbedingt notwendig.
        Drittens. Der Forderung nach der Beendigung der
        systematischen Zerstörung der Ökosysteme und der
        Übernutzung der natürlichen Ressourcen wie Land,
        Wasser und Luft schließen wir uns an. Vor allem der
        Hinweis auf eine nachhaltige Landwirtschaft ohne Ein-
        satz von gentechnisch modifizierten Organismen und ei-
        ner angepassten Forschung ist dabei unterstützenswert.
        Viertens. Leider fällt dann die Frage nach der Demo-
        kratisierung der „ungerechten internationalen und natio-
        nalen Governancesysteme und Regelwerke“ weit hinter
        wünschenswerten Forderungen nach einer Handelspoli-
        tik zugunsten der Armen zurück. Auch hier werden die
        EPAs nicht problematisiert werden. Der Anbau von
        Agrotreibstoffen nach Menschenrechts- und Nachhaltig-
        20936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        keitskriterien ist faktisch nicht durchsetzbar. Dass Bünd-
        nis 90/Die Grünen lediglich die Regulation von kurzfris-
        tigen Spekulationen mit Agrarrohstoffen fordern, ist
        enttäuschend. Wir brauchen eine Politik der systemati-
        schen Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern.
        Wir brauchen eine Umverteilung von Land zugunsten
        der Landlosen und Kleinbäuerinnen und -bauern. Wir
        brauchen staatlich garantierte Arbeitsplätze mit ange-
        messenen Löhnen. Wir brauchen die Streichung illegiti-
        mer Schulden. Wir brauchen eine faire und kohärente
        Handelspolitik zugunsten der Armen. Steueroasen müs-
        sen geschlossen werden, Spekulationen mit Nahrungs-
        mitteln verboten und Banken staatlich reguliert werden.
        Viele wichtige Gründe der Nahrungsmittelkrise finden in
        dem Antrag der Grünen keine Erwähnung. Dennoch sind
        die enthaltenen Forderungen erste Schritte auf einem
        richtigen Weg, weshalb die Linke den Antrag unter-
        stützt.
        Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Zahl der von Hunger betroffenen Menschen ist nach An-
        gaben der Welternährungsorganisation bis Ende 2007
        von 854 auf 923 Millionen geklettert und hat damit ei-
        nen historischen Höchststand erreicht. Die Prognosen
        sind düster. Es ist so gut wie sicher, dass die Zahl der
        Hungernden bald die Milliardengrenze überschreiten
        wird. Gerade in den ländlichen Räumen der Entwick-
        lungsländer sind Hunger und Armut am tiefsten verwur-
        zelt. In unserem Antrag „Die Ursachen des Hungers be-
        seitigen – Die ländliche Entwicklung fördern“ fordern
        wir daher einen fundamentalen Paradigmenwechsel in
        der Hungerbekämpfung. Die Koalition hingegen hält
        sich in ihrem Antrag bedeckt und drückt sich um eine
        wesentliche Frage: die Verpflichtung zur Finanzierung
        ländlicher Entwicklung.
        Denn wir brauchen mehr Geld für ländliche Entwick-
        lung. Deutschland hat sich international dazu verpflichtet,
        bis 2015 Mittel in Höhe von 0,7 Prozent des Bruttonatio-
        naleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit
        aufzubringen. Davon ist Deutschland noch weit entfernt –
        trotz der diesjährigen Aufstockung des Entwicklungs-
        etats. Gemäß dem EU-Stufenplan besteht bereits jetzt
        eine Finanzierungslücke von 1,6 Milliarden Euro.
        Deutschland muss zu seinen Verpflichtungen stehen und
        die schrittweise Erhöhung des Entwicklungshaushalts
        stärker vorantreiben. Doch mehr Geld für Entwicklungs-
        zusammenarbeit allein reicht nicht aus. Es muss auch in-
        nerhalb des Entwicklungsetats mehr Geld für ländliche
        Entwicklung zur Verfügung stehen, um einen echten
        Beitrag zur Bekämpfung des Hungers zu leisten.
        Die Bundesregierung sollte deshalb dem Aufruf der
        Hunger-Taskforce der Vereinten Nationen folgen, min-
        destens 10 Prozent der Mittel für die Entwicklungs-
        zusammenarbeit für eine nachhaltige ländliche Ent-
        wicklung einzusetzen. Auch die Partnerländer sollten im
        Gegenzug mindestens zehn Prozent ihrer Staatshaushalte
        für ländliche Entwicklung bereitstellen. Diese sollten
        vor allem die Kleinbauern und Kleinbäuerinnen darin
        unterstützen, auf angepasste, ressourcenschonende
        Weise Grundnahrungsmittel zur Selbstversorgung und
        für lokale und regionale Märkte herzustellen. Denn eine
        wirksame Bekämpfung der Ursachen des Hungers kann
        nur gelingen, wenn Strategien der ländlichen Entwick-
        lung am Recht auf Nahrung ausgerichtet werden. Klein-
        bäuerinnen, Kleinbauern, Frauen und Mädchen, indi-
        gene Völker und andere Bevölkerungsgruppen, die am
        meisten von Hunger betroffen sind, müssen ins Zentrum
        der ländlichen Entwicklung rücken.
        Wir konnten sehen, wie bei der gegenwärtigen
        Finanz- und Wirtschaftskrise in kürzester Zeit enorme
        Summen aus den öffentlichen Kassen mobilisiert wur-
        den. Dies mag ja aus wirtschaftspolitischer Sicht erfor-
        derlich sein. Aber wie kann man dann den Menschen er-
        klären, dass die Bundesregierung nicht bereit war, sich
        dafür einzusetzen, dass nur 1 Milliarde Euro an über-
        schüssigen EU-Agrarmitteln umgewidmet wird für die
        ländliche Entwicklung in den von Hunger betroffenen
        Ländern?
        Die Entwicklungsländer müssen die Möglichkeit ha-
        ben sich selbst zu helfen. Das geht aber nur, wenn diesen
        Ländern nicht durch unfaire Handelspolitik jede Mög-
        lichkeit der Entwicklung aus eigener Kraft geraubt wird.
        Unfair ist es zum Beispiel, wenn erst im Zuge von oft-
        mals erzwungenen Liberalisierungsmaßnahmen die
        Zollschranken beseitigt werden und dann hochsubven-
        tionierte, nicht vermarktbare Restbestände der EU-
        Agrarproduktion auf den Märkten der Entwicklungslän-
        der abgekippt werden. Ärmere Agrarländer müssen sich
        vor Dumpingfluten schützen können. Eine faire Han-
        delspolitik muss die wesentlich schwächere Ausgangs-
        position dieser Länder berücksichtigen und sich an der
        Chancengleichheit orientieren.
        Neben der Schaffung fairer Handelsstrukturen müs-
        sen wir eine weltweite Agrarwende hin zu ressourcen-
        schonendem Anbau vollziehen. An dieser Stelle sind die
        Formulierungen des Koalitionsantrags viel zu schwam-
        mig. Die Förderung der ländlichen Entwicklung darf
        nicht bedeuten, dass lediglich die konventionelle Land-
        wirtschaft, wie wir sie kennen, bis in den letzen Winkel
        der Erde vordringt. Das muss in aller Deutlichkeit gesagt
        werden. Es darf nicht bedeuten, dass mittels einer „zwei-
        ten grünen Revolution“ die Irrungen der ersten wieder-
        holt werden – plus Gentechnik. Die bisherigen Erfahrun-
        gen mit dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
        zeigen: Ihr Anbau für den Fleischkonsum und den Roh-
        stoffbedarf der Industrieländer treibt in Entwicklungs-
        und Schwellenländern die lokale kleinbäuerliche Wirt-
        schaft in neue Abhängigkeiten und beschleunigt soziale
        Verwerfungen.
        Wir fordern daher eine Agrarwende, bei der gesunde
        Nahrungsmittel auf zweifach nachhaltige Weise herge-
        stellt werden: sozial nachhaltig unter Wahrung der Men-
        schenrechte und ökologisch nachhaltig unter schonen-
        dem Umgang mit Ressourcen, vielfältigen Fruchtfolgen,
        dem Einsatz von organischen Düngern und natürlicher
        Schädlingsbekämpfung.
        Dieser grüne Ansatz zur ländlichen Entwicklung ist
        übrigens auch vom Weltagrarrat IAASTD, dem weltweit
        führende Agrarexpertinnen und -experten angehören,
        bestätigt worden. Der im April erschienene Bericht des
        Weltagrarrats macht deutlich: Nur eine drastische Um-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20937
        (A) (C)
        (B) (D)
        widmung von Ressourcen zugunsten der Landwirtschaft
        und ländlichen Entwicklung kann den Hunger nachhaltig
        besiegen. Wir brauchen eine schnelle Abkehr von der
        Art, wie Landwirtschaft betrieben wird, mit ihrer unge-
        hemmten Intensivierung, mit ihrem Teufelskreis von
        Monokulturen, Pestizideinsatz, chemischem Dünger,
        enormem Wasserverbrauch und Bodenzerstörung.
        Wir brauchen mehr Geld für ländliche Entwicklung.
        Aber diese muss ökologisch und sozial nachhaltig sein,
        in einem fairen Handelssystem stattfinden und im Sinne
        des Rechts auf Nahrung zuallererst den Ärmsten zugute-
        kommen.
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Stau-
        dammprojekt zurückziehen (Tagesordnungs-
        punkt 18)
        Erich G. Fritz (CDU/CSU): Wie Sie alle wissen, hat
        die Bundesregierung im März 2007 gemeinsam mit Ös-
        terreich und der Schweiz Exportkreditgarantien für das
        Ilisu-Staudammprojekt im Südosten der Türkei über-
        nommen. Laut BMWi sind die Gesamtkosten für das
        Projekt mit rund 2 Milliarden Euro beziffert. Der deut-
        sche Anteil dabei beträgt 93 Millionen Euro für die Be-
        teiligung der ZÜBLIN AG. Wir sprechen hier also nicht
        über einen wirklich relevanten Anteil des Projektes. Der
        Antrag hat, wie viele vor ihm, im Wesentlichen symboli-
        sche Bedeutung.
        Die Geschichte dieses Staudammprojektes ist lang,
        auch die parlamentarische Behandlung dieses Themas
        füllt bereits ein eigenes Archiv. Regierungs- und Oppo-
        sitionsfraktionen im Bundestag haben sich in mehreren
        Legislaturperioden teils kritisch-konstruktiv, teils aus-
        schließlich kritisch mit diesem sowohl unter regional-
        politischen wie ethnischen, kulturellen und historischen,
        wie aber auch unter internationalen Aspekten bedeuten-
        den Projekt beschäftigt. Es ist nichts Neues für uns, dass
        der Bau des Ilisu-Staudamms am Tigris im Südosten der
        Türkei als umstrittenes Projekt gilt. NGOs und auch die
        kurdische Opposition äußerten in vielen Gesprächen und
        Stellungnahmen ihre Kritik, die zu immer weiterer Kon-
        trolle der Abläufe durch die Bundesregierung und durch
        die Fraktionen des Bundestages geführt hat. Dass die
        Fraktion Die Linke dies in ihrem Antrag auf Druck-
        sache 16/9308 erneut aufgreift, gibt uns erneut Anlass
        zur Diskussion im Bundestag.
        Wir alle wollen, dass die Menschen nicht heimatlos
        gemacht werden. Wir alle wollen, dass kulturelle
        Schätze nicht verloren gehen. Doch was wäre die Alter-
        native? Die Türkei hat im Vorfeld des Baubeginns er-
        klärt, das Projekt in jedem Fall durchführen zu wollen,
        wenn nicht mit deutscher Hilfe, dann mit Lieferanten
        und Finanziers aus Nicht-OECD-Ländern wie zum Bei-
        spiel China. Ich bezweifle, dass sich unsere deutschen
        Exporteure darüber gefreut hätten. Vor allem aber be-
        streite ich, dass andere Regierungen als die bisher so
        intensiv beteiligten deutsche, österreichische und
        schweizerische sowie deren in ständiger Kooperation be-
        findliche Kreditversicherer auch nur annähernd so viele
        Verbesserungen an dem Projekt zum Teil im sachlichen
        Dialog, zum Teil auch im politischen Streit mit der türki-
        schen Regierung hätten erreichen wollen und können,
        wie dies der Fall war.
        Dabei war die türkische Regierung kein einfacher
        Partner. Der Schutz der historischen Orte war offensicht-
        lich für sie kein wichtiges Gut. Die Regeln für gerechte
        Behandlung der betroffenen Menschen, die umgesiedelt
        werden müssen, hatten keine große Bedeutung, ein Dia-
        log mit den Flussanrainern über die ökologischen Folgen
        kam nur nach langem politischem Drängen zustande.
        Die Liste der Mängel ist weiter fortzusetzen. In diesen
        mühsamen Gesprächen, für die sich der Bundestag nur
        bedanken kann, sind Schritt für Schritt Fortschritte ge-
        macht worden, die dann eine Gewährleistung von Teil-
        aufträgen möglich gemacht haben.
        Der Deutsche Bundestag hat über Parteigrenzen hin-
        weg immer darauf Wert gelegt und als unabdingbar ein-
        gefordert, dass das Projekt nach internationalen Stan-
        dards zu realisieren sei. Unsere Bundesregierung hat
        dafür viel getan. Sie hat ein Komitee nationaler und in-
        ternationaler Experten benannt, das die Türkei bei der
        Durchführung des Projekts berät und kontrolliert. Es ist
        äußerst bedauerlich, dass die zur Projektüberwachung
        eingesetzten unabhängigen Experten im Frühjahr dieses
        Jahres Verzögerungen bei der Umsetzung der vereinbar-
        ten Maßnahmen feststellen mussten. Das zeigt aber
        auch, dass sich dieses Kontrollgremium bewährt hat.
        Die Bundesregierung hat ihre Konsequenzen daraus
        gezogen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt,
        dass die am Projekt beteiligten Exportkreditversicherun-
        gen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz am
        9. Oktober 2008 eine förmliche Umweltstörungsanzeige
        – Environmental Failure Notice, EFN – an das türkische
        Baukonsortium eingereicht haben. Damit wurde ein Pro-
        zess eingeleitet, der die Umsetzung der vereinbarten
        Maßnahmen in den Bereichen Umsiedlung, Umwelt und
        Kulturgüter sicherstellt.
        Am 12. Dezember 2008 läuft die 60-Tage-Frist ab.
        Wir werden sehen, ob die türkischen Besteller bis dahin
        die Fehlentwicklungen korrigiert haben werden. Die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet die Bundesregie-
        rung gemeinsam mit Österreich und der Schweiz, die Si-
        tuation sehr genau zu prüfen. Wenn das geschehen ist,
        unterstützen wir die Bundesregierung mit unseren Mög-
        lichkeiten in ihrem Ziel, einen neuen Zeitplan für die
        Realisierung des Projektes zu erstellen und alle verein-
        barungswidrigen Bautätigketten einzustellen.
        Ich wünsche mir, dass die Türkei eine Reihe von
        Maßnahmen einleitet, die zur Verbesserung der derzeiti-
        gen Lage beitragen. Es wäre schade, wenn die Bundes-
        regierung von ihrer Bereitschaft, für die nötigen Kredite
        zu bürgen, abrücken müsste. Exportkreditgarantien sind
        ein sehr wichtiges Instrument unserer Außenwirtschafts-
        förderungspolitik. Gerade in Zeiten schwieriger Märkte
        leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung.
        20938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Unsere deutschen Unternehmen sind mit ihnen in der
        Lage, schwierige Exportgeschäfte – wie dieses am
        Tigris – abzusichern.
        Für die in der Folgezeit anstehenden Verhandlungen
        mit dem türkischen Bauherrn wünsche ich der Bundes-
        regierung, dass für alle Seiten befriedigende Ergebnisse
        erzielt werden können.
        Rolf Hempelmann (SPD): Wir beraten heute einen
        Antrag der Linken mit der Forderung nach der sofortigen
        Zurücknahme der deutschen Exportkreditversicherung
        für das Ilisu-Staudammprojekt.
        Die Bundesregierung hat im Konsortium mit der
        Schweiz und mit Österreich im März 2007 Exportkredit-
        garantien in Höhe von 450 Millionen Euro für das Stau-
        dammprojekt übernommen. Der deutsche Anteil beläuft
        sich auf 193 Millionen Euro. Für diese Kreditzusage hat
        ein internationales Expertenkomitee im Vorfeld 153 Auf-
        lagen formuliert, die bis Baubeginn von türkischer Seite
        erfüllt sein müssen. Die Gegner des Ilisu-Staudammpro-
        jekts kritisieren zu Recht die viel zu langsamen Fort-
        schritte der Türkei bei der Erledigung dieser Aufgaben.
        Sie ziehen daraus jedoch die Schlussfolgerung, dass sich
        die Exportkreditversicherer aus Deutschland, Österreich,
        Schweiz lediglich aus dem Projekt zurückziehen müs-
        sen, damit es nicht zustande kommt.
        Ich fürchte, dass dies genau nicht der Fall sein wird.
        Der Ilisu-Staudamm ist Teil eines milliardenschweren
        Investitionsprogramms für Südostanatolien, das der tür-
        kische Staatspräsident Tayyip Erdogan im Frühjahr die-
        ses Jahres angekündigt hat. Das Südostanatolien-Projekt
        ist ein Prestigeprojekt der türkischen Regierung, mit
        dem die wirtschaftliche Entwicklung Südostanatoliens
        gefördert werden soll – übrigens einem der Hauptanlie-
        gen der EU gegenüber dem EU-Beitrittskandidaten Tür-
        kei.
        Das Südostanatolien-Projekt beinhaltet genauer den
        Bau einer Reihe von Staudämmen und Wasserkraftwer-
        ken als Reaktion auf den wachsenden Strombedarf des
        Landes. Im Fall von Ilisu ist es jedoch das erste Mal,
        dass wir bei einem Staudammbau der Türkei als Export-
        kreditversicherer auftreten. Es ist ebenfalls noch nicht
        vorgekommen, dass sich die Türkei dabei zur Einhaltung
        internationaler Standards verpflichtet hat.
        Andere Staudämmprojekte werden nach türkischen
        Standards realisiert. Gerade in den letzten Tagen ent-
        nahm ich der Zeitung, dass die örtlichen türkischen Be-
        hörden bei einem weiteren Staudammbau im Rahmen
        des Südostanatolien-Projekts die Bevölkerung zu einem
        Verkauf ihres Landes zu 75 Cent pro 1 000 Quadratme-
        ter zwingen wollen. Das wird und das darf im Fall des
        Ilisu-Projekts nicht geschehen, sofern wir uns weiter da-
        ran beteiligen. Wir setzen uns im Rahmen der Umsied-
        lungsmaßnahmen für eine angemessene Land-zu-Land-
        Entschädigung und für die Durchführung von Fortbil-
        dungsmaßnahmen ein, damit die betroffenen Menschen
        eine reale Chance bekommen, sich an anderer Stelle eine
        neue Lebensgrundlage aufzubauen.
        Die getroffenen Auflagen sind nicht verhandelbar.
        Nachdem die Erfüllung der Vereinbarungen von der Tür-
        kei bisher bestenfalls halbherzig verfolgt wurde und
        erhebliche Mängel erkennen ließ, haben die Exportkre-
        ditversicherungen im Oktober 2008 ein Vertragsverlet-
        zungsverfahren gegen die türkische Seite eingeleitet.
        Dieses Verfahren macht es nun notwendig, dass die Tür-
        kei innerhalb einer Frist von 60 Tagen die Auflagen er-
        füllt. Die Frist läuft Ende kommender Woche ab. Sollte
        die Türkei bis dahin, bis Mitte Dezember, nicht entschei-
        dende Fortschritte – und ich betone, dass hier eine
        deutliche Abkehr von der bisherigen Vorgehensweise
        vorliegen muss – vorweisen können, kann das Baukon-
        sortium zur Verhängung eines sofortigen Baustopps an-
        gewiesen werden, bis die Auflagen erfüllt sind, oder aber
        die Beteiligung des internationalen Baukonsortiums aus
        dem Projekt zurückziehen.
        Dieses Vorgehen entspricht den Fristvorgaben der
        Kredit- und Bauverträge. Der Opposition sei gesagt, dass
        die Bundesregierung das Verstoßen der türkischen Seite
        gegen die Bauauflagen ja bereits ahndet. Der geforderte
        sofortige Ausstieg aus dem Projekt wider die Vertrags-
        grundlagen ist jedoch nicht machbar. Ich halte ihn auch
        nicht für empfehlenswert. Schließlich können wir nur
        über unsere Projektbeteiligung sicherstellen, dass die
        Türkei zum Beispiel bei der Umsiedelung der mehr als
        50 000 Betroffenen nach internationalen Standards vor-
        geht und nicht nach türkischen.
        Kurz und gut, ich plädiere für die Ablehnung des An-
        trags. Mit dem Ausstieg aus der Kreditfinanzierung
        erweisen wir der betroffenen Bevölkerung einen Bären-
        dienst. Sollten die Baumaßnahmen am Staudamm je-
        doch ausgeweitet werden, ohne dass die notwendigen
        Vorkehrungen zum Schutze von Natur, Mensch und Kul-
        turgütern getroffen worden wären, so sieht die Angele-
        genheit sehr düster aus. Dieses Druckmittels sollten wir
        uns nicht berauben. Schließlich sind die Verstöße der
        Türkei gegen die Auflagen nach Einschätzung inter-
        nationaler Experten bisher noch heilbar. So haben zwar
        juristische Enteignungen stattgefunden, aber es wurde
        noch niemand umgesiedelt. Im Januar wird sich die
        Situation ändern, wenn nach bisherigem Zeitplan mit
        den Arbeiten an einem Umleitungstunnel begonnen wer-
        den soll. Die deutsche Seite wertet diesen Schritt als tat-
        sächlichen Baubeginn des Staudamms, als einen Point of
        no Return.
        Sollte die Türkei bis kommende Woche also nicht ein-
        deutig dargelegt haben, wie sie die Auflagen zu erfüllen
        gedenkt, haben wir die klare Bereitschaft, einen soforti-
        gen Baustopp durchzusetzen und, wenn nötig, auch un-
        sere Zustimmung zu einer Exportkreditversicherung zu-
        rückzuziehen. Bis dahin jedoch sollte nichts unversucht
        gelassen werden, das Projekt im Sinne der betroffenen
        Bevölkerung, der Kulturgüter und des Umweltschutzes
        positiv zu beeinflussen.
        Gabriele Groneberg (SPD): Zum wiederholten
        Male diskutieren wir hier über einen Antrag, der den
        Ausstieg aus der Bürgschaftsverpflichtung für den Bau
        des Ilisu-Staudamms in der Türkei fordert. Ich will zu-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20939
        (A) (C)
        (B) (D)
        erst ganz deutlich sagen, dass wir die von uns bei Ver-
        tragsabschluss eingeforderten internationalen Standards
        und ihre strikte Einhaltung beim Bau des Ilisu-Stau-
        damms sehr ernst nehmen. Dies zeigt die Tatsache, dass
        Österreich, die Schweiz und Deutschland am 9. Oktober
        2008 eine förmliche Umweltstörungsanzeige an das
        Baukonsortium geschickt haben.
        Immer wieder sind wir unterrichtet worden, dass die
        geforderten Standards nicht oder in nicht ausreichendem
        Maße eingehalten werden. Zum Beispiel gehört zur Er-
        füllung der Weltbankstandards die Durchführung einer
        Umweltverträglichkeitsprüfung sowie die Erstellung ei-
        nes Kulturgüterplans und eines Umsiedelungsplans. Ge-
        rade im hochsensiblen Bereich der Umsiedlung, die im
        Übrigen erstmals in der Türkei nach Weltbankstandards
        erfolgen sollte, zeigen sich Defizite bei der Umsetzung.
        Immer wieder sind Gespräche mit den zuständigen Be-
        hörden über die Notwendigkeit der Einhaltung der Stan-
        dards geführt worden – offensichtlich mit geringem Er-
        folg. Dann gab es den internationalen Expertenbericht,
        der eben die Nichteinhaltung dokumentiert. Spätestens
        nach Vorlage des Berichts war klar, dass die türkischen
        Stellen ihre vertraglichen Pflichten offenbar nicht frist-
        gerecht umsetzen und die Weltbankstandards in den drei
        relevanten Bereichen – Umsiedlung, Umwelt und Kul-
        turgüter – nicht wie vorgesehen einhalten.
        Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit
        den ebenfalls an der Bürgschaft beteiligten Ländern Ös-
        terreich und Schweiz die Reißleine gezogen und mit
        dem Versand der Umweltstörungsanzeige bereits Maß-
        nahmen zum möglichen Ausstieg aus den Verträgen ein-
        geleitet. Mir ist wichtig, dass dies klar und deutlich
        gesagt wird – auch in Richtung Nichtregierungsorgani-
        sationen. Dieser vertraglich festgelegte Prozess ist ein-
        geleitet worden, um deutlich zu machen, dass die verein-
        barten Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden
        müssen, wenn wir weiter bei der Finanzierung dieses
        Projekt beteiligt sein sollen. Wir lassen uns dabei nicht
        vor vollendete Tatsachen stellen. Wir wollen vermeiden,
        dass die türkischen Bauherren überstürzt das Projekt um-
        setzen.
        Jetzt ist für die zuständigen Behörden in der Türkei
        Zeit, nachzubessern. Denn im Rahmen der Umweltstö-
        rungsanzeige wurde den türkischen Stellen die Möglich-
        keit eingeräumt, einen neuen Zeitplan zur Realisierung
        des Projekts zu erstellen. Wichtig ist in diesem Zusam-
        menhang, dass bis zur Vorlage des neuen Zeitplans Bau-
        tätigkeiten im Projektgebiet ruhen. Denn nur solange das
        eigentliche Bauprojekt noch nicht in Angriff genommen
        wurde, besteht die Chance, dass die Maßnahmen mit der
        notwendigen Umsicht in den Bereichen Umsiedlung,
        Umwelt und Kulturgüter umgesetzt werden. Ende nächs-
        ter Woche, also am Freitag, 12. Dezember 2008, läuft die
        60-Tage-Heilungsfrist aus. Entscheidend für den Fort-
        gang des Projekts wird sein, ob die türkischen Stellen
        gewillt sind, das Staudammprojekt nach internationalen
        Standards umzusetzen.
        Bei genauer Betrachtung sind durchaus Zweifel ange-
        bracht, ob eine weitere Beteilung durch uns wirklich ge-
        wünscht ist. Die derzeit im Projektgebiet stattfindenden
        Baumaßnahmen sprechen nicht unbedingt dafür, dass die
        türkische Regierung Interesse an einer weiteren Zusam-
        menarbeit hat. Es liegt also nicht in unserer Hand! Die
        Entscheidung, auf welche Art und Weise das Projekt um-
        gesetzt wird, liegt einzig und allein bei der türkischen
        Regierung. Die türkischen Stellen kennen unsere Bedin-
        gungen, und sie wissen auch, dass – sofern sie diese Be-
        dingungen nicht einfüllen – wir die Liefer- und Kredit-
        verträge kündigen werden.
        Nun geht die Linkspartei davon aus, dass mit der
        Kündigung des Vertrages der schweizerischen, öster-
        reichischen und deutschen Exportkreditagenturen das
        Problem gelöst sei. Sie glaubt, dass die Türkei dieses
        Projekt nicht wird weiter fortsetzen können. Diese An-
        sicht teile ich nicht, und ich gebe in diesem Zusammen-
        hang zu bedenken, dass durch die drei Exportkreditversi-
        cherungen nur ein Viertel der gesamten Projektsumme
        abgedeckt wird. Deshalb denke ich, wir sollten unseren
        Einfluss auf dieses Projekt nicht überschätzen. Im Ge-
        genteil! Wir sollten uns noch einmal die Tatsachen vor
        Augen führen: Der Ilisu-Staudamm ist ein Prestigepro-
        jekt der Regierung Erdogan. Die Türkei hat einen enor-
        men Energiehunger. Mit diesem Staudamm soll ein gro-
        ßer Teil des Energiebedarfs gedeckt werden – immerhin
        für circa 2 Millionen Haushalte, und zwar ohne dass da-
        für Atommeiler oder Kohlekraftwerke gebaut werden
        müssen. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon, dass
        die türkische Regierung auf eine schnelle Realisierung
        des Projekts drängen wird, ob mit oder ohne uns. Man
        muss sich auch fragen, ob wir mit dem Ausstieg aus die-
        sem Projekt den Menschen in Südostanatolien nicht ei-
        nen Bärendienst erweisen würden. Denn machen wir uns
        nichts vor: Nur im Falle unserer Mitwirkung an dem
        Projekt ist zumindest die Chance gegeben, dass die Ein-
        haltung internationaler Standards überhaupt eine Rolle
        spielt. Ob bei einer anderen Finanzierungsgrundlage
        diese Standards angewendet werden, bezweifle ich.
        Deshalb hoffe ich, dass bis Freitag nächster Woche
        konstruktive, realistische Vorschläge zur Einhaltung der
        internationalen Standards gemacht werden. Insofern
        kann ich mit Verweis auf die angesprochenen Punkte in
        Bezug auf den Antrag der Linkspartei nur sagen, dass er
        inzwischen nicht mehr den aktuellen Sachstand wieder-
        gibt und eine sozial und ökologisch verträgliche Durch-
        führung des Staudammprojekts noch nicht einmal in Er-
        wägung zieht. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
        Gudrun Kopp (FDP): Der beabsichtigte Bau des
        Ilisu-Staudamms ist in der Tat eine hochkomplexe und
        schwierige Entscheidung. Das gilt natürlich auch für die
        Erteilung einer entsprechenden Exportbürgschaft. Viele
        Bedenken, die von den Antragstellern im vorliegenden
        Antrag geäußert werden, erforderten tatsächlich eine
        eingehende Prüfung.
        Berücksichtigt werden mussten dabei jedoch nicht
        nur die konkreten Auswirkungen des Projekts, sondern
        auch die prinzipiellen Erwägungen, die einer Vergabe
        von Exportausfallbürgschaften durch die Bundesregie-
        rung zugrunde liegen. Der Antrag der Linken schildert in
        epischer Breite die großen Probleme sicherheitspoliti-
        20940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        scher, kulturpolitischer, ökologischer und menschen-
        rechtspolitischer Art, die mit dem Projekt verbunden
        sind. Vieles von dem nimmt auch die FDP sehr ernst,
        wobei ich mir die Frage stelle, wie das, was Sie hier über
        die Türkei und ihr Verhalten in der vorliegenden Frage
        äußern, eigentlich zusammenpasst mit ihrem vehemen-
        ten Eintreten für einen möglichst zügigen Beitritt der
        Türkei zu Europäischen Union. Das gilt insbesondere für
        Frau Roth, die sich zu diesem Projekt auch vorgestern
        wieder in extremer Form geäußert hat. Wie wollen Sie
        denn, Frau Roth, eigentlich glaubhaft für den Beitritt ei-
        nes Landes zur EU streiten, das „sich in verantwortungs-
        loser Weise über jegliche Vereinbarungen hinwegsetzt“?
        Noch wichtiger ist uns als Liberalen aber insbeson-
        dere die grundsätzliche Frage, ob es wirklich richtig ist,
        dass hier das Parlament in die Einzelprüfung derartiger
        Projekte eingreift. Aus diesem Grunde ist aus unserer
        Sicht der Antrag der Linken in keiner Weise zustim-
        mungsfähig. Es gibt aus guten Gründen einen Kriterien-
        katalog, der festlegt, welche Projekte überhaupt geeignet
        sind, eine Hermesbürgschaft in Anspruch zu nehmen.
        Über die Ausgestaltung dieser Kriterien ließe sich in der
        Tat streiten, aber das muss dann eben auch gemacht wer-
        den.
        Bei einer Güterabwägung zwischen den Auswirkun-
        gen des konkreten Projektes und dem letzten Mittel einer
        Rücknahme der Hermesbürgschaft kommen wir zu an-
        deren Ergebnissen als Sie. Für die FDP ist klar, dass, wie
        im Bereich des Welthandels, auch bei der Vergabe von
        Exportbürgschaften durch den deutschen Staat vergabe-
        fremde Aspekte wie Umwelt- und Sozialstandards keine
        Rolle spielen sollten. Die Bundesrepublik Deutschland
        sollte sich nicht zum Zensor der türkischen, indischen
        oder chinesischen Energiepolitik machen.
        Wir als Liberale haben stets betont, dass die Nutzung
        komparativer Kostenvorteile durch Entwicklungs- und
        Schwellenländer völlig legitim ist. Deshalb ist der intel-
        lektuelle Ansatz, diesen Ländern unsere weit fortge-
        schrittenen Umwelt- und Sozialstandards aufzuzwin-
        gen, nicht nur illegitim, er schadet auch der Entwicklung
        dieser Staaten. Überträgt man nun diesen Grundgedan-
        ken auf den vorliegenden Fall einer Hermesbürgschaft
        für den Ilisu-Staudamm, so kommt man nicht umhin
        festzustellen, dass auch hier derartige Erwägungen keine
        Rolle spielen sollten. Bei Hermesbürgschaften geht es
        um die Exportförderung deutscher Unternehmen und
        nicht darum, anderen Ländern unsere Standards aufzu-
        zwingen.
        Im Übrigen ist der vorliegende Antrag in einem Duk-
        tus verfasst, der die Pläne zum Bau des Ilisu-Staudamms
        in ein Licht taucht, als wäre dieses Projekt der Ausfluss
        der Überlegungen einer dunklen Macht. Sie ignorieren
        vollständig, dass es aus türkischer Sicht eben doch auch
        gute Gründe für den Bau des Staudamms gibt. So geht es
        immerhin um die Errichtung einer leistungsfähigen
        Energieerzeugungsanlage auf Basis erneuerbarer Ener-
        gien, etwas, was gerade Linke wie Grüne den Entwick-
        lungs- und Schwellenländern bei jeder passenden und
        unpassenden Gelegenheit ins Stammbuch schreiben.
        Weiterhin kann das Projekt natürlich bei allen Schwie-
        rigkeiten durchaus zur Entwicklung in einer bisher stark
        benachteiligten Region der Türkei beitragen.
        Entscheidend ist aber heute vielmehr, dass wir es ge-
        genwärtig noch mit einem schwebenden Verfahren zu
        tun haben. Der entsprechende Expertenbericht legt in der
        Tat nahe, dass sich die Türkei an viele Vorgaben nicht
        hält bzw. nicht gehalten hat. Für einen solchen Fall sind
        eindeutige Verfahren vorgesehen, nämlich etwaige neue
        Fristen und dann gegebenenfalls die Rücknahme der Ex-
        portbürgschaft. Diese Prüfungen sollten wir in Ruhe ab-
        warten, anstatt die entsprechenden Entscheidungen hier
        aus dem warmen Parlamentssessel heraus vorwegneh-
        men zu wollen.
        Darüber hinaus sind jetzt auch die Kreditversicherer
        aus Deutschland, der Schweiz und Österreich gefordert,
        sich an ihrer Verantwortung und ihren Kriterien orientie-
        ren. Sollten diese zu dem Schluss gelangen, dass die
        Verletzungen von Absprachen durch die Türkei in so ek-
        latantem Maße vorliegen, wie Sie das behaupten, so wer-
        den sie von sich aus handeln. Dazu bedarf es keiner poli-
        tischen Einflussnahme. Eine andere Frage ist, ob
        dadurch das Gesamtprojekt in irgendeiner Weise ge-
        bremst würde.
        Alles in allem will ich zum Abschluss nicht verheh-
        len, dass es sicherlich Projekte gibt, bei denen es eingän-
        giger ist, warum es zu einer Hermesbürgschaft kommt.
        Gleichwohl aber lehnt die FDP-Fraktion aus prinzipiel-
        len verfahrenstechnischen wie entwicklungs- und außen-
        wirtschaftspolitischen Gründen den vorliegenden Antrag
        ab.
        Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): In diesen Ta-
        gen muss sich die Bundesregierung entscheiden: Will sie
        endlich die Notbremse ziehen und sich aus dem Bau des
        Ilisu-Staudammes im Südosten der Türkei zurückzie-
        hen? Oder will sie weiterhin dieses unsoziale und die
        Umwelt zerstörende Großprojekt politisch und finanziell
        unterstützen?
        Seit mehr als zwei Jahren beschäftigen wir uns hier
        und in den Ausschüssen mit dem Thema der Exportkre-
        ditversicherung für die Züblin AG zum Bau des Ilisu-
        Staudammes. Meine Partei und die Kollegen von Bünd-
        nis 90/Die Grünen haben wiederholt und detailliert die
        Gründe dargelegt, die gegen diese unverantwortliche
        Hermesbürgschaft der Bundesregierung sprechen. Ich
        möchte die wichtigsten Punkte dennoch noch einmal
        kurz ansprechen.
        Erstens sind bis zu 78 000 Menschen durch das Groß-
        projekt in ihrer Existenzgrundlage bedroht. Von ihnen
        werden schätzungsweise mehr als 10 000 Menschen ih-
        ren Landbesitz verlieren. Die Enteignungen, Umsiedlun-
        gen und Entschädigungen der betroffenen Bevölkerung,
        die bereits begonnen haben, bleiben weit hinter den er-
        forderlichen internationalen Standards zurück. Zudem
        droht eine doppelte Vertreibung: Das Land, auf dem die
        Bewohner der Region angesiedelt werden sollen, ist zum
        Teil bereits bewohnt. Dort werden die Menschen aufge-
        fordert, ihren Besitz zu Spottpreisen zu verkaufen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20941
        (A) (C)
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        Zum Zweiten berührt die Aufstauung des Tigris und
        des Euphrats im Rahmen des umfangreichen Südostana-
        tolien-Projektes ganz direkt die Interessen der Nachbar-
        länder Syrien und Irak. Die Regierungen dieser Länder
        wurden jedoch nicht in die Planungen für den Ilisu-Stau-
        damm einbezogen. Wenn es durch das Projekt in be-
        stimmten Perioden zum Wassermangel kommt, sind in-
        ternationale Spannungen zwischen der Türkei und den
        Anrainern nur eine Frage der Zeit.
        Drittens würden durch eine Flutung der Region um
        Ilisu einige der wichtigsten Kulturgüter der Mensch-
        heitsgeschichte unwiederbringlich verloren gehen. Mit
        der Stadt Hasankeyf würden eine Jahrtausende alte Stadt
        und deren kulturelle Schätze versinken.
        Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mit einigen Be-
        wohnern Hasankeyfs sowie dem Bürgermeister der Stadt
        persönlich zu reden. Sowohl sie als auch Vertreter der
        türkischen Umweltverbände treten nach wie vor vehe-
        ment gegen die Umsetzung des Staudamm-Projektes ein.
        Wie mir der Bürgermeister Abdulvahap Kusen be-
        schrieb, würde es auch gravierende Folgen für die lokale
        Wirtschaft haben, die ohnehin schwach entwickelt ist.
        Dass die türkische Regierung die an die Vergabe der
        Exportkreditgarantien geknüpften Auflagen nicht erfüllt,
        musste im Oktober dieses Jahres selbst die Bundesregie-
        rung einräumen. Sie drohte zusammen mit Österreich
        und der Schweiz der türkischen Regierung, die Bürg-
        schaften für das Ilisu-Projekt zurückzuziehen und gab
        ihr 60 Tage Zeit, um die 153 Auflagen in die Tat umzu-
        setzen oder einen entsprechenden Plan zu erstellen. Am
        12. Dezember wird diese Frist ablaufen.
        Nach Einschätzung von Umweltorganisationen und
        anderen Beobachtern deutet derzeit nichts darauf hin,
        dass die türkische Regierung gewillt ist, sich an die Auf-
        lagen zu halten. Für uns bedeutet das: Die Bundesregie-
        rung muss die bestehenden Bürgschaftsverträge umge-
        hend widerrufen.
        Lassen Sie uns ein Zeichen setzen, dass die Zerstö-
        rung von Gesellschaft und Natur auch im fernen Anato-
        lien uns hier nicht unberührt lässt, gerade wenn sie mit
        deutscher Unterstützung geschieht. Hier können Sie sich
        ganz konkret für die Menschenrechte einsetzen, wenn
        Sie es mit dem Antrag zu Menschenrechten, der morgen
        an dieser Stelle verabschiedet wird, wirklich ernst mei-
        nen. Fordern Sie also mit uns die Bundesregierung auf,
        aus diesem unverantwortlichen Projekt unverzüglich
        auszusteigen und die Hermesbürgschaften für Ilisu zu-
        rückzuziehen.
        Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein fal-
        sches Projekt wird auch durch die Vergabe von Export-
        kreditgarantien nicht richtig. Der illegale Baubeginn
        muss zum Stopp der Bürgschaften führen. Noch stehen
        die Exportkreditgarantien für die am Ilisu-Staudamm-
        projekt beteiligten Unternehmen aus Deutschland,
        Österreich und der Schweiz. Die deutsche Bundesregie-
        rung hat eine Hermesbürgschaft in Höhe von 93,5 Mil-
        lionen Euro für die Züblin AG im März des letzten Jah-
        res bewilligt, trotz der massiven Einwände vieler
        Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen. Im parla-
        mentarischen Raum haben wir Grünen bereits vor über
        zwei Jahren dazu aufgefordert, die Hermesbürgschaft
        nicht zu bewilligen. Leider ohne Erfolg. Aber unsere Ar-
        gumente haben Wirkungskraft gezeigt. Zusammen mit
        engagierten Nichtregierungsorganisationen aus Deutsch-
        land, Österreich, der Schweiz und der Türkei ist es ge-
        lungen, die negativen Auswirkungen des Staudammpro-
        jekts einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und
        den Druck auf die Entscheidungsträger bis heute auf-
        rechtzuerhalten. Diesem Druck und den offensichtlichen
        Fehlleistungen der türkischen Regierung bei der Erfül-
        lung festgelegter Auflagen in den Bereichen Umsied-
        lung, Umwelt und Kultur konnte sich die Bundesregie-
        rung nicht verschließen. Zusammen mit Österreich und
        der Schweiz wurde der Türkei durch eine „Umweltstö-
        rungsanzeige“ eine Frist bis Ende nächster Woche ge-
        stellt. Bis dahin muss ein tragfähiges Konzept stehen,
        das den Willen erkennen lässt, die Auflagen zu erfüllen.
        Es darf auf keinen Fall zu einem faulen Kompromiss
        kommen. Seit über anderthalb Jahren kennt die türkische
        Regierung die Auflagen. Seit über anderthalb Jahren ist
        nichts passiert, keine Umweltverträglichkeitsprüfung,
        kein geeigneter Umsiedlungsplan, keine Machbarkeits-
        studien zur Rettung jahrtausendealter Kulturgüter. Was
        bisher passiert ist, sind Enteignungen von Menschen, die
        im Weg stehen, und vorbereitende Baumaßnahmen für
        den Staudamm. Warum sollten wir davon ausgehen, dass
        sich an dieser Politik etwas ändert? Wann ist es genug?
        Wann sieht die Bundesregierung ein, dass sie sich an
        dem skandalträchtigen Projekt nicht beteiligen darf?
        Und doch gibt es erste Anzeichen dafür, dass der Tür-
        kei eine weitere Schonfrist eingeräumt wird und
        Deutschland, Österreich und die Schweiz weiter am Ball
        bleiben. Das ist absurd. Besonders die Intensivierung
        der Bauarbeiten während der 60-Tage-Frist zeigt, dass
        die Türkei die Sache nicht ernst nimmt. Ob es sich dabei
        um indirekte oder direkte Baumaßnahmen handelt, ist
        letztendlich irrelevant. Die Türkei schafft Tatsachen: Der
        Bau soll so schnell wie möglich vorangetrieben werden.
        Das ist ein Affront gegen die Bedenken Deutschlands,
        Österreichs und der Schweiz. Und doch scheint dies
        nicht auszureichen.
        Die Position der Bundesregierung wurde dem Aus-
        schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
        wicklung gestern vorgeführt: Der Damm wird so oder so
        gebaut, und wenn Deutschland mit im Boot sitzt, können
        die Dinge zum Positiven beeinflusst werden. Zwar seien
        die Verfehlungen der Türkei nicht akzeptabel, aber die
        Mängel behebbar. Das klingt danach, dass wirtschaftli-
        che Interessen einmal mehr Vorrang vor sozialer und
        ökologischer Nachhaltigkeit bekommen. Soziale und
        ökologische Nachhaltigkeit würde aus grüner Sicht be-
        deuten, den Damm erst gar nicht zu bauen und sinnvolle
        Alternativen für die Entwicklung der Region und die
        Energieversorgungsprobleme der Türkei zu schaffen.
        Die Türkei hat hohes Potenzial, Energie aus erneuerba-
        ren Quellen zu erzeugen. Doch eine Prüfung von Alter-
        nativen hat nicht stattgefunden.
        20942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die betroffenen Menschen vor Ort jedenfalls haben
        eine klare Haltung: Sie wollen ihre Heimat nicht verlie-
        ren und glauben nicht daran, dass der Staudamm ihnen
        irgendwelche Perspektiven bietet. Der Unterstützung
        von uns Grünen können sich die Menschen in Ilisu,
        Hasankeyf und den anderen fast 100 Ortschaften, die be-
        troffen sind, gewiss sein. Auch auf unserem letzten Par-
        teitag in Erfurt wurde ein entsprechender Antrag verab-
        schiedet. Der Widerstand der Zivilgesellschaft in der
        Türkei wächst. Prominente schalten sich ein, Sänger und
        Schauspieler informieren und mobilisieren gegen den
        Staudamm. Ich sage, wir müssen den Menschen vor Ort
        die Chance geben, ihre Heimat zu retten. Das wird nur
        möglich sein, wenn es keine Unterstützung deutscher,
        österreichischer oder schweizerischer Firmen gibt. Des-
        wegen muss die Hermesbürgschaft jetzt zurückgezogen
        werden. Erinnern wir uns: Schon einmal haben sich Eng-
        länder, Schweden und auch die Schweizer Bank UBS,
        die in einem früheren Stadium an der Verwirklichung
        des Staudamms beteiligt sein sollten, zurückgezogen,
        worauf das Projekt erst einmal auf Eis lag. Erst als die
        Züblin AG einstieg und Exportkreditgarantien in Aus-
        sicht gestellt wurden, kam wieder Leben in das Projekt.
        Dem Antrag der Linksfraktion werden wir zustim-
        men. Er fordert, die Hermesbürgschaft zurückziehen,
        und das ist auch unsere Position: Raus aus der Hermes-
        bürgschaft für den Ilisu-Staudamm.
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Errichtung einer Stiftung „Deutsches Histori-
        sches Museum“ (Tagesordnungspunkt 19)
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Der
        vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer
        Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ vervollstän-
        digt die Geschichtsaufarbeitung – im Geiste der Versöh-
        nung. Die vorgesehene unselbstständige Stiftung Flucht,
        Vertreibung, Versöhnung wird eingebettet in die Träger-
        schaft des Deutschen Historischen Museums. Ein lange
        tabuisiertes Kapitel unserer Geschichte wird jetzt öffent-
        lich aufgearbeitet: Ein Schweigen über das Schicksal der
        Vertriebenen wird es nicht mehr geben. Das Tor der Er-
        innerung wird offengehalten. Der Terror des National-
        sozialismus als Verursacher demaskiert. Ausgerichtet
        wird die Arbeit der Stiftung am Gedanken der Aufklä-
        rung und Versöhnung mit unseren europäischen Nach-
        barn.
        Wir begrüßen ausdrücklich die vorgesehene Zusam-
        menarbeit mit internationalen Museen und Forschungs-
        einrichtungen. Wir stehen zur Offenheit des wissen-
        schaftlichen Beirats für die Mitwirkung von Fachleuten
        aus dem Ausland, insbesondere Osteuropa.
        Vertreibung ist … ein Verbrechen. … Es war Un-
        recht, alle Deutsche kollektiv zu vertreiben. Das
        auszusprechen war zwischen den Jahren 1968 und
        1995 fast unmöglich.
        So hat es der Sozialdemokrat Peter Glotz in der Welt
        am Sonntag 2002 formuliert.
        Über 60 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Welt-
        kriegs vergangen, sechs Jahrzehnte seit dem Beginn von
        Flucht und Vertreibung als Folge des nationalsozialisti-
        schen Unrechtsregimes. Fast 14 Millionen Deutsche
        mussten dabei ihre vertraute Heimat verlassen; uner-
        messliche Strapazen auf der Flucht, Hunger, Vergewalti-
        gungen und Seuchen. Die Aussicht auf eine ungewisse
        Zukunft kennzeichnet das Leid, das ihnen widerfuhr. Für
        2 Millionen Menschen bedeuteten Flucht und Vertrei-
        bung den Tod. Doch es waren nicht nur Deutsche, die
        dieses harte Schicksal traf. In der ersten Hälfte des
        20. Jahrhunderts mussten in Europa zwischen 60 und
        80 Millionen Menschen ihre Heimat unter Zwang und
        politischem Druck verlassen. Mehr als 30 Völker oder
        Volksgruppen haben im vergangenen Jahrhundert ihre
        Heimat verloren. Keines der individuellen Schicksale,
        keines der Schicksale, das ganze Nationen betraf, lässt
        sich gegeneinander aufrechnen. Vielmehr stellen gewalt-
        same Flucht und Vertreibung elementare Menschen-
        rechtsverletzungen dar.
        Auch heute noch sind sie Folge politischer Willkür-
        handlungen weltweit. Wir Deutschen sind aufgefordert,
        gerade des Schicksals der Menschen zu gedenken, die
        im Zuge des Zweiten Weltkriegs zum Verlassen ihrer
        Heimat gezwungen wurden. Für die Verbrechen, Kriegs-
        leiden und Zerstörungen des Nationalsozialismus tragen
        wir eine historische Verantwortung. Dieses Gedenken ist
        Teil unserer deutschen Identität. Unsere Verantwortung
        heute gilt Versöhnung und Frieden.
        Die Regierungsparteien haben sich 2005 in der Koali-
        tionsvereinbarung ausdrücklich zur gesellschaftlichen
        sowie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration,
        Flucht und Vertreibung bekannt. Wir haben vereinbart,
        dass im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sicht-
        bares Zeichen gesetzt werden soll, in Verbindung mit
        dem europäischen Netzwerk „Erinnerung und Solidari-
        tät“. Es soll an das Unrecht von Vertreibung erinnert und
        Vertreibung für immer geächtet werden.
        Diese Thematik aufzuarbeiten, ist nicht nur im Inte-
        resse der Menschen unseres Landes. Es ist auch im Inte-
        resse aller Europäer, insbesondere unserer östlichen
        Nachbarstaaten wie Polen oder Tschechien, aber auch
        Russland.
        Es war daher richtig, dass der Staatsminister für Kul-
        tur und Medien, Bernd Neumann, mit Fachleuten im In-
        und Ausland, mit Kollegen aus der Politik – so auch dem
        polnischen Kulturminister – klärende Treffen darüber
        gehabt hat, wie die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
        söhnung“ umgesetzt werden kann. Die zahlreichen Ge-
        spräche, die unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel in
        dieser Thematik mit Regierungschefs unserer Nachbar-
        staaten geführt hat, haben wesentlich zum Abbau von
        Vorbehalten beigetragen. Eine Reihe von Kolleginnen
        und Kollegen aus allen Fraktionen haben sich gleichfalls
        aktiv an dieser Umsetzung beteiligt: Jochen-Konrad
        Fromme, Stephan Eisel, Markus Meckel, Hans-Joachim
        Otto und viele mehr.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20943
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        Das Vorhaben der Bundesregierung, die Ausstellung
        „Flucht, Vertreibung Integration“ zum Herzstück des
        neuen Dokumentationszentrum zu machen, ist konse-
        quent. Diese Ausstellung wurde von der Stiftung „Haus
        der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ unter
        Beteiligung eines Kreises von namhaften Fachleuten
        konzipiert. Sie steht unter der Schirmherrschaft des Bun-
        despräsidenten. Auf wissenschaftlicher Grundlage ver-
        anschaulicht sie umfassend die Problematik von Flucht
        und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten
        Weltkrieges, aber auch deren Integration in der Bundes-
        republik Deutschland und in der damaligen Sowjeti-
        schen Besatzungszone.
        Sachlich, gesellschaftspolitisch verantwortungsbe-
        wusst und auch fachlich richtig ist es, zu prüfen, welche
        Anregungen und Elemente aus der Ausstellung „Er-
        zwungene Wege“ übernommen werden können. Diese
        Initiative der BDV-Stiftung „Zentrum gegen Vertreibun-
        gen“ ist von Fachleuten des In- wie Auslandes als histo-
        risch korrekt und anerkennenswert bezeichnet worden.
        Die Kritik, die in diesem Zusammenhang und auch da-
        rüber hinaus meine Kollegin Erika Steinbach erfahren
        hat, war weder gerechtfertigt noch vertretbar. Und was in
        diesem Zusammenhang die Besetzung des Stiftungsrates
        angeht, gehe ich davon aus, dass der BDV im Sinne von
        Verständigung und Versöhnung einen entsprechenden
        Vorschlag unterbreiten wird.
        Der BDV ist ein anerkannter Verband. Mit Beginn der
        Bundesrepublik hat jede Regierung seit über 60 Jahren
        – ob schwarz, rot, gelb oder grün – durch ihre Mittelver-
        gabe an die Vertriebenen diese Akzeptanz dokumentiert.
        Dazu stehen wir auch weiter.
        Für notwendig erachtet es unsere Fraktion, bei der
        Konzipierung den europäischen Aspekt von Flucht und
        Vertreibung herauszustellen. Das entspricht unseren Vor-
        stellungen, einen Dokumentationsort entstehen zu las-
        sen, an dem auch die Schicksale aus den Ländern einbe-
        zogen werden, mit denen Deutschland im europäischen
        Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“ partnerschaftlich
        zusammenarbeitet. Es ist sachlich und politisch richtig,
        das europäische Netzwerk in die Konzeption der Stif-
        tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einzubeziehen.
        Eine solche Konsequenz ist für das Verständnis eines
        derartigen Erinnerungsortes unverzichtbar.
        Es ist richtig, dass unsere osteuropäischen Nachbar-
        länder wie Polen und Tschechien sowie die Slowakei
        sich an der Realisierung in den Fachgremien beteiligen.
        Und es würde dem Anliegen dienen, wenn es zu einer
        – im Grundsatz – offiziellen Geste der Anerkennung von
        ihrer Seite zu unserem Vorhaben käme. Wir wollen mit
        diesem Ort ein Zeichen zur Ächtung jeglicher Vertrei-
        bung und ethnischer Verfolgung in Europa und weltweit
        setzen. Darüber müsste doch Verständigung möglich
        sein. Unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog
        hat Erinnerungsbereitschaft und Mut von uns gefordert,
        da ohne gründliches Wissen um seine Geschichte ein
        Volk die Herausforderungen der Zukunft nicht bestehen
        könne. Die neue Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
        nung“ wird diesem Anspruch gerecht.
        Markus Meckel (SPD): Seit einigen Jahren sorgte
        die Frage, wie wir in Deutschland mit der Erinnerung an
        Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zwei-
        ten Weltkrieg umgehen wollen, für heftige Auseinander-
        setzungen in Gesellschaft und Politik. Die SPD hat das
        von der Union lange geforderte „Zentrum gegen Vertrei-
        bungen“ des Bundes der Vertriebenen in der Vergangen-
        heit immer mit aller Entschiedenheit abgelehnt. An die-
        ser Ablehnung hat sich nichts geändert. Es ist daher
        wirklich als großer Erfolg zu werten, dass SPD und
        Union nun schließlich eine Einigung darüber erzielt ha-
        ben, die es ermöglicht, gemeinsam an Flucht und Ver-
        treibung zu erinnern. Mit dem Beschluss zum Aufbau ei-
        ner unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung,
        Versöhnung“ unter dem Dache der zu errichtenden Stif-
        tung „Deutsches Historisches Museum“ bringen wir
        heute ein Jahre währendes, zähes Ringen zu einem guten
        Ende. Ein schwieriger, doch ausgesprochen wichtiger
        Auftrag aus der Koalitionsvereinbarung wird damit er-
        füllt.
        Die Frage nach dem Umgang mit der Erinnerung an
        Flucht, Vertreibungen und Umsiedlungen in Folge des
        von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges ist je-
        doch nicht allein eine deutsche Frage und wurde nicht
        nur innerhalb Deutschlands sehr kontrovers debattiert.
        Besonders die Beziehungen mit Polen waren durch das
        Thema zeitweise stark belastet, konstruktive Gespräche
        darüber mit unserem Nachbarland nicht zu jedem Zeit-
        punkt möglich. Auch andere Nachbarländer verfolgten
        die Diskussionen in Deutschland skeptisch.
        Der SPD war es von Anfang an besonders wichtig,
        die Perspektiven der europäischen Nachbarn einzubezie-
        hen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in die Dis-
        kussion einzubringen. Umso mehr hoffe ich nun, dass
        der gefundene Kompromiss unseren Nachbarn deutlich
        macht, dass wir in Deutschland die Geschichte nicht um-
        deuten wollen, dass wir auf die Frage nach Ursachen und
        Wirkung sehr differenziert eingehen werden und dass
        wir die europäische Gesamtperspektive auf unsere Ge-
        schichte nicht ausblenden. Im Stiftungszweck ist festge-
        schrieben, dass die unselbstständige Stiftung „im Geiste
        der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
        Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
        schen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der natio-
        nalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik
        und ihrer Folgen“ wachhalten soll.
        Die unselbstständige „Stiftung Flucht, Vertreibung,
        Versöhnung“ wird in öffentlicher Trägerschaft entstehen
        und durch die Anbindung an die Stiftung „Deutsches
        Historisches Museum“ in die bestehende Museumsland-
        schaft eingebettet werden. Diese Anbindung an bereits
        vorhandene und bewährte Strukturen erleichtert in fach-
        licher und organisatorischer Hinsicht den Prozess in ho-
        hem Maße. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal
        betonen, wie wichtig es ist, dass die Stiftung in öffentli-
        cher Hand entsteht und dass Parlament und Regierung
        gemeinsam die Grundlage zur Errichtung der Stiftung
        geschaffen haben. Dies unterstreicht zum einen die
        Wichtigkeit und Tragweite des Vorhabens. Darüber hi-
        naus wurde dadurch der Kompromiss zwischen ver-
        20944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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        schiedenen Parteien und die Akzeptanz unserer europäi-
        schen Nachbarn erst ermöglicht.
        Als nächster Schritt steht die Besetzung der Stiftungs-
        gremien an. Neben Bundestag und Bundesregierung
        werden der Bund der Vertriebenen, die beiden großen
        Kirchen in Deutschland sowie der Zentralrat der Juden
        Mitglieder des Stiftungsrates benennen. Die Gremienbe-
        setzung der unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertrei-
        bung, Versöhnung“ sollte unseren Willen zur breiten
        gesellschaftlichen Beteiligung widerspiegeln sowie zur
        weiteren Akzeptanz durch die europäischen Partner bei-
        tragen. Wie wir alle wissen, wird das noch einmal sehr
        wichtig sein. Dass der zu bildende wissenschaftliche Be-
        raterkreis der Stiftung neben deutschen auch internatio-
        nale Wissenschaftler, vor allem auch aus unseren östli-
        chen Nachbarstaaten, umfasst, halten wir von der SPD
        für unverzichtbar.
        Mit der Schaffung der gesetzlichen Grundlage und
        der Gremienbesetzung ist die Arbeit noch nicht getan.
        Der größte Auftrag bleibt die Erarbeitung des Konzepts
        einer Dauerausstellung zu Flucht und Vertreibung im
        20. Jahrhundert, ihren Hintergründen, Zusammenhängen
        und Folgen in europäischer Dimension. Der Haupt-
        akzent wird auf der Flucht und Vertreibung der Deut-
        schen liegen, doch auch andere – auch von deutscher
        Seite veranlasste – Flucht- und Vertreibungssituationen
        sollen thematisiert werden. Die SPD hat ein internatio-
        nales wissenschaftliches Symposium angeregt, das für
        die Erarbeitung der Ausstellung eine wichtige Rolle
        spielen wird und für das Frühjahr 2009 vorgesehen ist.
        Wenn diese Chance entsprechend genutzt wird, kann das
        Symposium viel zur Akzeptanz der unselbstständigen
        Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in unseren
        mittelosteuropäischen Nachbarländern und dabei insbe-
        sondere in Polen beitragen. Den Teilnehmern des Sym-
        posiums aus dem In- und Ausland soll die Möglichkeit
        gegeben werden, aus ihrer Perspektive Kriterien für die-
        ses Projekt zu benennen und Vorschläge zu unterbreiten.
        So werden sie wesentlich zur inhaltlichen Ausgestaltung
        der Ausstellung beitragen können.
        Die harten und langwierigen Auseinandersetzungen
        über den Umgang mit der Geschichte von Flucht und
        Vertreibung haben uns einmal mehr gezeigt, dass wir un-
        sere Geschichte nicht im Alleingang, sondern nur grenz-
        überschreitend wirklich verstehen und bearbeiten kön-
        nen. Ein wichtiger Meilenstein für dieses Verständnis
        war die gemeinsame Danziger Erklärung der damaligen
        Präsidenten Deutschlands und Polens, Johannes Rau und
        Aleksander Kwaśniewski, in der sie 2003 zum Dialog
        über die auch die Gegenwart noch belastende Geschichte
        der Vertreibungen und Zwangsmigrationen im 20. Jahr-
        hundert aufriefen und gleichzeitig allen Entschädigungs-
        forderungen eine klare Absage erteilten. Auf der Linie
        dieser Erklärung unterzeichneten dann im Februar 2005
        die Kulturminister Polens, Deutschlands, Ungarns und
        der Slowakei eine Absichtserklärung zur Gründung des
        Europäischen Netzwerkes „Erinnerung und Solidarität“.
        Die Tschechische Republik erklärte sich ebenso wie
        Österreich bereit, auf Projektebene zu kooperieren.
        Ziel des Europäischen Netzwerkes soll es sein, die
        schwierige Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem
        grenzüberschreitenden Dialog so aufzuarbeiten, dass da-
        raus Versöhnung erwachsen kann und nicht Spannungen
        verstärkt oder neu geschaffen werden. War das Netzwerk
        zunächst vor allem auf die Geschichte von Vertreibung fo-
        kussiert, hat sich der Ansatz inzwischen verändert.
        Heute liegt der Schwerpunkt auf der Beschäftigung mit
        den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in
        Europa und ihre Überwindung. Ich hoffe sehr, dass die
        Arbeit des Europäischen Netzwerkes „Erinnerung und
        Solidarität“ durch die Besetzung der nötigen Gremien
        und die Arbeitsaufnahme des Sekretariats in Warschau
        im kommenden Jahr an Dynamik gewinnt und dass das
        Netzwerk – inzwischen eine Stiftung polnischen
        Rechts – demnächst seine Arbeit beginnen kann. 2009
        als Jubiläumsjahr der Umbrüche von 1989 wäre dafür
        ein guter Zeitpunkt.
        Wenn wir in Deutschland an 1989 erinnern, können
        wir dies nicht in angemessener Weise, ohne die Ge-
        schichte Polens, Tschechiens, Ungarns oder anderer
        europäischer Länder mitzudenken. Das Europäische
        Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“ bietet uns eine
        gute Möglichkeit, den engen Rahmen national fokussier-
        ter Geschichtsbetrachtung zu verlassen. Wenn wir eine
        gemeinsame europäische Zukunft wollen, müssen wir
        auch bereit sein, unsere Vergangenheit aus der Sicht an-
        derer Europäer zu betrachten und ihre Perspektiven ein-
        zubinden.
        Ich bin überzeugt, dass dies auch mit der heute zu be-
        schließenden Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
        nung“ für das schwierige Thema Flucht und Vertreibung
        gelingen kann. Doch daran werden alle in diesem Hause
        mitwirken müssen.
        Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Wir been-
        den heute – nach zehnjähriger Debatte – eine anhaltende
        Diskussion um eine angemessene Erinnerungskultur für
        Flucht und Vertreibung. Vor fast zehn Jahren haben der
        Bund der Vertriebenen und die Stiftung „Zentrum gegen
        Vertreibungen“ den Stein ins Rollen gebracht und die
        Politik zum Handeln getrieben. Die beiden Ausstellun-
        gen „Erzwungene Wege“ des Bundes der Vertriebenen
        und „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Hauses der
        Geschichte haben die Debatte über Erinnerung und Ver-
        treibung entscheidend geprägt. Sie bilden eine Art
        Schnittstelle zwischen dem breiten öffentlichen Interesse
        an dem Thema „Flucht und Vertreibung“ und der politi-
        schen und wissenschaftlichen Diskussion um die Frage
        eines angemessenen Gedenkens und Erinnerns. Flucht
        und Vertreibung muss als Teil der deutschen Geschichte
        anerkannt und aufgegriffen werden.
        Hinter uns liegt eine kontroverse Debatte, die schluss-
        endlich – und das möchte ich als Oppositionspolitiker
        hervorheben – zu einem tragfähigen Ergebnis geführt
        hat. Dem Staatsminister ist für sein Verhandlungsge-
        schick mit unseren polnischen Nachbarn – und hier ins-
        besondere mit dem Staatssekretär in der Kanzlei des Mi-
        nisterpräsidenten, Professor Wladyslaw Bartoszewski –
        und für die gute Bilanz zu gratulieren: Endlich wird das
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20945
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        im Koalitionsvertrag festgeschriebene Sichtbare Zei-
        chen, um an das Unrecht von Flucht und Vertreibung zu
        erinnern, Wirklichkeit. Endlich wird der Weg frei ge-
        macht, um eine Ausstellungs- und Dokumentationsstätte
        in Berlin – im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof –
        zu errichten. Bedauerlich ist, dass wir diese Debatte im
        Bundestag nur in Form zu Protokoll gegebenen Reden
        und nicht in einer Plenardebatte für die Öffentlichkeit
        sicht- und hörbar führen können.
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden zwei
        Probleme gelöst: Zum einen wird die lediglich als
        Interimslösung genutzte Rechtsform des Deutschen His-
        torischen Museums als GmbH in eine selbstständige
        bundesunmittelbare Stiftung des öffentlichen Rechts
        umgewandelt. Damit wird die internationale Museums-
        arbeit erleichtert, und private Zustiftungen können im
        Hinblick auf die steuerliche Absetzbarkeit privilegiert
        behandelt werden. Zum anderen wird die Stiftung
        „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in der Rechtsform ei-
        ner unselbstständigen Stiftung öffentlichen Rechts in
        Trägerschaft des Deutschen Historischen Museums er-
        richtet.
        Die FDP-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu und
        tritt diesem bei. Ich möchte mich hier auf den zweiten
        Teil des Gesetzentwurfes konzentrieren, in dem die un-
        selbstständige Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
        nung“ geregelt wird. Der FDP-Fraktion waren und sind
        deren zukunftsgewandte Ausrichtung und deren wissen-
        schaftliche Unabhängigkeit immer besonders wichtig.
        Neben der Erinnerung an die Geschichte der Vertreibun-
        gen in Europa muss ein solches Sichtbares Zeichen so-
        wohl den wissenschaftlichen Anspruch der Erforschung
        der Vertreibungen als auch den politischen Anspruch ha-
        ben, Vertreibungen in Zukunft weltweit zu verhindern.
        Daher muss es auch die Aufgabe haben, den Austausch
        der jungen Generation über die Grenzen hinweg zu för-
        dern. Wenn wir die Jugend nicht an dieses Erbe heran-
        führen, geht die lebendige Erinnerung verloren. Erinne-
        rung ist wachzuhalten – dies insbesondere deshalb, da
        die Zeitzeugen, die davon berichten können, jeden Tag
        weniger werden. Eine europäische Ausrichtung und in-
        ternationale Kooperationen sind nach unserer Auffas-
        sung unerlässlich. Der Gesetzentwurf sowie das Konzept
        der Bundesregierung sehen dies vor. Was jedoch noch
        fehlt, ist ein prägnanter Name für die Ausstellungs- und
        Dokumentationsstätte. Hier müssen wir uns alle noch
        einmal Gedanken machen.
        Lassen Sie mich noch auf einige im Vorfeld geäußerte
        Bedenken eingehen: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
        nen, aber auch die Fraktion Die Linke stellen infrage, ob
        die Mitarbeit des Bundes der Vertriebenen in den Stif-
        tungsgremien förderlich sei. Es ist in der Gedenkstätten-
        und Erinnerungsarbeit der Bundesrepublik bewährte
        Praxis, dass die Verbände der jeweils betroffenen Opfer-
        gruppen in die Gestaltung des Gedenkens und in die
        konkrete Erinnerungsarbeit eingebunden werden. Denn
        damit werden die Kompetenz und besondere Erfahrung
        der Opferverbände und die von deren zahlreichen Mit-
        gliedern für die Erinnerungsarbeit nutzbar gemacht. So-
        mit ist es eine Selbstverständlichkeit, dass auch das
        Sichtbare Zeichen unter maßgeblicher Beteiligung des
        Bundes der Vertriebenen errichtet und betrieben wird. Es
        besteht kein überzeugender Grund, diese Regel im Fall
        der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zu
        durchbrechen.
        Die Fraktion Die Linke kritisiert auch, dass Berlin als
        Ort gewählt wurde. Meines Erachtens gibt es keinen bes-
        seren Ort. Wenn die Kritiker beispielsweise Görlitz/
        Zgorzelec anführen, so kann ich nur sagen: Auch dort
        möge ein Gedenkort entstehen. Dies kann aber keines-
        falls den zentralen Ort in der Hauptstadt ersetzen, um
        Sichtbarkeit und Wirkung zu erzielen. Aus gutem Grund
        wird daher auch aller anderen Opfer des Dritten Reiches
        und des von ihm entfesselten Krieges in der Hauptstadt
        gedacht.
        Der Vorwurf Einzelner, die Geschichte werde „umge-
        schrieben“, Täter würden zu Opfern umfunktioniert, ist
        unberechtigt. Die Stiftung wird eng mit ausländischen
        Wissenschaftlern – insbesondere aus den östlichen
        Nachbarstaaten – zusammenarbeiten, auch um von vorn-
        herein das Ziel der Versöhnung und der gemeinsamen
        Aufarbeitung einer furchtbaren Vergangenheit hervorzu-
        heben. Wir halten es für äußerst wichtig, dass die neue
        polnische Regierung unter Ministerpräsident Tusk dem
        Projekt nicht mehr so ablehnend gegenübersteht. Diese
        Öffnung unserer polnischen Nachbarn dürfen wir nicht
        enttäuschen.
        Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zwei-
        ten Weltkrieges ist es höchste Zeit, an die durch Krieg
        ausgelösten Schicksale von Flucht und Vertreibung zu
        erinnern. Fast 14 Millionen Deutsche, aber auch viele
        Millionen andere Europäer waren davon betroffen. Auch
        heute noch befinden sich weltweit Millionen auf der
        Flucht oder werden vertrieben. Ursachen und Folgen
        von Flucht und Vertreibung sind aufzuarbeiten. Im Sinne
        Hans Lembergs muss die „Fackel der Erinnerung“ wei-
        tergegeben werden.
        Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Eine Rede
        ist eine Rede ist eine Rede. Und eine Abstimmung in
        zweiter und dritter Lesung macht aus einem Gesetzent-
        wurf ein Gesetz. Aber eine für 2.30 Uhr morgens zu Pro-
        tokoll gegebene Rede ist nichts weiter als ein später
        nachzulesender Text. Und ein Gesetzentwurf, der ohne
        irgendeine Debatte im Plenum nachmitternächtlich im
        Schnellverfahren zum Gesetz wird, muss für die einbrin-
        gende Regierungsmehrheit entweder ganz und gar un-
        wichtig oder absolut verheimlichenswert sein.
        Das als sichtbares Zeichen von der Koalition 2005 ge-
        plante Dokumentations- und Ausstellungszentrum zu
        „Flucht und Vertreibung“ ist heute Nacht ganz und gar
        unsichtbar geworden, aber nunmehr gesetzlich beschlos-
        sen. Unter dem schön neutralen Titel „Errichtung einer
        Stiftung Deutsches Historisches Museum“, gegen die
        politisch nichts einzuwenden ist, wird nun eine auf die
        Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung
        gerichtete Ausstellungs- und Dokumentationsstelle in
        Berlin errichtet und vom Bund finanziert.
        Ein Vorhaben, höchst kontrovers gesehen – im Inland
        wie im Ausland. Ein Vorhaben höchst missverständlich
        20946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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        betitelt: „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.“ Die
        Fraktion Die Linke hat wiederholt gefragt: Wer soll sich
        da mit wem versöhnen? Und bisher keine Antwort auf
        die Frage erhalten. Und wir haben auch immer wieder
        die Frage gestellt: Wie kann eine solche Institution der
        Erinnerung ausgerechnet in Berlin, dem Ort, von dem all
        die mörderischen Verbrechen ausgingen, die dann zum
        Elend von Flucht und Vertreibung geführt haben, der
        Versöhnung dienen?
        Welch eine Chance wurde da vertan? Polens Minister-
        präsident Tusk hat Deutschland eingeladen, sich am gro-
        ßen polnischen Anti-Kriegs-Museum in Danzig zu betei-
        ligen. Kein Interesse. Die Städte Görlitz und Zgorzelec
        haben sich für eine Doppelausstellung beworben. Kein
        Interesse. Es gab Vorschläge, Ausstellungen und Doku-
        mentationen im Dreiländereck Deutschland – Polen –
        Tschechische Republik zu schaffen. Kein Interesse.
        Nein, es muss in Berlin sein, und es muss jetzt ganz
        schnell und klammheimlich etabliert werden, ohne par-
        lamentarische Aussprache – ohne gesellschaftliche Dis-
        kussion. Auch ohne internationalen, wissenschaftlichen
        Diskurs. Eine für Dezember geplante Konferenz mit pol-
        nischen und tschechischen Historikern findet nicht statt,
        weil polnische und tschechische Historiker abgesagt ha-
        ben. Ist egal. Hauptsache, die Stiftung wird heute Nacht
        gesetzlich.
        Am 13. November 2008 hat Władysław Bartoszewski
        der Zeitung Rzeczpospolita gesagt: „Wir wurden um un-
        sere Meinung gebeten. Wir haben geantwortet, dass wir
        weder im Namen des polnischen Staates, noch im Na-
        men der Regierung irgendeine institutionelle Handlung
        in dieser Sache unternehmen werden. Wir haben in letz-
        ter Zeit mit der tschechischen Regierung eine gemein-
        same Haltung gegenüber dem deutschen Vorhaben ver-
        einbart, die – auf eine einfache Formel gebracht –
        besagt: Macht wie Ihr denkt, aber passt auf, was Ihr
        macht!“
        Diesen Worten ist wenig hinzuzufügen. Außer: Wer
        passt auf, was da entsteht und was da gemacht wird? Das
        Parlament hat wenig Möglichkeiten, wie uns dieser Ge-
        setzesvorgang zeigt. Und nicht nur er. Im 13-Personen
        Aufsichtsrat-Gremium der Stiftung haben zwei Bundes-
        tagsabgeordnete Sitz und Stimme, aber drei Vertreter des
        Bundes der Vertriebenen – sie stellen die größte Gruppe.
        Die Fraktion Die Linke lehnt den Gesetzentwurf we-
        gen der Konzeption der Stiftung, ihres Standortes und
        der Zusammensetzung des Kontrollgremiums ab. Auch
        wenn das die Regierungsparteien überhaupt nicht inte-
        ressiert: Eine offene Debatte im Bundestag hätten sie
        wenigstens zulassen sollen. Auch um der Versöhnung
        mit unseren Nachbarn willen.
        Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wenn wir hier und jetzt über den Tagesordnungs-
        punkt Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ disku-
        tieren, klingt das nach einer reichlich technokratischen
        Angelegenheit. In Wirklichkeit versteckt sich dahinter
        aber ein Thema, das immer wieder Anlass zu grundsätz-
        lichen, ja manchmal sogar dogmatisch geführten Debat-
        ten gegeben hat, die Frage nämlich, wie und in welcher
        Form wir an die Vertreibungen von Deutschen nach dem
        Zweiten Weltkrieg erinnern wollen.
        In ihrem Koalitionsvertrag hatte die Große Koalition
        ja angekündigt, hier ein „sichtbares Zeichen“ setzen zu
        wollen. Drei Jahre lang hat man sich gefragt, ob dieses
        seltsame Ding tatsächlich irgendwann sichtbar sein
        würde. Bislang war es eher ein seltsam konturloses Ge-
        bilde. Und ehrlich gesagt, inhaltlich ändert sich daran
        durch den nun vorliegenden Gesetzentwurf so viel nicht.
        Denn mit der Einrichtung der beim Deutschen Histori-
        schen Museum angesiedelten „Stiftung Flucht, Vertrei-
        bung, Versöhnung“ wird lediglich die organisatorische
        Hülle geschaffen. Die inhaltliche Debatte, was dort in
        Ausstellungen, Veranstaltungen und sonstigen Program-
        men genau geschehen soll, muss nun erst richtig losge-
        hen. Wir wünschen uns, dass die Regierung von nun an
        offensiver und vor allem öffentlicher mit diesem Thema
        umgeht. Denn es hat schon etwas Verdruckstes, wenn
        dieses Vorhaben nun hinter einer stiftungsrechtlichen
        Neuorganisation des Deutschen Historischen Museums
        versteckt wird. Da wir nicht genau wissen, was uns in-
        haltlich erwartet, werden wir uns bei der Abstimmung
        über diesen Gesetzentwurf denn auch enthalten.
        Lassen Sie mich dennoch etwas Grundsätzliches aus
        unserer Perspektive zum Thema Vertreibungen sagen.
        Grundsätzlich sind wir Grüne dafür, der deutschen Opfer
        der Vertreibungen zu gedenken. Lange Zeit herrschte ge-
        rade in der westdeutschen politischen Linken die Auffas-
        sung vor, die deutschen Opfer der Vertreibungen seien
        die „gerechte Strafe“ für die Verbrechen der Nazis. „Ge-
        recht“ konnte man dies aber nur finden, wenn man
        Anhänger der Kollektivschuldthese war. Denn nach indi-
        vidueller Schuld und Verantwortung wurde von den Ver-
        treibern ja nicht gefragt. Unter den Vertriebenen waren
        – wenn auch nicht unbedingt mehrheitlich – auch Kom-
        munisten und andere Gegner des Naziregimes. Die Ver-
        treibungen hatten gerade für die politische Linke eine
        Placebofunktion, was Schuld und Sühne angeht. Da man
        die Abertausend Deutsche, die aktiv an den Massenmor-
        den des Holocaust beteiligt waren, nicht alle verurteilen
        konnte, hatten aus dieser Perspektive die Vertriebenen
        sozusagen als Stellvertreter die Last der Schuld zu über-
        nehmen.
        Ich möchte nicht darauf eingehen, warum das Thema
        Vertreibungen nach dem Krieg von der politischen Rech-
        ten ideologisch besetzt und ausgeschlachtet werden
        konnte. Bis heute ist es so, dass das Thema Vertreibun-
        gen für revisionistische Klitterungen der deutschen
        Geschichte missbraucht wird. Wir werden deshalb auf-
        merksam darauf achten, dass das geplante Dokumenta-
        tionszentrum den historischen Kontext ausreichend be-
        rücksichtigt. Die Erinnerung an die Vertreibungen von
        Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und das Geden-
        ken an deren Opfer darf nicht dazu führen, dass die deut-
        schen Verbrechen in den Hintergrund geraten. Die Ver-
        treibungen von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
        haben viel Leid verursacht, und sie waren Unrecht. Doch
        muss jede Erinnerung an deutsche Opfer den histori-
        schen Zusammenhang deutlich machen. Deshalb werden
        wir genau hinschauen, welchen Einfluss der Bund der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20947
        (A) (C)
        (B) (D)
        Vertriebenen auf die inhaltliche Ausrichtung nehmen
        wird und welche Versatzstücke des „Zentrums gegen
        Vertreibung“ womöglich in die Konzeption einfließen.
        Das Projekt sollte keine nationale Angelegenheit sein
        und auf keinen Fall Argwohn im Ausland wecken. Wir
        wünschen uns deshalb eine enge Abstimmung mit unse-
        ren europäischen Nachbarn. Wir setzen uns deshalb nach
        wie vor für ein europäisches Forschungsnetzwerk ein.
        Die Leiden der Vergangenheit dürfen nicht für nationale
        Interessen instrumentalisiert werden.
        Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Anmerkung
        machen. Wir sprechen oft von der Integration der Mus-
        lime in Deutschland. Wäre es deshalb nicht wünschens-
        wert, wenn ein Vertreter der Muslime in Deutschland im
        Stiftungsrat oder zumindest im wissenschaftlichen Bei-
        rat der Stiftung vertreten wäre? Das wäre ein wichtiges
        „sichtbares Zeichen“ für die Integration heute.
        Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes-
        kanzlerin: Heute bringen wir eine geschichtspolitische
        Initiative von besonderer Bedeutung auf den Weg: die
        Gründung der Stiftung Deutsches Historisches Museum
        und damit verbunden die Gründung der unselbstständi-
        gen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Aus-
        gangspunkt ist der Koalitionsvertrag von 2005, in dem
        den Regierungsparteien der Auftrag erteilt wird, in Ber-
        lin ein „sichtbares Zeichen“ zu setzen, um an das Un-
        recht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibungen
        für immer zu ächten. Flucht und Vertreibung wirken
        auch über sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Welt-
        krieges in Politik und Gesellschaft, ja im Alltag und
        auch in den Medien nach. Wir müssen uns mit diesem
        Thema verantwortungsbewusst auseinandersetzen, ist es
        doch Bestandteil der deutschen Geschichte, aber auch
        der Biografien vieler unserer Bürgerinnen und Bürger.
        Es gehört zur Aufbaugeschichte der Bundesrepublik
        Deutschland und gleichzeitig zur europäischen Ge-
        schichte als Folge eines von den Nationalsozialisten ent-
        fesselten verbrecherischen Krieges mit bis heute zum
        Teil schmerzlichen Implikationen für die Beziehungen
        Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn.
        Die Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der
        Deutschen muss daher im Kontext der Geschichte des
        20. Jahrhunderts insgesamt und insbesondere im Zusam-
        menhang mit dem Zweiten Weltkrieg erfolgen.
        Bei der Umsetzung des Auftrags aus dem Koalitions-
        vertrag habe ich von Anfang an gleichermaßen Wert auf
        die Einbindung der Betroffenen als auch auf die wissen-
        schaftliche Expertise gelegt. Deshalb waren an dem Be-
        raterkreis, der uns bei der Erstellung der Konzeption
        unterstützt hat, einerseits parteiübergreifend Persönlich-
        keiten beteiligt, die über langjährige politische Erfah-
        rung verfügen und den legitimen Anliegen der Vertriebe-
        nen verbunden sind. Andererseits waren insbesondere
        auch Wissenschaftler aus dem In- und Ausland in diesen
        Kreis eingebunden. Es ist als großer Erfolg zu bezeich-
        nen, dass im Ergebnis ein Konsens zwischen den Regie-
        rungsparteien hergestellt werden konnte. Zudem habe
        ich die Konzeption des sichtbaren Zeichens im Februar
        dieses Jahres in Warschau in einer Atmosphäre des
        wechselseitigen Vertrauens und des gegenseitigen Re-
        spekts auch der polnischen Seite erläutert. Die polnische
        Regierung hält eine beratende wissenschaftliche Beglei-
        tung polnischer Historiker für denkbar. Damit ist ein
        wichtiger Schritt für die Einbindung in europäische Be-
        züge geleistet, auf die ich großen Wert lege.
        Ziel ist es, die Erinnerung und das Gedenken an das
        „Jahrhundert der Vertreibungen“ und das damit verbun-
        dene, uns alle berührende menschliche Leid wachzuhal-
        ten. Dabei soll die gesellschaftliche wie historische Auf-
        arbeitung im Geist der Versöhnung geschehen. Es soll
        eine Ausstellungs- und Dokumentationsstätte eingerich-
        tet werden, mit der nicht nur die Erlebnisgeneration an-
        gesprochen wird. Auch den jüngeren Menschen im In-
        und Ausland soll dieser Teil unserer Geschichte näher
        gebracht werden. Im Vordergrund der Ausstellung ste-
        hen Flucht und Vertreibung der Deutschen insbesondere
        aus den ehemaligen Ostgebieten während und nach dem
        Zweiten Weltkrieg. Aber nicht nur Deutsche waren vom
        Schicksal der Vertreibung betroffen, deshalb wird sich
        die Ausstellung nicht nur auf sie konzentrieren. Von
        Flucht, Vertreibung und von den sogenannten Zwangs-
        migrationen waren im 20. Jahrhundert viele Millionen
        Menschen in ganz Ostmitteleuropa und in der damaligen
        Sowjetunion betroffen. Aus diesem Grund gehören die
        gesamteuropäischen Aspekte dieses Themas als genuine
        Bestandteile selbstverständlich zu dessen Aufarbeitung.
        Auch die Eingliederung der Vertriebenen und Flücht-
        linge in West und Ost und ihre Aufbauleistungen sollen
        einbezogen werden.
        Für all diese konzeptionellen Elemente galt es, einen
        passenden rechtlichen und organisatorischen Rahmen zu
        finden. Mit der Schaffung einer unselbstständigen Stif-
        tung in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
        Museum ist dies, wie ich meine, in optimaler Weise ge-
        lungen. Die gewählte Rechtsform ermöglicht nicht nur
        die bedeutungsgebende Namensgebung Stiftung „Flucht,
        Vertreibung, Versöhnung“, sondern steht auch für Konti-
        nuität und Gewicht dieser Einrichtung. Dass es sich bei
        dem Träger – dem Deutschen Historischen Museum –
        um eine Einrichtung handelt, die sich sowohl durch
        fachwissenschaftliche als auch gesellschaftliche Akzep-
        tanz auszeichnet, steht außer Frage. Ein ganz besonders
        geeigneter Träger ist das DHM aber insbesondere auch
        deshalb, weil die adäquate Einbettung der Thematik der
        Vertreibungen in den allgemeinen historischen Zusam-
        menhang dadurch nochmals verdeutlicht wird.
        Die unselbstständige Stiftung „Flucht, Vertreibung,
        Versöhnung“ wird einen eigenen Direktor bzw. eine ei-
        gene Direktorin und eigene Gremien haben. Eine wich-
        tige Rolle wird dem Stiftungsrat zukommen. In ihm wer-
        den neben der Bundesregierung und dem Deutschen
        Bundestag Vertreter des Bundes der Vertriebenen, die bei-
        den großen Kirchen und der Zentralrat der Juden mitwir-
        ken. Die auch bisher schon herausgehobene Bedeutung
        wissenschaftlicher Beratung setzt sich nach Errichtung
        der unselbstständigen Stiftung in institutionalisierter
        Form fort, indem die Einrichtung einen eigenen wissen-
        schaftlichen Beraterkreis haben wird. Mir ist es ganz
        wichtig hervorzuheben, dass dieses Gremium für die
        20948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mitwirkung von Fachleuten aus dem Ausland, insbeson-
        dere aus dem östlichen Europa, offen sein soll.
        Mit der Errichtung der unselbstständigen Stiftung
        „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ haben wir die Wei-
        chen gestellt, um diese wichtige Thematik angemessen
        aufzuarbeiten. Lassen Sie mich noch etwas zur neuen
        Stiftung Deutsches Historisches Museum sagen. Die Ge-
        schichte dieses Hauses begann am 7. Oktober 1985 mit
        der Beauftragung einer Sachverständigenkommission.
        Ziel war die Schaffung eines Ortes „der Erkenntnis
        durch historische Erinnerung“, der „einen Überblick
        über die deutsche Geschichte in ihrem europäischen Zu-
        sammenhang geben“ sollte. Zum Aufbau wurde eine
        GmbH mit den Gesellschaftern Bund und Berlin gegrün-
        det. Diese sollte als vorläufige Trägerorganisation bis
        zur Eröffnung des Museums fungieren. Inzwischen hat
        sich das Deutsche Historische Museum als das Museum
        für deutsche Geschichte von der Antike bis zur Gegen-
        wart fest etabliert und zählt jährlich über eine halbe
        Million Besucher aus dem In- und Ausland. Frau Bun-
        deskanzlerin Merkel hat vor zwei Jahren die Daueraus-
        stellung im sanierten Zeughaus eröffnet.
        Der vorliegende Gesetzentwurf schließt die Ge-
        schichte des Aufbaus nun ab. Die bisherige Rechtsform
        einer GmbH war während der Aufbauphase des DHM
        sinnvoll und ausreichend. Der Bund und das Land Berlin
        waren sich allerdings schon bei Gründung der GmbH
        vor über zehn Jahren einig, dass sie nur vorläufigen Cha-
        rakter haben konnte. Sie ist in der deutschen Museums-
        landschaft eine seltene Ausnahme. Mit der Umwandlung
        des Deutschen Historischen Museums in eine Stiftung
        des öffentlichen Rechts kann nun eine endgültige
        Rechtsform festgelegt werden. Hierfür sprechen gewich-
        tige Gründe. Die Rechtsform einer Stiftung des öffentli-
        chen Rechts hat sich bei den anderen Geschichtsmuseen
        des Bundes, Stiftung Haus der Geschichte der Bundes-
        republik Deutschland und Stiftung Jüdisches Museum
        Berlin, sehr bewährt. Das DHM wird diesen Häusern
        nun auch organisatorisch gleichgestellt. Museumsstif-
        tungen genießen auch im Ausland hohes Ansehen und
        Vertrauen. Die Zusammenarbeit des DHM mit Einrich-
        tungen im Ausland wird daher erleichtert.
        Auch steuerbegünstigte Zustiftungen zur Erweiterung
        des Sammlungsbestands sind nun leichter möglich. Dies
        ist besonders für das DHM von Bedeutung, das in den
        vergangenen Jahren wertvolle Objekte aus Schenkungen
        und Nachlässen erhalten hat. Klar ist: Die hohen Anfor-
        derungen an Haushaltskontrolle und -transparenz, die für
        die bisherige GmbH gelten, werden künftig an die Stif-
        tung gerichtet. Im Gesetzentwurf sind diese Anforderun-
        gen vollumfänglich verankert.
        Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass das Gesetz
        eine hervorragende Grundlage dafür ist, dass das DHM
        seine erfolgreiche Arbeit in den kommenden Jahren fort-
        setzen und vertiefen kann. Dass wir hier zu einer so
        überzeugenden Konstruktion gelangen konnten und die
        Verabschiedung des Gesetzentwurfs noch in diesem Jahr
        möglich wird, war nur durch das äußert konstruktive und
        in der Sache engagierte Zusammenwirken aller Beteilig-
        ten in der Bundesregierung, dem Bundesrat und dem
        Deutschen Bundestag zu erreichen. Dafür wie auch für
        die kompetente Beratung vonseiten der Wissenschaft
        und der Mitwirkenden, der Betroffenen aus Fachkreisen
        und der Zivilgesellschaft danke ich herzlich.
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung
        der Agrarstruktur und des Küstenschutzes zur
        Gemeinschaftsaufgabe Entwicklung der ländli-
        chen Räume ausbauen (Tagesordnungspunkt 20)
        Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Land- und Forst-
        wirtschaft im ländlichen Raum bietet Lösungsansätze für
        bedeutende Zukunftsfragen unserer gesamten Gesell-
        schaft. Deshalb brauchen wir auch nach 2013 eine starke
        europäische Agrarpolitik in der ersten und der zweiten
        Säule. Wir wollen auch übermorgen noch eine Landwirt-
        schaft haben, die nachhaltig wirtschaftet und die Ver-
        braucher mit sicheren und hochwertigen Lebensmitteln
        aus heimischer Erzeugung versorgt.
        Dagegen unterstellen die Grünen in ihrem Antrag,
        dass die Akzeptanz für Agrarsubventionen „ohne er-
        kennbare Gegenleistung für die Gesellschaft“ nicht mehr
        gegeben ist. Das ist unanständig. Wir haben und halten
        die höchsten Standards in Europa, und trotzdem behan-
        deln sie unsere Bauern im Land mit Geringschätzung.
        Darüber hinaus hätten die Bauern das Vertrauen in die
        EU-Agrarpolitik der zweiten Säule verloren. Dies sei
        Folge des von Bundeskanzlerin Merkel verhandelten
        EU-Finanzrahmens für die Jahre 2007 bis 2013. Das ge-
        naue Gegenteil ist der Fall.
        Die aktuelle Situation bei der Nahrungsmittelversor-
        gung weltweit zeigt, wie fundamental wichtig es für je-
        des Land ist, landwirtschaftliche Familienbetriebe für
        die Eigenversorgung bestmöglich zu stärken. Dies gilt
        auch für die EU und Deutschland. Dass sich Menschen
        dessen wieder bewusster werden, das geht schon aus
        dem im März 2008 veröffentlichten Eurobarometer der
        EU-Kommission hervor. Rund 60 Prozent der Befragten
        sprachen sich dafür aus, dass die Mittelausstattung für
        die weitere Gemeinsame Agrarpolitik unverändert fort-
        geführt oder vergrößert werden sollte.
        Die Aufsetzung der Beschlussempfehlung auf die
        heutige Tagesordnung steht wohl im Zusammenhang mit
        dem vor zwei Wochen gefundenen Kompromiss zur
        Überprüfung der EU-Agrarpolitik. Worum geht es ei-
        gentlich? Beim Beschluss der EU-Agrarreform 2003
        wurde auch entschieden, 2008 eine Halbzeitbewertung
        durchzuführen. Diese bekam den Namen Health Check,
        also Gesundheitsüberprüfung. Dabei sollte untersucht
        werden, ob Anpassungen oder Vereinfachungen nötig
        und umzusetzen sind. Es war kein Ansatz für eine neue
        Agrarreform. Dies haben wir immer betont und einge-
        fordert.
        Ich erinnere: Die Startposition Deutschlands für die
        entscheidenden Verhandlungen war nicht einfach.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20949
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutschland sah sich bei wichtigen Anliegen den gänz-
        lich anderen Positionen vieler Mitgliedstaaten gegen-
        über. Mit unserem „exotischen“ Kombi-Flex-Gleitmo-
        dell macht eben zum Beispiel ein Art. 68 keinen Sinn.
        Von zwei Ergebnissen des Health Check bin ich im-
        mer noch besonders enttäuscht. Zum ersten hat die
        Mehrheit der EU-Landwirtschaftsminister die Erhöhung
        der Modulation trotz hartem deutschen Widerstands
        durchsetzen können. Das schmerzt nicht nur, sondern es
        ist auch unverständlich. In einer Zeit, in der Banken und
        Wirtschaft mit hohen Geldsummen unterstützt werden,
        in einer Zeit, wo man eifrig Schutzschirme spannt, lässt
        Brüssel die Bauern nicht nur im Regen stehen, sondern
        greift ihnen in ihrer Misere auch noch in die Tasche.
        Dieses Spiel ist auch bei den Grünen beliebt.
        Fragen lassen müssen sich außerdem die Landwirt-
        schaftsminister der anderen EU-Staaten, wie man bei
        Milchabsatzproblemen – und die haben wir seit Monaten
        und weltweit – auf die Idee kommen kann, die Milch-
        quote zu erhöhen? Der Beschluss ist Gift für faire Preise.
        Trotzdem sind die erreichten Verbesserungen alles an-
        dere als selbstverständlich. Denn unsere Ministerin
        konnte in der heiß diskutierten Milchfrage Forderungen
        von 14 EU-Staaten nach Erhöhung der Quote um mehr
        als 5 Prozent abwehren. Dafür gibt es einen Milchfonds,
        der zumindest zum Teil aus „frischem Geld“ finanziert
        wird. Außerdem wird es in den Jahren 2010 und 2012
        auf deutsches Drängen Berichte zur Lage des Milch-
        marktes in Europa mit der Chance zu Anpassungen ge-
        ben.
        Betrachtet man das Gesamtergebnis, gibt es ange-
        sichts der unterschiedlichen Positionen im EU-Agrarrat
        neben Schatten auch Licht. Bei Trockenfutter und Stär-
        kekartoffeln konnte die volle Entkopplung um zwei
        Jahre verschoben werden. Positiv ist auch, dass die kom-
        plizierte Regelung zur Stilllegungsverpflichtung nun
        endlich abgeschafft wird. Bündnis 90/Die Grünen woll-
        ten das nicht. Bei Cross Compliance konnten Begehr-
        lichkeiten von Umweltverbänden und Bündnis 90/Die
        Grünen, die Kontrollen deutlich auszudehnen und bis zu
        10 Prozent „Ökostilllegung“ einzuführen, abgewehrt
        werden. Die Entscheidungen zum Health Check sind ge-
        fallen. Nun kommt es darauf an, das Stärkungspaket für
        die Milch schnell und gut zu schnüren.
        Auf EU-Ebene gibt es keine Verschnaufpause. So
        sind die Diskussionen um die Zukunft schon voll im
        Gange. Auch nach 2013 ist eine ehrgeizige und Gemein-
        same Agrarpolitik erforderlich. Die Grundprinzipien der
        GAP wie die zufriedenstellenden landwirtschaftlichen
        Einkommen und stabile Preise für Verbraucher sind nach
        wie vor wichtig.
        Im bisherigen Entwurf der Schlussfolgerungen des
        Rates wird die nachhaltige Bedeutung der Landwirt-
        schaft für die Gesellschaft in Europa und die europäische
        Zukunft betont. Er spricht sich darüber hinaus für ein
        Nahrungsgleichgewicht weltweit aus. Ich halte aller-
        dings den französischen Schlussfolgerungsentwurf für
        unangemessen, da er Entscheidungen zum EU-Haushalt
        oder zur finanziellen Vorausschau vorwegnimmt.
        Abschließend möchte ich noch einmal Bezug nehmen
        auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Ländliche
        Räume sind auch in Zukunft auf eine leistungsfähige Re-
        gionalpolitik und -förderung angewiesen. Da sind wir
        uns einig. Die Zielorientierung der einzelnen Maßnah-
        men und deren Effektivität muss allerdings absolut im
        Vordergrund stehen. Ihr Ansinnen, alles in einen Topf zu
        werfen, wird dem nicht gerecht. Die einzelnen Maßnah-
        men müssen getrennt bleiben mit dem Ziel einer saube-
        ren Abgrenzung und damit einer höheren Effizienz. So
        sollen die Landkreise und Gemeinden in ihrem Bestre-
        ben weiter unterstützt werden, gute Bedingungen und
        ein gutes Investitionsklima für die Ansiedlung von Ge-
        werbe und damit von Arbeitsplätzen zu schaffen.
        Gerade für diese Bereiche stehen Deutschland über
        die EU-Strukturfonds von 2007 bis 2013 mehrere Mil-
        liarden Euro EU-Mittel zur Verfügung. Die Kommunen
        erhalten in den einzelnen Bundesländern Mittel aus dem
        Finanzausgleich, so zum Beispiel in Bayern über 6 Mil-
        liarden Euro pro Jahr.
        Die Gemeinschaftsaufgabe leistet zur Verbesserung
        der regionalen Wirtschaftsstruktur einen wichtigen Bei-
        trag zur Förderung regionaler Entwicklungspotenziale.
        Gleichzeitig hat die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbes-
        serung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes für die
        Sicherung einer flächendeckenden Landbewirtschaftung
        und für eine leistungsfähige Landwirtschaft eine hohe
        Bedeutung. Aktuell haben wir den Haushaltstitel wieder
        aufgestockt. Wenn Bankenkreise und die Automo-
        bilbranche mit Milliarden Euro unterstützt werden, müs-
        sen wir weiterhin intensiv prüfen, wie wir die Landwirt-
        schaft – als Basis unseres Seins – in wirtschaftlich
        schwierigen Zeiten unterstützen können. Schließlich si-
        chert die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft über
        vier Millionen Arbeitsplätze in unserem Land.
        Nicht grüne Schauanträge entscheiden über die Zu-
        kunft des ländlichen Raums, sondern verantwortliches
        Handeln.
        Holger Ortel (SPD): Ich möchte meine Rede heute
        unter den Titel „Die GAK ausbauen, aber den Küsten-
        schutz nicht vergessen“ stellen. Die Haushaltsverhand-
        lungen liegen gerade hinter uns. Dort haben wir den
        Sonderrahmenplan Küstenschutz beschlossen, der jähr-
        lich bis 2024 25 Millionen Euro nur für den Küsten-
        schutz bereitstellt.
        Als Abgeordneter des Wahlkreises mit der längsten
        Deichlinie begrüße ich das natürlich außerordentlich.
        8,1 Millionen Euro mehr für den Küstenschutz in Nie-
        dersachsen von Bundesseite sind ein Bekenntnis zur
        Küste. Trotzdem ist nicht sicher, ob diese 380 Millionen
        Euro ausreichen. Die Herausforderungen des Klimawan-
        dels werden wohl noch mehr Investitionen erfordern. Ich
        habe mit den Wasser- und Bodenverbänden gesprochen.
        Sie halten Investitionen in Höhe von 540 Millionen Euro
        für notwendig – und das nur für die 600 Kilometer Küste
        in Niedersachsen in den nächsten zehn Jahren! Wir brau-
        chen also noch mehr Mittel für den Küstenschutz.
        20950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich bin trotz allem froh, dass wir die GAK-Mittel nun
        aufstocken konnten. Die GAK wurde in den vergange-
        nen Jahren eher als Steinbruch für andere Aufgaben ge-
        sehen. Die Mittel gingen stets zurück. Ich bin froh, dass
        wir diesen Trend nun umkehren und zu einer moderaten
        Aufstockung kommen konnten. Das hat aber auch damit
        zu tun, dass wir die Gemeinschaftsaufgabe weiterentwi-
        ckeln wollen. Die GAK hat dem Agrarsektor bislang da-
        bei geholfen, die anstehenden Anforderungen eines
        zukünftig liberalisierten Wettbewerbes zu bewältigen.
        Dafür wollen wir sie auch weiterhin nutzen. Die Weiter-
        entwicklung der GAK ist nötig und dringlich, weil wir
        vor neuen Herausforderungen stehen. Genannt seien der
        Klimawandel oder die Umsetzung der Wasserrahmen-
        richtlinie.
        In der Vergangenheit wurde die GAK immer wieder
        an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst. Sie
        wurde teilweise zu einem sektorübergreifenden Instru-
        ment geformt und hat sich in der Vergangenheit auch als
        Instrument zur Weiterentwicklung des ländlichen Rau-
        mes entwickelt. Aber trotz des fortwährenden Anpas-
        sungsprozesses blieb eine grundlegende Anpassung an
        die veränderten gesellschaftlichen und agrarpolitischen
        Erwartungen aus. Das Bild des Landwirtes als Erzeuger
        von Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen wie
        als Erhalter und Bewirtschafter einer artenreichen Kul-
        turlandschaft wird weiter gelten, auch wenn der Begriff
        „Agrarstruktur“ neu definiert werden muss.
        Das Maßnahmenspektrum ist breit und umfasst mehr
        als nur Maßnahmen zur Förderung der Produktions- und
        Vermarktungsstrukturen. Die Förderung der Breitband-
        lnternetanbindung ist uns ein zentrales Anliegen. Die
        Notwendigkeit differiert von Land zu Land. Aber auch
        nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden oder wasserwirt-
        schaftliche Maßnahmen sind nur ein Teil des Spektrums,
        das von Land zu Land unterschiedlich aussieht. Die Ver-
        marktungsstrukturen müssen erweitert werden. Bislang
        wird dann ideenlos immer die Regionalvermarktung
        strapaziert. Aber zukünftig müssen wir hier kreativer
        werden. Es gibt viele regionale Spezialitäten, die es ver-
        dient hätten, deutschlandweit Verbreitung zu finden.
        Bei der Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe
        dürfen wir diese aber nicht überfordern. Sie ist keine
        Zaubertüte mit unbegrenzten Mitteln, aus der wir alle
        Maßnahmen der regionalen Entwicklungspolitik bezah-
        len können. Neben der GAK gibt es ja auch noch die Ge-
        meinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftstruktur.
        Die Fördermaßnahmen der GAK sind ein zentrales
        Element für die Umsetzung der Strategie zur Entwick-
        lung der ländlichen Räume. Eine Weiterentwicklung der
        GAK muss einen sektor- wie auch ressortübergreifenden
        Ansatz wählen, der den breit gefächerten Herausforde-
        rungen in den ländlichen Räumen gerecht wird. Die inte-
        grierte ländliche Entwicklung muss weitergedacht wer-
        den.
        Wie viele Wege wurden schon durch die zu schweren
        Lkw zur Lieferung der Silage an Biogasanlagen kaputt-
        gefahren? Ländlicher und forstwirtschaftlicher Wege-
        bau müssen auch weiterhin durch die GAK gefördert
        werden. Diversifizierung und Flurbereinigung müssen
        vorangebracht werden. Noch immer gibt es hier Ent-
        wicklungspotenzial. Hier ist die Bundesregierung, wie
        wir bereits in unserem Antrag formuliert haben, gefor-
        dert, gemeinsam mit den Ländern die Anwendung
        bereichsübergreifender Konzepte sicherzustellen. Die
        Gemeinden dürfen nicht über ihre Leistungsfähigkeit
        hinweg belastet werden. Deren finanzielle Situation
        muss Berücksichtigung finden.
        Bereits jetzt stehen die Beratungen für die Förder-
        periode 2010 bis 2013 an. Nachdem der europäische
        Agrarrat vor wenigen Tagen einen Kompromiss zum
        Health-Check gefunden hat, werden nun die Beratungen
        zu Änderungen für den GAK-Rahmenplan 2010 bis 2013
        schnell vom BMELV in Angriff genommen. Dazu dient
        unter anderem die Verbändeanhörung zur GAK am 11. De-
        zember 2008 in Bonn. Die für die GAK zuständigen Ver-
        treter der Landesministerien und des Bundes warten auf
        die Anregung der Verbände und ihrer Vorstellungen zur
        Ausgestaltung des GAK-Rahmenplans und werden diese
        – entsprechend – aufnehmen.
        Die ELER-Mittel müssen auf jeden Fall noch effi-
        zienter eingesetzt werden. Und wir müssen überlegen,
        wie wir die Mittel zukünftig besser einsetzen können. So
        zum Beispiel müssen wir überlegen, ob nicht die Förde-
        rung von landwirtschaftlichen Erzeugergemeinschaften
        gegenüber einzelbetrieblicher Förderung zu bevorzugen
        ist. Vereinzelt wurden Gelder ja auch unsinnig ausgege-
        ben – ein zweites Dorfgemeinschaftshaus oder der dritte
        Dorfbrunnen angeschafft.
        Was wir ebenfalls in unserem Antrag fordern, ist die
        zügige Umsetzung der Maßnahmen des Bundesverkehrs-
        wegeplanes zur besseren Erschließung des ländlichen
        Raumes. Wobei klar ist, dass der Bundesverkehrswege-
        plan nur eine Wunschliste darstellt. Eine Finanzierung ist
        damit noch nicht gegeben.
        Ich möchte abschließend sagen, dass wir Sozialdemo-
        kraten uns zu unserer Verantwortung für die Menschen
        bekennen. Sie ist fundamentale Leitlinie unserer Politik
        für die ländlichen Räume.
        Hans-Michael Goldmann (FDP): Für die FDP sind
        Land- und Forstwirtschaft, der Weinbau gemeinsam mit
        den mittelständischen Betrieben der Ernährungswirt-
        schaft und des Gartenbaus das Rückgrat ländlicher
        Räume. Intakte ländliche Räume müssen gefördert und
        gestärkt werden. Es ist gut, dass in dieser zentralen For-
        derung Einigkeit im Deutschen Bundestag herrscht.
        Allerdings sind die Unterschiede zur Erreichung des
        Ziels sehr unterschiedlich. Richtig ist, dass die Bundes-
        regierung mit ihrer bisherigen Politik die ländlichen
        Räume eher geschwächt als gestärkt hat. Völlig zu Recht
        verweisen die Grünen in ihrem Antrag auf den von Bun-
        deskanzlerin Merkel maßgeblich verhandelten Finanz-
        rahmen für den EU-Haushalt 2007 bis 2013. Dadurch
        stehen Deutschland ab 2007 jährlich rund 300 Millionen
        Euro weniger EU-Mittel für die Förderung der ländli-
        chen Räume zur Verfügung.
        Wer wie Bündnis 90/Die Grünen eine derartige Poli-
        tik aber kritisiert, darf nicht wie die Fraktionsvorsitzende
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20951
        (A) (C)
        (B) (D)
        Frau Künast gleichzeitig alle EU-Agrarsubventionen
        von heute auf morgen abschaffen wollen. Das ist völlig
        unglaubwürdig und wäre ein Schlag gegen die Landwirt-
        schaft und damit gegen die ländlichen Räume in
        Deutschland. Noch unglaubwürdiger wird die Position
        von Bündnis 90/Die Grünen, wenn man sich ansieht,
        wofür die Mittel des EU-Agrarhaushaltes herhalten sol-
        len, die Frau Künast ja eigentlich alle abschaffen wollte.
        So möchten die Grünen die EU-Agrarmittel für die Stär-
        kung des ländlichen Raumes, die Milchbauern, den Ur-
        waldschutz, den Klimaschutz und vieles andere ausge-
        ben. Damit haben die Grünen den EU-Agrarhaushalt
        zum „Jäger 90“ ihrer populistischen und unausgegore-
        nen Politik gemacht.
        Für die FDP-Bundestagsfraktion ist die beste und
        wichtigste Maßnahme zur Stärkung des ländlichen Rau-
        mes, dass mittelständische Unternehmen der Land- und
        Forstwirtschaft, des Gartenbaus, der Ernährungswirt-
        schaft und des Weinbaus durch marktwirtschaftliche Re-
        formen und Bürokratieabbau gestärkt werden. Es ist be-
        dauerlich, dass die Bundesregierung diese Chance im
        Rahmen der Beratungen zur Gesundheitsüberprüfung
        der Gemeinsamen Agrarpolitik nicht genutzt hat. Im Ge-
        genteil: Die Erhöhung der Modulation und noch mehr
        Bürokratie über Cross Compliance verschlechtern die
        agrarpolitischen Rahmenbedingungen für die mittelstän-
        dischen Betriebe in Deutschland. Der Kompromiss
        kostet die deutsche Landwirtschaft noch einmal über
        200 Millionen Euro. Die Bundesregierung hat damit ihre
        zentralen agrarpolitischen Ziele verfehlt, nämlich Pla-
        nungssicherheit und Verlässlichkeit in der Agrarpolitik
        für die deutschen Landwirte herzustellen.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die beiden
        Anträge zur Förderpolitik im ländlichen Raum, um die
        es hier geht, sind von der Zeit längst überholt worden.
        Beispiel: Die Grünen forderten eine Erhöhung der obli-
        gatorischen Modulation, um Fördergeld aus den Land-
        wirtschaftsbetrieben in die Förderung im Rahmen der
        Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
        und des Küstenschutzes (GAK)“ umzuverteilen. Der
        europäische Agrarrat hat nun nach monatelangen kontro-
        versen Debatten und gegen die Argumentation auch der
        Linken vor wenigen Tagen diese Umverteilung be-
        schlossen: 5 Prozent bis zum Jahr 2013. Die Entschei-
        dung wurde mit „neuen“ Aufgaben der europäischen
        Agrarpolitik begründet. Gemeint sind Maßnahmen zum
        Klimaschutz, Wassermanagement und zum Erhalt der
        Biodiversität. Es wurde bei dieser Gelegenheit gleich
        eine neue Ungerechtigkeit beschlossen; denn diese Um-
        verteilung trifft über den progressiven Berechnungsme-
        chanismus vor allem die ostdeutsche Landwirtschaft,
        ohne ihre besonderen Bedingungen zu berücksichtigen.
        Die Bundesregierung hatte irgendwann nach dem
        Sommer offensichtlich ihren Widerstand gegen diese
        Regelungen gegen die Zusage eines Milchfonds aufge-
        geben, mit dem der Ausstieg aus dem Milchquotensys-
        tem 2015 gedämpft werden soll, aber nicht etwa mit fri-
        schem Geld, sondern mit einem Teil des umverteilten
        Geldes. So spielt man Milchbauern gegen ostdeutsche
        Landwirtschaftsbetriebe aus! Dabei ist noch weitgehend
        unklar, wie der Milchfonds denn wirklich konkret wir-
        ken wird. Ob so das angebliche Ziel der Stärkung der
        Dörfer und kleinen Städte erreichbar ist, kann mit gutem
        Recht bezweifelt werden. Eher werden Landwirtschaft
        und ländliche Räume gegeneinander ausgespielt.
        In den Beschlüssen zum Haushalt 2009 sind von der
        Koalition die Mittelzuweisungen des Bundes für die
        GAK um 40 Millionen Euro erhöht worden. Das hört
        sich erst einmal viel an. Aber: Die Mittel sind in erster
        Linie dem Küstenschutz vorbehalten. Nicht dass das
        nicht auch eine wichtige Aufgabe wäre, keine Frage!
        Nur, eine wirkliche Aufstockung der Mittel für die
        Strukturförderung in den ländlichen Räumen findet da-
        mit nicht statt. Die Linke enthält sich beim Antrag der
        Koalition und lehnt den Antrag der Grünen ab, da in die-
        sem ein Finanzierungsmodell vorgeschlagen wird, das
        wir ablehnen. Mit beiden Anträgen kommen wir hin-
        sichtlich der Förderung der ländlichen Räume nicht wei-
        ter. Solange wesentliche Faktoren vollkommen ausge-
        blendet oder nicht wichtig genommen werden, die zu
        den Problemen in den ländlichen Gebieten beitragen,
        werden diese nicht gelöst.
        So ist ein zentrales Problem die selektive Abwande-
        rung junger und qualifizierter Frauen aus den ländlichen
        Gebieten mit gravierenden langfristigen Folgen für die
        Regionen. Der Ex-Agrarminister Seehofer schien im
        Frühjahr 2008 das Problem der ländlichen Räume we-
        nigstens erkannt zu haben, als er eine interministerielle
        Arbeitsgruppe zum Thema gründete. Acht Ministerien
        sollten mitarbeiten, darunter das Wirtschafts-, das Um-
        welt-, das Bildungs- und das Verkehrsministerium. Aber
        ausgerechnet das für Frauen zuständige Bundesministe-
        rium fehlte. Aber wie sollen denn vernünftige Ergeb-
        nisse in der Politik für ländliche Räume erzielt werden,
        wenn die Politik hier nicht gleichstellungspolitisch an-
        setzt, zum Beispiel durch eine geschlechtergerechte För-
        derpolitik? Gleichstellung im ländlichen Raum müsste
        doch angesichts der aktuellen Situation das Topthema
        der Bundesregierung sein.
        Der Ansatz, die verschiedenen Akteurinnen und Ak-
        teure im ländlichen Raum unter einen Hut zu bringen
        und die verschiedenen Politikfelder besser aufeinander
        abzustimmen, ist ja im Prinzip richtig und wird auch sei-
        tens der Linken unterstützt. Er muss allerdings ernst ge-
        nommen werden, und das ist nicht erkennbar. Außer gro-
        ßen Konferenzen zum Thema ist praktisch kaum etwas
        passiert. Im Gegenteil: Nach wie vor wird die Verkehrs-
        infrastruktur weiter ausgedünnt, Bahnstrecken werden
        abbestellt, Verbindungen zwischen Ballungsgebieten
        und ländlichen Regionen reduziert. Das Programm zum
        Ausbau des schnellen Internets kommt für die Betroffe-
        nen in den ländlichen Regionen gar nicht oder nur sehr
        schleppend voran und ist unterfinanziert, mal davon ab-
        gesehen, dass es mit dem Agrarressort dem verkehrten
        Politikressort zugeordnet ist, weil es eigentlich zum In-
        frastrukturministerium gehört. Die lebensnotwendige In-
        frastruktur im Gesundheitswesen und bei den Bildungs-
        angeboten, aber auch im kulturellen Bereich wird weiter
        ausgedünnt, und damit schwinden wichtige Standortfak-
        toren für die Menschen, die in den ländlichen Regionen
        leben und leben wollen. Das gilt auch für Unternehmen,
        20952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        denen ohne Bildungs- und Kulturinfrastruktur die Fach-
        kräfte verloren gehen.
        Vor allem Frauen müssen die Fehlstellen in der öf-
        fentlichen Infrastruktur ausgleichen und es fehlt immer
        öfter das existenzsichernde Einkommen. Ihre Zugangs-
        möglichkeiten zu Fördermitteln in den ländlichen Räu-
        men sind aus verschiedenen Gründen schlechter als die
        der Männer. Die Programme sind insgesamt sowieso
        kompliziert und wie beim LEADER-Programm für ein-
        zelne Antragsteller nur schwer zugänglich. Auf die spe-
        zifischen Interessen von Frauen sind sie kaum ausgerich-
        tet. Eine Strukturpolitik für die ländlichen Räume muss
        die Interessen der dort lebenden Menschen aktiv und
        umsichtig berücksichtigen. Gerade skandinavische Län-
        der machen uns da einiges vor.
        Die Linke bekennt sich zum verfassungsgemäßen
        Recht auf gleichwertige Lebensbedingungen im ganzen
        Land. Die bislang initiierten politischen Maßnahmen,
        um diese zu erreichen, greifen offensichtlich nicht. Die
        Anträge der Koalition und der Grünen skizzieren zwar
        die Probleme ländlicher Räume recht umfassend; sie bie-
        ten aber nicht das, was zur Lösung der Probleme ge-
        braucht wird: ein integriertes, geschlechtergerechtes Ent-
        wicklungskonzept für die ländlichen Räume, das unter
        Einbeziehung der Akteurinnen und Akteure vor Ort ent-
        wickelt wurde und dort ansetzt, wo wirklich Unterstüt-
        zung gebraucht wird.
        Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu
        Beginn der Legislaturperiode hat das CSU-geführte
        Agrarministerium die Entwicklung ländlicher Räume
        zur Chefsache erklärt. Lobenswert war der breite Dis-
        kussionsprozess, der damals angestoßen wurde. Drei
        Jahre später sind die Ergebnisse allerdings mehr als ent-
        täuschend. Denn die Koalition scheint zu dem Schluss
        gekommen zu sein, das Beste sei es, die vielen Anregun-
        gen und Konzepte, die in den vergangenen Jahren von
        einer Vielzahl von im ländlichen Raum beheimateten
        Akteuren erarbeitet und vorgestellt wurden, zu ignorie-
        ren. Man folgt lieber weiterhin blind den Vorgaben des
        Deutschen Bauernverbandes. Mit ihrer Blockadehaltung
        in den Verhandlungen zum Health Check der EU-Agrar-
        politik hätte unsere Regierung das nicht deutlicher zum
        Ausdruck bringen können.
        Dem setzen wir mit unserem Antrag zur Weiterent-
        wicklung der Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung
        der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ zu einer Ge-
        meinschaftsaufgabe für den ländlichen Raum eine an-
        dere, eine zukunftsfähige Politik entgegen. Klimaschutz,
        Umwelt- und Naturschutz, Beschäftigungszuwachs, das
        sind die zentralen Begriffe, an denen sich Politik für die
        ländliche Entwicklung messen lassen muss. Deshalb ist
        ein Festhalten an den voraussetzungslosen EU-Agrar-
        subventionen eine Sackgasse. Die Mittel, die die öffent-
        liche Hand für die Entwicklung ländlicher Räume
        notwendigerweise bereitstellt – und dazu gehört selbst-
        verständlich und in einem bedeutenden Maß der Agrar-
        bereich –, lassen sich vor den Steuerzahlern nur noch
        rechtfertigen, wenn die Mittelempfänger auch bereit
        sind, eine Gegenleistung für die Gesellschaft zu erbrin-
        gen. Dafür müssen Bund und Länder aber auch passende
        Programme anbieten. Mit unserem Antrag zeigen wir
        eine ganze Reihe von Maßnahmen auf, die eine zu-
        kunftsfähige Entwicklung der ländlichen Räume genau
        in diesem Sinne ermöglichen.
        Grundlage aller Fördermaßnahmen müssen Konzepte
        für die integrierte Entwicklung sein. Regionalmanage-
        ment und die Weitergabe von Verantwortung auch in fi-
        nanzieller Hinsicht an die Akteure in den Regionen sol-
        len gestärkt werden. Wir sollten den Regionen mehr
        Entscheidungskompetenz zutrauen und mehr Finanzho-
        heit übertragen. Für die Veredlung und Erzeugung land-
        wirtschaftlicher Qualitätsprodukte, den Ökolandbau und
        für kleine Unternehmen und Betriebe, die ihre Produkte
        und Leistungen zum größten Teil in ihren Regionen ab-
        setzen, bedarf es einer besseren Unterstützung.
        Agrarinvestitionen sollen nur noch dann mit öffentli-
        chen Mitteln unterstützt werden, wenn damit besonders
        hohe, über den gesetzlichen Mindestanspruch hinausge-
        hende Standards in den Bereichen Tier-, Natur-, Klima-
        und Umweltschutz erzielt werden. Zu diesen Standards
        gehört unseres Erachtens auch der Verzicht auf Agrogen-
        technik. Denn die wenigen Nutzer von gentechnisch ver-
        änderten Pflanzen gefährden den wirtschaftlichen Erfolg
        aller anderen Betriebe, nicht nur der Imker und Bioland-
        wirte.
        Das Angebot an Agrarumweltmaßnahmen muss mit
        dem Ziel der Effizienzsteigerung und der Erhöhung der
        ökologischen Wirksamkeit bei den einzelnen Program-
        men neu erarbeitet werden. Darüber hinaus müssen wir
        auch in Deutschland endlich die gesamte Bandbreite der
        im Rahmen der ELER-Verordnung angebotenen Förder-
        maßnahmen zur Verfügung stellen.
        Sie werden sich sicherlich fragen, womit wir das be-
        zahlen wollen. Dazu kann ich Ihnen sagen, dass wir bei-
        spielsweise die weitere Förderung des ländlichen und
        forstwirtschaftlichen Wegebaus über die Gemeinschafts-
        aufgabe für verzichtbar halten und bei der Flurbereini-
        gung die Fördersätze deutlich reduzieren wollen. Allein
        in der ersten Achse ließe sich so über ein Drittel der bis-
        her ausgegebenen Gelder einsparen.
        Wenn Stadt und Land weiter auseinanderdriften, dann
        liegt es nicht am Mangel an Geld, sondern an der fal-
        schen Prioritätensetzung. Dem wollen wir mit unserem
        Antrag begegnen.
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Konvention zum
        Verbot jeglicher Streumunition zügig ratifizie-
        ren und in internationales Völkerrecht überfüh-
        ren (Tagesordnungspunkt 21)
        Eduard Lintner (CDU/CSU): In diesen Tagen erle-
        ben wir mit, wie in Oslo ein neues, wichtiges Kapitel in
        der Geschichte des humanitären Völkerrechts geschrie-
        ben wird. Die Streumunitionskonvention, die dort von
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20953
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        über 100 Staaten unterzeichnet wird, ist ein wichtiger
        Beitrag zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Kon-
        flikten. Erst vor wenigen Monaten konnten wir während
        des Krieges in Georgien beobachten, welch schlimme
        Folgen der Einsatz von Streumunition auch noch lange
        nach Beendigung der Kampfhandlungen für die Zivilbe-
        völkerung hat. Allen, die an der Entstehung dieser Kon-
        vention beteiligt waren – dazu zählt gerade auch die
        Bundesregierung – gebührt daher unser Dank.
        In der Konvention werden erstmals der Einsatz, die
        Entwicklung, die Herstellung, die Lagerung sowie der
        Im- und Export von Streumunition untersagt und die
        Vernichtung vorhandener Bestände vereinbart. Wie der
        heute zu beratende Antrag und diese Debatte zeigen, ist
        die Arbeit aber mit der Unterzeichnung der Konvention
        noch nicht getan. Zunächst muss die Bundesregierung
        den Vertrag schnellstens dem Bundestag zur Ratifizie-
        rung vorlegen, wozu sich in diesem Hause sicherlich
        eine große Mehrheit finden wird. Die Bundesregierung
        ist auch aufgefordert, ihr Verständnis des Vertrags in ei-
        ner Erklärung gegenüber dem Bundestag zu erläutern.
        Die bereits 2001 begonnene Vernichtung von Streu-
        munitionsbeständen soll im Sinne des Antrags der Koali-
        tion bereits innerhalb von vier Jahren zu Ende geführt
        werden, obwohl die Konvention den Staaten hierfür acht
        Jahre Zeit einräumt. Der Bundestag soll im jährlichen
        Rüstungskontrollbericht der Bundesregierung über die
        einzelnen Vernichtungs- und Entsorgungsschritte unter-
        richtet werden. Ebenso fordern wir in unserem Antrag
        mehr Transparenz gegenüber den Ausschüssen des Par-
        laments, wenn es um die Entwicklung und Beschaffung
        von Munition geht. Dies alles ist notwendig, damit der
        Bundestag seiner Kontroll- und Überwachungsfunktion
        gerecht werden kann.
        Die Konvention stellt einen großen Fortschritt dar, er-
        fasst aber bedauerlicherweise nur ein Drittel der welt-
        weiten Bestände an Streumunition. Die größten Produ-
        zenten und Anwender, die USA, Russland, China und
        Israel, waren an den Verhandlungen nur als Beobachter
        beteiligt und gehören nicht zu den Unterzeichnern.
        Deutschland muss daher weiter aktiv, vor allem inner-
        halb der EU und der NATO, für den Beitritt auch dieser
        Staaten zur Streumunitionskonvention werben. Um die
        Reichweite des Vertrags zu erhöhen, muss sich die Bun-
        desregierung auch für eine Übernahme der Konvention
        in das VN-Übereinkommen über konventionelle Waffen
        einsetzen.
        Der Antrag, den meine Fraktion zusammen mit der
        SPD eingebracht hat, ist nicht der einzige zu diesem
        Thema. Obwohl der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
        Grünen heute nicht auf der Tagesordnung steht, möchte
        ich doch einige Worte zu ihm verlieren, um unseren ei-
        genen Standpunkt in der Sache deutlich zu machen. An-
        träge wie der, der von den Grünen im Frühjahr einge-
        bracht wurde, mit der Forderung, alle Waffensysteme,
        die Submunition einsetzen, zu vernichten und gemein-
        same Operationen mit befreundeten und verbündeten
        Staaten, die noch Streumunition verwenden, zu verbie-
        ten, schießen über das Ziel hinaus und disqualifizieren
        sich auch durch ihre konkreten Formulierungen. Streu-
        munition, vor allem solche älterer Bauart, ist aus den be-
        kannten Gründen ohne Zweifel eine Waffe, deren Ein-
        satz nicht mit dem Völkerrecht zu vereinbaren ist. Daher
        haben wir uns für ein weitgehendes Verbot eingesetzt
        und dieses auch erreicht. Aber auch die sogenannte
        Punktzielmunition mit in die Definition von Streumuni-
        tion einzubeziehen und sie pauschal als „Terrorwaffe“ zu
        qualifizieren, wie es im Antrag der Grünen geschieht,
        schießt deutlich über das Ziel hinaus.
        Forderungen, wie sie in diesem Antrag erhoben wer-
        den, verkennen die Erfordernisse militärischer Einsätze
        und gefährden die Fähigkeit der Bundeswehr, gemein-
        same Einsätze mit unseren Verbündeten durchzuführen.
        Und letztlich gefährden sie auch den ganzen Prozess, der
        nun mit der Unterzeichnungszeremonie in Oslo zu einem
        vorläufigen Ende kommt. Denn was wäre die Folge ge-
        wesen, wenn die Bundesregierung dem Antrag der Grü-
        nen gefolgt wäre? Das Abkommen, dessen Zustande-
        kommen wir heute lebhaft begrüßen, wäre überhaupt
        nicht zustande gekommen. Zum Beispiel hätten dann
        Länder wie Großbritannien, Frankreich und Kanada da-
        bei nicht mitmachen können. Insofern sind diese Kon-
        vention und auch der Antrag der Koalition Ausdruck ei-
        nes Realismus, der für den Erfolg der Anstrengungen
        geradezu mitentscheidend war.
        Mit der Streumunitionskonvention wurde ein wichti-
        ges Ziel, nämlich ein weitgehendes Verbot von Streumu-
        nition, erreicht und die Bündnisfähigkeit Deutschlands
        und aller anderen NATO-Unterzeichnerstaaten aufrecht-
        erhalten. Nach dem Verbot von Antipersonenminen im
        Vertrag von Ottawa 1997 stellt der Vertrag von Dublin
        einen weiteren wichtigen Schritt zur Ächtung von Waf-
        fen dar, die die Zivilbevölkerung unverhältnismäßig
        stark gefährden. Wir haben darüber hinaus die Hoffnung,
        dass, ausgehend von der in dieser Woche unterzeichne-
        ten Konvention, eine neue Dynamik die Abrüstungsbe-
        strebungen erfassen wird. Der Einstieg der USA in die
        Streumunitionskonvention wäre von großer Bedeutung.
        Äußerungen des neugewählten US-Präsidenten geben
        Anlass zur Hoffnung, dass das Thema Streumunition für
        ihn durchaus wieder auf der Agenda steht.
        Der Deutsche Bundestag kann mit seiner Zustim-
        mung zu dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfrak-
        tionen ein Zeichen dafür setzen, dass Deutschland bei
        den weiteren Bemühungen zur Ächtung von Streumuni-
        tion ein verlässlicher und berechenbarer Partner bleibt.
        Andreas Weigel (SPD): Wie ich selbst miterleben
        durfte, hat Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter
        Steinmeier gestern Nachmittag für Deutschland die wäh-
        rend der letzten zwei Jahre ausgehandelte Konvention
        zum Verbot von Streumunition unterzeichnet. Mit seiner
        Reise zu der Unterzeichnungszeremonie nach Oslo hat
        der Minister – ebenso wie rund 50 seiner gestern anwe-
        senden Amtskollegen – ein klares Zeichen gesetzt, wel-
        che Bedeutung er der Ächtung dieser menschenverach-
        tenden Waffe beimisst.
        Die deutsche Vorreiterrolle und das Verhandlungsge-
        schick des Auswärtigen Amtes haben maßgeblich dazu
        beigetragen, dass sich rund 100 Staaten auf ein umfas-
        20954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
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        sendes Verbot jeglicher Streumunitionstypen geeinigt
        haben. Das ist ein großer Erfolg und ein wichtiger Im-
        puls zur Wiederbelebung internationaler Abrüstungs-
        und Rüstungskontrollpolitik. In einem gemeinsamen
        Gastbeitrag mit seinem britischen Amtskollegen
        Miliband in der Frankfurter Rundschau hat Frank-
        Walter Steinmeier betont – und ich kann dem nur bei-
        pflichten –, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle keine
        Themen von gestern sind. „Abrüstung und Rüstungskon-
        trolle gehören ganz oben auf die internationale Agenda“,
        schreiben die Minister. Sie fahren fort, die Konvention
        zum Verbot von Streumunition sei „ein Meilenstein auf
        dem Weg der konventionellen Rüstungskontrolle“.
        In der Tat verfolgt die Streumunitionskonvention ei-
        nen richtungweisenden Ansatz: Wenn gleichgesinnte
        Regierungen, Parlamente und die Zivilgesellschaft in
        lange blockierten Rüstungskontroll- und Abrüstungsfra-
        gen ihre Kräfte bündeln, dann können sie eine Menge
        bewegen. Das hat sich bereits in der Wirkung der Ot-
        tawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen
        gezeigt, die vor genau elf Jahren am 3. Dezember 1997
        vereinbart wurde.
        Die Antipersonenminen-Konvention kam zustande,
        weil die großen Produzenten- und Anwenderstaaten sich
        einem Verbot im Rahmen der Vereinten Nationen ver-
        weigerten. Darum haben Zivilgesellschaft, Parlamenta-
        rier und progressive Regierungen eine Ächtung außer-
        halb des UN-Rahmens realisiert. Der so erzeugte
        öffentliche Druck hat die weltgrößten Minenproduzen-
        ten, die USA, China und Russland, zwar nicht dazu be-
        wogen, dem Verbot offiziell beizutreten, wohl aber, es
        faktisch zu respektieren. Sie schrecken mittlerweile
        weitgehend davor zurück, mit Antipersonenminen zu
        handeln oder sie zu verwenden.
        Genau das Gleiche passiert nun durch die Streumuni-
        tionskonvention. Sie wird von zahlreichen gewichtigen
        EU- und NATO-Staaten mitgetragen. Das ist von großer
        Bedeutung, um den nötigen öffentlichen Druck aufzu-
        bauen. Gerade in dieser Hinsicht hat das Auswärtige
        Amt mit seinem ausgewogenen Verhandlungsansatz, der
        eben auch militärische Argumente berücksichtigt, ganze
        Arbeit geleistet. Die Konvention sendet ein starkes
        Signal an diejenigen Länder aus, die heute noch an einer
        Produktion und Verwendung von Streumunition festhal-
        ten. Diese Staaten werden in Zukunft zunehmend unter
        Druck geraten und öffentlich gebrandmarkt.
        Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. Das hat sich
        etwa im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzun-
        gen im Sommer dieses Jahres im Kaukasus gezeigt.
        Zwar haben Russland und Georgien Streumunition ein-
        gesetzt und das auch als legitim betrachtet. Aber im
        Nachhinein sehen sich beide Seiten nun erheblichem
        Rechtfertigungsdruck ausgesetzt und werfen sich zudem
        auch selbst gegenseitig den Einsatz von Streumunition
        vor. Auch die USA haben ihre vormals starre Haltung
        gegen ein Streumunitionsverbot und gegen eine be-
        schleunigte Aussonderung besonders heimtückischer
        Modelle aufgegeben. Von der neuen Administration dür-
        fen wir im kommenden Jahr wohl noch einige weitere
        Bewegung erwarten. Barack Obama hat das auch bereits
        durchblicken lassen.
        Ich halte es daher für kurzsichtig und unredlich, wenn
        einige Medien dieser Tage behaupten, die Streumuni-
        tionskonvention sei wirkungslos und allenfalls ein „Mei-
        lensteinchen“. Das Gegenteil ist der Fall. Der Züricher
        Tages-Anzeiger schreibt zu Recht:
        Der Oslo-Prozess für das Streubombenverbot
        macht deutlich, worauf es bei der Entwicklung des
        humanitären Völkerrechts im 21. Jahrhundert an-
        kommt: Die Initiative muss von unten kommen,
        Lösungen für ein konkretes Problem anbieten und
        das Wohl des einzelnen Menschen im Fokus haben.
        Mit Afghanistan und dem Libanon haben gestern
        übrigens auch zwei Länder unterzeichnet, die noch 2003
        und 2006 massiv mit Streumunition bombardiert wurden
        und nach wie vor unter den Folgen zu leiden haben. Im-
        mer wieder gibt es zivile Opfer; denn noch heute sind
        weite Flächen dieser Länder millionenfach durch Blind-
        gänger verseucht. Schon viel zu viele Menschen haben
        so ihre Arme und Beine verloren. Der gestern unter-
        zeichnete Vertrag bietet der Bevölkerung in den betroffe-
        nen Regionen umfangreiche Räum- und Opferbeihilfen.
        Auch das ist ein wesentlicher Fortschritt.
        Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ganz erheblichem
        Maße die deutsche Position zur Streumunition geprägt.
        Bereits seit mehreren Jahren haben wir uns nachdrück-
        lich für ein umfassendes Verbot von Streumunition ein-
        gesetzt. So ist es uns schließlich gelungen, die Union zu
        einem Einlenken in dieser Frage zu drängen. Insbeson-
        dere gegenüber dem Haus von Verteidigungsminister
        Dr. Franz Josef Jung haben wir diesbezüglich einige
        Überzeugungsarbeit leisten müssen.
        Ich möchte deshalb noch einmal betonen, dass der mi-
        litärische Nutzen von Streumunition angesichts heutiger
        Einsatzszenarien gegen null tendiert und diese Waffe zu-
        dem auch die sie einsetzenden Truppen in Gefahr bringt.
        Streumunition sollte schnellstens aus allen Arsenalen
        dieser Welt entfernt werden.
        Auf Initiative der SPD-Fraktion hin haben der Vertei-
        digungs- und der Haushaltsausschuss des Bundestages
        im Zuge der Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2009
        klare Vorgaben an das Verteidigungsministerium be-
        schlossen, was die endgültige Entsorgung der noch vor-
        handenen Bundeswehrstreumunition betrifft. Wir haben
        dem Ministerium einen straffen Entsorgungszeitplan
        auferlegt und auch die finanziellen Mittel für eine
        schnellstmögliche Vernichtung sämtlicher deutscher Be-
        stände bereitgestellt. Wir wollen die Entsorgung der ver-
        bleibenden deutschen Bestände doppelt so schnell schaf-
        fen, wie eigentlich in der Konvention vorgesehen,
        nämlich in vier statt in acht Jahren. Das ist sehr ambitio-
        niert, aber die brandenburgischen Entsorgungsunterneh-
        men, die ich im Sommer besucht habe, sind zuversicht-
        lich, dass das zu schaffen ist. Über die erfolgte
        Entsorgung wird dem Parlament und der Öffentlichkeit
        jährlich in einem gesonderten Teil des Abrüstungsbe-
        richts der Bundesregierung Rechenschaft abgelegt wer-
        den.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20955
        (A) (C)
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        Wir beraten heute einen von uns initiierten Koali-
        tionsantrag, der eine rasche Ratifizierung des Streumuni-
        tionsverbots auf den Weg bringt. Mit der 30. Ratifikation
        wird das Verbot gültig. Unser Antrag sieht vor, dass die
        Regierung dem Bundestag die Ratifikation des Verbots
        bereits im ersten Halbjahr 2009 zur Abstimmung vor-
        legt. Das Verbot soll in Deutschland noch in der laufen-
        den Legislaturperiode gesetzlich verankert werden, um
        so auch an andere Vertragsstaaten ein klares Signal für
        eine schnelle Ratifizierung auszusenden. Unser Antrag
        verpflichtet die Bundesregierung außerdem dazu, sich
        weiterhin für eine zügige Universalisierung des Streu-
        munitionsverbots zu engagieren. Dazu gehört, dass
        Deutschland seine Bündnispartner in aller Deutlichkeit
        zu einem Verzicht auf Streumunition drängen soll und
        dass auch auf deutschem Boden gelagerte Munitionsbe-
        stände abzuziehen sind.
        Die Länder, die das Streumunitionsverbot in den ver-
        gangenen zwei Tagen nicht gezeichnet haben, sind auf-
        gefordert, das so bald wie möglich bei den Vereinten
        Nationen in New York nachzuholen. Seitens des Bun-
        destages haben wir gegenüber Parlamentariern anderer
        Länder bereits intensiv für einen Beitritt zu dem Streu-
        munitionsverbot geworben – etwa gegenüber den Mit-
        gliedern der Parlamentarischen Versammlung der
        NATO.
        Ein weiterer Aspekt, den wir mit unserem Antrag auf-
        greifen, ist die Entwicklung und Erprobung anderer Mu-
        nitionsarten. Punktzielmunition ist nicht gleichzusetzen
        mit Streumunition. Der gestern gezeichnete Konven-
        tionstext formuliert diesbezüglich anspruchsvolle Vorga-
        ben, was etwa die Limitierung der Sprengkörperzahl
        sowie Selbstzerstörungsmechanismen betrifft. Das Par-
        lament hat hier eine Funktion als unabhängiges Kontroll-
        organ. Wir fordern von der Bundesregierung regelmä-
        ßige und detaillierte Nachweise bezüglich der Erfüllung
        dieser Kriterien.
        Abschließend möchte ich ausdrücklich all jenen dan-
        ken, die am Zustandekommen des Streumunitionsver-
        bots beteiligt waren. Unser Dank gilt der norwegischen
        Regierung, die dem Oslo-Prozess sozusagen eine Hei-
        mat gegeben hat. Hervorheben möchte ich auch das au-
        ßergewöhnliche und beharrliche Engagement zivilge-
        sellschaftlicher Organisationen, die sich in der Cluster
        Munition Coalition zusammengeschlossen haben. Durch
        Gespräche mit meinen Fachkolleginnen und -kollegen
        bin ich mir sicher, dass die Zivilgesellschaft auch weiter-
        hin mit dem gesamten Deutschen Bundestag einen Ver-
        bündeten hat, der die künftige Entwicklung des Streu-
        munitionsverbots aufmerksam begleiten wird.
        Florian Toncar (FDP): Die gestrige Unterzeichnung
        des Abkommens zum Verbot von Streumunition in Oslo
        ist ein wichtiger Meilenstein für die Ächtung einer gan-
        zen Waffenart, deren Opfer in der Vergangenheit fast
        ausschließlich Zivilisten waren. Streumunition ist eine
        Flächenwaffe, die großflächige Zerstörungen und wegen
        ihrer hohen Blindgängerquote auch nach dem Ende von
        Konflikten eine langfristige Bedrohung der ansässigen
        Bevölkerung bewirkt. Vor allem spielende Kinder wur-
        den in der Vergangenheit Opfer dieser heimtückischen
        Gefahr.
        Dass dieses Abkommen nun geschlossen werden
        konnte, ist dem beharrlichen Engagement der Bürgerge-
        sellschaft und insbesondere einiger Nichtregierungsorga-
        nisationen zu verdanken. Nach der Ottawa-Konvention
        aus dem Jahr 1997 zum Verbot von Antipersonenminen,
        die fest mit dem Namen des damaligen Bundesaußenmi-
        nisters Klaus Kinkel verbunden ist, ist dies bereits die
        zweite Erfolgsgeschichte, bei der die Bürgergesellschaft
        den Boden für ein weltweites Abrüstungsabkommen zur
        Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts berei-
        tet. Da die FDP-Bundestagsfraktion bereits vor zwei
        Jahren in einem Antrag – Drucksache 16/2780 – die um-
        fassende Ächtung von Streumunition gefordert hat – da-
        mals noch gegen den Willen von Bundesregierung und
        Koalitionsfraktionen –, ist die gestrige Vertragsunter-
        zeichnung auch aus liberaler Perspektive ein großer Er-
        folg, über den wir uns sehr freuen.
        Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
        zeigt zehn Forderungen auf, mit denen Deutschland die
        rasche Implementierung der Oslo-Konvention national
        und international vorantreiben kann. Dieser Katalog ist
        eine umfassende und zielführende Zusammenstellung
        von Maßnahmen, deren Umsetzung jetzt entschlossen
        angegangen werden muss. Daher ist der Forderungsteil
        des vorliegenden Antrags zu begrüßen.
        Dennoch ist auch deutliche Kritik angezeigt. Diese
        richtet sich auf den Begründungsteil des Antrags, in dem
        ein verfälschtes Bild über die Rolle der Bundesregierung
        in dem Verhandlungsprozess der vergangenen zwei
        Jahre gezeichnet wird. Wenn in dem Antrag ausgeführt
        wird, die Bundesregierung habe „eine Vorreiterrolle in
        diesem Prozess innegehabt“, entspricht dies nicht den
        Tatsachen. Der vor zwei Jahren von den Koalitionsfrak-
        tionen vorgelegte Antrag – Drucksache 16/1995 – sah
        noch die Möglichkeit für die Bundesregierung vor, an ei-
        nem Teil der deutschen Streumunition festzuhalten. Da-
        bei wurde eine geradezu willkürliche Unterscheidung in
        für die Zivilbevölkerung „gefährliche“ und vermeintlich
        „ungefährliche“ Streumunition gemacht. Die Koalitions-
        fraktionen plädierten damals dafür, jegliche Streumuni-
        tion mit einer Blindgängerrate von unter 1 Prozent von
        einem Verbot auszunehmen. Die Bundesregierung igno-
        rierte die von Fachleuten geteilte Auffassung, dass kein
        derzeit bekannter Streumunitionstyp dieses Kriterium er-
        füllen konnte. In diesem Zusammenhang spielt es keine
        Rolle, ob die entsprechenden Streumunitionstypen über
        sogenannte Selbstzerstörungsmechanismen verfügen
        oder nicht. Um einer Diskussion über die Verlässlichkeit
        der deutschen Streumunition aus dem Weg zu gehen,
        verweigerte die Bundesregierung die Veröffentlichung
        von Informationen über die Blindgängerraten der deut-
        schen Bestände.
        Bei den entscheidenden Verhandlungen im Mai 2008
        in Dublin versuchte die Bundesregierung noch bis zu-
        letzt, eine Klausel in den Vertragstext einzufügen, die ein
        Festhalten an der entsprechenden Streumunition ermög-
        licht hätte. Erst unter dem Druck der bei den Verhand-
        lungen anwesenden Organisationen der Bürgergesell-
        20956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        schaft sowie der anderen Verhandlungsdelegationen
        lenkte die Bundesregierung ein und nahm von ihrem
        Vorhaben Abstand.
        Daher wäre es angemessener, davon zu sprechen, dass
        es trotz und nicht wegen der Haltung der Bundesregie-
        rung gelungen ist, ein umfassendes Streumunitionsver-
        bot ohne Schlupflöcher oder Hintertüren zu erreichen.
        Die Bundesregierung kann sich wahrlich nicht rühmen,
        eine Vorreiterrolle gespielt zu haben. Vielmehr hat sie
        sich konsequent für Ausnahmen eingesetzt und ist erst
        im letzten Moment, als ihr Anliegen ersichtlich geschei-
        tert war, auf den fahrenden Zug aufgesprungen.
        Umso erfreulicher ist es, dass die Bundesregierung
        nun nicht mehr, wie noch vor zwei Jahren propagiert, bis
        mindestens 2015 an der Streumunition in deutschen Be-
        ständen festhalten will, sondern diese Waffen umgehend
        außer Dienst stellen und sie innerhalb der ersten Frist des
        Vertrags von vier Jahren vernichten und entsorgen wird.
        Die Unterzeichung der Oslo-Konvention ist nicht der
        Endpunkt einer politischen Entwicklung, sondern mar-
        kiert den Start für den langen Umsetzungsprozess.
        Neben der Abrüstung der Bestände der Unterzeichner-
        staaten stehen die weitere Räumung von durch Streumu-
        nition verseuchten Gebieten sowie die Versorgung von
        Opfern an. Vor allem aber steht die Bundesregierung in
        der Pflicht, auf die Staaten einzuwirken, die der Oslo-
        Konvention noch nicht beigetreten sind. Dazu zählen
        wichtige Produzenten- und Nutzerstaaten wie Russland,
        China, Indien, Pakistan, Israel und die USA. Bundes-
        außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier steht also
        weiterhin vor der Aufgabe, in diesen Staaten für einen
        Beitritt zur Oslo-Konvention einzutreten. Hier hat Herr
        Steinmeier noch eine Menge Überzeugungsarbeit zu
        leisten. Wir werden genau beobachten, welchen Einsatz
        der Bundesaußenminister bei diesem wichtigen Unter-
        fangen an den Tag legen wird.
        Inge Höger (DIE LINKE): Gestern wurde in Oslo die
        Konvention zum Verbot von Anwendung, Herstellung,
        Weiterverbreitung und Lagerung von Streumunition
        durch mehr als 100 Staaten unterzeichnet. Auch Opfer-
        hilfe, die Räumung kontaminierter Gebiete und die Ver-
        nichtung von Lagerbeständen sind in dem Abkommen
        eingeschlossen. Dieses Abkommen ist ein großer Erfolg.
        Dieser Erfolg wäre ohne das hartnäckige Engagement zi-
        vilgesellschaftlicher Gruppen nicht zustande gekommen.
        Handicap International, Human Rights Watch und das
        Aktionsbündnis Landminen.de haben gemeinsam mit
        den Staatsvertretern den Vertragsrahmen seit Anfang
        2007 ausgehandelt.
        Die Fraktion Die Linke unterstützt den Prozess von
        Oslo, und wir werden auf eine rigorose und schnelle
        Umsetzung des Abkommens drängen. Diese Position ha-
        ben wir Anfang dieses Jahres mit dem Antrag zum sofor-
        tigen Verbot von Streumunition in Deutschland deutlich
        gemacht, Drucksache 16/7767.
        Die Bundesregierung ist alles andere als ein Vorreiter
        dieses Abrüstungsprozesses, auch wenn das nun behaup-
        tet wird. Im Gegenteil hat die Bundesregierung den
        Oslo-Prozess behindert und geschwächt.
        Der Antrag der Regierungskoalition stellt mit seiner
        zweiten Forderung eine weitere Schwächung der Osloer
        Konvention zum Verbot von Streumunition dar. Hier
        wird nach einer Regierungserklärung zur Vereinbarkeit
        der Ratifizierung und gemeinsamer militärischer Opera-
        tionen mit Nichtvertragsstaaten gefragt. Es wird auch
        gleich die Richtung vorgegeben: Gemeinsame Kriegs-
        einsätze – auch mit dem Einsatz von Streumunition –
        müssen weiter möglich sein. Die Bündnisfähigkeit
        Deutschlands wird höher gestellt als das Abkommen
        zum Verbot von Streumunition. Aus diesem Grund kann
        dieser Antrag nur abgelehnt werden.
        Wenn Frank-Walter Steinmeier gestern, am 3. Dezem-
        ber 2008, in der Frankfurter Rundschau schreibt, andere
        Staaten sollten dem deutschen Beispiel folgen, dann kann
        ich dem nur widersprechen. Das deutsche Beispiel steht
        für Scheinheiligkeit und die Durchsetzung von Ausnah-
        meregelungen. Weiterhin sollen spezielle Formen von
        Streumunition produziert und eingesetzt werden können.
        Für diese Hightech-Munition mit Zielerkennung wurde
        die Bezeichnung Punktzielmunition geprägt. Nicht hu-
        manitäre, sondern militärstrategische Überlegungen sind
        für die Regierung also leitend. So sagte Andreas Weigel,
        SPD, in der Parlamentsdebatte am 30. Mai 2008 zum
        Antrag der Linken für ein sofortiges Verbot von Streu-
        munition in Deutschland, Drucksache 16/7767: „Aus
        militärstrategischer Sicht verlangen heutige Einsatzsze-
        narien die Fähigkeit zur Punkt- und nicht zur Flächen-
        zielbekämpfung. Dafür gibt es Punktzielmunition …“
        Deutschland hat zusammen mit anderen NATO-Staa-
        ten im Osloer Abkommen eine Ausnahme für diese an-
        geblich fortschrittliche Streumunition durchgesetzt. Mit
        der Konvention wird ein Verbot von Streumunition un-
        terzeichnet, das umfassend und ausnahmslos sein soll.
        Nun wurde die deutsche Produktion von Streubomben
        beispielweise beim Waffenproduzenten DIEHL zur
        Punktzielmunition weiterentwickelt. Diese soll weiter-
        hin international verkauft und eingesetzt werden und
        darf nun nicht mehr Streumunition heißen. Dieser
        Schachzug der Neudefinition schließt Munition mit ge-
        ringerem Gewicht und kleinerer Sprengkörperzahl, mit
        höherer technischer Zuverlässigkeit und mit Zielerken-
        nungsvorrichtung aus dem Verbot aus.
        Die Bundesregierung hat diese Schlupflöcher im
        Oslo-Vertrag mit dem Druck der möglichen Nichtunter-
        zeichnung durchgesetzt. Gleichzeitig präsentiert sich die
        Bundesregierung als Vorreiter dieser internationalen Ab-
        rüstungsinitiative und lobt sich selbst für diesen „Mei-
        lenstein auf dem Weg der konventionellen Rüstungskon-
        trolle“ zum Schutz von Zivilisten. Das ist scheinheilig
        und eine Täuschung der Öffentlichkeit.
        Selbstverständlich ist das Oslo-Abkommen ein Rie-
        senschritt voran zur weltweiten Ächtung und Vernich-
        tung von Streumunition. Wir werden die Bundesregie-
        rung an ihre umfassenden Verpflichtungen erinnern, die
        sie mit der Unterzeichnung der Konvention zum Verbot
        von Streubomben eingegangen ist.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20957
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Linke ist gegen eine rechtliche Unterordnung die-
        ses Abkommens unter die Bündnisfähigkeit Deutsch-
        lands und die Durchführbarkeit gemeinsamer militäri-
        scher Einsätze mit Nichtunterzeichnerstaaten wie den
        USA. Die Linke fordert ein konsequentes und umfassen-
        des Verbot von Streumunition.
        Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Unterzeichnung des Oslo-Abkommens hätte es ver-
        dient, bei Tageslicht und vor vollem Hause gewürdigt zu
        werden. Denn heute ist ein guter Tag: ein guter Tag für
        die humanitäre Rüstungskontrolle und Abrüstung und
        ein guter Tag für den Bundestag. Wir würdigen heute
        hier die Tatsache, dass annähernd 100 Staaten gestern in
        Oslo ein Abkommen unterzeichnet haben, das das
        Potenzial hat, eine ähnlich positive Wirkung zu erzielen
        wie das Ottawa-Abkommen zu den Anti-Personen-Mi-
        nen. Das Verbot gilt ab sofort, kennt also keine Über-
        gangsfristen. Binnen 8 – spätestens 16 – Jahren sollen
        alle Bestände vernichtet sein. Das Abkommen sieht auch
        Regelungen für die Räumung von Blindgängern und die
        Opferhilfe vor. Mit dem Vertrag verpflichten sich die
        Unterzeichner, künftig auf Einsatz, Herstellung, Lage-
        rung und Im- oder Export sämtlicher Streumunition zu
        verzichten.
        Nichts ist perfekt, auch die Osloer Konvention nicht.
        Zu Recht wird kritisiert, dass die Hauptbesitzer dieser
        Waffen, wie USA, Russland oder Israel, dem Abkom-
        men nicht beigetreten seien. Wir hoffen aber und sind
        zuversichtlich, dass dieses Beispiel auch auf diese Staa-
        ten ausstrahlt und stigmatisierend wirkt. Ab heute kann
        kein Staat mehr Streuwaffen einsetzen, ohne dafür geta-
        delt und verurteilt zu werden – und das ist gut so.
        Es kann natürlich nicht sein, dass Deutschland seine
        Streumunitionsbestände abschafft, andere Staaten ihre
        aber in Deutschland weiter lagern. Und es kann auch
        nicht sein, dass Deutschland an Militärmissionen teil-
        nimmt, bei denen Bündnispartner – quasi in Arbeitstei-
        lung – diese Waffen zum Einsatz bringen. Dies muss die
        Bundesregierung im Rahmen des Ratifizierungsprozes-
        ses explizit klarstellen. Bündnisfähigkeit darf sich nicht
        danach bemessen, dass man ein Auge zudrückt, wenn
        andere Staaten Waffen einsetzen, die grausames Leid
        hervorrufen und die Zivilbevölkerung über Jahrzehnte
        hinweg terrorisieren. Nachdem 18 Nato- und 19 EU-
        Staaten die Vereinbarung unterstützen, muss die Bundes-
        regierung dafür Sorge tragen, dass der Nichteinsatz von
        Streumunition zum Konsens wird.
        Deutschland war – das ist richtig – im Streumuni-
        tionsbereich zum Teil Vorreiter. Aber es war Vorreiter
        auf dem falschen Pferd, der VN-Waffenkonvention. Und
        dieses Pferd ritt noch dazu in die falsche Richtung.
        Deutschland gehörte nicht zu den Kerngruppenstaaten
        des Oslo-Prozesses, sondern zu den Bremsern. Wenn der
        Außenminister nun von einem „Meilenstein in der Ge-
        schichte des Völkerrechts“ spricht, dann müssen wir hier
        festhalten, dass die Bundesregierung bis zuletzt zu den
        Staaten gehört hat, die versucht haben, in Dublin die
        Reichweite des Abkommens abzuschwächen. Schauen
        Sie sich die Presseberichte von damals an. Wir haben das
        heftig kritisiert und im Vorfeld der Dubliner Tagung im
        Mai hier einen Antrag eingebracht, der die Bundesregie-
        rung aufforderte, mit gutem Beispiel voranzugehen. Hät-
        ten sich Außenminister Steinmeier und Verteidigungs-
        minister Jung mit ihrer Position durchgesetzt, hätten wir
        heute ein verwässertes Abkommen, das eine umfassende
        völkerrechtliche Ächtung auf Jahre hinaus unwahr-
        scheinlich machen würde.
        Wenn es nun in der Presse heißt, Deutschland habe
        sich bereits 2006 zur Nichtanwendung dieser Munition
        und zur Vernichtung aller Bestände verpflichtet, dann
        stimmt genau das nicht. Im April 2006 hatten das Bun-
        desministerium der Verteidigung und das Auswärtige
        Amt eine 8-Punkte-Position zu Streumunition vorgelegt,
        die vorsah, lediglich jene Streumunition aus dem Be-
        stand zu nehmen, die eine größere Blindgängerrate als
        1 Prozent hat und keinen Selbstzerstörungsmechanismus
        besitzt. Das war ein politisches Doppelspiel und humani-
        täre Schönfärberei. Bei „zwingendem Erfordernis“ – so
        die Bundesregierung in der Beantwortung unserer Klei-
        nen Anfrage vom August 2006 – wollte die Bundes-
        regierung auch die Rakete M26 mit der Streumunition
        M77 einsetzen. Diese hat aber eine Blindgängerquote
        von bis zu 30 Prozent.
        An dieser Stelle muss die Rolle der Abgeordneten
        und des Parlaments zur Sprache kommen. Die Abgeord-
        neten der Regierungsfraktionen haben dem Treiben der
        Bundesregierung nicht nur tatenlos zugesehen, sondern
        das 8-Punkte-Programm im Herbst 2006 fast wortgetreu
        in Antragsform gegossen und hier ohne Aussprache ver-
        abschiedet. Eine eigene parlamentarische Handschrift
        war nicht zu erkennen. Kein Abgeordneter war bereit,
        den Antrag namentlich zu verantworten. De facto war
        der Antrag „Gefährliche Streumunition verbieten“ ein
        parlamentarisches Beglaubigungsschreiben zur Regie-
        rungspolitik. Mehr noch: Abgeordnete der SPD und der
        Union forderten vor zwei Jahren damit die Bundesregie-
        rung wortwörtlich auf, „den Einsatz von Streumunition
        dann vorzusehen, wenn geeignete alternative Munition
        nicht verfügbar ist“. Ich empfand das beschämend, be-
        schämend für alle Abgeordnete in diesem Haus. Dies ist
        das einzige mir bekannte Beispiel, in dem Abgeordnete
        die Regierung explizit autorisieren, bestimmte Waffen
        einzusetzen.
        Wenn ich nun davon spreche, dass der heutige Tag
        auch ein guter Tag für den Bundestag ist, dann deshalb,
        weil nun auch einige Abgeordnete der Regierungsfrak-
        tionen, namentlich der Kollege Weigel und der Kollege
        Freiherr zu Guttenberg, bereit waren, gemeinsam mit
        Nichtregierungsorganisationen wie dem Aktionsbünd-
        nis Landmine.de oder Handicap International – Deutsch-
        land auf die Bundesregierung einzuwirken; mit Erfolg.
        Weil ich weiß, wie mühselig es als Abgeordneter ist, die
        Regierung zu einem Umdenken zu bewegen, gebührt Ih-
        nen und Ihren Mitstreitern hier mein Dank und meine
        aufrichtige Anerkennung.
        Sie legen uns vonseiten der Koalitionsfraktionen
        heute einen Antrag vor, den wir über weite Strecken für
        gut und richtig halten. Lassen Sie uns gemeinsam dafür
        sorgen, dass die Bundesregierung dieses Abkommen zü-
        20958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        gig zur Ratifizierung vorlegt und Deutschland rasch
        streumunitionsfrei wird. Lassen Sie uns gemeinsam da-
        für sorgen, dass anderen Staaten bei der Räumung und
        Vernichtung sowie Opfern bei Fürsorge und Reintegra-
        tion geholfen wird. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir
        im Bundeswehrarsenal keine neuen Waffen beschaffen,
        die ähnlich verheerende Folgen wie Streumunition ver-
        ursachen.
        Ihr Antrag stimmt uns optimistisch, dass wir am sel-
        ben Strang und in dieselbe Richtung ziehen. Die Bünd-
        nisgrünen haben daher heute auf einen eigenen Antrag
        verzichtet. Wir stimmen dem Antrag der Koalitionsfrak-
        tionen zu.
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkom-
        men der Vereinten Nationen vom 13. Dezem-
        ber 2006 über die Rechte von Menschen mit
        Behinderungen sowie zu dem Fakultativpro-
        tokoll vom 13. Dezember 2006 zum Überein-
        kommen der Vereinten Nationen über die
        Rechte von Menschen mit Behinderungen
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Histori-
        sche Chance des VN-Übereinkommens über
        die Rechte von Menschen mit Behinderun-
        gen nutzen
        (Tagesordnungspunkt 23 a und b)
        Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich freue mich, dass wir
        heute das Gesetz zur UN-Konvention über die Rechte
        der Menschen mit Behinderungen verabschieden. Noch
        mehr freue ich mich darüber, dass wir die UN-Konven-
        tion ohne Vorbehalte und Interpretationserklärungen ver-
        abschieden. Manchmal sah es nicht so aus, als würde
        dieses Gesetz ohne weitere Probleme den Bundestag
        passieren. Ich hoffe, dass nun auch die Länder dem Ge-
        setz zustimmen.
        Mit der Ratifizierung der Konvention ist klar: Teil-
        habe für Menschen mit Behinderungen ist weder Ge-
        schenk noch Gnade. Man verdankt sie auch nicht der
        Fürsorge oder gar dem Mitleid der „Nicht-Behinderten“,
        sondern Teilhabe ist ein Menschenrecht. Ziel der CDU/
        CSU in der Politik für Menschen mit Behinderungen ist
        die umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderun-
        gen in der Gesellschaft. Im Vordergrund steht dabei die
        Schaffung gemeinsamer Lebenswelten von Menschen
        mit und ohne Behinderungen. Angefangen bei dem ge-
        meinsamen Besuch von Kindertagesstätten und Schulen
        über Ausbildung und Arbeitsleben bis hin zu Wohnen
        und Leben im Alter.
        Mit der Ratifizierung der UN-Konvention ist es un-
        sere Aufgabe, auch weiterhin dafür Sorge zu tragen, dass
        die begonnene gesellschaftliche Entwicklung – vom
        Prinzip der Fürsorge hin zur Teilhabe – fortgeführt wird.
        Dieses Übereinkommen ist nicht nur ein Meilenstein in
        der modernen Behindertenpolitik, sondern gleichzeitig
        auch Leitbild für unsere zukünftige Arbeit. Politische
        Entscheidungen auf Bundes-, Länder- oder Kommunal-
        ebene, die Menschen mit Behinderungen direkt oder in-
        direkt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-
        Konvention messen lassen.
        Unerlässlich ist bei der Umsetzung der UN-Konven-
        tion die Beteiligung der Betroffenen und ihrer Verbände.
        Das Motto „Nichts über uns, nichts ohne uns“ sollte
        keine hohle Phrase, sondern gelebte Realität sein.
        Ebenso wichtig ist mir die Bewusstseinsbildung der Öf-
        fentlichkeit, um die Ziele der UN-Konvention als Quer-
        schnittsaufgabe für die gesamte Gesellschaft bekannt zu
        machen.
        Einigen Grundsätzen der UN-Konvention wurde in
        der deutschen Gesetzgebung schon Rechnung getragen,
        aber in vielen Punkten bleibt die Lebenswirklichkeit von
        Menschen mit Behinderungen hinter den Zielen der UN-
        Konvention zurück. Deshalb dürfen wir nicht – zum Bei-
        spiel durch die Denkschrift der Bundesregierung – den
        Eindruck erwecken, dass in Deutschland schon alles er-
        reicht wäre, um Menschen mit Behinderungen eine um-
        fassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Ich
        sehe eine große politische Herausforderung darin, für die
        Umsetzung der Ziele der Konvention in allen Lebensbe-
        reichen dauerhaft Sorge zu tragen. Vor allem in den Be-
        reichen Barrierefreiheit, Arbeit und Bildung gibt es
        Handlungsbedarf.
        Die Weiterentwicklung einer barrierefreien Umwelt
        muss vorangetrieben werden. Infrastruktur, Fahrzeuge,
        Gebäude, Verkehrsmittel sowie alle Arten von Medien
        und Kommunikationstechniken müssen in Zukunft so
        gestaltet sein, dass sie für Menschen mit Behinderungen
        ohne weitere Schwierigkeiten und soweit wie möglich
        ohne die Hilfe Dritter nutzbar sind.
        Teilhabe am Arbeitsleben bleibt weiterhin ein wichti-
        ges Ziel in unserer Behindertenpolitik. Dabei setzen wir
        in erster Linie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Men-
        schen mit und ohne Behinderungen sollen auch hier mit-
        einander arbeiten und leben. Auch für Menschen, die
        jetzt in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten,
        suchen wir Alternativen. Mit dem Gesetz zur Unterstüt-
        zenden Beschäftigung haben wir bereits einen wichtigen
        Schritt getan. Darüber hinaus setzt sich die Union in die-
        sem Zusammenhang auch für das Persönliche Budget im
        Arbeitsleben ein.
        Es muss uns gemeinsam mit den Ländern gelingen,
        Kindern mit Behinderungen einen problemlosen Zugang
        zum Regelschulsystem zu ermöglichen. Art. 24 der Kon-
        vention fordert ein inklusives Bildungssystem. Davon
        sind wir heute – wie wir hier alle wissen – noch weit ent-
        fernt. In der Expertenanhörung wurde von mehreren
        Sachverständigen verdeutlicht, dass die Regelbeschu-
        lung Kindern mit Behinderungen in Deutschland sehr oft
        verwehrt wird.
        Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass in
        der deutschen Übersetzung der englische Begriff „inclu-
        sive education“ mit „integrativer Bildung“ übersetzt
        wurde. Inklusion und Integration können nicht gleich
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20959
        (A) (C)
        (B) (D)
        verwandt werden. Beide Begriffe meinen etwas sehr Un-
        terschiedliches. Aus diesem Grund haben wir gemein-
        sam mit der SPD einen Entschließungsantrag initiiert,
        der mit breiter Mehrheit im Ausschuss für Arbeit und
        Soziales angenommen wurde. Mit dem Antrag weisen
        wir explizit auf die Situation von Kindern mit Behinde-
        rungen im Bildungssystem hin und machen klar, dass im
        Sinne der UN-Konvention Handlungsbedarf besteht.
        Darüber hinaus fordern wir in dem Antrag, dass Schüle-
        rinnen und Schüler mit Behinderungen in den Fokus der
        nationalen Bildungsforschung gerückt werden. Bisher
        wird diese Schülergruppe nur am Rande von Studien un-
        tersucht. Wir benötigen jedoch aussagekräftige und ver-
        gleichbare Daten über die Entwicklungschancen und
        Bildungserfolge behinderter Kinder.
        Ich möchte heute noch mal auf einen weiteren Über-
        setzungsfehler in Art. 10 hinweisen. „Inherent right to
        life“ kann nicht mit „Angeborenes Recht auf Leben“
        übersetzt werden. Damit wird so getan, als ob Menschen
        erst ab der Geburt ein Recht auf Leben hätten. Vor allem
        im Hinblick auf die Spätabtreibung, bei der in der Praxis
        ungeborene Kinder fast immer aufgrund einer Behinde-
        rung bis zur Geburt getötet werden, ist es mir wichtig,
        dies hier noch mal deutlich zu machen.
        Wir alle wissen, dass die Konvention nur in den sechs
        amtlichen UN-Sprachen rechtsverbindlich ist. Da die
        deutsche Sprache nicht zu den offiziellen UN-Sprachen
        zählt, kann die deutsche Übersetzung auch nicht der
        Grundlagentext der zukünftigen Behindertenpolitik sein.
        Bei allen politischen Entscheidungen und gesellschaftli-
        chen Handlungen müssen wir auf die offiziellen Texte
        zurückgreifen. Und nur aus dem Originaltext des Über-
        einkommens lassen sich die Umsetzungsmaßnahmen ab-
        leiten.
        Mit der Ratifikation verpflichten wir uns gegenüber
        der Bevölkerung, aber auch gegenüber der internationa-
        len Gemeinschaft, die UN-Konvention einzuhalten und
        umzusetzen. Das heißt auch, dass jetzt die Arbeit erst
        richtig beginnt!
        Karin Evers-Meyer (SPD): Das Übereinkommen
        der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
        mit Behinderungen ist ein einmaliges und bahnbrechen-
        des Dokument. Die Grundstein für die besondere Quali-
        tät dieser Konvention wurde im Verhandlungsprozess
        bei den Vereinten Nationen gelegt: Behinderte Men-
        schen und ihre unmittelbaren Interessenvertretungen wa-
        ren zu jedem Zeitpunkt eng in die Verhandlungen einge-
        bunden. Der Grundsatz: „Nichts über uns, ohne uns“ hat
        in beispielhafter Weise Eingang in die Praxis gefunden.
        Damit wurden Beteiligungsstandards gesetzt, die auch in
        der nationalen Gesetzgebung weiterhin Beachtung fin-
        den müssen.
        Mit dieser Behindertenrechtskonvention werden erst-
        mals die Rechte für mehr als 600 Millionen Menschen
        mit Behinderung auf der ganzen Welt verbindlich festge-
        legt. Es ist eine Konvention über Menschenrechte. Es
        geht nicht um Spezialrechte für eine besondere Gruppe,
        sondern es geht um universelle Menschenrechte, die je-
        dem zustehen. Das Besondere dieser Behindertenrechts-
        konvention ist, dass diese universellen Menschenrechte
        aus einer besonderen Perspektive betrachtet werden,
        nämlich aus der Perspektive von Menschen mit Behinde-
        rung – mit ihren typischen Unrechtserfahrungen und ih-
        ren unterschiedlichen Lebenslagen. Die Festschreibung
        dieser menschenrechtlichen Sichtweise bestätigt den in
        Deutschland eingeleiteten Paradigmenwechsel in der
        Politik für behinderte Menschen. Nicht mehr die Für-
        sorge steht im Vordergrund. Wir beenden die Betrach-
        tung von Behinderung als Defizit. Es geht um Inklusion,
        um Integration von Beginn an. Es geht um die Chance
        auf volle Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben in der
        Gemeinschaft. Und schließlich geht es um Wertschät-
        zung.
        Dabei begnügt sich diese Konvention nicht mit
        abstrakten Grundsätzen. Es werden sehr konkret alle
        existenziellen Lebensbereiche von Menschen mit Behin-
        derung – im öffentlichen und privaten Raum gleicherma-
        ßen – benannt. Ich bedaure sehr, hier nur einige Schwer-
        punkte herausgreifen zu können: Ein wichtiger Punkt für
        mich und meine politische Arbeit ist der Bereich Bil-
        dung und Chancengleichheit. Ich sehe hier deutlichen
        Handlungsbedarf in Deutschland. Lassen Sie mich das
        nur mit ein paar Zahlen unterstreichen: Der Prozentsatz
        von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung, die ge-
        meinsam mit nicht behinderten Kindern eine Schule be-
        suchen, liegt in diesem Land, seit Jahrzehnten nahezu
        unverändert, bei rund 15 Prozent. In vielen unserer
        Nachbarländer liegt dieser Anteil bei weit über 60 Pro-
        zent. Mehr als die Hälfte der Kinder von Förderschulen
        verlassen diese ohne Abschluss und für eine noch höhere
        Zahl von Kindern führt der Weg im Anschluss an die
        Förderschule direkt in eine Werkstatt für behinderte
        Menschen. Hier muss die Frage nach Chancengleichheit
        endlich mit Nachdruck formuliert werden, und ich bin
        sehr froh über den Entschließungsantrag zu Art. 24 der
        Konvention, der unter anderem dazu auffordert, diesen
        Bereich zu einem festen Bestandteil nationaler Bildungs-
        studien zu machen.
        Ich bin der Überzeugung, dass wir eine inklusive Ge-
        sellschaft nur gestalten können, wenn wir von Beginn an
        konsequent einen Raum für Vielfalt schaffen – für Men-
        schen mit und ohne Behinderung. Die Konvention for-
        dert Vielfalt als Normalität menschlichen Lebens und
        Zusammenlebens, und sie verfolgt damit genau den von
        mir formulierten Ansatz. Das gilt natürlich in gleicher
        Weise für den Bereich der beruflichen Teilhabe, wo
        Deutschland dank des großen Engagements des Sozial-
        ministeriums wirklich intensiv mit guten Modellprojek-
        ten an einer teilhabeorientierten Weiterentwicklung
        arbeitet und nicht zuletzt mit der Unterstützten Beschäf-
        tigung auch bereits neue Wege in Gesetzesform gegos-
        sen hat.
        Zwei weitere wichtige Punkte, die auch unmittelbar
        zusammenhängen, sind die Schaffung eines barriere-
        freien Umfelds und eines personenzentrierten und damit
        individuellen und bedarfsgerechten Unterstützungssys-
        tems. Der demografische Wandel und die steigende Zahl
        von Menschen mit Behinderung machen einen konse-
        quenten Ausbau barrierefreier Wohn- und Dienstleis-
        tungsangebote zum Kern einer nachhaltigen Politik. Die
        20960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Nachfrage nach barrierefreien Wohn-, Freizeit- und
        Dienstleistungsangeboten wird weiter steigen. Immer
        mehr Menschen mit Behinderung wollen in den eigenen
        vier Wänden wohnen. Die Konvention bestätigt ihr
        Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung in allen
        Bereichen. Dafür benötigen sie jedoch nicht nur eine
        barrierefreie Wohnung und ein barrierefreies Wohnum-
        feld. Sie brauchen ein breites Angebot an Unterstüt-
        zungsleistungen, aus dem sie selbstbestimmt und be-
        darfsgerecht auswählen können. Das ist zwar heute nach
        Inkrafttreten des BGG und des SGB IX keine reine Vi-
        sion mehr – auf dem Weg dorthin ist aber noch sehr viel
        zu tun.
        Ich bin der Bundesregierung daher sehr dankbar für
        die Ankündigung, nach der Ratifikation der Konvention
        einen Aktionsplan auf der Grundlage der Behinderten-
        rechtskonvention zu erarbeiten – natürlich unter enger
        Einbeziehung behinderter Menschen und ihrer Interes-
        senvertretungen. Ich werde meinen Teil dazu beitragen
        und bereits in den ersten drei Monaten des kommenden
        Jahres in Fachkonferenzen mit behinderten Menschen in
        die notwenige Diskussion eintreten. Diese Konvention
        wird uns in allen Bereichen als Leitbild für eine moderne
        teilhabeorientierte Gesetzgebung auf nationaler Ebene
        dienen, und wir werden uns daran messen lassen müs-
        sen. Das Übereinkommen wird in Zukunft ein wichtiges
        Referenzdokument sein, auf dessen Grundlage neue Ent-
        wicklungen in der Behindertenpolitik angestoßen und
        beurteilt werden.
        Die Konvention der Vereinten Nationen entwirft ein
        inklusives Gesellschaftsbild und gibt uns eine konkrete
        Vorstellung davon, wie sich die Politik für behinderte
        Menschen entwickeln muss. Die Herausforderung liegt
        darin, die Lebenssituation behinderter Menschen vor
        dem Hintergrund des Übereinkommens zu verbessern,
        Handlungsfelder zu erkennen und dort, wo es notwendig
        ist, auch zu handeln. Diese Aufforderung zum Handeln
        richtet sich heute, einen Tag nach dem Welttag der Men-
        schen mit Behinderung und unmittelbar vor der Ratifika-
        tion der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Na-
        tionen, an alle gesellschaftlichen Akteure: an die Politik,
        an Gewerkschaften und Arbeitgeber, an alle anderen ge-
        sellschaftlichen Gruppen, an die Interessenvertretungen
        der Menschen mit Behinderung und natürlich an jeden
        Einzelnen. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft, in der
        jeder die Unterstützung erfährt, die er braucht, um
        selbstbestimmt zu leben, teilzuhaben und damit letztlich
        seine Menschenrechte ausüben zu können, erreichen wir
        nur, wenn wir uns in unseren Köpfen bewegen. Für die
        Bundesregierung kann ich sagen, dass sie dazu bereit ist.
        Für mich ist die Ratifikation dieser Behinderten-
        rechtskonvention ein Grund zum Feiern, weil sie ein
        Signal zum Weitermachen ist. Sie gibt mir und anderen,
        die sich für die Belange behinderter Menschen engagie-
        ren, Bestätigung für die zurückliegende Arbeit und Mut
        für die Zukunft.
        Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Es ist unser großes
        Anliegen, dass die UN-Konvention über die Rechte von
        Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag ra-
        tifiziert wird und die enthaltenen Ansprüche an die deut-
        sche Rechtsordnung auch umgesetzt werden. Das ist die
        Forderung, die wir aus der ganzen Bundesrepublik auf-
        nehmen und der wir uns nicht entziehen können, nicht
        entziehen wollen. Die Politik ist in der Pflicht, nicht nur
        einen schön klingenden Text zu beschließen, sondern
        auch substanzielle Verbesserungen für die weit mehr als
        8 Millionen Menschen mit Behinderung und ihre Fami-
        lien in Deutschland zu erreichen. Dazu gibt uns die Kon-
        vention die Richtung vor: mehr Chancengleichheit,
        wirksame Teilhabeleistungen, mehr Einbeziehung von
        Anfang an und personenzentrierte Leistungen zur Teil-
        habe am Arbeitsleben.
        Das Übereinkommen der Vereinten Nationen basiert
        auf den zentralen Menschenrechtsabkommen. Im Mittel-
        punkt steht die Lebenssituation von behinderten Men-
        schen und der Schutz ihrer Menschen- und Bürgerrechte.
        Erstmalig wird auf menschenrechtlicher Ebene festge-
        schrieben, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht
        auf gleichberechtigte Zugehörigkeit zur Gesellschaft ha-
        ben. In der Anhörung haben viele Sachverständige auf-
        gezeigt, welche Meilensteine Bundesregierung und Par-
        lament seit dem Jahr 2000 schon auf den Weg gebracht
        haben. Ich möchte Frau Professor Degener zitieren, die
        sich insbesondere zu den Interessen von Frauen und
        Mädchen mit Behinderung geäußert hat:
        Wir in Deutschland sind ja auf einem ganz guten
        Weg. Wir sind eines der wenigen Länder, die schon
        im SGB IX, aber auch im BGG erstmalig behin-
        derte Frauen und Mädchen jedenfalls in Gesetzes-
        texten erwähnt haben.
        Weiter führt sie aus:
        Es fehlt aber doch in vielerlei Hinsicht an der Um-
        setzung, insbesondere was das SGB IX anbelangt.
        Es reicht nicht aus, ins Gesetz zu schreiben, die In-
        teressen von behinderten Frauen und Mädchen sind
        zu berücksichtigen. Man muss auch konkrete Pro-
        gramme vorsehen.
        Diese Einschätzung steht exemplarisch für viele Teile
        unseres Rehabilitationsrechts. Damit gibt Frau Professor
        Degener aber auch der Hoffnung Ausdruck, dass die
        Konvention uns einen Schub hin zu einer konkreten Um-
        setzung der guten Gesetze gibt.
        Der Paradigmenwechsel ist eingeläutet: mit dem
        SGB IX, dem Behindertengleichstellungsgesetz und
        dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Von der
        rein medizinischen Sicht auf Behinderung und der staat-
        lichen Fürsorge für Menschen mit Behinderung sind wir
        zum Begriff der Teilhabe und der Selbstbestimmung als
        Ziel staatlichen Handelns für Menschen mit Behinde-
        rung gekommen. Alle gesetzlichen Beratungen seitdem
        haben wir nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“
        gestaltet. Das haben wir auch bei den Beratungen zur
        Konvention so gehalten. Von Anfang an wurden Men-
        schen mit Behinderung beteiligt. Die Konvention ist nun
        der nächste Schritt, wie es auch Frau Professor Degener
        zum Ausdruck brachte.
        Der Gesetzentwurf ist zumindest in drei Punkten strit-
        tig, auf die ich im Folgenden eingehen werde. Da ist zu-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20961
        (A) (C)
        (B) (D)
        nächst die Frage der Übersetzung, darüber hinaus die
        Bedeutung der Denkschrift und die Frage, ob und wo es
        gesetzlichen Handlungsbedarf gibt. Zur Übersetzung
        lässt sich sagen, dass ich mit der deutschen Übersetzung
        inhaltlich, wie wir alle hier, nicht zufrieden bin. Insbe-
        sondere der Ansatz der Inklusion in der Bildung, der nun
        wirklich einen gänzlich anderen Ansatz pädagogischer
        Arbeit beinhaltet, fehlt schmerzlich. Die SPD-Fraktion
        hätte sich insgesamt gewünscht, dass sich die Länder,
        insbesondere die von der Union geführten Länder, davon
        überzeugen lassen, dass die gemeinsame Beschulung
        weder quantitativ noch in der Qualität mit dem Inklu-
        sionsansatz übereinstimmt. Sie waren dazu nicht bereit,
        und die fachliche Einschätzung von Ländern wie Bayern
        hat maßgeblich zu der in Teilen falschen Übersetzung
        beigetragen. Das ist ein schlechtes Zeichen und steht
        Deutschland nicht gut an. Das haben wir in unserem Ent-
        schließungsantrag deutlich gemacht.
        Wir wissen es: Das deutsche Bildungssystem trennt
        Schülerinnen und Schüler nach ihrer Leistung. Das Er-
        gebnis sind 13 Prozent durchschnittliche Integrations-
        quote in Deutschland gegenüber 40 Prozent in Schles-
        wig-Holstein und 70 Prozent in Europa. PISA-Sieger
        wie Bayern erringen diesen Sieg auf Kosten der Kinder
        mit Behinderung, das muss einmal deutlich gesagt wer-
        den. Denn dort wird nicht gefragt, wie man die Schüler
        trotz unterschiedlicher Voraussetzungen zusammen un-
        terrichten kann. Die Entscheidung, ein Kind in die För-
        derschule zu schicken ist eine bürokratische Entschei-
        dung, auch gegen den Willen der Eltern.
        Wir wissen aber auch, dass gemeinsame Beschulung
        zu einem Zuwachs an Autonomie und sozialer Kompe-
        tenz der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung führt
        und damit auch zu besseren Voraussetzungen für ein
        selbstbestimmtes Leben. Frau Professor Schöler hat es
        dargestellt: Es wurde nachgewiesen, dass gemeinsame
        Beschulung nicht teurer ist als die gegenwärtige Finan-
        zierung der Sondersysteme. Im Gegenteil: Die Sonder-
        systeme sind teurer. Die Übersetzung enthält hier und an
        anderen Stellen fachlich falsche Inhalte. Ich bin sicher,
        dass wir den Ansatz der Inklusion auch ohne diese Über-
        setzung weiter vorantreiben, denn wir ratifizieren hier
        nicht die deutsche Übersetzung. Sie ist auch keine der
        sechs amtlichen bzw. „authentischen“ Übersetzungen
        der Konvention. Wir ratifizieren ein internationales Ab-
        kommen. Dieses Abkommen enthält ein Menschenrecht
        auf inklusive Bildung und verbietet jegliche Sondersys-
        teme und Sonderbehandlung. Das heißt, die deutsche
        Fassung, unabhängig davon ob im Gesetz eine „Amt-
        lichkeit“ festgestellt wird, ist keine authentische Sprach-
        fassung. Maßgeblich im juristischen Streitfall ist daher
        die englische Fassung, die übrigens auch Teil des Geset-
        zes ist. Auch der Sachverständige Zinke vom Paritäti-
        schen hat gesagt, dass wichtig ist, welcher Text im
        Streitfall zählt und nicht, ob die Übersetzung als „amt-
        lich“ zu bezeichnen ist. Das möchte ich noch einmal ein-
        deutig festhalten, denn die Konvention gewinnt aus sich
        selbst heraus Aussagekraft und nicht aus Übersetzungen,
        die mit ihrem Originaltext nicht gleichgestellt sind.
        Wir können uns jetzt auch keine Debatte darüber
        mehr leisten, wollen wir das Inkrafttreten zum 1. Januar
        2009 nicht gefährden. Die Denkschrift der Bundesregie-
        rung gibt den Umsetzungsstand nicht korrekt wieder,
        wenn sie die Praxis der Teilhabeleistungen verschweigt
        und wenn sie keinen Handlungsbedarf darstellt. Das
        SGB IX ist noch nicht richtig zur Entfaltung gekommen.
        Ich nenne da nur das Persönliche Budget, das Wunsch-
        und Wahlrecht oder auch die Servicestellen. Das SGB IX
        ist das einzige Gesetz, das noch nicht im Bewusstsein
        der Menschen angekommen ist. Die Konvention führt
        jedoch den Paradigmenwechsel fort, der mit dem
        SGB IX stattgefunden hat. Die Denkschrift hingegen ist
        die reine Willensbekundung der Bundesregierung; sie ist
        nicht maßgeblich für die Auslegung der Konvention.
        Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, und
        meine Fraktion setzt sich dafür ein, dass wir diesen Be-
        darf ab dem kommenden Jahr systematisch benennen
        und angehen. Staatssekretär Franz Thönnes hat es beim
        parlamentarischen Abend des Deutschen Behindertenra-
        tes anlässlich des Welttages der Menschen mit Behinde-
        rung deutlich gemacht: Es wird einen nationalen
        Aktionsplan geben. Insbesondere möchte ich den kon-
        kreten Handlungsbedarf benennen, der sich direkt aus
        den Artikeln des Konventionstextes ergibt. Der Art. 24
        fordert ein „inklusives Bildungssystem“.
        Die inklusive Bildung für alle ist Inhalt unseres Ent-
        schließungsantrages. Er umfasst weiterhin die statisti-
        sche Erfassung und Einbeziehung der inklusiven Bil-
        dung in die Berichterstattung des Bundes und der
        Länder. Durch die Studie soll deutlich gemacht werden,
        dass inklusive Bildung der richtige pädagogische und
        gesellschaftspolitische Ansatz für eine grundlegende
        Normalisierung der Wahrnehmung von ,,Behinderung“
        ist. Es ist uns schon lange bekannt, dass wir einen Be-
        wusstseinswandel brauchen, um das schrittweise Ende
        des Sondersystems in der Bildung zu erreichen. Die Län-
        der haben den Inklusionsbegriff mehrheitlich abgelehnt;
        es gibt aber auch fortschrittliche Länder wie Schleswig-
        Holstein mit bis zu 40 Prozent Inklusionsquote. Wir wer-
        den hier weiter mit den Ländern um eine inklusive Bil-
        dungslandschaft kämpfen.
        Der Art. 12 fordert die „Gleiche Anerkennung vor
        dem Recht“ und eine Überprüfung der Praxis des Be-
        treuungsrechts. Herr Lachwitz von der Lebenshilfe hat
        in der Anhörung auf den Handlungsbedarf im Betreu-
        ungsrecht verwiesen. Obwohl hier keine Entmündi-
        gungsregelung besteht, ist die Praxis überprüfungswür-
        dig. In Deutschland wird seit 100 Jahren getrennt, ob
        jemand nach dem BGB geschäftsfähig ist oder nicht. In
        der Folge der §§ 104 und 105 BGB werden Verträge mit
        Menschen mit Behinderung für nichtig erklärt. Das ist
        Entmündigung, die der Art. 12 ganz klar abgelehnt.
        Auch Herr Professor Kruckenberg von der Aktion Psy-
        chisch Kranke und Herr Kaffenberger vom VdK haben
        das aufgezeigt. Die Unterbringungsgesetze und die
        Zwangsbehandlungen für psychisch Kranke müssen wir
        ebenso überprüfen wie die Anwendung dieser Gesetze.
        Der Art. 19 fordert die rechtliche Absicherung von
        „Unabhängiger Lebensführung und Einbeziehung in die
        Gemeinschaft“. Menschen mit Behinderung haben ein
        Recht auf selbstbestimmte und unabhängige Lebens-
        20962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        führung und dürfen nicht gezwungen werden, in einer
        bestimmten Wohnform zu leben. Gegen diesen An-
        spruch der Konvention verstößt das System der Teilha-
        beleistungen in Deutschland, weil es die freie Wahl ein-
        schränkt und Menschen mit Behinderung zumeist aus
        Kostengründen in bestimmte Wohnformen zwingt. Der
        Kostenvorbehalt des § 13 SGB XII schränkt noch immer
        das Wunsch- und Wahlrecht des SGB IX durch die Über-
        prüfung der Kosten und der Zumutbarkeit einer ambu-
        lanten Maßnahme ein. Herr Lachwitz hat das so ausge-
        drückt: „Wenn man den Artikel 19 … richtig liest, dann
        muss diese Prüfung ganz entfallen. Dann zählt aus-
        schließlich das Wunsch- und Wahlrecht des behinderten
        Menschen.“
        „… die Konvention weist uns hier ganz klar den Weg
        auf den Menschen, auf seine Wahlmöglichkeiten, auf
        sein Recht, mitten in der Gemeinde leben zu können und
        auch personenbezogen zu denken. Wir müssen weg
        kommen von institutionenbezogenen Hilfen, die … ein-
        fach nicht passgenau sind.“, sagte Ottmar Miles-Paul
        dazu in der Anhörung.
        In der Reform der Eingliederungshilfe muss es einen
        Paradigmenwechsel geben, der dem Art. 19 Rechnung
        trägt. Auch die Fortentwicklung des Pflegebedürftig-
        keitsbegriffs spielt eine große Rolle für die Anwendbar-
        keit dieser Konvention. Denn auch für pflegebedürftige
        Menschen, die von der Definition des § 2 SGB IX um-
        fasst sind, gibt es meist keine freie Wahl des Wohnortes.
        Der Art. 29 gibt uns auf, die „Teilhabe am politischen
        und öffentlichen Leben“ sicherzustellen. Deutschland
        verpflichtet sich mit der Ratifizierung, ein Umfeld zu
        schaffen, in dem Menschen mit Behinderung gleichbe-
        rechtigt mit anderen an der Gestaltung öffentlicher Auf-
        gaben mitwirken können. Hier kommt es besonders auf
        die Barrierefreiheit unserer Politikziele und unserer
        Sprache an.
        Menschen mit Behinderung müssen verständlich über
        Politik und vor allem über ihre Rechte informiert wer-
        den. Sie müssen einbezogen werden.
        Der Art. 6 legt besonderen Fokus auf die Rechte von
        „Frauen mit Behinderung“. Aus ihm geht hervor, dass
        auf Mehrfachdiskriminierungen das besondere Augen-
        merk der Konvention liegt. Professor Degener sagte, wir
        sind auf einem ganz guten Weg in Deutschland, diese
        Mehrfachdiskriminierungen abzubauen. Trotzdem: Frauen
        mit Behinderung sind mehrfacher Diskriminierung aus-
        gesetzt und bedürfen unserer besonderen Aufmerksam-
        keit. Sie werden wegen ihrer Behinderung und wegen ih-
        res Geschlechts ausgegrenzt und können ihren Anspruch
        auf geschlechtsspezifische Pflege im Krankenhaus und
        in Pflegeeinrichtungen bisher nicht durchsetzen. Sie
        müssen nun durch besondere Programme zum Empo-
        werment gefördert werden. Wir brauchen auch Elternas-
        sistenz, damit Eltern mit Behinderung ihrem Erzie-
        hungsauftrag gleichberechtigt nachkommen können.
        Art. 27 mit dem Titel „Arbeit und Beschäftigung“
        mahnt uns, barrierefreie Arbeitsplätze und eine perso-
        nenzentrierte Teilhabe am Arbeitsleben zu organisieren.
        Wir wollen einen durchlässigen Arbeitsmarkt und die
        Einbindung der bestehenden Anbieter wie Werkstätten
        und BBWs, BfWs in den Veränderungsprozess. Die Un-
        terstützte Beschäftigung kann nur der Anfang gewesen
        sein. Wir brauchen mehr personenbezogene Unterstüt-
        zung, mehr Barrierefreiheit und einen Bewusstseinswan-
        del auch bei den Unternehmen. Diesen Wandel können
        wir nicht per Gesetz verordnen. Wir können uns aber an
        der Konvention orientieren und entsprechende Maßnah-
        men für mehr Chancengleichheit, gute Arbeitsbedingun-
        gen und gerechten Lohn schaffen. Dafür setzen wir uns
        als SPD-Fraktion ein. Wir müssen ganz vorn ansetzen
        und das gemeinsame Lernen von Anfang an – die Inklu-
        sion – aktiv fördern, wenn wir später die Teilhabe am
        Arbeitsleben in der freien Wirtschaft effektiv stärken
        wollen.
        Dazu hat der hochverehrte ehemalige Bundespräsi-
        dent Richard von Weizsäcker richtig gesagt: „Was man
        erst nicht trennt, braucht man später nicht zu integrie-
        ren.“ Normalität im Umgang setzt voraus, dass sie einem
        vorgelebt wird. Wir reden hier immer über die Beziehun-
        gen zwischen Menschen – da muss der Bewusstseins-
        wandel ansetzen. Damit das Schubladendenken über
        Menschen mit Behinderung in unserem Land langsam
        aufhört, muss Inklusion für alle gelten.
        Wie es der bekannte Vorkämpfer für die Inklusion aus
        Halle, Professor Dr. Georg Theunissen, formuliert hat:
        „Folgerichtig geht es unter der Leitidee der Inklusion
        nicht etwa um eine bloße Eingliederung … behinderter
        Menschen in die Gesellschaft, auch nicht um eine Nor-
        malisierung durch eine Anpassung behinderter Men-
        schen an normale Lebensstandards nichtbehinderter
        Menschen, sondern um die Umgestaltung der Umwelt
        im Sinne einer inklusiven Gesellschaft, die die Bürger-
        rechte aller ihrer Bürger(innen) respektiert und zu reali-
        sieren hilft.“ Es ist unsere erste Aufgabe, das gesamte
        System der Rehabilitationsleistungen auf den Prüfstand
        zu stellen.
        Wir müssen ein Gesetz schaffen, das Teilhabeleistun-
        gen einkommens- und vermögensunabhängig, personen-
        zentriert und barrierefrei zur Verfügung stellt. Daher
        bleibt es mein Ziel, das SGB IX zum Leistungsgesetz
        weiterzuentwickeln. Über Fragen der Kostenbeteiligung
        von Bund und Ländern, der Zuständigkeiten und der
        Vereinheitlichung der Leistungsansprüche müsste im
        Vorfeld zu einem Gesetzgebungsverfahren ausgiebig
        diskutiert werden.
        Die in der Konvention vorgesehenen „focal points“
        müssen nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern
        entstehen, damit die Umsetzung auf allen staatlichen
        Ebenen und in allen Politikfeldern effektiv vernetzt und
        koordiniert wird. Die bestehenden und aufzubauenden
        Kompetenzzentren des Bundes müssen eingebunden
        werden. Eines ist klar: Das Leistungsrecht der Teilhabe
        und Rehabilitation kann nicht so bleiben, wie es ist, da
        die fortschrittlichen Prinzipien des SGB IX bisher weit-
        gehend unbeachtet bleiben. Wir brauchen auch umfas-
        sende Barrierefreiheit, damit alle Menschen gleichbe-
        rechtigt selbstbestimmte Teilhabe verwirklichen können.
        Dieser Anspruch zieht sich durch die Konvention wie
        ein roter Faden.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20963
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich bitte Sie alle, wie im Ausschuss dieses Gesetz und
        den Entschließungsantrag der Koalition zu unterstützen
        und mit uns gemeinsam im kommenden Jahr sehr klar
        den Umsetzungsbedarf zu diskutieren und zu formulie-
        ren, damit in der neuen Legislatur begonnen werden
        kann.
        Erwin Lotter (FDP): Wir ratifizieren heute die VN-
        Konvention über die Rechte behinderter Menschen. Die
        FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Konvention aus-
        drücklich und stimmt der Ratifizierung zu. Die Ziele der
        Konvention finden unsere volle Unterstützung, denn sie
        entsprechen unserem liberalen Menschen- und Gesell-
        schaftsbild: Behinderung wird als Normalität des Lebens
        begriffen. Nicht die Behinderten müssen sich der Le-
        benswelt der Nichtbehinderten anpassen, sondern die
        Lebenswelt muss so gestaltet werden, dass alle an ihr in
        vollem Umfang gleichberechtigt teilhaben können, ob
        mit oder ohne Behinderung.
        Dennoch ist heute beim besten Willen kein Tag unge-
        trübter Freude. Zu groß sind die Fehler, die die Bun-
        desregierung und die sie tragenden Fraktionen im Rati-
        fizierungsprozess gemacht haben. Trotz monatelanger
        Diskussionen und zahlreicher Interventionen von Fach-
        verbänden haben sie eine Übersetzung des englischen
        Konventionstextes ins Deutsche angefertigt, die nicht
        nur fehlerhaft ist, sondern vor allem die Konvention den
        eingefahrenen Gepflogenheiten deutscher Behinderten-
        politik sprachlich anpasst. Große Teile des dem Ur-
        sprungstext innewohnenden Innovationspotenzials ge-
        hen bereits mit der Übersetzung verloren.
        Ähnlich schwer wiegt die von CDU/CSU und SPD im
        Vorfeld der Ratifizierung verweigerte Diskussion über
        Handlungsbedarfe für Bund, Länder und Kommunen,
        die aus der Konvention resultieren dürften.
        Die Konvention steht in mehreren Bereichen in einem
        deutlichen Spannungsverhältnis zu geltendem Recht in
        Deutschland. Vor allem bei der inklusiven Beschulung
        behinderter Kinder sind wir in den Ländern gesetzgebe-
        risch weit entfernt vom Anspruch der Konvention. Aber
        auch im Bund sind wir in vielen Punkten noch weit vom
        Anspruch der Konvention entfernt. Die Experten haben
        in der Ausschussanhörung eine gänzlich andere Realität
        der Hilfe- und Unterstützungssysteme beschrieben, als
        die Bundesregierung das in ihrer Denkschrift darstellt.
        Auch hier besteht zunächst ein sorgfältiger Prüf- und an-
        schließend auch Handlungsbedarf. Wir sind der Konven-
        tion in Deutschland nicht so weit voraus, wie Sie, meine
        Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, das
        gerne hätten. An Ihr gebrochenes Koalitionsversprechen
        muss ich Sie bestimmt nicht erinnern; sicher ist Ihnen
        noch sehr präsent, dass Sie angekündigt hatten, die Ein-
        gliederungshilfe grundlegend weiterzuentwickeln.
        Ich gehe kurz auf die zahlreich vorliegenden Ent-
        schließungs- und Änderungsanträge zur Ratifizierung
        der Konvention ein. In einem eigenständigen Antrag
        stellen die Grünen zu Recht zahlreiche Mängel des Rati-
        fizierungsverfahrens und der amtlichen Übersetzung
        fest; wir sind uns da in vielen Punkten einig. Sie verbin-
        den dies aber gleich wieder mit Ihrem Lieblingsthema
        Antidiskriminierung und fordern, dass Deutschland zur
        Spitze der europäischen Antidiskriminierungsbewegung
        werden soll. Da wir wissen, dass Sie von den Grünen un-
        ter Antidiskriminierung vor allem mehr und neue Büro-
        kratie verstehen und nicht einkalkulieren, dass sich viele
        gut gemeinte Schutzgesetze für Behinderte letztlich als
        nachteilig für diese Menschen herausgestellt haben, kön-
        nen wir Ihrem Antrag nicht zustimmen, sondern enthal-
        ten uns der Stimme.
        Das gleiche Votum gilt für den Änderungsantrag der
        Linken, in dem die Streichung des Begriffes „Amtlich“
        als Charakteristikum der deutschen Übersetzung gefor-
        dert wird: Wir glauben nicht, dass dadurch mehr Rechts-
        sicherheit bei der Auslegung der Konvention durch Ge-
        richte geschaffen wird. Deshalb enthalten wir uns auch
        hier der Stimme.
        Ablehnen müssen wir den Entschließungsantrag der
        Linken: Zwar sind – wie bei den Grünen – auch hier
        viele richtige Einschätzungen enthalten, Sie schießen
        aber über das Ziel hinaus. Wir sind weder der Auffas-
        sung, dass der Diskriminierungsschutz in Deutschland
        ungenügend ist, noch müssen wir die Zuständigkeiten
        zwischen Bund und Ländern zugunsten von mehr Zen-
        tralismus ändern, um den Ansprüchen behinderter Men-
        schen gerecht zu werden. Das können die Länder auch
        gut in ihrer Zuständigkeit bewältigen.
        Etwas genauer möchte ich aber auf den Entschlie-
        ßungsantrag von CDU/CSU und SPD eingehen. Meine
        Damen und Herren der Regierungskoalition, seit über
        eineinhalb Jahren informieren Sie Betroffene und Fach-
        verbände darüber, dass zwischen der deutschen Realität
        und der Intention der VN-Konvention ein Graben
        herrscht, über den man eine Brücke bauen muss. Sie
        selbst hatten eineinhalb Jahre Zeit, diesen Graben auszu-
        messen und die Brücke zu planen. Das einzige aber, was
        Sie in den vergangenen 18 Monaten in dieser Angele-
        genheit unternommen haben, war gebetsmühlenartig zu
        wiederholen, es gebe keinen Handlungsbedarf. Gestern,
        einen Tag vor der Ratifizierung, entdeckten auch Sie von
        Schwarz und Rot endlich den durchaus vorhandenen
        Handlungsbedarf in der Behindertenpolitik. Einen Tag
        vor der Ratifizierung erkennen Sie auf einmal, dass die
        Vertragsstaaten mit der Ratifizierung sicherstellen müs-
        sen, dass ein inklusives Bildungssystem angeboten wird.
        Wer jetzt jedoch erwartet, dass Sie sich von CDU/
        CSU und SPD jetzt zu einem Handlungsauftrag an die
        Länder, die Kultusministerkonferenz oder die Sozial-
        ministerkonferenz durchringen, der wird doch mehr als
        überrascht, ja enttäuscht sein. Sie wollen langwierige
        Prüf- und Forschungsaufträge zur Chancengleichheit
        von behinderten Kindern im Bildungssystem vergeben,
        anstatt besser heute als morgen den Kontakt mit den
        Ländern aufzunehmen, um die tatsächliche Umsetzung
        der Konvention in Gang zu bringen. Ist das wirklich al-
        les, was Ihnen zur Umsetzung der Konvention einfällt?
        Ich befürchte ja, und deshalb werden wir Liberalen Ih-
        rem Antrag auch nicht zustimmen, sondern uns enthal-
        ten.
        Ich werde in Kürze meine Kolleginnen und Kollegen
        in den FDP-Landtagsfraktionen ansprechen und bitten,
        20964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        sich mit den Herausforderungen der VN-Konvention in-
        tensiv zu befassen. Ich würde mich freuen, wenn meine
        Kolleginnen und Kollegen in den übrigen Fraktionen des
        Deutschen Bundestages Gleiches täten. Unterstützen Sie
        unseren Entschließungsantrag und tragen Sie mit dazu
        bei, dass die Konvention in Deutschland zu einem Be-
        wusstseinswandel und zu einer Veränderung des Alltags
        behinderter Menschen hin zu uneingeschränkter Teil-
        habe führt!
        Dr. llja Seifert (DIE LINKE): Die UN-Konvention
        über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist
        ein großer Wurf. Wenn diese erste Menschenrechtskon-
        vention des 21. Jahrhunderts ihre Wirkung voll entfaltet,
        verändert das nicht nur das Leben von 600 Millionen
        Menschen mit Behinderungen auf der Welt und über
        acht Millionen Menschen mit Behinderungen in
        Deutschland, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen
        und die Lebenssituation von uns allen, auch von Ihnen,
        meine Damen und Herren. Daran ändern weder die
        kleinlichen Versuche der Bundesregierung, die Konven-
        tion durch eine inadäquate Übersetzung und eine wirk-
        lichkeitsfremde Denkschrift abzuschwächen, noch die
        ebenso peinliche Platzierung der Beratungen im Bundes-
        tag zu mitternächtlicher Stunde durch die Koalitions-
        fraktionen etwas. Bezeichnend bleibt die Art und Weise
        der Ratifizierung der UN-Konvention in unserem Land.
        Für mich war die Erarbeitung der Konvention unter akti-
        ver Mitwirkung der Betroffenen am UN-Hauptquartier
        in New York beispielhaft. Die Tatsache, dass die BRD zu
        den Erstunterzeichnern gehörte, hat mich sehr gefreut.
        Danach begann das fast zwei Jahre dauernde Trauer-
        spiel, dessen Ergebnis wir heute auf dem Tisch haben.
        Wenn dann mein geschätzter Kollege Hubert Hüppe,
        CDU, in einem Zeitungsinterview sagt: „Mir wäre Ge-
        nauigkeit lieber gewesen als Schnelligkeit. Viele Selbst-
        hilfeverbände haben darauf gedrängt, mit der Ratifika-
        tion unbedingt in diesem Jahr fertig zu werden … Ich
        selbst habe sowohl Probleme mit der deutschen Überset-
        zung wie auch mit der sogenannten Denkschrift der Bun-
        desregierung.“ Das ist schon sehr unverfroren. Nun
        schiebt er auch noch der Behindertenbewegung die
        Schuld für die skandalöse Übersetzung und Denkschrift
        in die Schuhe. Dabei ist die Ursache nicht die fehlende
        Zeit, sondern der mangelnde Wille in seiner Partei und
        bei seinem Koalitionspartner.
        Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Die UN-Kon-
        vention ist für uns, die Menschen mit Behinderungen,
        unsere Angehörigen und die selbstbestimmte Behinder-
        tenbewegung als Ganzes ein wichtiges Instrument im
        Kampf um unser Recht auf umfassende Teilhabe am Le-
        ben in der Gesellschaft und um die freie Entfaltung unse-
        rer Persönlichkeit. Sie, die Regierungen in Bund und
        Ländern, können uns die Handhabung vielleicht er-
        schweren, aber nicht verhindern. Und die Linke wird fest
        an der Seite der emanzipatorischen Behindertenbewe-
        gung stehen.
        Die Konvention mit ihren 50 Artikeln stellt praktisch
        alle Politikbereiche vor neue Herausforderungen. Ich
        greife hier beispielhaft nur vier heraus.
        In Art. 19 „Selbstbestimmt Leben und Einbeziehung
        in die Gemeinschaft“ heißt es im Punkt a): Die Vertrags-
        staaten gewährleisten, dass „Menschen mit Behinderun-
        gen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben,
        ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo
        und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in be-
        sonderen Wohnformen zu leben“. Dies fordert unter an-
        derem umfassende Veränderungen in der Wohnungspoli-
        tik, ebenso im Heimrecht und in der Heimpraxis. Auch
        muss barrierefreies Bauen in allen Bereichen zur Regel
        werden.
        Mit Art. 24 „Bildung“ haben die Vertragsstaaten unter
        anderem sicherzustellen, dass „Menschen mit Behinde-
        rungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemein-
        schaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven,
        hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grund-
        schulen und weiterführenden Schulen haben“, siehe
        Abs. 2 b. In Deutschland können derzeit gerade einmal
        15 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Behinde-
        rungen an Regelschulen lernen – 85 Prozent bleibt dies
        noch verwehrt.
        Mit Art. 32 „Internationale Zusammenarbeit“ sind die
        Staaten gefordert, dass die internationale Zusammenar-
        beit einschließlich internationaler Entwicklungspro-
        gramme Menschen mit Behinderungen einbezieht und
        sie die dazu erforderliche Barrierefreiheit schaffen. Und
        wenn man Art. 4 „Allgemeine Verpflichtungen“ ernst
        nimmt, darf es zum Beispiel kein Förderprogramm von
        Trägern der öffentlichen Gewalt mehr geben, welches
        nicht im Einklang mit der Konvention handelt. Öffent-
        lich geförderte Infrastrukturprojekte, kulturelle Aktivitä-
        ten oder Jugendaustausche, die nicht barrierefrei sind,
        darf es künftig nicht mehr geben.
        „Nichts über uns ohne uns“ – dieses Credo der Behin-
        dertenbewegung spiegelt sich ebenfalls in Art. 4 Abs. 3
        wider, in dem es heißt: „Bei der Ausarbeitung und Um-
        setzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzep-
        ten … bei … Entscheidungsprozessen in Fragen, die
        Menschen mit Behinderungen betreffen, führen die Ver-
        tragsstaaten mit den Menschen mit Behinderungen, ein-
        schließlich Kinder mit Behinderungen, über die sie ver-
        tretenden Organisationen enge Konsultationen und
        beziehen sie aktiv ein.“ Diese Verpflichtung zur aktiven
        Einbeziehung gilt für nahezu alle Politikfelder in Bund,
        Ländern und Kommunen.
        Bei der raschen Erarbeitung eines Umsetzungskon-
        zeptes der Konvention in das politische und praktische
        Alltagsleben könnte das gleich mal praktiziert werden.
        Erst gestern erklärten sich die im Deutschen Behinder-
        tenrat, DBR, zusammengeschlossenen Organisationen
        dazu abermals ausdrücklich bereit. Greifen Sie das An-
        gebot auf!
        Erstaunlich ist, wenn heute Vertreter aller Fraktionen
        und die gesamte Behindertenbewegung auf die gravie-
        renden Fehler der vorliegenden deutschen Übersetzung
        mit ihren inhaltlichen Auswirkungen verweisen und die
        Bundesregierung andererseits im Wissen um diese ihre
        Übersetzung mit dem Gesetz zur „amtlichen“ erklärt.
        Auf meine Anfrage erläutert sie am 11. November dann
        auch noch, dass sie „keinen Anlass für eine Modifikation
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20965
        (A) (C)
        (B) (D)
        des deutschen Textes“ sieht, Drucksache 16/10945. Des-
        wegen der Änderungsantrag der Linken, das Wort „amt-
        lich“ zu streichen. Damit gäbe der Bundestag ein Signal,
        dass zum Beispiel unter Einbeziehung der „Schatten-
        übersetzung“ von Netzwerk Art. 3 – ich verwende sie,
        auch in dieser Rede – diese Übersetzung noch einmal auf
        den Prüfstand kommt. Insofern werbe ich hier um Zu-
        stimmung von allen Fraktionen.
        Die Linke fordert mit ihrem heute auch zur Abstim-
        mung stehenden Entschließungsantrag Korrekturen an
        der vorliegenden Übersetzung, eine klare Distanzierung
        von der wirklichkeitsverfälschenden Denkschrift und
        vor allem ein Konzept zur Umsetzung der Konvention
        ins Bundes- und Länderrecht und ins reale Leben. Ähnli-
        che Forderungen finden sich auch in den Anträgen der
        Grünen und der Koalition – denen wir deswegen eben-
        falls zustimmen werden. Das betrifft auch den FDP-An-
        trag, wobei ich hier ausdrücklich Punkt 2 des Antrages
        widerspreche. Es ist eine Mär, wenn Sie behaupten, dass
        eine Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinde-
        rungen, zum Beispiel der Kündigungsschutz und Zusatz-
        urlaub im Arbeitsrecht, die Ursache für die doppelt so
        hohe Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen
        im Vergleich zu den „Schwerstmehrfachnormalen“
        seien. Allerdings geben sie damit auch ein klares Signal,
        was für ein elitäres Freiheitsideal und Menschenbild die
        FDP vertritt.
        Abschließend möchte ich mich namens der Linken
        sehr herzlich bei denen bedanken, die als Teil der selbst-
        bestimmten Behindertenbewegung maßgeblichen Anteil
        am Zustandekommen der Behindertenrechtskonvention
        haben. Stellvertretend nenne ich hier Professor Theresia
        Degener, Dr. Sigrid Arnade, Sabine Häfner und Klaus
        Lachwitz.
        Wenn man sich nur vor Augen hält, wie weit die Defi-
        nition von Behinderung in der UN-Konvention von der
        in einschlägigen deutschen Gesetzen entfernt ist, ahnt
        man die Größe der Aufgabe, die vor uns liegt, und die
        Kraft, die sich entfalten kann, wenn sie nur wirklich frei-
        gesetzt wird: „Das Verständnis von Behinderung (entwi-
        ckelt) sich ständig weiter und … Behinderung (entsteht)
        aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beein-
        trächtigungen und einstellungs- und umweltbedingten
        Barrieren …, die sie an der vollen und wirksamen Teil-
        habe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit an-
        deren an der Gesellschaft hindern.“ So heißt es in der
        Präambel, Punkt e. Sicher, mit der Ratifizierung der
        Konvention ist zunächst nur ein kleines Problem gelöst.
        Trotzdem haben wir heute einen Grund zum Feiern.
        Morgen beginnt der Kampf, um die Umsetzung der Kon-
        vention ins Alltagsleben.
        Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begrüßt das Überein-
        kommen der Vereinten Nationen über die Rechte von
        Menschen mit Behinderungen sowie das dazugehörige
        Fakultativprotokoll. Die Konvention der Vereinten Na-
        tionen erkennt das Recht von Menschen mit Behinderun-
        gen auf eine umfassende Teilhabe in allen Lebensberei-
        chen an. Das Dokument ist Ausdruck eines weltweiten
        Fortschritts in der Behindertenpolitik. Dennoch stellen
        wir fest: Auch wenn das deutsche Recht für Menschen
        mit Behinderungen im internationalen Vergleich in vie-
        len Bereichen keine schlechte Position einnimmt, steht
        die deutsche Rechtsordnung durch das Übereinkommen
        vor großen Herausforderungen. Die nun vorliegende
        deutsche Übersetzung des Übereinkommens sowie die
        dazugehörige Denkschrift der Bundesregierung stellen
        den Veränderungsbedarf im deutschen Recht infrage.
        Die Bundesregierung behindert damit die Weiterent-
        wicklung des Paradigmenwechsels in der Politik für
        Menschen mit Behinderungen, der in den letzten beiden
        Legislaturperioden eingeleitet wurde.
        Ganz besonders deutlich zeigt sich dies in den Berei-
        chen der Rechts- und Handlungsfähigkeit behinderter
        Menschen, der selbstbestimmten Teilhabe sowie dem
        Recht auf inklusive Bildung. So gibt es ganz offensicht-
        lich einen Konflikt zwischen dem in der Konvention be-
        schriebenen Recht auf gleiche Anerkennung als rechts-
        und handlungsfähige Person und dem bestehenden Kon-
        zept der rechtlichen Vertretung im deutschen Recht. Das
        Betreuungsrecht und die PsychKGs der Länder bedürfen
        einer dringenden Überarbeitung.
        Zudem erteilt die Konvention der räumlichen Tren-
        nung von behinderten und nichtbehinderten Menschen
        eine Absage. Die Denkschrift hingegen erwähnt zwar
        das Wunsch- und Wahlrecht, § 9 Abs. 1 SGB IX, bei der
        Entscheidung über Leistungen und bei der Ausführung
        von Leistungen zur Teilhabe. Was sie aber nicht benennt,
        ist der grundsätzliche Konflikt zwischen dem Vorrang
        der ambulanten Leistung und dem sogenannten Mehr-
        kostenvorbehalt, § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Letzterer
        beschränkt das Wunsch- und Wahlrecht, wenn eine sta-
        tionäre Leistung zumutbar ist und die ambulante unver-
        hältnismäßig teurer wäre.
        Außerdem ist das deutsche Bildungssystem bislang
        von der Idee und der Praxis der Aussonderung geprägt.
        Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
        Behinderungen verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur
        Errichtung eines in Bezug auf Schüler mit Behinderun-
        gen inklusiven Schulsystems, in dem der gemeinsame
        Unterricht von Schülerinnen mit und ohne Behinderun-
        gen der Regelfall ist. Die Bundesregierung übersetzt das
        Wort „inclusion“ fälschlicherweise mit „Integration“
        und engt den Begriff der inklusiven Beschulung in ihrer
        Denkschrift ein. Nach ihrer Auffassung sei „integrative
        Bildung“ nur möglich, „wenn dort die notwendige son-
        derpädagogische und auch sächliche Unterstützung so-
        wie die räumlichen Voraussetzungen gewährleistet“
        seien. Die abgestimmte deutsche Übersetzung der Kon-
        vention ist fehlerhaft. Exemplarisch für die Überset-
        zungsfehler gelten die Bereiche der Beschulung, des
        selbstbestimmten Lebens und der Barrierefreiheit.
        Die Konvention über die Rechte von Menschen mit
        Behinderungen fordert in ihrer Originalausfertigung ein
        Recht auf „inclusive education“, Art. 24. Die deutsch-
        sprachige Fassung spricht in diesem Zusammenhang von
        einem Recht auf „integrative Bildung“. Integration und
        Inklusion sind nicht als Synonyme anzusehen. Während
        Integration von einer Anpassung des behinderten Kindes
        20966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        an das bestehende Bildungssystem ausgeht, muss sich
        nach dem Inklusionskonzept das Bildungssystem an den
        Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren. In der in-
        ternationalen Menschenrechtsdebatte ist der Wandel
        vom Integrations- zum Inklusionskonzept schon lange
        vollzogen worden. So ist er etwa vom VN-Kinderrechts-
        ausschuss bereits im Jahr 1997 ausdrücklich beschrieben
        worden.
        Ebenso falsch ist die Übersetzung von „living inde-
        pendently“ als „unabhängige Lebensführung“ statt als
        „selbstbestimmt leben“. Der Begriff „Selbstbestim-
        mung“ kommt in der Übersetzung nicht ein einziges Mal
        vor. Auch der Begriff der „Barrierefreiheit“ wird nicht
        aufgenommen. „Accessibility“ wird durchgängig mit
        „Zugänglichkeit“ übersetzt.
        Die Denkschrift zum Übereinkommen über die
        Rechte von Menschen mit Behinderungen versäumt es,
        Zielkonflikte zwischen deutschem und internationalem
        Recht aufzuzeigen sowie Änderungsnotwendigkeiten
        vorzustellen. Zwar haben Denkschriften zu Vertragsge-
        setzen einen nur erläuternden Charakter und sind als
        reine Willensbekundung der Bundesregierung als dem
        vertragsschließenden Organ der Bundesrepublik anzuse-
        hen. Auch haben Denkschriften keine unmittelbare
        rechtliche Bedeutung. Dennoch ist nicht auszuschließen,
        dass sie wenigstens im Entscheidungsfindungsprozess
        eines gerichtlichen Verfahrens beeinflussenden Charak-
        ter haben.
        Fernab der inhaltlichen Fehler der Übersetzung und
        der Denkschrift wird die Ausgestaltung des Umset-
        zungsinstrumentariums wesentlich darüber entscheiden,
        wie die Vorgaben des Übereinkommens ins deutsche
        Recht umgesetzt werden. Die Konvention sieht vier In-
        strumente vor, um innerstaatliche Anpassungen und Ge-
        setzesänderungen vorzunehmen. Nach Art. 33 des Über-
        einkommens wird auf nationaler Ebene eine Stelle
        eingerichtet, die für die Förderung, den Schutz und die
        Überwachung des Übereinkommens zuständig ist. Nach
        Auskunft der Bundesregierung wird das Deutsche Insti-
        tut für Menschenrechte für diese Aufgaben mandatiert.
        Darüber hinaus sieht das Übereinkommen sogenannte
        Focal Points im Sinne von Verantwortungsträgern in der
        Bundesregierung und den Landesregierungen vor sowie
        Koordinationsmechanismen zum Austausch mit zivilge-
        sellschaftlichen Akteuren. Leider ist die deutsche Über-
        setzung des Übereinkommens auch in diesem Punkt
        nicht ganz korrekt, da die Übersetzung „Anlaufstelle“
        für „Focal Points“ die Frage der institutionellen Zuord-
        nung, das heißt, dass diese Stelle innerhalb der jeweili-
        gen Regierungen sein muss, umgeht. Neben dem Bun-
        desministerium für Arbeit und Soziales als Focal Point
        müssen diese Stellen auch in den jeweiligen Landes-
        regierungen eingerichtet werden. Der Koordinationsme-
        chanismus muss dazu dienen, Transparenz nach außen
        herzustellen und auf diesem Wege ein Forum für Aus-
        tausch und Diskussion mit der Zivilgesellschaft zu
        schaffen. Ein solcher Mechanismus wäre auch bei den
        Landesbehindertenbeauftragten denkbar. Art. 35 des
        Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten zu-
        dem, zwei Jahre nach der Ratifizierung einen Bericht
        über den Umsetzungsstand des Übereinkommens zu er-
        stellen und an den Ausschuss nach Art. 34 zu übermit-
        teln. Es sollte ein nationaler Aktionsplan entwickelt wer-
        den, der den Handlungsbedarf, der durch die Konvention
        entsteht, offenlegt sowie einen Fahrplan zur Umsetzung
        präsentiert.
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
        (Tagesordnungspunkt 33)
        Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Mit dem
        Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
        verfolgen wir das Ziel, zum Erreichen der energie- und
        klimapolitischen Ziele der Bundesregierung beizutragen.
        Dies erfolgt, indem der weitere Ausbau der Biokraft-
        stoffe ab dem Jahr 2015 stärker als bisher auf die Minde-
        rung der Treibhausgasemissionen ausgerichtet wird.
        Darüber hinaus beinhaltet das Gesetz weitere Maßnah-
        men. Es sind dies: Die gesetzliche Quote für Biokraft-
        stoffe wird für das Jahr 2009 von 6,25 Prozent auf
        5,25 Prozent abgesenkt. Für die Jahre 2010 bis 2014
        wird die Quote auf einer Höhe von 6,25 Prozent einge-
        froren. Für das Jahr 2011 ist eine Überprüfung der künf-
        tigen Quotenhöhen im Rahmen eines Berichts der Bun-
        desregierung an den Bundestag vorgesehen.
        Sofern bestimmte Anforderungen im Produktionsver-
        fahren erfüllt sind, die eine günstige Klimabilanz ge-
        währleisten, soll erstmals Biomethan auf die Ottokraft-
        stoff- und die Gesamtquote angerechnet werden können.
        Darüber hinaus soll die steuerliche Belastung von rei-
        nem Biodiesel außerhalb der Quote in den kommenden
        Jahren um jeweils 3 Cent pro Liter gegenüber der bishe-
        rigen gesetzlichen Regelung abgesenkt werden.
        Wie dem Gesetzentwurf zu entnehmen ist, erfolgt der
        Ausbau der zunehmenden Verwendung der Biokraft-
        stoffe langsamer als bisher geplant: Erst wenn Nachhal-
        tigkeitskriterien wirksam sind, ist sichergestellt, dass die
        Biomasse zur Verwendung als Kraftstoff nachhaltig er-
        zeugt wurde. Um Nutzungskonkurrenzen mit Nahrungs-
        und Futtermitteln zu vermeiden, wird durch eine Ver-
        schiebung der Quotenerhöhung Zeit gewonnen, um Bio-
        masse aus anderen Quellen zu gewinnen. Für eine Über-
        gangszeit bei der Beimischung von 10 Volumenprozent
        Ethanol zu Ottokraftstoffen spricht auch die Motorenun-
        verträglichkeit vieler Altfahrzeuge. Biokraftstoffe der
        zweiten Generation haben eine deutlich bessere Klima-
        bilanz als Biokraftstoffe der ersten Generation, stehen
        aber noch nicht in relevanten Mengen zur Verfügung.
        Ich freue mich, dass wir mit diesem Gesetzentwurf
        die Gelegenheit erhalten, über die weitere Ausgestaltung
        der Beimischung von Biokraftstoffen zu beraten, weil
        sie zur Energieversorgungssicherheit und zum Klima-
        schutz beitragen. Uns allen ist die zurückliegende Dis-
        kussion noch in guter Erinnerung: Sie war geprägt von
        Verunsicherung und der Sorge, ob der damalige Entwurf
        unseren Ansprüchen an die Nachhaltigkeitskriterien ent-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20967
        (A) (C)
        (B) (D)
        spricht. Minister Gabriel hat die Biosprit-Verordnung
        gestoppt, was – unter den damaligen Rahmenbedingun-
        gen – richtig war. Unser Anspruch heute ist, ein Gesetz
        auf den Weg zu bringen, welches eine positive Entwick-
        lung von Biokraftstoffen fördert und gleichzeitig der
        Sorge entgegentritt, dass ein nicht nachhaltiger Ausbau
        von Biokraftstoffen die weltweite Hungerkrise ver-
        schärft und die Zerstörung der Regenwälder vorantreibt.
        Eine wichtige Weichenstellung sehe ich in der Um-
        stellung der Biokraftstoffquoten von der energetischen
        Quote auf den Netto-Beitrag zur Treibhausgasverminde-
        rung ab 2015. Dabei werden die Treibhausgasemissio-
        nen bewertet, die bei der Herstellung der Biokraftstoffe
        entstehen. Damit wird nachhaltige Produktion zielge-
        richtet gefördert.
        Nicht nur im Zusammenhang mit dem heutigen Ge-
        setzentwurf wird allerdings die Frage der Nutzungskon-
        kurrenz immer wieder aufgeworfen. Der WBGU, der
        Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale
        Umweltveränderungen, hat vor wenigen Tagen betont,
        dass die „vorhandenen nachhaltigen Potenziale zur Ge-
        winnung von Energie aus Biomasse signifikant sind und
        genutzt werden sollten“. Ich will aber nicht verhehlen,
        dass der WBGU eine Einschränkung gemacht hat. Er
        sagt nämlich auch: „Die Ausschöpfung dieses Potenzials
        sollte allerdings nur dann vorangetrieben werden, wenn
        eine Gefährdung der Ernährungssicherheit sowie von
        Natur- und Klimaschutzzielen ausgeschlossen werden
        kann. Damit dies gelingt, müssen auf nationaler und in-
        ternationaler Ebene verpflichtende Nachhaltigkeitsstan-
        dards eingeführt werden.“ Dem stimme ich ausdrücklich
        zu.
        Ich will aber auch eine Lanze für den heimischen
        Raps brechen. Mit Biodiesel aus heimischem Raps lässt
        sich eine Minderung bei den Treibhausgasemissionen
        von 50 Prozent erreichen; zudem ist der Rapspressku-
        chen kein Abfall, sondern ein wichtiger Eiweißfutter-
        stoff, der Sojaimporte ersetzt.
        Es gibt aber auch ackerbauliche Gründe für den Raps-
        anbau. Er ist in der dreigliedrigen Fruchtfolge ein wich-
        tiges Element. Raps ist eine Pflanze, die gut zum Aufbau
        von Humus geeignet ist. Im Moment werden deutsch-
        landweit 12 Millionen Hektar Ackerfläche bestellt. Jähr-
        lich könnten in einer dreigliedrigen Fruchtfolge als
        Obergrenze 4 Millionen Hektar Raps angebaut werden,
        derzeit sind es rund 2 Millionen Hektar Raps. Dies sage
        ich deshalb, weil ich die Diskussion um Biokraftstoffe
        mit einiger Sorge betrachte.
        Der heimische Markt bei Reinkraftstoffen liegt am
        Boden. Schon heute haben wir beim Pflanzenöl eine Un-
        terkompensation, die sich mit der nächsten Stufe weiter
        verschärfen wird – deshalb müssen die weiteren Stufen
        der Besteuerung ausgesetzt werden. Zudem muss die
        Steuerfreiheit in der Landwirtschaft beibehalten werden,
        und Biomethan muss zukünftig ebenfalls steuerbefreit
        bleiben.
        Lassen Sie mich kurz auf E10 eingehen. Aus Gründen
        der Energieversorgungssicherheit und des Klimaschut-
        zes bleibt E10 eine wichtige Option. Voraussetzung ist
        aber die Sicherstellung einer nachhaltigen Produktion.
        Deshalb brauchen wir dringend die europäische Nach-
        haltigkeitsverordnung. Deutschland hat zudem ein bila-
        terales Abkommen mit Brasilien zur Sicherstellung
        nachhaltiger Biokraftstofflieferungen geschlossen.
        Deutschland benötigt derzeit 2,5 Millionen Tonnen an
        Bioethanol. 500 000 bis 700 000 Tonnen lassen sich
        durch heimische Produktion, die übrige Menge lässt sich
        durch Importe aus Brasilien decken. Das Abkommen mit
        Brasilien ist so ausgestaltet, dass den Befürchtungen der
        Nachhaltigkeit genüge getan ist.
        Apropos Nachhaltigkeitsverordnung: Wir hätten uns
        gewünscht, dass schon mit dem heutigen Entwurf eine
        Nachhaltigkeitsverordnung bzw. eine europäische Lö-
        sung hätte präsentiert werden können. Dass dies nicht
        der Fall ist, nehme ich zum Anlass, den Bundesumwelt-
        minister aufzufordern, sich dafür einzusetzen, dass so
        schnell wie möglich eine wirkungsvolle Nachhaltigkeits-
        verordnung auf europäischer Ebene vorgelegt werden
        kann. Erst wenn eine solche Nachhaltigkeitsverordnung
        vorliegt, wird die Unsicherheit über die zukünftige Ak-
        zeptanz von Biokraftstoffen beseitigt werden können.
        Erst dann wird es Planungssicherheit geben – und ich
        glaube, das ist, was sowohl Produzenten als auch Konsu-
        menten brauchen. Herr Minister, nutzen Sie deshalb Ih-
        ren Einfluss, erhöhen Sie den Druck in der EU und drän-
        gen Sie darauf, dass wir hier endlich Klarheit haben.
        Warum brauchen wir eine sinnvolle Strategie bei er-
        neuerbaren Energien? Stichwort Energieversorgungs-
        sicherheit: Große Teile der Erdöl- und Erdgasreserven
        liegen in politisch instabilen Regionen. Die fossilen
        Rohstoffe sind endlich. Stichwort Klimaschutz: Bei der
        Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle entsteht Koh-
        lendioxid, was die Gefährdung des Klimas durch den
        Treibhauseffekt erhöht. Dem kann durch die Nutzung
        von Biomasse abgeholfen werden: Durch die Nutzung
        von erneuerbaren Energien lag die CO2-Reduktion 2007
        bei insgesamt 115 Millionen Tonnen. Die Biomasse
        macht bei den Kraftstoffen nach Angaben aus dem Bun-
        desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
        braucherschutz immerhin 15 Millionen Tonnen reduzier-
        tes CO2 aus. Dies ist ein erheblicher Beitrag zur
        Minderung der Treibhausgasemissionen. Ich bin der fes-
        ten Überzeugung, dass das noch mehr werden kann. Die-
        ses Gesetz ist hierzu ein erster Schritt. Wir werden uns
        dafür einsetzen, dass auch die weiteren Schritte das Ziel
        eines Ausbaus von Biokraftstoffen unter Berücksichti-
        gung der Nachhaltigkeitskriterien verfolgen.
        Marko Mühlstein (SPD): Mit dem vorliegenden Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von
        Biokraftstoffen diskutieren wir über eine weitere wich-
        tige Säule des Integrierten Energie- und Klimapakets der
        Großen Koalition. Über kaum einen anderen Teil des
        Klimapakets haben wir so intensiv diskutiert wie über
        die Weiterentwicklung der Biokraftstoffstrategie. Ich
        denke, es ist uns gelungen, die verschiedenen Sichtwei-
        sen und Argumente zu einem guten Ganzen zusammen-
        zuführen.
        20968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Als Berichterstatter für Bioenergie der SPD-Fraktion
        begrüße ich besonders die Möglichkeit, dass zukünftig
        als Kraftstoff eingesetztes Biogas auf die Erfüllung der
        Quote angerechnet werden kann. Denn der Kraftstoff
        Biogas ist hocheffizient und klimafreundlich. So ist der
        Kraftstoffertrag pro Hektar Anbaufläche bei Biogas im
        Vergleich zu herkömmlichem Biodiesel um das Sechsfa-
        che höher.
        In den letzten Tagen haben uns viele Schreiben und
        Anrufe erreicht, die den vorliegenden Gesetzentwurf kri-
        tisieren, da durch ihn der Einsatz von nicht nachhaltig
        produziertem Palmöl gefördert würde. Hierzu ist klar zu
        sagen: Diese Behauptung ist nicht richtig. Vielmehr wird
        durch dieses Gesetz die Anrechnung von Palm- und So-
        jaöl auf die Quote so lange untersagt, bis eine Nachhal-
        tigkeitsverordnung in Kraft tritt. An dieser Regelung
        müssen wir ohne Einschränkungen festhalten. Zukünftig
        darf kein Quadratmeter Regenwald für Palmöl zum Ein-
        satz in deutschen Tanks gerodet werden.
        Damit dies auch langfristig gewährleistet werden
        kann, muss im Mittelpunkt der anstehenden Arbeiten die
        schnellstmögliche Umsetzung einer Nachhaltigkeitsver-
        ordnung stehen. Sobald die Kriterien für nachhaltige
        Biokraftstoffe von der Europäischen Union beschlossen
        werden, ist die Bundesregierung gefordert, diese Krite-
        rien schnell in nationales Recht umzusetzen. Nur so
        kann es gelingen, die Wiederauflage der teils abstrusen
        Debatte um Biokraftstoffe, wie sie im Frühjahr dieses
        Jahres geführt wurde, zu verhindern. Denn Palmöl- und
        Sojapflanzen werden nun einmal nicht in erster Linie für
        die Produktion von Biokraftstoffen angebaut, sondern
        zur Verwendung in anderen Bereichen. So werden über
        90 Prozent des nach Europa importierten Palmöls in der
        Lebensmittel- und Kosmetikindustrie eingesetzt. Das
        Sojaöl, welches energetisch genutzt wird, ist ein Abfall-
        produkt der Futtermittelherstellung für unsere deutschen
        und europäischen Nutztierhalter.
        Vor diesem Hintergrund sind globale Zertifizierungs-
        systeme für alle Agrarsektoren eine logische Konse-
        quenz. Hierfür wird die SPD in den nächsten Monaten
        und Jahren engagiert kämpfen.
        An dieser Stelle möchte ich noch auf zwei Punkte ein-
        gehen, über die aus Sicht der SPD-Fraktion im anstehen-
        den parlamentarischen Verfahren noch diskutiert werden
        muss. Wir haben in den letzten Monaten stets die Auf-
        fassung vertreten, dass die Steuerbefreiung für reinen
        Biodiesel, der im öffentlichen Personennahverkehr ein-
        schließlich des Schienennahverkehrs eingesetzt wird, ein
        wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen und zukunftsfä-
        higen Kraftstoffstrategie ist. Von dieser Maßnahme
        würden nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen
        profitieren, sondern auch die Landwirte und Biodiesel-
        produzenten vor Ort. Darüber hinaus wäre dies ein sinn-
        voller Beitrag zur Stärkung und zum Aufbau regionaler
        nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe.
        Des Weiteren müssen wir aus unserer Sicht die Frage
        der Zulassung des sogenannten Co-Processing intensiv
        erörtern. Hierbei handelt es sich um ein Verfahren, bei
        dem das Pflanzenöl gemeinsam mit dem fossilen Öl den
        Raffinerieprozess durchläuft. Nach Angaben des Mine-
        ralölwirtschaftsverbandes kämen aufgrund chemischer
        Eigenschaften für dieses Verfahren ausschließlich Palm-
        und Sojaöl zum Einsatz. Selbst wenn die Nachweismög-
        lichkeit für nachhaltig produziertes Palmöl besteht, ha-
        ben wir große Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Vor-
        habens. Denn ursprünglich sollte das Co-Processing
        dabei helfen, die jährlich steigenden Quoten zu erfüllen.
        Da aber die Quoten mit Inkrafttreten dieses Gesetzes ab
        2010 nicht mehr ansteigen sollen, ist die Begründung für
        die Zulassung dieses Prozesses obsolet.
        Ich denke, der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine
        gute Basis dar, um die Diskussion um die Förderung von
        Biokraftstoffen im Sinne aller Betroffenen zu einem gu-
        ten Ende zu bringen. Ich appelliere an die Kolleginnen
        und Kollegen aus der Union, gemeinsam mit uns nach
        den besten Lösungen zu suchen, und freue mich auf ei-
        nen konstruktiven Dialog – im Sinne des Klimaschutzes
        und einer nachhaltigen Energiepolitik.
        Michael Kauch (FDP): Der von der Bundesregie-
        rung vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung der Förde-
        rung von Biokraftstoffen ist nichts anderes als das Ein-
        geständnis einer gescheiterten Politik! Die von der
        Bundesregierung vorgesehene Beimischungsquote für
        Benzin ist verfehlt und muss zurückgenommen werden.
        Mittlerweile ist es hinreichend belegt, dass Unverträg-
        lichkeiten bei Motoren bestehen. Das hätte man auch
        vorher wissen können.
        Es freut mich, dass die Bundesregierung nunmehr
        endlich die von der FDP-Bundestagsfraktion von An-
        fang an geäußerte Kritik aufgreift, dass die Quotenerhö-
        hung angesichts fehlender Nachhaltigkeitszertifizierung
        in der Praxis falsch ist. Diese Quotenerhöhung würde
        nur zu einem weiteren Sog auf die globalen Ressourcen
        führen, der nichts anderes als eine Gefahr für die Regen-
        wälder und damit den globalen Klimaschutz bewirkt.
        Die Änderungen der Bundesregierungen gehen jedoch
        nicht weit genug. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert da-
        her die Bundesregierung auf, von einer Quotenerhöhung
        ganz abzusehen, solange die Nachhaltigkeitssysteme
        nicht in der Praxis international funktionieren. Ferner
        muss die Bundesregierung die Umsetzung eines schlüs-
        sigen Gesamtkonzepts im Sinne einer effizienten Förde-
        rung der Markteinführung und einer breiten Nutzung
        von Biomasse im Rahmen einer Strategie „weg von den
        fossilen Kraftstoffen“ in Deutschland gewährleisten.
        Studien zeigen, dass die Nutzung zur Verstromung meist
        effizienter ist als im Tank. Nur auf einem effizienten
        Weg wird die Abhängigkeit vom Import fossiler Ener-
        gieträger gemindert. Vor diesem Hintergrund müssen die
        bestehenden Beimischungsquoten auf dem heutigen
        Stand „eingefroren“ werden.
        Zudem fordert die FDP-Bundestagsfraktion die Wie-
        dereinführung der Steuervergünstigung von Rein-Bio-
        kraftstoffen. Ab 2010 soll statt der zwischenzeitlich zum
        Teil gestoppten Erhöhung der Beimischungsquote be-
        fristet wieder eine Steuervergünstigung eingeführt wer-
        den. Denn diese Steuervergünstigung hilft den reinen
        Biokraftstoffen, die meist aus heimischer und mittelstän-
        discher Produktion stammen, während angesichts der
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20969
        (A) (C)
        (B) (D)
        Strukturen auf dem Mineralölmarkt die bestehende Bei-
        mischungsquote einzig große Lieferanten und Import-
        biomasse begünstigt. Eine ausgewogene und nachhaltige
        Klimapolitik erfordert angesichts der vorhandenen Wirt-
        schaftskrise, dass auch die heimische und mittelständi-
        sche Wirtschaft gestärkt und gerade nicht geschwächt
        wird!
        Lassen Sie mich zum Schluss noch auf den Bereich
        der Elektromobilität zu sprechen kommen. Für eine be-
        zahlbare, energiesparende und klimaverträgliche Mobili-
        tät müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen
        werden. Den Weg weisen dafür die technischen Ent-
        wicklungspfade im Bereich der alternativen Antriebe.
        Die Elektromobilität bietet eine herausragende Chance,
        insbesondere für die effiziente Nutzung erneuerbarer
        Energien, weil Elektrofahrzeuge eine dezentrale Spei-
        chermöglichkeit für Strom aus fluktuierenden Quellen in
        Aussicht stellen.
        Gerade in Schwachlastzeiten, wenn es – beispiels-
        weise nachts – für Windstrom keine anderen Abnehmer
        gibt, könnten Elektroautos als Speicher zur Verfügung
        stehen. Ohnehin wird ein Privatfahrzeug durchschnitt-
        lich weniger als 2 von 24 Stunden des Tages bewegt. In
        der verbleibenden Zeit könnten mobile Hochleistungs-
        batterien der Fahrzeuge künftig als mobile Energiespei-
        cher in die Energieversorgung integriert werden. Nicht
        zuletzt eröffnet die Elektromobilität auch eine zusätzli-
        che Option, die Abhängigkeit vom Öl zu verringern.
        Vor diesem Hintergrund müssen die längerfristigen
        und grundsätzlichen Weichenstellungen beizeiten so
        vorgenommen werden, dass die Potenziale aller genann-
        ten technischen Entwicklungen von der Privatwirtschaft
        in den kommenden Jahren ungehindert genutzt und vo-
        rangebracht werden können. Dabei geht es um das Of-
        fenhalten technologischer Entwicklungspfade – auch mit
        der Unterstützung zukunftsweisender und verlässlicher
        politischer Signale!
        Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Die Biokraftstoffstra-
        tegie der Bundesregierung ist gescheitert. Die Zwangs-
        beimischung von Agrosprit zu mineralischem Benzin
        oder Diesel ist ein Irrweg zulasten des Naturhaushaltes
        und des Klimaschutzes. Ich fordere den Umweltminister
        deshalb auf, sein Scheitern in dieser Sache einzugeste-
        hen und das Gesetz samt Änderungsvorlage zurückzu-
        ziehen.
        Die Bundesregierung setzt mit ihrer angeblich „öko-
        logischen Industriepolitik“ selbstbewusst auf das falsche
        Pferd. Richtig wäre, eine nachhaltige Biomasseerzeu-
        gung und -nutzung zu fördern, die den Naturhaushalt
        nicht überfordert und für Wertschöpfung in der Region
        sorgt. Das schafft dann auch zukunftssichere Arbeits-
        plätze im ländlichen Raum.
        In Deutschland und Europa stehen für die Nutzung
        von Bioenergie nur begrenzte Anbauflächen zur Verfü-
        gung. Der Bundesumweltminister übersieht diese Tatsa-
        che, als gäbe es sie nicht. Überhöhte Ziele, gerade bei
        Biokraftstoffen, überfordern deshalb die Böden und ha-
        ben keinen Nutzen für den Klimaschutz. Sie führen zu
        ökologisch schädlichen Anbauweisen und zum massen-
        haften Import von Agroenergie. In den Ländern des Sü-
        dens sind Regenwaldzerstörung sowie Vertreibung von
        Kleinbäuerinnen und Kleinbauern die Folge. Eine inter-
        nationale Zertifizierung für Energiepflanzen ist nicht
        kontrollierbar und wird deshalb auch nicht greifen.
        In Deutschland selbst ist der massive Einsatz von
        Agrosprit ohnehin Unsinn, wenn die Wende in der Ver-
        kehrspolitik ausbleibt. Statt auf klimaschädlichen Pkw-
        und Schwerlastverkehr zu setzen, müssen ein nutzer-
        freundlicher öffentlicher Nahverkehr und eine attraktive
        Bahn in der Fläche geschaffen werden. Wer glaubt, er
        könne die Autobauer mit Bioalkohol beruhigen, ist auf
        dem Holzweg.
        Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein da: „Durch
        die Quotenvorgaben für Biokraftstoffe werden zum Teil
        sogar Bioenergiepfade gefördert, die zur Verschärfung
        des Klimawandels beitragen.“ Und: „Bioenergie darf
        nicht zu einer Gefährdung der Ernährungssicherheit füh-
        ren oder die Zerstörung von Regenwäldern oder anderen
        naturnahen Ökosystemen auslösen.“ Weiter: „Der Anbau
        einjähriger Energiepflanzen zur Produktion von Flüssig-
        kraftstoffen für den Verkehr ist zu wenig an den Zielen
        des Klimaschutzes ausgerichtet.“ Das sagt nicht irgend-
        wer, sondern das wichtigste Beratungsgremium der Bun-
        desregierung in Sachen Klimaschutz, der Wissenschaft-
        liche Beirat Globale Umweltveränderungen. Dieser sagt
        als Schlussfolgerung zum Biokraftstoffquotengesetz:
        „Der WBGU plädiert daher für einen raschen Ausstieg
        aus der Förderung von Biokraftstoffen im Verkehrsbe-
        reich.“
        Die Linke hat sich als einzige Fraktion im Bundestag
        von Anfang an gegen die Zwangsquote und – wenn
        überhaupt – für die gezielte Förderung von reinen Bio-
        kraftstoffen in dezentralen Strukturen ausgesprochen.
        Dabei sollte durch steuerliche Erleichterungen ein
        Marktvorteil zu mineralischen Produkten geschaffen
        werden. Und: Nur regionale, in sich geschlossene Kreis-
        läufe zur Herstellung und Verwendung von Biosprit dür-
        fen unterstützt werden. So macht der Pflanzentreibstoff
        für den Eigenbedarf in der Land- und Forstwirtschaft so-
        wie in Bus- und Speditionsflotten vor Ort Sinn. Haupt-
        sächlich setzen wir uns aber für eine Stärkung der um-
        weltverträglichen Biogasproduktion ein – und das ist der
        entscheidende Punkt. Denn hierbei ist je Hektar genutz-
        ter Biomasse der Energieertrag und somit auch der Kli-
        maschutzbeitrag am höchsten. Biogas kann sowohl für
        die gekoppelte Erzeugung von Strom und Wärme als
        auch in Fahrzeugen eingesetzt und ins Erdgasnetz einge-
        speist werden.
        Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, Sie wollen mit
        den Einnahmen aus dem Emissionshandel, der dem Kli-
        maschutz dienen soll, neue, riesige, klimaschädliche
        Kohlekraftwerke subventionieren. Dabei ist auch Ihnen
        klar, dass solche Energieverschwendungsanlagen den
        Ausbau effizienter und erneuerbarer Energien blockie-
        ren. Der Umweltminister will den massenhaften Anbau
        von Agrosprit fördern, obwohl er weiß, dass riesige Mo-
        nokulturen und zerstörte Regenwälder das Ergebnis sind.
        Er klaubt sich Agroenergien aus Schwellen- und
        20970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Entwicklungsländern wie Angola und Indonesien zu-
        sammen, um Mineralöl zu ersetzen. Dabei leiden diese
        Länder vielmehr unter der Teuerung des knappen Öls als
        Europa und Deutschland. Hierzulande wirft Herr Gabriel
        sich aber für die Pkw-Hersteller gegen wirksamen Kli-
        maschutz ins Zeug, damit die Autobauer auch weiterhin
        Spritschlucker produzieren können.
        Der sogenannte Umweltminister entwickelt sich zum
        größten CO2-Erzeuger in der Bundesrepublik. Er zerstört
        die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der internationalen
        Umweltpolitik und jagt die Klimaschutzziele durch den
        Schornstein. Schöne Bescherung!
        Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Bundesregierung ist mit ihrer Biokraftstoffstrategie ge-
        scheitert. Der Beitrag der Biokraftstoffe zur CO2-Einspa-
        rung sowie als Erdölersatz stagniert. Von den Ausbau-
        zielen, die noch vor einem Jahr verkündet wurden, ist
        nichts übrig geblieben. Die Biodieselindustrie pfeift aus
        den letzten Löchern, die Campa-Biodiesel in Ochsenfurt
        hat schon zum zweiten Mal Insolvenz angemeldet. Die
        Einlagen von vielen Bauern wurden vernichtet. Die
        Landwirte haben Millionen Euro ebenso verloren wie
        die Hoffnung auf eine Stärkung der ländlichen Räume
        über eine heimische Wertschöpfung. Noch mehr Hoff-
        nungen gingen verloren: Das Ethanolauto ist faktisch tot,
        die dezentralen Ölmühlen machen nach und nach Pleite,
        und die Ölmühlenbetreiber werden vom Umweltminister
        sogar als Bäuerlein verhöhnt. Ruiniert sind aber nicht
        nur viele Pioniere der Bioenergien, sondern mittlerweile
        sogar der Ruf der Biokraftstoffe. Die schwarz-rote Bun-
        desregierung hat es innerhalb von drei Jahren hinbekom-
        men, einen Hoffnungsträger zum Schreckgespenst zu
        machen.
        Ist die Bundesregierung mit dieser Katastrophenpoli-
        tik bereits zufrieden? Nein, sie setzt noch eins drauf. Die
        Steuern auf Biokraftstoffe sollen auch 2009 und in den
        Folgejahren weiter erhöht werden. Die Ausbauziele für
        die Biokraftstoffe werden zurückgenommen, und Palmöl
        aus dem Regenwald soll zukünftig die heimischen Pflan-
        zenöle ersetzen. Wer das nicht glaubt, sollte einmal ei-
        nen Blick in die Novelle des Biokraftstoffquotengesetzes
        werfen. Dort kann man diesen Zerstörungsplan für die
        Biokraftstoffe eins zu eins nachlesen.
        Fast schon fanatisch betreibt der Umweltminister
        seine Strategie, Pflanzenöle hiesiger Ölmühlen durch die
        Erzeugnisse der Mineralölkonzerne zu ersetzen: Hand in
        Hand mit dem Mineralölwirtschaftsverband packt Mi-
        nister Gabriel den Regenwald in den Tank. Das Mittel
        der Wahl ist die Cohydrierung, die Minister Gabriel ab
        2010 erlauben will. Bei der Cohydrierung werden die
        Raffinerien gleich in den Regenwald gesetzt und verar-
        beiten das dortige Palmöl. Gabriel hatte sich mit der
        Cohydrierung schon mal gegen die schwarz-roten Parla-
        mentarier und das verschlafene Landwirtschaftsministe-
        rium durchgesetzt. Dabei wurden aber so viele hand-
        werkliche Fehler begangen, dass die EU-Kommission
        schon wegen der erheblichen Formfehler die Verordnung
        nicht akzeptiert hatte.
        Bei jeder Gelegenheit macht sich der Minister der
        Großkonzerne über die mittelständischen Pflanzenöl-
        mühlenbesitzer lustig. „Big is beautiful“ lautet die De-
        vise Gabriels. Da wird der Umweltminister zum Interes-
        senvertreter der Mineralölwirtschaft. Und die Union
        schaut zu, wie die SPD den Mittelstand mit voller Ab-
        sicht gegen die Wand fährt. Das diesbezügliche Schwei-
        gen des Bauernverbandspräsidenten Sonnleitner lässt
        sich nur dadurch erklären, dass er vor allem Großkon-
        zernstrukturen unterstützt, anstatt seine Mitglieder aus
        der bäuerlichen Landwirtschaft.
        Mit ihrem breiten Versagen haben die Minister Gab-
        riel, Steinbrück, Glos und vormals Seehofer dazu beige-
        tragen, dass die Bioenergien heute in der Gesellschaft
        massiv an Akzeptanz verloren haben.
        Die schwarz-rote Koalition hat von Beginn an auf die
        Beimischung gesetzt und sich damit als Handlanger der
        Mineralölkonzerne betätigt, die aus der ganzen Welt bil-
        lige und oftmals auf Kosten von Mensch und Natur er-
        zeugte Biokraftstoffe importieren. Sie hat reine Pflan-
        zenöltreibstoffe mit einer jährlich wachsenden Steuer
        belegt und so die allermeisten Hersteller in Deutschland
        in den Ruin getrieben. Sie hat das Thema Nachhaltigkeit
        vernachlässigt und mit einem halbherzigen Verord-
        nungsentwurf auf die lange Bank geschoben. Sie hat
        sachkundige Hinweise darauf, dass einige Motoren die
        Biokraftstoffbeimischung nicht vertragen, ignoriert. Sie
        nimmt billigend in Kauf, dass die eiweißhaltigen Kop-
        pelprodukte heimischen Pflanzenöls für das Viehfutter
        nun wieder durch Soja aus Regenwaldplantagen ver-
        drängt werden.
        Wir sind davon überzeugt, dass bestehende Konflikte
        durch entschiedenes politisches Gegensteuern zu ent-
        schärfen sind. Aber dazu bedarf es weit mehr als des hier
        vorgelegten Gesetzentwurfs: Wir brauchen ökologische
        und soziale Leitplanken! Es muss der Grundsatz „Food
        first“ gelten, und es müssen umweltverträgliche Anbau-
        methoden umgesetzt werden, etwa der Anbau von Ener-
        giepflanzen auf degradierten Böden oder der Ausschluss
        von Gentechnik und von Naturzerstörung. Die zurzeit
        auf EU-Ebene diskutierten Nachhaltigkeitskriterien wer-
        den nicht ausreichen – wir brauchen zusätzlich bilaterale
        Zertifizierungs-Pilotprojekte, um möglichst rasch zu ei-
        nem weltweiten Zertifikat zu gelangen. Nicht nachhaltig
        erzeugte Bioenergien müssen vom deutschen und euro-
        päischen Markt ausgeschlossen werden.
        Auch die europäische Ebene hat bei den Nachhaltig-
        keitskriterien bislang versagt. Dringende nationale Ver-
        ordnungen werden gebremst, und die eigenen Vorschrif-
        ten verzögern sich. Zudem zeichnet sich bereits ab, dass
        auch die europäischen Vorgaben wichtige Nachhaltig-
        keitsaspekte unter anderem im sozialen Bereich vernach-
        lässigen.
        Ja, es ist richtig, auf die Elektromobilität zu setzen.
        Aber auch beim Thema Elektromobilität hat die Bundes-
        regierung bisher nur viel versprochen und nichts bewegt.
        Auf meine kürzliche Anfrage, welche Fördermaßnah-
        men es gibt, bekam ich die lapidare Antwort, dass es
        keine gebe, aber man sich für die Zukunft Gedanken ma-
        che. Wir können für die Elektromobilität nur hoffen,
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20971
        (A) (C)
        (B) (D)
        dass sich darüber in der Bundesregierung andere Men-
        schen Gedanken machen als über Biokraftstoffe. Pleiten,
        Unvermögen und Pannen können wir uns bei diesem
        zentralen Thema zukünftiger Mobilität nicht erlauben.
        Und es wäre grundverkehrt, die Biokraftstoffe aufzu-
        geben, nur weil man unter Schwarz-Rot zu unfähig war,
        die Chancen zu nutzen, die das Thema beinhaltet hatte
        und bei einer besseren Regierung weiter beinhalten
        würde.
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Freiheits- und Ein-
        heitsdenkmal gestalten (Zusatztagesordnungs-
        punkt 8)
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Das
        Denkmal für die Freiheit, für Bürgermut und Demokra-
        tie erhält jetzt Kontur. Der Weg für die Ausschreibung
        ist frei. 15 Millionen Euro sind beschlossen. In der
        Standortfrage haben Bundeskanzleramt und der Regie-
        rende Bürgermeister Einigkeit erzielt. In der Mitte der
        Hauptstadt wird der Standort sein, dem Stadtschloss ge-
        genüber, auf dem abgeräumten Sockel der Monarchie.
        Dem Militarismus wird dadurch eine endgültige Absage
        erteilt; da stimmen wir mit Professor Salomon Korn
        überein.
        Für Freiheit und Einheit wird dieses Denkmal stehen,
        wie sie vor 19 Jahren von couragierten Bürgerinnen und
        Bürgern mutig demonstriert wurde, wie sie seit gut
        200 Jahren auch ein wesentlicher Teil der Geschichte
        unseres Landes ist. Ob die Märzrevolution, die Vorgänge
        um die Gründung der Weimarer Republik vor 90 Jahren,
        die Schaffung des Grundgesetzes, der 17. Juni 1953 es
        waren: Die glückhaften Momente sowie die Opfer für
        die Freiheit gehören nicht in den Abstellraum unserer
        Geschichte; die Wiederaneignung unserer eigenen Ver-
        gangenheit in all ihren Facetten ist gefragt. Deshalb ist
        auch ein Informationsort notwendig, in räumlicher Nähe
        zum Denkmal. Hier kann mit Bilddokumenten, Filmen,
        Redeausschnitten und anderen zeitgemäßen Präsentatio-
        nen der Freiheitswille der Deutschen verdeutlicht wer-
        den, inhaltlich notwendig, historisch gerechtfertigt.
        Auch Europa muss vorkommen: Ungarn 1956, der Pra-
        ger Frühling 1968, die polnische Gewerkschaft Solidar-
        nośź und andere markante Freiheitsbekundungen.
        Für uns bleibt eindeutig: Das von den Menschen im
        Lande angenommene Holocaust-Mahnmal und die vie-
        len notwendigen Gedenkstätten in Berlin und der gesam-
        ten Republik garantieren: Ein Vergessen und Verdrängen
        der menschenverachtenden Diktaturvergangenheit wird
        es nicht geben, darf es nicht geben! Auch Leipzig als
        Stadt der Friedensgebete und Freiheitsdemonstrationen
        wird eine Würdigung erhalten. Bonn, der westdeutsche
        Beitrag, darf nicht vergessen werden. Über die Kon-
        zeption der neuen Denkmalinitiative wird öffentlich dis-
        kutiert werden, die Einbeziehung von Vertretern der
        Zivilgesellschaft ist gleichfalls Wille der drei Initiativ-
        fraktionen. Unser Land mit seiner überaus komplizierten
        Geschichte, aber auch die politisch Verantwortlichen
        werden sich einer intensiven Debatte zu stellen haben.
        Die Initiative der Deutschen Gesellschaft mit fast
        200 bundesweiten, öffentlichen Veranstaltungen zum
        Thema „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ ist begrüßens-
        und unterstützenswert. Wir wünschen uns eine breite
        Diskussion. Eine kontroverse Debatte hat es auch 2001
        gegeben, im Vorfeld einer Parlamentsentscheidung zur
        Denkmalinitiative damals für „Einheit und Freiheit“. Die
        vier maßgeblichen Ideengeber – Jürgen Engert, Lothar
        de Maizière, Florian Mausbach, Günter Nooke –, die alle
        der Deutschen Gesellschaft angehörten, erreichten, dass
        177 Abgeordnete sich für ein Berliner Denkmal ausspra-
        chen. Das Votum scheiterte entsprechend eines Vorschla-
        ges des Kulturausschusses an den Fraktionen von Sozial-
        demokraten und PDS. Die Zeit für ein Denkmal war
        offensichtlich noch nicht reif.
        Heute, sieben Jahre später, ist es wieder die Linke, die
        die „Freiheit“ blockiert, die sich der „Einheit“ ver-
        schließt; ganz anders die Sozialdemokraten, die jetzt
        offensiv die Idee verfolgen. Hier ist es besonders Profes-
        sor Richard Schröder, der auf eine umfassende Ge-
        schichtsaufarbeitung gedrungen hat, die positiven Mo-
        mente deutscher Vergangenheit nicht auszuklammern.
        Das Denkmal wird mehr sein als eine berechtigte Huldi-
        gung an den Herbst 1989, mehr als die Erinnerung an die
        herausragende Montagsdemonstration in Leipzig am
        9. Oktober 1989. Es soll den Wert der Volkssouveränität
        vermitteln, den der Verfassung, des Grundgesetzes. Es
        soll die über 200 Jahre alte Freiheitsgeschichte aufberei-
        ten, zwei Jahrhunderte auch demokratische Erfolge in
        Deutschland, zu einer differenzierten Geschichtsbetrach-
        tung beitragen. Es wäre fragwürdig, falsch und nicht fair
        gegenüber der jungen Generation unseres Landes, wenn
        sich diese allein mit der Diktaturgeschichte auseinander-
        setzen müsste. Die beiden nicht gleichzusetzenden tota-
        litären Diktaturen waren nicht unsere alleinige Vergan-
        genheit.
        Mut schöpfen aus Freiheitsbemühungen, sattelfest
        werden gegen politischen Extremismus, vorbildliche Zi-
        vilcourage erfahren, Demokratiestolz haben – das alles
        sollte Ziel politischer Jugendbildung sein. Ein Denkmal
        allein kann so etwas nicht leisten. Es kann aber dafür
        eine Signalfunktion einnehmen, ein Stachel im Fleisch
        demokratischer Selbstzufriedenheit sein. Und schließ-
        lich: Das Deutschlandbild der jährlich circa 7,6 Millio-
        nen in- und ausländischen Berlin-Touristen erhält die
        Chance einer Aufbereitung, weil beide Seiten unserer
        Geschichte aufgeblättert werden, die dunklen und die
        hellen, und zum Nachdenken anregen.
        Jetzt kann es grünes Licht für die Ausschreibung des
        Architektenwettbewerbes geben, sodass die Entwürfe
        2009 zum 20. Jahrestag des Mauerfalls bereits präsen-
        tiert und debattiert werden können. „Denk’ mal an Frei-
        heit, wenn du in Berlin bist!“ – so könnte das Leitmotiv
        lauten.
        Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Als sich am 3. Ok-
        tober 1990 die Einheit Deutschlands vollendete, konnte
        20972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        zugleich ein Kapitel deutscher Geschichte beendet wer-
        den, dessen Ausgangspunkt nicht schwärzer hätte begin-
        nen können. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten zwölf
        Jahre nationalsozialistischer Diktatur Europa an den Ab-
        grund geführt. Unsägliches Leid haben die Deutschen
        damals über die anderen Völker Europas gebracht. Das
        Kriegsende brachte eine Zäsur. Deutschland wurde auf-
        geteilt. Der freie Westen und die kommunistische Dikta-
        tur der Sowjetunion teilten Deutschland in ihre Einfluss-
        sphären auf. Im Westen entstand ein freiheitlich-
        demokratischer Rechtsstaat, während der ostdeutschen
        Bevölkerung eine Einparteiendiktatur aufgezwungen
        wurde.
        Nur wer sich dies vor Augen hält, kann die Ereignisse
        von 1989 und 1990 für unser Land in ihrer ganzen Be-
        deutung ermessen. Die Einheit in Freiheit war ein Ge-
        schenk der Geschichte, aber es war eines, das erst auf
        friedlichem Wege erkämpft werden musste, das den
        Deutschen nicht einfach so in den Schoß gefallen ist.
        Der Anfang vom Ende der DDR waren die Montags-
        demonstrationen in Leipzig. Der Druck auf das Un-
        rechtsregime erhöhte sich. Nun gab es auch Demonstra-
        tionen in Berlin. Nach dem Fall der Mauer wurde wohl
        jedem in der SED bewusst, dass das Ende der Diktatur
        gekommen war. Jetzt konnten die Staatspartei nur noch
        als Konkursverwalter eines heruntergewirtschafteten
        Systems dienen, dessen Folgen uns bis zum heutigen
        Tag beschäftigen.
        So präsent jeder Einzelne von uns in diesem Hause
        noch die Ereignisse vor Augen hat, darf darüber nicht
        vergessen werden, dass es inzwischen eine Generation
        gibt, die diesen glücklichen historischen Aufbruch in
        Einheit und Freiheit nur vom Hörensagen kennt. Daran
        schließen sich zwei Fragen an: Wie kann man an diese
        Ereignisse erinnern, und wo sollte man dies tun?
        Wird der Versuch unternommen, geschichtliche Pro-
        zesse in statische Denkmäler zu pressen, muss dies na-
        türlich immer unzulänglich bleiben. Auch wenn es da-
        rum geht, Gefühlen oder Werten eine Form zu geben,
        bleibt ein unvollkommener Moment bestehen. Darüber
        müssen wir uns auch beim Einheits- und Freiheitsdenk-
        mal im Klaren sein. Da hatte es die Monarchie wesent-
        lich einfacher. Bei aller Kunstfertigkeit in der Ausfüh-
        rung strahlten die Denkmäler einen triumphalen
        Machtanspruch aus, der keine Zweifel daran aufkommen
        ließ, wer der Herrscher im Lande war. Eine Demokratie
        tut sich mit derartigen Monumenten durchweg schwerer.
        Sie will allgemeinverbindliche Werte vermitteln, die ih-
        rem Wesen immanent sind. Es geht ihr gerade nicht um
        die Verkörperung einer solitären, absolutistischen Idee.
        Die Verknüpfung der Einheit mit dem Freiheitsgedan-
        ken scheint mir daher genau die richtige Antwort der
        Demokratie auf die Denkmalfrage zu sein. Für uns Deut-
        sche hängt dies unweigerlich zusammen. Schon die ge-
        scheiterte Revolution von 1848 hatte versucht, beides
        miteinander zu verknüpfen. Das Scheitern bedeutete
        nicht nur eine Rückkehr zum monarchistischen und
        landständischen Prinzip, sondern auch zum Zerfall unse-
        res Landes in Dutzende souveräner Einzelstaaten. Die
        bewegte deutsche Geschichte nach den Ereignissen von
        1848/49 hat es – abgesehen von den wenigen erfolgrei-
        chen Jahren der Weimarer Republik – nicht mehr ge-
        schafft, diese beiden Ideen in positiver und stabiler
        Weise miteinander zu verbinden.
        Die friedliche Revolution von 1989 war es dann, die
        nicht nur zur Einheit Deutschlands führte, sondern end-
        lich für alle Deutschen die Freiheit brachte. Auch wenn
        den geschichtlichen Ereignissen im Nachhinein eine ge-
        wisse Folgerichtigkeit oder gar Zwangsläufigkeit beige-
        messen werden mag, kann man wohl von einem glückli-
        chen, wenn nicht sogar dem glücklichsten Moment in
        unserer Geschichte sprechen.
        Deutschland hat durch die Einheit seine volle Souve-
        ränität wiedererlangt. Und manche Befürchtungen, die in
        anderen Ländern mit der Wiedervereinigung laut wur-
        den, haben sich nicht bestätigt. Gesamtdeutschland ist
        gleichberechtigter und zuverlässiger Partner im Konzert
        der friedlichen Völker Europas und der Welt geworden.
        Berlin ist zudem der richtige Standort für das zentrale
        Einheits- und Freiheitsdenkmal. Auch wenn der Ur-
        sprung für die Umwälzungen in Leipzig lag, ist Berlin
        doch zu einem zentralen Gedenkort für Deutschland ge-
        worden. Warum nicht buchstäblich neben den Schrecken
        des Nationalsozialismus auch an die positiven Ereignisse
        in der deutschen Geschichte erinnern? Das ermöglicht
        ein differenziertes Geschichtsbild, das die schlechten
        Seiten nicht verschweigt, aber die guten auch nicht uner-
        wähnt lässt.
        Dies kann Leipzig nicht leisten. Ein alleiniges Denk-
        mal in Leipzig könnte nicht auf die wechselvolle Ge-
        schichte Deutschlands aufmerksam machen, sondern
        würde als solitär empfunden werden. Das bedeutet – um
        dies noch einmal klarzustellen – keine Missachtung ge-
        genüber den Leipzigern. Daher befürworte ich, in Leip-
        zig ebenfalls einen Gedenkort zu schaffen, der an den
        Beginn der friedlichen Proteste gegen das SED-Regime
        erinnert. Dieses Verdienst kommt den Leipzigern zugute,
        und das werden wir ihnen auch nie vergessen. Und auch
        der demokratische Neuanfang in schwieriger Zeit nach
        dem Zweiten Weltkrieg verlangt aus meiner Sicht in
        Bonn nach einem besonderen Ort des Gedenkens. Das
        zentrale nationale Denkmal für Freiheit und Einheit ge-
        hört aber nach Berlin, in unsere Hauptstadt, in die einst
        geteilte Stadt mit weltweiter Symbolkraft, in eine Stadt,
        die jährlich von Millionen Menschen aus der Welt be-
        sucht wird und die gerade bei der Jugend Europas als
        Reiseziel immer beliebter wird.
        Der Standort gegenüber dem Stadtschloss könnte
        kaum besser gewählt sein. Es bildet dann einen Kontra-
        punkt zum wiedererrichteten Stadtschloss und unter-
        streicht, dass die Fassade keinen Wunsch nach den guten
        alten Zeiten verkörpert, sondern die beste städtebauliche
        Lösung in der Auseinandersetzung mit der Geschichte
        für diesen Ort ist. Die freiheitliche Demokratie zeigt an
        dieser Stelle ihr Selbstbewusstsein.
        Mit der Wiedervereinigung Deutschlands haben wir
        ein neues Kapitel im Buch unserer Geschichte aufge-
        schlagen. Aber wir tun dies in dem Bewusstsein, dass ein
        Buch mehrere Kapitel hat und insofern Teil eines Gan-
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20973
        (A) (C)
        (B) (D)
        zen ist. Mit dem Einheits- und Freiheitsdenkmal wollen
        wir nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern wir wollen
        die Gelegenheit nutzen, über alles Dunkle hinweg auch
        an die guten Seiten der deutschen Geschichte zu erin-
        nern. Das gegenwärtige Kapitel des wiedervereinigten
        Deutschland kann nicht verstanden werden, ohne die
        vorherigen Kapitel lesen zu können. Und eines dieser
        unverzichtbaren Kapitel ist der Kampf der Deutschen für
        Freiheit und Einheit. Ihn gilt es an zentraler Stelle in
        Berlin sichtbar und begreifbar zu machen. Und heute
        kommen wir der Verwirklichung dieses Zieles ein gan-
        zes Stück näher.
        Jetzt gibt es grünes Licht für die Ausschreibung des
        Architektenwettbewerbs. Wir geben damit den Start-
        schuss für die Debatte über das richtige Gedenken an
        diesem Ort.
        Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Die Debatte
        über die Notwendigkeit und den Sinn eines Freiheits-
        und Einheitsdenkmals haben wir bereits vor einem Jahr
        an dieser Stelle geführt. Die Argumente dafür haben sich
        seitdem nicht geändert: Die Deutschen sollten Orientie-
        rung und Identität nicht nur aus der Erinnerung an die
        katastrophalen Ereignisse deutscher Geschichte, sondern
        auch aus der Erinnerung und Würdigung ihrer positiven
        Aspekte gewinnen. Deshalb halte ich es nach wie vor für
        sinnvoll, im Zentrum der Hauptstadt ein Denkmal zu er-
        richten, das an die einzige erfolgreiche – und noch dazu
        friedliche – Revolution in Deutschland erinnert. In mei-
        ner Rede vom 9. November 2007 sprach ich von einem
        Mahnmal historischen Glückes, das uns daran erinnert,
        wie kostbar und verletzlich die Freiheit in Einheit ist.
        Das Denkmal soll die freiheitlichen Bewegungen und
        die Einheitsbestrebungen der letzten Jahrhunderte wür-
        digen. An erster Stelle stehen dabei die friedliche Revo-
        lution 1989 und die deutsche Einheit von 1990; sie ist
        der Anlass und Bezugspunkt des Denkmalprojekts. Aber
        auch die Revolutionen 1848/49 und 1918, der Volksauf-
        stand von 1953 sollen Berücksichtigung finden. Ein ent-
        sprechendes inhaltliches Konzept wurde vom Kultur-
        staatsminister bereits im Frühjahr vorgelegt und vom
        Kulturausschuss des Bundestages diskutiert und unter-
        stützt.
        Diese inhaltlichen Vorgaben an das Denkmal sind
        eine beachtliche intellektuelle und künstlerische Heraus-
        forderung. Um die Rezeption des Denkmals zu erleich-
        tern, ist ein Ort der Information dringend notwendig.
        Damit wurden bereits sehr gute Erfahrungen beim Holo-
        caust-Denkmal gemacht. Ohne den Ort der Information
        wären die Wirkung und die Anziehungskraft des Denk-
        mals nur halb so groß. Dieser Informationsort soll die
        Möglichkeit zur vertiefenden Beschäftigung mit der
        deutschen Freiheitsgeschichte bieten. Außerdem lässt
        sich hier Bezug nehmen zu den anderen Orten der fried-
        lichen Revolution.
        Als Standort für das Freiheits- und Einheitsdenkmal
        ist der Sockel des früheren Kaiser-Wilhelm-Denkmals
        auf der Schlossfreiheit im Herzen Berlins vorgesehen.
        Darüber wurde in diesem Jahr bereits heftig diskutiert.
        Natürlich soll mit der Wahl des Standortes gerade nicht
        an die wilhelminische Tradition angeknüpft werden. Der
        Reiz des Ortes besteht doch darin, ihn im Brecht’schen
        Sinne umzufunktionieren und eine neue Bedeutung zu
        geben im vollen Bewusstsein seiner historischen Bedeu-
        tung. Es ist eine durchaus faszinierende Vorstellung, an
        diesem Ort an die Einheit in Freiheit und Freiheit in Ein-
        heit zu erinnern, die die Deutschen mit der friedlichen
        Revolution 1989 errungen haben – nachdem in der deut-
        schen Geschichte Einheit und Freiheit so oft auf un-
        glückliche Weise getrennt waren, ja in Widerspruch zu-
        einander standen. Für diesen Ort spricht auch, dass es
        sich – sobald der Entwurf des Architekten Stella für das
        Humboldt-Forum umgesetzt ist – um einen attraktiven
        und kommunikativen Ort handeln wird. Der Vorteil des
        Sockels besteht darin, dass die Fläche klar definiert und
        begrenzt ist, was eindeutige Vorgaben für den Wettbe-
        werb erlaubt.
        Die friedliche Revolution war kein Berliner Ereignis;
        in vielen Städten der DDR sind die Menschen für Frei-
        heit und Demokratie auf die Straße gegangen und haben
        dabei Zivilcourage, staatsbürgerlichen Mut bewiesen un-
        ter großem persönlichem Risiko. Von entscheidender
        Bedeutung war die große Montagsdemonstration in
        Leipzig am 9. Oktober 1989. Deshalb soll auch in Leip-
        zig der „Beitrag der Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt
        zur friedlichen Revolution auf angemessene und sicht-
        bare Weise“ gewürdigt werden, wie es im Antrag heißt.
        Diese Würdigung kann nur gemeinsam mit dem Land
        Sachsen und der Stadt Leipzig erfolgen, genauso wie
        auch bei den Planungen und der Umsetzung des Frei-
        heits- und Einheitsdenkmals in der Hauptstadt sowohl
        das Land Berlin als auch die Deutsche Gesellschaft be-
        teiligt sind, von der die Initiative für das Denkmal ausge-
        gangen ist. Berlin stellt das Grundstück zur Nutzung zur
        Verfügung und beteiligt sich an der Sanierung des Denk-
        malsockels. Von der Idee eines korrespondierenden
        Denkmals oder eines Denkmalpaares – wie es in der bis-
        herigen Debatte vorgeschlagen wurde – halte ich nicht
        viel, weil es künstlerisch kaum realisierbar wäre und die
        Bedeutung der Bürgerinnen und Bürger negieren würde,
        die in all den anderen Orten der ehemaligen DDR de-
        monstrierten und sich großen Risiken aussetzten.
        Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
        hat in seiner Sitzung am 20. November 2008 beschlos-
        sen, insgesamt 15 Millionen Euro für das Freiheits- und
        Einheitsdenkmal zur Verfügung zu stellen – eine erheb-
        lich höhere Summe als ursprünglich vorgesehen. Daraus
        sollen sowohl der Informationsort als auch die Würdi-
        gung der friedlichen Revolution in Leipzig finanziert
        werden.
        Die Debatte um die Errichtung des Denkmals hat sich
        aufgrund der Feststellung des Sanierungsaufwandes des
        Sockels und der Haushaltsverhandlungen verzögert. Es
        ist aus meiner Sicht gar nicht wichtig, ob in einem Jahr
        bereits die Grundsteinlegung erfolgt. Wichtiger ist es,
        dass ein gelungenes Konzept gefunden und verwirklicht
        wird. Die Diskussion um den geeignetsten Entwurf kann
        und sollte der Selbstverständigung der Deutschen die-
        nen. Sie kann – wie die langjährige Debatte um das Ho-
        locaust-Mahnmal gezeigt hat – dem Denkmal nur nut-
        zen.
        20974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        Jetzt gilt es, keine weitere Zeit zu verlieren und mit
        der Ausschreibung des Wettbewerbs zu beginnen. Ich
        freue mich und bin schon sehr gespannt auf die Ergeb-
        nisse.
        Christoph Waitz (FDP): Mit dem heutigen gemein-
        samen Antrag der Großen Koalition und meiner Fraktion
        legen wir eine weitere Etappe auf dem Weg zu unserem
        Freiheits- und Einheitsdenkmal an einem besonderen Ort
        im Herzen Berlins zurück. Wir machen den Weg frei, da-
        mit möglichst bald über die Gestalt des Denkmals eine
        Entscheidung getroffen werden kann. Wenn wir den
        Zeitplan einhalten, wird das zum Zieldatum im Novem-
        ber 2009 erfolgen.
        Wir alle wissen, dass es sich bei diesem Projekt um
        ein Vorhaben handelt, mit dem wir hier in Berlin nicht
        nur einen Ort und den Rahmen schaffen, der friedlichen
        Revolution von 1989 und der Wiedervereinigung
        Deutschlands zu gedenken. Nach dem Beschluss des
        Deutschen Bundestages thematisieren wir mit diesem
        Denkmal nicht nur die Entwicklung in der ehemaligen
        DDR, die zur wiedergewonnenen Einheit geführt hat.
        Wir wollen mit dem Denkmal auch an die Geschichte
        der deutschen Freiheitsbewegungen seit dem 19. Jahr-
        hundert erinnern.
        Ein solches Denkmal für den Ort der Schlossfreiheit
        vor dem Humboldt-Forum mit seinen neobarocken
        Schlossfassaden entstehen zu lassen, ist eine Herausfor-
        derung für jeden Wettbewerbsteilnehmer. Es geht nicht
        nur darum, einen überzeugenden Gestaltungsentwurf zu
        finden, der der Freiheitsidee Ausdruck verleiht, sondern
        gleichzeitig eine Gestaltung zu finden, die die Aspekte
        von Einheit und Freiheit in sich aufnimmt. Hinzu
        kommt, dass dieses Denkmal mit seiner unmittelbaren
        Umgebung – gerade mit dem Humboldt-Forum – harmo-
        nieren und kommunizieren muss.
        Gleichzeitig ist der Ort dieses Denkmals nicht belie-
        big. Hier stand das Reiterdenkmal von Wilhelm I., eines
        Vertreters des preußischen Königshauses, der für die
        Niederschlagung der süddeutschen Freiheitsbewegungen
        von 1848 und die Beseitigung der Paulskirchenver-
        sammlung, der ersten demokratisch gewählten Ver-
        sammlung, stand. Damit überdauert die Freiheit auch
        symbolisch eine Zeit der Unterdrückung von Freiheits-
        bewegungen in Deutschland. Das Podest und Fundament
        des künftigen Freiheits- und Einheitsdenkmals stehen
        unter Denkmalsschutz. Nach seiner Rekonstruktion wer-
        den hier zwangsläufig ein Kommentar und Bezugspunkt
        des Denkmals liegen.
        Sie sehen, dass dieser Ort mit seiner Geschichte, dem
        neuen teilrekonstruierten Stadtschloss und dem nicht
        mehr existierenden Palast der Republik für die Denk-
        malsschöpfer eine große Herausforderung ist. Gleichzei-
        tig ist es aber auch der Ort in Berlin, der sich trefflich da-
        für eignet, über deutsche Geschichte im 19. und
        20. Jahrhundert nachzudenken, in diesem Falle gerade
        auch über den glücklichen vorläufigen Abschluss, den
        das 20. Jahrhundert für uns aus deutscher Sicht mit der
        wiedergewonnenen Einheit gefunden hat.
        Denkmäler werden regelmäßig mit historischem Ab-
        stand gebaut. Sie deuten eine geschichtliche Entwick-
        lung und versuchen eine Wertung. Zwangsläufig werden
        sie damit auch Ort der Auseinandersetzung über ge-
        schichtliche Bewertungen. An dieser Schnittstelle in der
        Mitte Berlins wäre es in meinen Augen daher positiv,
        wenn es uns gelänge, einen Rahmen zu schaffen, der ein
        Gespräch über deutsche Freiheits- und „Befreiungs“be-
        wegungen ermöglicht und Platz für Diskussionen und
        Auseinandersetzungen lässt, also nicht nur Platz des Fei-
        erns und der Freude, sondern ein historischer Ort, der
        auch das Scheitern und die Vergeblichkeit unserer Mü-
        hen mitbehandelt.
        Der jetzt vorliegende Beschluss ist in der Frage eines
        Denkmals in oder für Leipzig zu einem guten Ergebnis
        gekommen. Denn er lässt die Möglichkeit zu, unter fi-
        nanzieller Beteiligung des Bundes mit dem Land Sach-
        sen und der Stadt Leipzig ein eigenständiges Denkmal
        zu errichten; ein Denkmal, das der Entwicklung bis zu
        den Demonstrationen im September und Oktober 1989
        in Leipzig, aber auch an anderen Orten in der damaligen
        DDR gerecht wird; ein Denkmal, das nicht wie das Frei-
        heits- und Einheitsdenkmal in vielfacher Weise mit Be-
        deutungen aufgeladen ist; ein Denkmal, das vielmehr
        den Bürgern und Bürgerinnen aus Leipzig und aus ande-
        ren Orten der DDR ein Gesicht geben könnte. Der fried-
        lichen Revolution fehlt nicht umsonst ein Held oder eine
        Heldin. Es war nicht ein konkreter Einzelner, der diesen
        geschichtlichen Moment gestaltet hat. Es waren Zehn-
        tausende Bürger und Bürgerinnen, die keinen stummen,
        aber einen gewaltfreien Protest zu einem guten Ende ge-
        führt haben. Dafür gebührt ihnen dieses Denkmal, ein
        Denkmal für die Tausenden von Menschen und für die-
        sen besonderen geschichtlichen Moment am 9. Oktober
        1989 in Leipzig, den sie mit ihrer Zivilcourage gestaltet
        haben.
        Und wem von uns die Ereignisse in Leipzig nicht
        mehr vor Augen stehen, dem empfehle ich die Darstel-
        lung von Hartmut Zwahr „Ende einer Selbstzerstörung –
        Leipzig und die Revolution in der DDR“. Nüchtern und
        teilweise chronistisch beschreibt Zwahr den Leipziger
        Lauf der Geschichte. Eine Beschreibung, deren Sog man
        sich nicht entziehen kann.
        Die Zeitzeugen sterben zwangsläufig. Damit wird Er-
        innerung aus erster Hand unmöglich. Das Freiheits- und
        Einheitsdenkmal ist unsere Chance, über die Lebens-
        spanne einer einzelnen Generation hinaus an den Kampf
        für Einheit und Freiheit zu erinnern. Das Freiheits- und
        Einheitsdenkmal soll uns aber auch daran erinnern, wie
        unsere individuellen Freiheitsrechte erkämpft wurden.
        Für deren Sicherung und ihren Bestand sind wir gemein-
        sam verantwortlich. Freiheitsrechte der Individuen und
        Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit befinden sich
        auch heute in einem Spannungsverhältnis. Aktuelle
        Stichworte dazu sind die Vorratsdatenspeicherung oder
        das BKA-Gesetz. Sie machen deutlich, dass es nicht ge-
        nügt, der Freiheit Denkmäler zu bauen, sondern dass wir
        uns in der täglichen Arbeit für Freiheitsrechte einsetzen
        müssen.
        Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008 20975
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Nun wird
        es ernst. Als Zusatzpunkt zur nächtlichen Tagesordnung
        wird nun Deutschlands wichtigstes Denkmal der
        Jetztzeit auf Deutschlands wichtigstem Platz, dem
        Schlossplatz, und auf Deutschlands teuerstem Sockel,
        der 10-Millionen-Euro-Erhebung, auf der früher Kaiser
        Wilhelm I. stand, gesetzlich fundiert und finanziert. Die
        Koalitionsparteien und die FDP haben das so beschlos-
        sen – ein Konstrukt, das an die friedliche Revolution im
        Herbst 1989 einerseits und andererseits an die Wieder-
        erlangung der deutschen Einheit 1990 erinnern – und
        zudem noch „eingebettet“ werden soll in die deutsche
        Freiheits- und Einheitsgeschichte des 19. und
        20. Jahrhunderts.
        Wer die friedliche Revolution im Herbst 1989 mit der
        Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands
        1990 in eins setzt, wird diesem Erbe nicht gerecht, weil
        beide Vorgänge zwei Stufen eines komplexen internatio-
        nalen, historischen Prozesses darstellen, die nicht unmit-
        telbar aufeinander bezogen werden können. Diese Revo-
        lution mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ ist singulär in
        der deutschen Geschichte, sodass sie erst recht nicht mit
        den freiheitlichen Bewegungen und Einheitsbestrebun-
        gen der vergangenen Jahrhunderte vermengt werden
        kann. Ich habe schon einmal festgestellt, dass dieses
        Vorhaben einer Verwischtechnik entspricht, die alles
        Mögliche zusammenbringen will, ohne zu fragen, ob das
        überhaupt geht. Aber das macht nichts, Hauptsache wir
        bekommen ein Denkmal in Berlin, Kostenpunkt mit So-
        ckel 15 Millionen Euro. Das nenne ich dreiste Ver-
        schwendung in schwerer Zeit.
        Und dann „würdigen wir gemeinsam mit dem Land
        Sachsen und der Stadt Leipzig den Beitrag der Bürgerin-
        nen und Bürger dieser Stadt zur friedlichen Revolution
        auf angemessene und sichtbare Weise“. Da kann man
        sehr gespannt sein, wie dies wohl geht: fern wirkend
        oder virtuell oder mit Hinweisschildern und lieber doch
        nur verbal.
        Die Fraktion Die Linke hat ein Erinnern an Leipzig in
        Leipzig vorgeschlagen: Erinnern an diejenigen, die oft
        unter großer persönlicher Gefahr Demokratie und Frei-
        heit in der DDR einforderten, Erinnern an die Abertau-
        send Bürger und Bürgerinnen in Leipzig, die demon-
        striert, protestiert, geredet und andere überzeugt haben,
        Erinnern an diejenigen, die in den Kasernen und Polizei-
        wachen geblieben sind und dafür gesorgt haben, dass die
        Demokratie ohne Blutvergießen begann. Und da aus un-
        serer Sicht eine solche unblutige Revolution keinen
        herkömmlichen Denkmalkult erlaubt, möchten wir in
        Leipzig ein Denkzeichen zusammen mit einem „Ort der
        Information“ und einem „aktiven Museum“ errichtet se-
        hen, welches den Nachgeborenen die grundsätzliche
        Auseinandersetzung mit der Idee der Freiheit eröffnet.
        Vergeblich bisher. Vielleicht wird eines Tages dennoch
        dieser Vorschlag aufgenommen, nach ausführlicher, groß
        angelegter Diskussion im ganzen Land. Das wäre dann
        wirklich etwas anderes als diese klandestine Vollzugs-
        nummer heute am frühen Morgen, der wir entschieden
        unsere Zustimmung verweigern.
        Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Ein Denkmal für Freiheit und Einheit in Berlin ist
        ein großes und ehrbares Unterfangen. Ein Platz, an dem
        wir uns der guten Momente unserer Geschichte erinnern
        können, aus dem Inspiration erwächst, an dem Debatten
        angestoßen werden über Freiheit, über Demokratie, über
        die Wiedergewinnung der Einheit und wie wir mit ihr
        umgehen.
        Viele honorable Persönlichkeiten haben sich zu dem
        Denkmalprojekt geäußert. Bereits vor mehr als einem
        Jahr hat der Bundestag dann quasi über Nacht beschlos-
        sen, ein solches Denkmal 2009 zu errichten. Wir haben
        damals gesagt: Ein Denkmal, das an die friedliche Revo-
        lution erinnern soll, an den demokratischen Urruf „Wir
        sind das Volk“, kann nicht einfach von oben verordnet
        werden. Wir brauchen dafür eine breite Debatte, an der
        sich viele beteiligen können, in der über das Ob und über
        das Wie eines so ernsthaften Anliegens diskutiert wird,
        in der der demokratische Impuls von unten ernst genom-
        men wird. Denn es zeichnet doch die Genese von Denk-
        mälern aus, dass gerade die Debatte über die Errichtung
        ebenso wichtig sein kann für die eigene Selbstverständi-
        gung wie das errichtete Denkmal selbst. Ich halte das
        noch immer für einen ganz zentralen Punkt. Doch die
        Mehrheit im Hause hat sich damals dagegen und statt-
        dessen für ein Hauruckverfahren entschieden.
        Und heute? Obwohl die von uns eingeforderte breite
        Diskussion nun weitestgehend ausblieb, ist der von der
        Koalition vorgelegte Zeitplan längst Makulatur gewor-
        den. In dem uns jetzt vorliegenden Antrag wird die Aus-
        schreibung eines Gestaltungswettbewerbs gefordert, der
        vor mehr als einem halben Jahr schon hätte beginnen
        sollen. Das liegt nun aber gerade nicht etwa daran, dass
        eine intensive Denkmalsdebatte stattgefunden hätte; das
        liegt daran, dass die Kosten entgegen aller uns bisher
        präsentierten Zahlen Stück für Stück immer weiter in die
        Höhe geschraubt worden sind. Noch im Sommer wurden
        5 Millionen Euro genannt. Heute entscheidet der Bun-
        destag mal eben über das Dreifache der ursprünglichen
        Kalkulation.
        Diese Nachlässigkeiten bei einem Denkmal, das si-
        cher nicht nur in Deutschland, sondern weit darüber hi-
        naus für Schlagzeilen sorgen wird, dienen nicht dazu,
        Vertrauen aufzubauen. Ein Denkmal von solcher Trag-
        weite ist nicht nebenbei zu machen, und der heute vorlie-
        gende Antrag zeigt nicht unbedingt, dass aus den bishe-
        rigen Fehlern viel gelernt wurde.
        Warum etwa muss ein Denkmal für Freiheit und Ein-
        heit trotz aller Kritik und trotz der enormen Kostenstei-
        gerungen auf dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Sockel er-
        richtet werden? Sollte es uns nicht um die Erinnerung an
        friedliche Revolution und demokratische Erneuerung ge-
        hen statt um Referenzen an ein Nationaldenkmal preu-
        ßisch-militaristischer Geschichte? Es gibt gute Alterna-
        tivvorschläge, nicht zuletzt den Pariser Platz, die kaum
        näher beleuchtet wurden. Hier wäre ein wahrhaft histori-
        scher Ort, ganz in der Nähe des Brandenburger Tores,
        das nicht nur für die Teilung Deutschlands, sondern ganz
        Europas stand. Hier ließe sich auch deutlich machen,
        20976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 193. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        (A) (C)
        (B) (D)
        dass die deutsche Einheit untrennbar verbunden ist mit
        den Freiheitsbewegungen und Umwälzungen in Ost-
        europa. Denn ein Denkmal für Freiheit und Einheit kann
        darauf nicht verzichten: auf die Einbettung dieser Be-
        griffe in historische Zusammenhänge und auf den Raum
        für die Diskussion über die Zukunft dieser Werte.
        Doch auch hier bleibt der vorliegende Antrag unklar:
        Die Einrichtung eines „Informationsortes“ soll „geprüft“
        werden, Ausgang offen. In der ursprünglichen Vorlage
        wurde sogar die Nutzung des Kaiser-Wilhelm-Sockel-
        Gewölbes vorgeschlagen. Was für eine Vorstellung: Die
        Erinnerung an die lichten Momente unserer Geschichte
        in einem Bunker!
        2009 wird ein herausragendes Gedenkjahr, gerade
        auch für Bündnis 90/Die Grünen. Die Erinnerung an die
        demokratischen und bürgerschaftlichen Bewegungen,
        die die friedliche Revolution maßgeblich prägten, soll
        eine zentrale Rolle spielen ebenso wie die Diskussion
        über die Zukunft der damals errungenen Freiheiten. Ob
        das uns hier vorgelegte Verfahren zum Freiheits- und
        Einheitsdenkmal viel zu dazu beitragen wird, da mehren
        sich jedoch leider die Zweifel.
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        193. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2008
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21